Der "Dritte Humanismus": Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus 3110235617, 9783110235616

Die Studie geht den vielfältigen Bezugnahmen auf das antike Griechentum in Literatur und Kultur, dem Bildungswesen und d

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German Pages 353 [356] Year 2011

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Thema und Zielsetzung
Der »Dritte Humanismus« als Weltanschauung um 1900
Zum Verfahren
Zum Stand der Forschung
Erstes Kapitel. Der »Dritte Humanismus« als Instanz künstlerischkultureller
Neuorientierung
Graecia docet: »Dritthumanistische« Grundkategorien im
Umwertung aller Werte: Kulturkritik als Ausgangspunkt
Zweites Kapitel. Der »Dritte Humanismus« als Instrument kulturkritischer wissenschaftspolitik
Der »Dritte Humanismus« als Lebenswissenschaft
Die Leitgröße Philologie im Spannungsfeld des Nationalismus
Drittes Kapitel. Der »Dritte Humanismus« als politisches Programm
Von goethescher Bildung und bismarckscher Kraft: Persönlichkeitsbildung und Gesellschaftsreform
Die weltpolitische Mission des »Dritten Humanismus«
Der »Dritte Humanismus«: Ein deutsches Modell
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
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Der "Dritte Humanismus": Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus
 3110235617, 9783110235616

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HER MAEA GER MANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HER AUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND K L AUS-DETLEF MÜLLER

BAND 123

BA R BA R A STIEW E

Der »Dritte Humanismus« Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus

De Gruyter

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Als Dissertation vom Fachbereich 09 der Philipps-Universität Marburg angenommen. Disputation: 29. Mai 2008.

ISBN 978-3-11-023561-6 e-ISBN 978-3-11-023562-3 ISSN 0440-7164 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Thema und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Der »Dritte Humanismus« als Weltanschauung um 1900 . . . . .

3

Überlegungen zur Begriffsbestimmung 3 – Stationen des humanistischen Bildungsgedankens 9 – Historische und transdisziplinäre Perspektive 11 – Maßgebliche Vertreter 15

Zum Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Erstes Kapitel Der »Dritte Humanismus« als Instanz künstlerischkultureller Neuorientierung . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Graecia docet: »Dritthumanistische« Grundkategorien im Kontext von Idealismus und Neuhumanismus . . . . . . . . . .

43

Winckelmanns normativ-klassizistische Kunstbetrachtungen 44 – Humboldts neuhumanistischer Bildungsgedanke 51 – Schillers Staatsutopie als kulturpolitisches Ideal 57 – Goethes ganzheitlich-ästhetische Aneignung des Griechentums 63 – Hölderlins Kulturkritik an den Deutschen 71 – Vom Neuhumanismus zum »Dritten Humanismus«: Griechenbegeisterung und Aspekte nationalen Denkens im 19. Jahrhundert 79

88

Umwertung aller Werte: Kulturkritik als Ausgangspunkt . . . . . Das Griechentum als sinn- und identitätsstiftendes Fundament 88 – Die programmatische Erneuerung der Klassizität des Altertums 93 – Die ewige Wiederkunft des Gleichen? Geschichtsphilosophisches Denken 97 – Das Griechentum als anti-akademischer Lebensstil 103 – Die revolutionäre Begeisterung für das Archaische 105 – Das Griechische als Inbegriff des Natürlichen, Lebendigen und Schönen 108 – V

Die Entdeckung der Jugend 112 – Die Kunst als Bezwingerin des Lebens: Stil-Bildung als Mittel nationaler Neukonstituierung 117 – Körperkultur und Leibphilosophie 123 – Das lebende Marmorbild: Die Verlebendigung des antiken Ideals im »Maximin«-Mythos 129

Zweites Kapitel Der »Dritte Humanismus« als Instrument kulturkritischer Wissenschaftspolitik . . . . . . . . . . 135 Der »Dritte Humanismus« als Lebenswissenschaft . . . . . . . . 135 Der »Dritte Humanismus« als wissenschaftliche Instanz der Kulturkritik 138 – Der Lebensbegriff als Grundkategorie in den Wissenschaften um 1900 145 – Die Projektion des Ganzheitsbegriffs auf die griechische Antike 149 – Die Auseinandersetzung mit der gesamten griechischen Kultur 152 – Das Griechentum als Metapher für das Humanistische 155 – Die ›deutsch-griechische Wesensverwandtschaft‹ als Bindeglied von Kulturkritik und Griechenrezeption 159 – Der umfassende Anspruch auf Bildung 164 – Die sinnlich gelebte Antike im George-Kreis 166 – Literatur und Kunst als Medien eines lebendigen Humanismus bei Jaeger und Spranger 169

Die Leitgröße Philologie im Spannungsfeld des Nationalismus . 172 Die Philologie als überhistorische und normsetzende Leitwissenschaft 174 – Die Sprache als Mittlerin der griechischen Bildungsidee 181 – Das Plädoyer für eine germanisierte Antike 185 – Das Beispiel Spranger: Der Neuhumanismus als der deutsche Weg zu den Griechen 189 – Goethe als moderner Deutscher: Die Goethe-Rezeption im George-Kreis 191 – Jaegers eingeschränkte Klassikbegeisterung 195 – Zugeständnisse an die radikalen Deutschtümler 198 – Das altsprachliche Gymnasium als Hort des Humanismus 201

Drittes Kapitel Der »Dritte Humanismus« als politisches Programm . . 207 Von goethescher Bildung und bismarckscher Kraft: Persönlichkeitsbildung und Gesellschaftsreform . . . . . . . . . 207 Athen und Sparta statt Perikles 207 – Deutschlands ›Aufbruch‹ 213 – Von einer atomistischen Masse zu einem organischen Volksverbund 218 – Der Geist der neuen »Volksgemeinschaft« 223 – Der Staat als Lebensinhalt 228 – Neoplatonischer Wille zur kollektivistischen Staatsgründung 233 – Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung 237 – Bindung, Pflicht und ›deutsche Freiheit‹ als soziale Tugenden 244

VI

Die weltpolitische Mission des »Dritten Humanismus« . . . . . . 250 Deutschland als künftige Avantgarde der Welt 254 – Der Staat als Erzieher der Nation: Die Schule als Ort der »Volksgemeinschaft« 261 – ›Führerbildung‹ und ›Führermythos‹ 267 – Der deutsche Agon: Von der nachahmenden Nation zur Originalnation 276 – »Dritter Humanismus« und »Drittes Reich« 285

Der »Dritte Humanismus«: Ein deutsches Modell . . . . 307 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

VII

VIII

Vorwort ...und ich sehe wohl, daß im Grunde mir niemand für die unendlichen Bemühungen dankt. So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muß sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das Möglichste gethan hat. Johann Wolfgang von Goethe

Die diesem Buch zugrundeliegende Arbeit ist im Forschungsprojekt „Antikerezeption und Nationalbewußtsein 1750–1945“ unter der Leitung von Frau Professor Dr. Jutta Osinski entstanden und wurde im Sommersemester 2008 vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation im Fach Neuere deutsche Literatur angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Ob Goethe mit der Befürchtung, seine mühevolle dichterische Produktion bringe ihm keinen Dank ein, Recht hat, sei dahingestellt; zweifellos sind dagegen Dissertationen „undankbare“ Arbeiten in dem Sinne, daß es ihren Verfassern weniger gebührt, großen Dank für das Geschaffene zu erwarten. Vielmehr sind sie es, die sich zu bedanken haben, und so möchte ich dies bei all denjenigen tun, die mir auf dem langen Weg von den ersten Überlegungen bis zur Veröffentlichung mit Unterstützung, Rat und Interesse beigestanden haben. An erster Stelle gilt mein herzlicher Dank meiner Doktormutter, Frau Professor Dr. Jutta Osinski, die mich über viele Jahre als hervorragende Lehrerin gefördert hat. Sie ermöglichte es mir, als Studentin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin Teil ihrer Arbeitsgruppe zu sein und an ihren Forschungen teilzuhaben. Ohne ihre konstruktive Kritik und fachliche Unterstützung, aber auch ihr Wohlwollen, Vertrauen und Verständnis wäre das vorliegende Buch nicht entstanden. Namentlich danken möchte ich ferner Herrn Professor Dr. Arbogast Schmitt, der freundlicherweise das Zweitgutachten übernahm, sowie Kollegen und Freunden für vielfältige Anregungen und tatkräftige Unterstützung. Mit Dr. Stefanie Hein und Dr. Felix Saure verbindet mich die intensive und fruchtbare Zusammenarbeit im Projekt „Antikerezeption und Nationalbewußtsein“. Dr. Volker Losemann versorgte mich mit wertvollen Hinweisen zum Thema Antike und Nationalsozialismus. Jael Dörfer, M.A., Tobias Müllerleile, M.A., Dr. Nicolas Rügge und Frau Dipl. Phil. Lydia Tschakert haben meine Arbeit in den verschiedenen Stadien sorgfältig Korrektur gelesen und wichtige Vorschläge in die endgültige Fassung eingebracht. Bei der Erstellung des Registers unterstützte mich meine studentische Mitarbeiterin Christina Wehnert, B.A. IX

Herrn Professor Dr. Joachim Heinzle, der mit viel Interesse den Entstehungsprozeß meiner Arbeit begleitete, und Herrn Professor Dr. Klaus-Detlef Müller möchte ich für die Aufnahme der Studie in die Reihe „Hermaea“ danken, ferner den Mitarbeitern des Verlags de Gruyter, die für eine reibungslose Aufnahme in das Verlagsprogramm sorgten. Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften unterstützte den Druck mit einem namhaften Betrag. Last but not least sei natürlich meinen Eltern und meinem Freund Nicolas von Herzen gedankt, die mich in jeder Hinsicht während der Promotionszeit unterstützten und auch aufrichtig an meiner Freud und lieben Not mit dieser Arbeit teilnahmen. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Osnabrück, im Dezember 2010

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Einleitung

Thema und Zielsetzung Um 1900 war die deutsche Antikerezeption, vermittelt über die humanistischen Gymnasien, fragwürdig geworden. Statt dessen ging es nun um ein zukunftsorientiertes deutsches Nationalbewußtsein und um die Heranbildung tüchtiger Deutscher, die nicht durch rückwärtsgewandte Beschäftigungen mit der griechischen und römischen Antike erreicht werden sollte, sondern durch identifikatorische Aneignung nationalkultureller Traditionen und Hinführung zur tatkräftigen Gestaltung der Gegenwart. Das war Programm von allerhöchster Stelle, wenn Kaiser Wilhelm II. in der Eröffnungsrede zur Schulkonferenz 1890 bekanntgab, er wolle keine jungen Griechen und Römer, sondern nationale junge Deutsche erzogen wissen.1 Im nachgeordneten Bildungsbereich, in der klassischen Philologie und im literarisch-kulturellen Leben wurde dieses Programm naturgemäß ambivalent aufgenommen. Fraglos ging es im Wilhelminischen Kaiserreich um nationale Identitätsentwürfe des Deutschen und der Deutschen – aber je nach Interessenlage gerade nicht um eine damit einhergehende Absage an die traditionelle Antikerezeption. Technischer Fortschritt und Modernisierungen, aber auch die Arbeit an einer großen nationalen Zukunft setzten ja den neuen Menschen voraus, einen ganzheitlich fühlenden, denkenden und handelnden Menschen – und für dieses Programm hatte die Antike, vor allem die griechische, bereits um 1800 das Vorbild abgegeben. Zwar war die Idee einer ästhetischen Erziehung in der Realität der Gymnasialbildung und in der wilhelminischen Bourgeoisie wie im Bildungsbürgertum fruchtlos geblieben, aber das mußte nicht an der Ausrichtung an der Antike überhaupt liegen, die Wilhelm II. verwarf, sondern es konnte gleichsam der Art und Weise geschuldet sein – dem wirklichkeitsfernen Idealismus oder dem trockenen Grammatikunterricht an den 1

Vgl. Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4. bis 17. Dezember 1890. Hrsg. im Auftrage des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. Berlin 1891 (= Unveränderter Neudruck. Glashütten im Taunus 1972), S. 71f.

1

Gymnasien –, mit der man sich der Antike zuwandte. Diese Beobachtung sprach demnach nicht gegen ihren Vorbildcharakter, den als solchen selbst Nietzsche bei aller gegen das Kaiserreich gerichteten Ideologieund Klassikkritik nicht angezweifelt hatte. Und so entstanden kulturkritische Gegenprogramme zum Diktum Wilhelms II., in denen die Antike nicht ab-, sondern aufgewertet wurde. Sie erwiesen sich als durchschlagskräftig, weil es sich in der Nachfolge Nietzsches um sinnstiftende Entwürfe einer nicht mehr nur ästhetisch oder philologisch, sondern vitalistisch gedachten Rezeption handelte, in denen griechisches Altertum, zeitgenössischer Lebensbegriff und nationales, aufs »Deutsche« ausgerichtetes Denken amalgamiert wurden. Unabhängig von Wilhelm II. bereiteten diese Programme einer neuen deutschen Griechenbegeisterung den Weg: Hellas wurde nach 1900 zu einer Leitgröße in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlich-öffentlichen Lebens. In Literatur, Kunst und Ästhetik, auch im Kultursektor, im Bildungswesen, in den (Geistes-)Wissenschaften und nicht zuletzt in der Politik beriefen sich prominente Vertreter auf seine vermeintlich identitätsstiftenden Kräfte und erhoben den griechischen Menschen des Altertums und seine Kultur zum exklusiven Vorbild für eine neuzugestaltende Gegenwart. Zeugnis dieser Begeisterung legen neben literarischen wie künstlerischen Werken auch fachwissenschaftliche Texte sowie zahlreiche Denkschriften, programmatische Essays, Reden und amtliche Richtlinien für das Bildungswesen ab, die in diesem Zeitraum entstanden. Die vorliegende Untersuchung geht nun den ideengeschichtlichen Grundlagen des skizzierten Phänomens von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre nach. Texte aus verschiedenen, voneinander weitgehend unabhängigen Teilbereichen des nationalen Lebens legen die Vermutung nahe, daß die identifikatorischen Zugriffe auf das Griechentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinsamen inter- und transdisziplinären Mechanismen unterliegen, die innerhalb eines geschlossenen Systems zu erklären und von früheren wie zeitgenössischen Rezeptionssträngen abzusetzen sind. Das hier gemeinte System ist als Modell zu rekonstruieren, und dieses Modell nenne ich im folgenden »Dritter Humanismus«. Der »Dritte Humanismus« im Titel des Buches ist also als heuristischer Rahmenbegriff zu verstehen, der die verschiedenen Ausprägungen der deutschen Griechenbegeisterung um 1900 auf ihren kleinsten gemeinsamen ideologischen Nenner bringt. Da der Begriff nicht ungebräuchlich, aber unterschiedlich definiert ist, setzt eine Einführung in die historischen und systematischen Aspekte des Themas seine Klärung voraus. 2

Der »Dritte Humanismus« als Weltanschauung um 1900 Überlegungen zur Begriffsbestimmung Im Sinne Horst Thomés wird der »Dritte Humanismus« als eine spezifisch deutsche Weltanschauung der Zeit vom Beginn des Wilhelminischen Kaiserreichs 1888 bis zum Ende der Weimarer Republik 1933 verstanden. Thomé definiert eine Weltanschauung als eine wertende Stellungnahme zum Ganzen der Welt, die über die Grenzen einzelner Bereiche des soziokulturellen Lebens hinaus Geltung beansprucht. Zugleich ist mit ihr der Anspruch verbunden, »letzte Fragen« zu lösen und auf der Grundlage einer fundierenden Idee Handlungsanweisungen zu erteilen.2 Allerdings ist die vorgeschlagene Benennung »Dritter Humanismus« für eine Weltanschauung mit dazugehörigem Menschenbild und Bildungsgedanken Anfang des 20. Jahrhunderts nicht ganz unproblematisch. Allein schon die Großschreibung der Ordinalzahl, aber auch die zeitliche Nähe zu den Jahren 1933–1945 suggeriert die vermeintliche Parallele »Dritter Humanismus« – »Drittes Reich« und rückt damit den »Dritten Humanismus« in eine ideologische Nähe zum Nationalsozialismus. Diese vermutete Affinität scheint sich ferner dadurch zu bestätigen, daß sich – jedenfalls oberflächlich und aus der Rückschau betrachtet – auch in der Bezeichnung »Dritter Humanismus« ein mit chiliastisch-teleologischen Erwartungen verknüpfter Gedanke widerspiegelt, der nicht nur in konservativ-antidemokratischen Kreisen zu Beginn des Jahrhunderts sehr populär war, sondern auch unter Hitlers Anhängern: die Idee von drei aufeinander folgenden (Welt-)Reichen. Diese Idee, auch als »Drei-Reiche-Lehre« bekannt, geht in ihrer ursprünglichen Form auf Joachim von Fiore zurück, der im Hochmittelalter die christliche Heilsgeschichte als Abfolge von drei Reichen beschrieb, dessen letztes eine Ära der Liebe und des Friedens begründe, die die Erlösung der Menschheit abschließe. In der Neuzeit wurde diese theologische Vorstellung auf die menschheitsgeschichtliche und realpolitische Entwicklung übertragen. Nach dem Ersten Weltkrieg prägte Arthur Moeller van den Bruck die Vision eines kommenden dritten deutschen Reiches, das die Nachfolge des ersten und zweiten deutschen Reiches, des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und des 2

Vgl. Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier v. a. S. 341–351.

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Bismarck-Reiches, antrete; der Nationalsozialismus beanspruchte – so jedenfalls die zeitweilige Propaganda –, eben dieses Reich der Erlösung in der Gegenwart mit seiner ›Neuen Ordnung‹ zu verkörpern.3 Im Rahmen der zeitgenössischen Variante der »Drei-Reiche-Lehre« läßt sich der weltanschauliche »Dritte Humanismus« als (vorerst) letztes Glied einer heilsgeschichtlichen Entwicklung in drei Schritten interpretieren, die in einem geistigen Reich eines universalen Humanismus kulminiert, dessen realpolitisches Korrelativ das »Dritte Reich« darstellen könnte. Allerdings war Eduard Spranger, der Urheber des Terminus »Dritter Humanismus«, zum Zeitpunkt der Begriffsprägung noch weit von einer solchen instrumentalisierenden Auslegung entfernt. Er verwendete die Bezeichnung »dritter Humanismus« zum ersten Mal 1921 in einem Vortrag auf einer »Versammlung der Freunde des humanistischen Gymnasiums«, um die jüngste Aufbruchstimmung in den Geisteswissenschaften zu beschreiben, durch Rückbezug auf das antike Menschenbild und seine neuzeitlichen Renaissancen die Gegenwart zu erneuern. In der schriftlichen Fassung eben dieser Rede wählte er für die Ordnungszahl noch die Kleinschreibung. Auch der Gräzist Werner Jaeger, ein Berliner Kollege Sprangers, der wie viele andere dessen Prägung später aufgreifen sollte, war bestrebt, mit einem »neuen« oder »erneuerten« Humanismus4 dem konstatierten Sinnvakuum entgegenzuwirken. Der Ausdruck »Dritter Humanismus« ist demnach also »nicht in Korrespondenz zur Redeweise vom Dritten Reich entstanden«,5 sondern Spranger und seinen Mitstreitern ging es vielmehr darum, die geistige Nähe ihres Weltbildes zu früheren Humanismen zu betonen. Erst im Sog des ›nationalen Aufbruchs‹ 1933/1934 wurde eine allerdings letztendlich nur im Schriftbild erfolgreiche Gleichschaltung von »Drittem Humanis3

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Zur joachimitischen »Drei-Reiche-Lehre« und ihren späteren Vereinnahmungen vgl. Burchard Brentjes: Der Mythos vom Dritten Reich. Drei Jahrtausende Sehnsucht nach Erlösung. Hannover 1997; Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. 3. Aufl. Stuttgart 1953 (= UrbanBücher 2); Jean F. Neurohr: Der Mythos vom Dritten Reich. Zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus. Stuttgart 1957. Vgl. Werner Jaeger: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis (1919). In: Humanistische Reden und Vorträge (= HRV). 2., erweiterte Aufl. Berlin 1960 [zuerst Berlin, Leipzig 1937], S. 17–30, hier S. 24. – Jaegers Texte werden im folgenden, wenn nicht anders angegeben, nach der zweiten Auflage eben dieser Sammlung zitiert. – Siehe auch ders.: Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung (1927). In: HRV, S. 117–157, hier S. 124; ders.: The Present Position of Classical Studies in Germany. In: PCA 24 (1927), S. 43–48, hier S. 45f. Manfred Landfester: Dritter Humanismus. In: DNP 13 (1999), Sp. 877–883, hier Sp. 878.

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mus« und »Drittem Reich« bzw. Nationalsozialismus von einigen wenigen Vertretern beider Seiten angestrebt. Den Umgang mit der Bezeichnung »Dritter Humanismus« erschwert jedoch die Tatsache, daß dieser kulturwissenschaftliche Terminus nur scheinbar etabliert ist. Seit seiner Prägung zu Beginn der 1920er Jahre wurde er weitgehend assoziativ gebraucht, ohne inhaltlich klar definiert worden zu sein. Auf diesen Mißstand wies bereits ein Zeitgenosse in den 1930er Jahren hin: Der Altorientalist Carl Heinrich Becker, der 1921 und von 1925–1930 preußischer Kultusminister war, kritisierte, daß »jeder seine eigene Idee von Humanismus entwickelt, man also im allgemeinen aneinander vorbeiredet«.6 Die Beliebigkeit der Begriffsfüllung, die Becker hier anprangert, ermöglichte es in den zwanziger und dreißiger Jahren Personen bzw. Gruppierungen, die – jedenfalls in der Gesamtheit betrachtet – höchstens in lockerem Kontakt zueinander standen und weitgehend unabhängig voneinander agierten und dachten, das Etikett »Dritter Humanismus« für die eigenen, an antiken Idealen orientierten Erneuerungsbestrebungen zu reklamieren. So definierte Spranger den Begriff als ein interdisziplinäres Ethos,7 das auf dem Grundsatz beruhe, das Individuum durch ästhetischen Nachvollzug der Höhepunkte der »Lebensgeschichte der Menschheit«, durch Vergegenwärtigung dessen, »was der Mensch im Totalgefüge seiner Kräfte ist, die Frage nach seinen Möglichkeiten, seinen Wirklichkeiten und seinen je erreichten Gipfeln«, zu bilden.8 Dagegen charakterisierte Jaeger den »Dritten Humanismus« als eine von ihm initiierte »Bewegung innerhalb der Wissenschaft«, die verspreche, die »unvergänglichen erzieherischen und ethischen Kräfte der Antike« freizulegen und auf diesem Fundament eine kollektivistische Weltanschauung zu begründen.9 Der selbsternannte George-Adept Wolfgang Frommel verband schließlich mit dieser Bezeichnung die politische Weltanschauung Georges, die dieser in intensiver Auseinandersetzung mit Ideologemen der deutschen Klassik 6

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Carl Heinrich Becker: Der dritte Humanismus. In: Vossische Zeitung, 25.12.1932, Morgenausgabe, S. 2f., hier S. 2 (unter Berufung auf eine Äußerung des Romanisten Ernst Robert Curtius). Spranger spricht von einer »geisteswissenschaftlichen Besinnung«. Eduard Spranger: Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule (1922/1925). In: Gesammelte Schriften (= GS). Hrsg. von Hans Walter Bähr u. a. 11 Bde. Bd. 1: Geist der Erziehung. Hrsg. von Gottfried Bräuer und Andreas Flitner. Heidelberg 1969, S. 20–69, hier S. 25; S. 22. – Sprangers Texte werden, wenn nicht anders angegeben, nach dieser Werkausgabe zitiert. Werner Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike. In: Volk im Werden 1 (1933), Heft 3, S. 43–49, hier S. 44f. (Zitate S. 44).

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und Nietzsches entwickelt habe.10 Einzig Carl Heinrich Becker,11 der die vorherrschende Begriffsunklarheit erkannte und beklagte, scheint sich um eine eindeutigere und zugleich umfassendere Bestimmung bemüht zu haben. So stellte sich ihm der »Dritte Humanismus« als eine aus einem normativen Antikebild abgeleitete »geistige Haltung« mit Fokus auf Staat und gemeinschaftliches Leben dar, die in drei zeitkritischen »Richtungen« der Gegenwart praktiziert und propagiert werde, nämlich der wissenschaftlichen, der praktischen und der religiösen.12 Aber Beckers Kritik und Definitionsversuch fanden in der zeitnahen Forschungsliteratur wenig Beachtung, und obgleich der Begriff aufgenommen wurde, kam es weder zu einer klaren Begriffsbestimmung noch zu einer einheitlichen personellen Zuordnung. So kennzeichnete weiterhin Bedeutungsvielfalt den Umgang mit dem Terminus »Dritter Humanismus«: In einer Verwendung wurde er synonym für eine spezifische Wissenschaftsmethodologie gebraucht,13 in einer anderen für einen bestimmten weltanschaulichen Entwurf,14 dann stand er für eine Kulturund Bildungskonzeption15 oder aber für eine deutsche Tradition der Antikerezeption16 aus graecophiler Neigung. Der Komparatist Horst Rüdi10 11

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Vgl. Lothar Helbing [= Wolfgang Frommel]: Der Dritte Humanismus. 3., veränderte Aufl. Berlin 1935 [zuerst 1932], S. 11. Zu Beckers Biographie vgl. Guido Müller: Weltpolitische Bildung und akademische Reform. Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908–1930. Köln, Weimar, Wien 1991 (= Beiträge zur Geschichte der Kulturpolitik 2), S. 17ff.; Wolfgang W. Wittwer: Carl Heinrich Becker. In: Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik und Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber. Hrsg. von Wolfgang Treue und Karlfried Gründer. Berlin 1987 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 60,3), S. 251–267; zu Beckers humanistischen Ambitionen siehe Carola Groppe: Neubeginn durch einen dritten Humanismus? Der preussische Kultusminister C. H. Becker und der George-Kreis in der Weimarer Republik. In: CP 49 (2000), Heft 244/245, S. 41–61. Vgl. Carl Heinrich Becker: Das Erbe der Antike im Orient und Okzident. Leipzig 1931, S. 37 (Humanismus als geistige Haltung); ders.: Der dritte Humanismus, S. 2. Vgl. Horst Rüdiger: Wesen und Wandlung des Humanismus. Hamburg 1937, S. 280–282. Vgl. Oskar Benda: Die Bildung des Dritten Reiches. Randbemerkungen zum gesellschaftsgeschichtlichen Sinnwandel des deutschen Humanismus. Wien, Leipzig 1931; Johannes Irmscher: Der Dritte Humanismus. In: WZJena 21 (1972), S. 917–936, hier S. 917. Vgl. Ute Preuße: Humanismus und Gesellschaft. Zur Geschichte des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland von 1890 bis 1933. Frankfurt a. M. u. a. 1988 (= EHS. Reihe 15: Klassische Sprachen und Literaturen 39), S. 135f.; Landfester: Dritter Humanismus, Sp. 877f.; Sp. 880f. So bei Werner Kohlschmidt: Die deutsche Literatur seit dem Naturalismus und die Antike. In: Reformatio (1958), S. 575–591; kürzlich auch wieder bei Daria Santini: Wohin verschlug uns der Traum? Die griechische Antike in der deutschsprachigen Literatur des Dritten Reichs und des Exils. Frankfurt a. M. u. a. 2007 (= Studien zur klassischen Philologie 154), S. 56–61.

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ger zählte beispielsweise den seinerzeit bedeutenden Gräzisten Werner Jaeger sowie den in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts populären Schriftsteller Rudolf G. Binding zu den Vertretern des »Dritten Humanismus«, nicht aber wie der marxistische Literaturwissenschaftler Oskar Benda, der wiederum Jaeger nur beiläufig und Binding gar nicht erst erwähnte, den Lyriker Stefan George und seinen Schülerkreis.17 Von Werner Kohlschmidt wurde der »Dritte Humanismus« in erster Linie mit dem George-Kreis assoziiert, aber auch in Verbindung mit der kunstgewerblichen Bewegung Henry van de Veldes und mit dem künstlerischen und architektonischen Jugendstil gebracht.18 Die begriffliche Unschärfe darf sicherlich als eine Begründung dafür herhalten, daß dieser Terminus auch später weitgehend unbekannt geblieben ist und auch in literaturwissenschaftlichen Kreisen kaum noch Verwendung findet. Einzig innerhalb der Altertumswissenschaften, und hier vor allem in ihren wissenschaftshistorisch interessierten Zweigen, ist er noch präsent, wohl auch, weil es hier zu einer einheitlichen Bestimmung gekommen ist: Mit dem »Dritten Humanismus« wird dort eine reaktionäre Bewegung innerhalb der eigenen Fächergruppe bezeichnet, die sich in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts formierte. Sie charakterisiert das aktive kultur- und bildungspolitische Bemühen, auf der Grundlage einer lebenswissenschaftlich inspirierten Hermeneutik eine vergegenwärtigte, enthistorisierte Antike zum allgemeinverpflichtenden gesellschaftspolitischen Leitbild zu erheben. Als ihr Initiator und ihre treibende Kraft gilt Werner Jaeger, bedeutendster Wilamowitz-Schüler und sein Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl. Er entwickelte in einer Reihe von populärwissenschaftlichen Vorträgen und Essays die Grundzüge einer politischen Bildungskonzeption, deren Zentrum die »Vermittlung der Ansprüche von Individuum und Staat/Gesellschaft«19 sein sollte.20 Jedoch ist diese Ausdeutung des Terminus »Dritter Humanismus« als – theoretisch und methodologisch – fundierte Bewegung mit korrespon17 18 19 20

Vgl. Rüdiger: Wesen und Wandlung des Humanismus, S. 279–297; Benda: Die Bildung des Dritten Reiches, S. 14. Vgl. Kohlschmidt: Die deutsche Literatur seit dem Naturalismus und die Antike, S. 575f.; S. 582. Landfester: Dritter Humanismus, Sp. 880. Vgl. z. B. Suzanne L. Marchand: Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750–1970. Princeton, NJ 1996, S. 302–340; Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 133–149; Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945. Berlin 2004, S. 269; S. 290f.; S. 314.

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dierender Bildungskonzeption innerhalb der Altertumswissenschaften insofern verengend, als sie auf eine Fächergruppe zugespitzt ist und auf die Zwischenkriegsära beschränkt bleibt. Vergleichbare Entwicklungen in anderen kulturellen Bereichen, die zum Teil bereits um die Jahrhundertwende das intellektuelle Klima prägten, in dem Jaeger und seine Mitstreiter erst wirken konnten, bleiben weitgehend außer acht. Wenn also trotz der problematischen Begriffsgeschichte auf diese Bezeichnung zurückgegriffen wird, so geschieht dies in erster Linie mit dem Anspruch, in deutlicher Absetzung von der nationalsozialistischen Ideologie eine neuartige, umfassende und disziplinübergreifende Interpretation zu präsentieren, die weniger die Aufmerksamkeit auf den »Dritten Humanismus« als trans- und interdisziplinäre antimoderne Bewegung in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts richtet, sondern vielmehr denkgeschichtliche Traditionen und weltanschauliche Grundideen herausarbeiten möchte, die Eingang in weite Bereiche des nationalkulturellen Lebens fanden und dieses nachhaltig beeinflußten. Zugleich soll aber durch seine Verwendung in dieser Arbeit auch auf zwei entscheidende Charakteristika hingewiesen werden, die dem Terminus schon auf etymologischer Ebene eingeschrieben sind und eine intendierte produktive Wechselwirkung mit überkommenen griechisch-antiken Denktraditionen signalisieren: das »Bemühen um eine menschenwürdige und dem Wesen des Menschen adäquate Lebensgestaltung«,21 wie es im antiken Humanitätsverständnis enthalten ist, und die geistige Nähe zu den beiden vorhergehenden Humanismen, zu dem europäischen Renaissance-Humanismus des 14. und 15. Jahrhunderts und zu dem deutschen Neuhumanismus der Zeit um 1800, die sich als dem »Dritten Humanismus« vergleichbare Denkrichtungen an der antiken Ethik und der antiken Bildungskonzeption orientierten. Als kleinster gemeinsamer Nenner dieser drei humanistischen Ausprägungen gilt der Rekurs auf das antike Menschenbild und auf den ihm zugeordneten Menschenbildungsgedanken, der im Griechischen als ›paideia‹ und im Lateinischen als ›humanitas‹ bezeichnet wurde. Dabei erfolgte die Bezugnahme auf die antike Tradition und ihre Anverwandlung von einer gegenwartskritischen Warte aus und wurde – dies ist besonders deutlich für den Neuhumanismus und den »Dritten Humanismus« – mit sinnstiftenden Zukunftsutopien verbunden.

21

Manfred Landfester: Humanismus I: Zum Begriff. In: 4RGG 3 (2001), Sp. 1938f., hier Sp. 1938.

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Stationen des humanistischen Bildungsgedankens Die Paideia-Idee, die so prägend für künftige Humanismen werden sollte, entwickelte sich sukzessive innerhalb der griechischen Geistesgeschichte; sie war von der frühen Polis über die Sophisten bis zu Isokrates vielen Wandlungen unterworfen. Demnach fällt es schwer, sie auf einen eindeutigen Inhalt festzulegen. Dennoch lassen sich einige Grundkonstanten des Paideia-Gedankens ausmachen, die von späteren Humanistengenerationen in ihre weltanschaulichen Konzepte integriert wurden, natürlich unter Anpassung an die jeweiligen zeitgenössischen Gegebenheiten und Erfordernisse. An erster Stelle ist hier auf die originäre Vorstellung zu verweisen, daß Bildung weitgehend zweckfrei geschehen und ganzheitlich angelegt sein müsse und deshalb von der erzieherischen Vorbereitung auf einen Beruf oder eine gesellschaftliche Position zu trennen sei. Gegenüber dieser ›techne‹ verstand sich die ›paideia‹ als eine Art individuelle Lebenshilfe, die den Heranwachsenden bei seinem Werdevorgang, d. h. bei seiner Persönlichkeitsentwicklung, unterstütze und ihm nicht nur eine »Lebensordnung, deren Maßstäbe[…] und bildenden Kräfte[…]« vermittele, sondern ihn zugleich zur Ausprägung einer »persönlich-geistige[n] Kultur« anrege.22 Dabei wurde stets der pädagogische mit dem gemeinschaftspolitischen Gedanken verknüpft, denn Bildung galt als Angelegenheit der Polis und sollte als solche zur Pflege, aber auch Beförderung allgemein-kultureller Leistungen beitragen. In der Neuzeit übte die griechische Paideia, adaptiert und weiterentwickelt im römischen Altertum, prägenden Einfluß auf drei Humanismen aus: auf den ersten der Renaissancezeit, auf den zweiten, den Neuhumanismus des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, und auf den »Dritten Humanismus« des beginnenden 20. Jahrhunderts. Bedeutende Anregungen für sein gesellschaftliches Reformprojekt entnahm der »Dritte Humanismus« dem neuhumanistischen Entwurf und den mit ihm verbundenen Hellas-Projektionen, wenngleich diese an die eigenen Bestrebungen angepaßt und insofern verkürzt und einseitig rezipiert wurden. Die Attraktivität des Neuhumanismus für den »Dritten Humanismus« bestand darin, daß sich anders als im Renaissance-Humanismus seine Wirkmächtigkeit auf den deutschen Sprachraum beschränkte und vornehmlich die griechisch-antike Tradition in den Vordergrund stellte. Sein wichtigstes Anliegen war es, eine zweckfreie und selbstbe22

Ernst Lichtenstein: Paideia. Die Grundlagen des europäischen Bildungsdenkens im griechisch-römischen Altertum. Bd. 1,1: Der Ursprung der Pädagogik im griechischen Denken. Hannover u. a. 1970, S. 11; S. 48.

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stimmte Bildung des Individuums durch inhaltliche Auseinandersetzung mit der griechisch-antiken Überlieferung in Wort und Bild zu gewährleisten. Ziel dieser Persönlichkeitsbildung an den alten Griechen sollte es sein, dem kritisierten Hier und Jetzt ein sinnstiftendes Gegenmodell mit Zukunftsperspektive zu präsentieren und den Glauben an die Möglichkeit eines kommenden goldenen Zeitalters in der deutschen Kultur, wie es mit dem Griechentum identifiziert worden war, zu stärken. Dabei wurde gerade der ästhetischen Anschauung hellenischer Kunstobjekte allgemeinbildendes Potential zugesprochen; durch Verinnerlichung des griechischen Lebensprinzips sei ein produktives Nachschaffen zur Vervollkommnung des Selbst und der Nation möglich. Im »Dritten Humanismus« schließlich sollte – in Anlehnung an den Neuhumanismus – ebenfalls die Antike mit der griechischen Welt des Altertums gleichgesetzt und den Römern lediglich die Funktion zugeschrieben werden, die griechischen Ideale bewahrt und der Nachwelt überliefert zu haben. Auch wollte man ganzheitliche Persönlichkeitsbildung in einen gesellschaftspolitischen Kontext – hier: in die Überwindung der wilhelminischen Werteordnung und der konstitutionellen Monarchie – einbetten mit dem Ziel – und auch dies sind keine neuen Forderungen –, die gesamtkulturelle Entwicklung Deutschlands zu fördern sowie eine organische »Volksgemeinschaft« zu schaffen, um schließlich auf dieser Basis eine kulturelle Vorreiterrolle zu erlangen. Im Gegensatz aber zu vielen Griechenbildern der Goethezeit, die das Moment der Statik auszeichnen, also dem ›griechischen Charakter‹ die Eigenschaften Ruhe, Ausgeglichenheit und Harmonie zuschreiben, sollte sich im »Dritten Humanismus« sukzessive das diametrale Bild einer dynamischen Antike durchsetzen, in der Vitalismus, Rauschhaftigkeit, Ursprünglichkeit, aber auch agonale Prinzipien bestimmend gewesen seien. Entsprechend erfreute sich gerade das frühe, archaische Griechentum zunehmender Beliebtheit gegenüber dem klassischen Zeitalter, dem von Athen dominierten fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert, das noch Weimarer Klassik, Neuhumanismus und Idealismus als maßgeblicher Bezugspunkt galt. Mit der allmählichen Abwendung von Athen sollte im »Dritten Humanismus« der spartanische Kosmos – und hier vor allem die Jahrhunderte vor dem Peloponnesischen Krieg – in den Vordergrund rücken; an Lakedämon faszinierten neben den genannten Epitheta, die man dort in Reinform verwirklicht glaubte, der angeblich in der Polis praktizierte Gemeinschaftsgeist sowie ihr gefolgschaftlich organisierter Gesellschafts- und Staatsaufbau. Unter Bezugnahme auf das verstaatlichte Erziehungssystem Spartas konnte nun auch der Fokus von einer 10

Paideia, die über eine selbstbestimmte und freiheitliche Entfaltung aller Kräfte und Anlagen jedes einzelnen Menschen eine überindividuelle Bildung zu ermöglichen suchte, auf eine fremdbestimmte, konformistische Erziehungskonzeption verlagert werden, die sich an kollektiv-staatlichen Interessen und Bedürfnissen orientierte. Auch wenn diese Differenzen zwischen »Drittem« und zweitem Humanismus markant erscheinen, so sind sie nicht als abrupter »Kontinuitätsriß«23 aufzufassen, der sich wie ein unüberwindbarer Grat zwischen der Griechenrezeption der Goethezeit und der des ausgehenden 19. wie beginnenden 20. Jahrhunderts auftat, sondern als allmähliche Verschiebungen innerhalb traditioneller Wahrnehmungsmuster, die durch sich verändernde äußere Rahmenbedingungen oder besser: soziokulturelle Kontexte ausgelöst wurden. Die humanistischen Gehalte verschoben sich von einer stark ästhetisch motivierten Aneignung der griechisch-humanistischen Tradition zu einem politisch funktionalisierten Rückgriff, von einer kosmopolitischen Anschauung zu einem radikalisierten Nationalismus bzw. zu einem ausgeprägten Germanozentrismus. Dieser allmähliche Transformationsprozeß wird aber erst dann wirklich deutlich, wenn der »Dritte Humanismus« unter einer transdisziplinären Perspektive betrachtet wird, die einen Blick auf ausdifferenzierte Disziplinen und Diskurse erlaubt und zugleich das zeitliche Spektrum erweitert, wie es hier geschehen soll. Historische und transdisziplinäre Perspektive Auf die Notwendigkeit, den Humanismus-Begriff auch in zeitlicher und transdisziplinärer Hinsicht weiter zu fassen, um die vielfältigen Facetten der mit ihm verbundenen Gesamtanschauung wahrnehmen zu können, hatte bereits Ende des Jahres 1932 Carl Heinrich Becker indirekt hingewiesen. In einem Beitrag für die ›Vossische Zeitung‹ betonte er, daß gegenwärtig die griechische Antike eine vergleichbare bildungspolitische Vorbildfunktion in drei unterschiedlichen Bereichen bzw. Diskursen einnehme: in den Wissenschaften, in der preußischen Bildungs- und Kulturpolitik und in der Literatur. Die »wissenschaftliche« Antikerezeption, wie sie von jungen Altertumswissenschaftlern um Werner Jaeger, aber auch von den beiden Pädagogen Eduard Spranger und Theodor Litt betrieben werde, die »praktische«, die sein eigenes Denken und Handeln begründe,

23

Kohlschmidt: Die deutsche Literatur seit dem Naturalismus und die Antike, S. 576.

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sowie die »religiöse« des George-Kreises24 seien nicht als autonome, unabhängige Strömungen aufzufassen, sondern Ausprägungen oder besser: kollektive Varianten eines »Dritten Humanismus«, der – so ist zu ergänzen – ihren gemeinsamen geistigen Überbau darstelle.25 Wie bereits von Becker vorgeschlagen, der die Georgeaner als maßgebliche Vertreter des »Dritten Humanismus« verstanden wissen wollte und damit für eine Erweiterung des Bedeutungsrahmens auch in zeitlicher Hinsicht plädierte, wird in der vorliegenden Arbeit der Beginn des »Dritten Humanismus« um etwa drei Dekaden in die 1890er Jahre vorverlegt. In dieser Phase begann George in der Absicht, eine »neue fühlweise und mache«26 zu etablieren, zuerst Gesinnungsgenossen, dann Schüler um sich zu versammeln. Wie vielen Zeitgenossen galten ihm die Jahre um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Epochenschwelle, als Übergangszeit von einer als dekadent wahrgenommenen alten Ära zu einer Periode des kulturellen sowie gesellschaftlichen Neuanfangs. Den sehnsüchtig erwarteten Anbruch einer neuen Zeit sollte eine universalistische Sinnstiftung beschleunigen, die sich auf einer lebensweltbezogenen Auseinandersetzung mit der antiken Welt und ihrer Rezeption im Neuhumanismus gründe. Damit befindet sich George in Einklang mit gängigen Tendenzen der Zeitkritik um 1900 und der aus ihr abgeleiteten Reformvorschläge. Carola Groppe hat die weltanschauliche Programmatik, die den kulturkritisch inspirierten literarisch-künstlerischen Strömungen des Fin de siècle – dem Ästhetizismus, Symbolismus, Jugendstil und Expressionismus, aber auch der Neoklassik, um nur die wichtigsten zu nennen – ebenso wie den lebensreformerischen Bewegungen des beginnenden 24

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Obwohl Becker in seiner Bestandsaufnahme George und seine Schüler nicht direkt erwähnt, wird über den Namen Lothar Helbing eine Brücke zum George-Kreis geschlagen: Lothar Helbing ist ein Pseudonym Wolfgang Frommels. Obwohl Frommel eigentlich nicht zum engeren George-Kreis gezählt werden kann, wurde und wird sein Name immer wieder mit diesem assoziiert. Über Mitglieder, mit denen er in engem persönlichem Kontakt stand, wurde er mit Georges Anschauungen vertraut gemacht, die ihn so sehr in Bann zogen, daß er sein Leben und literarisches Schaffen in den Dienst ihrer Vermittlung und Bewahrung stellte. – Ergänzend und unterstützend sei hinzugefügt, daß sich Becker in einem anderen Text ausdrücklich auf die Schriften des George-Kreises beruft, um Grundzüge des neuen Humanitätsideals zu veranschaulichen: »Man lese die Bücher des S t e f a n G e o r g e -Kreises […], wenn man wissen will, woran hierbei gedacht ist« (Carl Heinrich Becker: Vom Wesen der deutschen Universität. Leipzig 1925, S. 41). Vgl. ders.: Der dritte Humanismus, S. 2f. [Stefan George / Karl August Klein:] Blätter für die Kunst. In: Blätter für die Kunst (= BfdK). Begründet von Stefan George. Hrsg. von Carl August Klein. Berlin 1892–1919 (= Abgelichteter Neudruck Düsseldorf, München 1968), Bd. 1 (1892), Heft 1, S. 1f., hier S. 1.

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20. Jahrhunderts zugrunde liegt, als »Neohumanismus« bezeichnet. Diesen möchte sie vom altertumswissenschaftlichen »Dritten Humanismus« der Zwischenkriegsära, der eng mit dem Namen Werner Jaeger verbunden ist, abgesetzt sehen. Weil der George-Kreis viele Impulse eben dieser obengenannten Stilrichtungen aufgreift und für sein Literatur- und Lebensmodell fruchtbar macht, subsumiert sie ihn unter der »neohumanistischen« Gesamtanschauung. Damit unterscheidet sie die Konzeptionen der Georgeaner explizit von Jaegers Modell.27 Jedoch ist diese Differenzierung zwischen literarisch-künstlerischem »Neohumanismus« und wissenschaftlichem »Drittem Humanismus« sachlich nicht haltbar, denn es besteht kein Grund, in einer übergreifenden Diskursformation Kunst / Kultur und Wissenschaft zu trennen und für jeweils eigene Diskurse auszugeben, wenn beide nach gleichen Regeln funktionieren. Sowohl die unbestrittenen Vertreter des »Dritten Humanismus«, Jaeger und seine Anhänger, als auch die umstrittenen Georgeaner griffen auf identische Traditionsstränge zurück, die als Kennzeichen einer Gesamtanschauung – nämlich eines »Dritten Humanismus« als gesamtkultureller und damit inter- bzw. transdisziplinärer Sinnstiftung – anzusehen sind: Beide Ausprägungen – die jaegersche, aber eben auch die georgesche – stellten sich in die Nachfolge von Nietzsches Kulturkritik, adaptierten lebensphilosophische Vorstellungen, wie die Forderung nach einer vitalistischen Deutung des Seins und nach ganzheitlichem Erleben, bezogen sich auf neuhumanistische wie idealistische Theoreme und beanspruchten bildungspolitische Wirksamkeit durch Bereitstellung innovativer Weltentwürfe, mit denen die Gegenwart neuzugestalten wäre. Aufgrund der denk- und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge wird also der »Neohumanismus« als integraler, aber nicht eigens zu bezeichnender Bestandteil eines »Dritten Humanismus« betrachtet, dessen Anfänge in das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Eine derartige Rahmenerweiterung, die nicht nur die zeitliche Ausdehnung betrifft, sondern auch Disziplingrenzen überschreitet, ermöglicht, die Positionen Georges und seiner Anhänger als Varianten eines »Dritten Humanismus« zu betrachten, der erst in seiner transdisziplinären Breite als Gesamtphänomen angemessen erfaßt werden kann und von dem aus umgekehrt auch George in Kontexten erscheint, die neue Perspektiven auf seine Kulturkritik erlauben. Ein Bereich, der in den bisherigen Überlegungen ausgeblendet wurde, obwohl ihn bereits Becker ins Spiel gebracht hat, sind die Bildungswissen27

Vgl. Carola Groppe: Neohumanismus. In: DNP 15/1 (2001), Sp. 883–894.

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schaften. Eine nähere Beschäftigung mit ihnen bietet sich schon deshalb an, weil vor dem Ersten Weltkrieg aus den Altertumswissenschaften – von Nietzsche einmal abgesehen – keine weltanschaulichen Entwürfe hervorgingen, die sich als Weiterentwicklung griechisch-humanistischen Gedankengutes verstanden. Das Anliegen, kulturelle und menschliche Progression durch Orientierung an der Antike zu befördern, das ja auch zeitgenössische Autoren wie bildende Künstler beschäftigte, wurde aber von anderen Geisteswissenschaftlern vorgetragen. In besonderem Maße betrifft dies die Gruppe der Pädagogen und (Bildungs-)Philosophen, die ja qua officio mit Erziehungs- und Menschenbildungsfragen konfrontiert waren. Deshalb soll neben den Altertumswissenschaften und der literarischkünstlerischen Sphäre auch die Pädagogik als weiteres autonomes Teilsystem des soziokulturellen Lebens Berücksichtigung finden. Diese drei genannten Bereiche verband um 1900 das Interesse an geistesgeschichtlichen Entwicklungen, von denen man glaubte, sie könnten die moderne Identität stützen; von der Auseinandersetzung mit der ›verwandten‹ griechischen ›Art‹, ihren Lebensprinzipien und kulturellen Errungenschaften versprach man sich besondere Impulse für die Entfaltung des eigenen nationalkulturellen Lebens. Für die identifikatorische Beschäftigung mit dem Griechentum war ein gemeinsamer Grundbestand an humanistischen Denkmustern verfügbar, der in der Goethezeit geprägt worden war. In das transdisziplinäre Rahmengerüst, in dem der »Dritte Humanismus« rekonstruiert werden soll, wird allerdings nicht – insofern abweichend von Beckers Vorschlag – die preußisch-staatliche Bildungspolitik, wie sie in den zwanziger Jahren maßgeblich durch seine Person verkörpert wurde, als eigenständiger diskursiver Bereich integriert. Es erscheint wenig sinnvoll, Beckers sogenannten »praktischen« Humanismus näher zu untersuchen, denn sein bildungspolitisches Engagement war weniger auf theoretische Grundlagen eines zeitgenössischen Humanismus gerichtet als vielmehr auf praxisbezogene Überlegungen, die die Verbreitung und Umsetzung der neuen Gesamtanschauung begünstigen sollten. In Vorträgen und Essays, die in diesem Kontext entstanden, operierte Becker zudem häufig mit wenig konkreten, offenen Begrifflichkeiten und überließ ihre genaue inhaltliche Bestimmung anderen.28 Eine Untersu28

So sei beispielsweise die geistige Haltung des »Dritten Humanismus« der weltanschaulichen Programmatik der Georgeaner zu entnehmen. – Vgl. Becker: Vom Wesen der deutschen Universität, S. 41.

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chung seiner bildungspolitischen Texte würde demnach kaum zu weiterführenden Erkenntnissen verhelfen. Maßgebliche Vertreter Der »Dritte Humanismus« läßt sich in drei diskursiven Bereichen des kulturellen Lebens, die eng miteinander verknüpft sind und in gegenseitiger Wechselbeziehung stehen, rekonstruieren. Entsprechend soll exemplarisch je ein Paradigma für die Sphären Literatur und Kunst, klassische Philologie und Pädagogik in transdisziplinärer Hinsicht näher betrachtet werden. Als Repräsentanten dieser Bereiche werden Personen bzw. Gruppen ausgewählt, die sich selbst schon als Vertreter des »Dritten Humanismus« verstanden und denen aufgrund ihrer Reputation öffentliches Interesse zukam, das ihnen wiederum gesellschaftspolitische Einflußnahme ermöglichte. Vor diesem Hintergrund werden Stefan George und sein Kreis29 stellvertretend für die künstlerisch-literarische Sphäre in die Untersuchung einbezogen. Allerdings soll die Aufmerksamkeit nicht auf ihre Texte als formal-ästhetische Kunstwerke, also deren artifiziellen Charakter gerichtet werden, sondern vielmehr auf die in diesen vorgetragenen Gedanken und ihre Weiterentwicklung. Anders als viele Schriftsteller des berücksichtigten Zeitraums, die auch im Medium der Antikerezeption literarischästhetische Kulturkritik betrieben, wie beispielsweise Gottfried Benn, Rudolf Borchardt, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Ernst und Friedrich Georg Jünger, aber auch Thomas Mann und Rainer Maria Rilke, stellte George seine künstlerische Produktion aktiv in den Dienst eines Bildungsprogramms. Wie sie konzipierte er in vielen seiner Gedichte ein Sozial- und Kulturmodell für ein künftiges abendländisches ›Menschentum‹, aber ihm – und damit unterscheidet er sich fundamental von seinen Schriftstellerkollegen – gelang es, seine geistige Utopie eines »Neuen Reiches« dem rein literarisch-künstlerischen Bereich zu entheben und sie in der realen Gegenwart in einem kleinen esoterischen Schülerkreis, unter den sogenannten Georgeanern, zu erproben: Literarischkünstlerisch interessierten jungen Akademikern und begabten Gymna29

Zu Stefan George vgl. die im Sommer 2007 erschienene Biographie von Thomas Karlauf (Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München), die um ein handfestes, an der Realität orientiertes Bild des Lyrikers bemüht ist, sowie Robert E. Nortons Lebensbeschreibung, die Georges Werk und Wirken durch die historisch-politische Brille betrachtet (Secret Germany. Stefan George and his Circle. Ithaca, NY 2002); zum Kreis siehe einführend Michael Winkler: George-Kreis. Stuttgart 1972 (= SM 110).

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siasten vermittelte er sein Weltbild durch ganzheitliche Persönlichkeitsbildung auf der Grundlage humanistischen und platonischen Ideengutes. Dabei wies er gerade der intensiven Lektüre und produktiven Rezeption seiner Lyrik, dem aktiven Exerzitium der in ihr enthaltenen ethischen und weltanschaulichen Lehrsätze, einen besonderen Stellenwert zu. Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Studie der Fokus auf den »rhetorischen George« gelegt, also auf seine Aphorismen, die im Umfeld des ›Blätter‹-Kreises entstanden, und Gedichte, die das Ästhetische zugunsten »der kämpfenden Poesie«30 zurückdrängen. Diese Texte, die einen ausgeprägt deklamatorischen Charakter aufweisen und in denen Autor und artikuliertes Ich zusammenzufallen scheinen, sind überwiegend in den späteren Gedichtbänden – ›Der Siebente Ring‹ (1907), ›Der Stern des Bundes‹ (1914) und ›Das Neue Reich‹ (1928) – überliefert.31 Georges Idee eines künftigen Kulturstaates griechischer Prägung, die in vielen der dort versammelten Gedichte zwar nicht immer explizit thematisiert, aber doch unterschwellig assoziiert wird, wurde von seinen Schülern, die im bürgerlichen Leben Brotberufen nachgingen und als Juristen, Mediziner oder Geisteswissenschaftler tätig waren, seit den 1910er Jahren in die gelehrte Öffentlichkeit getragen (häufig natürlich auch in einer von ihnen weitergedachten Form, die nicht immer mit seinen Grundgedanken übereinstimmte). Seit Mitte der zwanziger Jahre oblag den Georgeanern dann ausschließlich die Verbreitung und Auslegung der Lehre und Weltanschauung ihres »Meisters«, denn George verfaßte nun keine Gedichte mehr, sondern widmete sich allein der Werkpolitik, indem er – gerade durch das Sprachrohr seiner Schüler – bestimmte Interpretationslinien seiner Texte vorgeben und andere bewußt verstellen ließ. Wohl auch in dieser Absicht begleitete er mit Anregungen und Einsprüchen das Entstehen ihrer »Weltanschauungsliteratur«,32 d. h. ihrer populärwissenschaftlichen Essays und »wissenschaftskünstlerischen«33 Publikationen, 30

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Dirk von Petersdorff: Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist? In: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Hrsg. von Bernhard Böschenstein u. a. Berlin, New York 2005, S. 49–58, hier S. 56. Stefan Georges Gedichte werden, wenn nicht anders vermerkt, zitiert nach den Sämtlichen Werken in 18 Bänden (= SW). Hrsg. von der Stefan-George-Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Stuttgart 1983ff. Dieser Terminus wurde von Horst Thomé zur Diskussion gestellt. – Vgl. v. a. seinen Beitrag ›Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp‹, S. 351–380. Zum Begriff des »Wissenschaftskünstlers« vgl. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert. Frankfurt a. M. 1993, S. 177–198, hier S. 178.

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die neben der Erörterung der eigentlichen Thematik exegetische Überlegungen zum georgeschen Werk und der dort vorgetragenen Lehre enthalten. Insofern dokumentieren diese Schriften die starke, wechselseitige Beeinflussung zwischen holistischem Literatur- und Wissenschaftsverständnis, die ja für den »Dritten Humanismus« charakteristisch ist. Daneben läßt sich durch literatursoziologische Analysen dieser Texte ein weiteres Spezifikum zeigen, nämlich die synthetische Kraft der humanistischen Ideologie, die in dem Bestreben zum Ausdruck kommt, nicht zwischen privater und offizieller Autorschaft zu unterscheiden und damit Kunst, Wissenschaft und Gesellschaftspolitik in einem einheitlichen Entwurf zu bündeln. Aus dem nur schwer einzugrenzenden Zirkel um George – es lassen sich mehrere Generationen ausmachen, deren Vertreter teilweise Unterkreise begründeten – sollen vor allem Mitglieder ausführlich zu Wort kommen, die dem Lyriker sehr nahestanden und deshalb mit seinem Denken und den Strukturen der Gemeinschaft besonders vertraut waren. In erster Linie ist hier an Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters zu erinnern, aber auch an Kurt Hildebrandt und Berthold Vallentin und nicht zuletzt an Karl Wolfskehl, den ältesten Freund Georges. Neben ihnen finden aber auch Ernst Kantorowicz, Ernst Bertram und Wolfgang Frommel besondere Berücksichtigung. Karl Wolfskehl,34 der selbsternannte »Petrus« des Kreises,35 nahm 1892 mit einem verehrenden Brief an George den freundschaftlichen Kontakt auf, der bis zu dessen Tod im Dezember 1933 anhielt. Wenngleich die stärkste Annäherung in den Zeitraum von ca. 1899 bis 1910 fiel und Wolfskehl in den zwanziger und dreißiger Jahren zunehmend im Kreis isoliert wurde, so kommt ihm doch das Verdienst zu, hingebungsvoll zur Verbreitung einer neuen »fühlweise und mache« Anfang des Jahrhunderts beigetragen zu haben: Wolfskehl war einer der produktivsten Beiträger zu den ›Blättern für die Kunst‹ und kümmerte sich engagiert um Herstellung und Versand der Zeitschrift. Zudem führte er George spätere Schüler zu, gewährte dem »Meister« in seinem Münchner Haus – dort traf sich einer 34

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Zu Karl Wolfskehl vgl. folgenden Sammelband: »O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!«. Leben und Werk von Karl Wolfskehl (1869–1948). Hrsg. von Elke-Vera Kotowski und Gert Mattenklott. Hildesheim, Zürich, New York 2007 (= Haskala. Wissenschaftliche Abhandlungen 33), darin insbesondere Ute Oelmann: »ich will dein Petrus sein«. Karl Wolfskehl und Stefan George, S. 41–52. – Siehe ferner Hans Sarkowicz: Karl Wolfskehl. In: Killy 12 (1992), S. 419–421. Vgl. [Karl Wolfskehl:] Berufung. In: BfdK 9 (1910), S. 53: »Ich bin dein knecht ich will dein Petrus sein«.

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der lebendigsten Salons der Stadt – häufig Unterkunft und arrangierte dort Lesungen. Kreispolitisch trat er durch die Prägung der Metapher »geheimes Deutschland« als Synonym für die Erneuerungsbestrebungen des George-Kreises in Erscheinung. Friedrich Gundolf,36 Ordinarius für Neuere deutsche Literatur in Heidelberg, galt lange Zeit als Lieblingsjünger Georges. Er beherbergte George häufig, begleitete ihn auf Reisen und stand auch sonst mit ihm in ständigem persönlichem Kontakt, wie der Briefwechsel zwischen beiden belegt. Auch fungierte er als Georges Privatsekretär. Damit war Gundolf in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sein engster Vertrauter, aber auch engagiertester Mitarbeiter. Als Verfasser des programmatischen Essays ›Gefolgschaft und Jüngertum‹ – neben Friedrich Wolters ›Herrschaft und Dienst‹ gleichsam eines der beiden Statuten des George-Kreises – und Herausgeber des kulturpolitischen ›Jahrbuchs für die geistige Bewegung‹ (1910–1912), dessen populärwissenschaftliche Beiträge sich als Richtlinien für die anvisierte kulturelle wie gesellschaftliche Erneuerung verstanden, war er maßgeblich an der Normierung, Auslegung und Verbreitung des weltanschaulichen Gedankengutes des George-Kreises beteiligt. Neben Gundolf haben als weitere wichtige Stützen georgescher Kulturpolitik der bereits erwähnte Wirtschaftshistoriker Wolters,37 der in Marburg und Kiel Mittlere und Neuere Geschichte lehrte, und der Psychiater und spätere Philosophieprofessor Kurt Hildebrandt38 zu gelten; beide engagierten sich auch nachhaltig für das ›Jahrbuch‹-Projekt – Wolters als zweiter Herausgeber und Hildebrandt mit ausführlichen Beiträgen. Ihre kulturkritischen und bildungspolitischen Texte sind besonders aufschlußreich, weil sich die Verfasser intensiv bemühten, die kosmanthropen Theoreme Georges und Ideen des Kreises für die Tagespolitik in Deutschland zu instrumentalisieren und damit am radikalsten den Schritt zur Verwirklichung des anvisierten »Neuen Reiches« in der zeitgenössischen Gegenwart vollzogen.

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Zu Friedrich Gundolf vgl. Hans-Martin Kruckis: Friedrich (Leopold) Gundolf. In: Killy Literaturlexikon 4 (2009), S. 526f.; Christian Horn: Friedrich Leopold Gundolf. In: Internat. Germanistenlexikon 1, S. 638–640. Zu Wolters vgl. Reinhard Tenberg: Friedrich Wolters. In: Killy 12 (1992), S. 424; Winkler: George-Kreis, S. 70f. Zu Hildebrandt vgl. Michael Landmann: Kurt Hildebrandt (1881–1966). In: Figuren um Stefan George. 2. Bd. Amsterdam 1988 (= CP 183), S. 49–51; Winkler: George-Kreis, S. 71f.

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Der Rechtsanwalt Berthold Vallentin,39 der zu den produktiven Beiträgern der Jahrbücher zählte, teilte mit Wolters und Hildebrandt das Interesse an kulturpolitischen Fragestellungen. Aber nicht nur deshalb ist er wichtig für diese Studie, sondern auch, weil er mit zwei prominenten »Gestalt-Biographien« hervortrat –40 einem weitverbreiteten didaktisch-humanistischen Genre in der Tradition von Gundolfs ›Goethe‹,41 das Leistungen, die für die Fortentwicklung der Menschheit als entscheidend erachtet wurden, als Ausdruck einer nachahmenswerten geistigen Haltung erklärt, die im griechisch-antiken Menschenbild begründet sei. Mit dem Mittelalterhistoriker Ernst Kantorowicz42 soll ein Angehöriger der dritten Kreis-Generation, der um die Jahrhundertwende Geborenen und systematisch im Zirkel Sozialisierten, ausführlicher zur Sprache kommen, dem es gelang, innerhalb der konservativen Historikerzunft mit seinen als revolutionär eingestuften geistesgeschichtlich-weltanschaulichen Deutungen Beachtung und Respekt zu erlangen. Der von George hochgeschätzte Hölderlin-Forscher Norbert von Hellingrath43 sowie der bedeutende Literaturwissenschaftler Max Kommerell,44 der als »Maxim« eine Zeitlang als des »Meisters« Lieblingsschüler fungierte, werden nur am Rande berücksichtigt. Als eigenständige Persönlichkeiten traten sie George selbstbewußt gegenüber und gingen ihre eigenen Wege: Sie unterwarfen sich nicht bzw. nur kurzfristig den Regeln des Kreises.

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Zu Vallentin vgl. Einleitung. In: Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George 1902–1931. Amsterdam 1960 (= CP 44/45), S. 5–12; Michael Landmann: Berthold Vallentin (1877–1933). In: Figuren um Stefan George. Zehn Porträts. [1. Bd.] Amsterdam 1982 (= CP 151/152), S. 52–60. Berthold Vallentin: Napoleon. Berlin 1923; ders.: Winckelmann. Berlin 1931. Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916. Zu Kantorowicz vgl. Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk »Kaiser Friedrich der Zweite«. Wiesbaden 1982 (= Frankfurter Historische Abhandlungen 25); Olaf B. Rader: Ernst Hartwig Kantorowicz (1895–1963). In: Lutz Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. Bd. 2: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis. München 2006, S. 7–26. Zu Hellingrath vgl. Bernhard Böschenstein: Norbert (Theodor) von Hellingrath. In: Killy Literaturlexikon 5 (2008), S. 246f.; Heinrich Kaulen: Friedrich Norbert Theodor von Hellingrath. In: Internat. Germanistenlexikon 2, S. 712f. Zu Kommerell vgl. Gert Mattenklott und Mario Zanucchi: Max Kommerell. In: Killy Literaturlexikon 6 (2009), S. 613–615; Matthias Weichelt: Max Kommerell. In: Internat. Germanistenlexikon 2, S. 984f.

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Aus dem weiteren Umkreis Georges werden Texte Ernst Bertrams,45 Ordinarius für Neuere deutsche Sprache und Literatur in Köln, und des Rundfunkredakteurs und freien Schriftstellers Wolfgang Frommel46 alias Lothar Helbing berücksichtigt und hinsichtlich der Rezeption georgeschen Gedankengutes befragt. Bertram war über seinen Freund und Lebensgefährten Ernst Glöckner, der zum engeren George-Kreis zählte, mit Ideengut sowie Gedichten und Schriften der Gemeinschaft vertraut. Er veröffentlichte eine von George geschätzte Nietzsche-Biographie,47 die sich in formaler Gestalt und Methodik an den geistesgeschichtlichen Arbeiten der Georgeaner orientierte, und versuchte, auch im populärwissenschaftlichen Rahmen Anschluß an ihre Ideologie zu wahren; in den dreißiger Jahren verfremdete er sie jedoch durch Vermischung mit nationalsozialistischem Gedankengut. Frommel, der mit George-Schülern in Verbindung stand, George aber nur einmal persönlich begegnet war, stellte sich in dessen geistige Tradition. Auch ihn veranlaßte eine kulturpessimistische Grundeinstellung zu bildungspolitischem Engagement. Anders als George wollte er den neuen Humanismus aber nicht auf das geistig-künstlerische Deutschland, den Kreis um George und seine Heroen, beschränken, sondern wie Wolters, Hildebrandt und Bertram im realen Deutschland verwirklichen. Er lebte eine Zeitlang in der Illusion, daß der georgesche Humanismus mit einem geläuterten Nationalsozialismus zu vereinbaren sei;48 nach der »Machtergreifung« wurde er jedoch zum entschiedenen Regimegegner und emigrierte 1937 nach Amsterdam, wo er sich im Exil mit jüdischen George-Liebhabern dessen Andenken durch die Begründung der Zeitschrift ›Castrum peregrini‹ widmete.49 Die Beschäftigung mit Georges Texten und denen seiner Anhänger wird durch eine ausgesprochen gute Materiallage erleichtert: Es liegt ein umfangreiches und vielschichtiges Textkorpus vor, das weitestgehend erschlossen ist. Seit 1983 wird von der Stefan-George-Stiftung eine kom45

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Zu Bertram vgl. Marcel Lepper: Ernst Bertram. In: Killy Literaturlexikon 1 (2008), S. 502f.; Peter Gossens: Ernst August Bertram. In: Internat. Germanistenlexikon 1, S. 164f. Zu Frommel vgl. Günter Baumann: Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini. Würzburg 1995 (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 153). Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918. Vgl. Dieter Kelling: Dritter Humanismus und Drittes Reich. In: Germanistisches Jahrbuch DDR – Republik Ungarn 8 (1989), S. 35–51, hier S. 36f. Zur ursprünglich esoterischen, wissenschaftskritischen Zeitschrift ›Castrum peregrini‹ (= CP) und ihrer Entwicklung zu einem Organ, das neben der Kunst auch der Wissenschaft gerecht werden möchte, siehe Ray Ockenden: Der wissenschaftliche Beitrag des Castrum Peregrini. In: Wissenschaftler im George-Kreis, S. 67–81.

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mentierte Werkausgabe (SW) in achtzehn Bänden herausgebracht, die kurz vor dem Abschluß steht. Georges Briefwechsel mit Gundolf und Wolters sowie Gundolfs Korrespondenz mit Kollegen und Freunden liegen publiziert vor; jüngst kam der Briefwechsel Gundolf – Wolters (1909–1925) hinzu.50 Mit dem ›Jahrbuch für die geistige Bewegung‹ existierte ein Forum für die programmatischen und an die Öffentlichkeit gerichteten Schriften der Kreismitglieder; zudem druckten Bertram, Gundolf, Hildebrandt und Wolters ihre Reden vor größerem Publikum und richtungweisende Abhandlungen in eigenen Sammelbänden ab. Vor einigen Jahren hat Eckhart Grünewald Kantorowicz’ bedeutende Frankfurter Wiederantrittsvorlesung aus dem Herbst 1933 ediert und kommentiert.51 Von vielen Gesprächen mit George existieren Aufzeichnungen seiner Schüler; daneben dokumentieren hagiographische Erinnerungsbücher und Biographien die Kunstauffassung, Lehrsätze und Lebensprinzipien des Zirkels. Als Repräsentant für den Bereich der Altertumswissenschaften wird Werner Jaeger,52 der bedeutendste Vertreter dieser Fächergruppe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in die Untersuchung einbezogen. Ihm gelang es, nachhaltigen Einfluß sowohl auf die methodische und inhaltliche Neuorientierung seiner Fächergruppe als auch auf ihre Positionierung im gesellschaftspolitischen Gefüge auszuüben. Gleichzeitig stellte er – und das vereint ihn mit den Ambitionen Georges und seiner Schüler – seine Kompetenzen in den Dienst einer kulturellen Erneuerung der nationalen Gegenwart: So verschrieb er sich der Aufgabe, mit seinen philologischen 50

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52

Stefan George und Friedrich Gundolf. Briefwechsel. Hrsg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann. Düsseldorf, München 1962; Stefan George und Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930. Mit einer Einleitung. Hrsg. von Michael Philipp. Amsterdam 1998 (= CP 233–235); Friedrich Gundolf. Briefe, N. F. Hrsg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock. Amsterdam 1965 (= CP 66–68); Friedrich Gundolf – Friedrich Wolters. Ein Briefwechsel aus dem Kreis um Stefan George. Hrsg. und eingeleitet von Christophe Fricker. Köln, Weimar, Wien 2009. Ernst Kantorowicz: Das Geheime Deutschland. Ediert von Eckhart Grünewald. In: GeorgeJb 3 (2000/2001), S. 156–175 [Wiederabdruck nach Robert L. Benson und Johannes Fried (Hrsgg.): Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton, Johann Wolfgang Goethe-Universität. Frankfurt, Stuttgart 1997 (= Frankfurter Historische Abhandlungen 39), S. 77–93]. Zu Jaegers Person und Werdegang vgl. William M. Calder III: Werner Jaeger. In: Berlinische Lebensbilder. Geisteswissenschaftler. Hrsg. von Michael Erbe. Berlin 1989 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 60,4), S. 343–363; Eckart Mensching: Über Werner Jaeger (geb. am 30. Juli 1888) und seinen Weg nach Berlin (1988). In: Nugae zur Philologie-Geschichte II. Berlin 1989, S. 60–92; ders.: Über Werner Jaeger im Berlin der zwanziger Jahre anhand des Briefwechsels mit Joh. Stroux (1990). In: Nugae zur Philologie-Geschichte IV. Berlin 1991, S. 25–75; S. 76–116.

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Deutungen des antiken Quellenmaterials die wissenschaftliche Erkenntnis zu befördern und eine neuartige Ethik bereitzustellen, die als Grundlage für gesellschaftliche Reformen und eine daraus resultierende kulturelle Blüte fungieren könne. Zusammen mit Fachkollegen, die er nicht nur aufgrund seines außerordentlichen Renommees, sondern wohl auch, begünstigt durch eine charismatische Persönlichkeit, für sein Anliegen begeistern konnte, begründete er ein weitgefächertes bildungspolitisches Engagement. Die Spanne seiner außerordentlichen kulturpolitischen Betätigung reichte von populärwissenschaftlichen Reden und Essays für eine gebildete Öffentlichkeit, die die neue Griechenanschauung explizieren, bis zur aktiven Mitgestaltung des höheren Schulwesens, die durch offizielle Eingaben und die Ausarbeitung von Richtlinien dokumentiert ist. Gerade diese Texte Jaegers bieten sich für einen Vergleich mit den Schriften der Georgeaner an, um mögliche Konstanten des »Dritten Humanismus« zu ermitteln, weil sie prägnant und auf besonders eingängige und allgemeinverständliche Weise Grundzüge seines Weltbildes darstellen. In der Mehrzahl sind sie bereits 1937 in chronologischer Anordnung zu der Sammlung ›Humanistische Reden und Vorträge‹ vereinigt worden; die zweite Auflage 1960 ist um spätere erweitert. Abgesehen von den nationalsozialistisch gefärbten Abhandlungen ›Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike‹ (1933) und ›Die Stellung der Griechen in der Geschichte der menschlichen Erziehung‹ (1934) enthält die erweiterte Fassung alle wichtigen Äußerungen Jaegers, aus denen sich seine humanistische Weltanschauung extrahieren läßt. Sie bietet einen guten Querschnitt seines Denkens von der lebenswissenschaftlichen Ausrichtung der Philologie über schul- und staatspolitische Reorganisationsvorschläge zu der christlich-humanistischen Forderung nach Theonomie des Menschen. In ›Paideia‹ hat Jaeger zudem in erschöpfender Weise auf mehr als 1200 Seiten seine Menschenbildungskonzeption am Beispiel der Formung des griechischen Menschen dargelegt.53 Diese dreibändige Studie, die bis in die 1970er Jahre als ein Standardwerk der klassischen Philologie galt, wird neben weiteren kleinen Abhandlungen, die prominente Zeitschriften abdruckten, in die Analyse einbezogen. Ergänzt werden Jaegers Äußerungen durch vereinzelte Stellungnahmen seiner Mitstreiter, von denen als wichtigste hier die Gräzisten Paul Friedländer,54 Karl Reinhardt55 53 54

Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 3 Bde. Berlin 1934–1947. Zu Friedländer vgl. den Eintrag in der Deutschen Biographischen Enzyklopädie (= DBE). 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Hrsg. von Rudolf Vierhaus. Bd. 3: Einstein – Görman. München 2006, S. 526.

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und Wolfgang Schadewaldt56 aufzuführen sind – die beiden letztgenannten wurden auch über ihre Fächergrenzen hinaus wahrgenommen – sowie der Gymnasiallehrer und spätere Universitätsprofessor Otto Immisch,57 der lebenslang »am engen Bezug zur Schulpraxis« festhielt. Last but not least soll der Pädagogikprofessor Eduard Spranger,58 der zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Ruf eines ausgewiesenen Experten für erziehungswissenschaftliche, bildungsphilosophische und -psychologische Fragestellungen stand und wie Jaeger an der renommierten Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität lehrte, in die vorliegende Untersuchung stellvertretend für das diskursive Feld Pädagogik eingehen. Entsprechend werden ausgewählte Reden, Essays und Zeitungsbeiträge für ein breiteres Publikum wie fachwissenschaftliche Veröffentlichungen aus seinem umfangreichen Œuvre, die sich mit der Antikerezeption oder humanistischem Denken als Mittel zur Neugestaltung der deutschen Gegenwart und Zukunft beschäftigen, auf Übereinstimmungen mit dem Humanismus Georges und seiner Schüler wie dem jaegerscher Prägung analysiert. Seine Texte sind größtenteils in den elfbändigen ›Gesammelten Schriften‹ bzw. in den Sammlungen ›Volk, Staat, Erziehung‹59 und ›Kultur und Erziehung‹60 enthalten; einige kürzere Artikel, die ein scharfer nationalistischer Unterton auszeichnet und die gerade als Belege für eine verstärkte Politisierung seines Humanismus von Interesse sind, wurden von den Herausgebern allerdings nicht berücksichtigt; diese konnten jedoch – z. T. auch mit Hilfe des Spranger-Archivs an der TU Braunschweig –61 herangezogen und ausgewertet werden. Sprangers öffentliche Stellungnahmen 55 56

57 58

59 60 61

Zu Reinhardt vgl. Kjeld Matthiessen: Karl Reinhardt. In: Killy 9 (1991), S. 371; Wolfhart Unte: Karl Reinhardt. In: NDB 21 (2003), S. 361–363. Zu Schadewaldt vgl. Hellmut Flashar: Wolfgang Otto Bernhard Schadewaldt. In: NDB 22 (2005), S. 495f.; Hans-Albrecht Koch: Wolfgang Schadewaldt. In: Killy 10 (1991), S. 146f. – Zu seinem Wirken siehe auch folgenden Sammelband: Wolfgang Schadewaldt und die Gräzistik des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Thomas Alexander Szlezák unter Mitwirkung von Karl-Heinz Stanzel. Zürich, New York 2005 (= Spudasmata 100). Zu Immisch vgl. Carl Becker: Otto Immisch. In: NDB 10 (1974), S. 164f. (Zitat S. 164). Zu Leben und Werk Sprangers vgl. Peter Drewek: Eduard Spranger (1882–1963). In: Klassiker der Pädagogik. Bd. 2: Von John Dewey bis Paulo Freire. Hrsg. von HeinzElmar Tenorth. München 2003 (= Beck’sche Reihe 1522), S. 137–151; Michael Löffelholz: Eduard Spranger (1882–1963). In: Klassiker der Pädagogik. Hrsg. von Hans Scheuerl. Bd. 2: Von Karl Marx bis Jean Piaget. 2., überarbeitete und um ein Nachwort ergänzte Aufl. München 1991, S. 258–276. Eduard Spranger: Volk, Staat, Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze (= GRA). Leipzig 1932. Ders.: Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze. 4., vermehrte Aufl. Leipzig 1928 [zuerst 1919]. An dieser Stelle möchte ich dem Leiter des Spranger-Archivs, Herrn Dr. Gerhard Meyer-Willner, danken, der mir diese Texte zugänglich machte.

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ergänzen bzw. relativieren seine intensiven und intimen Briefe, die er mit der Freundin Käte Hadlich und Georg Kerschensteiner, dem engen Freund und Bruder im Geiste, austauschte.62 Spranger interessierte sich nicht ausschließlich für die wissenschaftliche theoretische Pädagogik, sondern er befaßte sich darüber hinaus mit der direkten Übertragung seiner Erkenntnisse auf den bildungs- und schulpolitischen Sektor. Er bemühte sich nachhaltig, auf dem Fundament seiner fachwissenschaftlichen Kenntnisse, aber auch unter geschicktem Einsatz seiner großen Reputation, Kulturpolitik für ein neues Deutschland zu betreiben. Über eine gegenwarts- und lebensweltbezogene Hellas-Deutung, die er im deutschen Schulwesen institutionell zu verankern suchte, wollte er eine einheitliche Gesinnungsbildung als Grundlage der angestrebten gesellschaftlichen Reformen verwirklichen. Dazu setzte er sich nicht nur mit bildungspolitischen Überlegungen, die im Neuhumanismus geäußert wurden, auseinander, sondern versuchte auch, Anschluß an Theoreme des George-Kreises wie an jaegersches Ideengut herzustellen. Anders als Jaeger und George, die sich in den Zwischenkriegsjahren kaum und schon gar nicht öffentlich zu konkreten realpolitischen Fragestellungen äußerten, brachte sich der nationalkonservative Spranger engagiert in die Diskussion um die zukünftige deutsche Staatsform ein. So intendierte er, mit seiner humanistischen Konzeption zugleich ein Votum für ein korporativ organisiertes, starkes Staatswesen mit elitärer Führungsspitze abzugeben und an dessen Verwirklichung aktiv mitzuwirken. Durch diese Option spitzte er – ähnlich wie die George-Anhänger Wolters und Hildebrandt – die Anwendbarkeit seines Modells auf die reale Gegenwart zu.

Zum Verfahren Die transdisziplinäre Perspektive, unter der der logozentrische »Dritte Humanismus« rekonstruiert werden soll, spiegelt sich auch in der Wahl der Methodik der Arbeit wider. So werden ausgewählte literarische, wissenschaftliche und populäre Texte vor dem Hintergrund kulturwissenschaftlicher Theorien – u. a. der historischen Diskursanalyse und Jan Assmanns Überlegungen zur kulturellen Erinnerung – gelesen, die mitein62

Georg Kerschensteiner und Eduard Spranger. Briefwechsel 1912–1931. Hrsg. und eingeleitet von Ludwig Englert. München 1966; Eduard Spranger und Käthe Hadlich. Eine Auswahl aus den Briefen der Jahre 1903–1960. Hrsg. von Sylvia Martinsen und Werner Sacher. Bad Heilbrunn, Obb. 2002.

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ander kombiniert werden: Diskursanalytische Kategorien ermöglichen, den Einfluß künstlerisch-ästhetischer, wissenschaftlicher sowie bildungsund gesellschaftspolitischer Positionen auf die Ausprägung eben dieser Weltanschauung offenzulegen. Mit Hilfe ideen- bzw. etwas weiter gefaßt: mentalitätsgeschichtlicher und ferner rezeptionsästhetischer Theoreme läßt sich die Auseinandersetzung mit tradierten Leitvorstellungen im »Dritten Humanismus« bestimmen, während ihre nationalen Vereinnahmungen schließlich anhand von Leitprinzipien der Theorien kultureller Erinnerung erläutert werden. Demgemäß wird den Textanalysen – wie in den Kulturwissenschaften allgemein üblich – ein weitgefaßter Literaturbegriff zugrunde gelegt, der es erlaubt, Texte als Kultur, d. h. als Projektions- und zugleich Kommunikationsflächen allgemeiner, überindividueller geistiger und künstlerischer Lebensäußerungen zu betrachten. Textverstehen und Kontextverstehen stellen also keine Alternativen mehr dar, sondern werden als zusammengehörige, interaktive Handlungen gedacht, die aufeinander Bezug nehmen und sich gegenseitig ergänzen. Literaturproduktion und -rezeption werden entsprechend als politische Akte aufgefaßt, »die präsentativ und diskursiv die gesellschaftliche und politische Kommunikation über Zentralwerte wie Kunst und Kultur und damit auch über die ›Grundlagen‹ von Volk, Nation oder Vaterland zu steuern« suchen.63 Auf Grundlage eben dieser (methodischen) Vorüberlegungen soll im folgenden ein aus historischen Quellen gewonnenes und argumentativ abgesichertes Modell »Dritter Humanismus« präsentiert werden, das zukünftigen Forschungen als Ausgangspunkt dienen könnte; deshalb wird ein induktives, strikt sachbezogenes Verfahren gewählt, das im Bestreben, den »Dritten Humanismus« zu rekonstruieren, kulturwissenschaftliche Theorien nicht auf ein bestimmtes Korpus anwendet, sondern umgekehrt das Modell aus den Texten vor der Folie eben dieser Theorien entwickelt. Entsprechend tritt die Darstellung und Diskussion kulturwissenschaftlicher Modelle in den Hintergrund der Argumentation. Einzig Jan Assmanns Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis – und hier speziell seine Mythenkonzeption –, aber auch Foucaults historische Diskursanalyse sollen kurz vorgestellt werden, denn beide Theorien bieten entscheidende Ansatzpunkte für die Rekonstruktion. Assmanns Mythosbegriff kommt dem hier zugrundegelegten Verständnis des »Dritten Humanis63

Jan Andres: Überlegungen zum Essayismus der Kulturkritik und der ›Konservativen Revolution‹ in Deutschland 1870–1933. In: Essayismus um 1900. Hrsg. von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Heidelberg 2006 (= Beihefte zum Euphorion 50), S. 83–100, hier S. 83.

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mus« als einer wertend-normativen Stellungnahme von universaler Geltung, die sich an der Vergangenheit orientiert, um existentielle Fragen zu beantworten, sehr nahe. Assmann definiert Mythos als (vorzugsweise narrativ) erinnerte kollektive »Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht« und damit zur Wirklichkeit transformiert wird: Mythos ist eine Geschichte, die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt.64

Dabei unterscheidet er zwei Arten von Erinnerung, die Mythen konstituieren: die fundierende und die kontrapräsentische Erinnerung. Während das Konzept »fundierender Mythos« darauf abzielt, eine Kontinuität und Linearität der Geschichte bis zur Gegenwart nachzuweisen und damit das Hier und Jetzt »in das Licht einer Geschichte [stellt, BS], die es sinnvoll, gottgewollt, notwendig und unabänderlich erscheinen läßt«,65 zeichnet den »kontrapräsentischen Mythos« eine revolutionäre Dimension aus: Motiviert durch eine Defizienz-Erfahrung, wird das Gegebene hinterfragt und zur Veränderung bzw. zum Umsturz der alten Ordnung aufgerufen. Das Vergangene wird dabei als eine politische und soziale Utopie beschworen, auf die es hinzuarbeiten gilt. Der konstatierte Kontinuitäts- und Traditionsbruch wird nun in einem zyklisch-progressiven Geschichtsverständnis aufgehoben, das die Kreislaufbewegung in eine Spiralbewegung überführt, die sich schließlich im Unendlichen der Gerade annähert.66 Insofern operiert das Kollektivgedächtnis einer sozialen Gruppe, die sich als Erinnerungsgemeinschaft versteht, in zwei Richtungen: Es rekonstruiert durch »mémoire volontaire«, die konditionierte Erinnerung, nicht nur die eigene Vergangenheit, sondern organisiert auch die Erfahrungen der Gegenwart und Zukunft.67 Vor der assmannschen Deutungsfolie erscheinen die allgemeine Dekadenzerfahrung und die dadurch ausgelöste Rückwendung zum griechischhumanistischen Menschenbild und seiner Ethik, wie sie um und nach 1900 erfolgte, als ein kontrapräsentischer, aber zugleich auch fundierender My64

65 66 67

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 5. Aufl. München 2005 (= Beck’sche Reihe 1307), S. 76. – Vgl. auch S. 52. Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 79f. Vgl. ebd., S. 42.

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thos, der perspektivisch variiert werden kann. Die kontrapräsentische Dimension des neuen Hellas-Mythos besteht in der Konstruktion einer antimodernen, gegen die eigene Zeit gerichteten »rückwärtigen« Utopie, die in der Vereinigung von Antik-Hellenischem und Deutschem eine andere, scheinbar bessere Lebens- und Gesellschaftsordnung initiieren möchte. Die fundierende Dimension zeichnet sich durch das Bestreben aus, an die Weimarer Klassik anzuknüpfen und die (Selbst-)Einschätzung ihrer Träger als ›praeceptores Germaniae‹ auf die eigene Person zu übertragen. So rezipierten die Vertreter des »Dritten Humanismus« in ihren Beiträgen die neuhumanistische und idealistische Literatur, eigneten sich die dort entwickelten Ideen und Denkmodelle an und dachten sie weiter. Dabei nahmen sie direkt Bezug auf Überlegungen goethezeitlicher Autoren und versuchten so, das eigene literarische bzw. wissenschaftliche Schaffen und praktische Wirken in deren direkte Nachfolge zu rücken in der Hoffnung, sich als Fortsetzer und Vollender der »Weimarer Klassik« als angeblich der Blütezeit nationaler Literatur und Kultur in die deutsche Literaturund Geistesgeschichte einzureihen. Vor diesem Hintergrund können ihre Stellungnahmen als Teil der nationalkulturellen Sinnproduktion bzw. Sinnstiftung gelesen werden, die mehr über die deutsche Mentalitätsgeschichte aussagt als über die kulturhistorische Realität um 1800 oder gar im antiken Griechenland. Die Funktionsweise der »Mythomotorik«, »der orientierenden Kraft« des Mythos,68 im historisch-kulturellen Kontext läßt sich, über Assmann hinausgehend, auf der Grundlage der historischen Diskursanalyse Michel Foucaults erklären, die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen mentalen, sozialen und politischen Bereichen aufdeckt. Dazu werden Texte in umfassende, transdisziplinäre Kontexte eingebettet und damit die konstituierenden und regulierenden Mechanismen freigelegt, denen sie unterliegen. Foucault hat allerdings keine in sich abgeschlossene, homogene Theorie ausgearbeitet, sondern eine Konzeption vorgelegt, die beständig weiterentwickelt wurde. Jedoch beruhen alle seine theoretischen Überlegungen auf dem Grundgedanken, daß gesellschaftliche Kontexte Aussagen jeglicher Art bedingen. Dabei ermöglichen bzw. beschränken historisch variable Regeln die Produktion und Rezeption eben dieser sprachlichen Ereignisse, so daß nicht jeder jederzeit und an jedem Ort sagen kann, was er will. Die »Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem

68

Ebd., S. 80; S. 79.

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zugehören«,69 bezeichnet Foucault in seinem methodologischen Hauptwerk ›Archäologie des Wissens‹ als Diskurs. Ein Diskurs, der immer auch mit anderen vernetzt ist und zugleich am gesellschaftlichen Gesamtdiskurs teilhat, läßt sich mit Hilfe der Diskursanalyse beschreiben, indem externe und innerdiskursive Regeln bestimmt werden, die Einfluß auf das Formationssystem nehmen. Vor diesem Hintergrund ist der »Dritte Humanismus« über die nähere Betrachtung seiner essentiellen Bestandteile, der aufeinander einwirkenden Diskursformationen Kunst, Wissenschaft und Politik, zu rekonstruieren. Die in ihnen verhandelten Ideen werden wahrnehmbar anhand der Texte, aus denen die jeweilige Formation hervorgeht und in denen sich die jeweilige Formation widerspiegelt. Ein derartiges Vorgehen, das mehrere kulturwissenschaftliche Ansätze verbindet, ist in bezug auf die Rekonstruktion des Modells auch deshalb geboten, weil die weltanschauliche Programmatik des »Dritten Humanismus« in keinem allgemeinverbindlichen Manifest festgehalten worden ist, das alle wesentlichen Theoreme im Zusammenhang präsentiert. Entsprechend kann sie nur im nachhinein und indirekt in individuellen Varianten untersucht werden, die untereinander in Beziehung zu setzen sind. Analysiert wird dazu ein umfangreiches und zugleich heterogenes Textkorpus, weil repräsentative Aussagen über die Präsenz und Popularität eines transdisziplinären und holistischen Phänomens nur getroffen werden können, wenn unterschiedlichste Textsorten Berücksichtigung finden, die wiederum auf verschiedene situative Zusammenhänge verweisen. Da es hauptsächlich darum geht, welche übergreifenden Ideen und Themen im Kontext von Antikerezeption und Identitätsstiftung angesprochen werden, wird literarisch-ästhetischen Texten gut diskursanalytisch kein anderer Erkenntniswert zugeschrieben als nichtliterarischen. So steht hier alles gleichberechtigt und gleichwertig nebeneinander: private Dokumente, kaum bekannte Zeitungs- und Zeitschriftenpublikationen, wissenschaftliche Abhandlungen, anspruchsvolle Lyrik, poetologische Reflexionen wie wissenschaftskünstlerische Schriften. Anhand all dieser fiktionalen wie nicht-fiktionalen, privaten wie für die Öffentlichkeit bestimmten Texte soll überprüft werden, ob in ihnen wiederkehrende Argumente, Bilder und Denk- bzw. Deutungsmuster Verwendung finden, die sich systematisieren und innerhalb der deutschen 69

Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1981 (= stw 356) (Frz.: L’Archéologie du savoir. Paris 1969), S. 156. – Dieser Diskursbegriff wurde in ›Die Ordnung des Diskurses‹ (1970) weitergedacht und schließlich in ›Dispositive der Macht‹ (1976/1977) mit Machtmechanismen gekoppelt und so um einen »genealogischen« Aspekt erweitert.

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Kulturgeschichte der Jahre 1890 bis 1933 historisch verorten lassen, um dann auf dieser Grundlage charakteristische Facetten einer Gesamtanschauung modellartig zu erfassen. Trotz der heterogenen Kontexte, in denen die untersuchten Stellungnahmen abgegeben wurden, und ihrer in gattungstypologischer Hinsicht großen Spannbreite, die von privaten Briefen und Tagebuchaufzeichnungen über für einen erlesenen Kreis bestimmte Gedichte, Essays für ein breites gebildetes Publikum bis hin zu amtlichen Richtlinien reicht, weisen diese Texte auf inhaltlich-argumentativer Ebene eine zentrale Parallele auf: Sie alle deuten Hellas als notwendiges Korrelat für den ›deutschen Nationalcharakter‹ und damit als Substanz eines zukunftsträchtigen Lebensmodells. Diese Idee, die sich wie ein roter Faden durch die untersuchten Texte zieht, stellte bereits ein Axiom des Neuhumanismus dar. Vor diesem Hintergrund könnte der Gedanke aufkommen, daß der »Dritte Humanismus« weitgehend als epigonal einzuschätzen ist und lediglich die Weimarer Klassik und ihre Vorstellungswelten fortsetzt bzw. fortschreibt. Jedoch liegt zwischen beiden Anschauungen das 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung, der zunehmenden Rationalisierung und der verstärkten Ausdifferenzierung des Lebens in hochspezialisierte Teilbereiche, der wissenschaftlichen Großproduktion und nicht zuletzt der Reichsgründung, also eine Ära, die durch einschneidende lebensweltliche Veränderungen gekennzeichnet ist und die in vielfacher Hinsicht einen abrupten Bruch mit Traditionen darstellt. Insofern kann von einem direkten, selbstregulativen Fortwirken der Weimarer Klassik bis zum »Dritten Humanismus« nicht die Rede sein, sondern ungekehrt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reaktivierte man das »kulturelle Gedächtnis« und konstruierte sich einen neuen Nationalmythos, indem man sich bewußt der Vergangenheit erinnerte. Es erfolgten selektive Zugriffe auf bewährte Traditionsstränge und kulturelle Exempla der Zeit um 1800 nach Bedarf der Gegenwart und Zukunft. Vertreter des »Dritten Humanismus« verwandelten sich ausgewählte Ideen dieser Epoche an, um unter Bezugnahme auf im assmannschen Sinne kontrapräsentische und fundierende Mythen – oder besser: Ideale – die eigene Zeit und nähere Zukunft aktiv nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Dabei ging es ihnen weniger darum, eine scheinbar ideale Vergangenheit zu restaurieren, zu konservieren und dem Hier und Jetzt zu oktroyieren, sondern sie wollten die ihr inhärente Vorstellungswelt dem Zeitgeist anpassen, also diese aus ihrer vermeintlichen klassizistischen Erstarrung durch Vitalisierung lösen. Entsprechend bedachten sie im Rezeptionsvorgang stets das Kommende, das zu Schaffende mit, so daß – in den Worten Friedrich Gundolfs – 29

»durch Betrachtung der Vergangenheit Zukunft [zu] bewirken«70 ist: Rezeption wurde demnach zugleich progressive Rezeption, also Konstruktion einer idealen Zukunft auf der Basis verklärter vergangener Erfahrungen, in der zeitgenössische Bedürfnisse, Ängste und Nöte aufgehoben werden sollten. Deshalb sind im Rahmen dieser Studie die Rezeptions- und Konstruktionsmuster, die den untersuchten Texten zugrunde liegen, und die Kontexte, in denen sie vollzogen werden, von besonderem Interesse. Gefragt wird nicht nur nach stereotypen Ideologemen, auf die transdisziplinär Bezug genommen wurde, sondern auch nach den Strategien ihrer Anverwandlung, d. h. nach analogen Transformationen, nach Adaptationen und Synthesen, sowie nach vergleichbaren Beweggründen und Intentionen, die mit der Instrumentalisierung des Griechischen für das Nationalkulturelle verbunden waren. Es soll überprüft werden, ob die zwischen den Texten konstatierten Übereinstimmungen auf grundlegende, die deutsche Identität prägende Denkmuster zu reduzieren sind, die die Vertreter unterschiedlicher Sphären in vergleichbaren Situationen ähnlich agieren ließen und diese für bestimmte Diskurse empfänglich machten. Dabei soll auch die Abhängigkeit von Traditionen und Gegenwartsbezügen bedacht werden. Denn nur so kann verfolgt werden, inwieweit sich Zugriffe und Bedarfskontexte innerhalb des untersuchten Zeitraums änderten. Es soll geklärt werden, wie sich kontrapräsentische und fundierende Entwürfe bzw. Utopien verhalten, wenn sich die Zusammenhänge, in denen und für die sie ursprünglich entwickelt wurden, wandeln, und welche Auswirkungen wiederum diese Modifikationen auf die ästhetisch-künstlerische, die wissenschaftliche und bildungspolitische Sphäre nach sich ziehen. Vor diesem Hintergrund ist auch nach Anschlußmöglichkeiten an die nationalsozialistische Kultur- und Bildungspolitik zu fragen, die eine verstärkt politische Ausdeutung humanistischer Vorstellungen bietet. Insofern versteht sich die vorliegende Studie zum »Dritten Humanismus« auch als ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Weimarer Klassik als einem – wie immer wieder gern betont wird – bedeutenden »Kernbestand des deutschen Kulturerbes«, dessen »Pflege« durch vergegenwärtigende Erinnerung »eine nationale Aufgabe« sei,71 sowie zur Auseinandersetzung mit der wenig rühmlichen Vorgeschichte des nationalsozialistischen Deutschland. 70 71

Friedrich Gundolf an Friedrich Wolters, 02.02.1919. In: Gundolf und Wolters. Briefwechsel, S. 192–194, hier S. 192 (Nr. 160). So Hubert Spiegel im mit ›Weimars Erbe‹ überschriebenen Leitartikel anläßlich der Wiedereröffnung der restaurierten Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.10.2007, S. 1).

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Zum Stand der Forschung Ideengeschichtliche Untersuchungen zum humanistischen Bildungsideal gehören nicht zu den bevorzugten Gegenständen der Literaturwissenschaft oder allgemein der Kulturwissenschaften, und im Vergleich mit den Bildungsvorstellungen des Renaissance-Humanismus und des Neuhumanismus wurde die »dritthumanistische« Konzeption bisher recht stiefmütterlich behandelt. Dies verwundert nicht, da der – zumindest in der allgemeinen Wahrnehmung – stark realpolitisch orientierte »Dritte Humanismus« aufgrund seiner chauvinistischen Stoßrichtung und seiner (vermeintlichen) Affinitäten zum nationalsozialistischen Denken jegliche Anschlußmöglichkeiten an eine universalistische europäische Kulturtradition verspielt hatte und damit spätestens seit 1945 scheinbar nur dem kollektiven Vergessen anheimgegeben werden konnte. So hat der »Dritte Humanismus« als ideen- bzw. mentalitätsgeschichtliches Phänomen bisher so gut wie keinen Eingang in literaturwissenschaftliche Arbeiten gefunden. Eine Ausnahme bilden zwei geistesgeschichtliche Monographien aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, die allerdings den »Dritten Humanismus« nur randständig behandeln. Die erste wurde von Horst Rüdiger verfaßt, einem Schüler Friedrich Gundolfs und später hoch geschätzten Lehrstuhlinhaber, die zweite von der regimekritischen britischen Literaturwissenschaftlerin Eliza Marian Butler. Rüdigers Studie ist in die Reihe der geistreichen, aber weitgehend spekulativ verfahrenden kulturphilosophischen Betrachtungen seines Lehrers zu stellen, die mit der Forderung nach wissenschaftlicher Objektivität nur schwer zu vereinbaren sind, weil die Validität der Ideen- oder besser: Geistkonstrukte keiner Realitätsprüfung ausgesetzt wird.72 Sie verfolgt das Ziel, das »Wesen« der humanistischen Idee, die immer auch dem zeitlichen Wandel unterliege, anhand beispielhafter individueller Varianten bis in die eigene Gegenwart nachzuzeichnen. Unter dem Begriff Humanismus bzw. der humanistischen Idee wird eine nicht näher spezifizierte natürliche Kraft verstanden, die bestimmte Menschen spontan ergreife und sie mit dem ›antiken Geist‹ – vornehmlich dem griechischen – »innig« durchdringe, so daß auch sie zu »unsterblichen Schöpfungen«, zu einer die Signatur der Zeit prägenden Handlung, befähigt würden.73 Rüdiger datiert das Aufkommen des humanistischen Gedankens in das Rom des 72 73

Rüdiger: Wesen und Wandlung des Humanismus. – Zu Rüdiger vgl. Peter Gossens: Erhard Horst Rüdiger. In: Internat. Germanistenlexikon 3, S. 1538–1540. Rüdiger: Wesen und Wandlung des Humanismus, S. 297.

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ersten vorchristlichen Jahrhunderts; bedeutende Stationen seiner Weiterentwicklung bis in die Gegenwart zum sogenannten »Dritten Humanismus« jaegerscher Prägung, den er aber nur noch als degenerative Sonderform des Humanismus begreifen will,74 führen über die mittelalterliche Bildungstradition, den Renaissance-Humanismus, das Barockzeitalter, die Goethezeit und das Fin de siècle. Als letzten ›wahren‹ Humanisten bezeichnet er Stefan George, den er einem kulturhistorischen Humanismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurechnet. Wie zuvor die Künstler und Schriftsteller des klassischen Zeitalters habe auch er in seinen Gedichten die Antike als Ideal präsentiert und damit die Vision einer neuen Kultur geschaffen, in der Hellas als Gegenpol und Ergänzung für die deutsche Gegenwart fungiere. Werner Jaeger und die Vertreter des »akademisierten« (Dritten) Humanismus hätten dagegen die Antike zur soziokulturellen Realität erklärt; entsprechend sollte die staatliche Gesinnung des Altertums verbindlich für das Hier und Jetzt werden. Dazu begründeten sie eine Philologie, die es erlaube, die antike Kultur »so zu deuten, daß der Geist der Gegenwart mitgestaltet wird«.75 Auf diese Weise hätten sie sich vom ›echten‹ Humanismus, dem Humanismus der Künstler und Ästheten, dessen Linie von Winckelmann über Goethe, Hölderlin und Nietzsche verlaufe, und ihrer naiven und unverstellten Auseinandersetzung mit dem Altertum endgültig verabschiedet. Rüdiger hält also an einem engen und weitgehend unpolitischen Humanismus-Begriff fest, indem er lediglich den ästhetischen Gegenentwurf des Antiken als wahrhaftigen Humanismus begreift. Demnach steht er in der Tradition vieler Schriftsteller und Gelehrter der Zeit um 1800, nicht aber in der der meisten seiner Zeitgenossen. Auch Rüdigers Kollege Walther Rehm,76 einer der bedeutendsten Vertreter der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft in Deutschland, betrachtet den Humanismus als eine natürliche Kraft, die – stimuliert durch eine spontane, unvermittelte ästhetische Erfahrung – zu außergewöhnlicher schöpferischer Produktion anrege. In seiner Studie ›Griechentum und Goethezeit‹,77 einem »Denkmal […] deutsch-griechischer Humanität«,78 das noch ein Jahr vor Rüdigers Buch entstand, zeichnet er die 74 75 76

77 78

Vgl. ebd., S. 295–297. Ebd., S. 291. Zu Rehm vgl. Hans Peter Herrmann: Walther Gustav Theodor Wilhelm Rehm. In: Internat. Germanistenlexikon 3, S. 1473–1475, sowie Conrad Wiedemann: Walther Rehm. In: NDB 21 (2003), S. 283f. Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens. 4. Aufl. Bern, München 1968 [zuerst Leipzig 1936 (= Das Erbe der Alten. Reihe 2. Bd. 26)]. Benno von Wiese: Walther Rehm. In: Die Zeit, 13.12.1963, S. 10.

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Bedeutung nach, die Hellas für die Ausbildung der Lebens- und Kunstanschauung der kulturellen bzw. geistigen Eliten um 1800 einnimmt. Dabei verweist er – allerdings ohne jegliche Verabsolutierung oder Monumentalisierung – auf einen inneren Bund zwischen den Griechen der Antike und den deutschen Klassikern. Diese Affinität im Denken beschränke sich lediglich auf das künstlerisch-literarische Schaffen, betreffe aber keineswegs politische Überlegungen. Winckelmann, Herder, Goethe, Schiller, Humboldt und Hölderlin hätten in ihren Texten den Glauben an die Wiedergeburt des schöpferischen Griechen im Deutschen bekundet; der Traum von einem neuen Griechenland als ästhetisches Ideal sei aber mit dem Ende der Goethezeit und der folgenden Dominanz des Staatsgedankens schnell verblaßt. Insofern erscheint es nur konsequent, daß der zeitgenössische »Dritte Humanismus« bei Rehm, der rein geisteswissenschaftlich und nicht politisch argumentiert, keine Erwähnung findet; eine auf die Realpolitik ausgerichtete humanistische Konzeption ist für ihn – wie ja auch für Rüdiger – undenkbar: Das entscheidende Merkmal des Humanismus stellt sein ästhetisches Potential dar, mit dessen Hilfe eine im LiterarischKünstlerischen verhaftete Gegenwelt zu stiften ist. Nicht so für die britische Literaturwissenschaftlerin Eliza Marian Butler:79 Sie entlarvt in ihrem Buch ›The Tyranny of Greece over Germany‹80 das deutsche Humanitätsideal, das Schriftsteller von Winckelmann bis George beflügelte, als geistiges Konstrukt mit politischer Sprengkraft, weil es unauflöslich mit dem nationalen Selbstbild der Deutschen und der intendierten Absetzung von der gesamteuropäischen Kultur verbunden sei. Aus der Distanz einer nichtdeutschen Forschungstradition versucht sie, mit objektivierendem Blick nachzuvollziehen, warum die ideali(sti)sche Orientierung am griechischen Altertum für die Deutschen nicht die geglaubte Selbstbefreiung aus fremder Abhängigkeit mit sich gebracht habe, sondern vielmehr eine selbstverschuldete Tyrannei. Dabei gelangt sie zu der psychologischen Erklärung, daß die schicksalsträchtige, manische Fixierung auf Hellas daraus resultiere, daß es den deutschen Denkern nicht gelungen sei, das Griechentum in seiner realen historischen Dimension zu erfassen. Statt dessen hätten sie ein Idealgebilde zum abso79 80

Zu Butlers wissenschaftlichem Werdegang vgl. Brian Oliver Murdoch: Eliza Marian Butler. In: Internat. Germanistenlexikon 1, S. 304–306. Eliza Marian Butler: The Tyranny of Greece over Germany. A Study of the Influence exercised by Greek Art and Poetry over the great German Writers of the eighteenth, nineteenth and twentieth Centuries. Cambridge 1935 (Dt.: Deutsche im Banne Griechenlands. Verkürzte Ausgabe bearbeitet und mit einer Einführung versehen von Erich Rätsch. Berlin 1948).

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luten Wertmaßstab sowohl der eigenen Identität als auch fremder Identitäten erhoben. Dadurch sei ein fanatischer geistiger Zwang begründet worden, dem Vorbild gerecht zu werden und zugleich in maßloser Überheblichkeit das Andere abzuwerten. Trotz der stark psychologisierenden Tendenzen gebührt dieser Studie das nicht zu unterschätzende Verdienst, bereits 1935 hellsichtig auf die enge Verflechtung von deutschem Griechenwahn und übersteigerten nationalistischen und imperialistischen Bestrebungen aufmerksam gemacht zu haben, also auf eine Konstellation, die hier weiterverfolgt werden soll. Butlers Buch, das an ein Tabu gerührt hatte, wurde im nationalsozialistischen Deutschland verboten, und auch in der Phase eines nationalen Neuanfangs nach dem Ende von »Drittem Reich« und Zweitem Weltkrieg wurden ihre anklagenden Thesen in Deutschland nicht gern gehört; die Zeit schien hier lange noch nicht reif dafür zu sein, sich den verhängnisvollen Aspekten der eigenen Nationalgeschichte zu stellen, deren Verlauf auch durch die Konstruktion wie Legitimation nationaler Mythen und überhöhter wie bewußt distanzierender Selbstbilder durch die Literatur und ihre wissenschaftliche Rezeption beeinflußt wurde. Nach einer langen Periode der Abstinenz und des Desinteresses an mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen – besonders an solchen, die die unmittelbare deutsche Vergangenheit betrafen und mit einem (vermeintlich rechten) kulturpolitischen Konservativismus in Verbindung gebracht werden konnten – erwachte erst im zeitlichen Umfeld der Wiedervereinigung ein bis in die Gegenwart anhaltendes Interesse an den ideengeschichtlichen Grundlagen Deutschlands, am Gründungsmythos der deutschen Nation. Dazu gehörte natürlich auch die Auseinandersetzung mit dem deutschen »Sonderbewußtsein«81 als dem »Volk der Dichter und Denker«, das sich in Opposition zu Identitätskonstrukten der Romania wie Britannia – speziell zum französischen Selbstbild als tonangebender Staatsnation – seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierte, und den graecophilen Denktraditionen, an die diese definitorische Idee anknüpfte. Im Kontext der nationalen Selbstvergewisserung wurden identitätsstiftende Zugriffe auf die Antike in der deutschen Literatur und Kultur als literaturwissenschaftliches Forschungsgebiet (wieder)ent81

Hier beziehe ich mich auf einen Begriff, den der Historiker Karl Dietrich Bracher in die Diskussion einbrachte (Die totalitäre Erfahrung. München, Zürich 1987. Kap. 6: Sonderweg oder Sonderbewußtsein) und der vor kurzem von Daniela Gretz in ihrer Dissertation über die »deutsche Bewegung« als ästhetische Erfindung der Nation aufgegriffen wurde, um die charakteristische Abwendung von der romanischen Tradition zu beschreiben (Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation. München 2007).

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deckt; das wiedererwachte Interesse an der literarischen und kulturellen Griechenrezeption spiegeln zahlreiche Publikationen wider, die seit den 1990er Jahren erschienen sind.82 In der Mehrzahl dieser Studien geht es allerdings hauptsächlich um die Explikation der »Funktionen antiker Sujets innerhalb der jeweiligen geschichtlichen Situation und poetischen Konzeption«83 und nicht so sehr um die kultur- oder besser: nationalpolitische Indienstnahme von Vorstellungen, die auf das Griechentum projiziert wurden. Dies verwundert, da mit Conrad Wiedemanns Arbeiten aus den 1980er Jahren durchaus Anschlußmöglichkeiten bestanden hätten. Sie behandeln nämlich bereits die mentalitätsgeschichtlichen, kulturanthropologischen und sozialpsychologischen Voraussetzungen bzw. Grundlagen, die der national(istisch)en Vereinnahmung Griechenlands ihre – im Positiven wie Negativen – wegweisende Durchschlagskraft garantieren sollten. Den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen bilden die 1750er Jahre, denn seit etwa diesem Zeitpunkt setzten sich die gebildeten Deutschen verstärkt mit der empfundenen kulturellen und politischen Rückständigkeit bzw. Unterlegenheit im französischen Vergleich auseinander. Wiedemann legt nun überzeugend dar, daß der maßgebliche Impuls, dieses Trauma zu überwinden, von einer verspäteten und damit umso forcierteren Aneignung des westeuropäischen Nationalgeist-Axioms ausging: Kombiniert mit Kulturwanderungsspekulationen ließ sich dieses Theorem für die Begründung nationaler Originalität nutzbar machen, indem es den Rückgriff auf das eigene Fremde – also für die Deutschen das Griechische – nicht nur legitimierte, sondern sogar als essentielle Voraussetzung für die nationale Eigenständigkeit und ihre Fortentwicklung begriff. Damit stellte es die ideologische Grundlage für die nun folgende starke Orientierung an Hellas als kollektivem Identitätsmodell dar.84 Insofern fühlt sich die vorliegende Untersuchung Wiedemanns grundlegenden Arbeiten zur deut82

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Vgl. z. B. die Einträge in der Bibliographie zum Fortwirken der Antike in den deutschsprachigen Literaturen des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Michael von Albrecht, Walter Kissel und Werner Schubert. Frankfurt a. M. u. a. 2005 (= Studien zur klassischen Philologie 149). So heißt es paradigmatisch im Klappentext zu Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar 2000. Vgl. Conrad Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu finden. In: Aufklärung 4 (1989), Heft 2, S. 75–101. – Siehe auch ders.: Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1993 (= Germanistische Symposien Berichtsbände 13), S. 541–569.

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schen Klassik und ihrer Vorgeschichte besonders verpflichtet. Ansonsten gaben für das 20. Jahrhundert, das von germanistischer Seite in dieser Hinsicht vernachlässigt wurde, Arbeiten aus der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte wichtige Impulse. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf die vielbeachtete Dissertation von Esther Sophia Sünderhauf ›Griechensehnsucht und Kulturkritik‹ zu verweisen. In ihrer »diskursanalytischen Kulturgeschichte«85 der deutschen Graecophilie nimmt Sünderhauf die populäre Funktionalisierung Winckelmanns und des auf ihn zurückgehenden Antikebildes als Orientierungsgröße im Zeitraum von 1840 bis 1945 in den Blick. Dazu analysiert sie – ausgehend von wissenschaftlichen Texten prominenter Archäologen, die um Beispiele aus anderen gesellschaftlichen Kontexten ergänzt werden – die zeitgenössische diskursive Verwendung der Chiffre Winckelmann und des mit ihr assoziierten Antikebildes. Dieses Verfahren legt (zeit-)spezifische Rahmenbedingungen offen, die verschiedenartige ideologische Inanspruchnahmen des griechischen Altertums ermöglichten, und erklärt zugleich, wie diese ihrerseits regulierend in übergreifende kulturelle wie politische Kontexte eingreifen konnten. So suggestiv die Analyse auch scheint: Die Winckelmann-Tradition, wie sie Sünderhauf darstellt, bildet nur einen Teil der deutschen Antikerezeption im 20. Jahrhundert ab. Bei ihr steht der zunächst von der Archäologie propagierte Traditionsstrang im Mittelpunkt, der auf die paideutische Kraft der antiken Kunst setzte. Dagegen bleiben andere diskursive Felder unterbelichtet, die sich weniger auf die unmittelbare Beeinflussung durch die schöne griechische Form beriefen, als vielmehr in humboldtscher Tradition auf der Basis der vermeintlichen ›deutsch-griechischen Wesensverwandtschaft‹ die bildende Wirkung der (griechischen) Sprache auf die Deutschen betonten. Ein solches stärker logozentriertes Feld ist der hier behandelte »Dritte Humanismus«. Sünderhauf stößt zwar in ihren Analysen auf prominente Archäologen, die sie ihm zurechnet,86 geht aber dem Phänomen nicht genauer nach. So bleibt diese für die deutsche Graecophilie im 20. Jahrhundert nicht minder aufschlußreiche und transdisziplinär wirksame Gedankenwelt – mit ihren bis in den George-Kreis reichenden personalen Netzwerken – unberücksichtigt. Auch George selbst wird von Sünderhauf recht einseitig – und zwar ausschließlich aus der Perspektive 85 86

Sünderhauf, S. XXI. So werden etwa Texte von Gerhart Rodenwaldt, dem Präsidenten des Archäologischen Institutes des Deutschen Reiches und Mitbegründer der Zeitschrift ›Die Antike‹, von Ludwig Curtius, dem Direktor des Archäologischen Institutes des Deutschen Reiches in Rom und von dessen zeitweiligem Assistenten Ernst Langlotz herangezogen.

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einer Kunsthistorikerin – als Winckelmann-Exeget betrachtet; seine Bewunderung für die griechische Antike und ihre Vereinnahmung als Gegenbild der Moderne zeigte sich jedoch nicht nur in einer homoerotischen Leibvergottung à la Winckelmann im »Maximin«-Mythos, sondern auch in literarischen Texten, die auf andere Vorbilder und Traditionen rekurrieren, wie z. B. Goethe mit seiner postulierten ganzheitlichen Aneignung der Antike oder Hölderlin mit seiner Deutschenschelte. Soll also die Antikerezeption des Schriftstellers (und nicht des Kultstifters) George betrachtet werden, kann eine literaturwissenschaftlich fundierte Kulturgeschichte Vorzüge bieten. Neben Sünderhaufs Dissertation sind Studien aus dem Bereich der Altertumswissenschaften aufzuführen, die ebenfalls erhellende Einblicke in die kulturellen, philosophischen und (national)politischen Kontexte der deutschen Griechenrezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglichen. Da ihr Fokus auf die Geschichte ihrer jeweiligen Disziplin, der Institutionen und Leitfiguren beschränkt bleibt, behandeln sie den »Dritten Humanismus« zwangsläufig eher marginal.87 Noch am ehesten rückte die jaegersche Humanismus-Konzeption ins Blickfeld des Interesses, als es darum ging, die nationalsozialistische Vergangenheit des eigenen Faches und ihre Vorgeschichte aufzuarbeiten. Am Anfang einer Reihe wissenschaftshistorischer Untersuchungen zu diesem Komplex steht die Dissertation Volker Losemanns,88 die erstmalig eine Bresche durch das Dickicht der vielschichtigen Verstrickungen von Antike und Nationalsozialismus schlug. Ihr folgten Arbeiten von Andreas Fritsch, Manfred Landfester, Beat Näf und Ute Preuße.89 Anfang der 87

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Zu verweisen ist hier auf die folgenden Arbeiten: Hellmut Flashar (Hrsg.): Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse. Stuttgart 1995; Marchand: Down from Olympus; Hellmut Sichtermann: Kulturgeschichte der klassischen Archäologie. München 1996, hier v. a. S. 302–340. Volker Losemann: Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933–1945. Hamburg 1977 (= Historische Perspektiven 7). Losemann konnte sich auf Vorarbeiten des DDR-Altertumswissenschaftlers Johannes Irmscher beziehen [Altsprachlicher Unterricht im faschistischen Deutschland. In: Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte 5/6 (1965/1966), S. 225–271]. Andreas Fritsch: »Dritter Humanismus« und »Drittes Reich«. Assoziationen und Differenzen. In: Schule und Unterricht in der Endphase der Weimarer Republik. Hrsg. von Reinhard Dithmar. Neuwied, Kriftel, Berlin 1993, S. 152–175; Irmscher: Altsprachlicher Unterricht im faschistischen Deutschland; Beat Näf: Von Perikles zu Hitler? Die athenische Demokratie und die deutsche Althistorie bis 1945. Bern, Frankfurt a. M., New York 1986 (= EHS. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 308); ders. (Hrsg.): Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus. Kolloquium Universität Zürich 14.–17. Oktober 1998. Mandelbachtal, Cambridge 2001 (= Texts and Studies in the History of Humanities 1); Preuße: Humanismus und Gesellschaft.

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neunziger Jahre initiierte Jaegers amerikanischer Schüler William M. Calder III von den Vereinigten Staaten aus eine umfangreiche Diskussion zu Werk und Wirken seines Lehrers in Deutschland. Den Höhepunkt seiner Bemühungen bildete 1990 ein großes Symposion in Urbana, Illinois, aus dem ein umfangreicher und vielbeachteter Tagungsband hervorging.90 Von all diesen wichtigen und die Diskussion anregenden Arbeiten mit dem Fokus auf Werner Jaeger und die Altertumswissenschaften in den zwanziger und dreißiger Jahren profitiert die vorliegende Arbeit, wenn sie es unternimmt, ein umfassenderes Bild des »Dritten Humanismus« zu präsentieren, indem sie seine Ideengeschichte systematisch-theoretisch im Spannungsfeld zeittypischer Diskurse aufrollt und dabei die Perspektive um weitere Aspekte des wissenschaftlichen und literarischen Lebens ergänzt wie z. B. um Sprangers humanistische Kulturpädagogik oder die georgeanische Kunst- und Wissenschaftsauffassung. Sprangers Bildungsmodell ist in der Forschung bisher noch nicht mit Jaegers Humanismus-Konzeption in Verbindung gebracht oder in den Kontext einer zeitgenössischen überindividuellen, d. h. beiden Entwürfen zugrundeliegenden Bildungs- und Gesellschaftsutopie gestellt worden. Das überrascht insofern, als sich seit den ausgehenden siebziger Jahren das Zusammenspiel von Pädagogik und politischer Option als ein Schwerpunkt der Spranger-Forschung ausmachen läßt. Angeregt durch die grundlegenden Studien von Michael Löffelholz und Bernd Weber,91 wurden kleinere Beiträge mit dem Fokus auf Sprangers politisches Denken oder seine preußisch-protestantische Ethik92 vorgelegt, die aber für 90

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William M. Calder III (Ed.): Werner Jaeger Reconsidered. Proceedings of the Second Oldfather Conference, held on the Campus of the University of Illinois at Urbana-Champaign, April 26–28, 1990. Atlanta, GA 1992 (= Illinois Classical Studies. Suppl. 3). Michael Löffelholz: Philosophie, Politik und Pädagogik im Frühwerk Eduard Sprangers 1900–1918. Hamburg 1977 (= Hamburger Studien zur Philosophie 3); Bernd Weber: Pädagogik und Politik vom Kaiserreich zum Faschismus. Zur Analyse politischer Optionen von Pädagogikhochschullehrern von 1914–1933. Königstein im Taunus 1979 (= Monographien Pädagogik 26). Walter Eisermann: Der Abschied vom alten Bildungsideal – eine Herausforderung für die Schule. Überlegungen Eduard Sprangers in der Epoche des 1. Weltkrieges. In: Schule und Geschichte. Funktionen der Schule in Vergangenheit und Gegenwart. FS Rudolf W. Keck zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Sabine Kirk u. a. Bad Heilbrunn, Obb. 2000, S. 166–176; Klaus Himmelstein: Eduard Sprangers Bildungsideal der »Deutschheit« – Ein Beitrag zur Kontingenzbewältigung in der modernen Gesellschaft? In: Pädagogik in multikulturellen Gesellschaften. Hrsg. von Wolfgang Keim. Redaktion: Georg Auernheimer und Peter Gstettner. Frankfurt a. M. u. a. (= Jahrbuch für Pädagogik 1996), S. 179–196; Thomas Laugstien: Die protestantische Ethik und der »Geist von Potsdam«. Sprangers Rekonstruktion des Führerstaats aus dem Prinzip persönlicher Verantwortung. In: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): Deutsche Philosophen 1933. Hamburg 1989 (= Ideologische Mächte im deutschen Faschismus 3 – Argument-Sonderband 165), S. 29–68;

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die turbulente Ära der Weimarer Republik noch zu vertiefen wären. Auf den Konnex seiner Philosophie und Pädagogik zur geisteswissenschaftlichen Tradition Diltheys sowie zum Humanitätsideal des 18. bzw. 19. Jahrhunderts ist mehrfach verwiesen worden.93 In diesem Kontext hätte es sich angeboten, eine Brücke zur geistesgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung eines Gundolf, oder aber noch allgemeiner: der Georgeaner, zu schlagen, die ja nicht ohne das Totalitätsdenken der Klassiker und Idealisten sowie die diltheysche Hermeneutik auskommt. Damit würde eine erste ideengeschichtliche Annäherung zwischen George-Kreis und Spranger bzw. der zeitgenössischen humanistischen Pädagogik initiiert. Daß dies noch nicht geschehen ist und auch noch keine Verbindung zwischen Jaeger und Georgeanern gesehen wurde, mag wohl auch darin begründet sein, daß trotz oder gerade wegen einer ausgesprochen guten Materiallage einzelne Facetten von Georges Werk und Denken und dem seiner Schüler nur lückenhaft bearbeitet worden sind. Ein Bereich, der bisher von der Literaturwissenschaft stark vernachlässigt wurde, ist die Antikerezeption des Kreises. Zwar entstanden in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren einige Studien zu diesem Themenkomplex, doch stützten sich ihre Verfasser vorwiegend auf das ästhetizistische Frühwerk Georges (bis zur Sammlung ›Teppich des Lebens‹ von 1899). Entsprechend behandelten sie vorwiegend stilistische Ähnlichkeiten mit der griechischen Dichtung, wie die Übernahme bzw. Variation des Versmaßes, der Formen und Motive, sowie stoffliche Anleihen.94 Eine Arbeit, die den

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Marnie Schlüter: Die Aufhebung des humanistischen Bildungsideals. Eduard Spranger im Spektrum des Weimarer Konservatismus. In: Hans Jürgen Apel, Heidemarie Kemnitz und Uwe Sandfuchs (Hrsgg.): Das öffentliche Bildungswesen. Historische Entwicklung, gesellschaftliche Funktionen, pädagogischer Streit. Bad Heilbrunn, Obb. 2001, S. 309–321. Vgl. Werner Sacher: Eduard Spranger 1902–1933. Ein Erziehungsphilosoph zwischen Dilthey und den Neukantianern. Frankfurt a. M. u. a. 1988 (= EHS. Reihe 11: Pädagogik 347); Reinhard Uhle: Eduard Spranger (1882–1963). Pädagogik zwischen Hermeneutik und Kulturphilosophie geistiger Mächte. In: Freiheit – Geschichte – Vernunft. Grundlinien geisteswissenschaftlicher Pädagogik. FS Winfried Böhm zum 22. März 1997. Hrsg. von Wilhelm Brinkmann. Würzburg 1997, S. 213–232; Ortrud Bimberg: Zur Rezeption der Bildungsidee Wilhelm von Humboldts durch Spranger, Weinstock und Blättner. Ein Beitrag zum Wandel des Humanismusbegriffs in der bürgerlichen Pädagogik. Diss. masch. Halle 1967; Birgit Ofenbach: Sprangers Weg zu einer autonomen pädagogischen Wissenschaft. In: Eduard Spranger. Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze. Darmstadt 2002 (= Werkinterpretationen pädagogischer Klassiker), S. 103–126. Beispielhaft sei hier verwiesen auf die folgenden Arbeiten: Hubert Arbogast: Stefan George und die Antike. In: »Kein ding sei wo das wort gebricht«. Stefan George zum Gedenken. Hrsg. von Manfred Schlosser. 2., wesentlich verbesserte Aufl. Darmstadt 1961 (= Agorà 11), S. 41–55; Herbert Marwitz: Stefan George und die Antike. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 1 (1946), S. 226–257. Ein vergleichbares Vorgehen auch bei Georgios Varthalitis: Die Antike und die Jahrhundertwende. Stefan

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Zugriff auf die hellenische Tradition in Dichtung und Kultur des Kreises unter ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten in den Blick nimmt, blieb bislang Desiderat. Daneben fehlt eine übergreifende Untersuchung zu den verschiedenartigen nationalpolitischen Einstellungen der Georgeaner, die ihre an einem idealisierten Griechentum genährte Kunst- und Wissenschaftsauffassung in Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Erwägungen bringt. Da mit Beginn der siebziger Jahre kontinuierlich soziologische und politische Fragestellungen an das Werk Georges und das seiner Schüler herangetragen wurden, bestehen aber durchaus Anknüpfungspunkte für eine solche Studie. So analysierte der Politikwissenschaftler Klaus Landfried in seiner Dissertation die politischen Implikationen von Georges ›unpolitischen‹ Dichtungen.95 Nach Vorarbeiten von Stefan Bodo Würffel96 legte Michael Petrow Mitte der neunziger Jahre eine Studie zur ideologischen Rezeption Georges im »Dritten Reich« vor,97 die sich auch mit der nationalistischen Vereinnahmung durch seinen Schülerkreis beschäftigt. Jürgen Egyptien befaßte sich im Rahmen einer Tagung zum 65. Todestag Georges 1998 mit den Stellungnahmen seiner Anhänger zum Ersten Weltkrieg;98 eine Studie zu ihrer Haltung gegenüber der Weimarer Republik steht aber noch aus. Allerdings sind in den letzten fünfzehn Jahren bedeutende interdisziplinäre Arbeiten zur Literatursoziologie entstanden, die unter einem sozial- und kulturhistorischen Blickwinkel scharfsinnig ästhetische wie paideutische Vorstellungen und Ideale, religiöse Inszenierungen oder soziologische Mechanismen analysieren und dabei die Wechselbeziehung von Griechenrezeption und Nationalbewußtsein im Kreis berühren; hervorzuheben sind hier vor allem Wolfgang Braungarts Studie zum ästheti-

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Georges Rezeption der Antike. Diss. masch. Heidelberg 2000. – Eine Ausnahme unter den älteren Arbeiten bildet Paul Müllers Beitrag [Stefan George und die Antike. In: Das Gymnasium 48 (1937), Heft 1/2, S. 9–24], der Georges Lyrik als Projektionsfläche eines antiken »Lebensgefühl[s]« (S. 14) mit paideutischer Kraft begreift. Klaus Landfried: Stefan George – Politik des Unpolitischen. Heidelberg 1975 (= Literatur und Geschichte 8). Stefan Bodo Würffel: ›Der Dichter in Zeiten der Wirren‹. Zum George-Bild des Dritten Reiches. In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Hrsg. von Jörg Thunecke. Bonn 1987 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 367), S. 227–254. Michael Petrow: Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im »Dritten Reich«. Marburg 1995. Jürgen Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ›Siebenten Ring‹. Hrsg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann und Bernhard Böschenstein. Tübingen 2001, S. 197–212.

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schen Katholizismus,99 Stefan Breuers Untersuchung zum ästhetischen Fundamentalismus,100 Carola Groppes Dissertation zur Bildungspolitik der Georgeaner101 und Rainer Kolks Habilitationsschrift zur literarischen Gruppenbildung,102 von denen diese Arbeit stark profitiert. Jedoch fehlt es bis heute an einer bündelnden und vertiefenden Untersuchung, die den Rückgriff auf griechisch-antike Ideen und Ideale im Spannungsfeld des deutschen Nationalismus in den Blick nimmt. Diese Lücke soll die vorliegende Arbeit schließen helfen, indem sie – entgegen einer jüngeren Forschungsmeinung – zeigt, daß sich aus Georges Äußerungen und denen seines Kreises zum griechischen Altertum sehr wohl »[e]in durchgängiges Konzept« herauslesen läßt, »das die Grundlage abgeben könnte für ein von der Wissenschaft auszugestaltendes Modell«.103

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Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997 (= Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte 15). Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1996 (= Lizenzausgabe für den Primus Verlag). Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933. Köln, Weimar, Wien 1997 (= Bochumer Schriften zur Bildungsforschung 3). Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945. Tübingen 1998 (= Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte 17). Adolf Heinrich Borbein: Zur Wirkung Stefan Georges in der Klassischen Archäologie. In: Wissenschaftler im George-Kreis, S. 239–257, hier S. 248.

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Erstes Kapitel

Der »Dritte Humanismus« als Instanz künstlerisch-kultureller Neuorientierung

Graecia docet: »Dritthumanistische« Grundkategorien im Kontext von Idealismus und Neuhumanismus »Die Linie der Entwicklung unseres Verhältnisses zum Altertum heißt in Deutschland: Winckelmann – Goethe – Hölderlin – Nietzsche. Sie führt vom klassizistischen Formideal zur Kulturkritik.«1 Mit dieser programmatischen Äußerung brachte Jaeger 1929 die kulturpolitischen Ambitionen der Vertreter des »Dritten Humanismus«, die Gegenwart mit Hilfe einer (kultur)konservativen Weltanschauung zu erneuern, die Überkommenes und Modernes harmonisch amalgamiere, auf den Punkt. Als ideengeschichtliche Bezugspunkte bzw. Grundlagen ihrer Utopien lassen sich wegweisende Ideologeme neuhumanistischen und idealistischen Denkens ausmachen, auch wenn sich einige Vertreter nachhaltig darum bemühten, ihre Bildungsutopie vom vermeintlich artifiziellen, starren und lediglich rückwärtsgewandten »Humanismus unserer Klassiker«2 abzusetzen. Gerade Winckelmanns Kunstauffassung, Humboldts Individualbildungsgedanke und Schillers Idee des sittlichen Staates, aber auch Goethes Totalitätspostulat wie Hölderlins konstruktive Kulturkritik finden – wenn auch in verkürzter Form – in ihrer Paideia als metatextuelle Ideen Wiederaufnahme. Geprägt durch den Einfluß der lebensbejahenden Philosophie Nietzsches, versahen Jaeger, Spranger, George und seine Schüler eben diese Theoreme mit einem starken vitalistischen Vorzeichen. Als weitere, dem modernen Zeitgeist geschuldete Adaptation des Humanismus entsagten viele von ihnen unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Wilhelminischen Reiches dem für die Goethezeit charakteristischen nationalkulturellen »Patriotismus in weltbürgerlicher Absicht«.3 An die Seite

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Werner Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike (1929). In: HRV, S. 158–177, hier S. 168. Vgl. Otto Regenbogen: Original oder Übersetzung? In: Das Gymnasium. Hrsg. von Otto Morgenstern. Leipzig 1926, S. 57–66, hier S. 59f. (Zitat S. 59). Vgl. Conrad Wiedemann: Klassische Totalität und fragmentarische Nation. In: Carola Hilmes und Dietrich Mathy (Hrsgg.): Die Dichter lügen, nicht. Über Erkenntnis, Literatur und Leser. Würzburg 1995, S. 234–249, hier S. 235.

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allgemeiner kulturpolitischer Stellungnahmen von Künstlern und Philosophen, auf deren Grundlage ein ästhetisches Gegenmodell zur zeitgenössischen Realität geschaffen werden sollte, traten nun nationalistische, ja sogar chauvinistische Texte von Gelehrtenpolitikern und Wissenschaftskünstlern, deren konkretes Anliegen es war, die Realpolitik zu beeinflussen. Dabei wurde vielfach kollektivistischen Idealen, von denen man glaubte, daß sie den nationalstaatlichen Wiederaufbau und Zusammenhalt begünstigen könnten, der Vorzug gegenüber einer freiheitlichen, unabhängigen und kosmopolitischen Persönlichkeitsbildung gegeben. In der Konsequenz läßt sich diese Entwicklung nicht anders deuten als eine stetig fortschreitende nationalpolitische Engführung der ehemals ganzheitlichen und allgemeinmenschlich verstandenen, d. h. der Zeit und dem Raum enthobenen und weder ethnisch noch religiös beschränkten (neu)humanistischen Paideia-Idee. Winckelmanns normativ-klassizistische Kunstbetrachtungen Im »Dritten Humanismus« galt das antike Griechentum in anthropologischer Hinsicht als idealer Lehrmeister für die heranzubildenden kommenden Deutschen. Diese Vorstellung war zu Beginn des 20. Jahrhunderts weder innovativ noch revolutionär; ganz anders verhielt es sich um 1750, als Johann Joachim Winckelmann ein neues formalästhetisches Kunstideal mit weitreichenden anthropologischen Implikationen entwickelte, das sich der konventionellen, rein antiquarischen Kunstbetrachtung diametral entgegenstellte. Es fand seine literarische Manifestation in den beiden ästhetikgeschichtlichen Grundlagentexten ›Über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst‹ und ›Geschichte der Kunst des Altertums‹.4

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Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. In: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hrsg. von Helmut Pfotenhauer u. a. Frankfurt a. M. 1995 (= Bibliothek deutscher Klassiker 127. Bibliothek der Kunstliteratur 2), S. 9–50 [zuerst Dresden 1755]; ders.: Geschichte der Kunst des Althertums. 2 Bde. Dresden 1764. – Zu Winckelmanns Griechenrezeption und ihren nationalkulturellen Implikationen vgl. Jochen Schmidt: Griechenland als Ideal und Utopie bei Winckelmann, Goethe und Hölderlin. In: HölderlinJb 28 (1992/1993), S. 94–110; Renate Stauf: »Die Seele äußerte sich nur wie unter einer stillen Fläche des Wassers …«. Winckelmanns Griechenparadigma aus nationalkultureller Sicht. In: Antike neu entdeckt. Aspekte der Antike-Rezeption im 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Osnabrücker Region. Hrsg. von Rainer Wiegels und Winfried Woesler. Möhnesee 2002 (= Osnabrücker Forschungen zu Altertum und Antike-Rezeption 4), S. 253–271.

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Winckelmanns Leitgedanke,5 daß der Mensch sich durch ästhetischethisches Erlebnis als höchste Lebenserfahrung über sich selbst erheben könne, zog das Interesse der Vertreter des »Dritten Humanismus« auf sich. Denn sie beabsichtigten, auf den konstatierten Degenerationsprozeß der ›deutschen Art‹ durch lebenswissenschaftliche Bildung einzuwirken. Da sie in der eigenen Gegenwart Orientierungspunkte bzw. Sinnstiftungsangebote vermißten, an denen sie ihre Utopie ausrichten konnten, lenkten sie den Blick auf eine vergangene Glanzzeit der Menschheitsgeschichte: das antike Hellas. Winckelmanns Vorstellung, eine empathische Auseinandersetzung mit dem Altertum verhelfe dem Menschen, anthropologische Grundprinzipien zu erkennen und sie auf das eigene Leben anzuwenden, kam ihrem Wunschdenken von einem Humanismus als »Erlebnis« sehr nahe: Ganz winckelmännisch betonte Jaeger 1919 in bezug auf die eigene Bewegung, »daß es für den Humanismus […] auf die spontane innere Ergriffenheit des Empfangenden letzten Endes«6 ankomme. Doch zurück zu Winckelmann und seiner holistischen Theorie. Der Antiquar entwickelte im Rahmen seines Studiums griechischer Plastiken in Dresden und Rom ein ganzheitliches, leibseelisches Schönheitsideal, das den makellosen, maßvollen und wohlgeformten Körper mit geistiger Schönheit im Sinne ethischer Tugendhaftigkeit verband. Dabei griff er auf die platonische Idea-Vorstellung und den Kalokagathie-Gedanken zurück und führte beide Ideen in die Kunstbetrachtung ein. Seine Konzeption gründet auf der Vorstellung, daß vollendete Schönheit nur in der bildenden Kunst und Malerei möglich sei, nicht in der Natur. Die griechischen Kunstwerke gelten als absolute, höchste Kunst; er deutet sie als konkrete Darstellungen einer abstrakteren, harmonischen Synthese von physischer menschlicher Natur und idealer künstlerischer Form. Dieser Gedanke lasse sich aus der Arbeitstechnik der griechischen Künstler ablesen; diese bildeten sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten so wohl einzelner Theile als gantzer Verhältnisse der Cörper […], die sich über die Natur selbst erheben solten; ihr Urbild war eine blos im Verstande entworfene geistige Natur.7

Die Idee, daß sich über den Anblick und das Studium ihrer idealschönen Artefakte – vor allem der »Einheit des gantzen Baues«, der »edlere[n] Ver5 6 7

Die folgende Darstellung geht in besonderem Maße auf Anregungen von Jutta Osinski zurück. Jaeger: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. In: HRV, S. 26. Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke, S. 20.

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bindung der Theile« sowie des »reichere[n] Maaß[es] der Fülle« –8 dem Betrachter ein Bewußtsein für Maß, Ordnung und Harmonie vermitteln lasse, sollte später im »Dritten Humanismus« aufgegriffen und auf den anvisierten Formungsprozeß der ›deutschen Art‹ appliziert werden, die man immer noch als roh, zerrissen und gestaltlos erachtete. Winckelmann spricht der griechischen Plastik und Malerei aufgrund ihrer intensiven Ausdruckskraft das Potential zu, am besten die archetypischen Schönheitsgesetze zu veranschaulichen, die den sinnlich-belebten Kosmos bestimmen würden.9 Sie seien durch ästhetische Erfahrung wahrnehmbar, auf jede Kultur übertragbar und wirkten deshalb immer wieder von neuem bildend auf die universale Menschheit. Die sensuelle Wirkmächtigkeit des idealschönen griechischen Kunstwerks wird über seinen edlen Kontur, seine ideale Schönheitslinie erklärt: Der edelste Contour vereiniget oder umschreibet alle Theile der schönsten Natur und der Idealischen Schönheiten in den Figuren der Griechen; oder er ist vielmehr der höchste Begriff in beyden. […] Auch unter den Gewändern der Griechischen Figuren herrschet der meisterhafte Contour, als Haupt-Absicht des Künstlers, der auch durch den Marmor hindurch den schönen Bau seines Cörpers wie durch ein Coisches Kleid zeiget.10

Mit dem Kontur ist also zweierlei gemeint: Zum einen bezeichnet er den äußeren Umriß, der die menschliche Gestalt im Artefakt zur Einheit werden läßt, und zum anderen das ihm zugrundeliegende geistige Prinzip. Damit wird im Kontur der Plastik der abstrakte theoretisch-geistige Entwurf – die anvisierte Veredelung der gemeinen Materie bzw. sinnlichen Natur zum Idealschönen – in der konkreten Silhouette der geschaffenen anmutigen menschlichen Gestalt realisiert. Die Wahrnehmung des Konturs als Emanation des vollendet Schönen in Form und Idee versetzt den Rezipienten nach Winckelmann in einen Zustand der Entzückung und der inneren Ergriffenheit. Indem er diese ästhetisch-ethische Erfahrung verinnerlicht, wendet er sie auf das eigene Leben an und initiiert damit die eigene Erhöhung. Den Prozeß des Übersich-Hinauswachsens in der vergeistigenden Betrachtung griechischer Plastiken hatte Winckelmann am eigenen Leib erfahren; er hält diesen 8 9

10

Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 24. – Siehe auch ders.: Geschichte der Kunst des Altertums (Auszüge). In: Griechenland als Ideal. Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland. Hrsg. von Ludwig Uhlig. Tübingen 1988 (= DTB 4), S. 38–54, hier S. 46. Ders.: Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke, S. 25–27.

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ästhetisch-ethischen Bildungsvorgang in seiner Apollo-Beschreibung künstlerisch fest: Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie diejenigen, die ich […] sehe.11

Die Vorstellung vom edlen Kontur in der Plastik und Malerei wird dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts im »Dritten Humanismus« auf die Buchstabenkunst, besonders auf die der alten Griechen, übertragen. Nach Meinung seiner Anhänger zeichne sich jede Dichtung durch eine doppelte Struktur aus: zum einen durch die mehr oder weniger künstlerisch gestaltete, rein textliche Oberfläche und zum anderen durch den ihr zugrundeliegenden ethischen Gehalt, den sie transportiere. Dieser sei durch ein ästhetisches Lese- bzw. Hör-Erlebnis vom Rezipienten zu entschlüsseln und für die eigene Bildung nutzbar zu machen. Anders als bildende Kunst und Malerei, die vorwiegend über den Sehsinn wahrgenommen und genossen würden, appellierten Dichtungen über ihre Sprachmelodie und ihren Rhythmus auch an das feine Ohr; damit wird die auditive Wahrnehmung anthropologischer Grundgedanken stärker ins Zentrum gerückt. In diese Richtung weist allerdings schon Winckelmanns formvollendete Apollo-Beschreibung in rhythmischer, trochäisch und daktylisch akzentuierter Prosa, die selbst den Anspruch erhebt, als hohe Kunst aufgefaßt zu werden. Da nach Winckelmann der edle Kontur am besten von den griechischen Künstlern umgesetzt worden sei, empfiehlt er eine Bildung an ihren Kunstwerken, nicht an der belebten Natur,12 die bisher Bildhauern, Malern und Dichtern als gestalterisches Vorbild gedient habe. Denn in letzterer sei das vollkommene Schöne in menschlicher Gestalt nicht zu finden; die Natur zeige immer auch das Häßliche, Zufällige und Alternde. Dagegen solle das wahrhaftig Schöne idealisiertes Abbild eines rein geistigen Grundsatzes sein, nämlich des zur Idee abstrahierten ›allgemeinmenschlichen Wesens‹, das die Sinnengebundenheit überwunden habe und im Erhabenen 11

12

Ders.: Apollo-Beschreibungen. In: Frühklassizismus, S. 149–166, hier S. 166. – Neben dem ausgezeichneten Kommentar von Pfotenhauer (In: Frühklassizismus) vgl. zu den Apollo-Beschreibungen auch Hans Zeller: Winckelmanns Beschreibung des Apollo im Belvedere. Zürich 1955 (= Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte 8). Vgl. Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke, S. 15; S. 31.

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Humanes verkörpere. Als charakteristische Schlüsselbegriffe führt Winckelmann die vielzitierte edle Einfalt und stille Größe ein: Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele.13

Dieser bildhaften Bestimmung entsprechend, gelten Winckelmann das Bildnis des Laokoon der gleichnamigen Gruppe im Vatikan, der HeraklesTorso und der Apoll des Belvedere auch nicht als Abbilder der menschlichen Natur, sondern als Darstellungen wahrer Seelengröße. Am Beispiel Laokoons erläutert er unter Rückbezug auf den antiken Mythos das anthropologische Ideal des Maßhaltens und Vermeidens ungezügelter Affekte, das große Menschen leite. Die Skulptur zeigt den trojanischen Priester, der vor dem hölzernen Pferd der Griechen warnte, im Moment seines Todeskampfes mit den von Athene ausgesandten Schlangen. Seinen geöffneten Mund, der mit Vergil (Aen. II, 212–224) bis dahin als Zeichen für das emotionsgeladene Schreien vor Schmerz gedeutet wurde, interpretiert Winckelmann nun als gemäßigtes Seufzen.14 Ihm erscheint Laokoons physische Natur im Kunstwerk geistig gebändigt, nicht aber unterdrückt, sondern vielmehr in eine Form überführt, in der Natur und Maß, Körper und Geist zu einer harmonischen Einheit verschmolzen seien: Der Schmertz des Cörpers und die Grösse der Seele sind durch den gantzen Bau der Figur mit gleicher Stärcke ausgetheilet, und gleichsam abgewogen. Laocoon leidet, aber er leidet wie des Sophocles Philoctetes: sein Elend gehet uns bis an die Seele; wir aber wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können.15

Das ästhetisch-ethische Erlebnis des Idealschönen und seine Verinnerlichung, wie z. B. des anthropologischen Ideals der Mäßigung, wird im winckelmannschen Modell durch das Nachahmungsgebot begünstigt. Indem der Betrachter der eigenen Geringfügigkeit im Vergleich mit der großen griechischen Seele gewahr werde, entstehe der dringliche Wunsch, durch schöpferisches Nacheifern des ihr innewohnenden geistigen Prinzips das eigene Sein zu vervollkommnen und eine ähnliche Größe zu entfalten. Denn er spüre, daß 13 14 15

Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 31. Ebd.

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[d]er eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, […] die Nachahmung der Alten [ist, BS], und [daß, BS,] was jemand vom Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, der ihn wohl verstehen gelernet, […] auch von den Kunst-Wercken der Alten, sonderlich der Griechen [gilt, BS].16

Die anvisierte Nachahmung der Alten ist also nicht mit geistlosem Abkopieren der griechischen Lebenshaltung und ihres Menschenbildes zu verwechseln, sondern als geniales, tätiges Handeln im Sinne einer nacheifernden ›aemulatio‹ zu begreifen. Diese Vorstellung findet sich bei den Vertretern des »Dritten Humanismus« in abgewandelter Form wieder; sie stellen aber gegenüber dem klassizistischen Modell stärker die agonale Seite der ›aemulatio‹ heraus. Damit wird ihnen die Orientierung am Griechentum nicht nur zum Stimulus für die individuelle Vollendung, sondern auch zum Ansporn, sich über das hellenische Vorbild und die anderen europäischen Nationen zu erheben, mit denen sie die ›deutsche Art‹ im Wettstreit um eine zukünftige Hegemoniestellung sehen. Aus der allgemeinen kosmopolitischen Menschenbildung an den Griechen, wie sie noch Winckelmann erstrebte, wird nun eine exklusive, nur dem ›deutschen Sein‹ gemäße nationale Paideia. Der klassizistische Nachahmungsbegriff setzt den unauflöslichen, zirkulären Zusammenhang von menschlicher und künstlerischer Vollendung voraus. Nur derjenige sei imstande, große Kunst zu erschaffen, der selbst in ethischer Hinsicht Vollkommenheit erlangt habe; den seinem Werk eingeprägten ›Geist‹ hätte er selbst eingeatmet und verinnerlicht.17 Demnach avanciert die eigene künstlerisch-schöpferische Betätigung auch zum Gradmesser für die Größe und den Stand der Bildung des einzelnen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur legitim, sondern auch wünschenswert – wie es Winckelmann mit seinen Beschreibungen des Torsos und des Apollos praktizierte –,18 mit Hilfe der Imagination oder angeregt durch die ästhetische Erfahrung neue Kunstwerke zu erschaffen, in denen das Schöne vergöttlicht wird. Winckelmanns Apollo-Bild scheint in der Auseinandersetzung19

16 17 18 19

Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. Johann Joachim Winckelmann: Torso-Beschreibungen. In: Frühklassizismus, S. 167–185; ders.: Apollo-Beschreibungen. Zu Winckelmanns Anverwandlung des antiken Pygmalion-Mythos vgl. Inka MülderBach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Darstellung« im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 20–48.

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Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit. Wie ist es möglich, es zu malen und zu beschreiben. Die Kunst selbst müßte mir rathen, und die Hand leiten, die ersten Züge, welche ich hier entworfen habe, künftig auszuführen. Ich lege den Begriff, welchen ich von diesem Bilde gegeben habe, zu dessen Füßen, wie die Kränze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, welche sie krönen wollten, nicht erreichen konnten.20

Damit ist ein letzter Punkt in Winckelmanns Konzeption angesprochen, der auch im Hinblick auf die Rezeption im George-Kreis von Bedeutung ist. Mit seiner ästhetisierenden, ins Erotische gesteigerten Betrachtung der Objekte sakralisiert der Antiquar die griechische Kunst. Sie wird ihm zur höchsten weltlichen Religion, und zu ihrem Evangelium erhebt er die Idee des Idealschönen in den hellenischen Meisterwerken. Der Verlauf seiner ›religiösen Erweckung‹ läßt sich anhand der prominenten Statuenbeschreibungen nachvollziehen. Wird an Laokoon noch die menschliche Schönheit bewundert, so wird Apollo zum Abbild jugendlich-göttlicher Schönheit, zum Inbegriff »himmlischen Geistes« erklärt und mit einem ›ver sacrum‹ verglichen.21 Mit seiner Beschreibung, die einem hymnischen Preisgebet gleicht, wird der marmorne männliche Statuenkörper erotisiert, versinnlicht und schließlich zur höchsten Gottheit einer Kunstreligion verlebendigt, die den Gläubigen anthropologisch erhöht. Mit dem kultisch verehrten »Maximin« werden sich später auch die Georgeaner einen jungen Schönheitsheros erschaffen, der eine ähnliche Funktion in ihrer Utopie einnimmt wie Apollo in Winckelmanns Bildungsdenken. Auf ihn projizieren sie ihre Vorstellung einer kommenden deutschen Jugend. Als neuer Pygmalion-Winckelmann erweckt George ein ›totes‹ Denkbild durch enthusiastische, ins Homophil-Erotische gesteigerte Begeisterung zu neuem Leben und inszeniert dieses zur jugendlichen Gottheit »Maximin«. Zum Credo der georgeschen Kunstreligion avanciert das Theorem »DER LEIB SEI DER GOTT«;22 es spielt auf das zum göttlichen Prinzip erhobene Idealschöne im idealistischen Denken an. Obwohl auch »Maximin« nur im Reich der Kunst wieder zum Leben zu erwecken ist, weist die »dritthumanistische« Antikerezeption im Vergleich zum klassizistisch-idealistischen Denken eine deutlich wirklichkeitsbezogene Qualität auf. Durch ihr vitalistisches Moment hebt sie sich stark von Winckelmanns auf rein intellektueller Ebene vollzogener Aneignung des 20 21 22

Winckelmann: Apollo-Beschreibungen, S. 166. Vgl. ebd., S. 165. Das Hellenische Wunder. In: BfdK 9 (1910), S. 2.

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Griechentums ab. Gemäß dem Motto ›Lebe dein Ideal!‹, das die populäre Lebensreformbewegung prägte, werden dann vor allem von den Georgeanern vermeintlich griechische Lebensprinzipien und -formen – wie homoerotische und paiderastische Praktiken, Symposien und dionysische Festivitäten, platonische Lehrmethoden sowie eine ganzheitliche Körpererziehung – in die Bildungskonzeption integriert. Humboldts neuhumanistischer Bildungsgedanke Die komplexe, alle Anlagen des einzelnen Menschen berücksichtigende, aber gleichzeitig auf das nationale Leben zugespitzte Paideia des »Dritten Humanismus« ist auf Wilhelm von Humboldts neuhumanistischen Individualbildungsgedanken zurückzuführen. Humboldt entwickelte seinen revolutionären Bildungsbegriff im Zusammenhang mit den liberalen Idealen der Französischen Revolution und der zeitgenössischen, allgemeinen Griechenbegeisterung. Er erachtete das Hellenentum als normativ und richtungsweisend für den modernen, unter Fragmentierung leidenden Menschen, weil im Gegensatz zu ihm griechisches Leben und Sein durch das Prinzip der Einheit in der Vielheit bestimmt worden sei. So begründete er am Studium des Griechentums ein Organizitäts- und Harmoniemodell, das zugleich als Grundlage seiner Bildungsutopie fungierte. Durch Verknüpfung mit sprachphilosophischen Überlegungen gab er seiner Konzeption, die prinzipiell auf der Idee einer universalen Menschenbildung beruhte, eine betont nationale Ausrichtung: Vor dem Hintergrund der ›deutsch-griechischen Wesensverwandtschaft‹ erklärte er die Möglichkeit einer wahrhaftigen Griechenrezeption zu einer exklusiven, vornehmlich deutschen Angelegenheit und Aufgabe. So hob er hervor, gerade die Deutschen seien prädestiniert, das ›griechische Wesen‹ – seine Wert- und Lebenshaltung – für die Moderne nutzbar zu machen.23

23

Zu Humboldts Antikebild und neuhumanistischem Bildungsbegriff vgl. Felix-Johannes Saures Staatsexamensarbeit (Bildung und Antike. Studien zum Werk Wilhelms von Humboldt. Masch. Marburg 1999), der meine Darstellung viele anregende Gedanken verdankt. – Siehe auch Bernd Glazinski: Antike und Moderne. Die Antike als Bildungsgegenstand bei Wilhelm von Humboldt. Aachen 1992; Joachim Wohlleben: Wilhelm von Humboldt und die deutsche Griechen-Rezeption. In: Spiegelungen. FS für Hans Schumacher zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Reiner Matzker, Petra Küchler-Sakellariou und Marius Babias. Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 77–101; Hellmut Flashar: Wilhelm von Humboldt und die griechische Literatur. In: Bernfried Schlerath (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt. Vortragszyklus zum 150. Todestag. Berlin, New York 1986, S. 82–100; Peter Bruno Stadler: Wilhelm von Humboldts Bild der Antike. Zürich, Stuttgart 1959.

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Humboldt wirkte mit seinen Ideen vor allem im wissenschaftspolitischen Bereich; hier wurde sein Bildungsmodell mit der Begründung des Gymnasiums und der Universität aus dem Geist seines Neuhumanismus institutionalisiert. Denn seine historischen und philosophischen Schriften waren ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern wurden zur eigenen Reflexion oder Diskussion mit Gleichgesinnten angefertigt; sie blieben deshalb teilweise auch unvollendet. Aufgrund seines Einflusses auf die Sphären Kultur, Wissenschaft und Politik sowie seines sprachphilosophischen Interesses avancierte er zu einer wichtigen und inspirierenden Leitgröße der auf den Logos zentrierten »dritthumanistischen« Gelehrtenpolitik. Mit Humboldt war es ihr erklärtes Ziel, die deutsche Nation durch gesellschaftliche Reformen nicht nur auf die Augenhöhe ihrer europäischen Rivalen zu befördern, sondern sie sogar über diese zu erheben. Wie später auch George und seine Schüler, Jaeger und Spranger mit ihrer Zeit- und Kulturkritik, erkannte Humboldt in seiner Gegenwart viele Defizite, die er durch ein Gegenmodell zu beheben suchte. So zeichnete er das Bild eines idealen Griechentums, das das Gesetz der Harmonie – des Ausgleichs und zugleich der Verbindung divergierender Tendenzen zu einem organischen Ganzen – bestimmt habe; die von ihm vorgebrachte Vorstellung von der griechischen Existenz als holistischer Gegenkategorie sollte starke Akzeptanz und Verbreitung in der »dritthumanistischen« Anschauung finden. Humboldt identifizierte die Fragmentierungs- und Vereinzelungstendenzen im Individuellen wie Sozialen, d. h. eine beobachtete allgemeine Entwicklung hin zur Ausdifferenzierung des gesamten Lebens in unverbundene und unabhängige Bereiche und zum einseitigen Gebrauch individueller Kräfte, als Krankheiten der Gegenwart, die zu kurieren seien. So konstatierte er in seiner ›Theorie der Bildung des Menschen‹: Der Mathematiker, der Naturforscher, der Künstler, ja oft selbst der Philosoph beginnen nicht nur jetzt gewöhnlich ihr Geschäft, ohne seine eigentliche Natur zu kennen und es in seiner Vollständigkeit zu übersehen, sondern auch nur wenige erheben sich selbst späterhin zu diesem höheren Standpunkt und dieser allgemeineren Uebersicht.24

24

Humboldts Texte werden im folgenden zitiert nach der Studienausgabe: Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1960ff. (= Werke). Hier: Theorie der Bildung des Menschen (wohl 1794/1795). In: Werke 1, S. 234–240, hier S. 234.

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Ähnlich verhalte es sich in bezug auf das gesamtgesellschaftliche Gemeinwesen, auch dies sei – wie er in einer staatsphilosophischen Abhandlung darlegt – »nur zu oft ein ideelles Ganze [sic!], bei dem man die Individuen beinah zu vergessen scheint«.25 Dem antiken Griechentum dagegen bescheinigt er Totalität. Es zeichne eine »Einheit des ganzen Wesens, welche allein dem Menschen wahren Werth giebt«,26 aus. Seine Gesellschaft entfernte Kasten- Priester- und Sittenzwang, der sonst den Geist so vieler alten [sic!] Nationen erstickte, ebnete, bis zur Vernichtung, die Ungleichheiten der Stände, und brachte jeden Bürger mit allen in die mannigfaltigste und allgemeinste Berührung.27

Mit dieser Einschätzung kommt die idealistische Vorstellung von einem archetypischen harmonischen Zustand ins Spiel, der in allen Lebensbereichen der griechischen Antike verwirklicht gewesen sei. Aufgrund seiner synthetisierenden und ausgleichenden Fähigkeiten erhebt Humboldt das griechische Harmoniedenken zum Heilmittel für die Gegenwart. In seiner ›Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten‹, einem der Grundlagentexte hinsichtlich des Konnex von Griechenbegeisterung und neuhumanistischer Bildungsutopie, beschreibt er eingängig die Regularitäten der harmonischen hellenischen Existenz. Sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene garantiere der vorherrschende Zug in ihrem Geist, ja der, welchen man immer wählen würde, wenn man nur einen einzigen anzuführen hätte, Achtung und Freude an Ebenmass und Gleichgewicht, auch das Edelste und Erhabenste nur da aufnehmen zu wollen, wo es mit einem Ganzen | zusammenstimmt. Das Misverhältniss zwischen innerem und äusserem Daseyn […] war den Griechen schlechterdings fremd; sie kannten nicht das Umtreiben in Gedanken und Empfindungen, hinter denen jeder Ausdruck zurückbleibt.28

Humboldt erkennt am griechischen Beispiel, daß sich destruktives Potential, das individuelle oder heterologe Wesensmerkmale einschließt, in einander ergänzende Konstituenten eines organischen Ganzen umwandeln läßt. Damit sei eine vielgestaltige und komplexe ›gesunde‹ Gesellschaft und Kultur gewährleistet, die zugleich anregend auf die vielseitige Kräftebildung des einzelnen wirke und damit den allgemeinen und kollektiven 25 26 27 28

Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792). In: Werke 1, S. 56–233, hier S. 62. Ebd. Ders.: Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807). In: Werke 2, S. 73–124, hier S. 105. Ebd., S. 102.

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Fortschritt begünstige. Eine Gleichförmigkeit ihrer einzelnen Glieder hingegen wird von ihm abgelehnt, da sie den Status quo festschreibe und damit jegliche Weiterentwicklung verhindere. Schon an diesem Punkt zeigt sich, daß Humboldts Harmoniemodell und seine Vorstellung von einer normativen Antike als Gegenmoderne unabdingbare Säulen seiner neuhumanistischen Individualbildungsutopie darstellen. Sein Bildungsmodell wird schließlich zur Grundlage jeglicher humanistischer Paideia werden, wenn auch Georgeaner, Jaeger und Spranger in der politisierten Atmosphäre der 1920er Jahre einige Modifikationen daran vornehmen und damit die ursprünglichen Ideen arg verbiegen sollten. In einem Brief an den befreundeten Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf hebt Humboldt den Zusammenhang von Totalitätspostulat und Griechenrezeption klar hervor. »Es gibt«, so schreibt er, eine ganz eigene [Ausbildung, BS], welche gleichsam den ganzen Menschen zusammenknüpft, ihn nicht nur fähiger, stärker, besser an dieser und jener Seite, sondern überhaupt zum größeren und edleren Menschen macht, wozu zugleich Stärke der intellektuellen, Güte der moralischen und Reizbarkeit und Empfänglichkeit der ästhetischen Fähigkeiten gehört. Diese Ausbildung nimmt nach und nach mehr ab und war in sehr hohem Grade unter den Griechen. Sie nun kann, dünkt mich, nicht besser befördert werden als […] durch das Studium der Griechen. Denn ich glaube […], daß kein anderes Volk zugleich so viel Einfachheit und Natur mit so viel Kultur verband und keins zugleich so viel ausharrende Energie und Reizbarkeit für jeden Eindruck besaß.29

Das Ziel der hier projektierten und in späteren Schriften weiter differenzierten Bildungskonzeption ist es, jedes Individuum ganzheitlich und in Freiheit, d. h. unabhängig von äußeren Anforderungen oder Bedürfnissen, aber auch von seiner Herkunft, zum Menschen zu formen und damit sein Dasein zu erhöhen.30 Alle seine Vermögen – sein Intellekt, seine Moral und die Sinne – sollten in der Auseinandersetzung mit dem ›griechischen Wesen‹ zu höchstmöglicher Vollkommenheit entfaltet werden. Dabei sei jedoch zu beachten, daß die verschiedenartigen Potentiale im Individuum nicht zu widerstreitenden Kräften erwüchsen, sondern in proportioniertem Verhältnis zueinander stünden und harmonisch mit29

30

Ders. an Friedrich August Wolf, 01.12.1792, zitiert nach Wilhelm von Humboldt. Sein Leben und Wirken dargestellt in Briefen, Tagebüchern und Dokumenten seiner Zeit. Hrsg. von Rudolf Freese. 2., völlig durchgesehene und neu gestaltete Aufl. Darmstadt 1986, S. 122f., hier S. 123. Vgl. ders.: Theorie der Bildung des Menschen. In: Werke 1, S. 235. – Siehe auch ders.: Der Königsberger und der Litauische Schulplan (1809). In: Werke 4, S. 168–195, hier S. 175.

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einander kooperierten. Dieser Gedanke ist in Humboldts berühmtem Ausspruch festgehalten, der – zumindest in seinem ersten Teil – späteren Generationen zum Inbegriff humanistischer Bildung werden sollte: Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung.31

Voraussetzung und Ziel der anvisierten individuellen Bildung ist die harmonische Gesamtheit, denn – wie es anschließend an das eben Zitierte heißt – »die Entwikkelung der menschlichen Kräfte [erfordert, BS] noch etwas andres, […] Mannigfaltigkeit der Situationen«.32 Wie in einem unendlichen Kreislauf begünstige eine ungebundene und unbestimmte Bildung des Individuums die soziale Vielfalt. Zugleich sei das zu bildende Individuum aber auch auf die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit, die in der Totalität gebunden werde, angewiesen. Bildung stellt sich also für Humboldt als ein ewiger, niemals abgeschlossener Vorgang dar. Er macht sie zu einem Instrument, mit dem der Mensch grundsätzliche, sein Sein als soziales und humanes Wesen bestimmende Prinzipien erfahre und (weiter)entwickele; deshalb ist sie auch nicht mit einem konkreten, d. h. materiellen Inhalt anzureichern. Diese Vorstellung ist dem Königsberger Schulplan des Jahres 1809 eingeschrieben, einem der wenigen offiziellen und damit öffentlichen bildungspolitischen Dokumente aus der Feder Humboldts. In ihm spricht er sich für einen allgemeinbildenden Unterricht aus, der Menschenbildung anstelle von Fachbildung garantiere. Besonders deutlich wird dieses Anliegen in seinen Ausführungen zum Griechischen in den höheren Schulen. Er stellt heraus, daß der Sprachunterricht nicht, wie so oft, zur Vermittlung historischer Kenntnisse zu mißbrauchen sei, sondern allein dem Verständnis antiker Autoren zu dienen habe.33 Deshalb müsse es sein Ziel werden, Denkmuster offenzulegen anstatt konkrete Inhalte zu vermitteln. Denn wer in der Lage sei, abstrakte Prinzipien menschlicher Existenz zu erfassen, sei auch befähigt, spezielle Fachanforderungen zu bewältigen. Humboldts Bildungsbegriff ist bis zu diesem Punkt weder historisch noch national ausgerichtet, sondern allgemeingültig und universell anwendbar. Erst in Verbindung mit seiner organologischen Sprachphiloso31 32 33

Ders.: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In: Werke 1, S. 64. Ebd. Vgl. ders.: Der Königsberger und der Litauische Schulplan. In: Werke 4, S. 174.

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phie erhält die neuhumanistische Bildungsidee ihre enge Anbindung an die Deutschen und ihre Sprache. Anders als noch Winckelmann, aber wie später die Anhänger des »Dritten Humanismus«, versteht Humboldt Sprache als das Bildungsmittel schlechthin, über das sich Wahrnehmungsmuster und Denkstrukturen vermitteln ließen.34 Im Gegensatz zu zeitgenössischen Bestrebungen, sich streng philologisch mit Texten unter kompilatorischen Gesichtspunkten zu beschäftigen, geht es ihm ausschließlich um den ›Geist‹, den sie transportierten, ihren ethischen und paideutischen Gehalt; ein Gedanke, der von George und seinen Schülern, Jaeger und Spranger weiterverfolgt werden wird. Nach Humboldts Auffassung bietet sich die griechische Sprache als Bildungsmittel für die Deutschen aus drei Gründen an. Den Texten der Alten lasse sich das normativ gedachte Harmoniegebot entnehmen, das alle Lebens- und Seinsbereiche bestimme. Da Griechen und Deutsche ein ähnliches Bewußtsein und demnach vergleichbare Vorlieben, Anlagen und Vermögen aufwiesen – dies führt Humboldt auf eine ähnliche Sprachstruktur zurück –, seien letztere bevorzugt befähigt, das griechische Ethos zu erfassen, zu verinnerlichen und sich an ihm weiterzubilden. In seiner ›Geschichte des Verfalls‹ heißt es diesbezüglich: Die Deutschen besitzen das unstreitige Verdienst, die Griechische Bildung zuerst treu aufgefasst, und tief gefühlt zu haben; zugleich aber lag in ihrer Sprache schon vorgebildet das geheimnissvolle Mittel da ihren wohlthätigen Einfluss weit über den Kreis der Gelehrten hinaus auf einen beträchtlichen Theil der Nation verbreiten zu können. Andre Nationen sind hierin nie gleich glücklich gewesen, oder wenigstens haben ihre Vertraulichkeit mit den Griechen weder in Commentaren, noch Uebersetzungen, noch Nachahmungen, noch endlich (worauf es am meisten ankommt) in dem übergegangenen Geiste des Alterthums auf ähnliche Art bewiesen. Deutsche knüpft daher seitdem ein ungleich festeres und engeres Band an die Griechen, als an irgend eine andere, auch bei weitem näher liegende Zeit oder Nation.35

Aufgrund dieses Diktums sind in Humboldts Modell die Deutschen als geistige Elite prädestiniert, die in der Moderne sehnsüchtig vermißte Ganzheitlichkeit des individuellen wie kollektiven Seins, die Vielseitigkeit in der Einheit wiederherzustellen, indem sie auf deutschem Boden die neuhumanistische Idee einer individuellen Bildung an den Griechen verwirklichen würden. Eine chauvinistische Note erhält Humboldts Utopie 34 35

Vgl. ders.: Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum (1806). In: Werke 2, S. 25–64, hier S. 61. Ders.: Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten. In: Werke 2, S. 87.

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jedoch, wenn man eine Bemerkung hinzuzieht, die er 1807 in einem Brief vorbringt; seine Vorstellung, »Griechischer Geist auf Deutschen geimpft«, ergebe erst das, »worin die Menschheit, ohne Stillstand, vorschreiten kann«,36 antizipiert bereits – wenn auch in moderater Weise – die radikalnationalistischen und kulturmissionarischen Ideen, die Ende des Jahrhunderts bzw. verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg vorgetragen werden und auch im George-Kreis, bei Jaeger und Spranger in den ausgehenden zwanziger Jahren Anklang finden sollten. Im Gegensatz zum »Dritten Humanismus«, der seine GriechenlandProjektion im Hier und Jetzt, in der eigenen zeitgenössischen Gegenwart, zu verwirklichen suchte, war sich Humboldt jedoch immer des idealischen und damit ›fernen‹ Charakters seines Hellas-Bildes bewußt. So schrieb er an Goethe: Aber es ist auch nur eine Täuschung, wenn wir selbst Bewohner Athens oder Roms zu seyn wünschten. Nur aus der Ferne, nur von allem Gemeinen getrennt, nur als vergangen muß das Alterthum uns erscheinen.37

Schillers Staatsutopie als kulturpolitisches Ideal Im Zeitraum vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wurde die politische Erziehung des ›neuen‹ Deutschen wichtigstes Anliegen im »Dritten Humanismus«. Analog zu Friedrich Schiller, der das Terreur-Regime in Frankreich und die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Jahr 1793 als Scheitern der Französischen Revolution begriffen und mit der moralischen Unreife der Menschheit erklärt hatte, deuteten George und seine Schüler, wie auch Jaeger und Spranger, den verlorenen Ersten Weltkrieg als Zeichen einer charakterlichen Schwäche ihres Volkes und zogen aus dieser Analyse ähnliche Konsequenzen wie Schiller mit seiner Konzeption einer ästhetischen Erziehung als kulturpolitisches Bildungsprogramm.38 Auch sie sprachen sich 36

37 38

Ders. an Johann Gottfried Schweighäuser, 04.11.1807. In: Wilhelm von Humboldts Briefe an Johann Gottfried Schweighäuser zum ersten Mal nach den Originalen hrsg. und erläutert von Albert Leitzmann. Jena 1934 (= Jenaer Germanistische Forschungen 25), S. 40–43 (Nr. 23), hier S. 42. Ders. an Johann Wolfgang von Goethe, 23.08.1804. In: Werke 5, S. 212–222 (Nr. 25), hier S. 216f. Zum Zusammenspiel von Politik und Ästhetik in Schillers Utopie vgl. grundlegend Dieter Borchmeyer: Ästhetische Erziehung als politische Propädeutik. In: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Studienausgabe. Aktualisierte Neuausgabe Weinheim 1998, S. 286–298; Ulrich Karthaus: Schiller und die französische Revolution. In: JbSchillergesell. 33 (1989), S. 210–239, hier v. a. S. 221–227.

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für eine neuartige sittliche Bildung durch die schöne Literatur aus, die die beklagte individuelle wie kollektive Totalität gewährleisten und zugleich politisches Verantwortungsbewußtsein des einzelnen stimulieren sollte. In engem Zusammenhang mit ihrer bildungspolitischen Tätigkeit stand – wie auch im schillerschen Modell – der Wille, die gesellschaftlich-staatliche Wirklichkeit in einen harmonischen Organismus zu transformieren. Ausgangspunkt für Schillers Utopie eines vernünftigen und zugleich sittlichen Staates, die er in den Jahren 1793–1795 entwickelte und abschließend in der theoretischen Schrift ›Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen‹ darlegte, ist eine sozialpolitische Fragestellung: Wie läßt sich die berechtigte Forderung nach individueller politischer Freiheit langfristig und in moralisch angemessener Weise realisieren und damit fest in der allgemeinen und überindividuellen Lebensordnung verankern? Die als barbarisch gebrandmarkten Exzesse im Gefolge der Revolution in Frankreich zeigten Schiller deutlich, daß der aufgeklärte Mensch allein noch nicht in der Lage sei, die ihm innewohnenden antagonistischen Pole Vernunft und Natur, Sittlichkeit und Sinnlichkeit in seiner Person zu versöhnen. Eine solche psychologische Diagnose der politischen Vorgänge, die gesellschaftliche Antagonismen ursächlich auf persönliche Defizite – eine innere Gespaltenheit – zurückführt, ermöglichte es Schiller, an die idealistische Kulturkritik und ihre Stereotypen anzuknüpfen und gleichsam eine Lösung im Ästhetischen zu suchen. So heißt es im zweiten Brief programmatisch, »daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert«.39 Wie später auch im »Dritten Humanismus«, ist es das Telos seiner Bildungsutopie, eine universale und harmonische Gesellschaft durch Umwandlung des gegenwärtigen fremdbestimmten Staates hervorzubringen. 39

Schillers Texte werden im folgenden zitiert nach Schillers Werke. Nationalausgabe (= NA). Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums und der Deutschen Akademie hrsg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke [1948ff.: Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller-Nationalmuseums hrsg. von Julius Petersen † und Hermann Schneider; 1961ff.: Begründet von Julius Petersen †. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese; 1979ff.: Hrsg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel †; seit 1992: Hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers; Redaktor: Horst Nahler; seit 2000: Georg Kurscheidt]. Weimar 1943ff. Hier: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1793–1795). In: NA 20, S. 309–412, hier 2. Brief, S. 312.

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Bevor aber dieses Ziel zu realisieren sei, müsse der einzelne Mensch zu innerer Einheit, Ausgeglichenheit und Ungebundenheit geführt werden. Erst wenn er seine ursprüngliche »To t a l i t ä t des Charakters« wiedererlangt habe, sei er für gesellschaftliche Harmonie und äußere Freiheit empfänglich und damit in der Lage, an der »moralischen Staatsverbesserung« mitzuwirken.40 Die Idee des reinen Menschen, die im gebildeten Individuum deutlich werde, bringe schließlich den Staat als Ordnungsinstanz hervor, als »die objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannichfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen trachtet«.41 Als zeitloses Maß und Prototyp eines organischen Gemeinwesens, in dem Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft durch die schönen Künste harmonisch und holistisch miteinander verbunden gewesen seien, gilt Schiller – und hier ergibt sich eine weitere Parallele zu Jaegers, Sprangers und georgeanischem Denken – die altgriechische Polis-Idee. So preist er in dem für seine Kulturkritik berühmten sechsten Brief die »Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß, und wenn es Noth that, zum Ganzen werden konnte«.42 Zugleich setzt er das idealisierte Griechentum scharf von der Moderne ab, die er als leblose und aus vielen Einzelteilen zusammengestückelte Maschine beschreibt. Mit diesem Vergleich verdeutlicht Schiller, daß die Wiederherstellung der seit der Antike verlorenen Harmonie und Totalität als Vorbedingung für wahre Humanität sowie innere und äußere Freiheit nur über den Umweg einer empfindenden Kunstanschauung im Sinne Winckelmanns zu erreichen sei. Denn im absolutistischen Zwangsstaat begünstige nur ein gegenüber den politischen Verhältnissen »immunes«, d. h. von ihnen unabhängiges »Werkzeug« die Veredelung des individuellen wie überindividuellen Charakters. Als ein solches Instrument mit dem Potential, aktiv und verändernd auf die Gesellschaft und ihre Institutionen einzuwirken, identifiziert Schiller im neunten Brief die idealschöne Kunst. Sie wird als autonomer Freiraum beschrieben, in dem weder Lebensernst, Handlungszwänge noch Notwendigkeiten herrschen.43 In ihrem allharmonischen Mikrokosmos gebe die idealschöne Kunst einen Vorschein auf die durch ästhetische Verinnerlichung anvisierte politische Bildung:

40 41 42 43

Ebd., 4. Brief, S. 318; 7. Brief, S. 328. Ebd., 4. Brief, S. 316. Ebd., 6. Brief, S. 323. Vgl. ebd., 9. Brief, S. 332f.

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Die Menschheit hat ihre Würde verloren, aber die Kunst hat sie gerettet und aufbewahrt in bedeutenden Steinen; die Wahrheit lebt in der Täuschung fort, und aus dem Nachbilde wird das Urbild wieder hergestellt werden. So wie die edle Kunst die edle Natur ü b e r l e b t e , so schreitet sie derselben auch in der Begeisterung, bildend und erweckend, voran.44

Neben der Erfahrung individueller und kollektiver Einheit und Harmonie zählt für Schiller der Freiheitsgedanke als dritte Grundfeste wahrer Humanität. Wie die ersten beiden Ideen sei auch die Freiheit als geistiges Prinzip der idealschönen Kunst eingeschrieben; in den ›Kallias‹-Briefen an Gottfried Körner prägt Schiller die berühmte Formel, »Schönheit also ist nichts anders als Freiheit in der Erscheinung«,45 d. h. das ausgeglichene und ungezwungene freie Zusammenspiel der inneren Triebe im idealen Menschen bzw. menschlichen Abbild. Die Kunst kann im schillerschen Modell zum Inbegriff von Totalität und Freiheit avancieren, weil sie als Evokation des Spieltriebs gedacht wird, der Stoff bzw. Materie und Form in harmonische Wechselwirkung miteinander treten und ihre »lebende Gestalt«, d. h. ihre Schönheit, erkennen läßt. In der Anschauung der lebenden Gestalt erfahre der Mensch im Ästhetischen die ideale Einheit von Vernunft und Natur. Befreit »von den Fesseln jedes Zweckes, jeder Pflicht, jeder Sorge«46 könne er sich in entlasteter Situation und im spielerischen Umgang mit dem Idealschönen selbst verwirklichen: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und e r i s t n u r d a g a n z M e n s c h , wo e r s p i e l t . «47 Durch empfindende Auseinandersetzung mit dem anmutigen und vollkommenen Objekt greife diese innere Freiheit auch auf den Betrachter über und versetze ihn in eine ästhetische Stimmung. Damit sei es dem Menschen »nunmehr, v o n N a t u r w e g e n möglich gemacht […], aus sich selbst zu machen, was er will – […] ihm [ist, BS] die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll, vollkommen zurückgegeben«.48 Dieses Vermögen, sich selbst in Freiheit zu versetzen, betrachtet Schiller »als die höchste aller Schenkungen, als die Schenkung der Menschheit«.49 Denn in seinem Modell dient der Zustand ästhetischer Freiheit als grundlegende Voraussetzung eines moralischen Daseins. Er wird als pädagogisches Zwischenziel 44 45 46 47 48 49

Ebd., S. 334. Ders. an Gottfried Körner, 08.02.1793. In: NA 26, S. 177–183, hier S. 183 (Nr. 151). Ders.: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. In: NA 20, 15. Brief, S. 359. Ebd. Ebd., 21. Brief, S. 377f. Ebd., S. 378 (Hervorhebung BS).

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des politischen Bildungsvorgangs begriffen, aus dem heraus beides, Gesellschaftsumbildung und Staatsumwandlung, erfolge. Entsprechend bestimmt Schiller die vermittelnde ästhetische Freiheit als »die nothwendige Bedingung, unter welcher allein wir zu einer Einsicht und zu einer Gesinnung gelangen können«,50 als Präsupposition, unter der jeder Mensch erst zu seiner Gattung finde. Indem das Individuum die reine Idee des Menschen in sich erfahre, behaupte sich der Staat in ihm als »Willen des Ganzen«, der sich »durch die Natur des Individuums vollzieht«.51 Damit habe die empfindende Anschauung die Illusion eines moralischen Staatsgebildes geschaffen, einen politischen Zustand antizipiert, in dem eine veredelte Menschheit als harmonische und freie Gemeinschaft lebe und der in unbestimmter Zeit Realität werden könne: Mitten in dem fruchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet. […] F r e y h e i t z u g e b e n d u r c h F r e y h e i t ist das Grundgesetz dieses Reichs.52

Die Erfahrung dieses »ästhetischen Staates« im Kunsterlebnis stimuliere nun den schrittweisen »Übergang« des fremdbestimmten Gegenwartsstaates in einen vernünftigen und sittlichen realen Staat der Zukunft: Durch die Kunst werde der Mensch »unter den offenen Himmel des Gemeinsinns«53 geführt. Deutet noch Schiller den sittlichen Staat als zwar absolutes, doch fernes Bildungsziel schemenhaft an, so erscheint im »Dritten Humanismus« die Verwirklichung seiner »Prophezeiung« zum Greifen nahe.54 Deshalb entwickeln Jaeger, Spranger und Georgeaner seit 1916 bzw. verstärkt in den Weimarer Jahren konkrete Überlegungen hinsichtlich eines baldigen Vollzugs ihrer gesellschaftspolitischen Ideale. Dabei geben sie aber das ästhetische Spiel im Mikrokosmos der Kunst preis zugunsten einer Paideia in der Realität, einer direkten und unvermittelten Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund kann sich dann auch Georges Schüler Kurt Hildebrandt strikt von Schiller absetzen und behaupten: 50 51 52 53 54

Ebd., 23. Brief, S. 383 (Hervorhebung BS). Ebd., 27. Brief, S. 410. Ebd. Ebd., S. 412. Vgl. Eduard Spranger: Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen Deutschland (1916). In: GRA, S. 1–33, hier S. 10.

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Die Idee [vom Staat, BS] ist kein schönes Spiel, das über die Dürre des Alltags hinwegträgt und tröstet, sie strebt ihrem Wesen nach nach wirklicher Herrschaft, sie ist eine unerbittliche Gewalt, die Leben und Tod spendet.55

Trotz vielfältiger Beteuerungen, den eigenen Entwurf auf die gegenwärtige soziale und politische Realität zu beziehen, haftet aber dem humanistischen Staatsdenken mit seinen metaphysischen Ideen weiterhin ein utopischer Charakter an. Im Gegensatz zu Schiller, der das Illusionäre seiner bildungspolitischen Überlegungen erkennt und immer wieder betont, mangelt es jedoch Jaeger, Spranger und den Georgeanern an diesem Reflexionsvermögen. So mag es auch nicht sehr überraschen, wenn manche von ihnen 1933/1934 das in Wissenschaft und Kunst projektierte »Neue Reich« mit der nationalsozialistischen Gegenwart verwechseln. Wie Schiller im letzten Absatz seiner Abhandlung über die ästhetische Erziehung festhält, existiere sein Reich des schönen Scheins als Vorstadium des sittlichen Staates »dem Bedürfniß nach« bereits »in jeder feingestimmten Seele«, »der That nach« sei es aber lediglich »in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln« zu finden.56 Die hier angesprochene geistige Elite, in der der anvisierte Zukunftsstaat sichtbar werde, läßt sich mit den im neunten Brief erwähnten Künstlern identifizieren, die in sich das Ideal vollkommener Humanität bereits vorgebildet hätten. Als »Keimzelle und Vorbild einer durch Kunst versöhnten Gesellschaft«57 komme deshalb den Dichtern die Aufgabe zu, wie Schiller in ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹ darlegt, die Menschheit zu reinigen und sie »von allen zufälligen Schranken [zu] befreyen«.58 Indem es ihnen gelinge, in der Poesie »das schöne Ganze menschlicher Natur […] auf[zu]bewahren, und in allem, was rein menschlich ist, durch ihre Gefühle dem allgemeinen Urtheil Gesetze zu geben«,59 wiesen sie der Menschheit den Weg zur Veredelung in der Totalität, die sie bereits für sich erreicht hätten. Wie im idealistischen Denken die Dichter, zu denen sich Schiller natürlich zählt, als Menschenbildner angesehen werden, so verstehen 55

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Kurt Hildebrandt: Die Wirkung der Idee im Aufbau des Staates (1927). In: Staat und Rasse. Drei Vorträge. Breslau 1928 (= Veröffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft 19), S. 39–53, hier S. 53. Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. In: NA 20, 27. Brief, S. 412. Klaus L. Berghahn: Nachwort. In: Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen. Stuttgart 2000 (= RUB 18062), S. 253–286, hier S. 270. Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung (1795/1796). In. NA 20, S. 413–503, hier S. 489. Ebd., S. 490.

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sich die humanistischen Gelehrtenpolitiker und Dichterpropheten des 20. Jahrhunderts als Vorkämpfer des neuen Deutschen und Begründer des gesellschaftlichen wie staatlichen Umbaus Deutschlands. Trotz der offensichtlichen Parallele – des eigenen Selbstverständnisses als geistigkulturelle Avantgarde – besteht aber auch ein eklatanter Unterschied zwischen beiden Modellen. Während Schiller mit seiner Utopie einen kosmopolitischen, über die Nationen hinausgreifenden Weltstaat ersinnt, bleibt das projektierte »Neue Reich« des »Dritten Humanismus« auf das deutsche Volk beschränkt und wird mit kulturmissionarischen, bisweilen sogar kulturimperialistischen Ansprüchen verknüpft. Die liberale Idee der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, die die Grundlage von Schillers Staatsauffassung bildet, wird unter dem Einfluß eines erstarkenden Nationalismus und der Vormacht preußischen bzw. sozialistischen Gedankengutes zur gebundenen Freiheit umgedeutet, die dem Willen eines sich von der Masse abhebenden Führergenies entspreche. Goethes ganzheitlich-ästhetische Aneignung des Griechentums Die Anhänger des »Dritten Humanismus« deuteten in ihrer Utopie den Griechen der Antike im Gegensatz zum zeitgenössischen Menschen als eine ganzheitliche Natur. Die aus dieser Disposition resultierende geistigkörperliche Vollkommenheit des Hellenen spiegelte sich nach ihrem Verständnis in seinen Werken literarischer und künstlerischer Art wider, die gleichsam Totalität und vollendete Meisterschaft aufwiesen. Durch nachvollziehendes Verstehen seien die den antiken Texten zugesprochenen allgemeinmenschlichen Gehalte, die der Vervollkommnung des Individuums dienten, anzueignen und für die Paideia des modernen Deutschen nutzbar zu machen. Wie in vielen anderen Punkten prägten Jaeger, Spranger sowie George und seine Schüler aber nicht als geistige Urheber diese Vorstellung, sondern sie beriefen sich auf ein bewährtes Grundtheorem des ästhetischen Klassizismus der Zeit um 1800. Die Idee vom bildenden und sinnstiftenden ›Geist des Ganzen‹ als Charakteristikum der ›reinen Griechheit‹ läßt sich besonders deutlich in Goethes Denken nachweisen. So preist er in seiner Winckelmann-Schrift den griechischen Menschen als eine harmonisch gestaltete kosmische Einheit, indem er notiert, »das Vollständige seiner Persönlichkeit« habe diesen befähigt, auch »mannichfaltige, außermenschliche Gegenstände«, für die »eine Zertheilung der Kräfte und Fähigkeiten, eine Zerstückelung der Einheit fast unerläßlich« sei, wissenschaftlich zu erfassen und zu syn63

thetisieren.60 Dieses »glückliche Loos der Alten, besonders der Griechen in ihrer besten Zeit«, führt Goethe darauf zurück, daß in ihnen »die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes« wirke61 und sich daher »das Gefühl, die Betrachtung nicht zerstückelt«62 finde. Zu einer solchen Wertschätzung des griechischen Menschen sei er, wie er in seiner Rede ›Zum Schäkespears Tag‹ 1771 bekennt, durch das Studium der antiken Autoren, besonders durch die beständige HomerLektüre gelangt; neben Sophokles und Theokrit habe ihn gerade Homer das Besondere der griechischen Seelen fühlen gelehrt.63 Deshalb pflegte er einen regelrechten Homer-Enthusiasmus, der der winckelmannschen Verehrung des ›heiligen Homers‹ in nichts nachstand;64 die eigene Lektüre als tägliches Brevier ist dichterisch in ›Künstlers Morgenlied‹ verarbeitet. In der vierten Strophe heißt es: Ich trete vor den Altar hin, Und lese, wie sich’s ziemt, Andacht liturg’scher Lection Im heiligen Homer.65

Vor dem Hintergrund der schwärmerischen Homer-Begeisterung des jungen Goethe, die durch seine Italienreise 1786–1788 noch verstärkt wurde – in Italien habe sich ihm das homerische Wort verlebendigt –,66 ist es nicht verwunderlich, daß er die ›Prolegomena ad Homerum‹ seines Freundes und Diskussionspartners in altertumskundlichen Angelegenheiten, des Hallenser Professors Friedrich August Wolf, nahezu als Sakrileg aufnahm. Als klassischer Philologe von Rang und Namen hatte Wolf 1795 seiner neuen Textausgabe der homerischen Dichtungen eine ausführliche Vorrede vorangestellt, die über die Prinzipien seiner historisch60

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Goethes Texte werden zitiert nach der Weimarer Ausgabe (= WA): Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. I–IV. Weimar 1887–1919. Hier: Winckelmann (1805). In: WA [Abt.] I [Bd.] 46, S. 25; S. 24. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23. Vgl. ders.: Zum Schäkespears Tag (1771). In: WA I 37, S. 127–135, hier S. 131. Vgl. Joachim Wohlleben: Die Sonne Homers. Zehn Kapitel deutscher Homer-Begeisterung. Von Winckelmann bis Schliemann. Göttingen 1990 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 1554), S. 45. – Zu Goethes lebenslanger Beschäftigung mit Homer zuletzt Ulrike Landfester: Immer anders. Goethes Homer. In: Homer und die deutsche Literatur. In Zusammenarbeit mit Hermann Korte hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 2010 (= Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband VIII/10), S. 123–147. Johann Wolfgang von Goethe: Künstlers Morgenlied (vermutlich 1774). In: WA I 2, S. 178–181, hier S. 178. Vgl. ders.: Italiänische Reise. II. In: WA I 31, S. 238f.

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kritischen Wissenschaftsauffassung und die philologischen Grundlagen der vorliegenden Edition Rechenschaft ablegte. In diesem Zusammenhang wies er unter Bezugnahme auf seine umfassende und detaillierte Analyse der bekannten Überlieferung überzeugend nach, warum ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ nicht das Werk eines einzigen Dichters, nämlich Homers, sein könnten, sondern vielmehr aus Einzelliedern bestünden, die von verschiedenen Verfassern, den sogenannten Homeriden, stammten und erst von späteren Bearbeitern variiert und zu den beiden erhaltenen Werken vereinigt worden seien. Obwohl sich Wolf mit Sicherheit bewußt war, daß er mit seiner fundierten Darstellung eine unüberwindbare Kluft zwischen dem idealistischen Denken und ästhetischen Glauben der Dichter und der ernüchternden glanzlosen Realität, die die solide wissenschaftliche Arbeit aufdeckte, aufreißen würde und er diese Konsequenz stark bedauerte, bekannte er sich auf Kosten des Kunstgenusses zur historisch-kritischen Forschung als der entscheidenden Macht im Umgang mit dem Altertum. So betonte er in der Rolle eines Sprechers für seine Zunft, die Philologen hätten nicht darauf zu achten, »was nach unserm Gefühl den Gesetzen der Poesie entspricht und dem Dichter Ehre einbringt, sondern was sich aus den geschichtlichen Angaben und den Grundsätzen der Kritik wahrscheinlich ergibt«.67 Wolfs entschieden vorgetragener Standpunkt, der ja eine klare Verurteilung eines emotionalen, sensualistischen Umgangs mit dem Altertum bedeutete, hatte weitreichende Folgen, nicht nur für die Standortbestimmung der philologischen Hermeneutik. Als eine gravierende Auswirkung seiner kritischen Philologie, die über die Fachgrenzen hinaus für Furore und Empörung sorgte und poetologische wie ästhetische Diskussionen bestimmte, hat die Infragestellung Homers als genialen überzeitlichen Dichters zu gelten. Denn mit seinem textkritischen Verfahren hatte sich Wolf an einem Dogma vergangen: Durch die Aufspaltung der organischen Ganzheit der Epen in nunmehr unzusammenhängende Einzelteile wurde der Glauben an den einen Homer als genialen Urheber der ›Ilias‹ und der ›Odyssee‹ stark in Zweifel gezogen. Wolf hatte mit rational nachvollziehbaren wissenschaftlichen Argumenten den Anhängern einer klassizistischen Ästhetik demonstriert, daß Homer keine ganzheitliche Natur, kein poetisches Originalgenie gewesen sein könne, denn dieses zeichne ja gerade die intuitive Fähigkeit aus, mit Hilfe eines einzigartigen schöpferi67

Friedrich August Wolfs Prolegomena zu Homer. Ins Deutsche übertragen von Hermann Muchau. Mit einem Vorwort über die Homerische Frage und die wissenschaftlichen Ergebnisse der Ausgrabungen in Troja und Leukas-Ithaka. Leipzig 1908, S. 150.

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schen Bewußtseins ein homogenes, eine Einheit verkörperndes Werk zu schaffen. In Reaktion auf sein Studium der ›Prolegomena‹ schrieb daher Goethe Mitte Mai 1795 erschüttert und zugleich entrüstet an Schiller, daß Wolfs Vorrede zwar »interessant genug« sei, aber ihn aufgrund der zergliedernden Analysen, die den Glauben an eine ganzheitliche ideale Antike zerstörten, »schlecht erbaut« habe: Die Idee mag gut seyn und die Bemühung ist respecktabel, wenn nur nicht diese Herrn, um ihre schwachen Flancken zu decken, gelegentlich die fruchtbarsten Gärten des ästhetischen Reichs verwüsten und in leidige Verschanzungen verwandeln müsten.68

Noch deutlicher und weniger verklausuliert beklagte Goethe in einem Brief an den befreundeten Lyriker Karl Ludwig von Knebel aus dem Jahr 1813 die gravierenden Auswirkungen der positivistischen Forschung und historischen Kritik für eine erbauliche Kunstbetrachtung. Gerade »die trostlose Behandlungsweise mancher Philologen« sei, so Goethe, dafür verantwortlich, daß »das der Vergangenheit inwohnende Leben immer mehr ertödtet, das Zusammenhängende zersplittert, dem Gefühl entrissen und blos in Studirstuben gezogen wird«.69 Deshalb bekannte er in Abgrenzung von kunstfeindlichen Kritikern, deren einziges Anliegen und Aufgabe es sei, »aufzulösen, trennen, das gleichartigste Ganze in Teile zu zerlegen«, sein Interesse als Dichter sei ein harmonisches, nämlich, »zusammenfügen, verbinden, ungleichartige Teile in ein Ganzes zu vereinigen« und damit die Ganzheit und Vielheit des ›griechischen Geistes‹ im Hier und Jetzt erfahrbar zu machen.70 Mit dieser Erklärung erteilte er dem einmaligen Bündnis zwischen historisch-kritischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Kunsttheorie, das seit Winckelmanns Neuentdeckung des griechischen Altertums in Deutschland die deutsche Humanitätsbildung maßgeblich beeinflußte, eine deutliche Absage. Denn – dies ist ebenfalls der Stellungnahme zu entnehmen – er akzeptierte, wenn auch zähneknirschend, den durch den wolfschen Vorstoß herbeigeführten Status quo, die Unvereinbarkeit von Kunstgenuß und gelehrter Betrachtung der literarischen Werke. Allerdings rächte er indirekt seine Auswei68 69 70

Goethe an Schiller, 17.05.1795. In: WA IV 10, S. 260f. (Nr. 3157), hier S. 260. Ders. an Knebel, 13.01.1813. In: WA IV 23, S. 238–240 (Nr. 6480), hier S. 240. Ders. im Gespräch mit Karl August Böttiger, Frühjahr 1795. In: Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Begründet von Woldemar Frhr. von Biedermann. Neu hrsg. von Flodoard Frhr. von Biedermann. 5 Bde. 2., durchgesehene und stark vermehrte Aufl. Leipzig 1909–1911. Bd. 1, S. 228f. (Nr. 454), hier S. 229.

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sung aus der neuen Textwissenschaft, indem er versuchte, nicht nur die ästhetische Wahrnehmung gegen die philologische zu immunisieren, sondern vielmehr ihre Vorrangstellung zu verdeutlichen. So erklärte er in ›Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung‹, zu einer angemessenen Beurteilung »des epischen Dichters gehört nur Anschauen und Gefühl und nicht eigentlich Kenntniß«,71 und in einer Rezension versuchte er, am Beispiel der zeitgenössischen Lyrik von Voß nachzuweisen, daß antiker ›Geist‹ in der Moderne nur aufgespürt und vollendete ›Gestalt‹ annehmen könne, wenn die Vergangenheit nicht als »zerstückeltes buchstäbliches Wissen«, sondern als ganzheitliche Anschauung, als »unmittelbare[s] Ergreifen […] in ihren wahresten Verhältnissen« aufgefaßt werde.72 Auch wenn Goethe – trotz der massiven Einwände gegenüber der zeitgenössischen Philologie – kurzzeitig Wolfs Homeriden-Theorie billigte, weil sie sich für die eigene Produktionsästhetik fruchtbar machen ließ,73 beeinträchtigte die dabei in Kauf genommene »Demontage Homers als Person«74 seine Wahrnehmung der beiden Epen als organisches Gebilde überhaupt nicht. Sie wirkte sogar wie ein Katalysator und potenzierte seine Verehrung für das Werk. So hielt er in einem Xenion, das sich in seinem Nachlaß befindet, fest: »Mit hartherz’ger Kritik hast du den Dichter entleibet, / Aber unsterblich durch dich lebt das verjüngte Gedicht.«75 Diesen Eindruck bestätigt auch eine spätere Äußerung gegenüber seinem engen Vertrauten Johann Peter Eckermann vom 1. Februar 1827. Im Gespräch betont Goethe: 71 72 73

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Ders.: Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung (1796). In: WA I 41,2, S. 169–176, hier S. 173. Ders.: Lyrische Gedichte von Johann Heinrich Voß. In: WA I 40, S. 263–283, hier S. 281. Ist ihm die Selbsteinschätzung als eklektischer Epigone im Vergleich zum alle überragenden Dichterheros Homer unerträglich und hat ihn von der Produktion eines epischen Gedichtes abgehalten, so muß er die Abschaffung des Vorbildes gutheißen als Voraussetzung dafür, ihm schöpferisch nachschaffen zu können und ein neues heroisches Dichtertum zu begründen. Mit einem modernen epischen Gedicht lasse sich, so Goethes berechnende Überlegung, an eine adlige Genealogie anschließen und die eigene Person zum letzten Homeriden stilisieren, der das große epische Familienwerk zum Abschluß bringe. – Vgl. hierzu ausführlich (und mit entsprechenden Belegen) Volker Riedel: Goethe und Homer. In: Wiedergeburt griechischer Götter und Helden. Homer in der Kunst der Goethezeit. Eine Ausstellung der Winckelmann-Gesellschaft im Winckelmann-Museum Stendal. 6. November 1999 bis 9. Januar 2000. Katalog. Hrsg. im Auftrag der Winckelmann-Gesellschaft von Max Kunze. Mainz 1999, S. 243–259, bes. S. 248–250; Jutta Osinski: Goethe und Homer. In: Jahresgabe 2002. Hrsg. von der Goethe-Gesellschaft Bonn. Bonn 2003, S. 5–24, bes. S. 9–12. Osinski: Goethe und Homer, S. 10. Johann Wolfgang von Goethe: Xenien (Aus dem Nachlaß), Nr. 85: Der Wolfische Homer. In: WA I 5,1, S. 281.

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In der Poesie ist die vernichtende Kritik nicht so schädlich. Wolf hat den Homer zerstört, doch dem Gedicht hat er nichts anhaben können; denn dieses Gedicht hat die Wunderkraft wie die Helden Walhallas, die sich des Morgens in Stücke hauen und Mittags sich wieder mit heilen Gliedern zu Tische setzen.76

Die Überzeugung, die ›Ilias‹ und die ›Odyssee‹ seien strukturierte, organisierte und einheitliche poetische Gebilde, dürfte sich im Zusammenhang mit konzeptionellen Überlegungen zu einem Epos, das als Bindeglied zwischen beiden Texten fungieren sollte und den Tod Achills und seine Begleitumstände ins Zentrum stellen würde, nur noch verstärkt haben. Denn die wiederholte intensive Beschäftigung mit dem antiken Sujet ließ Goethe beständig die Vollkommenheit der homerischen Epen erfahren und deshalb die beiden Texte als geistige Schöpfungen einer einheitlichen Inspiration auffassen. Damit hat ihn das genaue ›Ilias‹-Studium zu seinem alten ästhetischen Glauben an den einen Urheber der Dichtungen und seine einmalige schöpferische Produktivität zurückgeführt.77 Im Einklang mit den Gesetzen der klassizistischen Ästhetik kann er die beiden antiken Texte nun wieder als Geistesprodukte auffassen, die auf einen schöpferischen Urheber verweisen, der – begünstigt durch die eigene Totalität – den dem geschriebenen Wort zugrundeliegenden Stoff in einen ganzheitlichen und lebendigen Organismus zu transformieren vermocht habe. Anders als den Wissenschaftler Wolf, der in seinen philologischen Studien Homer lediglich als historische Person behandelte, interessieren den Künstler Goethe an diesem weniger biographische Fakten als vielmehr das mit ihm assoziierte intuitive geistige Potential, das einen genialen Urheber erst auszeichne.78 Vor diesem Hintergrund lassen sich dann auch die philologischen Streitfragen über die Echtheit oder Autorschaft bestimmter Schriften nur als eine der »wunderlichen Albernheiten der Schulen« abqualifizieren und für »vollkommen lächerlich« erklären. Den »Gelehrten, die in dieser unwesentlichen Sache so genau zu Werke gehen«, hält er deshalb in seinen ›Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik‹ vor, »[e]s ist immer nur der Autor, den wir vor uns haben; was kümmern uns die Namen, 76 77

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Ders. im Gespräch mit Eckermann, 01.02.1827. In: Goethes Gespräche. Bd. 3, S. 342–348 (Nr. 2473), hier S. 347f. Im Gedicht ›Homer wieder Homer‹ (1827) verarbeitet Goethe die eigene Bekehrung poetisch: »Scharfsinnig habt ihr, wie ihr seid, / Von aller Verehrung uns befreit, / Und wir bekannten überfrei / Daß Ilias nur ein Flickwerk sei. // Mög’ unser Abfall niemand kränken; / Denn Jugend weiß uns zu entzünden, / Daß wir Ihn lieber als Ganzes denken, / Als Ganzes freudig Ihn empfinden« (WA I 3, S. 159). Vgl. Osinski: Goethe und Homer, S. 12.

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wenn wir ein Geisteswerk auslegen?«79 Und diesen Grundsatz scheinbar fortführend, notiert er in Hinblick auf eine geplante Einleitung zur Übersetzung von Thomas Campbells ›Lectures on Poetry‹ (1821), die in ›Kunst und Altertum‹ veröffentlicht werden sollte, als Sprecher pro domo die Ästheten gehen von dem Grundsatze aus, daß der letzte Redacteur uns in seinem Sinne ein Ganzes, ein Vollendetes geben wolle. Nun darf ich ihm nicht hadern, ich muß es nehmen, wie er’s giebt; hier ist also die Wahl für jeden entweder Kritik oder Glaube. Die Kritik muß in ihrem vollen Rechte bleiben, niemand kann ihr vorschreiben wie weit sie gehen solle; der Glaube jedoch läßt sich nicht irre machen, und wenn er dem Kritiker für die Vorbereitung dankt, so läßt er sich im Genuß nicht stören.80

Mit dieser Erklärung bringt Goethe unmißverständlich seine Ansicht zum Ausdruck, daß Wolf mit seinem Bekenntnis zu einer historisch-kritischen Wissenschaftsauffassung die unumkehrbare Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rezeptionsdiskurse mit entgegengesetzten, nicht zu vereinbarenden Interessen und Erwartungen initiiert habe: Weil Textkritiker und Philologen einen distanzierend-objektivierenden wissenschaftlichen Umgang mit der antiken Überlieferung beförderten, hätten ihnen die Ästheten gegenüberzutreten, die mit Hilfe eines quasi-religiösen normativen Klassizismus für eine projektive Einfühlung und synthetisierende Wahrnehmung der griechischen Texte Stellung bezögen. Denn sie faßten die homerischen Epen als ein psychologisch motiviertes Œuvre auf und deuteten einzelne Protagonisten, wie beispielsweise Achill, als Charaktere, in denen sich Überzeitliches und Allgemeinmenschliches spiegele. Mit Goethe ist nicht von der Hand zu weisen, daß Wolf mit seinem kritischen Vorstoß 1795 eine rivalisierende Auseinanderentwicklung beider Sphären einleitete, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer starken Opposition zwischen Wissenschaft und Ästhetik zuspitzte: Die ihm folgende Philologengeneration führte seine textkritischen Prinzipien unter radikalisiertem Vorzeichen fort; so wurden unter Zuhilfenahme einer streng historistisch-positivistischen Methodik und dem Verzicht auf eine universale Hermeneutik jegliche ästhetischen Kriterien aus der Disziplin verbannt. Jedoch überging Goethe in seinen Stellungnahmen geflissentlich, daß sich Wolf schon bald nach Erscheinen seiner ›Prolegomena‹ un79 80

Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik. Aus Wilhelm Meisters Wanderjahren. In: WA I 42,2, S. 165–206, hier S. 198. Ders.: Über Campbell’s ›Lectures on Poetry‹. Zunächst ungedruckt. In: WA I 42,2, S. 452–454, hier S. 453.

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ter dem Eindruck intensiver Gespräche verstärkt darum bemühte, seine historisch-philologische Kritik um die ästhetische Dimension zu erweitern und damit eine Gesamtanschauung des Altertums zu begünstigen, wie sie die Dichter und Neuhumanisten forderten.81 Diese Zielsetzung wird besonders deutlich in der Vorrede zur ›Darstellung der AlterthumsWissenschaft‹ (1807), die er Goethe in geistiger Verbundenheit widmete. In ihr bekennt sich Wolf zu dem Programm, »hin und wieder das weite Gebäude von Kenntnissen aufzuklären, in welchen jener das Leben verschönernde Geist ursprünglich wohnte«.82 So hofft er, daß der Deutsche, ohne die Emsigkeit des bloss gelehrten Sammlers zu verachten, ohne den blossen Liebhaber allgemeiner Bildung zurückzuweisen, überall der tiefere Forscher und Ausleger des aus dem Alterthume fliessenden Grossen und Schönen83

werden, ja bleiben möge. Wolfs Idee einer humanistischen Philologie, die nach seinem Tod verkümmerte, wurde erst wieder im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufgegriffen: Friedrich Nietzsche sprach sich 1869 in seiner wegweisenden Rede zum Antritt des philologischen Lehrstuhls in Basel dafür aus, die fachwissenschaftliche Betätigung in eine holistische, sinnlich erfahrbare Weltanschauung zu integrieren und damit Sorge zu tragen, daß »alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt«.84 Jedoch erwies sich Nietzsches eigener ästhetischer Entwurf eines tragischen Griechentums, wie er ihn in der 1872 veröffentlichten ›Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ darlegte, als ungeeignet, normative Ästhetik und kritische Textwissenschaft auszusöhnen und wieder harmonisch zu verbinden.85 81

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Vgl. Manfred Riedel: Die Erfindung des Philologen. Friedrich August Wolf und Friedrich Nietzsche. In: A&A 42 (1996), S. 119–136, bes. S. 122–127; ders.: Zwischen Dichtung und Philologie. Goethe und Friedrich August Wolf. In: DVjs 71 (1997), S. 92–109, hier bes. S. 102; S. 105–108. Friedrich August Wolf: Darstellung der Alterthums-Wissenschaft. In: Friedrich August Wolf. Kleine Schriften in lateinischer und deutscher Sprache. Hrsg. von Gottfried Bernhardy. Bd. 2: Deutsche Aufsätze. Hildesheim, Zürich, New York 2003 (= Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Halle 1869), S. 808–895, hier S. 808. Ebd., S. 810. Friedrich Nietzsche: Homer und die klassische Philologie. In: Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe (= KGA). Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Abt. Bd. 1: Philologische Schriften (1867–1873). Bearbeitet von Fritz Bormann und Mario Carpitella. Berlin, New York 1982, S. 247–269, hier S. 268f. Vgl. hierzu Osinski: Goethe und Homer, S. 18f.; dies.: Träumende Homere. Versuch über Nietzsche. In: Homer und die deutsche Literatur, S. 208–224, hier bersonders S. 208–213. – Zu Nietzsches ästhetischem Entwurf siehe auch Lorella Bosco: »Das

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Dieses Kunststück sollte erst rund vierzig Jahre später den Vertretern des »Dritten Humanismus« mit ihrer holistischen Paideia-Konzeption gelingen. Eine entscheidende theoretische Grundlage ihres Bildungsmodells stellt Goethes ästhetisches Homer-Bild dar, das ausdrücklich wissenschaftliche Erkenntnisse ausblendet. Wie Goethe gehen sie davon aus, daß einzig die Wahrnehmung des antiken Kosmos als einer unzergliederten Einheit vitalistische und sinnstiftende Impulse vermittele. Daher bemühen sich gerade die Philologen aus ihren Reihen, historisch-kritische Textanalysen mit geisteswissenschaftlichem Erleben im Sinne der diltheyschen Hermeneutik zu verschmelzen, um den ganzheitlichen Menschen zu bilden. Hölderlins Kulturkritik an den Deutschen Das Leiden an Deutschland, die leidenschaftlich vorgetragene Klage über den sittlichen Verfall des ›deutschen Charakters‹ ist eine der ungeliebten Konstanten des bürgerlichen Humanismus, ja der deutschen Geistesgeschichte überhaupt.86 Eine besonders drastische Ausprägung erreichte die Kritik an den zeitgenössischen Deutschen in Hölderlins Briefroman ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹, der in den Jahren 1797 bis 1799 entstand. Die ihm eingeschriebene Deutschenschelte, die das Ungenügen der eigenen Identität deutlich vor Augen führt, markiert den Beginn einer idealistischen Tradition beißender Kulturkritik,87 die auf dem Fundament einer echten Philanthropie und innigen Vaterlandsliebe die radikale Verachtung der nationalen Gegenwart in ein optimistisches Menschen- und Gesellschaftsbild vor der Folie eines vitalistisch ausgedeuteten Griechentums überführt. Wie Hölderlin, der sein Künstlertum stets mit einem kulturpädagogischen Anspruch verband,88 setzten es sich auch die Vertreter

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furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen«. Deutsche Antikebilder (1755–1875). Würzburg 2004 (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 501), S. 321–337. Vgl. dazu G[erhard] Kluge: Deutsche Dichter leiden an Deutschland (Hölderlin – Heine – Thomas Mann). In: Zeit-Schrift. Ein Blatt von und für Germanisten 2 (1988), Heft 4, S.7–29. Der ideologisch nicht ganz unbelastete Begriff Kulturkritik wird hier mit Georg Bollenbeck verstanden als ein normativ aufgeladener »Reflexionsmodus der [aufgeklärten, BS] Moderne, der mit ihr entsteht und gegen ihre Zumutungen Einspruch erhebt« [Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007 (= Beck’sche Reihe 1768), S. 10]. Hölderlins Texte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag (= KA): Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1992–1994 (= Bibliothek deutscher Klassiker 80, 108, 81). – Vgl. hierzu Hölderlin an seinen Stiefbruder Karl Christoph Friedrich Gock, wohl in der ersten Septemberhälfte 1793. In: KA 3, S. 109f. (Nr. 66).

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des »Dritten Humanismus« unter indirekter Bezugnahme auf seinen Tadel des eigenen Volks zum Ziel, ihre Zeitgenossen zu einem ganzheitlichen und lebensvolleren Dasein zu animieren und dafür Sorge zu tragen, daß der alte, verhängnisvolle Zwiespalt zwischen abstraktem Denken und lebensweltbezogenem Handeln ein für alle Mal überbrückt werde. In vielen seiner literarischen Texte der Zeit um 1800, aber auch in der Korrespondenz mit Freunden und seiner Familie zeichnete Hölderlin ein uneingeschränkt negatives Bild der zeitgenössischen Deutschen. Er charakterisierte sie als ein Volk, das sich unter dem vermeintlich zerstörerischen Einfluß des modernen Rationalismus von seinem ursprünglichen ›Wesen‹ entfremdet habe und zu einer rohen, selbstbezogenen, materialistischen, knechtischen und begeisterungslosen Masse degeneriert sei. Damit erschienen die Deutschen als Widerpart, als äußerster Gegensatz einer idealen, sinnenfrohen und lebendigen nationalen Gemeinschaft, die sich Hölderlin in seinen Zukunftsträumen ausmalte. Als idealisierte Projektion einer solchen echt humanitären Gesellschaft in spe galt ihm das apollinische Griechentum, das er mit dem edlen, »alten Athenervolk« und seiner idealschönen Kunst, lebendigen Religion und Philosophie sowie integrativen Staatsform identifizierte.89 Vor diesem Hintergrund werden im ›Hyperion‹ die »vortrefflichen« Griechen des Perikleischen Zeitalters, denen der letzte Brief des ersten Bandes gewidmet ist, plakativ den verkommenen modernen Deutschen im vorletzten Brief des zweiten Bandes gegenübergestellt. In dieser schematischen Konfrontation fungieren antikes Hellas und modernes Hesperien als diametral entgegengesetzte Epochen der Einheit und Entzweiung: Im sogenannten ›Athenerbrief‹ des ersten Bandes steht der Preis der »vollendeten Menschennatur«90 der attischen Griechen des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts im Zentrum, die sich durch natürliche Schönheit im Geistigen wie Leiblichen, ganzheitliches Dasein, Lebensfreude, Leidenschaft und Harmonieverlangen auszeichneten. Im Vergleich mit diesem »Götterhain« von »schönen Seelen« werden die Deutschen der Gegenwart als leblose Schemen, als Fragment eines ursprünglich harmonischen Daseins, als – mit Hyperion gesprochen – »Scherben eines weggeworfenen Gefäßes« beklagt, weil sie das ihnen innewohnende Potential nicht annähernd ausschöpften.91 Anstatt einer organischen Gemeinschaft, eines einheitlichen Gefäßes, stellten sie lediglich 89 90 91

Vgl. Hölderlin: Hyperion. In: KA 2, S. 9–276, hier S. 88 (Zitat); S. 89. Ebd., S. 90. Ebd., S. 168.

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einen Verbund einzelner, auch in sich gespaltener Subjekte dar. Die Entfremdung des modernen Abendländers von seinem ursprünglichen Ich, das in individueller wie kollektiver Hinsicht ehemals eine Einheit gebildet habe, wird mit dem selbstverschuldeten Verlust seines natürlichen Vitalismus, seines essentiellen »Lebensblutes«, im Verlauf des Zivilisationsprozesses begründet. Durch den hohen Blutverlust könnten gegenwärtig nicht mehr alle Kräfte und Anlagen des Menschen entfaltet werden, auch mangele es ihm dato an Lebensenergie, an Enthusiasmus und Liebe im Handeln. In der Konsequenz bedeute dies ein ausschließlich zweckgebundenes und vielfach egozentrisches Dasein und Agieren. All diese Unzulänglichkeiten des modernen Menschen werden in der wohl bekanntesten und meistzitierten Passage aus Hyperions leidenschaftlichem Strafgericht über die Deutschen direkt und schonungslos offengelegt: Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?92

Eine derartig radikale Schmähung des eigenen Volkes, die er sein Alter ego Hyperion vortragen läßt, schließt aber nicht Hölderlins inniges Bekenntnis zum Deutschsein aus, wie die Schlußpassage eines nur wenig später abgefaßten Briefes an den baltischen Dichterfreund Casimir Ulrich Böhlendorff belegt. Angesichts der bevorstehenden Anstellung als Hauslehrer in Bordeaux und des nahenden Abschieds vom »Vaterland« schreibt er, »[d]enn was hab’ ich lieberes auf der Welt? […] Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnot nach Otaheiti triebe«.93 Die hier angesprochene große Liebe zu Deutschland, zu seiner Sprache, Literatur und Kultur, ermöglicht es Hölderlin, sich nicht resignativ von der geschmähten Heimat abzuwenden, sondern statt dessen einen Ausweg aus der konstatierten Verflachung zu ersinnen und damit zur nationalen Restitution aktiv beizutragen. Dabei leitet ihn der alte humanistische Grundsatz, daß die anvisierte »Bildung, Besserung des Menschengeschlechts«94 besonders effektiv durch Rückbesinnung 92 93 94

Ebd. Ders. an Böhlendorff, 04.12.1801. In: KA 3, S. 459–462 (Nr. 237), hier S. 462. Ders. an seinen Stiefbruder Karl, wohl in der ersten Septemberhälfte 1793. In: KA 3, S. 110.

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auf die vorbildlichen Alten, die Athener des Perikleischen Zeitalters, verwirklicht werden könne. Allerdings lehnt er einen normativen und starren Klassizismus ab, wie ihn zuvor Winckelmann postulierte, und befürwortet demgegenüber eine vitalistische Nachahmung durch Absetzung, d. h. eine produktive, lebensweltbezogene Auseinandersetzung mit den Griechen des Altertums, die dazu verhelfe, im Prozeß der Aneignung des vermeintlich Fremden und Fernen das Eigene und Moderne besser zu erkennen. Deshalb beendet Hölderlin seinen ›Hyperion‹-Roman auch nicht mit dem verbalen Strafgericht über die Deutschen, sondern entscheidet sich für einen versöhnlichen, hoffnungsvollen Schluß: Wie im letzten Brief mitgeteilt, läßt er Hyperion unmittelbar vor der geplanten Rückreise nach Neugriechenland den Zauber der erblühenden Natur, den Anbruch eines »himmlischen Frühlings« als Sinnbild eines neuen, wiedererwachenden ›altgriechischen‹ Lebens in Deutschland wahrnehmen.95 Dieses Erlebnis habe Empfindungen ausgelöst, so Hyperion aus der Rückschau gegenüber seinem deutschen Freund und Briefpartner Bellarmin, in denen alle bisherigen Verluste, erlebten Enttäuschungen und Zurückweisungen in eine natürliche Allharmonie als Vorschein einer besseren Zukunft überführt worden seien. Hyperions Zuversicht, daß eine neue Zeit anbrechen werde, wurde bestärkt durch die lebendige Erinnerung an die verstorbene Geliebte Diotima und ihre gefühlte Nähe, die Hyperion in dieser gehobenen Stimmung erfuhr. Die ›Wiedererweckung‹ Diotimas, die in sich als ›summum bonum‹ der absoluten Einheit die ideale Menschheit des Altertums verkörpert,96 gilt ihm gleichsam als Beleg dafür, daß antikes Leben auch in der Moderne noch realisierbar sei und sich alle »Dissonanzen der Welt«97 durch Orientierung an der ganzheitlichen Antike heilen ließen. Das kunsttheoretische bzw. philosophische Fundament dieses optimistischen Romanschlusses bilden Hölderlins Homburger Fragment ›Der Gesichtspunkt aus dem wir das Altertum anzusehen haben‹98 aus dem Jahr 1799 und der bereits zitierte Brief an Böhlendorff. Beide Texte beschäftigen sich mit der auch für den »Dritten Humanismus« zentralen interkulturellen Denkfigur, wie die produktive Auseinandersetzung mit der fremden griechischen Kultur die anvisierte Vervollkommnung der eigenen Identität begünstigen könne. Dabei geht Hölderlin von zwei Prä95 96 97 98

Vgl. ders.: Hyperion. In: KA 2, S. 172. Vgl. Stephan Wackwitz: Friedrich Hölderlin. 2., überarbeitete und ergänzte Aufl. bearbeitet von Lioba Waleczek. Stuttgart, Weimar 1997 (= SM 215), S. 79. Hölderlin: Hyperion. In: KA 2, S. 175. Ders.: Der Gesichtspunkt aus dem wir das Altertum anzusehen haben. In: KA 2, S. 507f.

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missen aus: zum einen, daß jedes Volk mit einem Bildungstrieb ausgestattet sei, der auf Fortschritt und Universalität des Nationalcharakters dränge, und zum anderen, daß der jeweilige Bildungstrieb nur in einer fremden, dem eigenen Sein entgegengesetzten Kulturmatrix Höchstleistungen erzielen könne. Auf dieser Grundlage kann er dann auch behaupten, daß, obwohl »das Altertum ganz unserem ursprünglichen Triebe entgegenzusein scheint« und von unserem Nationalcharakter wegführt,99 die Griechen dafür »unentbehrlich«100 seien, eben diesen wiederzuerwerben. Denn ihnen sei es gelungen, ihr »heilige[s] Pathos« in ein harmonisches Wechselverhältnis – in Hölderlins Worten in »lebendige[s] Verhältnis und Geschick« – mit der »abendländische[n] Junonische[n] Nüchternheit« treten zu lassen und damit einer einseitigen Ausrichtung ihres Nationalcharakters durch ›wahrhafte‹ Aneignung des Fremden vorzubeugen.101 Entsprechend, so die logische Folgerung, könnte das Hellenische – vor allem das mit ihm assoziierte Feuer und die stimulierende Lebenskraft – als harmonische Ergänzung und Regulativ für das vermeintlich erstarrte, gedanklich-abstrakte Deutsche fungieren, wenn es vom Standpunkt der Moderne aus in produktiver Reflexion, also »verstehend, kritisierend, überbietend, subvertierend« und »parodierend«102 anverwandelt werde. Nur dann sei nämlich gewährleistet, daß der »nationelle« Trieb und das Überlieferte ein lebendiges Komplementärverhältnis eingingen und damit das Eigene nicht erdrückt, sondern vielmehr zu »freie[m] Gebrauch« angeregt werde.103 Eben dieses kosmopolitische Denkmuster, das Ulrich Gaier treffend mit der Formulierung umschreibt, »als Selbst im Anderen und Anderes im Selbst dem Selbst dazu dienen, über seine eigene Richtung in Freiheit zu 99

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Ebd., S. 507. – Anders als viele seiner Zeitgenossen, wie beispielsweise Wilhelm von Humboldt, geht Hölderlin davon aus, daß sich Deutsche und Griechen in ihren natürlichen Anlagen unterscheiden. Während jene Nüchternheit und Rationalität bestimmten, zeichneten sich diese aus durch »Feuer vom Himmel« (Ders. an Böhlendorff, 04.12.1801. In: KA 3, S. 460), d. h. durch Leidenschaft und Pathos. Da aber der Bildungstrieb eines Volkes immer nach der ihm konträren Charakterdisposition strebe, um das Eigene harmonisch zu vervollkommnen, bestehe zugleich die Gefahr, daß beide Anlagen nicht in ein symmetrisches Verhältnis zueinander träten, sondern das »Nationelle« immer weiter zurückgedrängt werde. In der Konsequenz bedeute dies, daß das Anti-Nationelle zu der einen Macht aufsteige, die die eigene Entwicklung maßgeblich beeinflusse. Ders. an Böhlendorff, 04. 12. 1801. In: KA 3, S. 460. Ebd. Ulrich Gaier: Hölderlin, die Moderne und die Gegenwart. In: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. von Gerhard Kurz, Valérie Lawitschka und Jürgen Wertheimer. Tübingen 1995 (= Attempto Studium generale), S. 9–40, hier S. 25. Vgl. Hölderlin an Böhlendorff, 04. 12. 1801. In: KA 3, S. 459f. (Zitat S. 460).

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verfügen«,104 prägt auch Hölderlins um 1801 entstandenen Hymnus ›Germanien‹. Bereits in den ersten Versen macht das artikulierte Ich seine Auffassung deutlich, daß eine einseitige, nur rückwärtsgewandte Orientierung an einem wenn auch noch so hehren Menschen- und Weltbild vergangener Zeiten wie dem antiken Griechentum ohne Anbindung an die moderne, nationale Gegenwart »tödlich« sein müsse.105 Die Erinnerung an bzw. Bezugnahme auf die vorbildliche hellenische Kultur, so betont der Sprecher in der letzten Strophe, sei erst dann legitim, wenn die modernen Deutschen zu einem eigenen, authentischen Lebensstil gefunden hätten.106 Daß die Deutschen zu einer charakteristischen und unabhängigen Geste, ihrem unverkennbaren Nationalstil, finden würden, steht in diesem Gedicht – wie auch in anderen literarischen und privaten Stellungnahmen Hölderlins – außer Zweifel. Bereits in der ersten Strophe wird der starke visionäre Glaube an eine ruhmreiche deutsche Zukunft entwikkelt, auf den Vertreter des »Dritten Humanismus« noch gerne rekurrieren sollten. Hier beteuert das artikulierte Ich, daß die Trauer über den Verlust der Antike als der entscheidenden sinnstiftenden Macht durch das unmittelbar bevorstehende ›Erwachen‹ einer primär zukunftsgewandten, selbstbewußten und genuin deutschen Kultur aufgewogen werde: […] wenn aber Ihr heimatlichen Wasser! jetzt mit euch Des Herzens Liebe klagt, was will es anders, Das Heiligtrauernde? Denn voll Erwartung liegt Das Land und als in heißen Tagen Herabgesenkt, umschattet heut Ihr Sehnenden! uns ahnungsvoll ein Himmel. Voll ist er von Verheißungen und scheint Mir drohend auch, doch will ich bei ihm bleiben.107

Die dritte Strophe faßt diese seherische Ahnung einer künftigen deutschen Größe auf kulturpolitischem Sektor in das mythische Bild einer Geistwanderung von Ost nach West: In ihr wird der Zug des jugendlichen 104 105 106

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Gaier: Hölderlin, die Moderne und die Gegenwart, S. 26. Vgl. Hölderlin: Germanien. In: KA 1, S. 334–337, hier S. 334. Vgl. ebd., S. 337: »… bei dem Namen derselben [i. e. der Mutter Germania, BS] / Tönt auf aus alter Zeit Vergangengöttliches wieder. / Wie anders ists! und rechthin glänzt und spricht / Zukünftiges auch erfreulich aus den Fernen. / […] Und gerne, zur Erinnerung, sind / Die unbedürftigen sie / Gastfreundlich bei den unbedürftigen / Bei deinen Feiertagen / Germania«. Ebd., S. 334.

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Adlers zur Jungfrau Germania – und mit ihm die lange Reise des Geistes – von Indien über den Parnaß nach Deutschland als letzter Station beschrieben. Aber auch in anderen um 1800 entstandenen Texten macht Hölderlin deutlich, daß er Deutschland eine ähnliche geistig-kulturelle Vormachtstellung in Europa zutraut, wie sie im Altertum Hellas innegehabt habe. So deutet er zu Anfang des Jahres 1797 in einem Brief an den befreundeten Arzt und Naturforscher Johann Gottfried Ebel das konstatierte allgemeine »menschliche Chaos« im Gefolge der gescheiterten Französischen Revolution positiv als »Vorbote[n] außerordentlicher Dinge«, die eine kommende deutsche Weltjugend zu vollbringen vermöge. In einem kulturpolitischen Glaubensbekenntnis bekräftigt er: Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schamrot machen wird. Und dazu kann Deutschland vielleicht sehr viel beitragen. […] Viel Bildung, und noch unendlich mehr! bildsamer Stoff! – Gutmütigkeit und Fleiß, Kindheit des Herzens und Männlichkeit des Geistes sind Elemente, woraus ein vortreffliches Volk sich bildet. Wo findet man das mehr, als unter den Deutschen?108

Noch eindrucksvoller läßt sich Hölderlins nationales Selbstbewußtsein und die daraus resultierende Vorstellung einer bevorstehenden deutschen Kulturmission aus seinem ›Gesang des Deutschen‹ von 1799 herauslesen. Nachdem er die Ode bereits mit dem Lobpreis ›O heilig Herz der Völker, o Vaterland!‹ angestimmt hat, begrüßt er in der 13. Strophe das geadelte Deutschland, die »reifeste Frucht der Zeit«, als »letzte und […] erste aller / Musen«, als neue Urania und damit mythisches überstaatliches Gebilde, das einzig und allein das allgegenwärtige Chaos zu bändigen vermöge.109 Dieses neue Deutschland, so die Hoffnung seines Stifters, habe Frankreich, auf dem im 18. Jahrhundert die europäischen Hoffnungen einer kulturellen und gesellschaftlichen Erneuerung ruhten, das sich aber im blutigen nachrevolutionären jakobinischen Terror als humanitäres Leitbild disqualifiziert hatte, als prägende geistig-kulturelle Macht abzulösen. Mit ihm wird ein alternatives, besseres europäisches Lebensmodell jenseits von aufklärerischem Atheismus und Rationalismus sowie jenseits von zivilisatorischem Materialismus – Lebenshaltungen, die man vor allem mit Frankreich identifizierte – assoziiert.

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Ders. an Johann Gottfried Ebel, 10.01.1797. In: KA 3, S. 251–253 (Nr. 133), hier S. 252. Ders.: Gesang des Deutschen. In: KA 1, S. 224–226, hier S. 224; S. 226.

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Ganz im Einklang mit den kosmopolitischen Deutschlandbildern der Klassiker und Romantiker begreift Hölderlin in seiner Utopie die postulierte wahre ›Deutschheit‹ als universales, zeitenthobenes geistiges Prinzip ohne jegliche Beschränkung in ethnischer, religiöser, nationaler oder territorialer Hinsicht. So stellt auch in seinen Texten das deutsche Vaterland eine Chiffre dar für eine im Hier und Jetzt mögliche, ganzheitliche und wahrhaftig humanitäre Seinsform, die auf friedlich-evolutionärem Wege zukünftige Vollendung erlangen könne.110 Diese um 1800 noch universal markierte Vorstellung sollte dann mit der deutschen Reichsgründung kontinuierlich national enggeführt und zum Ausgangspunkt eines radikalen, antisemitischen und inhumanen Avantgarde-Denkens erhoben werden, das auch vor dem »Dritten Humanismus« – zumindest vor der überwiegenden Mehrzahl seiner Anhänger – nicht Halt machte. Wie bereits der ›Hyperion‹-Roman andeutet,111 verbindet Hölderlin mit weitsichtigem Dichtertum, das sich durch das Reflexionsvermögen auszeichne, durch kritische Spiegelung im griechischen Lebens- und Wertekosmos den Mißständen der Gegenwart Einhalt zu gebieten, die Berufung zum ›praeceptor Germaniae‹, zum Bildner eines künftigen neuen Deutschland. Ganz im Sinne des schillerschen ästhetischen Bildungsprogramms habe der Dichter durch seine geistige Kunst ein neuartiges, echt humanitäres Bewußtsein auszubilden, das die Voraussetzung und Grundlage für die anvisierte aktive Tat, die gewaltlose gesellschaftliche Umgestaltung darstelle. Auf diesen hölderlinschen Gedanken eines ›poeta vates‹, der von einem neuen, besseren Vaterland singe und dessen Gestaltwerdung durch sein Werk vorbereite, werden die Georgeaner für ihre Utopie zurückgreifen. So verschmilzt George in seinem ›Hyperion‹-Zyklus112 die eigene Person, Hölderlin und dessen Romanfigur zu einer Einheit und läßt von ihr seine Kulturkritik und die auf dieser Grundlage entwickelte Idee eines »Neuen Reiches« deutsch-griechischer Prägung vortragen. Indem er die eigene Prophetie von einem Ich vorbringen läßt, das Eigenschaften des ge-

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Vgl. Jochen Schmidt: »Dann kam ich unter die Deutschen …«. Das Verhältnis zur eigenen Nation bei Hölderlin und Kleist. In: Die Deutschen und die andern. Patriotismus, Nationalgefühl und Nationalismus in der deutschen Geschichte. Hrsg. von Stefan Krimm und Wieland Zirbs. München 1997 (= Acta Ising 1996), S. 142–162, hier S. 147. Hölderlin läßt Diotima den Appell an Hyperion richten, in dem – wie es zu Ende des Romans heißt – »die dichterischen Tage keimen«, sich als »Erzieher unsers Volks« zu betätigen (Vgl. Hölderlin: Hyperion. In: KA 2, S. 163; S. 100). Vgl. Stefan George: Hyperion (wahrscheinlich aus dem Frühjahr 1914). In: SW IX, S. 11–14.

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schätzten Hölderlin, des »grossen Sehers für sein Volk«,113 in sich vereint, legitimiert er seine Sichtweise und überträgt Hölderlins vermeintlich hellsichtige und pädagogische Qualitäten auf sich. So geht die Würdigung des Dichterpropheten Hölderlin, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Dilthey und den George-Kreis wiederentdeckt und dabei einer radikalen und nicht unproblematischen Vergegenwärtigung unterzogen wurde, in die eigene Selbstinszenierung als ›poeta vates‹, als Volkserzieher und Vollender seines Denkens über.114 Auch Jaegers und Sprangers Bildungsvorstellungen kennzeichnet eine besondere Vorliebe für Hölderlins Gedankengut. Wie die Georgeaner nehmen sie seine produktive Kulturkritik auf und entwickeln aus der Verachtung der Gegenwart die Vision eines kommenden Deutsch-Hellas, in dem sich Eigenes und Fremdes, Antikes und Modernes, Deutsches und Altgriechisches harmonisch ergänzen. Allerdings deuten sie die hölderlinsche Idee, der Dichter bzw. der künstlerisch-ästhetisch gebildete Mensch sei ›Führer‹ der Nation, um: Vor dem Hintergrund ihres Selbstverständnisses als Gelehrtenpolitiker plädieren sie für den Geisteswissenschaftler bzw. den politisch unterwiesenen jungen Mann als künftige deutsche Führungspersönlichkeit. Vom Neuhumanismus zum »Dritten Humanismus«: Griechenbegeisterung und Aspekte nationalen Denkens im 19. Jahrhundert Die vorgestellten Grundgedanken Winckelmanns, Humboldts, Schillers, Goethes und Hölderlins wurden von Jaeger und seinen Anhängern, Spranger sowie George und seinem Kreis natürlich nicht unmittelbar rezipiert, etwa durch persönliche Gespräche, wie sie nur Zeitgenossen möglich sind. Auch waren sie an einem distanzierten, kritisch-analytischen Blick auf die Texte der Zeit um 1800 weniger interessiert als am ästheti113 114

Vgl. ders.: Hölderlin (nicht vor 1909, wahrscheinlich nach 1914). In: SW XVII, S. 58–60, hier S. 59. Vgl. Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin. In: Euphorion 81 (1987), S. 81–99, bes. S. 85–87; Henning Bothe: ›Ein Zeichen sind wir, deutungslos‹. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George. Stuttgart 1992 (= Metzler Studienausgabe), S. 112; Barbara Stiewe: Stefan George (1868–1933): Hyperion I–III. In: Andrea Geier und Jochen Strobel (Hrsgg.): Deutsche Lyrik in 30 Beispielen. Paderborn 2011 (= UTB 3348), S. 167–177 – zuletzt auch Ernst Osterkamp: Der Dichter des Neuen Reichs. Hyperion. In: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich. München 2010 (= Edition Akzente). S. 137–180. (Dieser Text konnte leider für die vorliegende Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden.)

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schem Erlebnis: So changierte der Einfluß neuhumanistischer und idealistischer Theoreme auf ihr nationalkulturelles Denken vom Unmittelbaren bis zum Diffus-Vermittelten. Dies ist auch nicht verwunderlich, denn immerhin liegt zwischen den goethezeitlichen Denkern und den Vertretern des »Dritten Humanismus« ein ganzes Jahrhundert mit seinen unterschiedlichen Wissenschaftsauffassungen wie ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Strömungen, die ihrerseits auf graecophile Denkmuster der Zeit um 1800 Bezug nahmen und sie für ihre Zwecke instrumentalisierten, also sie sich einseitig aneigneten, variierten oder mit eigenem Gedankengut vermischten. Aber auch andere Diskurse, die nicht (direkt) an klassizistische Theoreme anknüpften – wie das nationalistische Bestreben, eine genuin deutsche Kultur zu begründen, die sozialistische Idee oder der Darwinismus, um nur einige Beispiele zu nennen –, beeinflußten die deutsche Identitätsbildung in den ersten drei Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts. Sie wirkten mit neuhumanistischen Positionen und etlichen kulturkritischen Strömungen in der Nachfolge Nietzsches im »Dritten Humanismus« als Amalgam, d. h. sie verstärkten sich teilweise, neutralisierten sich oder generierten eine neue Sinnstiftung. Insofern kann der »Dritte Humanismus« – trotz seiner deutlich eklektischen Tendenz – nicht auf das sprichwörtliche Wiederkäuen alter Ideen und Denkmuster reduziert werden, sondern seine Originalität und zugleich Problematik liegt gerade darin begründet, bewährtes Altes synthetisiert und unter vitalistischem Vorzeichen für die Gegenwart aufbereitet zu haben. Allerdings werden – und das ist nicht zu unterschätzen – im »Dritten Humanismus« Texte und Entwicklungen vor einer bereits vorgegebenen Deutungsfolie gelesen und ausgelegt, auch auf die offensichtliche Gefahr hin, sie zu verfälschen. In der Konsequenz führt dieses Verfahren zur Verwässerung etablierter geistesgeschichtlicher Begrifflichkeiten oder Denkweisen; so nicht zuletzt zur Aushöhlung des für den Neuhumanismus zentralen Bildungsgedankens. Die Tatsache, daß sich das »dritthumanistische« Weltbild selbst auf idealistische Gedankenkonstrukte stützt, die schon ähnlich verfuhren, begünstigt zusätzlich bzw. potenziert eben diese Verwässerung. Entscheidend für den Rezeptionsprozeß graecophiler Ideen bzw. die Genese des »Dritten Humanismus« ist, daß sich mit dem Ende der sogenannten Kunstperiode, also spätestens nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, ein nicht unbedeutender Paradigmenwechsel vollzog: Antike Kunst und Literatur verloren ihr Monopol als dominierende Bildungsinstrumentarien und als die kulturellen Definitionsmächte und da80

mit auch das Potential, gesellschaftliche Reformen ideologisch vorzubereiten.115 Griechenbilder und nationale Identitätsentwürfe wurden von nun an anderweitig vermittelt. Mit der Differenzierung des kulturellen Lebens in soziale, politische und institutionelle Teilbereiche und der Auffächerung der traditionellen Wissenschaften in spezialisierte Fachdisziplinen – Prozesse, die zu Beginn dieses Zeitraums einsetzten – beanspruchten nunmehr verschiedene diskursive Bereiche Mitspracherechte in bildungs- und kulturpolitischen Fragen. Sie alle schrieben das vorgeprägte Modell einer Engführung von Deutschem und Hellenischem fort – natürlich systematisch zugespitzt auf den jeweiligen Interessenschwerpunkt – und berücksichtigten dabei auch deutsch-nationalistische Erwägungen, die seit den Napoleonischen Kriegen zusehends an Einfluß gewonnen hatten und den langersehnten Zusammenschluß der Deutschen in einem Staat 1871 ideologisch vorbereiteten und begleiteten. Die skizzierten Entwicklungen beeinflußten in zweifacher Hinsicht die deutsche Graecophilie im 19. Jahrhundert: Zum einen ließen sich nunmehr die Griechenbilder nicht mehr auf einen einheitlichen Strang, ein einheitliches Zukunftsprojekt festlegen, mit dem konstatierte Defizite der Moderne beseitigt werden sollten. Zum anderen erfolgte parallel dazu eine historische Umakzentuierung des mustergültigen Griechischen vom nachzuahmenden Vorbild über ein universales anthropologisches Leitbild zu einem die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland stützenden und legitimierenden Instrumentarium. An den Beginn der Auflösung des ganzheitlichen, ästhetisch vermittelten Griechenbildes in Einzelaspekte von nationalem Belang läßt sich die Institutionalisierung des individuellen Bildungsgedankens setzen. Wilhelm von Humboldts humanistisches Gymnasium und die Berliner Universität, die 1810 ihren Lehrbetrieb aufnahm, aber auch Karl Friedrich Schinkels ›Altes Museum‹ am Berliner Lustgarten, das nach dreijähriger Bauzeit 1825–1828 schließlich 1830 eröffnet wurde, überführten als öffentliche und damit allgemein zugängliche Einrichtungen den aus der griechischen Antike abgeleiteten Individualbildungsgedanken in ein nationalstaatliches Konzept. Besonders deutlich wird die Verbindung von bürgerlicher Emanzipation, nationaler Identität und griechischer Antike am Beispiel des ›Alten Museums‹: Mit seiner Architektur im antik-grie115

Der Prestige- bzw. Bedeutungsverlust der klassischen Literatur ist zugleich darauf zurückzuführen, daß nach 1800 durch die Vermittlung der Romantiker auch andere Kulturen zu nationalkulturellen Impulsgebern aufsteigen konnten und sich parallel dazu eine eigene, deutsche Nationalliteratur und -kultur herauszubilden vermochte.

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chischen Stil und dem Standort in der preußischen Hauptstadt in unmittelbarer Nähe zu den traditionellen Herrschaftsgewalten Thron und Altar – repräsentiert durch das Stadtschloß und den Dom – versinnbildlichte es die Vorstellung von einem bürgerlichen ›Spree-Athen‹ als künftigem deutschem Zentrum, in dem sich die Kultur- und Staatsnation nach dem Vorbild der griechischen Antike formieren konnte.116 Eine andere einflußreiche Strömung, die nicht ohne Folgen für die nationalstaatliche Entwicklung und das politische Denken in Deutschland blieb, war der europäische Philhellenismus der 1820er Jahre. Er entstand in Reaktion auf den zeitgenössischen Befreiungskampf der Griechen von der osmanischen Herrschaft (1821–1828), an dem sich europäische Söldnerheere beteiligten, darunter auch viele deutsche Freiwillige, die meisten von ihnen aus dem liberalen Südwesten. Erklärtes Ziel des politischen Philhellenismus war es allerdings nicht, eine ideale antike Existenz in der Moderne wiederzuerwecken, wie es noch Hölderlins Hyperion mit seiner Unterstützung der Aufständischen beabsichtigte, sondern seine Anhänger wollten durch einen ökumenischen und politischen Zusammenschluß die christlich-orthodoxen Neugriechen als Nachfahren der antiken Hellenen, denen sie sich aus kultureller Dankesschuld zum Beistand verpflichtet fühlten, vor islamischer Übermacht und den damit verbundenen Repressalien schützen. Abgesehen von diesen weitgehend uneigennützigen Beweggründen lassen sich die Sympathien und das Engagement für die Neugriechen aber auch vor dem Hintergrund des politischen Liberalismus erklären. Der griechische Befreiungskampf ermöglichte es »Bürgern nicht konstitutionell verfaßter Staaten«, durch den Zusammenschluß in Griechenvereinen eine Opposition zu den eigenen Regierungen zu bilden, in der Hoffnung, »daß eine Verfassung in einem von der türkischen Oberhoheit befreiten Land Vorbild für eine parlamentarische Regierung« in der deutschen Heimat würde.117 In engem Zusammenhang mit der philhellenischen Bewegung in Bayern, die durch König Ludwigs I. Unterstützung in einen Staatsphilhellenismus überführt werden konnte, entwickelte sich eine antiklassizistische Griechenlyrik. Unter formalem und thematischem Rückgriff auf die Lyrik der ›Befreiungskriege‹ identifizier116

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Vgl. hierzu Felix-Johannes Saure: Karl Friedrich Schinkel. Ein deutscher Idealist zwischen »Klassik« und »Gotik«. Hannover 2010 (= Berliner Klassik 17) (mit weiterführender Literatur). Gerhard Grimm: »We are all Greeks«. Griechenbegeisterung in Europa und Bayern. In: Das neue Hellas: Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I. Katalog zur Ausstellung des Bayerischen Nationalmuseums München. 9. November 1999 bis 13. Februar 2000. Hrsg. von Reinhold Baumstark. München 1999, S. 21–32, hier S. 28.

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ten Wilhelm Müller oder auch Ludwig I. – um die Hauptvertreter dieses Genres zu nennen – rein projektiv und ohne Berücksichtigung des realen Kampfgeschehens das sich formierende deutsche Nationalbewußtsein mit dem neugriechischen, das sich ja eben in der Erhebung gegen die Türken manifestiere.118 Mit der »Spatenarchäologie« entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich eine Disziplin, die der winckelmannschen Tradition einer ästhetischen Kunstbetrachtung und der bisher weitgehend philologisch ausgerichteten Archäologie eine zwar auch historisch geprägte, aber zugleich zum Leben erweckte Antike entgegensetzte. Entscheidend wurde dieser Umschwung innerhalb der Archäologie durch Heinrich Schliemann und seine Troja-Expeditionen im Zeitraum von 1870 bis 1890 begünstigt, die sich an den Lagebeschreibungen in den homerischen Epen orientierten. Die öffentliche Begeisterung für Schliemanns Unternehmen und die große Anteilnahme an seinen Funden, aber auch der Mythos, der sich um seine Person rankte, verhalfen der Spatenarchäologie in den Rang der nationalen »Eroberungswissenschaft des 19. Jahrhunderts«.119 Schliemann, ein Autodidakt aus einfachsten Verhältnissen, der es zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht hatte und den seine Homer-Besessenheit antrieb, das antike Troja ausfindig zu machen und freizulegen, konnte als Prototyp des aufstrebenden, finanziell und wissenschaftlich erfolgreichen Gründerzeitbürgers, des Selfmademans, instrumentalisiert werden, der aus eigener Kraft und Tatendrang eigenes Heldentum und nationales Leistungsvermögen schaffte.120 Seine Grabungserfolge wirkten als Auslöser für prestigeträchtige nationale Großprojekte wie die deutschen Grabungen in Olympia (seit 1874) und in Pergamon (seit 1878) mit Unterstützung des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches, die sich wiederum für die Selbstdarstellung des jungen Kaiserreiches ebenso wie für die Weiterentwicklung einer positivistischen, historisch-stilkundlich operierenden Altertumswissenschaft nationalstaatlich vereinnahmen ließen.121 118 119

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Vgl. Irmgard Scheitler: Griechenlyrik (1821–1828). Literatur zwischen Ideal und Realität. In: InternatJbBvAGesell. 6/7 (1994/1995), S. 188–234. Vgl. Franz Georg Maiers gleichlautenden Buchuntertitel seiner Monographie ›Von Winckelmann zu Schliemann – Archäologie als Eroberungswissenschaft des 19. Jahrhunderts‹ [Opladen 1992 (= Gerda-Henkel-Vorlesung)]. Vgl. Jutta Osinski: Homer-Bilder im 19. Jahrhundert. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart, Weimar 2002 (= Germanistische Symposien-Berichtsbände 24), S. 202–219, hier S. 217. Zu diesem Komplex siehe grundlegend Christiane Zintzen: Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Wien 1998 (= Commenta-

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Eng verbunden mit dem umfassenden Interesse an den schliemannschen Ausgrabungen in der Troas und in Mykene war das Bemühen, auch die griechische Literatur für einen größeren Leserkreis populär aufzubereiten und damit griechisch-antikes Gedankengut im nationalkulturellen Gedächtnis zu verankern. Aber auch ein anderer, älterer Diskurs unterstützte und begünstigte dieses Anliegen: die berühmte Auseinandersetzung zwischen Goethe und Wolf Ende des 18. Jahrhunderts um die Autorschaft der homerischen Epen. Dieser Disput, der im 19. Jahrhundert zwar als rein philologischer Fachdisput zwischen Analytikern und Unitariern seinen Fortgang nahm, gewährleistete dennoch, daß das allgemeine Interesse an Homers Epen ebenso wie an anderen Texten der antiken Mythologie und Dichtung nicht nachließ.122 Vor diesem Hintergrund veröffentlichte Herman Grimm, der Sohn Wilhelm Grimms, eine frei bearbeitete deutsche Nacherzählung der ›Ilias‹ und machte damit den homerischen Stoff einem breiteren Publikum zugänglich, und Gustav Schwab brachte eine Sammlung griechischer Sagen in deutscher Sprache heraus.123 Obwohl beide Adaptationen ihre allgemeinbildende Wirkung nicht verfehlten und zu einem essentiellen Bestandteil des bürgerlichen Literaturkanons avancierten, ließen allerdings die populären, trivialliterarischen Aufbereitungen des antiken Kosmos im Vergleich mit den idealistischen Bildungskonzepten der Goethezeit einen umfassenden kulturkritischen und zukunftsweisend-reformerischen Anspruch vermissen.124 Dieser wurde erst wieder mit Friedrich Nietzsches Griechenbild125 erreicht, das das ganzheitliche und lebensvolle Sein des antiken Menschen in den Vordergrund rückte und es als konstruktiven ästhetischen Gegenentwurf einer unerträglich gewordenen deutschen Realität präsen-

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rii 6). – Vgl. auch Marchand: Down from Olympus, S. 118–124; S. 148–150; Alexander Honold: Nach Olympia. Hölderlin und die Erfindung der Antike. Berlin 2002, S. 32–76. Vgl. Osinski: Goethe und Homer, S. 12–15. Herman Grimm: Homer. Ilias. 2 Bde. Berlin 1890/1895; Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Nach seinen Dichtern und Erzählern. 3 Bde. Stuttgart 1838–1840. Zu den anti-akademischen Griechenbildern in der Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. Osinski: Homer-Bilder im 19. Jahrhundert, bes. S. 209–212. Kurz und prägnant umreißt Robert C. Holub in einer Sammelrezension [Nietzsche and the Paradigm of Influence Studies: A Review Article. In: MLR 100 (2005), S. 1043–1053, hier S. 1045f.] die Facetten dieser antiklassizistischen Projektion. – Vgl. auch den Sammelband ›Nietzsche and Antiquity. His Reaction and Response to the Classical Tradition‹ [Ed. by Paul Bishop. Rochester, NY 2004 (= Studies in German Literature, Linguistics, and Culture)], bes. die Sektionen 1 (›The classical Greeks‹) und 5 (›German Classicism‹) sowie Hubert Cancik: Nietzsches Antike. Vorlesung. Stuttgart, Weimar 1995. Zuletzt Osinski: Träumende Homere. Versuch über Nietzsche.

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tierte,126 die sich ändern sollte und wollte. Dabei erklärte er – im Gegensatz zum klassizistischen Entwurf – die Formung des gebildeten, pessimistisch-tragischen Individuums durch die Kunst zum Telos seiner Utopie. Indem der moderne Mensch wie der frühe Grieche dazu gebracht werde, aus dem Leiden an der eigenen Zeit neue Kraft und Stärke zu schöpfen, eigne er sich eine essentielle Lebenskunst an. Denn erst die ästhetische Selbsterfahrung des »unerschöpfte[n] zeugende[n] Lebens-Willen[s]«, das Erleben des »Willens zur Macht«, dem das gesamte belebte Sein gehorche, befähige ihn, sich aus sich selbst heraus zu kultivieren und zu eigener Größe zu formen.127 Jedoch galt Nietzsches primäres Interesse weder der Bildung einer universalen Menschheit noch der gesamten deutschen Nation, sondern er richtete seine Konzeption – auch unter dem Einfluß populärer darwinistischer Überlegungen, wie sie in der zweiten Jahrhunderthälfte entwikkelt wurden – auf die Begründung einer privilegierten Elite aus, die sich aus »Übermenschen« mit herausragenden geistigen wie physischen Fähigkeiten zusammensetze und der großen ›Menschenherde‹ vorstehe. Entsprechend deutete er die frühgriechische Polis-Gesellschaft als aggressives »aristokratisches Gemeinwesen«,128 in dem »das Glück des Einzelnen« dem Wohl der »höchsten Exemplare«, die sich in einem ständigen Konkurrenzkampf zu bewähren hätten, nachgeordnet sei.129 Auch wenn in seinen Schriften drastische Formulierungen und radikale Gedankengänge gehäuft vorkommen, sollte Nietzsche nicht auf einen Machtverherrlicher oder Rassenprediger reduziert werden. Nicht zu widerlegen ist aber, daß Nietzsche in seinen späten Schriften einige seiner Theorien formelhaft verkürzte und schlagwortartig verwendete und ihnen damit »eine aktivistisch-propagandistische Färbung« gab.130 126

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Vgl. Nietzsches ›Unzeitgemäße Betrachtungen‹ mit der Kritik am liberalen Fortschrittsdenken, am Populärdarwinismus, an der lebensfeindlichen historischen Bildung und am Nationalismus. Nietzsches Texte werden im folgenden – wenn nicht anders angegeben – zitiert nach Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (= KSA). Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Aufl. München 1988. Hier: Unzeitgemäße Betrachtung I–IV (1873–1876). In: KSA 1, S. 157–510. Vgl. ders.: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (1889). In: KSA 6, S. 55–161, hier S. 158–160 (= Was ich den Alten verdanke 4); ders.: Also sprach Zarathustra II: Von der Selbst-Ueberwindung (1883). In: KSA 4, S. 146–149 (Zitat S. 147). Ders.: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: was ist vornehm? (1886) In: KSA 5, S. 205–240, hier S. 214 (Nr. 262). Ders.: [Fragment aus dem Nachlaß] 30[8] (Herbst 1873–Winter 1873/1874). In: KSA 7, S. 733f., hier S. 733. – Vgl. auch ders.: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. 5.: Homer’s Wettkampf (1872). In: KSA 1, S. 783–792. Vgl. Volker Gerhardt: Wille zur Macht. In: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Henning Ottmann. Stuttgart, Weimar 2000, S. 351–355, hier S. 354 (Zitat).

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Nicht zuletzt deshalb erscheint es nachvollziehbar, daß er mit seinem vitalistisch-agonalen Weltbild sowie dem revolutionären Anliegen, überkommene Werte durch neue, aktuelle zu ersetzen, den Nerv der Zeit traf131 und auf große Teile der geistigen Elite, die bürgerliches Leben und bürgerliche Kultur zu reformieren suchten, eine beachtliche Wirkung ausübte. Nietzsches Plädoyer für eine rauschhaft-gesteigerte, sinnenfreudige und schöpferische Lebenskunst, die sich am vorsokratischen Griechentum orientiere, wirkte als Initialzündung für das Entstehen vielfältiger kulturkritischer Strömungen der Wendezeit um 1900, deren Spektrum sich vom künstlerisch-kulturellen über den philosophischen zum pädagogischen und gesellschaftspolitischen Bereich erstreckte. Dabei ist ihnen allen – trotz der jeweiligen Schwerpunktsetzung – gemein, daß sie seine antirationalistische Lehre, der Leben spendenden Erde treu zugewandt zu bleiben,132 für die eigenen Zwecke reklamierten. So forderten beispielsweise Künstler des Symbolismus, Expressionismus und Jugendstils vor dem Hintergrund ihrer Nietzsche-Erlebnisse einen Kunstbegriff ein, mit dem, aufbauend auf dem eigenen Schöpfertum, das Leben wieder als ästhetisches Phänomen begriffen werden könne,133 und Populärliteraten wie der ›Rembrandtdeutsche‹ Julius Langbehn apostrophierten in seinem Namen ein neues nationalpädagogisches Künstlertum. Lebensphilosophen proklamierten unter Rückgriff auf Nietzsche, Dilthey und Bergson eine konkrete, sinnen- und lebensweltbezogene Erkenntnis. Reformpädagogen und Anhänger der Jugendbewegung traten unter seinem Banner für eine Bildungskonzeption ein, die einem ganzheitlichen Lernen, das auch die lebendige Gegenwart verstärkt in den Blick zu nehmen vermöge, mehr Raum schenken sollte, und Befürworter einer neuartigen Körperkultur bzw. -erziehung konnten sich auf Nietzsches Wertschätzung des gekräftigten, gesunden Körpers berufen. Dagegen rekurrierte die rechte politische Nietzsche-Rezeption – wie sie im 131

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Vgl. zu den Paradigmen seiner Kulturkritik – allerdings ohne Berücksichtigung des antiken Gegenmodells – Renate Reschke: Einspruch gegen »abgeirrte Cultur«. Zu einigen Kontexten Nietzschescher Kulturkritik. In: Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit. Berlin 2000, S. 17–31. – Zur ersten Orientierung siehe auch Wolf Gorch Zachriat: Die Ambivalenz des Fortschritts. Friedrich Nietzsches Kulturkritik. Berlin 2001. Vgl. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra I: Zarathustra’s Vorrede 3 (1883). In: KSA 4, S. 14–16, hier S. 15. Vgl. zur ästhetisch-literarischen Aneignung nietzscheanischen Gedankenguts u. a. Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst. Tübingen, Basel 1993 (= UTB 1414), S. 154–447; Bruno Hillebrand: Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen. Göttingen 2000 (= Kleine Reihe V & R 4020). Zur Nietzsche-Rezeption Georges zuletzt Wolfgang Braungart: Georges Nietzsche. ›Versuch einer Selbstkritik‹. In: JbFDH 2004, S. 234–258.

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Umkreis der »Konservativen Revolution« oder des deutsch-nationalen Sozialismus populär wurde – weniger auf den ästhetisch-sensualistischen Aspekt seines Vitalismus, sondern instrumentalisierte für ihre Gesellschaftsentwürfe das kämpferische Moment des nietzscheanischen Lebensbegriffs und den aggressiven Machtwillen. Dabei galt Nietzsche ihnen in der Hauptsache als Gewährsmann für die Notwendigkeit eines antidemokratischen Aristokratismus und eines starken Staatswesens mit mächtiger Führungsspitze.134 Mit dem »Dritten Humanismus«, der vielfältige Impulse Nietzsches Antikebild, aber auch den lebensreformerischen und kulturkritischen Strömungen in seiner Nachfolge verdankte, wurde eine neue Stufe der nationalpädagogisch inspirierten Griechenrezeption erreicht. Denn hier wurde zum ersten Mal der Anspruch erhoben, eine umfassende, möglichst alle Bereiche des gegenwärtigen Lebens integrierende und synthetisierende Weltanschauung auf der Grundlage eines ganzheitlich wahrgenommenen Hellenentums zu präsentieren. So konnten seine Dichter, Wissenschaftskünstler und Gelehrtenpolitiker im Zeichen eines apollinischen Winckelmann und eines vitalistisch-kulturkritischen Nietzsche die Vereinigung von idealschöner Kunst und natürlichem Leben in der Tat und der realen Erneuerung propagieren. Jedoch war auch der »dritthumanistischen« Konzeption nur vorübergehende Wirkmächtigkeit beschieden. Schon allein die Zielsetzung, eine universale, alle Lebensbereiche erfassende Sinnstiftung zu präsentieren, erwies sich als hochgradig problematisch, denn sie lief der modernen Entwicklung gänzlich zuwider: Der kulturelle Ausdifferenzierungsprozeß war unumkehrbar. Insofern lag es in der Natur der Sache, daß eine sich über diese Entwicklung hinwegsetzende Weltanschauung, die autonome Sphären zu verbinden suchte, von Beginn an ein fragiles und für radikale Vereinnahmungen anfälliges Gebilde war.

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Vgl. zur Nietzsche-Rezeption in den vielfältigen kulturkritischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Aus dem Englischen von Klaus Laermann. Stuttgart, Weimar 2000. – Siehe auch Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens. Frankfurt a. M. 2002, S. 331–348.

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Umwertung aller Werte: Kulturkritik als Ausgangspunkt Das Griechentum als sinn- und identitätsstiftendes Fundament Die Vertreter des »Dritten Humanismus« beklagten den konstatierten Historismus, »Materialismus, hypertrophen Subjektivismus und [ein, BS] borniertes Fortschrittdenken«135 als vermeintlich moderne Haltungen, die beängstigende lebensweltliche Veränderungen, wie zunehmende Komplexität, Unüberschaubarkeit oder gar Fragmentierung des Seins, sowie eine allgemeine Mechanisierung begünstigt hätten. Trotz dieser vielschichtigen und harschen Gegenwartskritik blickten sie der Zukunft optimistisch entgegen. Denn sie waren überzeugt, mit Hilfe einer das Leben bündelnden Utopie die eigene Zeit derartig verwandeln zu können, daß sich die alte Prophetie »Deutschland, dem Götterbilde Hellas gleichend«136 erfülle. Mit dem Kommenden verbanden George und seine Schüler, Jaeger und Spranger die Erwartung einer besseren Zeit, die sich bereits in der Gegenwart durch zielgerichtetes Handeln gestalten lasse. Als entscheidenden Orientierungspunkt, ja energetisches Zentrum für die Ausgestaltung der Zukunft, aber auch als Legitimation der eigenen Bestrebungen wiesen sie zurück auf Höhepunkte der deutschen Geistesgeschichte: Wie die Bezugnahme auf die ›seelenverwandten‹ Hellenen die Konstituierung eines eigenständigen, unabhängigen nationalen Selbstbewußtseins nach den Napoleonischen Kriegen 1815 unterstützt habe, so werde die Erinnerung an ›Sternstunden‹ des eigenen Volkes auch nach dem Ersten Weltkrieg dabei helfen, die erschütterte nationale Identität zu rekompensieren. Eine derartige Rückwendung zu früheren Zeiten ist aber nicht als lähmendes Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit im Vergleich mit der geistigen Elite der Zeit um 1800 oder gar mit den Dichtern und Denkern der Antike zu verstehen, sondern im Gegenteil als Antriebskraft und Ausdruck eines gesteigerten Selbstbewußtseins: Eine neue Epoche ›deutscher Größe‹ und deutschen Einflusses in kultureller und zugleich nationaler Hinsicht wurde wieder als möglich erachtet; sie sollte im Hier und Jetzt eingeleitet und begründet werden. 135

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Rainer Kolk: Zucht und Hoffnung. Pädagogische Akzente bei George und Rilke. In: Andreas Beyer und Dieter Burdorf (Hrsgg.): Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Heidelberg 1999 (= Jenaer Germanistische Forschungen, N. F. 7), S. 139–156, hier S. 146. Kantorowicz: Das Geheime Deutschland, S. 164.

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Dabei fungierte die Antike als Referenzpunkt der eigenen nostalgischen Sehnsüchte. Sie wurde zum Schutzschild gegenüber den zu bekämpfenden diversifizierten Modernisierungs- und Pluralisierungstendenzen erhoben, in den Worten Paul Friedländers zum »Gegengift […] gegen die Gefahren unserer eigenen Zeit«.137 Verbunden mit dieser eminent politischen Intention, gewann die Beschäftigung mit der Antike eine neue Aktualität und erlangte zugleich eine gesteigerte Berechtigung. Ihre Gegenwärtigkeit im alltäglichen Leben und Denken wurde als schöpferisches Potential empfunden, ihr Fehlen als Anzeichen der Dekadenz und in letzter Konsequenz als Tod gedeutet. Die sinnstiftende Funktion des antiken Griechentums tritt besonders deutlich im siebten Gedicht von Georges ›Vorspiel‹ zum ›Teppich des Lebens‹ hervor. In ihm macht ein Engel den Dichter, den er auf der Suche nach einem Leben begleitet, das wieder Halt biete, auf eine kleine Gruppe von Pilgern aufmerksam, die bereits das ersehnte »schöne Leben« praktizieren. Diese Elite distanziert sich von der arbeitenden, dem Nützlichkeitsdenken verpflichteten Masse, indem sie das antike Griechenland als neue Lebenskraft vermittelnde Macht anbetet: Eine kleine schar zieht stille bahnen Stolz entfernt vom wirkenden getriebe Und als losung steht auf ihren fahnen: Hellas ewig unsre liebe.138

Die Wallfahrer, die sich vom gemeinen Volk absondern, verweisen auf die Mitglieder des George-Kreises, und ihre Losung »Hellas ewig unsre liebe« ist als Leitspruch der Gemeinschaft zu verstehen. Aus der Retrospektive lassen sich diese vier Verse aber auch auf alle anderen Vertreter des »Dritten Humanismus« übertragen: Eine avantgardistische Opposition propagiert die Utopie eines zukünftigen harmonischen DeutschGriechenlandes als nationales Gegenbild und Orientierungsmuster für die Zeitgenossen. Die Tendenz, durch bewußten Rückgriff auf ein trivialisiertes und typisiertes Hellenentum die Gegenwart zu verändern, war in der Zeit um 1900 in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens in Deutschland zu beobachten. Lebensreform, Körperkultur, Reformpädagogik, Jugendbewe137

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Paul Friedländer: Die Idee des Gymnasiums. In: Das Gymnasium und die neue Zeit. Fürsprachen und Forderungen für seine Erhaltung und seine Zukunft. Hrsg. von Alfred Giesecke-Teubner. Leipzig, Berlin 1919, S. 31–44, hier S. 36. Stefan George: Vorspiel VII: Ich bin freund und führer dir und ferge (vor 08/1899). In: SW V, S. 16.

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gung,139 aber auch zeitgenössische Literatur und Dichtung, Kunst und Philosophie zeichneten sich durch eine dynamische und gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit der griechisch-römischen Tradition aus, die weit über ein rein historisches oder formales Interesse hinausreichte. So konstatierte Karl Reinhardt nach der Lektüre des Briefwechsels zwischen Friedrich Nietzsche und Erwin Rhode, es scheine »noch eine andere Antike als die durch die Universität vermittelte zu geben«.140 Die moderne Antike-Begegnung, die hier von der antiquarischen der Wissenschaften abgesetzt wird, verfolgte – und das ist das alte Neue – eine umfassende kultur- und bildungspolitische Zielsetzung; sie »erhielt im Streben der Zeit nach neuer Kultur eine appellative Funktion als ›Mittel‹ und ›Losung‹ einer Erneuerung der deutschen Bildung«.141 Wesentliche Voraussetzung und Grundlage für diese mit Heilserwartungen erfüllte idealisierte Sicht auf die Antike stellen Nietzsches Kulturkritik und die dadurch initiierten ästhetisch-weltanschaulichen Reformbestrebungen dar.142 In der zweiten seiner ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹, die er mit ›Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‹143 überschreibt, diagnostiziert Nietzsche in der Gegenwart eine Wertkrise, die die sozialen, politischen und moralischen Grundlagen der modernen Welt habe brüchig werden lassen. Den Ausgangspunkt dieses Verfallsprozesses markiere die in der Moderne einsetzende krisenhafte Verlagerung zur historischen Wissensakkumulation, die Hypertrophie der Historie. Die Tendenz der modernen Geschichtsforschung, sich jeglichen Werturteils zu enthalten, begünstige den beliebigen Umgang mit der Vergangenheit. Als nachhaltige Konsequenz der Objektivierung der Vergangenheit und ihrer Isolierung von der Realität blieben die der Geschichte inhärenten Impulse zur Gestaltung von Staat, Gesellschaft und Persönlichkeit ungenutzt und unterdrückt, so daß kein wahres Leben entstehen könne. Statt dessen empfiehlt Nietzsche, auf Grundlage einer überhistorischen, religiösen oder ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Gewe139

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Zu den verschiedenen Reformbewegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts und ihren jeweiligen Spezifika siehe grundlegend folgende Publikationen: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde. Hrsg. von Kai Buchholz u. a. Darmstadt 2001; Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Hrsg. von Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke. Wuppertal 1998. Karl Reinhardt: Akademisches aus zwei Epochen: 1. Wie ich klassischer Philologe wurde. In: Ders. Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung. Hrsg. von Carl Becker. Göttingen 1960, S. 380–388, hier S. 381. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 83. Vgl. Jaeger: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. In: HRV, S. 24f. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: KSA 1, S. 243–334.

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senen, das Überkommene vor den Richterstuhl des Lebens zu führen, es nach seinem Dienst für das Leben, d. h. seiner lebensfördernden bzw. lebenshemmenden Funktion, zu befragen und dem Ergebnis entsprechend lebendiges von totem Kulturgut zu scheiden. So entstehe als Gegenbild zu den konstatierten nihilistischen Tendenzen in der zeitgenössischen Politik, Gesellschaft und Kultur ein pietätvoll idealisiertes Griechentum, eine »Welt von Tiefsinn, Macht und Schönheit«.144 Diese Welt eigne sich als Führerin der Deutschen zu einem neuen lebenswerten Dasein, weil sie durch eine harmonische Versöhnung von Geschichte und Leben unter dem Einfluß von Kunst und Religion eine eigenständige Kultur begründen könne. Nietzsches Position ist nur vor dem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verstehen: Die Dominanz einer unangefochten materialistisch-mechanischen Weltsicht, die sich gänzlich dem rationalen Erkennen verpflichtete, begünstigte die Durchschlagskraft und die Erfolge der Naturwissenschaften und wertete zugleich die ›spekulativ‹ verfahrenden Geisteswissenschaften ab. Im Gegenzug versuchten diese, sich durch Rückgriff auf vermeintlich genuin wissenschaftliche Methoden von der kritisierten emotional-intuitiven Auslegung des Materials zu distanzieren und damit die eigene objektive Wissenschaftlichkeit zu betonen. Allerdings evozierte eine derartige Praxis die Verlagerung des geisteswissenschaftlichen Forschungsinteresses von allgemeiner weltanschaulicher Erkenntnis zu historisch-positivistischer Materialsammlung und -auswertung: Man war bemüht, nunmehr fundierte, überprüfbare Forschungsergebnisse zu präsentieren. Allerdings hatte dieses Bestreben auch seinen Preis: Es beförderte die Entidealisierung der Vergangenheit, die »Entzauberung der Welt«, d. h. den Verlust alter Ideale und allgemeinmenschlicher Werte sowie von Sinnstiftungen. In der fortschrittsorientierten, hochtechnisierten und säkularisierten Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts blieb sowohl für den christlichen Glauben als auch den Mythos einer harmonischen und idyllischen Vorzeit also vorerst kein Platz mehr; mit dem Verlust von Illusionen schwand auch die Dignität der klassischen Bildung. Um die Jahrhundertwende, in einer Zeit, die wie alle Wenden Endzeitprophezeiungen und kritische bzw. warnende Blicke auf das Kommende begünstigte, wurde das Fehlen idealer und normativer Größen sowie lebendiger Werte, auf die sich der einzelne berufen konnte, heftig beklagt. Viele Kulturkritiker und Zukunftspessimisten zeichneten das Bild einer am ver144

Ebd., S. 292.

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zehrenden Fieber leidenden, entweihten und zugleich barbarischen Gegenwart. Diese Krisenstimmung verstärkte sich unter dem Eindruck der militärischen Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der bürgerlichen Welt nach 1918. Gerade die den Deutschen in Versailles verordnete Werteordnung wurde als ›undeutsch‹ und ungerecht und deshalb bedrückend empfunden. Lediglich eine unzeitgemäße, d. h. »gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit«145 gerichtete Utopie versprach heilende Rettung aus der konstatierten Perspektivlosigkeit. Folglich suchte die geistige Elite nach einer neuen metaphysischen und vitalistischen Weltsicht, »einer integrativen Idee, die die ›letzten Fragen‹ klärt, gesellschaftliche Ordnung begründet und das individuelle Handeln leitet.«146 All diese Bedürfnisse sollten in der Weltanschauung des »Dritten Humanismus« durch Bereitstellung neuer Identifikationsgrößen, Lebensstile und Gemeinschaftsformen Erfüllung finden. Wie Jaeger in einem Brief aus dem Krisenjahr 1917 seinem Lehrer Wilamowitz anvertraute, riß auch bei ihm »dieser Krieg tiefer die Fundamente auf, darauf das Leben bisher gebaut war«. Er bekannte weiter, je prinzipieller u. quälender ich persönlich als junger Mensch die Probleme durchleben u. -kämpfen muss, je weniger ich irgendwo Festes um mich u. in mir gewahr werde, desto mehr verfalle ich dem Schweigen. […] Wenn ich hoffen darf, des inneren Widerstreits einmal glücklich mich entledigen durch eine feste Stellungnahme in der Welt, zu der ich mich durcharbeite, dann hoffe ich auch, in diesen Jahren des inneren Krieges u. des endlosen Lernens u. Belehrtwerdens etwas Nützliches erlebt zu haben.147

Die hier angesprochene Hoffnung auf eine kathartische Wirkung des Kriegserlebnisses sollte schon bald in einer neuen Antikewahrnehmung zum Ausdruck kommen. In der 1929 publizierten Abhandlung ›Die geistige Gegenwart der Antike‹ konstatierte Jaeger aus der Rückschau, die grundlegende Erschütterung, ja Entwertung aller die alte bürgerliche Weltordnung zusammenhaltenden Kulturwerte habe »die strengste Konzentration auf das Wesentliche«, den Rückzug »auf die wenigen absolut si145 146

147

Ebd., S. 247. Horst Thomé: Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle. In: York-Gothart Mix (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. 1890–1918. München, Wien 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 15–27, hier S. 25. Werner Jaeger an Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, 24.07.1917. In: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Selected Correspondence 1869–1931. Ed. by William M. Calder III. Neapel 1983 (= Antiqua 23), S. 177–181 (Nr. 6a), hier S. 178.

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cheren Positionen« ausgelöst.148 Als bedeutendstes Fundament des ›deutschen Seins‹ sah er die griechische Antike an und forderte deshalb eine Neubestimmung des nationalen Lebens auf der Grundlage einer aktuellen Auseinandersetzung mit dieser geistigen Macht: This generation comes to antiquity once more in spiritual need, not as the lofty pundit standing on the pinnacle of modern civilization, and so looking down on the ancients, but as the humble learner who hopes to draw from them some strengthening for his inner life. It comes to antiquity, not in cool interest, but in the renewed experience of its value.149

Aus Jaegers Stellungnahme spricht eine Haltung, die bei kulturkonservativen Denkern häufig anzutreffen ist, nämlich die Forderung, Kunst und Wissenschaft verstärkt auf die sinnliche Wahrnehmung, die man als »Leben« verstand, zu beziehen, weil die Wirklichkeit in den Dingen, das Seiende, Ewige, nicht das Historisch-Gewordene, interessiere. Die programmatische Erneuerung der Klassizität des Altertums Aufgrund ihres selbstauferlegten Sinnstiftungsgebotes bemühten sich die Vertreter des »Dritten Humanismus«, die als defizitär wahrgenommene nationale Gegenwart umzugestalten, zu vitalisieren und gleichzeitig doch zu rechtfertigen. Zur Orientierung bezogen sie sich auf ein traditionelles Kultur- und Gesellschaftsmodell der Vergangenheit, das sich in der Geschichte bewährt habe, dem ›deutschen Nationalcharakter‹ entspreche und Ausdruck wahren Lebens sei. Diese Voraussetzungen erfüllte ihre Projektion des antiken Griechenlands. Sie deuteten den Rückgriff auf ›klassische‹ griechische Wert- und Normvorstellungen als erfolgversprechenden Weg, die ersehnte Gesundung der deutschen Gesellschaft und Kultur – das Wiedererlangen eines Lebens in Harmonie, Ganzheit, Vollkommenheit und Größe, wie es schon den Idealisten vorschwebte – zu garantieren. Jedoch stand ihr verklärtes Hellas-Bild (wie auch das ihrer Vorgänger um 1800) der facettenreichen historischen Realität diametral entgegen: Durch bewußte Auswahl und Beschränkung auf kanonisierte Persönlichkeiten und ihre Werke entstand ein vereinfachtes illusionäres Konstrukt, die idealisierte Vorstellung von einer harmonischen, makellosen griechischen Kultur- und Universalgeschichte, die als Exemplum für die Zeitgenossen heranzuziehen sei. 148 149

Ders.: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 164. Ders.: The Present Position of Classical Studies in Germany, S. 45.

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Die Losung »Antike als neuer Kulturfaktor«, die sich die »Dritten Humanisten« auf ihre Fahnen schrieben, ist als Ausdruck des Bemühens zu deuten, die naturalistische Realitätswahrnehmung der Zeitgenossen, die durch ein historisches Denken geprägt worden sei, zugunsten einer überhistorischen, wertgebundenen, primär auf ästhetischen Kriterien fußenden Vorstellung zu beeinflussen. Dabei ging es nicht um die Wahrnehmung der äußeren Form oder Ausprägung von überlieferten geistigen Phänomenen, sondern um ein substantielles Erfassen der ihnen latent eingeschriebenen ›inneren‹ ethischen Bedeutung, ihres wirkenden und wertstiftenden Gehaltes als Ursprung und Norm. Dieser sollte nicht nur erkannt, sondern zugleich auch produktiv für die Gestaltung der eigenen Zukunft genutzt werden. Zur Legitimation des Vorhabens wurde die überhistorische Vorstellung von der Existenz eines anthropologisch fundierten exemplarischen »Klassischen«150 als wahrem Ausdruck der lebendigen Natur, das vorzugsweise in der griechischen Antike beheimatet sei, bemüht. Entsprechend definierte Wolfgang Schadewaldt »Klassik« als »eine einmalige historische, in der geistigen Substanz einer bestimmten, der antiken Kultur wurzelnde geistige Tat und Leistung«,151 die der Gegenwart als ethischer Leitfaden dienen solle. Spranger sprach von klassischen Gehalten als Darstellungen geistigen Menschentums, die kraft ihrer einfachen, typischen Struktur, kraft ihres überlegenen Wertgehaltes und kraft ihrer anschaulichplastischen Form geeignet sind, als dauernde Vorbilder in dem geistig-geschichtlichen Lebensstrom, der von ihnen ausgeht, zu wirken.152

George und seine Schüler verwoben mit der Idee des Klassischen als Repräsentation wirkender Formvollendetheit die Vorstellung von besonderer Kulturhöhe einer vorbildlichen Epoche oder Persönlichkeit – die Bezeichnung ›klassisch‹ scheint allerdings in ihren Schriften nicht explizit aufzutauchen.153 150

151

152 153

Vgl. zum Begriff des »Klassischen« und seiner Wiederbelebung Salvatore Settis: Die Zukunft des »Klassischen«. Eine Idee im Wandel der Zeiten. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann. Berlin 2004 (v. a. S. 52–66). Wolfgang Schadewaldt: Begriff und Wesen der antiken Klassik. In: Werner Jaeger (Hrsg.): Das Problem des Klassischen und die Antike. Acht Vorträge gehalten auf der Fachtagung der klassischen Altertumswissenschaft zu Naumburg 1930. Leipzig, Berlin 1931, S. 15–32, hier S. 21. Eduard Spranger: Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung (1924). In: GS 1, S. 70–89, hier S. 75f. Vgl. Groppe: Die Macht der Bildung, S. 307 [mit Verweis auf Gundolfs unvollendetes Vorlesungstyposkript ›Deutsche Bildung von Luther bis Lessing‹ (WS 1911/1912)].

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Neben dem ethischen Wirkpotential wurde mit klassischen Gehalten die dynamisch-nostalgische Vorstellung einer untergründigen Kontinuität und einer zyklischen Wiederkehr ihres Einflusses in der Gegenwart in Verbindung gebracht. Im Akt der ›renovatio‹ könne ein vorbildliches geistiges Phänomen, das die konkrete Gegenwart nicht mehr beeinflusse, aber wirkungsvoll in vergangenen Zeiten gewesen sei, durch menschliches Handeln wiederbelebt werden; es stelle sich »gleichzeitig [als, BS] Telos und Arche, Vollendung und neues Beginnen«154 dar. Als Konstrukt post festum siedelten die Vertreter des »Dritten Humanismus« das Klassische – wie vor ihnen bereits die Renaissance- und Neuhumanisten – vorwiegend in der griechisch-römischen Antike an. Besonders im alten Griechenland glaubten sie ein archetypisches, unveränderliches, ewig gültiges und weder an Zeit noch Raum gebundenes Wertesystem verwirklicht, von dem gestaltende Impulse für die nationale Gegenwart abzuleiten seien. Deshalb propagierten und popularisierten sie die Idee von einer Erneuerung der Klassizität des Griechentums in der Gegenwart,155 mit deren Hilfe sie auf das alte Hellas projizierte ethische Ideale im gegenwärtigen allgemeinen Bewußtsein als normativ und richtungsweisend statuieren wollten. Was Schadewaldt in seiner Abhandlung ›Begriff und Wesen der antiken Klassik‹ als Charakteristikum für die klassischen antiken Kunstwerke hervorhebt, nämlich ihre Einflußmöglichkeit und ihr auf das Leben der Gegenwart bezogenes Gestaltungspotential, kann allgemein auf die Kategorie des Klassisch-Griechischen übertragen werden: Demnach gelte ein geistiges Phänomen als klassisch, wenn es »richtungweisende Epochen unserer Vergangenheit für würdig erachtet haben, Vorbild für die Herausgestaltung und Formung eigenen starken Erlebens zu sein«.156 In Einklang mit Nietzsches Grundüberzeugung, eine intakte nationale Kultur erwachse lediglich aus dem Leben selbst,157 schrieben die Georgeaner, Jaeger und Spranger klassischen Gehalten das Potential zu, eine gesunde Nationalkultur für das Hier und Jetzt zu befördern. Denn diese initiierten durch Auseinandersetzung mit einem scheinbar Fremden das Heraustreten des ›deutschen Charakters‹ aus dem räumlich und zeitlich 154 155

156 157

Schadewaldt: Begriff und Wesen der antiken Klassik, S. 20. – Vgl. auch Spranger: Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung. In: GS 1, S. 84f. Dieser Klassizitätsgedanke wurde v. a. in den 1920er Jahren innerhalb der Altertumswissenschaften forciert und gipfelte in der von Werner Jaeger initiierten und organisierten altertumswissenschaftlichen Fachtagung in Naumburg 1930, die sich der Thematik ›Das Problem des Klassischen und die Antike‹ widmete. Schadewaldt: Begriff und Wesen der antiken Klassik, S. 20. Vgl. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie. In: KSA 1, S. 326.

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eng begrenzten Mikrokosmos. Dieser Prozeß kulminiere in der Selbstfindung des ›deutschen Nationalcharakters‹ und schärferen Konturierung seiner geistigen Form, seines ethischen Gehaltes. Als Lehrmeister für die Ausprägung der eigenen Identität – sowohl der individuellen als auch der nationalen – erachteten sie neben der griechisch-antiken Welt auch das gebildete Weimar um 1800, das als Wiedergeburt antiken Denkens im deutschen Gewand gedeutet wurde. Demnach interpretierten sie das Klassische nicht als ein starres Erbe oder eine Tradition, die der Gegenwart Fesseln anlege,158 sondern als originelle und sinnstiftende Ergänzung des Eigenen. Im »Dritten Humanismus« ist die Kategorie des Klassischen also eng mit dem schöpferischen Gedanken der Epiphanie verbunden. Mit seiner Hilfe sei der aus der Antike abgeleitete Anspruch auf Klassizität auf die eigene Gegenwart bzw. Zukunft zu übertragen: Indem der Gegenwartsmensch durch Bildung in die Lage versetzt werde, das vorbildliche Alte zu erkennen, zu restaurieren und im Sinne des Lebens an die zeitgenössischen Gegebenheiten anzupassen, werde er selbst zum Klassischen, d. h. zum Vorbild, zur ›auctoritas‹ für kommende Generationen und Zeiten.159 In Sprangers Worten: Indem klassische Gehalte immer neu auf die Gegenwart bezogen [werden, BS], und indem die Gegenwart auf ihre besondere Art, ehrfürchtig, in objektiver Geisteshaltung, aber doch Leben suchend, sich das Klassische zu eigen macht, empfängt sie selbst einen geheimen Anteil an klassischer Formung und klassischer Höhe.160

Demzufolge ist dem Begriff des Klassischen eine geschichtsphilosophische Dimension inhärent: Er bezeichnet aus der Retrospektive den zeitlos fixierten, überzeitlich gültigen Höhepunkt einer Epoche, der ewig wiederholbar sei. Zugleich ist ihm die Vorstellung vom beständigen Wachsen und Verblühen von Kulturen eingeschrieben, die in ihrer Klassik gleichsam ihre Reife erreichten.

158 159 160

Vgl. Spranger: Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung. In: GS 1, S. 85. Vgl. ebd. Ebd. – Auch Ludwig Curtius bezieht sich auf diese Vorstellung. In einem Beitrag für ›Die Antike‹ bezeichnet er die Gegenwart als »eine archaische Durchgangsform« »zu einer neuen klassischen Form, die in dem Moment eintreten wird, wo mit der erstrebten Neuordnung […] die Stabilität äußerer Lebensformen erreicht wird« [Die antike Kunst und der moderne Humanismus (1926). In: Die Antike 3 (1927), S. 1–16, hier S. 15].

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Die ewige Wiederkunft des Gleichen? Geschichtsphilosophisches Denken Obwohl die Anhänger des »Dritten Humanismus« keine eigenständige Geschichtsphilosophie entwickelten, die sie in wissenschaftlichen Traktaten oder Abhandlungen unmittelbar und konzise dargelegt hätten, bestimmte ihr Denken und Schreiben doch eine dezidierte Vorstellung von der Geschichte an sich und dem Ablauf historischer Prozesse. Sie ist durch eingehende Textanalysen zu rekonstruieren; aus den überlieferten schriftlichen Zeugnissen lassen sich Aspekte herauslesen, die sich in ihrer Gesamtheit wie einzelne Puzzleteile zu einem stimmigen Denkmodell fügen. Das Geschichtsbild von George und seinem Kreis, Jaeger und Spranger kennzeichnete vor allem die eindeutig antimoderne Ausrichtung als Reaktion auf den optimistischen Glauben an einen streng linearen zivilisatorischen Fortschritt und die damit verbundene Abwertung des Vergangenen. Dem gegenüber rekurrierten sie auf etablierte prozessuale kulturmorphologische Überlegungen, die die historische und kulturelle Entwicklung auf das Gesetz der periodischen Wiedergeburt allen Seins festlegten. Denn ihr vornehmliches Anliegen war es, durch retardierende Bewegung und wiederholte Rückkehr zu einem harmonischen Urzustand, durch Besinnung auf die Grundlagen des Menschen, seine individuelle und kollektive Weiterentwicklung zu garantieren und zu befördern. Eine sich stetig beschleunigende Progression, die im Verlauf der Evolution immer nur das tradiere, was sich gegenüber äußeren Erfordernissen am besten bewährt habe, war mit einem solchen konservierenden Denken nicht zu vereinbaren. Gemeinsam ist jedoch den beiden um 1900 konkurrierenden Modellen der Zukunftsoptimismus. Richteten die Befürworter eines linearen Geschichtsbildes den Blick auf eine unbestimmte Zukunft vom eigenen Standpunkt in der Gegenwart, so betrachteten die Vertreter des »Dritten Humanismus« Gegenwart und Vergangenheit aus der Perspektive einer projektierten Zukunft, schlossen also vom ›sicheren‹ Ergebnis auf notwendiges Handeln zur zielgerichteten Erfüllung der Utopie. Dabei fand eine Entzeitlichung von Handlungen statt; da sich diese stetig wiederholen würden und damit vom Resultat her klar bestimmt seien, hätten sie Ewigkeits- und damit Vorbildcharakter. Die Grundvorstellung von der periodischen Wiedergeburt des Seins spiegelt sich bereits in der Bezeichnung »Dritter Humanismus« wider, die einige Repräsentanten für ihre Kultur- und Menschenbildungskonzeption wählten: Dieser Name impliziert den Gedanken der zyklischen Wie97

derkehr humanistischen Denkens in bestimmten zeitlichen Abständen: Auf den ersten Humanismus im 15./16. Jahrhundert folge der zweite Humanismus um 1800 und auf diesen der dritte in der Gegenwart. Diese Reihe der Humanismen lasse sich in der Zukunft unendlich fortsetzen. Jaeger faßt den Grundgedanken seiner Geschichtsphilosophie prägnant in ein altes mythisches Bild, das den fortwährenden Kreislauf der Idee vom goldenen Zeitalter beschreibt: »Zwar Chronos flieht, doch Kairos kehret wieder im Kreislauf der Aionen.«161 In der antiken Mythologie gilt der unsterbliche Chronos als Personifikation der Zeit. Der Titan folgt seinem Vater Uranos auf den Thron des gesamten Weltreiches. Mit Chronos’ Herrschaft wird nach Hesiod das mythische goldene Zeitalter verbunden, eine harmonische, fröhliche und sorglose Epoche der Menschheit. Nach dem Sturz durch seinen Sohn Zeus muß Chronos fliehen und hält sich verborgen, um seiner geplanten Hinrichtung zu entgehen.162 Die Vorstellung, daß ein entscheidender geistiger Gehalt nicht endgültig untergehe, sondern lediglich Phasen einer Nicht-Präsenz im Zeitgeist erlebe, ist auch der georgeschen Metapher vom »geheimen Deutschland« eingeschrieben.163 Sie veranschaulicht einerseits den Gedanken, daß ein sich stetig fortentwickelndes Urbild – der ›deutsche Mensch‹ als Prinzip – existiere, das in genialen Individuen immerwährend Fleisch und Blut werde. Den theoretischen Hintergrund dieser Vorstellung bildet die elisabethanische »Zwei-Körper-Lehre«,164 die Ernst Kantorowicz im kulturwissenschaftlichen Diskurs etablierte: Angewendet auf die deutsche Geistesgeschichte läßt sich folgern – und diesen Schluß vollzogen auch die Georgeaner –, daß das Prinzip ›deutscher Mensch‹ nicht mit dem Tod eines Repräsentanten untergehe, sondern fortwährend weiterlebe und in 161 162

163 164

Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 165. Zu Chronos / Saturnus vgl. Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770 (= Reprographischer Nachdruck Darmstadt 1996), Sp. 2163–2169 sowie Gerhard Baudy: Kronos. In: DNP 6 (1999), Sp. 864–870, hier Sp. 864f. Vgl. Karl Wolfskehl: Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), S. 1–18, hier S. 14f. Diese Lehre basiert auf dem Inhalt eines Rechtsgutachtens des Elisabethanischen Zeitalters. Mit ihm sprechen englische Juristen dem König zwei Körper zu, einen natürlichen, zeitlichen und demnach sterblichen, der auf die Person des Königs aus Fleisch und Blut verweise, sowie einen ›politischen‹ übernatürlichen, überzeitlichen und damit unsterblichen, der das Prinzip König versinnbildliche. Die »Zwei-Körper-Lehre« wurde von den Georgeanern, besonders von Ernst Kantorowicz, reaktiviert; abschließende wissenschaftliche Legitimation wurde ihr durch dessen wegweisende und vielbeachtete Untersuchung ›The King’s Two Bodies‹ [Princeton, NJ 1957 (Dt.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Mit einem Vorwort von Josef Fleckenstein. Übersetzt von Walter Theimer. Stuttgart 1992)] zuteil. – Vgl. hierzu auch Hans-Jürgen Becker: Zwei-Körper-Lehre. In: HRG 5 (1998), Sp. 1847f.

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dem die Gegenwart noch beeinflussenden Handeln oder dem nachgelassenen Werk bedeutender Persönlichkeiten wahrnehmbar bleibe. Zugleich impliziert diese Wendung den Glauben an ein verborgenes und unsterbliches Deutschland als geistiges Reich für alle diejenigen, die an der Konstituierung einer deutschen Nation mitgewirkt hätten oder noch mitwirken würden. Kantorowicz erläutert die Utopie eines »geheimen Deutschland« gegenüber seinen Frankfurter Studenten als ein Reservoir restaurativer »Kräfte, in welchen sich das zukünftige erhabenste Sein der Nation vorgebildet oder schon verkörpert fand«,165 als »ein Reich zugleich der Toten und der Lebenden, das sich wandelt und dennoch ewig ist und unsterblich«.166 Allerdings war die Vorstellung eines zyklischen Geschichtsverlaufs und der periodischen Wiederkehr nationalkultureller Glanzzeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht innovativ. Seine Wurzeln lassen sich bis ins griechische Altertum zurückverfolgen. Heraklits Ekpyrosislehre, Platons Katastrophentheorie und Aristoteles’ Staatenlehre basieren auf einem natürlich-organischen Kreislauf aller Dinge, der sich durch die stetige Abfolge des Prozesses vom Entstehen, Wachsen, Vergehen und Neuentstehen auszeichnet. Auch Theologen des Mittelalters wie z. B. Joachim von Fiore, Albertus Magnus und Thomas von Aquin griffen auf kreisförmige und organizistische Vorstellungen zurück, um den Wandel historischer Gebilde zu beschreiben. Unter Bezugnahme auf den menschlichen Lebensaltergedanken wurden in allen genannten Modellen die Stadien Kindheit, Adoleszenz und Alter auf die geschichtliche Entwicklung bezogen. Jedoch prägte weniger das traditionelle, lediglich konservierende Kreislaufmodell, die Vorstellung der unbedingten Renaissance des Gleichen, das geschichtsphilosophische Denken im »Dritten Humanismus« als eine um den Perfektibilitätsgedanken erweiterte Variante: So wurde das Überkommene nicht als unwandelbar und statisch begriffen, sondern vielmehr seine Veränderbarkeit und die Möglichkeit der Vervollkommnung durch das Leben selbst, hier vor allem durch den Einfluß des aufgeklärten Menschen, hervorgehoben. Eine aktive Auseinandersetzung mit dem Tradierten galt als belebend für das individuelle wie kollektive Sein; zudem befördere es langfristig seine progressive Weiter- und Höherentwicklung durch immerwährende Metamorphosen.

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Kantorowicz: Das Geheime Deutschland, S. 158. Ebd., S. 162.

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Entsprechend faßten die Dichter um George in der zweiten Folge der ›Blätter für die Kunst‹ den Kreislauf des Seins in den optimistischen Gedanken: »Jede niedergangs-erscheinung zeugt auch wieder von höherem leben.«167 Auch Spranger folgte diesem Denken, wenn er den Verlauf der Weltgeschichte als »Renaissancen des scheinbar Abgelebten, das aber unverlierbaren Gehalt besitzt«, beschrieb. Ihren periodisch wiederkehrenden »überzeitliche[n] Wertgehalt« deutete er als »kein starres Sein«, sondern »potentielle Kraft, die das neu erscheinende Leben auf eine höhere Stufe hebt«.168 Der hier angesprochene überzeitliche Wertgehalt, der durch die Äonen hindurch bis in die Gegenwart im kulturellen Gedächtnis bewahrt und weiterentwickelt worden sei, wird mit dem griechischen Erbe, der Grundform aller »dauernden Geistesschöpfungen«169 identifiziert. Vor dem Hintergrund eines progressiven geschichtsphilosophischen Denkens stellte das Griechentum also keine »konstante Größe«, etwas »längst Verstorbene[s]« dar, sondern ein Kulturgut, das immerwährend eine »neue, lebendige Vermählung von Gegenwart und Vergangenheit« initiiere und damit für die Gestaltung der Kultur und die Wiederbegründung des eigenen Selbstverständnisses stets heranzuziehen sei.170 Derartige Überlegungen gehen auf Vorstellungen zurück, die im Umkreis von Idealismus und Romantik entwickelt wurden: Novalis charakterisierte den zyklischen Verlauf der Universalgeschichte als »fortschreitende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen«,171 Fichte verband mit ihm die »Geburt zu einem neuen herrlicheren Leben«,172 und Hegel sprach in diesem Zusammenhang von einem »wesentlich[en] Fortschreiten«.173 Durch Integration des optimistischen Gedankens einer Progression in die antike Kreislauftheorie wurde aus der statischen Kreisvorstel167 168 169 170 171

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BfdK 2 (1894), Heft 2, S. 33. Eduard Spranger: Die Kulturzyklentheorie und das Problem des Kulturverfalls (1926). In: GS 5, S. 1–29, hier S. 28. Jaeger: Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung. In: HRV, S. 125. Eduard Spranger: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Pädagogik für das Volksleben (1920). In: GS 2, S. 260–274, hier S. 270. Novalis: Die Christenheit oder Europa (1799). In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1978, S. 731–750, hier S. 735. Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen (1800), hier zitiert nach A[rmin] Müller: Kreislauftheorien. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 4: I–K. Basel 1976, Sp. 1227–1229, hier Sp. 1228. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte (entstanden 1822–1831, veröffentlicht 1837), hier zitiert nach A. Müller: Kreislauftheorien, Sp. 1228.

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lung die Idee einer dynamischen, spiralenförmigen historischen Bewegung: Man ging davon aus, daß das überkommene Kulturgut sich durch stetige Weiterbildung zu einem verbesserten schöpferischen Potential forme und daß dieser Prozeß unendlich ablaufe und sich asymptotisch dem gedachten Ideal annähere. Die »Tendenz, […] Geschichte zu naturalisieren« und ihren Verlauf mit organologischen Metaphern zu beschreiben, wurde spätestens mit Herders ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ zur Communis Opinio.174 Auf dieses bekannte Analogiemuster bezogen sich auch die Vertreter des »Dritten Humanismus«, wenn sie die Menschheits- und Kulturhistorie als einen lebendigen Organismus auffaßten, der fortwährend die Entwicklungszyklen von Blüte, Reife und Verfall durchlaufe. So verglich Spranger in seinen Texten kulturelle Abläufe mit dem Wachstum von Pflanzen, projizierte die biologischen Prozesse der Fortpflanzung und Vererbung auf Kulturen.175 Auch sprach er von der »organischen Mannigfaltigkeit« des kulturellen Lebens, das »Formen der Pflanzen oder der tierischen Geschöpfe« aufweise.176 Entsprechend veranschaulichte Jaeger die historische Bewegung mit Hilfe eines alten »Gesetzes, das alles Leben regiert: des Gesetzes der ewigen Wiedergeburt.« Unter direkter Bezugnahme auf Hölderlins vaterländische Ode ›Gesang des Deutschen‹ fügte er erläuternd hinzu: »Denn wie der Frühling wandelt der Genius von Land zu Land.«177 Jaegers Lebensaxiom der ewigen Wiedergeburt wohnt die optimistische Vorstellung inne, daß nach dem Untergang einer Kultur bzw. des hellenozentrischen Kulturkreises und der damit verbundenen Degeneration von Wert- und Normvorstellungen aus der Stimmung eines heroischen Nihilismus eine Renaissance in einer verbesserten, höherwertigen Erscheinungsform möglich sei, die sich stetig der Utopie eines kommenden goldenen Zeitalters annähere. Eine so gedachte dynamische und progressive Kultur- und Volksentwicklung gewährleiste, daß geistige und kulturelle Errungenschaften wie bestimmte Werte und Bildungsideale nicht nur fortwährend im kollektiven Bewußtsein erhalten blieben, sondern auch durch Adaptation an die Umwelt weitergebildet würden. Spranger 174

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Horst Thomé: Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur. Zu Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. In: Christine Maillard und Michael Titzmann (Hrsgg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Stuttgart, Weimar 2002, S. 193–212, hier S. 197. Vgl. Spranger: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Pädagogik für das Volksleben. In: GS 2, S. 262f. Ebd., S. 268. Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 177.

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formuliert in seiner ›Kulturzyklentheorie‹ diesen Gedanken folgendermaßen: Und in dem, was da geboren werden soll, wird zweierlei enthalten sein: der Anteil des alten Ewigen, das, einmal geschaffen, als Gedanke oder Bild, nicht mehr verlorengehen kann, und der Anteil des Neuen, das uns zu entdecken und zu erkämpfen vorbehalten ist.178

Diese Vorstellung erlaube, die Nationalgeschichte nicht ausschließlich auf die konkrete nationale Vergangenheit zu verengen, sondern die Geschichte des eigenen Volkes weiter zu fassen und als Teil eines größeren Ganzen, »als Glied eines größeren Völkerkreises«,179 zu interpretieren. Es ist wohl kein Zufall, daß sich die Vertreter des »Dritten Humanismus« in ihrer Utopie auf eine zyklische Geschichts- und Kulturtheorie bezogen. Gerade im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts war eine enorme Popularität dieses Denkens zu konstatieren. Neben der allgemeinen Kulturkritik an der Moderne, die an die Rückkehr in eine harmonische Vorzeit appellierte, prägten biologistische Ideologeme, die Leben und Weiterbildung des Seins zu verbinden suchten, die Wahrnehmung der Zeitgenossen. So verkündete Nietzsche in seinem ›Zarathustra‹ den auf der alten Kreislauftheorie beruhenden Gedanken der ewigen Wiederkehr allen Seins.180 Unter dem Eindruck der einschlagenden Wirkung der Evolutionsforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Stellung der empirischen Biologie als naturwissenschaftlicher Leitgröße propagierte Oswald Spengler in seinem ›Untergang des Abendlandes‹181 die Idee einer auf organologischen Prozessen basierenden ›Morphologie der Weltgeschichte‹, wie es im Untertitel dieser monströsen Schrift heißt. Diese beiden geschichtsspekulativen Texte beeinflußten die Weltanschauung vieler konservativer Denker nachhaltig. Auch in den Publikationen der sogenannten »Konservativen Revolutionäre« spielte das Denkmuster

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Spranger: Die Kulturzyklentheorie und das Problem des Kulturverfalls. In: GS 5, S. 29. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 3. Vgl. Nietzsche: Also sprach Zarathustra III: Der Genesende (1884). In: KSA 4, S. 270–277, hier S. 272f.: »Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.« Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit. Wien 1918, Bd. 2: Welthistorische Perspektive. München 1922.

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der Wiederkehr des Seins, also eine zyklische Zeitauffassung, eine entscheidende Rolle.182 Das Griechentum als anti-akademischer Lebensstil Auf der Suche nach einer kulturellen Orientierungsmacht bezogen sich die Vertreter des »Dritten Humanismus« auf das Griechentum, das bereits im Neuhumanismus der deutschen Kultur zu einer neuen Blüte verholfen hatte. Vor dem Hintergrund ihrer zyklischen Geschichtsauffassung betrachteten sie die Auseinandersetzung mit diesem Volk nicht nur als »Garant[en] kultureller Kontinuität«,183 sondern zugleich als Stimulans eines national-kulturellen Aufschwungs. Förderlich für die intendierte Belebung antiker Werte und Vorstellungen und für ihre Integration in das moderne Denken und Handeln war die allgemeine wohlwollende, geradezu euphorische Begeisterung für alles Griechische: griechische Architektur und Plastik, griechisches Dekor, griechische Sujets, griechisches Körperbewußtsein und -gefühl. Kulturkritiker, Lebensreformer und Teile der künstlerischen Avantgarde interpretierten die altgriechische Kultur als Ausdruck wahren Lebens; folglich könne sie einer als dissoziierend empfundenen Gegenwart zur Spiegelung und Orientierung vorgehalten werden. Entsprechend präsentierte George in seinen frühen Dichtungen das griechische Altertum als anbetungswürdige Macht. In poetischer Sprache entwarf er Bilder von antikem Sein und Leben, die der Gegenwart eine Idee von Monumentalität, Schönheit, Jugendlichkeit, Reinheit und Ursprungsnähe vermitteln und zugleich eine Sehnsucht nach einer solchen lebenverströmenden apollinisch-heroischen Welt evozieren sollten.184 Den Protagonisten der Lebensreformbewegung war es zu verdanken, daß die deutsche Griechensehnsucht des Fin de siècle nicht nur ein fernes Traumbild blieb: So pochten sie vehement auf eine physische Nähe zum Altertum und bemühten sich, das Griechentum »als ›aktiven Teil‹«185 in das eigene Leben und die moderne Entwicklung zu integrieren. Sie argumentierten, gerade vor dem Hintergrund des Umgangs mit dem Hel182

183 184 185

Vgl. Armin Mohler und Karlheinz Weissmann: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. 6., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl. Graz 2005, S. 17f.; S. 94f. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 145. Vgl. beispielsweise ›Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel …‹. In: BfdK 4 (1897), Heft 1/2, S. 4. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 105. – Vgl. auch S. 145.

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lenentum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei nun eine handlungsorientierte Auseinandersetzung mit ihm vonnöten: Denn die historistisch-positivistische Ausrichtung sowohl der Geisteswissenschaften als auch des altsprachlichen Unterrichts habe seinen Geist austrocknen lassen und damit seine Idealität und Vorbildlichkeit in Frage gestellt. Sollte Hellas wieder seine stimulierende Suggestion auf die deutsche Kultur ausüben, sei dies nur auf dem Weg eines praxisbezogenen Umgangs anstelle einer ausschließlich theoretischen und intellektuellen Auseinandersetzung zu erreichen. Daher rückten neben den als originär griechisch identifizierten Denkmustern und Wertvorstellungen, die das Sein und Handeln des modernen Deutschen bestimmen sollten, nun auch vermehrt die als authentisch erkannten Lebenspraktiken der alten Griechen ins Blickfeld. Dabei fanden vor allem Maßnahmen zur Ausbildung, Ertüchtigung und Verschönerung des eigenen Körpers großen Anklang, die man aus dem griechischen Leben ableitete. Diese Vorliebe bestätigend, bemerkte Spranger in der deutschen Jugend um die Jahrhundertwende die Neigung, von sich zu sagen: ›Wir sind Hellenen.‹ Und sie denken dabei an Körperkultur mit stark ästhetischer Betonung, an Schönheit des Leibes und der Seele. Sie denken an das ›Gymnasium‹ im alten ursprünglichen Sinne des Wortes; d. h. sie wollen das Griechentum nicht bloß als Literatur, sondern als Lebensstil. Ihnen wird die griechische Kultur zu einem Vorbild der Kultur überhaupt.186

Sprangers Charakteristik der zeitgenössischen Jugendkultur impliziert die populäre Vorstellung, nur ein gesunder und wohlgeformter Körper beherberge einen leistungsfähigen und kreativen Verstand. So wurde die ausgeprägte Körperkultur der Griechen, d. h. ihr natürliches Schönheitsideal, das eng mit der Körpererziehung der Jugend – Gymnastik und Agonistik – und einer intensiven Gesundheitspflege – Diätetik und Hygiene – verbunden war, zum Richtbild für den Deutschen des 20. Jahrhunderts erhoben. Denn nur wenn im Individuum Körper und Geist die harmonische Wechselbeziehung eingingen, die die alten Griechen ausgezeichnet habe, werde sich in der Gesamtheit aller Individuen ein gesundes und leistungsfähiges Volk herausbilden, das den enormen Zukunftsaufgaben gewachsen sei.

186

Eduard Spranger: Humanismus und Jugendpsychologie (1921). Berlin 1922, S. 24.

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Die revolutionäre Begeisterung für das Archaische Für die Rekonstruktion des antiken Alltagslebens konnten seit den 1870er Jahren neben der bekannten literarischen Überlieferung auch umfangreiche Funde der deutschen Grabungen in Troja, Mykene, Olympia und Pergamon herangezogen werden. Gerade diese prestigeträchtigen nationalen Großprojekte bereiteten den Boden für die neue Empfänglichkeit für das Griechentum in der Öffentlichkeit um 1900.187 Die wachsende Begeisterung für die Antike im Deutschland des Fin de siècle spiegelte sich in der großen Anzahl von Bildbänden über antike Stätten und dortige Funde wider, aber auch in der Verwendung antiker ›imagines‹ als Grabschmuck oder Bauplastik, als Illustrationen, Signets und Exlibris.188 Daneben avancierten Ruinenstädte und bekannte Kriegsschauplätze in Griechenland, Italien und Sizilien zu beliebten Reisezielen der Gebildeten und Vermögenden; sie hielten häufig ihre Eindrücke in verklärenden Reisebeschreibungen fest, die wiederum mit großem Interesse von einem breiten Publikum gelesen wurden.189 Auch zeigten viele zeitgenössische bildende Künstler ihre Sehnsucht nach einer schönen, monumental-heroischen Antike und die damit verbundene Kulturkritik in Form von visuellen Metaphern. Dabei sind zwei Tendenzen zu beobachten: das Einfangen idyllischer, als originär griechisch empfundener Stimmungen und das provokante, emotionsgeladene Aufzeigen des Kontrastes schöne, heroische Antike versus häßliche, verflachte Moderne.190 Charakteristisch für die neue Welle der vitalistischen Antikerezeption, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts formierte, ist die Verbindung von wertsetzenden klassizistischen Denkmustern wie z. B. Gradheit, Formstrenge und Harmonie, die aus den attischen Kunstwerken der Zeit nach den Perserkriegen bis zum Tod Alexanders abgeleitet wurden, mit der Projektion eines authentischen und natürlichen archaischen Grie187

188 189

190

Diese Grabungen verfolgte die deutsche Presse mit großer Aufmerksamkeit, dokumentierte akribisch ihren Verlauf und feierte euphorisch die antiken Funde, die in der Mehrzahl nach Deutschland gebracht und dort in Museen (teilweise auch in eigens für diesen Zweck gegründeten Institutionen wie dem Berliner Pergamonmuseum) bzw. Antikensammlungen ausgestellt und damit der Allgemeinheit zugänglich gemacht wurden. – Vgl. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 71f. – Zu diesem Komplex auch grundlegend Marchand: Down from Olympus, S. 77–103. Vgl. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 70; S. 72. Zu den Griechenlandreisen der Zeit und den Berichten darüber vgl. Dorothea Ipsen: Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Die Wahrnehmung der Antike in deutschsprachigen Reiseberichten über Griechenland um die Wende zum 20. Jahrhundert. Osnabrück 1999 (= Osnabrücker Forschungen zu Altertum und Antike-Rezeption 2). Vgl. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 142–146.

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chentums. Unter Archaik als übergreifendem kulturellem Periodenbegriff subsumierte man in der Nachfolge Jacob Burckhardts und Nietzsches die Epoche des frühen Griechentums vom achten bis sechsten vorchristlichen Jahrhundert. In ihr glaubte man die ethischen Qualitäten Ungebundenheit, Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit, Dynamik und Energetik sowie Lebendigkeit und Vitalität verwirklicht.191 Diese Sichtweise stand jedoch im Widerspruch zu der klassizistischen Deutung der frühen griechischen Kunst, die nachhaltig durch Winckelmanns ›Geschichte der Kunst des Altertums‹ beeinflußt war. Noch um und kurz nach 1800 attestierten die Gelehrten der frühen griechischen Plastik – in Absetzung von den als normativ geltenden literarischen und künstlerischen Werken des Perikleischen Zeitalters – geringschätzend Unvollkommenheit und fehlende Reife. Diese an sich schon nicht unproblematischen Zuschreibungen wurden dadurch angreifbar zugespitzt, daß die meisten Artefakte gar nicht im Original oder nur als römische Kopie bekannt waren – eine Ausnahme bildeten die 1811 entdeckten Giebelskulpturen des Tempels Aphaia auf Aegina –, sondern Vorstellungen von ihnen lediglich auf Grundlage antiker literarischer Beschreibungen z. B. bei Plinius d. Ä., Vitruv und Pausanias entwickelt wurden.192 Spätestens mit dem Beginn der systematischen Grabungen in den 1870er Jahren wurden zahlreiche Originale aus vorklassischer Zeit ans Licht befördert. Daraus resultierte die paradoxe Situation, daß den bisher als vorbildlich geltenden griechischen Kunstwerken des fünften bzw. vierten vorchristlichen Jahrhunderts, die günstigstenfalls als Kopien aus römischer Zeit bekannt waren, authentische (jedoch vor dem Hintergrund eines Blütezeitdenkens weniger vorbildliche) Stücke gegenübergestellt wurden. Letztere boten den Vorzug – so jedenfalls die zeitgenössische Argumentation –, als Originale die reine, echte und unverstellte Natur und wahre formale Substanz des Griechentums unmittelbar preiszugeben; damit forderten sie die Hoheit des alten ›Klassischen‹ heraus: Der zuvor gepriesenen Formstrenge und Vollkommenheit trat nun die Qualität des Authentischen gegenüber. Dieses Dilemma lösten die Wissenschaftler und Künstler, indem sie dafür votierten, die aufgefundenen Werke aus archaischer Zeit nicht so sehr als bloße Vorstufe einer unerreichbaren Vollkommenheit zu begrei191

192

Zur neuartigen Archaikbegeisterung siehe Glenn W. Most: Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg. In: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler. Stuttgart, Weimar 2001, S. 20–39; Settis: Die Zukunft des »Klassischen«, S. 33–37. Vgl. Glenn W. Most: Zur Archäologie der Archaik. In: A&A 35 (1989), S. 1–23, hier S. 3–5.

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fen, sondern sie vielmehr »innerhalb ihrer eigenen Ästhetik«193 als Inbegriff von Ursprünglichkeit, Dynamik und lebendiger Jugend zu verstehen. Vor dem Hintergrund einer allseits beklagten kulturellen Müdigkeit als Folge des sich beschleunigenden Zivilisationsprozesses im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts statuierten nun die geistigen Eliten die archaische Plastik zum »Ausdruck von Kraft, von Spannung und Energie, von Stolz und Kühnheit, von selbstbewußtem Vertrauen auf jene volle Beherrschung der Glieder«.194 Presseberichte über Grabungstätigkeiten, neue Funde und Ausstellungen verstärkten das öffentliche Interesse für das frühe Griechentum und die mit ihm verbundenen Epitheta. Hofmannsthals literarische Verarbeitung seiner Griechenlandreise im Jahr 1908 –195 besonders die ›Begegnung‹ mit den archaischen Koren – sowie Rilkes Apollo-Gedichte – vor allem sein ›Archaïscher Torso Apollos‹ mit der programmatischen Aufforderung an den zeitgenössischen Rezipienten: »Du mußt dein Leben ändern« –196 sind zugleich Ausdruck der neuartigen Begeisterung für die hellenische Frühzeit und Belege für ihre Vorbildfunktion auch im Bereich der Dichtung. Kulturapologeten wie Nietzsche und der in den 1920er Jahren sehr populäre Spengler begünstigten diese Entwicklung. Nietzsche huldigte dem frühen Griechen als Urbild des vitalistischen Menschen,197 und Spengler beschwor mit seinem Diktum, »[a]m Anfang jeder Kultur« – und damit natürlich auch der griechischen – »steht ein archaischer Stil«, eine beispiellose Faszination für das Urtümliche und Primitive als Vorstufe der hohen Kultur herauf, indem er diesem »etwas Starkes und Ganzes, etwas höchst Lebendiges und Wirkungsvolles« zusprach.198 Diese Frühzeitbegeisterung läßt sich auch für den »Dritten Humanismus« ausmachen, wie nicht allein der verstärkte Rekurs auf die mit dem 193 194 195

196

197 198

Ebd., S. 8. Adolf Furtwängler: Die Aegineten der Glyptothek König Ludwigs I. nach den Resultaten der neuen Bayerischen Ausgrabung. München o. J. [1906], S. 54. Hugo von Hofmannsthal: Augenblicke in Griechenland. In: Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. von Rudolf Hirsch † u. a. Bd. 33: Reden und Aufsätze 2: 1902–1909. Hrsg. von Konrad Heumann und Ellen Ritter. Frankfurt 2009. S. 180–196. Rainer Maria Rilke: Archaïscher Torso Apollos (1908). In: Rilke. Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Manfred Engel u. a. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hrsg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt a. M., Leipzig 1996, S. 513. Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (1872/1886). In: KSA 1, S. 7–156, hier v. a. die Abhandlung über den Satyr als »Urbild des Menschen« (S. 58) in Kap. 7f. (S. 52–64). Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Ungekürzte Sonderausgabe in einem Band (1923). Nachdruck München 1973, S. 77; S. 594.

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Archaischen identifizierten Merkmale Natürlichkeit, Einfachheit und Urtümlichkeit belegt. So hebt beispielsweise Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband – zum Zeitpunkt der Abfassung Student der Altertumswissenschaften in Heidelberg und Mitglied des dortigen George-Kreises – in seinem Begleittext zu einer Fotopublikation archaischer griechischer Plastik, die 1920 erschien, hervor, die frühen Werke griechischer Kunst, besonders die Bildwerke bedeuteten den gewaltigsten Wendepunkt im Kunstschaffen überhaupt. Einer Rakete gleich ging das Leuchtsignal eines europäisch-okzidentalen Willens auf, jene alte Form der Kunst, steril und erstarrt, mit dem neuen Leben zu durchglühen: das Vorbild von Fühlen und Denken, Herz und Geist für den westlichen Menschen wurde.199

Die wachsende und über den innerfachlichen Diskurs herausgreifende Bedeutung des Archaisch-Dorischen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verdeutlicht eine Äußerung Ernst Bertrams. In seiner Rede zum 65. Geburtstag Georges verweist er darauf, wie lange Zeit deutsche Griechendankbarkeit gebraucht hat, um den Weg zurück, den Weg gegen den Zeitenstrom zurückzulegen vom ehedem vergötzten Apoll von Belvedere bis wieder zurück zum strengen Apollon des Westgiebels von Olympia und gar zu den archaischen Apollonbildern des sechsten Jahrhunderts.200

Das Griechische als Inbegriff des Natürlichen, Lebendigen und Schönen Die Populärästhetik des Fin de siècle bestimmte das Bild eines authentischen, gesunden, anmutigen und heroischen Griechentums.201 Diese Vorstellung einer ›apollinischen‹ griechisch-antiken Welt läßt sich im Denken 199

200 201

Woldemar von Uxkull-Gyllenband: Archaische Plastik der Griechen. Berlin 1920. Hier zitiert nach Wolfgang Schuller: Altertumswissenschaftler im George-Kreis: Albrecht von Blumenthal, Alexander von Stauffenberg, Woldemar von Uxkull. In: Wissenschaftler im George-Kreis, S. 209–224, hier S. 213. Ernst Bertram: Möglichkeiten deutscher Klassik. In: Deutsche Gestalten. Fest- und Gedenkreden. Leipzig 1934, S. 246–279, hier S. 272. So heißt es beispielsweise in einem anonymen Bericht über die ›klassische‹ Fastnacht 1898 der Münchner Künstlergesellschaft ›Allotria‹, die unter dem Motto »In Arkadien« stand: »Wodurch die hellenische Welt in ihrer höchsten Blüte ewig bezaubernd bleibt, das ist der Adel der Einfachheit. […] Jugend und Sonne, Schönheit und Würde – das klingt in unserm Herzen mit bei dem Worte Hellas« [Das Münchner Künstlerfest 1898. In: Die Kunst für Alle 13 (1897/1898), hier zitiert nach Pascal Weitmann: Vom Akademismus bis zur Abstraktion. Antiken in der bildenden Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Urgeschichten der Moderne, S. 158–185, hier S. 158].

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der »Dritten Humanisten« von den 1890er Jahren bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs nachweisen. Wie von den Lebensreformern vehement postuliert, betrachteten auch sie das ›Leben‹ als umfassendes Grundprinzip jeglichen Denkens und Handelns, als Richtwert ihrer ethisch-pädagogischen Zielsetzungen. Entsprechend wurde auf das Griechentum eine besondere Vitalität projiziert, die wiederum die Nähe zum modernen Deutschen garantieren sollte. Denn die Deutschen der Gegenwart bestimme der nachdrückliche Wunsch nach Monumentalität, Strenge und Schönheit, also nach Werten, die im griechischen Leben als schon einmal verwirklicht gedacht wurden und – vermittelt durch Relikte aus dieser Kultur – noch immer verfügbar seien. Das Hellenentum wurde demnach weder als tote Macht von lediglich geschichtlichem oder klassizistisch-ästhetischem Interesse oder gar als eine abstrakt-theoretische Größe angesehen, sondern als eine Lebenskraft aufgefaßt, die im Hier und Jetzt noch erfahrbar und damit für das eigene Dasein nutzbar zu machen sei. Den Prozeß des individuellen wie kollektiven Griechisch-Werdens, die Infizierung mit dem hellenischen Lebenselixier, unterstütze aber einzig und allein eine humanistische Bildung. Mit diesem Dogma begründeten die Vertreter des »Dritten Humanismus« den am Griechentum orientierten paideutischen Lebenskult. Zentrales Theorem war die idealisierte Deutung der Hellenen als wahrhaftiges und unverfälschtes Leben transportierendes Kulturvolk. Mit griechisch-antikem Leben wurde die höchste Stufe der menschlichen Kultur gleichgesetzt, in der noch ein ›Gesamtmenschentum‹ möglich, ja – wie es Gundolf in seinem ›George‹ herausstellt – die »bisher reinste[…] Form des ›ewigen Menschtums‹«202 verwirklicht gewesen sei. Nach Ansicht Jaegers, Sprangers, aber auch Georges und seiner Anhänger zeichnet einen ganzheitlichen, im griechischen Sinne gebildeten Menschen die Vereinigung der Eigenschaften Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, Jugendlichkeit, Reinheit sowie Gesundheit und Schönheit im Selbst aus. Diese als Leben bestimmend und Kultur befördernd gedachten Faktoren, die sich der griechischantiken Kunst und Literatur entnehmen ließen, seien für die propagierte nationale Restauration heranzuziehen: Denn »das Erlebnis der Griechen in ihrer freischöpferischen Naturkraft und Originalität, ihrem Sinn für das Ganze und ihrer souveränen Lebenshaltung« sei, mit Jaeger gesprochen, der hier stellvertretend für alle »Dritten Humanisten« zitiert werden kann, das stimulierende Moment, »was die jugendlichen, revolutionären Zeitalter in ihrem schweren Kampf gegen die Tradition stärkt und begeistert«.203 202 203

Friedrich Gundolf: George. Berlin, Leipzig 1920, S. 26. Jaeger: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. In: HRV, S. 28.

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Vor diesem Hintergrund stellten die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eng miteinander verzahnten Begrifflichkeiten Natur bzw. Naturnähe, Leben, Jugend und Schönheit Epochenchiffren für das griechische Altertum dar. Zugleich fungierten sie als Sinnbilder für das aufbruchbereite, Veränderungen befördernde ›junge‹ deutsche Volk der Jahre 1813/ 1815, 1870/1871 und 1914/1918, das die Nationalgeschichte so entscheidend prägte bzw. prägen sollte. Unter Bezugnahme auf die genannten Qualitäten zeichneten die Vertreter des »Dritten Humanismus« in einem metaphysischen Diskurs das Bild einer am antiken Hellas – dem Jünglingsalter der Menschheit – orientierten deutschen ›Jugendkultur‹ und entwickelten die Utopie eines kommenden deutschen ›Jugendreiches‹. So läßt sich in ihren Schriften die Konnotation von Hellenentum mit dem Wortfeld Natur in der Bedeutung von Natürlichkeit, Ursprungsnähe und Originalität immer wieder nachweisen. Jaeger hebt beispielsweise in seiner dreibändigen Studie zur »Formung des griechischen Menschen« – so der Untertitel seiner ›Paideia‹ – die Natürlichkeit als ein herausragendes Charakteristikum des hellenischen Volkes hervor. Er definiert sie dort als »spontane Munterkeit, leichte Beweglichkeit und innere Freiheit«204 des Geistes, mit der die Gesetzmäßigkeiten des Lebens intuitiv in ihrer organischen Beschaffenheit erkannt würden. In einem kurzen Beitrag über den Nutzen des altsprachlichen Gymnasiums für die deutsche Jugendbildung verweist Friedländer auf die stärkende und heilsame Bedeutung der griechischen »Urphänomene« Ursprungsnähe und Einfachheit.205 Dabei verbindet er mit diesen Attributen die Fähigkeit, den natürlichen Kern eines Phänomens oder den zentralen Gehalt einer Idee, d. h. ihre einfachste Form oder ihren Ursprung, zu erkennen, anstatt sich von ihrer Komplexität verwirren zu lassen. Das hier erwähnte, als spezifisch griechisch identifizierte Epitheton Ursprungsnähe deutet bereits auf eine weitere Zuschreibung hin, die im »Dritten Humanismus« vorgenommen wurde: Die Fähigkeit, wahres Leben bzw. wirkliche Lebendigkeit zu transportieren, projizierte man auf die Hellenen. Entsprechend erklärt Jaeger das Griechentum im Superlativ zur »originalsten und fruchtbarsten aller dagewesenen Kulturen«,206 d. h. als die Kultur, die das meiste Leben in sich trage und es auch weitergeben könne. Spranger schrieb den Griechen die Eigenschaft zu, »die großen Grundmotive des Lebens«207 in sich zu vereinigen. Auch in die poetischen 204 205 206 207

Ders.: Paideia. Bd. 1, S. 9. Vgl. Paul Friedländer: Die Idee des Gymnasiums, S. 36. Jaeger: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. In: HRV, S. 18. Spranger: Humanismus und Jugendpsychologie, S. 18.

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Texte und wissenschaftlichen Schriften des George-Kreises ging das Motiv von der Sonne Hellas’ ein, die ihre Leben erhaltenden und befördernden Strahlen auf die kommenden Deutschen aussende.208 So bezog George die als originär griechisch erachteten Charakteristika Reinheit, Natürlichkeit, Anmut, Vitalität und Ursprünglichkeit in einer Gedichtstrophe prägnant auf eine künftige apollinisch-deutsche Jugend, die vom hellenischen Lichtstrahl getroffen worden sei: Im letzten Lied des Sammelbandes ›Das Neue Reich‹, mit dem George 1928 seine Werkausgabe beschließt, und damit an prominenter Stelle des Gesamtwerkes, werden die im neuen ›Geist‹ Heranwachsenden als »schlank und rein wie eine flamme« charakterisiert, was als Entsprechung des Geradheits- und Reinheitspostulats zu gelten hat. Zugleich beschreibt er sie als Inbegriff des Leuchtenden und Schönen mit den Worten »wie der morgen zart und licht« und als Verkörperung des würdevollen, adligen Lebens – »blühend reis vom edlen stamme«. Auf die Ursprünglichkeit, die Simplizität und die Authentizität, die sie verkörperten, verweist er mit dem abschließenden Vers »Du wie ein quell geheim und schlicht«.209 Eng verbunden mit diesen dem Griechentum zugeschriebenen Qualitäten war der Jugend-Mythos. Als zeitenthobenes und altersungebundenes kulturschaffendes Prinzip bezeichnete Jugend bzw. Jugendlichkeit um 1900 alles Unverbrauchte, Frische, Ursprüngliche, Spontane, Kreative und zur Tat Drängende, das eine bessere Zeit hervorzubringen vermöge. Jugend wurde in diesem übertragenen Sinn nicht auf einen biologischen Lebensabschnitt bezogen, sondern verwies auf diejenigen, »deren Tätigkeit in die Zukunft weist«.210 Entsprechend transportierte der zeitgenössische kulturelle Epochen- bzw. Stilbegriff ›Jugendstil‹ nicht einfach die Darstellungs- und Ausdrucksweise der jungen Generation, sondern implizierte vielmehr die Zielsetzung, Leben und Kunst wieder auf organische Weise miteinander zu verschmelzen.

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209 210

Vgl. beispielsweise den bekannten Aphorismus ›Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel …‹ [BfdK 4 (1897), Heft 1/2, S. 4] oder den Gedichtzyklus ›Hyperion‹, in dem die kommenden Deutsch-Griechen als »sonnen-erben« (George: SW IX, S. 14) bezeichnet werden. Stefan George: Du schlank und rein wie eine flamme (zwischen 07/1918–10/1919). In: SW IX, S. 111 (hier alle George-Zitate). Walther Rathenau, 1922, zitiert nach Jürgen Reulecke: Männerbund versus Familie. Bürgerliche Jugendbewegung und Familie in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz und Frank Trommler (Hrsgg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend. Frankfurt a. M. 1985 (= es 1229, N. F. 229), S. 199–223, hier S. 211.

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Die Entdeckung der Jugend Der Appell an Jugendlichkeit avancierte neben der postulierten Erfahrung des wirklichen Lebens zu einer prominenten Parole des gesellschaftlichen Aufbruchs in eine bessere Zukunft. Im Zeitraum von 1890 bis ca. 1930 propagierten in der Nachfolge Nietzsches viele Vertreter der deutschen geistigen Avantgarde eine kulturelle und nationale Restauration durch eine ›neue‹ Jugend. Auch die Anhänger des »Dritten Humanismus« verbanden mit den heranwachsenden Männern die Hoffnung, daß diese »die Kraft haben« werden, »die Götter aufzurufen u. das Starre u. Hohle in unserer Kultur zu wandeln«,211 wie es Jaeger prägnant in einem Brief an seinen akademischen Lehrer Weihnachten 1918 formulierte. Rund zwanzig Jahre zuvor hatte bereits George in einem der titellosen Aphorismen, die der dritten Folge der ›Blätter für die Kunst‹ vorangestellt wurden, die Utopie einer »werdende[n] jugend« entworfen, die in sich das Potential trage, »den vom alter tot zurückgelassenen formen in unerwarteter weise neues und glühendes leben ein[zu]hauchen«,212 und auch Gundolf charakterisierte 1910 in seiner George-Biographie die projektierte deutsche Jugend als »eine Weltkraft, […] eine geistig sinnliche Urform des Menschtums«.213 Vor diesem Hintergrund erklärten es Georgeaner, Jaeger und Spranger zu ihrem primären Anliegen, durch humanistische Bildung diese Jugendelite zu formen, die die als notwendig erachtete nationale, gesellschaftliche und kulturelle Umgestaltung durchzuführen vermöge. Zum Vorbild des jungen Deutschland stilisierten sie das ewig junge Griechentum, die »Morgenfrische der Völkerjugend«.214 Die populäre Vorstellung vom alten Hellas als Jugend der Menschheit stellt aber keineswegs eine originäre Erfindung der modernen Kulturkritik oder gar des »Dritten Humanismus« dar, sondern läßt sich bereits in der Antike belegen. So charakterisierte Plutarch im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Bauten, die in Perikles’ Auftrag auf der athenischen Akropolis errichtet worden waren, als Sinnbild ewiger Jugend.215 Starke Verbreitung und Beachtung fand 211 212 213 214 215

Jaeger an Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, 26.12.1918. In: Ulrich von WilamowitzMoellendorff. Selected Correspondence, S. 189f. (Nr. 9a), hier S. 190. BfdK 3 (1896), Heft 4, S. 97. Gundolf: George, S. 205. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 8. Vgl. Plutarch: Perikles. In: Große Griechen und Römer. Bd. 2. Eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler. 2. Aufl. Zürich, München 1979 (= Bibliothek der alten Welt 1979), S. 107–157, hier S. 124 [13,3]: »Um so mehr müssen wir die Bauten des Perikles bewundern: in kurzer Zeit wurden sie geschaffen für ewige Zeit. Ihre Schönheit gab ihnen sogleich die Würde des Alters, ihre lebendige Kraft schenkt ihnen bis auf den heutigen Tag den Reiz der Neuheit und Frische. So liegt ein Hauch immerwährender Jugend über diesen Werken, die

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die Analogie – die antiken Griechen als Jugendliche bzw. Kinder der universalen Menschheit – allerdings erst durch Herder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der diese Vorstellung mit organologischen Denkmustern verknüpfte. In seiner Streitschrift ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ bezeichnete er Hellas als die Wiege der Menschlichkeit, der Völkerliebe, der schönen Gesetzgebung, des Angenehmsten, in Religion, Sitten, Schreibart, Dichtung, Gebräuchen und Künsten. – Alles Jugendfreude, Grazie, Spiel und Liebe!216

Herder erklärte das kindliche Griechentum zum Inbegriff eines gesunden und lebendigen Naturzustandes, der die positiv konnotierten Eigenschaften Authentizität, Vitalität und unverfälschte, natürliche Spontaneität in sich vereinige. Bereits in dieser frühen Projektion wurden die mit der Kindheitsvorstellung ebenfalls zu assoziierenden negativen Merkmale Unwissenheit, mangelnde Urteilskraft und geistige Unterlegenheit gegenüber dem ›aufgeklärten‹ Erwachsenen ausgeklammert. Die positiven Besetzungen des Kindheits- und Jugendbegriffs, die besonders die Romantiker kultivierten, waren jedoch nicht in das bürgerliche Gesellschaftsbild des 19. Jahrhunderts integriert worden: So bewertete man bis in die 1890er Jahre hinein die Jugend als lediglich biologisches Übergangsstadium zum Erwachsensein, das es möglichst schnell zu durchlaufen gelte. Der Eigenschaft Jugendlichkeit wurde pejorativ der Beigeschmack des Unreifen, Unerfahrenen und Ungezügelten attestiert, dem nur durch strenge Kontrolle und harsche Disziplinierung Einhalt zu gebieten sei.217 Diese Einstellung kritisierte nun George vehement und stellte ihr seine idealisierte Sicht von der Jugend als Qualität, als ein Leben zeugender ›ver sacrum‹ an die Seite. In der zwischen April 1904 und dem Winter 1906 entstandenen ›Vorrede zu Maximin‹ spielt er auf ihr vermeintliches Erneuerungspotential an, indem er betont, »dass nur greisenhafte zeitalter in jugend ausschliesslich vorstufe und zurichtung · niemals gipfel und vollendung sehen«.218

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217 218

Zeit geht vorüber, ohne ihnen etwas anzuhaben, als atmete in ihnen ein ewig blühendes Leben, eine nie alternde Seele.« – Siehe auch Settis: Die Zukunft des »Klassischen«, S. 72. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts (1774). In: Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Günter Arnold u. v. a. Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1994 (= Bibliothek deutscher Klassiker 105), S. 9–107, hier S. 27. Vgl. Kolk: Zucht und Hoffnung, S. 141f. Stefan George: Vorrede zu Maximin (zwischen 04/1904–12/1906). In: SW XVII, S. 61–66, hier S. 64.

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Die gerade an George konstatierte Tendenz, den Jugendbegriff nunmehr positiv auszudeuten, war ein zeittypisches Phänomen. Mit der Jahrhundertwende setzte sukzessive eine Umwertung, ja sogar »Entwertung des Primats von alt, Alter, Anciennität, Erfahrung zugunsten von jung, Jugend, Neuheit und jugendlicher Vitalität«219 ein. In der Folge avancierte Jugend als ein vom biologischen Alter unabhängiges seelisch-körperliches Prädikat, das erst verdient werden müsse, zur programmatischen »Metapher der Moderne«, zum anregenden »gesellschaftliche[n] Innovationskonzept« gegenüber einer morsch gewordenen, altersschwachen Ordnung.220 Diese Konnotation von Jugend als Motor einer kommenden Revolution korrespondierte mit einem zyklischen Geschichtsbild und dem daraus abgeleiteten optimistischen Zukunftsbegriff der Zeit.221 Das neue, von außen als antibürgerlich wahrgenommene Lebensgefühl der jungen Generation erlangte in der Jugendbewegung besonders starken Widerhall und eine praktische Umsetzung. In ihr wurden alternative, kultartige Lebensformen abseits vom pulsierenden Großstadtleben in der freien ›atmenden‹ Natur praktiziert. Durch das Besinnen auf natürlich-urtümliche, einfache und kreative Lebensformen sollte die verlorengeglaubte Ganzheitlichkeit für den modernen Menschen wiedererlangt werden. Den beklagten Vereinsamungs- und Verstädterungstendenzen des Individuums im Massenzeitalter begegnete man mit einem Gemeinschaftserlebnis auf den Fahrten in die bäuerlich-ländliche Welt.222 Impulse für das eigene, gegen die bürgerlichen Konventionen gerichtete Handeln entnahmen die jungen Männer der Literatur. Besonderen Anklang fanden neben Nietzsches Schriften Hölderlins Oden und vor allem sein ›Hyperion‹ sowie Rilkes und Georges gegen die Gegenwart gerichtete Gedichte, die eine ästhetische Durchdringung des Lebens nach

219 220

221

222

Heiko Stoff: Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 217. Ebd., S. 218. – Zum neuen Leitbild der Jugend und seinen Implikationen vgl. auch Walter Rüegg: Jugend und Gesellschaft um 1900 (1973). In: Bedrohte Lebensordnung. Studien zur humanistischen Soziologie. Zum 60. Geburtstag von Walter Rüegg am 4. April 1978. Hrsg. von Ruth Meyer. Zürich, München 1978, S. 81–91. Vgl. z. B. den Aphorismus ›Neue Träume‹ [BfdK 5 (1900/1901), S. 4]; hier wird statuiert: »Die jugend die wir vor uns sehen gestattet uns den glauben an eine nächste zukunft mit höherer lebensauffassung vornehmerer führung und innigerem schönheitsbedürfnis.« Zur Jugendbewegung vgl. einführend Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. München 1987 (= Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), S. 11–42; Koebner, Janz, Trommler (Hrsgg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«.

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antikem Vorbild propagieren.223 Gerade Georges spätere Sammelbände – ›Der Siebente Ring‹ aus dem Jahr 1907, ›Der Stern des Bundes‹ aus dem Kriegsjahr 1914 und ›Das Neue Reich‹ von 1928 – verherrlichen die kollektiven Tugenden Gehorsam, Zucht und Opferwille, zu denen die Kouroi der griechischen Polis-Gesellschaft in Vorbereitung auf spätere Gemeinschaftsaufgaben erzogen wurden. Aber bereits die frühen George-Gedichte ›Der Auszug der Erstlinge‹ und ›Das Geheimopfer‹ aus der Sammlung ›Hirten- und Preisgedichte‹, die 1895 zum Druck kam, sind als erste Anspielungen auf die Kulturmission zu lesen, die der kommenden Jugend auferlegt werden sollte. Sie beschreiben mythisch-antike Auszugs- bzw. Opferriten, die den Abschied der Kindheit und damit den Eintritt in das aktive Gemeinschaftsleben symbolisieren. In dem erstgenannten Gedicht verlassen auserwählte Jünglinge zu Beginn des Frühlings, mit dem eine neue Zeit anbricht, ihre Heimat guten Mutes und voller Vorfreude auf das Kommende. Sie sind sich ihrer gemeinschaftlichen Verpflichtung bewußt und vertrauen selbstbewußt auf ihre Fähigkeiten: Wir schieden leicht · nicht eines hat von uns geweint · Denn was wir tun gereicht den unsrigen zum heil. […] Wir ziehen gern: ein schönes ziel ist uns gewiss Wir ziehen froh: die götter ebnen uns die bahn.224

Im zweiten werden noch eindringlicher die den Heranwachsenden unwiderruflich auferlegten ›gesellschaftlichen‹ Pflichten mit dem Beginn eines neuen Lebensabschnitts verbunden: Wir hörten den ruf Der dröhnend uns zieht Zum tempel zum dienst Des Schönen: des Höchsten und Grössten.225

Auf die enge Verzahnung von Kulturkritik, Jugendbewegung, Griechenrezeption und »Drittem Humanismus«, die bereits diese Gedichte signalisieren, spielte schon Spranger zu Beginn der 1920er Jahre an, wenn er in bezug auf Georges Œuvre konstatiert: »Wo wir also unter der heutigen Jugend Georgefreunde finden, ist dies ein Hinweis, daß auch die Grie223 224 225

Vgl. Hubert Cancik: Jugendbewegung und klassische Antike (1901–1933). In: Urgeschichten der Moderne, S. 114–135, hier S. 115. Stefan George: Der Auszug der Erstlinge (wohl 1893/1894). In: SW III, S. 20. Ders.: Das Geheimopfer (wohl 1893/1894). In: SW III, S. 21.

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chenfreunde nicht fern sind.«226 Aber auch Georges Schüler, Jaeger und nicht zuletzt Spranger selbst präsentieren in ihren Schriften und öffentlichen Vorträgen die Jugendbewegung als Ausdruck des kollektiven Kulturwillens, die als mechanisiert und leblos erfahrene Gegenwart in ein Deutsch-Hellas zu verwandeln, als dessen ästhetische Grundfeste Ursprünglichkeit, Reinheit und Schönheit angesehen werden. Die als originär griechisch identifizierten Formen des Erlebens und Zusammenlebens, wie sie gegenwärtig von den Heranwachsenden im Kollektiv praktiziert würden, führt Spranger auf den Wunsch nach einem ganzheitlichen Leben und einer organischen Eingliederung ins Volksganze zurück. Er betont, daß für die jugendbewegten Männer, die sich vorwiegend aus dem gebildeten Bürgertum rekrutierten und entsprechend eine gymnasiale, d. h. griechisch-humanistische Ausbildung genossen, die PolisOrdnung das Modell einer organischen Gemeinschaftsorganisation darstelle; jene bilde den Bezugspunkt »der tiefsten und lebendigsten Berührung zwischen unserer Zeit und dem Altertum«.227 Denn im Athen des Perikleischen Zeitalters hätten die Kouroi aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Fertigkeiten, die sie in Agones unter Beweis stellen konnten, den Stolz und Respekt der Älteren auf sich zu ziehen vermocht. Gemäß dem Vorbild der jungen Griechen strebten nun ihre deutschen Altersgenossen nach Kalokagathie, um schließlich für die eigene Geformtheit gleichsam Lob und Anerkennung zu erwerben. Den gewünschten ganzheitlichen Bildungsprozeß sollten in der Gegenwart die Fahrten in die Natur mit ihren körperlichen und geistigen Beanspruchungen unterstützen – man denke etwa an die physischen Herausforderungen, die die langen Märsche und das einfache, entbehrungsreiche Leben darstellten, aber auch an die Wettkämpfe und volkstümlichen Spiele, wie sie z. B. auf dem Hohen Meißner 1913 abgehalten wurden, und an die vielen fremden Sinneseindrücke und Urerfahrungen, die während der Wanderungen und Lager verarbeitet werden mußten. Vor diesem Hintergrund ließen sich die Unternehmungen der fahrenden Jugend mit Spranger als ein effizienter Weg proklamieren, den verlorengeglaubten »ursprünglichen Lebensgehalt«228 wiederzuerlangen und auf dieser Basis die gesellschaftliche und nationale Umgestaltung einzuleiten und zu vollziehen. Diese am Griechentum genährte Sehnsucht nach Leben und Jungsein sowie das kulturreformerische Ethos in einer kleinen Gemeinschaft wur226 227 228

Spranger: Humanismus und Jugendpsychologie, S. 22. Ebd., S. 28. Ebd.

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den von allen Vertretern des »Dritten Humanismus« als Indizien dafür gewertet, daß die ›deutsche Art‹ in sich ein allgemeines schöpferisches Vermögen trage und daher befähigt sei, eine produktive Verbindung von ›modernem‹ und ›antikem Geist‹ zu initiieren. Entsprechend deutete Spranger die Jugendbewegung als erste Gestaltwerdung des »neuen Sinn[s] des dritten Humanismus, in dessen Anfängen wir heute stehen«.229 Zugleich ließ sich über die Berufung auf den Jugendlichkeitstopos – »Die jugend die wir vor uns sehen gestattet uns den glauben an eine nächste zukunft mit höherer lebensauffassung vornehmerer führung und innigerem schönheitsbedürfnis.« –230 die Verbindung zu einer früheren Blütezeit der deutschen Literatur und Kultur herstellen, dem Zeitraum von etwa 1750–1830, der durch das selbstbewußte Freiheitsbegehren ›revolutionärer‹ jugendlicher Künstler eingeleitet wurde: zu den Mitgliedern des Göttinger Hainbundes, den Stürmern und Drängern in Straßburg sowie den Romantikern und Klassikern, die mit ihrem Aufbegehren gegen zeitgenössische Tendenzen und ihrer Emanzipation vom Leitbild Frankreich maßgeblich zum Entstehen eines spezifisch deutschen Nationalbewußtseins beigetragen hatten. Die im zitierten Aphorismus aus den ›Blättern für die Kunst‹ vorgenommene Rückbindung des Jugendlichkeitstopos an die Schaffensgeschichte erfolgreicher deutscher Schriftsteller und Denker bot den Vertretern des »Dritten Humanismus« zwei Vorteile: Zum einen wurde so die Legitimation des eigenen radikalen Innovationsanspruchs erleichtert, andererseits konnte als effiziente Strategie, das eigene scheinbar ›unzeitgemäße‹ Vorgehen zu rechtfertigen, auf die Wirksamkeit jugendlichen Handelns hinsichtlich der anvisierten nationalen Identitäts- und Stil-Bildung verwiesen werden. Die Kunst als Bezwingerin des Lebens: Stil-Bildung als Mittel nationaler Neukonstituierung Um 1900 identifizierten Kulturkritiker und Erneuerungspropheten den ›deutschen Nationalcharakter‹ in seiner gegenwärtigen Realisation als formlos, roh und ohne innere Einheit. Die konstatierte Gestaltlosigkeit machten sie verantwortlich für das Fehlen eines Nationalstils als ›Sehform‹ des kollektiven Wollens, der das kulturelle und politische Leben der gesamten Nation befördere, zusammenbindend und gemeinschaftsstiftend wirke und ihr übernationale Geltung verschaffe. 229 230

Ebd. Neue Träume. In: BfdK 5 (1900/1901), S. 4.

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Diesem Analogiedenken – Nationalstil als Ausdruck eines geformten Nationalcharakters – lag die in der zeitgenössischen Kunstwissenschaft im Umkreis der Wiener Schule fortentwickelte herdersche Vorstellung zugrunde, daß alle (nicht nur die dem engen künstlerischen Bereich zuzuordnenden) Hervorbringungen eines kulturell hochstehenden Volkes ein gestalterisches Prinzip bedinge, das ihnen eine charakteristische äußere Gestalt und Form verleihe; Gestalt und Form wiederum verwiesen auf ein zusammenhängendes inneres Ganzes, auf einen spezifischen Kulturstil. Die Idee der Prägung von Kulturstilen durch morphologische Gesetzmäßigkeiten und ihre Dechiffrierung unter Zuhilfenahme formanalytischer Kriterien avancierte um 1900 zu einem über die Kunstgeschichte hinausgreifenden ideengeschichtlichen Allgemeingut, das vor allem von konservativen Denkern für ihre theoretischen Restaurationsentwürfe vereinnahmt wurde.231 Die vehement vorgetragene Klage der deutschen ›Mandarine‹ über die Roheit und Formlosigkeit des Nationalcharakters implizierte das Eingeständnis der eigenen kulturellen Rückständigkeit, das in einer Zeit, die von imperialistischen Bestrebungen und internationalem Kräftemessen – dem Kampf um den sprichwörtlichen Platz an der Sonne – regiert wurde, als besonders schmerzhaft empfunden werden mußte. Denn mit der Abwertung der eigenen nationalen Kunstproduktion und des kulturellen Lebens wurde der deutschen Identität, der bereits – so jedenfalls dachte die überwiegende Mehrzahl – das Stigma der verspäteten Nationsgründung anhaftete, eine weitere Legitimationsmöglichkeit genommen, da sich die Berufung auf den alten sinnstiftenden Mythos vom ›Volk der Dichter und Denker‹ nun als wirkungslos erwies. Beides, die als bedrückend empfundene eigene Degradierung und daraus resultierend der dringende Wunsch nach weltweitem Führungsanspruch in kultureller wie politischer Hinsicht, forderte das Denken und Handeln der »Dritten Humanisten« heraus. In scheinbarem Widerspruch zum Appell, sich auf archaische – hier in der Grundbedeutung ›mit dem Ursprung des Seins verbundene‹ – Grundprinzipien des Lebens zu besinnen, zeigten sie sich bestrebt, den als dekadent und strukturlos wahrgenommenen gegenwärtigen Naturalismus durch Initiierung einer geistvollen, genuin-deutschen ›geschlossenen‹ Ausdrucksform mit Hilfe der 231

Vgl. hierzu – allerdings mit Bezug auf Oswald Spengler – Hans-Jürgen Bienefeld: Physiognomischer Skeptizismus. Oswald Spenglers »Morphologie der Weltgeschichte« im Kontext zeitgenössischer Kunsttheorien. In: Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur. Hrsg. von Wolfgang Bialas und Burkhard Stenzel. Weimar, Köln, Wien 1996, S. 143–155, hier besonders S. 152.

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Kunst zu überwinden. Sie betrachteten es als Verpflichtung, in Deutschland wieder eine echte Kunst bzw. echte Bildung zu institutionalisieren, die Abbild des wahren ›deutschen Seins‹, seines wirklichen Stils sei. Die Zielsetzung, aus dem Geist der Kunst den Nationalcharakter entstehen zu lassen, war um 1900 nicht originell. Aber anders als völkische Denker wie beispielsweise der ›Rembrandtdeutsche‹ Langbehn, der einer urwüchsigen und von allen Volksangehörigen getragenen ›nordischen‹ Kunstrichtung diese Aufgabe übertrug, plädierten gerade die Georgeaner mit ihrem Selbstverständnis als kulturpolitische Avantgarde für eine elitäre hohe Kunst, die sich durch ästhetische Formvollendetheit und ethischen Gehalt auszeichne. So betonten bereits die Dichter des ›Blätter‹-Kreises in der Einleitung ihrer ›Auslese aus den Jahren 1892–98‹ die Absicht, mit ihrer Poesie »gegen das unvornehme geräusch des tages der schönheit und dem geschmack wieder zum siege zu verhelfen«.232 Dieser Anspruch wirkte in einem späteren Aphorismus der Dichterrunde, dem 1901 entstandenen ›Die Deutsche Geste‹, nach; eben diesen Sinnspruch sollte dann rund zehn Jahre später Karl Wolfskehl in einem ›Jahrbuch‹-Aufsatz aufgreifen und deutlich mit der kulturpolitischen Sendung des GeorgeKreises verknüpfen. An entscheidender Stelle seines Beitrages heißt es: Wir aber sind künstler und unser streben geht dahin: dem deutschen wesen den eingeborenen ausdruck zu verleihen der ihm bis jezt versagt geblieben ist. ›Dass der Deutsche endlich einmal eine geste: die deutsche geste bekomme – das ist ihm wichtiger als zehn eroberte provinzen.‹ Denn damit wäre das tiefe dunkle lebensgefühl, das deutsche pathos endlich und endgültig form geworden.233

Für die Realisierung des Bestrebens, den charakteristischen inneren Gehalt des ›deutschen Wesens‹ aufzuspüren und in eine wahrnehmbare äußere Form zu bringen, waren zwei zeitgenössische Tendenzen ausschlaggebend: zum einen die Neubewertung des Archaischen und Unkultivierten und zum anderen Nietzsches ideologisierende Tragödientheorie, die Kunst und Leben miteinander zu verbinden suchte. Die Aufwertung alles Urtümlichen führte dazu, daß die radikale ›Deutschenschelte‹ um 1900 ins Positive gewendet und zum Charisma des Unverbrauchten stilisiert werden konnte: Das Rohe und Ungeformte des Nationalcharakters, das man bisher vehement angeprangert hatte, wurde nun als authentische, natür232 233

Blätter für die Kunst (= BfdK). Begründet von Stefan George. Hrsg. von Carl August Klein. Eine Auslese aus den Jahren 1892–98. Berlin 1899, S. 5. Wolfskehl: Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur, S. 16. – Der hier zitierte Aphorismus ›Die Deutsche Geste‹ wurde abgedruckt in BfdK 5 (1900/1901), S. 3.

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liche, fruchtbare, aber unkultivierte Substanz begriffen. Diese »vaterländische brache« –234 eine Metapher Georges – müsse weniger ausgemerzt, sondern vielmehr beackert werden, damit später gute Saat aufgehen könne. Das noch ungenutzte Urmaterial des ›deutschen Seins‹ wollte man unter Zuhilfenahme von Nietzsches apollinisch-dionysischem Harmoniemodell durch Stimulierung eines natürlichen Formtriebs kultivieren. Bereits dem oben zitierten Ausspruch Wolfskehls lassen sich Denkmuster Nietzsches entnehmen: Mit den Formulierungen »tiefes dunkles Lebensgefühl« und »Pathos« ruft er die tragisch-pessimistische, aber zugleich immens produktive Grundstimmung hervor, die für Nietzsches Schriften charakteristisch ist. Indem er die kommenden Deutschen wie die vorklassischen Griechen Nietzsches als tragisch-schöpferisches Volk deutet, zieht er den Analogieschluß, daß auch jenen die diese auszeichnende sinnstiftende Kraft und Kulturstärke als Resultat eines vom Leiden gezeichneten Bildungsprozesses sicher sei. Unter Berufung auf die Vorstellung des Zusammenspiels, in Nietzsches Worten des »Bruderbund[es]« von dionysisch-vitalistischen Urtrieben und apollinischen Kräften als Prinzipien von Kunst und Leben,235 postulierten die Vertreter des »Dritten Humanismus« (und hier distanzierten sie sich wieder von Nietzsche), den ›deutschen Nationalcharakter‹ in seiner äußeren, physischen Erscheinung wie seelischen Eigenart durch »›Gestalt‹ als Begrenzung seiner selbst«236 und zugleich mittels Bündelung aller divergierenden Einzeltriebe herauszubilden bzw. abzubilden. Dabei gelte es, einem ungesunden Übergewicht des instinkthaften, vitalistischen Dranges nach Naturverbundenheit, ewigem Werden, Originalität und Authentizität mit dem begrenzenden und zügelnden Einfluß der Kunstgesetze Maß, Ordnung und Form entgegenzusteuern, um so Kalokagathie – Gesundheit, Schönheit und Reinheit im Geistigen wie im Körperlichen – zu evozieren. Andererseits wirke eine absolute Herrschaft des Apollinischen zerstörerisch, denn diese müßte ohne Ergänzung des überströmenden Lebendigen zu toter Erstarrung führen. Nur durch eine mühsam erarbeitete, einander im Gleichgewicht haltende Polarität von Rauschhaft-Dionysischem und kultivierter apollinischer Mäßigung sei die dem ›deutschen Nationalcharakter‹ eingeprägte innere Form freizulegen und zu visualisieren. In der Folge werde dieser ein solcher äußerer Kontur verliehen, der – unter Berücksichtigung der si234 235 236

Vgl. Stefan George: Ein Gleiches. In: SW VI/VII, S. 187. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: KSA 1, S. 139f. Groppe: Die Macht der Bildung, S. 439 (mit Bezug auf Bertrams Nietzsche-Deutung).

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tuativen geistigen Erfordernisse der Zeit – Leben und Kunst auszusöhnen vermöge und dadurch Kultur schaffe, d. h. durch Stein, Buchstabe oder Ton bleibenden Sinn stifte, ebenso wie währenden Stil und zeitbeständige Form. Denn gemäß den in der Tragödienschrift geäußerten Gedanken ermöglicht lediglich der aktive künstlerische Wille eine sinnliche Vollendung von Ideen und damit ein harmonisches Korrelieren von äußerer dekorativer Form und innerem ethischen Gehalt;237 übertragen auf den »dritthumanistischen« Kontext bedeute dies, daß sich das ›deutsche Sein‹ nur durch tätige, handlungsorientierte Spiegelung an einem kunstsinnigen ›tragischen‹ und damit ausgebildeten ›Volksgeist‹ formen und vollenden könne, um dann schließlich zu sich selbst zurückzufinden. Entsprechend beschreibt es Jaeger als Telos, »darum zu kämpfen, die Formen unseres Seins von innen her mit immer neuem Safte zu durchdringen, sie ständig neu zu erzeugen aus der Wurzel, aus der sie erwachsen sind«.238 Die Funktion einer Kontrastfolie des zu entwickelnden deutschen Stils übernahmen die alten Griechen. Sie boten sich als ideales Vorbild an, weil sie, das Kunstvolk par excellence, nicht nur als »Entdecker der Formgesetze«239 angesehen wurden, sondern auch die Gestaltidee in ihrem ›Wesen‹ umgesetzt hätten.240 Zudem seien sie vor dem Hintergrund des Axioms der ›deutsch-griechischen Wesensverwandtschaft‹ als zweite Natur des ›deutschen Seins‹ zu verstehen. Die literarischen, architektonischen und plastischen Relikte ihrer Kultur aus der homerischen Frühzeit bis zum Tod Alexanders galten per definitionem aufgrund der konstatierten Vollkommenheit, Monumentalität und Formvollendetheit als natürlicher und reiner Ausdruck der menschlichen Natur. Sie transportierten ein gestalterisches Potential, das auf andere, noch unreife Kulturen stimulierend übergreife und eine schöpferische Aneignung des Überkommenen mit dem Anspruch auf Überbietung hervorrufe. So konnte der im Dunstkreis des George-Kreises agierende Archäologe Adolf Furtwängler241 seinen Essay ›Über griechische Kunst‹ mit der festen Überzeugung beschließen: 237 238 239 240 241

Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: KSA 1, S. 25f.; S. 62; S. 64. Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 173. Ders.: Antike und Humanismus (1925). In: Ebd., S. 103–116, hier S. 110. Vgl. ders.: Humanismus und Jugendbildung (1921). In: Ebd., S. 41–67, hier S. 46. Das Ehepaar Furtwängler verkehrte mit Karl Wolfskehl, der bei ihnen »ein gern gesehener Gast« war; die künstlerisch begabte Addy Furtwängler »stand in loser Beziehung« zum George-Kreis, vermittelt durch ihre Freundin Sabine Lepsius [Karl und Hanna Wolfskehl. Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1899–1931. 2 Bde. Hrsg. von Karlhans Kluncker. Amsterdam 1977 (= Publications of the Institute of Germanic Studies University of London 24), hier Bd. 1, S. 315f. (Anm. 712)].

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Im Zusammenhange mit allem, was im neuen Jahrhundert nach einer Gesundung unserer Kultur drängt und treibt, wird die Kenntnis griechischer Kunst ihre Wirkung üben, wird helfen, Verkehrtheiten zu erkennen und zu beseitigen, und helfen, gesundere eigene neue Kultur zu begründen.242

Auf die Vorstellung, daß sich im Mikrokosmos der griechischen Kunst – literarischer wie plastischer bzw. architektonischer Art – allgemeinmenschliche Formgesetze von ungeheuer extravertierter Wirkmächtigkeit manifestieren, bezieht sich auch Gundolf, wenn er ihr das einzigartige Potential zuschreibt, »in allen stilen d e n S t i l , das ewige bild des menschen«,243 zu konservieren. Dieser von Gundolf angesprochene archetypische Formtrieb sei mit Hilfe hermeneutischer Verfahren darstellbar und auf die intendierte gestalterische Ausprägung der ›deutschen Art‹ anzuwenden. Dabei spiele ein bewußter Rückzug in die Innenkultur eine wichtige Rolle. Von der empathischen Analyse der äußeren Form sowohl altgriechischer literarischer Zeugnisse als auch ihrer Artefakte der bildenden Kunst versprach man sich die Dechiffrierung der inneren ›Gestalt‹ des Hellenentums und damit der geistigen Substanz der Zeit.244 Das ›Erleben‹ seiner strengen Formgewalt stimuliere den Wunsch, den eigenen, als dekadent wahrgenommenen Nationalcharakter nach griechischem Muster zu entwickeln. Zugleich initiiere die »Berührung mit dem griechischen Geiste selbst«245 eine gezügelte Eruption der deutschen Eigenart, die dem Sein zwar in tieferen Schichten eingeprägt sei, aber zuvor erst stimuliert werden müsse. Das Aufeinandertreffen des ›faustischen‹, nach Vollendung strebenden deutschen Wesensprinzips – in Nietzsches Modell mit dem Dionysischen gleichzusetzen – mit dem maßvollen, strukturierten griechischen Charakterzug – dem Apollinischen – begünstige die Bändigung aller divergierenden Kräfte und ihre folgende Ordnung zu einem »lebendig wirkenden, umfassenden und befreienden Ganzen«.246 Die Anverwandlung des griechischen »Gedanken[s] des Maßes« gebiete, in Sprangers Worten, »der wallenden Mystik unserer eigenen Seele« Einhalt und vermittele »etwas von jener Ein242 243 244

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Adolf Furtwängler: Über griechische Kunst. In: Deutsche Rundschau 123 (1905), S. 45–59, hier S. 59. Friedrich Gundolf: Über Stil. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2 (1911), S. 116–122, hier S. 117. Vgl. Bruno Snell: Klassische Philologie im Deutschland der zwanziger Jahre (1932). In: Der Weg zum Denken und zur Wahrheit. Studien zur frühgriechischen Sprache. Göttingen 1978 (= Hypomnemata 57), S. 105–121, hier S. 115–118. Spranger: Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung. In: GS 1, S. 89. Schadewaldt: Begriff und Wesen der antiken Klassik, S. 23.

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fachheit, Höhe und Form, die der Deutsche nie aus sich selber zu finden scheint«.247 Eine mögliche Kritik, die der normative Bezug auf altgriechische Kunst und Kultur gerade in radikalnationalistischen und extrem germanophilen Kreisen, die im beständigen Wahn einer Überfremdung des ›deutschen Wesens‹ lebten, heraufbeschwören könnte, wurde von den Vertretern des »Dritten Humanismus« in ihre Argumentation einbezogen und dadurch entschärft. So betonten sie nachdrücklich, daß mit ihrem Programm weder eine Imitation der griechischen Kultur noch eine Vernichtung spezifisch deutscher Wesensmerkmale durch Oktroyierung einer fremden Kultur beabsichtigt sei. Vielmehr könne die griechische Antike als zweite Natur des eigenen Seins der deutschen Kultur dazu verhelfen, zu sich selbst zu finden, weil jene auf die eigenen Ursprünge verweise. Demnach garantiere die Rezeption und Verinnerlichung einzelner griechisch-antiker Kulturelemente und ihre Verbindung mit dem ›deutschen Wesen‹ durch ›aemulatio‹ ein höheres deutsches ›Menschentum‹ für das Hier und Jetzt. Körperkultur und Leibphilosophie In engem Zusammenhang mit der Ambition, eine wirkende »deutsche Geste« zu prägen, stand die gemeinsame Initiative von Kulturkritikern und Lebensreformern, den menschlichen Körper einer Neubewertung zu unterziehen. Dabei wandten sie sich von der lange vorherrschenden Vorstellung ab, der Körper sei Abbild der unveränderlichen Natur, und propagierten eine neuartige Körperpolitik durch geistige Aufladung körperlicher Erscheinung, Haltung und Bewegung als ›Sehform‹ des Seins. Zugleich forcierten sie ein beispielloses Bewußtsein für die Gesundheit des eigenen, individuellen wie auch des kollektiven Körpers, das in der Konsequenz die menschenverachtenden ›eugenischen‹ Eingriffe oder gar die Eliminierung des ›Schädlingskörpers‹ im Nationalsozialismus begünstigen sollte.248 In Absetzung von den prüden Verhaltensmaßregeln der wilhelminischen Gesellschaft – der Anblick des unbekleideten Körpers stellte einen absoluten Tabubruch dar – verwiesen Lebensreformer und Kulturkritiker auf die natürliche, unverstellte Schönheit und Reinheit des 247 248

Spranger: Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung. In: GS 1, S. 89. Vgl. Wolfgang Hardtwig: Einleitung. Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit. In: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939. Göttingen 2005 (= Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 21), S. 7–22, hier S. 18.

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nackten Körpers, die durch eine Erziehung zu neuer Natürlichkeit hervorzubringen sei.249 Diese lebensreformerischen Vorstellungen fanden im graecophilen »Dritten Humanismus« starken Widerhall: Jaeger, Spranger sowie George und seine Anhänger sahen einen am Vorbild der griechischen Antike gestählten maskulinen Körper in Verbindung mit einem entsprechend geprägten Geist als Schutzpanzer an, mit dem sich die Jugend gegen feindliche Zivilisationseinflüsse zur Wehr setzen und den Eroberungszug für eine neue Kulturvorstellung einleiten könne. Bereits in der griechischen Kultur war die natürliche Verbindung von unbekleidetem Körper und harmonischer Kräftebildung angelegt, wie die Verwendung des Morphems ›nackt‹ in den Begriffen ›Gymnasium‹ als dem griechischen Ort des Lernens und ›Gymnastik‹ als Mittel zur Ausbildung von Kalokagathie verdeutlicht. Daneben konnten sich die Vertreter des »Dritten Humanismus« unausgesprochen auf Winckelmanns klassizistische Kunst- und Kulturauffassung berufen, die von seiner Körper- und Sexualmoral stark beeinflußt war. Die als bieder empfundene barocke Kunsttheorie verwerfend, verband Winckelmann mit dem Anblick antiker nackter und wohlgeformter Heroen-Statuen Impulse für die individuelle und kollektive körperlichgeistige Bildung des Betrachters. Denn in diesen Bildwerken als bleibenden Relikten der griechischen Kalokagathie sei der ethische Gehalt des Griechentums sichtbar umgesetzt, d. h. ihm sei mittels der Kunst ein schöner Körper gegeben worden.250 Angeregt durch die pädagogische Komponente des winckelmannschen Nachahmungspostulats sprachen sich Philanthropen wie Johann Bernhard Basedow oder Johann Christoph Friedrich GutsMuths Ende des 18. Jahrhunderts dafür aus, die Griechen nicht nur zu Lehrmeistern einer künstlerisch-ästhetischen Erziehung zu erheben, sondern an ihrem Beispiel auch die praktisch-körperliche Ausbildung voranzutreiben. In seiner Schrift ›Gymnastik für die Jugend‹, einem 1793 erschienenen Buch, das Anleitungen zu gymnastischen Übungen im Freien enthielt, richtete er an die Griechen, das »vortreffliche Volk«, die rhetorische Frage: Du bildetest unsern Geist, warum achteten wir der Lehren nicht, die du uns für die Erhaltung und Verschönerung des Körpers gabst? Gymnastische Übungen machten bey dir den Haupttheil der Jugenderziehung; körperliche 249 250

Vgl. Carola Groppe: Körperkultur. In: DNP 14 (2000), Sp. 1042–1054, hier Sp. 1052. Vgl. Max Kunze: Der »rote Faden« Winckelmanns – Homer. In: Antike neu entdeckt, S. 243–251, hier S. 247.

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Abhärtung, Stärkung, Geschicklichkeit, schönere Bildung, Muth und Gegenwart des Geistes in Gefahren und darauf gegründete Vaterlandsliebe waren ihr Zweck.251

Diese Frage und die ihr unmittelbar nachgeschickte Antwort mußte den Reformern um 1900 – so auch den Anhängern des »Dritten Humanismus« – nicht nur brandaktuell vorkommen, sondern ihnen gleichsam aus dem Herzen sprechen. Die neuartige Aufmerksamkeit, die sie dem Körper zuteil werden ließen, war dem allgemeinen Dekadenzempfinden geschuldet: Kulturkritiker führten den diagnostizierten politischen, gesellschaftlichen, kulturellen sowie moralischen Niedergang Deutschlands auf die physische Schwäche, Nervenzerrüttung und Hysterie des Volkes zurück. Als Abbild der konstatierten allgemeinen Gebrechlichkeit sah man die schlechte körperliche Konstitution des Individuums an, die mit der Entfremdung von der eigenen Natur durch Überbildung begründet wurde.252 Entsprechend entwarfen Karikaturisten die Figur eines häßlichen Deutschen mit entstelltem, degeneriertem Körper; besonders der Gelehrte wurde Opfer einer solchen Verunglimpfung. Denn bei ihm sei der Antagonismus zwischen dem Forschungsobjekt – dem die Sinne ansprechenden, schönen Griechentum – und der eigenen Lebensweise bzw. -gestaltung sowie äußeren Erscheinung besonders eklatant; eine ›gesunde‹ Ausstrahlung des Gegenstandes von Interesse – hier ist vor allem an die griechische Körperkultur zu denken – auf das eigene Leben habe bei ihm nicht stattgefunden. Folglich sollte das geistige Übergewicht, das viele Deutsche regiere, durch ein neuartiges, an der Antike orientiertes Körperbewußtsein ausgeglichen werden. Neben einer intensiven Pflege von Körper und Seele, d. h. Maßnahmen zur Hygiene, Regeneration und Entspannung, bewußten Umgangsformen sowie Geistes- und Willensbildung wurden gymnastische, turnerische und tänzerische Übungen zur Kräftigung wie Disziplinierung von Psyche und Physis empfohlen. Als Resultat dieser neuartigen Körperveredelung übernahm in vielen Lebensbereichen, die zuvor der

251

252

Johann Christoph Friedrich GutsMuths: Gymnastik für die Jugend. Enthaltend eine praktische Anweisung zu Leibesübungen. Ein Beytrag zur nöthigsten Verbesserung der körperlichen Erziehung. Schnepfenthal 1793, S. 145. – Zum Diskurs einer an der griechischen Antike ausgerichteten Körpererziehung zwischen 1790 und 1830 vgl. Honold, S. 99–102; S. 143–146. Vgl. hierzu besonders die Eingaben, die Kritiker einer ›vertrockneten‹ humanistischen Bildung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machten.

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abstrakten, aufgeklärten Ratio vorbehalten waren, das Sinnlich-Körperliche ihre Funktion.253 Auch im künstlerischen und literarischen Bereich ließ sich diese Tendenz beobachten. So wurde vor allem in den Texten des George-Kreises der Körper einer ästhetischen Funktionalisierung unterzogen, die auf klassizistische Theoreme, aber auch auf die platonische Ideenlehre zurückgeführt werden kann. Ganz im Sinne der Leibphilosophie hob man hierbei weniger auf die äußere sichtbare Gestalt ab, sondern nahm vielmehr die harmonische Synthese von Inhalt und Form, Geist und Materie254 im idealschönen beseelten Körper, dem Leib, in den Blick. Dabei korrelierte die Körper- bzw. Leibvorstellung mit der klassizistischen Gestalt-Idee:255 Eine reine, d. h. vollendete, harmonische Gestalt, verstanden als Emanation des Göttlichen, evoziere das ästhetisch-ethische Erlebnis des Kairos, die »Entzückung des Geistes über die ›höchste Schönheit‹«.256 Diese Reaktion wirke wiederum als Reiz und Inspiration, indem sie beim Künstler wie bei Gebildeten schöpferische Kräfte mobilisiere, mit denen von neuem Gestalt und Leib erzeugt würden. Diesen unendlichen Zyklus produktiver Kunstbetrachtungen beschreibt George im ›Stern des Bundes‹ mit den Versen: Ein leib der schön ist wirkt in meinem blut Geist der ich bin umfängt ihn mit entzücken: So wird er neu im werk von geist und blut So wird er mein und dauernd ein entzücken.257

Gundolf zitiert diesen prophetischen Ausspruch Georges in seiner Monumentalbiographie über den Dichter im Kontext der Ausführungen über den pädagogischen Eros. Damit verknüpft er das Gestalt-Denken und die Idee des schönen Leibes mit den Bildungsambitionen des Kreises. Die Georgeaner deuteten die anmutige Gestalt (wie sie sich beispielsweise in griechischen Statuen manifestiere) physiognomisch als Spiegelbild eines schönen Geistes, dessen Merkmale Reinheit und Schärfe des Denkens, 253 254 255

256 257

Vgl. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 146–153. Vgl. Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehung. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2 (1911), S. 10–35, hier S. 18. Zur Gestalt-Idee und seiner inhaltlichen Entwicklung vgl. die umfassende Studie von Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur. Köln, Weimar, Wien 2001 (= Kölner Germanistische Studien, N. F. 2). Werner Strube: Gestalt I. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 3: G–H. Basel 1974, Sp. 540–547, hier Sp. 541. Stefan George: Die einen lehren: irdisch da – dort ewig. In: SW VIII, S. 78.

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ästhetisches Empfindungsvermögen und Ausdruckskraft seien. Zugleich verbanden sie mit dem »schönen Leib« die Vorstellung von vollendeter Harmonie zwischen Materie und Geist. Vor diesem Hintergrund versprachen sie sich von einem Heranwachsenden männlichen Geschlechts mit anmutigem und wohlgeformtem Körper schöpferisches, entwicklungsfähiges Potential. Groppe berichtet in einer Studie zu Erziehungskonzeptionen im George-Kreis von einem hinsichtlich seiner dichterischen Disposition vielversprechenden Aspiranten, der aber von Ernst Morwitz wegen »unterdurchschnittlich[er]« und »unkünstlerisch[er]« Konstitution als »sehr substanzlos« und damit der Gemeinschaft unwürdig abgelehnt wurde.258 Im Rahmen ihres Körper-Geist-Denkens entwickelten die Adepten nach griechischem Vorbild und unter Rückgriff auf platonische Lehrmethoden ganzheitliche Praktiken, die die Ausbildung des männlichen Körpers zu einem vollkommenen, »schönen« Leib begünstigen und aktiv unterstützen sollten. Ältere erteilten den in die charismatische Gemeinschaft berufenen begabten Jugendlichen als Mentoren Anleitungen zur anmutigen Bewegung und Gebärde, führten Sprecherziehung und Rhetorikübungen durch, nahmen Einfluß auf ihre Lektüre und unterstützten sie in ihrem dichterischen Schaffen; auch Erzieherfreundschaften, wie sie Platon im ›Symposion‹ und ›Phaidros‹ darstellt, und homoerotische Tendenzen in Anlehnung an das altgriechische Institut der Knabenliebe wurden zwecks Entfesselung der eigenen Schöpferkraft gutgeheißen.259 Im Gedicht ›Belehrung‹ aus dem Band ›Das Neue Reich‹ ist das Motto einer ästhetisch-erotischen Jugendbildung kodifiziert: ›Lass mich den sinn der in dir ist erfahren Dass du dich in der wahren schönheit zeigst – Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe .. Du musst zu innerst glühn – gleichviel für wen! Mein rechter hörer bist du wenn du liebst.‹260

Aus diesen Versen geht deutlich hervor, daß die gleichgeschlechtliche Liebe eine doppelte Funktion – zum einen als »Initiationsmodus« für die 258

259 260

Vgl. Carola Groppe: »Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe / Mein rechter hörer bist du wenn du liebst.« Erziehungskonzepte und Erziehungsformen im George-Kreis. In: GeorgeJb 2 (1998/1999), S. 107–140, hier S. 125 (mit Bezug auf einen Brief von Ernst Morwitz an Stefan George, 20.06.1913). Vgl. dazu Groppes anschauliche Schilderung über Ernst Morwitz’ Mentorentätigkeit. In: Dies.: Die Macht der Bildung, S. 446–479. Stefan George: Belehrung (vor 10/1914). In: SW IX, S. 87. – Vgl. auch die ›Einleitung‹, die George seiner Übertragung der Shakespeare-Sonette voranstellt (George: SW XII, S. 5).

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eigene produktive Betätigung, zum anderen als Bindeglied der Gemeinschaft – einnahm.261 Auch Gundolf und Wolters betonten in ihrer Einleitung zum dritten ›Jahrbuch‹-Band die herausragende Bedeutung der Liebe für den Bildungsprozeß, wenn sie statuieren: »Ohne diesen Eros halten wir jede erziehung für blosses geschäft oder geschwätz und damit jeden weg zu höherer kultur für versperrt.«262 Bereits die Tatsache, daß sich das körper- bzw. leibzentrierte Bildungsdenken im George-Kreis an platonischen Vorstellungen ausrichtet, verweist auf die besondere Relation von Griechentum, Bildungsdiskurs, Leibphilosophie und Erotik. Deutlich wird die enge Verflechtung dieser Pole am Beispiel des Rekurses auf den griechischen Jüngling, der zum Bildungsideal der deutschen Jugend erhoben wurde. Auf seinen Körper projizierte man die Eigenschaften natürliche Schönheit, Anmut, Würde, Kraft, und seine Gestalt avancierte zum Prototyp des zu erschaffenden Deutschen der Zukunft. In einem frühen ›Blätter‹-Aphorismus verarbeiteten George und seine Mitstreiter diesen Gedanken dichterisch zur Vision eines kommenden jugendlichen Gottes als Produkt einer »transnationalen Synthese«:263 Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel: dass unsre jugend jezt das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: dass sie im leiblichen und geistigen nach schönen maassen sucht: dass sie von der schwärmerei für seichte allgemeine bildung und beglückung sich ebenso gelöst hat als von verjährter lanzknechtischer barbarei: dass sie die steife gradheit sowie das geduckte lastentragende der umlebenden als hässlich vermeidet und freien hauptes schön durch das leben schreiten will: dass sie schliesslich auch ihr volkstum gross und nicht im beschränkten sinne eines stammes auffasst: darin finde man den umschwung des deutschen wesens bei der jahrhundertwende.264

Im sogenannten »Maximin«-Mythos schließlich konnte die georgesche Zielvorstellung, »[d]eutsche Jugend kann den Gott verleiben«,265 im Künstlerisch-Religiösen realisiert werden. Wie in vielen Bereichen des kulturellen Lebens in Deutschland – in Literatur, Film, Fotografie, Malerei und den bildenden Künsten, aber auch im Sport und in der Pädagogik – wurde im Ästhetischen der schöne deutsche Jüngling »als Wieder-

261 262 263 264 265

Vgl. Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk. München 1967, S. 318. Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters: Einleitung der Herausgeber. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 3 (1912), S. III–VIII, hier S. VIf. Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 349. BfdK 4 (1897), Heft 1/2, S. 4 (Hervorhebung BS). Gundolf: George, S. 206.

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geburt des antiken Eros«266 gefeiert und als Künder eines neuen Lebens verehrt. Entsprechend heißt es im Eingangsgedicht des Kultbuches ›Der Stern des Bundes‹ über den heilbringenden »Herr[n] der Wende«: Da kamst du spross aus unsrem eignen stamm Schön wie kein bild und greifbar wie kein traum Im nackten glanz des gottes uns entgegen: Da troff erfüllung aus geweihten händen Da ward es licht und alles sehnen schwieg.267

Diese Vision von einer hellenisch-deutschen Schöpfergottheit nährte ein überreligiöses, nahezu pantheistisch-antikisierendes Kredo, das auf dem Glauben an die Idee von der Gestaltwerdung des Gottes im schönen Leib – »DER LEIB SEI DER GOTT«268 – basierte. Das lebende Marmorbild: Die Verlebendigung des antiken Ideals im »Maximin«-Mythos Im Einklang mit der kosmischen Vorstellung von der Wiederkehr der Götter in der Gegenwart erhoben die Georgeaner den anmutigen Jüngling mit Hilfe einer neuartigen Kunstreligion zu einem anbetungswürdigen Heros, zum Gott einer künftigen Generation Deutscher. Dabei leitete sie ein ›Denkbild‹, das sich zuerst im Bereich der Kunst materialisieren ließ und schließlich durch das homophil-erotisch gefärbte ästhetische Erlebnis dieser vergegenständlichten Idee in eine gegenwartsbezogene Erfahrung transformiert werden konnte. Diesen merkwürdig anmutenden Schöpfungsprozeß des jugendlichen Gottes »Maximin« bezogen sie auf zwei traditionelle und gerade um 1900 weitverbreitete abendländische Denkmuster und rechtfertigten damit unausgesprochen ihr Vorgehen. Durch die Anbindung an den religiösen Topos des göttlichen Kindes und jugendlichen Erlösers ließ sich die Apotheose eines jungen Heilbringers und neuen Menschen, des vielbesungenen »Herr[n] der Wende«,269 erklären und legitimieren. Als äußerliches Zeichen seiner Göttlichkeit und damit Anbetungswürdigkeit wurde auf seine schöne und anmutige Knabengestalt verwiesen, die ja schon in dem griechisch-antiken Schönheits- und

266 267 268 269

Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 212. Stefan George: Du stets noch anfang uns und end und mitte (vor 01/1910). In: SW VIII, S. 8. Das hellenische Wunder. In: BfdK 9 (1910), S. 2. George: Du stets noch anfang uns und end und mitte. In: SW VIII, S. 8.

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Eroskult und in der Vorstellungswelt des europäischen Klassizismus als Indiz für ein besonderes Charisma galt. In Maximilian Kronberger, einem Münchner Gymnasiasten mit vielversprechender dichterischer Neigung, fanden sie die Verkörperung dieses Ideals. Durch seinen frühen Tod – Kronberger wurde nur 14 Jahre alt – war er für eine Vergöttlichung und zur Idolatrie geradezu prädestiniert. Ganz antikisch wurde der Tod in jungen Jahren als Zeichen der besonderen Erwähltheit gedeutet;270 auch die homerischen Heroen Achill, Hektor und Patroklos starben tragisch in der Blüte ihres Lebens. George verband mit dem jungen Kronberger eine kurze, aber intensive und erotisch aufgeladene Freundschaft. Durch seinen Tod im Jahr 1904 tief bewegt, verfaßten George und einige seines Kreises panegyrische Gedichte auf den Verstorbenen, die in einem vom »Meister« wenig später herausgegebenen Gedenkbuch ›Maximin‹ versammelt wurden.271 Die beigefügte ›praefatio‹ präsentiert bereits ein verzerrtes, realitätsfernes Idealbild Kronbergers; der Schüler avanciert hier zur heilbringenden jugendlichen Gottheit »Maximin«, die die kommende Jugend zu leiten vermöge. Damit wird sie zur Chiffre für die Realisierbarkeit des anvisierten Deutsch-Griechen der Zukunft.272 »Maximin« gilt George als »darsteller einer allmächtigen jugend wie wir sie erträumt hatten · […] einer jugend die unser erbe nehmen und neue reiche erobern könnte«.273 Auf ihn werden all die Eigenschaften projiziert, die in der georgeschen Utopie den neuen Deutschen als Monumentalgestalt oder Ausgeburt des schönen Leibes auszeichnen: Ausprägung »ursprünglichen geistes« aufgrund der Versinnlichung »seiner heldenhaften seele […] in gestalt und gebärde und sprache«.274 Bereits in dieser pathetischen Beschreibung kündigen sich Elemente jener kultischen Verehrung Maximins an, für die Gundolf später die Worte »Vergottung eines deutschen Jünglings dieser Zeit«275 wählen wird. Mit dem ersten Gedicht des ›Maximin‹-Zyklus (1903–1906), das den sprechenden Titel ›Kunfttag I‹ trägt, wird die Sakralisierung des jugendlichen Heros realisiert. George richtet an die Gottheit »Maximin« sein Glaubensbekenntnis: 270

271 272 273 274 275

Vgl. das lateinische Sprichwort »Quem di diligunt adulescens moritur – Jung stirbt, wen die Götter lieben«, das Plautus (Bacchides 816f.) nach einem Bonmot des griechischen Komödiendichters Menander prägte. Vgl. George: SW VI/VII, S. 215 (Kommentar zu ›Maximin‹). Vgl. Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 182. George: Vorrede zu Maximin. In: SW XVII, S. 62. Ebd., S. 63. Gundolf: George, S. 205.

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Dem bist du kind · dem freund. Ich seh in dir den Gott Den schauernd ich erkannt Dem meine andacht gilt. Du kamst am lezten tag Da ich von harren siech Da ich des betens müd Mich in die nacht verlor: Du an dem strahl mir kund Der durch mein dunkel floss · Am tritte der die saat Sogleich erblühen liess.276

Die kultische, sich bis zur Vergöttlichung steigernde monumentale Verehrung eines geliebten jungen Menschen ist ein häufig verwendetes literarisches und künstlerisches Motiv, das in der historischen Antinous-Gestalt eine Entsprechung hat.277 Die Geschichte weist viele Parallelen zu der Beziehung von George und Kronberger auf: Kaiser Hadrian und den jungen Antinous aus Bithynien verbindet auch eine außerordentliche Liebe. Nach dem Tod des Geliebten – Antinous stürzte sich freiwillig in den Nil, entweder aus Schwermut oder, wie ein anderer Überlieferungsstrang lautet, mit der Intention, durch den Opfertod das Leben des Kaisers zu verlängern – erhebt Hadrian ihn unter die Götter und ordnet damit seine kultische Verehrung an. Außerdem begründet er zum Andenken an der Todesstelle die Stadt Antinoopolis und verfügt zur Ehre des Freundes jährlich abzuhaltende Spiele. Auf Kaiser Hadrians Initiative wurde Antinous ein beliebtes Objekt der darstellenden Kunst; unzählige Statuen, Büsten, Gemmen und Münzen mit seinem Porträt entstanden. Sie bildeten ihn als Ideal nackter, jugendlicher Schönheit, als neuen Apoll, ab. Numenius, Mesomedes und Pancrates verfaßten Huldigungsgedichte auf ihn.278 Im Kontext der lebensreformerischen Freikörperkultur erfuhren nun neben Bildnissen des Apoll gerade Antinous-Darstellungen eine Renaissance und wurden zu nachahmenswerten Modellen für die eigene Körperbildung erhoben: sie 276 277 278

Stefan George: Kunfttag I (nach 04/1904). In: SW VI/VII, S. 90. – Vgl. auch ders.: Vorrede zu Maximin. In: SW XVII, S. 65f.; Gundolf: George, S. 206f.; S. 212. Für den George-Kreis beispielsweise vgl. [Friedrich Gundolf:] Antinous. Dramatisches Gedicht in drei Teilen. In: Blätter für die Kunst 5 (1900/1901), S. 96–119. Zu Antinous vgl. Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Sp. 289f.; Werner Eck: Antinoos [2]. In: DNP 1 (1996), Sp. 761f.; Annika Backe: Antinoos – Geliebter und Gott. Begleit-Broschüre zur Ausstellung im Pergamonmuseum, Antikensammlung Berlin 2005. Berlin 2005, hier besonders S. 4–6; S. 12.

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galten als Inbegriff einer harmonischen Verbindung von Natur und Kultur und damit vollendeter geistig-körperlicher Schönheit.279 Neben ihrer Funktion als Objekt des Eros, ihrem frühen Tod und der kultischen postumen Verehrung verbindet »Maximin« und Antinous eine im Bereich der Kunst vollzogene, ihnen gewidmete Memorialkultur: Die dem ›Maximin‹-Gedenkbuch als Titelseite beigegebene Fotografie zeigt Kronbergers Profil in klassisch-griechischer Manier: Als unbekleideter, statuenhafter Knabe mit bekränztem Haupt sowie Thyrsosstab in der erhobenen linken Hand erinnert er an Darstellungen aus dem griechischrömischen Kulturraum, die Antinous mit Dionysos gleichsetzen.280 Wie bereits Sünderhauf nachweist, besteht zwischen dem »Maximin«-Porträt des Gedenkbuches und der Kolossalstatue des Antinous Braschi in den Vatikanischen Museen, der Statuette des Antinous-Dionysos aus der Sammlung Grimani sowie dem Antinous-Relief in der Villa Albani eine frappierende Ähnlichkeit.281 Der Eindruck einer intendierten, mit Hilfe der Kunst vollzogenen Vergöttlichung Maximilians als »Maximin« verstärkt sich durch den Schlußabschnitt der Vorrede, in dem er als Weihestandbild präsentiert wird. Hier heißt es: So steht er vor uns […] in der siegprangenden glorie des festes · geschmückt und mit dem blumenkranz im haar · kein abbild einsiedlerischen duldenden verzichtes sondern der lächelnden und blühenden schönheit. Wir können nun gierig nach leidenschaftlichen verehrungen in unsren weiheräumen seine säule aufstellen uns vor ihm niederwerfen und ihm huldigen woran die menschliche scheu uns gehindert hatte als er noch unter uns war.282

Neben der unausgesprochenen Bezugnahme auf den antiken AntinousKult läßt sich eine weitere Parallele zur christlich-antiken Schöpfermythologie herstellen: Mit dem Glauben an die Epiphanie des Gottes »Maximin« wird dem petrifizierten Denkbild eines jugendlichen Heilbringers in griechischem Gewand Leben eingehaucht. Dieser religiöse Akt ruft 279

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282

Vgl. Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930). Köln, Weimar, Wien 2004 (= Kölner Historische Abhandlungen 42), S. 195f. Vgl. Klaus Parlasca: Antinoos-Porträts (Kat. 344–349). In: Ägypten, Griechenland, Rom. Abwehr und Berührung. Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie. [Ausstellung vom] 26. November 2005–26. Februar 2006. Tübingen, Berlin 2005, S. 426f.; S. 731. – Siehe auch Anna A. Trofimova: Porträt des Antinoos-Dionysos. In: Ägypten, Griechenland, Rom, S. 733 (Nr. 346). Vgl. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 222 (mit Abb. 108–110, die letzte mit falscher Bildunterschrift) sowie Backe: Antinoos – Geliebter und Gott, S. 25 (Nr. 2); S. 30 (Nr. 9); S. 31 (Nr. 11). George: Vorrede zu Maximin. In: SW XVII, S. 66.

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zum einen die Assoziation des Kultstifters George mit dem christlichen Schöpfergott hervor, der dem von ihm aus Lehm geformten Menschen den Odem einblies, wie es das Buch ›Genesis‹ überliefert. Zum anderen erinnert er an die bei Ovid im zehnten Buch der ›Metamorphosen‹ überlieferte Erzählung vom Künstler Pygmalion, der sein Werk als Schöpfung seiner selbst – die aus Elfenbein geschnitzte schöne Galathea – so sehr liebte, daß die leblose Plastik schließlich beseelt wurde.283 Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der Genieästhetik, avancierte die Sage um den zyprischen Bildhauer zu einer der meistzitierten Mythen in der Literatur.284 Indem die nach der ursprünglichen Handlung erforderliche Hilfe der Venus beim Belebungsakt unterschlagen wird, kann Pygmalion nun auch zum Sinnbild des autonomen und produktiven Künstlers stilisiert werden, der ein lebendiges Werk aus sich heraus zu schaffen vermag. Auf diese beiden Traditionsstränge greift George zurück und verbindet sie miteinander. Indem er das ›tote‹ Wunsch- bzw. Denkbild eines neuen deutsch-griechischen ›Messias‹ aus rauschhafter, erotisch-lustvoller Begeisterung im Reich der Kunst zum Leben erweckt, stellt er sich auf eine Stufe mit antiken und christlichen Schöpfern, deren geniale Kreativität sich in der Nachahmung des lebenschaffenden Prinzips manifestiert. Zugleich beansprucht er für sich authentisches und geniales Künstlertum, wie es die Dichter der Sturm-und-Drang-Periode proklamierten. Bei dieser Analogiebildung nehmen spezifische, in Klassizismus und Idealismus geprägte Denkmuster eine bedeutende Funktion ein: Die deutsche Griechenrezeption wird als Mittel der eigenen nationalen Entfaltung begriffen. Dabei wird der Mikrokosmos Kunst als Projektionsund Erprobungsraum für die zeitgenössischen Wünsche und Bedürfnisse herangezogen. Denn in ihm sei all das realisierbar, was in der realen Gegenwart schmerzlich vermißt wird. Deshalb kann auch das Wunschbild des idealschönen, ewig jungen Menschen im ästhetischen Erlebnis in eine gegenwärtige Erfahrung übertragen werden. Im Bereich des Ästhetischen wird demnach ein von Dekadenzerscheinungen unberührtes Selbstgefühl von Ganzheit, Schönheit und Jugend möglich, das dem Hier und Jetzt abhanden gekommen sei, aber für die Zukunft realisierbar erscheine. 283

284

Vgl. P. Ovidius Naso [= Ovid]: Metamorphosen. Lateinisch und deutsch. Übersetzt und hrsg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 1994 (= RUB 1360), S. 527–531 [X, 243–247]. – Siehe auch Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Sp. 2123f. sowie Bardo Maria Gauly: Pygmalion [2]. In: DNP 10 (2001), Sp. 610f. Vgl. Frühklassizismus, S. 518.

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George und sein Kreis versuchten innerhalb ihrer elitären Gemeinschaft Gebildeter diese Utopie eines durch die Kunst zum Leben erweckten jugendlichen Sinnstifters auf die Realität zu übertragen. Die ethischästhetische Erfahrung seiner schönen, wahrhaftig deutschen Gestalt, in der sich »physiognomische Vorbildlichkeit mit messianischen Hoffnungen verbindet«,285 wurde als essentielle Voraussetzung für eine kulturelle Höherentwicklung und zugleich für den Vollzug der dem deutschen Volk zugeschriebenen europäischen Sendung angesehen. Diesen Gedanken betonte auch Wolfgang Frommel in seiner vielbeachteten Schrift des Jahres 1932, ›Der dritte Humanismus‹. Hier heißt es zum Zusammenhang von ästhetischer Erfahrung des jugendlichen Gottes und nationaler Entfaltung: Noch einmal sei hier an das G e h e i m n i s d e s D r i t t e n H u m a n i s m u s g e r ü h r t . Völker und Staaten können nur dann ihr oberstes Schicksal erfüllen, wenn sie im Gott ihrer Anbetung ihr e i g e n e s A n t l i t z erkennen, das Antlitz ihrer stolzen und beginnlichen Jugend. […] Heute aber kann die leibfrohe, heldisch-herbe Seele des erwachenden Deutschland als verpflichtenden Herrn keine Gottesgestalt vergangener Zeiten und fremder Länder schauen. Denn allein dem Gott dienend, der alle Wunder deutscher Erde in sich birgt, wird unser bester Nachwuchs zu innerer und äußerer Schönheit aufblühen. Doch nur der unverfälschten Echtheit unsres Wesens, nur dem unlöslichen Eid zur Gefolgschaft enthüllt sich das göttliche Bild u n s r e r Geschicke. Wurde diese Schau uns geschenkt, dann erst rückt das Dritte Reich nahe.286

285 286

Kolk: Zucht und Hoffnung, S. 149. Helbing [= Frommel]: Der Dritte Humanismus, S. 79f.

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Zweites Kapitel

Der »Dritte Humanismus« als Instrument kulturkritischer Wissenschaftspolitik

Der »Dritte Humanismus« als Lebenswissenschaft Das Nationalbewußtsein des »Dritten Humanismus« war dem Selbstverständnis nach ein kulturkritisches. So empfanden George und seine Schüler, Jaeger und Spranger die eigene Zeit als geistig bedrückend und chaotisch. Sie deuteten die rapide fortschreitende Industrialisierung, technische Innovationen, revolutionäre naturwissenschaftliche Erkenntnisse sowie Verstädterungstendenzen im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts als Katalysatoren der sozialen Pluralisierung und Ausdifferenzierung und beklagten die zunehmende Komplexität und Unübersichtlichkeit aller Lebensbereiche einseitig als Atomisierung, Zerfall und Verlust von Integrationsmöglichkeiten für das Individuum. Als ein vielversprechender Ausweg aus dieser Misere erschien ihnen die wissenschaftliche »Rekonstitution der Bildung«,1 die eine harmonische Verknüpfung aller unverbunden nebeneinanderstehenden Teilsphären gewährleisten und zugleich dem einzelnen wie auch dem Kollektiv lebensbezogenen Halt bieten sollte. Ergänzt wurde diese Überlegung durch die Überzeugung, »dass ›alles in seiner Art Vollkommene über seine Art hinausgeht‹«,2 daß also das zu gestaltende Eigene durch Fremdes ergänzt und damit veredelt werden muß. Vor diesem Hintergrund konnte die griechische Kultur- und Bildungsidee als nationales Leitbild und Ideal fungieren, weil man gerade ihr das Potential zuschrieb, dem modernen Menschen, der sich kritisch im vermeintlich Fremden bespiegele, sein latentes ursprüngliches ›Wesen‹ aufzuzeigen und zum Leben zu erwecken. Besonders prägnant wurde dieser Gedanke von Jaeger in einem kurzen Zeitungsartikel zum hundertjährigen Bestehen des Archäologischen Institutes des Deutschen Reiches in Berlin, 1929, geäußert: Aber die größten Werke des Altertums haben für unsere Zeit wieder eine Bedeutung erlangt, vergleichbar dem, was man einst als ihre Klassizität bezeichnete. Sie werden uns Führer in ähnlichen Geisteslagen oder Halt und Hem1 2

Groppe: Die Macht der Bildung, S. 63. Kantorowicz: Das Geheime Deutschland, S. 169.

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mung gegen solche Gefahren unseres modernen Denkens, gegen die dieses aus sich selbst keine genügenden Gegengifte erzeugt. Es ist kein Zufall, daß, wo heute Kulturkritik von höherer Warte geübt wird, fast niemals der Hinweis auf die Antike fehlt. Keine andere Fremdkultur kann sich mit der Bedeutung der Antike als kritischer Maßstab unseres höchsten geistigen Wollens und als Wegweiser unserer Zielsetzung und unseres Schaffens auch nur entfernt vergleichen. Immer wieder kehrt unser Denken zurück zu der Grundform alles europäischen Geisteslebens, zur antiken Idee der Kultur und menschlichen Bildung und zu ihren unvergänglichen Ausprägungen in Kunst, Poesie, Staat und Gedanke. […] der ›Humanismus‹ unserer Tage fußt [auf, BS]: d[er] Bedeutung der Alten, besonders aber der Griechen als Schöpfer und Vorbilder der geistigen Prinzipien, um die wir heute mehr als je zu kämpfen haben. Und dieser große Kulturkampf der Gegenwart verleiht unserer Beschäftigung mit der Antike die prinzipielle Aktualität.3

Die Strategie, sich in einer als krisenhaft wahrgenommenen Zeit auf die antiken Griechen als Bildungsmacht zu berufen, ist altbewährt. Bereits in der Übergangsphase vom christlichen Mittelalter zur säkularen Neuzeit fungierte dieses Volk – zusammen mit den Römern – als paneuropäisches Vorbild für die kulturelle und akademische Welt. Frühneuzeitliche Forscher bemühten sich, durch Übernahme der strengen antiken Methodik an die wissenschaftlichen Leistungen des Altertums anzuknüpfen; häufig dienten antike Überlegungen als Grundlagen für moderne, revolutionäre Entdeckungen.4 Auch in der Zeit der Französischen Revolution und während der französischen Hegemonie unter Napoleon wurden »die herrschenden Vorstellungen von Politik und Kultur besonders eng mit der Rezeption der Antike verflochten«.5 Gerade die Deutschen beriefen sich nach ihrer vernichtenden Niederlage in den Kriegen 1806/1807 auf das Griechentum, um ein eigenes nationales und kulturelles Bewußtsein zu begründen;6 in diesem Zusammenhang ist vor allem an Fichtes ›Reden an die deutsche Nation‹7 und Humboldts bil-

3 4

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7

Werner Jaeger: Antike und Gegenwart. In: Der Tag, 21.04.1929, Beiblatt 4, S. 5. Vgl. Luciano Canfora: Die klassische Antike und ihre Rezeption in der Moderne. In: Politische Philologie. Altertumswissenschaften und moderne Staatsideologien. Aus dem Italienischen übersetzt von Volker Breidecker, Ulrich Hausmann und Barbara Hufer. Stuttgart 1995 [zuerst Rom, Bari 1989], S. 195–210, hier S. 195. Ebd., S. 196. Vgl. Walter Rüegg: Die Antike als Begründung des deutschen Nationalbewußtseins. In: Wolfgang Schuller (Hrsg.): Antike in der Moderne. Konstanz 1985 (= Xenia. Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen 15), S. 267–287, hier v. a. S. 279–281. Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Mit einer Einleitung von Reinhard Lauth. 5., durchgesehene Aufl. nach dem Erstdruck von 1808. Hamburg 1978 (= Philosophische Bibliothek 204).

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dungspolitische Schriften zu einer deutschen Nationalerziehung8 zu erinnern. Von den bisherigen kulturkritischen Projektionen hebt sich allerdings die Griechenrezeption des »Dritten Humanismus« in dreierlei Hinsicht ab. Erstens durch die wissenschaftliche Begründung der kulturkritischen Modelle und zweitens durch die Erweiterung der Griechenbilder: Zur Legitimation der kulturellen Vor- bzw. Leitbildfunktion der alten Griechen für die neuen Deutschen nutzten seine Vertreter das neuhumanistische Konstrukt der ›deutsch-griechischen Wesensverwandtschaft‹. Weil das ›deutsche Wesen‹ dem ›griechischen Wesen‹ ähnlich sei, könne die Fähigkeit, schöpferisch tätig zu sein und bleibende Gestalt zu schaffen, von den antiken Hellenen auf die zukünftigen Deutschen übertragen werden. Aus dieser Verbindung von Kulturkritik und Griechenrezeption resultierte als dritte Neuerung der totale Anspruch auf Kultur und Menschenbildung »als höchste[…] Erdengüter der menschlichen Existenz«, als »Wertidee und letztes Ziel des irdischen geistigen Strebens der einzelnen Persönlichkeit wie ganzer Nationen«.9 Begabte, auserwählte Individuen sollten durch ganzheitliche Bildung humanistisch geformt werden; in diese Gebildeten wurde die Hoffnung gesetzt, daß sie als gesellschaftsreformerisch tätige Elite ihre Paideia weiteren Kreisen zugänglich machen und damit eine nationale Restauration einleiten würden. Dabei konnte man sich auf aufklärerisches und philanthropisches Gedankengut beziehen – z. B. auf den Glauben an die Besserungsfähigkeit des Menschen sowie die Überzeugung, die Gesellschaft durch Erziehung des einzelnen zu vervollkommnen –, was auch wissenschaftliche Erkenntnisse der zeitgenössischen experimentellen Evolutionsbiologie zu bestätigen schienen. So vertrat beispielsweise Paul Kammerer engagiert die These, daß durch äußere Bildung erworbene künstlerisch-geistige Fähigkeiten und Fertigkeiten sich an die folgende Generation vererben ließen.10 Damit lieferte er ein stichhaltiges wissenschaftliches Argument für die Durchführbarkeit bzw. die realistischen Erfolgschancen der anvisierten Gesellschaftsreform mittels Gesinnungsbildung. Nach übereinstimmender Vorstellung im »Dritten Humanismus« ist die Paideia durch unterschiedliche Verinnerlichungsstrategien zu verwirk8

9 10

Vgl. die Texte in Humboldt: Werke 4 (Schriften zur Politik und zum Bildungswesen); ders.: Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum. In: Werke 2; ders.: Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten. In: Ebd. Jaeger: Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung. In: HRV, S. 119. Vgl. Thomas Weber: Die Tücken der Kröte. Wieder aufgerollt: Der Fall des Biologen Paul Kammerer. In: FAZ, 18.01.2006, S. N3.

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lichen. Dabei wird Bildung als »Einheit von Denken und Handeln durch eine Weltanschauung« verstanden; nur durch sie erwartete man, die verlorengeglaubte »Ganzheit und sinnhafte Lebensdeutung« wiederzuerlangen.11 Als vermittelnde Objekte der ersehnten Totalität und des Vitalismus fungierten vor allem Wort und Ton; mit ihrer Hilfe sollte der Gesamtzusammenhang des Lebens wieder sichtbar und zugleich sinnlich erfahrbar gemacht werden. Trotz des hohen Stellenwertes des »Lebens« innerhalb der Utopie ist ihre Verbindung zur Lebensphilosophie bisher jedoch weitgehend unbeachtet geblieben.12 Der »Dritte Humanismus« als wissenschaftliche Instanz der Kulturkritik Die Lebensphilosophie13 mit dem Postulat, Leben als umfassendes Grundprinzip zu begreifen, prägte das Denken der Anhänger des »Dritten Humanismus« auch im wissenschaftlichen Bereich; die selbstauferlegte Aufgabe bzw. verspürte Berufung, fühlbare lebendige Werte für die Gegenwart zu erzeugen, wurde in die eigenen Forschungen integriert: Die sprangersche Forderung, jegliche erziehungswissenschaftliche Betätigung solle »gestaltend und befruchtend zurückwirken auf das Leben«,14 wurde zum allgemeinen Diktum erhoben. Zugleich beförderte man das Lehrfach Pädagogik in den Rang einer universalen Kulturwissenschaft, mit deren Hilfe sich »das große Leben […] rings herum«15 erfassen lasse. Dabei bildete Wilhelm Diltheys auf das Leben bezogene bzw. aus dem Leben abgeleitete geisteswissenschaftliche Hermeneutik, die auf der Trias ›Erlebnis‹, ›Ausdruck‹, ›Verstehen‹ basiert, das methodische Gerüst und die Legitimationsinstanz. Durch ein betont wissenschaftliches Selbstverständnis intendierten die Georgeaner, Jaeger und Spranger, sich dezidiert von anderen populären Sinnstiftungsangeboten abzuheben. Dabei setzten sie äußerlich die Linie des alten Gelehrten-Humanismus fort, bezogen sich aber gleichzeitig auf die ungelehrte Humanismustradition der Schriftsteller und Denker um 1800. Beide Traditionsstränge – das Geistig-Wissenschaftliche und 11 12

13 14 15

Groppe: Die Macht der Bildung, S. 297. Eine Ausnahme bildet Lothar van Laaks kurze Studie »Dichterisches Gebilde« und Erlebnis. Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Wilhelm Dilthey und dem GeorgeKreis. In: GeorgeJb 5 (2004/2005), S. 63–81, die sich mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Lebensauffassung beschäftigt. Vgl. zur Lebensphilosophie einführend Ferdinand Fellmann: Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung. Reinbek 1993 (= re 533). Spranger: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Pädagogik für das Volksleben. In: GS 2, S. 272. Ders.: Zum Geleit für 1915. In: Die Deutsche Schule 19 (1915), S. 1–5, hier S. 4.

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das Sinnlich-Ästhetische – wurden mit Hilfe der Paideia-Idee, der auf die griechische Antike projizierten ganzheitlichen Menschenbildung, verbunden. So gelang es, einerseits wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu erstreben und andererseits dem neuen Humanismus eine bekannte und bewährte Werteethik zugrundezulegen, mit Jaegers Worten: Wissenschaft als »eine geistige Lebensform«16 zu präsentieren. Dabei zehrte die überwältigende Mehrzahl der Befürworter dieser Idee von ihrer öffentlichkeitswirksamen Tätigkeit im bildungspolitischen Bereich. Die Ordinarien Jaeger und Spranger verfügten neben exzellenten wissenschaftlichen Kontakten über exklusive Verbindungen ins preußische Kultusministerium; beide waren gefragte Berater in kulturpolitischen Angelegenheiten. Aus dem Umkreis Georges galten Gundolf, Wolters, Bertram und Kantorowicz als charismatische Hochschullehrer und – gerade bei der jüngeren Generation – als durchaus anerkannte Fachwissenschaftler. In den Anfangsjahren der Republik erreichte die George-Schule besonders in den philosophischen Fakultäten eine breite öffentliche Resonanz. Sie etablierte sich – wie Groppe eindrucksvoll zeigt – als eine feste Größe innerhalb des universitären geisteswissenschaftlichen Diskurses. Daraus resultierte auch eine kritische Auseinandersetzung mit den von ihnen vertretenen wissenschaftlichen Positionen.17 Neben ihrer Lehr-, Berater- und Vortragstätigkeit boten sich ihre Zeitschriften als weiteres Forum für die Verbreitung humanistischer Überlegungen an. Die von Wolters und Gundolf herausgegebenen ›Jahrbücher für die geistige Bewegung‹ fungierten als ein kulturpolitisches Medium, das die »ästhetischen Überzeugungen Georges in das wissenschaftliche Feld«18 hineintrug. Jaeger beabsichtigte, mit seiner ›Antike‹19 den altgriechischen Wertekanon wieder einer breiteren gebildeten Öffentlichkeit ins Bewußtsein zu rufen. In dieser Zeitschrift wurden Texte aus verschiedenen Bereichen der Altertumsforschung – Literatur, Kunst und Geschichte – veröffentlicht, und neben namhaften Fachwissenschaftlern 16 17

18 19

Werner Jaeger: Stellung und Aufgaben der Universität in der Gegenwart (1923). In: HRV, S. 68–86, hier S. 86. Vgl. Groppe: Die Macht der Bildung, S. 560. – In diesem Kontext ist in erster Linie auf Ernst Kantorowicz und Friedrich Gundolf zu verweisen. Beide integrierten in besonderem Maße die im George-Kreis hochgehaltenen Werte und Vorstellungen in ihre Lehrtätigkeit und Forschungen. Dabei scheuten sie weder Widerspruch noch Kritik von renommierten konservativen Kollegen, sondern betrachteten die öffentliche Kontroverse als Gelegenheit, die geistesgeschichtlichen Methoden der George-Schule noch weiteren gelehrten Kreisen zugänglich zu machen. Ebd., S. 625. Die Antike. Zeitschrift für Kunst und Kultur des klassischen Altertums. Berlin, Leipzig 1925–1944.

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publizierten dort auch bekannte Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt. Die registrierte Krise der Kultur, die mit einer neuartigen Antikeauffassung bekämpft werden sollte, führten die Vertreter des »Dritten Humanismus« auf eine unzureichende, überwiegend historistische Bildungskonzeption zurück: Statt kulturell Gebildeter hätten die bestehenden Anstalten lediglich Bildungsphilister produziert. Als Reaktion auf die konstatierte kulturelle Notlage entwickelten sie deshalb eine ›lebensnahe‹ menschenwürdige Erziehungs- und Bildungstheorie auf wissenschaftlichphilosophischer Grundlage, die durch eine ihr inhärente schöpferische Dimension neue Werte zu stiften und bisher Unverbundenes zu synthetisieren vermöge. Unausgesprochener Bezugspunkt dieser Überlegungen war Nietzsche. Wie sein prominenter Vorgänger auf dem Baseler Lehrstuhl für Gräzistik, Friedrich Nietzsche, fordert Jaeger in seiner Antrittsrede, die originäre pädagogische Ausrichtung der Philologie wieder stärker hervorzukehren. Zugleich appelliert er an seine Kollegen und möglichen Mitstreiter, durch ein genuin geisteswissenschaftliches Engagement dafür Sorge [zu] tragen, daß über der Zersplitterung die Kontinuität des geistigen Lebens gewahrt wird, daß den reinsten, unvermischtesten und echten Elementen der bunten geschichtlichen Kräfteschar ihre entscheidende erzieherische Wirkung erhalten bleibt.20

Als bildende geschichtliche Macht ersten Ranges identifiziert er im folgenden das griechisch-römische Erbe. Allen Geisteswissenschaftlern – besonders den Altertumswissenschaftlern – obliege es, jenes »Kulturgefühl[…] […], das die Wurzel ihrer Existenz zur Zeit der Renaissance wie Humboldts und Goethes war und immer bleiben wird«,21 wieder als bewußte und wirkmächtige Größe zu etablieren. Ein solches Vorhaben sei nur durch ein Besinnen auf den Ursprung jedes lebensnahen Humanismus zu realisieren. Diesen führt er auf das Bildungsdenken der alten Griechen zurück, die Tradition des platonischen Akademos, der »unzerstörbaren Lebenswurzel« jeglicher Wissenschaft. Durch geschickte Analogiebildung zwischen der Wissenschaftsauffassung der neuen Generation und der des klassischen Griechentums erhebt und legitimiert er den Anspruch auf erfolgversprechendes sozialpädagogisches Wirken. Jaeger stellt heraus, daß eine wahrhaftige griechische Wis20 21

Werner Jaeger: Philologie und Historie (1914). In: HRV, S. 1–16, hier S. 15. Ebd.

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senschaft in dem »Moment« vom Menschenbildner Platon begründet wurde, als der wissenschaftliche Geist sich nach einer Periode ausschließlicher Vorherrschaft der Naturforschung und Naturspekulation der drängenden praktischen Aufgabe zuwandte, das soziale Problem des aus den Fugen gehenden Lebens architektonisch zu bezwingen, die chaotisch-selbstherrlichen Kräfte des gesellschaftlichen Organismus durch die Macht der Erkenntnis unter einem allgemein gültigen obersten Werte neu zu binden.22

Auch wenn der Bezug Griechenland – Deutschland nicht direkt hergestellt wird, so erwartet Jaeger doch von seinen Zuhörern ein gewisses Abstraktionsvermögen. Er unterstellt ihnen, daß sie seine affirmative Beschreibung der geistigen Lage Athens zu Lebzeiten Platons spiegelbildlich auf die gegenwärtige deutsche Situation übertragen. Als notwendige Schlußfolgerung dieser Gleichsetzung drängt sich dann die folgende Idee auf: Wenn sich bereits in Hellas nach der Dominanz der Naturwissenschaften mit ihren objektivierenden Methoden eine Neubegründung der Wissenschaften mit dem Anspruch, sich stärker an sozialen und lebensweltlichen Fragen zu orientieren, erfolgreich bewährt habe, sei auf eben diesem Weg nun auch eine kulturelle und humanistische Erneuerung Deutschlands herbeizuführen. Allerdings herrschten in diesem konkreten Punkt – die Restauration Deutschlands könne nur aus einer dem Leben zugewandten Wissenschaft erfolgen – divergierende Auffassungen unter den Vertretern des »Dritten Humanismus«. Die Mitglieder des George-Kreises, die zwar ›ex officio‹ als Universitätsdozenten wissenschaftlich wirkten, lehnten mit Nietzsche doch eine einseitige Festlegung des erneuerten Humanismus auf den wissenschaftlichen Bereich ab und traten statt dessen für eine organische Verbindung von Wissenschaft, Leben und Kunst bzw. Literatur ein.23 Ganz georgeanisch – George selbst sprach sich für eine Erneuerung des Menschen ausschließlich über die Dichtung aus – bewerteten sie die Arbeit des Künstlers bzw. Schriftstellers als ebenso wichtig wie die wissenschaftliche Betätigung. Deshalb amalgamierten sie künstlerische Auffassungen mit wissenschaftlichen Methoden und verrichteten die Aufgaben eines Wissenschaftskünstlers – ein pejorativ konnotierter Begriff, mit dem Gustav Roethe, Anhänger einer traditionellen, d. h. streng philologischen Germanistik, die Grenzgänge seines ambitionierten Kollegen 22 23

Ders.: Die geistige Gegenwart der Antike. In: Ebd., S. 176. Zur Wissenschaftsauffassung des George-Kreises siehe grundlegend Michael Landmann: Um die Wissenschaft. In: CP 42 (1960), S. 65–90.

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Friedrich Gundolf abzuwerten gedachte. Ähnlich wie Gundolf befürwortete auch der Historiker Wolters eine wissenschaftliche Analyse, die wie die Kunst »Vorbilder des ›schönen daseins‹«24 präsentiere und damit ein ganzheitliches Leben versinnbildliche. Dazu heißt es in seinem theoretischen ›Gestalt‹-Essay: Wer forschen will der soll in ehrfurcht vor dem geiste forschen und wissend dass nichts anteil am lebendigen hat was nicht am schönen ganzen baut […]: denn nicht erkenntnis des teiles und der gegensätze sondern bindung des ganzen und der gegenkräfte heisst die losung des fruchtbaren tuns.25

Wolters’ Stellungnahme, die hier exemplarisch für die neue Wissenschaftsidee herangezogen werden kann, ist mit Nietzsches PhilologieAuffassung in Verbindung zu bringen. Schon dieser trat für eine enge Verknüpfung von strenger Wissenschaftlichkeit und künstlerisch-ästhetischem Denken ein: Er war der Überzeugung, daß die Wissenschaft nur dann das Verständnis allgemein-menschlicher Wert- und Normvorstellungen begünstigen und damit wahre Menschenbildung betreiben könne, wenn sie von einer Leben stiftenden Kunst befruchtet würde – als positives Beispiel erinnert er in diesem Kontext an die Griechenauffassung des Idealismus.26 Mit den Publikationen, die sprechende Reihentitel wie ›Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst‹ oder ›Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst‹ tragen, versuchten Georges Anhänger, eben diesem alten, aber bisher nicht erhörten Anspruch, Wissenschaft, Kunst und Leben zu synthetisieren, gerecht zu werden und ganz nietzscheanisch »[ n ] u r a u s d e r h ö c h s t e n K r a f t d e r G e g e n w a r t […] d a s Ve r g a n g e n e [ z u ] d e u t e n «.27 Sie waren also bestrebt – wie es der George-Spezialist Michael Landmann, Sohn des mit dem Lyriker eng befreundeten Ehepaars Julius und Edith Landmann, formuliert –, »auf neue, erlebtere, menschlichere Weise Wissenschaft zu treiben«.28 Diese Maxime trieb der Platonforscher im George-Kreis, Heinrich Friedemann, in seiner Biographie über den griechischen Philosophen, Pädagogen und Politiker auf die Spitze, wenn er seine Darbietungsprinzipien folgendermaßen erläutert: 24 25 26 27 28

Groppe: Die Macht der Bildung, S. 306. Friedrich Wolters: Gestalt. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2 (1911), S. 137–158, hier S. 157. Vgl. Nietzsche: Homer und die klassische Philologie. In: KGA 2. Abt., 1, S. 252. – Siehe auch ders.: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie. In: KSA 1, S. 296. Ders.: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie. In: KSA 1, S. 293f. Landmann: Um die Wissenschaft, S. 76.

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Wie das leben selber der sammlung von tatsachen entgleitet und sich nur dem glühenden herzen bietet, so ist auch das griechentum mit wissen nicht zu fassen. […] So will auch diese rede ein bild, nicht nur ein wissen sein, nicht kenntnis mehren sondern das leben verwandeln, wo es noch fähig ist wahrhaftig platonisch zu werden: gedachtes geschautes verdichten zu werk und tat.29

Bei der Realisierung dieses Anliegens, Leben durch Wissenschaftskunst zu verwandeln bzw. gar erst zu stiften, wirke die Applikation ganzheitlicher künstlerischer Kategorien auf die wissenschaftliche Darstellung der antizipierten Gefahr entgegen, daß die reine Fachwissenschaft alle »substanzen aus denen allein der mensch und sie sich selbst nähren kann«,30 zerstöre. Insbesondere das »geistige Reich« der Antike sahen die Georgeaner durch fachwissenschaftliche Arbeiten, die streng philologisch-historistisch verfuhren, gänzlich profaniert.31 Denn indem viele Gelehrte dieses ausschließlich als Forschungsobjekt betrachten, es ›journalisieren‹ würden, anstatt es mit der Seele zu suchen, konterkarierten sie die dem antiken Genius gebührende Ehrfurcht. Eine derartig relativierende Wissenschaftsauffassung – von Gundolf auf die banalisierende Formulierung ›die ordnende Kraft‹ reduziert – sei »nicht nur zu verachten sondern aufs äusserste zu bekämpfen«,32 wie es die Herausgeber des dritten ›Jahrbuch‹Bandes in ihrer programmatischen Einleitung statuierten. Im Gegensatz zu seinen Schülern, die eine enge Verbindung von Wissenschaft und Kunst nicht nur begrüßten, sondern auch aktiv beförderten, ist Georges Einstellung gegenüber dieser Entwicklung nicht leicht zu fassen, denn seine Stellungnahmen sind sehr ambivalent. So sprach er sich einerseits vehement gegen das Selbstverständnis eines Wissenschaftskünstlers aus, der die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft verschwimmen ließ, und verachtete gemäß seinem antibürgerlichen Habitus den universitären Wissenschaftsbetrieb als nutzlos. Entsprechend betonte er gegenüber Salin, »[v]on mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft«,33 wie sie an den gegenwärtigen Bildungsanstalten betrieben werde, und richtete an Friedrich Gundolf den mahnenden Vierzeiler, die künst29 30 31

32 33

Heinrich Friedemann: Platon. Seine Gestalt. Mit einem Nachwort von Kurt Hildebrandt. Berlin 1931 (= Genauer Abdruck der Ausgabe Berlin 1914), S. 139. Gundolf und Wolters: Einleitung der Herausgeber, S. IIIf. Paradigmatisch für die derben Anschuldigungen der Georgeaner gegenüber etablierten, traditionalistisch verfahrenden Fachwissenschaftlern ist Kurt Hildebrandts Beitrag ›Hellas und Wilamowitz (Zum Ethos der Tragödie)‹ [In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), S. 64–117]. Gundolf und Wolters: Einleitung der Herausgeber, S. IV. Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis. 2., neugestaltete und wesentlich erweiterte Aufl. München, Düsseldorf 1954, S. 49.

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lerische Produktion nicht zugunsten der philologischen Betätigung zu vernachlässigen: Warum so viel in fernen menschen forschen und in sagen lesen Wenn selber du ein wort erfinden kannst dass einst es heisse: Auf kurzem pfad bin ich dir dies und du mir so gewesen! Ist das nicht licht und lösung über allem fleisse?34

Andererseits ist bekannt, daß George nicht nur großen Anteil an den wissenschaftlichen Arbeiten seiner Anhänger nahm, sondern auch ihr Entstehen bzw. Fortkommen durch inhaltliche Diskussionen wie stilistische Anmerkungen zu fördern gedachte.35 Georges Vorbehalte gegenüber Bestrebungen, die etablierten Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst verschwimmen zu lassen, verweisen bereits auf die dem neuen Wissenschaftsbegriff inhärente Problematik, Forschung als Ausdruck einer Weltanschauung aufzufassen. Viele Wissenschaftler aus dem Umfeld des »Dritten Humanismus« überschritten die Grenzen ihres eigentlichen Wirkungsbereichs, indem sie moderne, vermeintlich kritische wissenschaftliche Erkenntnis mit Ganzheitsmodellen verbanden, die der ästhetischen Tradition verpflichtet waren. Der betont geistesgeschichtliche Bezug ihrer Überlegungen und die Tendenz zu großangelegten Synthesen begünstigten den »ausgeprägt spekulativen Einschlag«36 ihrer Forschungsergebnisse. Das Resultat war eine wissenschaftlich verklausulierte emotional-intuitive überhistorische Schau mit dem Ziel, Werte zu stiften und konkrete Handlungsanweisungen im Rahmen einer neuen Ethik zu erteilen. Eine solche quasi religiös aufgeladene Wissenschaftsauffassung erklärt die charakteristische Nähe von Ästhetik, Kunst und Religion zu den wissenschaftlichen Disziplinen Pädagogik, Philosophie und Philologie. Manche Forscher waren sich dieser fragwürdigen Tendenz durchaus bewußt. So warnte z. B. Spranger davor, »das Evangelium einer ›intellektualen Anschauung‹, die sich heut bald als ›Erleben‹, bald als ›Intuition‹,

34 35

36

Stefan George: An Gundolf (08/1899). In: SW VI/VII, S. 165. Vgl. hierzu Barbara Schlieben, Olaf Schneider und Kerstin Schulmeyer: Geschichtsbilder im George-Kreis: Wege zur Wissenschaft. In: Dies. (Hrsgg.): Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Göttingen 2004, S. 7–15; Landmann: Um die Wissenschaft, S. 67. Linda Simonis: Geistesgeschichte. In: Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. 3., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, S. 221–223, hier S. 223.

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bald als ›kosmische Schau‹ verkleidet«,37 zu predigen. Allerdings griff diese Selbstreflexion zu kurz, denn auch in den eigentlichen Wissenschaften, nicht nur in einer weltabgewandten künstlerischen Avantgarde wie dem George-Kreis, war der kritisierte »allgemeine Nebel von mystischen Träumereien« zu beobachten, »in dem alle festen Umrisse des Einzeldaseins und der Kultur verschwimmen«.38 Mustergültig für eine solche beinahe kultische Aufladung des neuen Wissenschaftsethos ist eine Äußerung Jaegers, die er im Rahmen einer Standpunktbestimmung der deutschen klassischen Altertumswissenschaften abgab. Die neue Generation der Geistes-, hier speziell der Altertumswissenschaftler habe sich verstärkt der antiken Lebensäußerung zugewandt once more in spiritual need, not as the lofty pundit standing on the pinnacle of modern civilization, and so looking down on the ancients, but as the humble learner who hopes to draw from them some strengthening for his inner life. It comes to antiquity, not in cool interest, but in the renewed experience of its value.39

Der Lebensbegriff als Grundkategorie in den Wissenschaften um 1900 Die Unvereinbarkeit von rationaler Erkenntnis und dem real erfahrbaren Leben stellte sich für Friedrich Gundolf, der hier stellvertretend für die Haltung des George-Kreises, aber auch anderer humanistisch und lebenswissenschaftlich orientierter Gebildeter der Jahrhundertwende angeführt wird, »recht eigentlich [als, BS] der geistige fluch der epoche«40 dar. Deshalb setzten sich die Vertreter des »Dritten Humanismus« dafür ein, den Lebensbegriff als Grundkategorie in den Wissenschaften fest zu verankern. Dabei konnten sie sich auf philosophische Überlegungen stützen, die im Zusammenhang mit der Kritik an einem radikalisierten empirischen Positivismus vorgetragen worden waren. Der scheinbar sterilen, d. h. leblosen und wertfreien, nur auf Sammlung, Zusammenstellung und Rekonstruktion von Einzelphänomenen beruhenden Forschungstätigkeit sollte eine am realen Leben ausgerichtete, ästhetisch-erfahrbare und die Erkenntnisse bündelnde Wissenschaftspraxis gegenübergestellt werden. Vor dem Hintergrund von Nietzsches Kritik an der vernunftorientierten 37 38 39 40

Spranger: Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule. In: GS 1, S. 21. Ebd., S. 23. Jaeger: The Present Position of Classical Studies, S. 45. Gundolf an Friedrich von der Leyen, 08.07.1911. In: Gundolf. Briefe, N. F., S. 88–91, hier S. 90.

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›sokratischen‹ Philosophie sollten rein philosophische Fragestellungen mit Hilfe eines gleichsam natürlichen Rationalismus beantwortet werden. Vertreter der Lebensphilosophie – neben Nietzsche ist hier vor allem an Dilthey, aber auch an Henri Bergson und Georg Simmel zu denken – leiteten Einsichten und Werte aus der Perspektive der Alltagserfahrung ab und nicht aus vorgeblich abstrakten begrifflichen Vernunftsystemen.41 Dabei wurde das Leben als eine geschichtliche Kategorie in einem größeren, kontinuierlichen Entwicklungsprozeß aufgefaßt. Diltheys Programm einer erkenntnistheoretisch-logischen und methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, abschließend dargelegt in seiner Abhandlung ›Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹, prägte die Philosophie nach 1900. Den Geisteswissenschaften in ihrer Funktion als Erfahrungswissenschaften wies er die Aufgabe zu, den handelnden Menschen realistisch und relativistisch in einer komplexen geistesgeschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit intuitiv zu erfassen. Dabei ging Dilthey – ganz historistisch denkend – von einem geschichtlichen Gewordensein aller Kulturformationen und geistigen Gebilde aus sowie von der Grundannahme, daß der einzelne Mensch, aber auch kollektive Individualitäten sich in der Aneignung der überlieferten Kultur entfalteten. Der Schlüssel zu seiner geisteswissenschaftlichen Hermeneutik ist seine Theorie des Verstehens,42 die auf einem empathischen Nacherleben des von Menschen gelebten Lebens basiert und die der Vorstellung Rechnung trägt, in einer ausschließlich rationalen Welt außerhalb des Erlebnisses herrsche Entfremdung und Individuation. Gemäß dem jaegerschen Motto, »[d]as höchste Werk hat Wert nur durch seine Beziehungen zum Leben«,43 eigneten sich die »Dritten Huma41

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43

Detaillierte und umfassende Untersuchungen zum Einfluß der Lebensphilosophie auf Literatur und Geisteswissenschaften der Jahrhundertwende scheinen ein Desiderat zu sein. Auf die Auseinandersetzung Georges und der Mitglieder seines Kreises mit diesen Theoremen – Dilthey und Simmel standen über Jours beim Malerehepaar Lepsius mit dem Kreis in Verbindung, und Gundolf war von Bergson fasziniert, den er während eines Paris-Aufenthaltes an der Sorbonne erlebte – gehen beiläufig folgende Beiträge ein: Robert E. Norton: Das Geheime Deutschland und die Wissenschaft. In: Wissenschaftler im George-Kreis, S. 59–66; Wolfgang Christian Schneider: Geschichtswissenschaft im Banne Stefan Georges. Wolfram von den Steinen im Ringen um die gestalthafte ›Schau‹ der Vergangenheit. In: Wissenschaftler im George-Kreis, S. 329–356, hier v. a. S. 341–349. Zu Dilthey vgl. Matthias Jung: Dilthey zur Einführung. Hamburg 1996; Hans Ineichen: Wilhelm Dilthey (1833–1911). In: Otfried Höffe (Hrsg.): Klassiker der Philosophie. Bd. 2: Von Immanuel Kant bis Jean-Paul Sartre. 2., verbesserte Aufl. München 1985, S. 187–202. Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 164.

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nisten« die diltheysche Vorstellung an, daß die Geschichte des eigenen Volkes nicht auf die konkrete nationale Vergangenheit zu beschränken sei, sondern in einem umfassenderen, organischen Lebenszusammenhang, z. B. im Kontext eines alten Kulturverbundes wie des griechisch-römischen Altertums als vermeintlicher Wiege Europas, gesehen werden müsse und nur so wirklich verstanden werden könne.44 Auch wenn die antike Welt lange untergegangen sei, wirke doch ihr ›Geist‹ in für ihn empfänglichen neuzeitlichen Menschen fort und beeinflusse deren Denken und Handeln. Entsprechend faßte Spranger das griechische Altertum auf als »eine noch immer lebendige Kulturgegenwart, von der sich niemand zu lösen vermag«.45 Die hier angesprochene Vitalität und Gegenwärtigkeit des Vergangenen sei – und hier kommt dann wieder ein lebensphilosophisches Theorem ins Spiel – durch verinnerlichendes Verstehen erfahrbar. Denn das Leben in seiner Gesamtheit – in all seinen Erscheinungsformen wie menschlichen Verhaltensweisen, Geschichtsepochen und Denkweisen – sei eine Art Großtext, den man nur mit Hilfe eines hermeneutischen Verfahrens entschlüsseln und sich aneignen könne. Jaeger beschreibt den neuen geistes- bzw. lebenswissenschaftlichen Verstehensprozeß als »seelische Teilnahme«, als »innigste Wesensberührung mit dem Gegenstande«. Die so initiierte »Wahlverwandtschaft eines empfangenden Ichs und einer gegenständlichen Macht, die sich mit ihm vermählt«, sei wiederum »eine Quelle tieferen Verstehens und häufig genialer Neudeutung«.46 Für ihn stellt sich also der geistige Nachvollzug einer scheinbar fremden Lebensäußerung, die aber in enger Verbindung mit dem eigenen geschichtlichen Sein stehe, als ein schöpferischer Prozeß dar, der eine weitere produktive Handlung evoziere. Im Idealfall übe sie gestalterischen Einfluß auf das gegenwärtige nationale Leben aus. Nach übereinstimmender Überzeugung im »Dritten Humanismus« ist für die individuelle wie überindividuelle Entwicklung eine nachschaffende kongeniale Anschauung dessen, was von als schöpferisch-tätig wahrgenommenen Menschen erlebt wurde, besonders bildsam. Als in dieser Hinsicht vorbildliche Völker bezeichneten seine Vertreter die Griechen und 44 45 46

Vgl. ders.: Antike und Humanismus. In: Ebd., S. 107. Spranger: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Pädagogik für das Volksleben. In: GS 2, S. 270. Jaeger: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. In: HRV, S. 27. – Bereits diese kurzen Zitate verdeutlichen, daß Jaeger, der hier exemplarisch für alle Vertreter des »Dritten Humanismus« herangezogen werden kann, sich auch auf rein sprachlicher Ebene darum bemühte, signifikante lebensphilosophische Schlüsselbegriffe zu verwenden, um dem sinnlich-ganzheitlichen, vitalistischen Fühlen und Wollen Ausdruck zu verleihen.

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Römer, die sie als Stammväter der genial-produktiven abendländisch-europäischen Menschheit verstanden. Den Deutschen als Angehörigen des alteuropäisch-antiken Kulturverbundes würden deshalb eigene »Kultur, Kunst, Dichtung, Wissenschaft, Philosophie, nicht zuletzt unser Staatsgedanke« nur auf der Grundlage »intensivster Auseinandersetzung und Durchdringung der eigenen Volkskräfte mit der geistigen Schöpfung der Antike«47 erwachsen. Anders aber als Dilthey, der geisteswissenschaftliches Verstehen als Beitrag zu einem allgemeinen historischen Verstehen deutete, funktionalisierten die Repräsentanten des »Dritten Humanismus« seinen Verstehensbegriff zur Verinnerung bzw. Schau philosophisch-ideengeschichtlicher Gehalte mit paideutischer Wirkung um. Vor dem Hintergrund, daß wirkliches Verstehen nur durch Orientierung am Erfahrbaren möglich sei, schrieben sie gerade der antiken Überlieferung die Fähigkeit zu, »Originalerlebnisse, Urphänomene […], erste erschütternde Schauungen«, die »großen Grundmotive des Lebens« in Reinform, d. h. »noch unberührt und offen […] für die großen Erschütterungen, für die Tiefe des Ergriffenseins vom Leben und von den Lebenswerten« zu bewahren.48 Als poetische Verarbeitung dieser Idee kann Georges Werk angesehen werden. Ihm liegt der lebensphilosophische Anspruch zugrunde, daß der Mensch »wieder maass werden [muss, BS] fürs leben, ausdruck werden des lebens«.49 In dem Gedicht ›Porta Nigra‹,50 das zwischen Juni 1901 und April 1902 entstand, beklagt das artikulierte Ich die verlorene Verinnerlichung des ›antiken Geistes‹ und seiner Werte in der Gegenwart, die ein wirkliches Leben unmöglich mache. Der junge Römer Manlius, der aus der spätantiken Kaiserzeit in der zeitgenössischen Gegenwart wiedererwacht, erkennt auf seinem ersten Erkundungsspaziergang nur mit Schwierigkeiten im modernen Trier seine alte Heimatstadt wieder. Wehmütig betrauert er die einstige »pracht der Treverstadt« und ihren Ruhm sowie die Lebensfreude ihrer ehemaligen Bewohner. Als Auslöser des diagnostizierten kulturellen Verfalls der Stadt, der sinnbildlich für den Niedergang der gegenwärtigen Deutschen steht, identifiziert er den Verlust eines essentiellen Lebenselixiers, des antiken Bluts. Nur wenn dieses wieder durch die Adern der modernen Deutschen fließe, so die implizite Schlußfolgerung, könnten sie die einstige Würde und Vitalität der antiken Stadtgründer erlangen. Allerdings bleibt in diesem Text noch offen, wie die erforderliche Versor47 48 49 50

Ders.: Antike und Gegenwart. In: Ebd., S. 5. Spranger: Humanismus und Jugendpsychologie, S. 18. Wolfskehl: Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur, S. 15. Stefan George: Porta Nigra. In: SW VI/VII, S. 16f.

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gung des modernen Menschen mit frischem, gesundem und vor allem wiederbelebendem Blut erfolgen könne. Stellt man das Gedicht jedoch in den Kontext des Gesamtwerkes, aber auch von Georges Politik gegenüber seinen Anhängern, so wird deutlich, daß nur auf der Basis eines vitalistischen Humanismus der einzelne Mensch wie das deutsche Volk wieder zu Kräften gelange und sich in seiner Totalität zu entfalten vermöge. Gemäß Nietzsches Maxime – »Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen« –51 intendierten deshalb die Anhänger des »Dritten Humanismus«, den Menschen zu einem emotional-verstehenden Umgang mit der Menschheits- und Kulturgeschichte, zur Vergegenwärtigung des ›antiken Geistes‹ durch »unmittelbare Intuition und Erlebnis«52 zu bewegen. Diese lebens- bzw. geisteswissenschaftliche Stoßrichtung ihrer Bildungskonzeption bringt Erich von Kahler, der über den befreundeten Heidelberger Kollegen Friedrich Gundolf nur einen losen Kontakt mit George und seinen Schülern pflegte, sich aber ihren lebenswissenschaftlichen und ästhetischen Ideen verschrieb, in seinem Essay ›Der Beruf als Wissenschaft‹ zum Ausdruck. Mit dem Titel spielt er auf einen vielbeachteten wissenschaftskritischen Text Max Webers, ›Wissenschaft als Beruf‹53 von 1917/1919, an, in dem der Soziologe den Sinn der Forschungstätigkeit auf die Erkenntnis eines kausalen Mechanismus reduziert, der frei von transzendentalen und ethischen Ambitionen und persönlichen Emotionen sei. Als Replik auf Weber heißt es bei Kahler: Nur derjenige, der mit dem Gefühle weiß, vermag zu handeln. Und um zu diesem Wissen zu verhelfen und zu erziehen, zu diesem Wissen mit dem Gefühl, zu diesem Wissen wegen des Handelns, zu diesem Wissen wegen des hohen, des sinnvollen, des einzig wahren L e b e n s, nur dazu und zu nichts anderem wird unsere neue Wissenschaft da sein müssen.54

Die Projektion des Ganzheitsbegriffs auf die griechische Antike Die zeitgenössische Sehnsucht nach sinnlicher Erfahrung von Lebendigkeit, die auch in den wissenschaftlichen Bereich Einzug hielt, ist nicht von der Forderung nach Authentizität und einem ganzheitlichen Leben zu 51 52 53

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Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie. In: KSA 1, S. 245. Jaeger: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. In: HRV, S. 26. Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Max-Weber-Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Horst Baier u. a. Abt. I: Schriften und Reden. Bd. 17. Tübingen 1992. S. 70–111. Erich von Kahler: Der Beruf der Wissenschaft. Berlin 1920, S. 39.

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trennen.55 Deshalb forderten die Vertreter des »Dritten Humanismus« von einer umgestalteten Wissenschaft auch, daß sie Phänomene nicht mehr atomistisch und losgelöst aus einem größeren Zusammenhang, sondern ganzheitlich, nicht mehr mechanisch, sondern intuitiv betrachten solle. Sie müsse – um auf eine metaphorische Formulierung Friedrich Gundolfs zurückzugreifen – den »Kampf« mit »dem blossen begriffswesen, der zergliederung um der zergliederung willen« aufnehmen.56 Nur wenn es gelinge, reinen Empirismus und strenge Induktion aus den Wissenschaften zu verbannen, könne der Mensch dahingehend gebildet werden, daß er nicht länger wie eine Maschine funktioniere, sondern zu einem wirklichen Verstehen gelange, das der realen Lebensvielfalt gerecht werde, indem es Methoden einschließe, die nicht nur das Rationale und Analysierbare berücksichtigen, sondern auch das Irrationale und Ganzheitliche. In diesem Sinne argumentiert Gundolf, nur derjenige, der »das ganze erlebt, kann es durch gliederung deuten und fassen«. Denn das ganze ist früher als die teile und das ganze ist etwas wesentlich andres als die summe seiner teile. Das ganze ist allerdings nie durch den begriff, nur durch erlebnis, durch anschauung zu fassen. Ohne das ganze haben teile keinen sinn und wert. Wenn mir Homers werk nicht als erlebt lebendiger organismus vor der seele steht, so helfen mir alle realien und grammatikalien nicht: erst wenn ich ihn dichterisch, d. h. als gebild, ohne rücksicht auf historie ergriffen habe, kann ich ihn durch kenntnisse deutlicher, sinnlicher, eindringlicher erleben.57

Bereits die Tatsache, daß Gundolf zur Verdeutlichung seines holistischen Wissenschaftsverständnisses sich eines Beispiels aus dem antiken Hellas bedient, signalisiert, daß die Georgeaner mit der Beschäftigung mit dem Griechentum die Hoffnung verbanden, ganzheitliches Denken und Leben dem zeitgenössischen Menschen nahezubringen. Die genauere Auseinandersetzung mit ihren literarischen wie theoretischen Texten, aber auch mit Jaegers und Sprangers Publikationen bestätigt diesen Eindruck: Alle übertrugen empathische Begriffe, die eine den Teilen übergeordnete Totalität repräsentieren, mit Vorliebe auf die griechische Antike; Hellas galt ihnen als ideale Verkörperung der ursprünglichen Einheit des Seins, 55

56 57

Zur Genese des wissenschaftlichen Holismus vgl. Anne Harrington: Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung. Deutsch von Susanne Klockmann. Reinbek 2002 (= Kulturen und Ideen; re 55577). Gundolf an Friedrich von der Leyen, 08.07.1911. In: Gundolf. Briefe, N. F., S. 88. Ebd., S. 89f.

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d. h. einer sowohl auf das Individuum als auch auf die Gemeinschaft bzw. das soziale Leben bezogenen natürlichen Wirkharmonie aller Kräfte. So identifiziert Jaeger die griechische Kultur als absolut, als den Inbegriff der Form des Menschen in ihrer durch seine Natur selbst vorgezeichneten Vollkommenheit, ihrer Totalität und in der Harmonie ihrer Teile, sich darstellend in der Gesamtheit der historischen Schöpfungen einer Nation und sich als formende Kraft auswirkend in der Bildung ihrer Individuen.58

Aufgrund der ihnen zugewiesenen natürlichen Vollkommenheit in persönlicher wie überpersönlicher Hinsicht könnten die alten Griechen als die »[Lehr-]Meister der übrigen Völker«,59 im besonderen der Deutschen, angerufen werden. Ganz im Sinne Jaegers assoziiert George mit dem antiken Hellas den Gedanken totaler Humanität. Der ›Blätter‹-Aphorismus ›Das Hellenische Wunder‹ beschreibt die Erkenntnis, daß im antiken Griechenland »für die ganze menschheit ein unvergleichbares · einziges und vollkommenes eingeschlossen läge«,60 als eine immerwährende, innerlich ergreifende Erfahrung von paideutischer Qualität. Das geistige Erlebnis und die erfolgreiche Verinnerlichung echter Humanität, die durch Beschäftigung mit den Relikten der griechischen Kultur ausgelöst worden sei, habe schon den ›praeceptores Germaniae‹ wie Goethe, aber auch Shakespeare, der trotz seiner englischen Herkunft als Träger eines ›deutschen Charakters‹ angesehen wird, ihre prägende Kraft verliehen. Sprangers Ganzheitsbegriff ist aber von dem der anderen Vertreter des »Dritten Humanismus« abzusetzen; er stellt eine Besonderheit dar, insofern er von der Tradition einer vermeintlichen exklusiven ›deutschgriechischen Wesensverbundenheit‹ entkoppelt wurde. So konnte sich Spranger gegen eine normative Identifizierung der Totalitäts- und Humanitätsidee mit dem antiken Griechentum aussprechen und schließlich alle Höhepunkte der Menschheitsgeschichte als bildend für die Deutschen propagieren. Folgerichtig bezeichnete er das wirkende Element des neuen Humanismus auch als »Berührung mit einer Kulturtotalität«.61 Er argumentierte, »ein vollendet gestaltetes Leben«, wahre Humanität sei nicht ausschließlich in der griechischen Antike verwirklicht worden, sondern auch in anderen, europäischen wie außereuropäischen Epochen der Menschheitsgeschichte zu finden, die das Griechentum nicht unmittelbar 58 59 60 61

Jaeger: Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung. In: HRV, S. 121. Ders.: Humanismus und Jugendbildung. In: Ebd., S. 44. Das Hellenische Wunder. In: BfdK 9 (1910), S. 2. Eduard Spranger: Das deutsche Bildungsideal der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Beleuchtung (1926). In: GS 5, S. 30–106, hier S. 81 (Hervorhebung BS).

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beeinflußt habe: »Es gibt in jeder Kultur und in jedem Volk Epochen, Menschen, Einzelschöpfungen, in denen der Natur ein besonderer Wurf gelang.«62 Die Auseinandersetzung mit der gesamten griechischen Kultur Im Gegensatz zu den Neuhumanisten, die vorwiegend das mit kultureller und politischer Blüte identifizierte Perikleische Zeitalter rezipiert hatten, richteten die »Dritten Humanisten« den Blick auf die gesamte Geschichte des Hellenentums. Neben der Beschäftigung mit dem fünften und frühen vierten vorchristlichen Jahrhundert bezogen sie auch die griechische Frühzeit und die Epoche des Hellenismus in ihre Überlegungen ein. Dabei erhielten sie den entscheidenden Anstoß von Ulrich von WilamowitzMoellendorff.63 Er hatte als erster die lebensphilosophische Vorstellung, die griechische Welt als ein geschichtliches Ganzes, als einen Wirkungszusammenhang zu behandeln,64 in die wissenschaftliche Beschäftigung mit der antiken Kultur integriert. Seine Forschungen wurden von einem Erkenntnisinteresse geleitet, das den Anspruch erhob, der Vielfalt des griechischen Lebens gerecht zu werden. Als verehrter und geachteter Lehrer prägte er das Denken vieler vom »Dritten Humanismus« beeinflußter Altertumswissenschaftler. Seinem Totalitätsideal entsprechend, dehnte Wilamowitz die Beschäftigung mit der griechischen Welt auf den Hellenismus und die orientalische christlich-griechische Kultur aus. Anders als sein Antipode Nietzsche in Basel, der bereits vor ihm eine erweiterte kulturgeschichtliche Betrachtung der griechischen Antike gefordert hatte, lehnte er dessen vermeintlich irrationalen, vitalistischen Umgang mit dem Hellenentum, wie er beispielhaft in der ›Geburt der Tragödie‹ demonstriert worden sei, zugunsten eines Strebens nach wissenschaftlicher Objektivität ab. 62 63

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Ders.: Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule. In: GS 1, S. 25 (Hervorhebung BS). Zu Wilamowitz vgl. einführend Walther Abel: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. In: Berlinische Lebensbilder. Geisteswissenschaftler. Hrsg. von Michael Erbe. Berlin 1989 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 60,4), S. 231–251; Robert L. Fowler: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (22 December 1848–25 September 1931). In: Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia. Ed. by Ward W. Briggs and William M. Calder III. New York, London 1990, S. 489–522. Vgl. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1906). In: Ders. Gesammelte Schriften. 26 Bde. Ab Bd. 15 besorgt von Karlfried Gründer, ab Bd. 18 zusammen mit Frithjof Rodi. Bd. 7. Hrsg. von Bernhard Groethuysen. 6., unveränderte Aufl. Göttingen 1973, S. 155.

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Das Anliegen, eine allumfassende Auseinandersetzung mit dem griechischen Altertum im Bildungsdenken zu verankern und zugleich seine Bedeutung für die Gegenwart aufzuzeigen, realisierte er 1901 mit seinem ›Griechischen Lesebuch‹.65 In dieses für das Gymnasium bestimmte Unterrichtswerk nahm er originalsprachliche Texte unterschiedlichster Gattungen und Lebensbereiche wie Geschichte, Politik, Geo- bzw. Naturwissenschaften, Mathematik, Medizin, Philosophie, Religion und Ästhetik auf, die den lebendigen Zusammenhang von antiker und moderner Kultur belegen sollten; seine Sammlung deckte den Zeitraum eines Jahrtausends ab und umfaßte nahezu den gesamten Einflußbereich des griechischen Denkens bzw. Wirkens.66 Neben dem Plädoyer für eine universale Ausrichtung der Gräzistik war Wilamowitz ebenso engagiert bestrebt, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandenen altertumswissenschaftlichen Einzeldisziplinen wieder in einer ›Gesamtaltertumskunde‹ zu bündeln. Dabei widmete er den bisher vernachlässigten Teilbereichen Religion und Mythologie, Wissenschaft und Alltagskultur verstärktes Interesse. Vor dem Hintergrund seines Engagements wurde der Aufgabenbereich der traditionellen Altertumswissenschaft über die Geschichte und Philologie hinausgehend auf den irrationalen, dionysischen Bereich ausgeweitet. Allerdings verband Wilamowitz, der noch gänzlich dem alten historistisch-positivistischen Wissenschaftsdenken des 19. Jahrhunderts verhaftet war, mit seiner Intention, »ein neues, lebensvolleres, farbigeres Bild des griechisch-römischen Altertums«67 zu zeichnen, nicht die Frage nach der Verbindlichkeit der neuen Sicht auf die Antike bzw. nach ihrer Bedeutung für das konkrete Leben. Sie wurde – trotz oder gerade wegen Nietzsche – erst von seinen Schülern gestellt und mit der Utopie des »Dritten Humanismus« beantwortet. Angeregt durch eine vergleichbare Motivation wie Wilamowitz, stellte Wolters in den 1920er Jahren eine Anthologie von Texten deutscher 65 66

67

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Griechisches Lesebuch. 2 Bde. Berlin 1906–1910 (= Nachdruck der Ausgabe 1901). Vgl. ebd. Bd. I, Teil 1, S. IV: »Blicken wir […] nur über die wenigen in diesem Bande vereinigten Stücke: aus jedem der Jahrhunderte vom sechsten vor Christus bis zum vierten nach Christus ist etwas darin. Sehen wir uns die Herkunft der Verfasser an: da ist Strabon aus dem fernen Pontos, Epiktet aus dem inneren Phrygien, Poseidonios aus Syrien, Maximus aus Phönikien, Heron aus Ägypten, Diodoros aus einer Sikelerstadt, Marcus aus Rom«. Ernst Vogt: Wilamowitz und die Auseinandersetzung seiner Schüler mit ihm. In: Wilamowitz nach 50 Jahren. Hrsg. von William M. Calder III, Hellmut Flashar und Theodor Lindken. Darmstadt 1985, S. 613–631, hier S. 627.

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Schriftsteller und Gelehrter des späten 18. bis frühen 20. Jahrhunderts zusammen, die über das »Bild der Antike bei den Deutschen«68 in seiner Gesamtheit Aufschluß geben sollte. Mit seiner Sammlung, die die Themengebiete Mythos, Individuum und Gesellschaft, Vates-Figur, Staat, Körperkultur, Kunst, Krieg, Sprache, Geschichte sowie die Beziehung der Deutschen zu den Griechen einbezog, bemühte er sich, einen umfassenden Eindruck von der deutschen Antikewahrnehmung zu vermitteln. Mit seinem »Lesewerk« verfolgte er eine ähnliche Zielsetzung wie Wilamowitz mit seinem Lesebuch: Die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums sollte auf die gesamte Antike als geschlossenes Kulturganzes von der griechischen Frühzeit bis zum Untergang des Römischen Reiches gelenkt werden. Anders als Wilamowitz ging es ihm aber darum, die spezifisch deutsche Perspektive auf das Altertum unter Berücksichtigung der besonderen Beziehung darzulegen, die man sich zwischen antiken Griechen und modernen Deutschen dachte. Mit einer literarischen Sammlung, die vorgab, Ausdruck des ›deutschen Geistes‹ zu sein, war jedoch kein Anspruch auf wissenschaftliche Gültigkeit verbunden und auch nicht die Intention verknüpft, wissenschaftlich zu wirken. Aufschlußreich sind jedoch trotzdem beide Anthologien, weil sie den Zeitgeschmack – das Interesse, das gesamte griechische Leben in all seinen Facetten kennenzulernen – widerspiegeln. Im Einklang mit der angestrebten Erweiterung des Antikebildes forderten die Vertreter des »Dritten Humanismus« eine Auseinandersetzung mit zusätzlichen Quellen des griechischen Lebens neben der Literatur, die auch Erkenntnisse über griechisch-antike Lebensvorstellungen befördern könnten. Gerade die textorientierten Altertumsforscher unter ihnen bemühten sich, die verwandten Disziplinen Archäologie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft im Verbund mit der Klassischen Philologie und Alten Geschichte in die neue humanistische Bewegung zu integrieren.69 Vor diesem Hintergrund initiierte Jaeger fächerübergreifende Organe wie die Zeitschrift ›Die Antike‹, die ›Gesellschaft für antike Kultur‹ oder aber die Weimarer bzw. Naumburger Fachtagungen, deren gemeinsame Zielsetzung es unter anderem war, »die so gewaltig erweiterte Er-

68

69

Friedrich Wolters (Hrsg.): Der Deutsche. Ein Lesewerk. Fünf Teile. Breslau 1925–1927. Hier: Teil 1: Das Bild der Antike bei den Deutschen. Breslau 1925. – Vgl. auch Teil 4: Die Gestalt des Deutschen. Breslau 1926. In den Kapiteln »Vorbilder« und »Ablehnung und Begrenzung« zeigt sich bereits in der Textauswahl die Leitidee, daß die alten Griechen die modernen Deutschen lehren könnten, ihre spezifische Eigenart auszuprägen. Vgl. Marchand: Down from Olympus, S. 310f.; S. 330–340.

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kenntnis des Altertums […] unserer geistigen Bildung von neuem organisch ein[zu]fügen«.70 Mit dem Projekt einer universalen Gesamtaltertumswissenschaft wurde eine Wende gegen die positivistisch und streng historistisch orientierte Philologie des 19. Jahrhunderts als Leitwissenschaft in der Erforschung der griechischen Antike eingeleitet. Denn nur einer erneuerten, die einzelnen Teilbereiche wieder organisch zusammenbindenden Altertumsforschung sprach man das Potential zu, eine enge Wechselbeziehung zwischen Lebensphilosophie und Geisteswissenschaft zu begründen und aufrechtzuerhalten.71 Das Griechentum als Metapher für das Humanistische Eine weitere Neuerung gegenüber früheren Humanismen ist die Übertragung der bisher nur dem Griechentum des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts vorbehaltenen menschenbildenden Gehalte auf andere Vorbilder. Diese Erweiterung ist in Zusammenhang mit dem »dritthumanistischen« Totalitätspostulat zu sehen. Ausgerechnet Jaeger, den man als einzigen Vertreter auf den exklusiven Bildungswert des Hellenentums festlegen kann, deutete paradoxerweise die Möglichkeit an, daß die griechische Kultur- und Menschenformungsidee, die Paideia, auch aus Menschen anderer Zeiten und Länder bzw. ihren kulturellen Hinterlassenschaften, die der Gegenwart noch zur Verfügung stehen, hervortrete. In seinem voluminösen Grundlagenwerk ›Paideia‹, das in den Jahren 1934–1947 entstand, bezeichnet er unter Rückgriff auf den Sophisten Isokrates alle diejenigen als Griechen, die vom ›griechischen Geist‹ ergriffen wurden. Damit verwendet er den Begriff ›Grieche‹ bzw. ›Griechentum‹ im übertragenen Sinne. Daraus läßt sich folgern, daß alles, was unter dem Einfluß der griechischen Kultur- bzw. Bildungsidee steht, bildend wirken und Humanität befördern kann; entsprechend heißt es auch bei ihm: »Wir sagen: Kultur, der Grieche: paideía. ›Nicht wer griechischen Geblüts ist, sondern wer an unserer paideía teil hat, ist ein Grieche‹, sagt Isokrates.«72 In seinen übrigen direkten Stellungnahmen bleibt Jaeger allerdings einer eingeschränkten Ausdeutung verhaftet, wenn er betont, daß sinnstiftende Kräfte nur vom antiken Griechentum ausgingen. 70 71 72

Werner Jaeger: Einführung. In: Die Antike 1 (1925), S. 1–4, hier S. 3. Vgl. z. B. Ulrich K. Goldsmith: Wilamowitz and the Georgekreis: New Documents. In: Wilamowitz nach 50 Jahren, S. 583–612, hier S. 611 (mit Bezug auf Karl Reinhardt). Jaeger: Antike und Humanismus. In: HRV, S. 109.

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Dagegen fassen Spranger, von dem das folgende Zitat stammt, und George und seine Schüler das Humanistische, also die vermeintlich bildenden und schöpferischen Werte, weiter und offener. In einer Abhandlung über den »Stand der Geisteswissenschaften« in der Gegenwart hält er unmißverständlich fest, daß für ihn das antike Griechentum als Bildungsmittel zwar nicht »abgetan sei«, aber auch nicht mehr »das einzige« darstelle, nicht mehr selbstverständlich »das Menschentum« repräsentiere, sondern lediglich »eine Art des Menschentums«, wenn auch eine vergleichsweise »hohe«.73 Aus diesem Grund bezieht sich Spranger in seinen bildungstheoretischen Ausführungen neben Hellas und der deutschen Klassik auch auf das Christentum und die preußisch-deutsche Tradition als richtungsweisende Größen.74 Er subsumiert alle Faktoren, die in irgendeiner Weise zur Ausbildung von Humanität beitrügen – also das, was den Menschen erst zum Menschen mache –, unter dem Terminus »das Klassische« im Sinne von ethischer Vorbildlichkeit und Normativität. In Anlehnung an Herder und Goethe bestimmt er diesen Begriff, den Jaeger und seine Mitstreiter ausschließlich auf das griechische Altertum bezogen, als abstrakten und allgemeinen Oberbegriff einer Lebenshaltung. Mit ihm bezeichnet er alle »geistige[n] Schöpfungen aus verschiedenen Epochen und von verschiedenen Nationen«, die »als Bildungsgüter« zur Entfaltung der Humanität herangezogen werden könnten,75 weil sie in monumentaler Form ethische Ideen vermittelten. Analog zu Jaegers Charakteristik des Griechentums schreibt Spranger klassischen Gehalten, unter die zwangsläufig auch Hellas fällt, drei Merkmale zu: Sie stellten erstens eine lebendige Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her, besäßen zweitens die Fähigkeit zur Veranschaulichung des Ideenhaften und zeichneten sich drittens durch ihre Permanenz und Absolutheit aus. Auch im George-Kreis wurden schöpferische Gehalte anderen, vermeintlich fremden Vorbildern zugeschrieben. Anders als bei Spranger dienten jedoch nicht beinahe beliebige Höhepunkte der universalen Menschheitsgeschichte als Bezugspunkte, sondern ausschließlich Perso73 74 75

Spranger: Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule. In: GS 1, S. 46. Vgl. ders.: Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung. In: Ebd., S. 81. Joachim S. Hohmann: Sinn, Wert, Zweck und Struktur in der Philosophie Eduard Sprangers. In: Beiträge zur Philosophie Eduard Sprangers. Berlin 1996 (= Philosophische Schriften 17), S. 127–264, hier S. 185 [mit Hinweis auf Sprangers ›Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit‹ (8. Aufl. Tübingen 1950, S. 338)].

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nen und Traditionen, die als dem spezifisch deutsch-griechischen Kulturkreis zugehörig gedacht wurden. Bei dieser Übertragung fungierte das Griechentum bzw. Hellas als Chiffre für ein ursprünglich-schöpferisches ›Menschentum‹, das im Verlauf der Historie in wechselnder Gestalt, aber mit identischem Inhalt wiederkehre und mit dem sich kommende Deutsche besonders gut identifizieren könnten. Auf eben diese Bedeutungsverlagerung spielt George in seinem Aphorismus ›Tote und Lebende Gegenwart‹76 an, wenn er etwas verklausuliert vom Hellenentum als Urseinsform spricht, »die nur von ihrer höchsten sinnbildlichen gestalt den namen bekommen« hat. Er fährt fort: »Griechheit · so hoffe ich · wird es immer geben wie es auch einen Katholizismus schon gab vor der Kirche.«77 Wie die Relikte der ursprünglichen griechischen Kultur könnten auch die anderen sinnstiftend wirkenden »Gebilde« den in der Gegenwart vermißten Vitalismus und die beklagte Ganzheitserfahrung bewahren und weitergeben. Prägnantes Beispiel einer solchen Projektion ist die »enthistorisierende Monumentalisierung der großen Gestalt«78 im Zirkel. Mit ihr sei Nietzsches alte Forderung zu erfüllen, »eine Alltags-Melodie geistreich zu umschreiben, zu erheben, zum umfassenden Symbol zu steigern und so in dem Original-Thema eine ganze Welt von Tiefsinn, Macht und Schönheit ahnen zu lassen«.79 Als »Gestalt« bezeichneten die Georgeaner bedeutende Persönlichkeiten der abendländischen Geschichte, wie Platon, der unangefochten als ihr erstes Vorbild galt,80 aber auch Winckelmann, Goethe, Hölderlin und Nietzsche sowie Caesar, Dante, Shakespeare und Napoleon.81 Die genannten Genies hätten alle beispielhaft organische Ganzheit verkörpert und offenbarten sie immer noch durch ihr Werk. Gerade diese Leistung legitimiere, sie als Exempel und zugleich Auslöser für eine schöpferische Tat heranzuziehen, die als notwendig für die gewünschte Umgestaltung der jeweiligen Gegenwart erachtet wurde. 76 77 78 79 80

81

Tote und Lebende Gegenwart. In: BfdK 9 (1910), S. 3. Ebd. Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft, S. 187. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie. In: KSA 1, S. 292. Vgl. Friedemann: Platon. – Siehe auch Groppe: Die Macht der Bildung, S. 412. Zuletzt zur Platon-Begeisterung im George-Kreis, die auf die zeitgenössische Philologie und Philosophie ausstrahlte, Stefan Rebenich: »Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel«. Platon im Georgekreis. In: GeorgeJb 7 (2008/2009), S. 115–141. So z. B. Gundolf: Goethe; Bertram: Nietzsche; Friedrich Gundolf: Caesar. Geschichte seines Ruhms. Berlin 1924; ders.: Shakespeare. Sein Wesen und Werk. 2 Bde. Berlin 1928; Vallentin: Napoleon; ders.: Winckelmann.

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Etwas verwunderlich mag es zunächst anmuten, daß neben Platon und den deutschen Vorbildern auch herausragende Männer anderer Nationen die individuelle wie überindividuelle Erneuerung begünstigen sollten. Diesen Widerspruch lösten die Georgeaner aber auf, indem sie diese als verhinderte Deutsche völkerpsychologisch vereinnahmten. Mit Herder deuteten sie das Ursprünglich-Schöpferische, das in besonderem Maße einen Heros auszeichne, paradigmatisch als Qualität, die nur einem ›deutschgriechischen Charakter‹ vorbehalten sei. Jedoch dürfe das spezifisch ›Deutsche‹ bzw. ›Griechische‹ – und das ist das Entscheidende – nicht konkret und im beschränkten nationalen Sinne, d. h. territorial, geographisch oder ethnisch, ausgedeutet werden, sondern müsse als umfassende und universalhistorische Bezeichnung für eine geistige Verbundenheit, die sich über das gemeinsame Festhalten an bestimmten ethisch-sittlichen Werten definiere, aufgefaßt werden.82 Diese Verbundenheit sei dadurch zu erklären, daß vorbildlichen »Gestalten« ein auf die griechische Antike zurückzuführendes Urbild des Menschen eingeschrieben sei, mit Wolters gesprochen: die »über allen ordnungen eine urseinsform deren mögliche verkörperungen unzählig sind, deren eine verwirklichung wir in Hellas verehren«.83 Als Träger bzw. Verkörperung eben dieser urmenschlichen Eigenschaften und Triebe avancierten die ausgezeichneten Männer zur schöpferisch-wirkenden »Gestalt«, zum – um eine Formulierung Bertrams aufzugreifen – »hinaufziehende[n] Vorphantom des deutschen Werdens«.84 Nach georgeanischer Auffassung läßt sich der in und aus ihnen wirkende ›antike Geist‹ den Zeitgenossen besonders anschaulich durch eine empathische Lebensbeschreibung im geistesgeschichtlichen Gewand, die sogenannte ›Gestalt-Biographie‹ oder auch ›Wesensschau‹, vermitteln, die den Anspruch erhebt, Leben, Werk und Rezeption organisch miteinander zu verbinden. Im Rahmen dieses eigentümlichen, auratisierenden Genres wird ein überzeitlich-gültiges geistiges oder seelisches Profil einer genialen Persönlichkeit unter Berücksichtigung des Zeitgeistes, aber auch ihrer späteren Wirkungen erstellt. Dabei gibt der kosmanthrope ›Heros‹ die Folie ab, um als »das lebendige, allumfassende […] Kompendium«85 in typologischer Spiegelung »Urgedanken und Urerlebnisse« zu präsentieren

82 83 84 85

Vgl. Kantorowicz: Das Geheime Deutschland, S. 160. Wolters: Gestalt, S. 144 (Hervorhebung BS). Bertram: Nietzsche, S. 85. Gundolf an George, etwa 12.10.1910. In: George und Gundolf. Briefwechsel, S. 206f., hier S. 206.

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und diese allmählich »zum Gemeingut der deutschen Gesamtbildung im besten Sinn, d. h. der deutschen Jugend«,86 zu überführen. Die ›deutsch-griechische Wesensverwandtschaft‹ als Bindeglied von Kulturkritik und Griechenrezeption Auch wenn Spranger und die Georgeaner die dem Neuhumanismus entlehnte Idee eines stimulierenden ›griechischen Geistes‹ mit einem allgemein-humanistischen gleichsetzten, wurde doch im »Dritten Humanismus« das Verhältnis der modernen Deutschen zu den antiken Griechen als ein besonders enges und exklusives betrachtet. So kam trotz aller vorgenommenen Metaphorisierungen im funktionsgeschichtlichen Kontext der nationalen Identitätsbildung der deutschen Griechenrezeption die herausragende Bedeutung zu. Gerade vor dem Hintergrund des neuhumanistischen mythischen Konstrukts der ›deutsch-griechischen Wahlverwandtschaft‹ ließen sich Kulturkritik und Griechenrezeption besonders eindrucksvoll verbinden. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Vorstellung von einem ›deutschen Wesen‹, das dem griechischen ›seelenverwandt‹ sei, also ähnliche Vorlieben, Anlagen und Vermögen aufweise, immer wieder aufgerufen, um zu belegen, daß die gegenwärtigen Deutschen wie ihre Ahnen, die antiken Griechen, in der Lage seien, die zersplitterten individuellen wie nationalen Kräfte effizient zu einer Einheit zu bündeln. Und nicht nur das: Die Wiederaneignung der ›ureigensten‹ griechischen Lebensphilosophie und Kulturidee wurde zugleich mit dem Anspruch verknüpft, als Hellenen der Neuzeit wie das Vatervolk eine europäische Vorreiterrolle zu beanspruchen. Die altbewährte Idee der »Grille von der Ähnlichkeit der Griechen und Deutschen«,87 die die Vertreter des »Dritten Humanismus« nicht hinterfragten, sondern wie ein Axiom in ihr Denken integrierten, geht auf Überlegungen Friedrich Schlegels und Wilhelm von Humboldts zurück, der das zitierte Bonmot prägte. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem aus der Verachtung der eigenen Zeit resultierenden Wunsch, eine eigene unverwechselbare und zusammenschweißende Nationalkultur in Absetzung von Frankreich, an dem man sich lange orientiert hatte, zu begründen. Da es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf Grundlage von 86 87

Ders. an George, etwa 10.11.1910. In: Ebd., S. 211. Humboldt an Schiller, 22.09.1795. In: Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. Hrsg. von Siegfried Seidel. 2 Bde. [Ost-]Berlin 1962. Bd. 1, S. 152–159 (Nr. 29), hier S. 157.

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Montesquieus Kulturanthropologie88 als erwiesen galt, daß verschiedenartige Volksmentalitäten (›esprits des nations‹) existierten und daß jeder einzelnen nur spezifische »Gesetze« – eine bestimmte Rechts- oder Gesellschaftsordnung, ästhetisch-kulturelle Prinzipien usw. – korrespondierten, die die nationale Entfaltung begünstigten, wurde die Nachahmung fremder Identitäten, zu denen man auch die Franzosen zählte, radikal hinterfragt. So kritisierten deutsche Gebildete die kulturelle Ausrichtung an Frankreich als nationale Selbstverleugnung und forderten eine konsequente Abwendung vom einstigen Leitbild. Die antifranzösische Haltung der Deutschen steigerte sich mit den zunehmenden politischen und militärischen Erfolgen jener Nation seit 1789, besonders aber nach der eigenen Niederlage in den Napoleonischen Kriegen. In der Folge wurde die verlorene Doppelschlacht von Jena und Auerstedt zum Höhepunkt der deutschen Identitätskrise und des nationalen Minderwertigkeitsgefühls stilisiert. Zur eigenen Rehabilitation propagierten die Schriftsteller und Gelehrten deshalb eine deutsche Überlegenheit auf kulturellem Sektor; in dezidierter Absetzung von Frankreich entwickelten sie ein geistiges, nicht politisch-gesellschaftliches Kulturideal unter Bezugnahme auf die griechische Antike, mit der vor allem Meisterleistungen auf den Gebieten Kunst, Kultur, Philosophie und Bildungsdenken assoziiert wurden. Dabei diente ihnen das idealistische Konstrukt einer »Wahlverwandtschaft mit den Griechen in Sprache, Geist und Charakter«89 als ideologisches Grundgerüst. Die enge und zugleich exklusive Vorstellung von der Griechennähe der Deutschen wurde mit Klopstocks »Gesetz vom Übertreffen« kombiniert, nach dem »sich die deutsche Kulturnation als letzte im europäischen Völkerbund ›als eine Art Summe der europäischen Kulturkette erweisen‹«90 würde. 88

89

90

Charles-Louis de Secondat de Montesquieu: De l’esprit des loix ou Du rapport que les loix doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les mœurs, le climat, la religion, le commerce etc. 2 Bde. Genf 1748. – Zur deutschen Auseinandersetzung mit der montesquieuschen Nationalgeistidee bzw. ihrer ethisch-kulturellen Ausdeutung im Rahmen der eigenen Identitätsbildung vgl. v. a. die folgenden Arbeiten von Conrad Wiedemann: »Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus« (bes. S. 85–91) und »Germanistik als Nationalphilologie? Ein Räsonnement und eine geschichtliche These« [In: Wes Geistes Wissenschaften? Zur Stellung der Geisteswissenschaften in Universität und Gesellschaft. Hrsg. von Heinz Schilling und Conrad Wiedemann. Gießen 1989 (= Gießener Diskurse 1), S. 20–34, hier S. 28–33]. Manfred Landfester: Griechen und Deutsche: Der Mythos einer ›Wahlverwandtschaft‹. In: Mythos und Nation. Hrsg. von Helmut Berding. Frankfurt a. M. 1996 (= Studien zur Entwicklung des kulturellen Bewußtseins in der Neuzeit 3; stw 1246), S. 198–219, hier S. 208. Ebd., S. 209f.

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Durch die vermeintliche Verwandtschaft mit den kulturell hoch eingeschätzten Griechen – Frankreich und die romanischen Völker beriefen sich auf das römische Erbe, mit dem eher kriegerische und politischadministrative Leistungen assoziiert wurden, als Bezugspunkt für die Identitätsbegründung – konnten sich die Deutschen als vom Westen unabhängiges Volk darstellen und zur auserwählten Kulturnation der Gegenwart und Zukunft stilisieren. Geschickt versuchten sie, ihren Antipoden Frankreich mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, indem sie sich auf ein sozusagen noch antikeres Modell beriefen, das bereits von kanonischen lateinischen Autoren als vollkommenes und deshalb unerreichbares Vorbild proklamiert worden war. Demnach konnten sich die Deutschen als viel ursprünglicher und originärer als die Franzosen präsentieren; aus einer ehemals epigonalen, lediglich nachahmenden Nation, so der Tenor der nationalkulturellen Propaganda, entwickelte sich nun eine Originalnation. Auch wenn sich Stefan George gegen Ende des Jahrhunderts auf der Suche nach einem neuen deutschen Dichtungsstil eine Zeitlang am französischen Symbolismus orientierte und der inspirierenden Begegnung mit Mallarmé und Verlaine im Gedicht ›Franken‹91 ein Denkmal setzte, so blieb doch in bildungspolitischer und allgemeinkultureller Hinsicht für die Anhänger des »Dritten Humanismus« die alte antiromanische, antiwestliche, antifranzösische Haltung weiterhin prägend. Ideologische Grundlage ihrer Bezugnahme auf die antike hellenische Welt als Orientierungsgröße blieb die bewährte Vorstellung der ›Wesensverwandtschaft‹, die man nun lebenswissenschaftlich zu erklären suchte. So begründeten sie die verwandtschaftliche Beziehung zwischen antiken Griechen und modernen Deutschen mit der beide Völker auszeichnenden natürlichen Anlage, intuitiv die allgemeinen Wesensgesetze des Menschen zu erkennen und dadurch eine Progression der Humanität zu bewirken. Diese einzigartige und seltene geistige Fähigkeit, die zuerst und prototypisch die antiken Griechen realisiert hätten, sei dem ›deutschen Sein‹ gegenwärtig abhanden gekommen. Sie könne aber durch stimulierenden Kontakt mit einem Urphänomen wiedererweckt werden. In der Folge erlange der Nationalcharakter seine ursprüngliche Gestalt zurück: die ihm inhärente Schaffenskraft, Totalität und Vitalität. In den ›Humanistischen Reden und Vorträgen‹ bezeichnet Jaeger das geistige Prinzip des Griechentums im ›deutschen Sein‹ als konstitutive, lebensnotwendige Substanz, als »Grundfaser«, die man »nicht herausreißen 91

Stefan George: Franken (wohl zwischen 09/1899–08/1900). In: SW VI/VII, S. 18f.

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[kann, BS], ohne den Einschlag des inneren Gewebes mit zu zerstören«.92 Auch in seinem Opus magnum ›Paideia‹ geht er auf die untrennbare »Wurzelverbundenheit« der modernen Deutschen mit den antiken Griechen ein.93 Die Reihe der aus der Botanik entlehnten Metaphern, mit denen er diese organische Elementarbeziehung zwischen beiden Völkern veranschaulicht, läßt sich beliebig fortsetzen. Aber auch weitere Aufzählungen helfen nicht, dieses Phänomen konkret zu fassen; immer wieder münden seine Beschreibungen in die Erkenntnis, daß es sich bei dem griechischen Erbe im ›deutschen Wesen‹ um eine natürliche Anlage, eine vorgeprägte Kraft handele, die erst durch Befruchtung mit dem Komplement aktiviert werde und damit schließlich den wahren ›deutsch-griechischen Charakter‹ zum Vorschein bringe. Auch im Bildungsdenken des George-Kreises und in der Erziehungskonzeption Sprangers spielte das humboldtsche Diktum, die Griechen seien »für uns, was ihre Götter für sie waren; Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein«,94 eine entscheidende Rolle für die anthropologische Begründung des Nationalcharakters. George erklärte die einmalige Beziehung der Deutschen zu den Griechen über die beide Volksstämme auszeichnende hohe Schöpferkraft. Als Argument diente ihm der evidente Zirkelschluß, die Neuhumanisten seien genial, weil sie das Griechentum als originäres ›Menschentum‹ erkannt hätten; dazu seien sie aber nur befähigt gewesen, weil sie über ein den Griechen ähnliches Denken verfügten, d. h. weil dem ›deutschen Sein‹ griechische Wesenszüge innewohnten, ja jenes diesem artverwandt sei. Vor diesem Hintergrund betonte er gegenüber Vallentin, der viele seiner Gespräche mit George protokollierte: Erst durch Goethe – Winckelmann – Herder sei man auf die Griechen – den Ursprungstypus der Antike – gekommen. Dies sei eine unerhörte Tat, deren ganze Bedeutung man heute noch gar nicht würdigen könne. Diese Tat hätte nur von Deutschen getan werden können. Nietzsche habe Recht, wenn er sage, dass im Deutschen etwas vom Griechischen sein könne.95

Auch Wolters verweist in seiner Rede ›Hölderlin und das Vaterland‹ auf die originäre und gleichzeitig exklusive Beziehung zwischen beiden Völkern, wenn er hervorhebt, daß »wir seit unserem geschichtlichen Ur92 93 94 95

Jaeger: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. In: HRV, S. 30. Vgl. ders.: Paideia. Bd. 1, S. 5 (Zitat ebd.). Humboldt: Über den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben. In: Werke 2, S. 65–72, hier S. 65. Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 56 (Aufzeichnungen zum 07.12.1921).

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sprunge her unlösbar mit dem Leben der Antike verbunden sind«, daß »wir durch alle unsere wechselnden Schicksale hindurch bis heute immer neue zeugerische Spannungen dieser Verbindung schufen«.96 Seiner Auffassung nach beruht diese enge Verbindung auf der »heilige[n] Geschwisterehe« der »deutsche[n] Seele mit dem Geiste von Hellas«.97 Der Topos der »Heiligen Heirat«, den die Georgeaner metaphorisch zur Umschreibung des exklusiven geistig-innerlichen Verhältnisses von Griechentum und ›Deutschtum‹ verwenden, findet sich bereits in Georges Aphorismus ›Das Hellenische Wunder‹. Dort spricht er im Rahmen der propagierten Erneuerung durch die alten Griechen von einer geistigen »durchdringung · befruchtung · eine[r] Heilige[n] Heirat«98 in Abgrenzung von dem epigonalen Umgang mit dem Leitbild, der lediglich die Aneignung rein äußerlicher Merkmale bewirke. In Sprangers Bildungsutopie läßt sich das Verhältnis von ›deutschem‹ zu ›griechischem Geist‹ auf den ersten Blick nicht so eindeutig als angeborene ›Wesensverwandtschaft‹ bestimmen, sondern vielmehr als etwas, was erst noch erworben und erkämpft werden müsse. So charakterisiert er in der Festrede mit dem programmatischen Titel ›Die Antike und der deutsche Geist‹ das Griechentum einleitend als »gewaltigen Mitspieler, an dessen Wesensart sich das eigentümlich Deutsche erst zu seiner Form und Bewußtheit empor[arbeiten]«99 müsse. Im folgenden knüpft er aber an den alten Topos von der mythischen Verwandtschaft an, wenn er Hellas als den »großen Vorfahren« – als väterlichen Ahnen – der Deutschen bezeichnet, von dem sie »erb[en]«, mit dem sie sich »vergleich[en]« und sich »an der von ihm erreichten Höhe« messen würden.100 Auf der Basis einer mutmaßlichen Annäherung im Wettstreit – in Sprangers Worten einer »schöpferischen Synthese« – werde eine »höhere Stufe des Weiterwirkens«, eine »deutsche Weiterbildung« initiiert, die wiederum Grundvoraussetzung für den von den Griechen übernommenen Menschenbildungsauftrag sei.

96 97 98 99 100

Friedrich Wolters: Hölderlin und das Vaterland (1926). In: Vier Reden über das Vaterland. Breslau 1927, S. 59–98, hier S. 72. Ebd. Das Hellenische Wunder. In: BfdK 9 (1910), S. 2. Eduard Spranger: Die Antike und der deutsche Geist. München, Berlin 1925 [= Sonderdruck aus Bayerische Blätter für das Gymnasialschulwesen 61 (1925), Heft 4], S. 4. Ebd., S. 5.

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Der umfassende Anspruch auf Bildung Die Idee eines zukünftigen deutschen »Weiterwirkens«, die Vorstellung, ganzheitliches, vitalistisches, menschenwürdiges Sein in Deutschland und anderswo wieder zu ermöglichen, wurde über die Verbindung von Kulturkritik und Griechentum konstruiert. Sie sei aber – wie es die Vertreter des »Dritten Humanismus« immer wieder betonten – nur mit Hilfe organischer Bildungsprozesse zu verwirklichen, die es dem Individuum ermöglichten, die eigene deutsche Natur zu verstehen als Vorbedingung für ihre bestmögliche Adaptation an konkrete situative Erfordernisse. Insofern läßt sich sowohl bei George und seinen Schülern als auch bei Jaeger und Spranger der hohe Stellenwert des pädagogischen Gedankens erklären. Sie alle versuchten, durch die Bereitstellung bildungspolitischer Modelle dem umfassenden Anspruch gerecht zu werden, allgemeine Humanität zu befördern und auf ihrer Grundlage auch zur Restitution des nationalen Lebens beizutragen. Dabei gingen sie von einer grundsätzlichen Bildbarkeit des Menschen aus, denn wie Platon gezeigt habe, sei dem Menschen eine seiner Natur entsprechende allgemeine Idee eingeprägt, die im Bildungsvorgang allmählich plastische Form annehme. Daneben verknüpften sie mit ihrer Utopie eine Wirkmächtigkeit, nämlich über die individuelle Entfaltung die gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung entscheidend beeinflussen zu können. Als Legitimation und Antriebskraft ihres Bildungsdenkens verwiesen sie auf die transzendentale Kraft der griechischen Paideia, der reinen Menschenbildungsidee, mit deren Hilfe die Hellenen die Vervollkommnung des Menschen erfolgreich durchgeführt hätten: Erziehung zum Menschen: dies ist der Gedanke, den die Griechen in die Welt geschleudert haben wie die Fackel des Prometheus unter Troglodyten, die im Finstern hockten. Auf dieser Schöpfungstat beruht die erzieherische Kraft der Griechen für die späteren Völker. […] Im Mittelpunkt ihrer Erziehung steht der Mensch, nicht als Berufswesen, als nutzbares Glied einer Zweckgemeinschaft, wie für die soziale Pädagogik unserer Zeit, sondern rein als Mensch.101

Wie schon bei den Begründern der »Erziehung zum Menschen« waren die paideutischen Überlegungen im »Dritten Humanismus« keine rein ästhetischen und wirklichkeitsfremden Ideengebilde, sondern antworteten auf reale menschliche Bedürfnisse und korrelierten mit der konkreten nationalen Situation. Georges ganzheitliches künstlerisch-musisches Erzie101

Jaeger: Humanismus und Jugendbildung. In: HRV, S. 44.

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hungsprogramm diente der Heranbildung junger Aspiranten für die Gemeinschaft, Jaegers und Sprangers Überlegungen fanden Eingang in die Lehrpläne der Gymnasien – darüber hinaus übten sie großen Einfluß auf die Meinungsbildung im Bildungsbürgertum aus. Bei der Realisierung all dieser Ambitionen spielten – gerade vor dem zeitgenössischen Hintergrund der populären und in den Geisteswissenschaften einflußreichen Lebensphilosophie – Verinnerlichungs- und Psychologisierungsstrategien eine entscheidende Rolle. Denn ganzheitliches Denken und Handeln erfordere neben der Ausbildung geistiger und intellektueller Fertigkeiten zugleich eine »Erziehung der Herzen«, die »Ausbildung gemeinsamer Muster des Fühlens und Leidens, eines gemeinsamen Pathos«.102 Auf die essentielle Bedeutung der Empathiefähigkeit für den Bildungsvorgang wies Jaeger 1918 in einer mit ›Geschichte und Leben‹ überschriebenen Rezension hin, wenn er betonte: »Alles Verstehen anderer Menschen ist ein Deuten aus der Fülle des eigenen Seins. Wer nichts innerlich erlebt hat, dem ist die Welt um ihn herum und das Schicksal der Mitmenschen stumm.«103 Die anderen Vertreter des »Dritten Humanismus«, die in dieser Untersuchung im Mittelpunkt stehen, stimmten mit ihm darin überein, daß wahre humanistische Betätigung »zugleich […] Gegenstand« wie »Vollzug«104 impliziere. Allerdings variierten ihre Auffassungen bezüglich möglicher Stimulanzien, die die emotionale Reiz-Reaktions-Kette im Individuum auslösen und damit durch Verinnerlichung seine Paideia einleiten könnten. Während sich Jaeger und Spranger allein auf die Wirkmächtigkeit der sprachlichen bzw. materiellen Hinterlassenschaften der alten Griechen beriefen, unterstützte bzw. beschleunigte im georgeanischen Denken das sinnliche Erleben der Antike den Bildungsprozeß: auf Kostümfesten, durch rituelle Handlungen, Lesungen und nicht zu vergessen durch homoerotische Praktiken.

102

103 104

Ulrich Raulff: Der Bildungshistoriker Friedrich Gundolf. In: Friedrich Gundolf. Anfänge deutscher Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winckelmann. Aufgrund nachgelassener Schriften Friedrich Gundolfs bearbeitet und hrsg. von Edgar Wind. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Ulrich Raulff. Frankfurt a. M. 1992 (= fw 11241) [zuerst hrsg. von Elisabeth Gundolf und Edgar Wind. Amsterdam 1930], S. 115–147, hier S. 144. Werner Jaeger: Geschichte und Leben. In: NJklA 42 (1918), S. 169–180, hier S. 169. Harald Patzer: Der Humanismus als Methodenproblem der klassischen Philologie (1948). In: Hans Oppermann (Hrsg.): Humanismus. Darmstadt 1970 (= WdF 17), S. 259–278, hier S. 276.

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Die sinnlich gelebte Antike im George-Kreis Eine Maxime der Runde um George bestand darin, die griechisch-antike Welt konkret, also in der Gegenwart, leibhaftig nachzuvollziehen. Die postulierte Anverwandlung und Erprobung des als belebend identifizierten ›griechischen Geistes‹ sowie der auf diese Epoche projizierten Menschenbildungsidee sollten die avantgardistisch anmutenden Lebensformen des Kreises begünstigen. Dabei wurde der Entfesselung dionysischer Urerfahrungen ebenso wie dem Erlebnis des hohen Augenblicks, des Kairos, beim Nachvollzug antiker Feste, Riten und Kulte die Funktion zugeschrieben, wahre Humanität zu entfalten und eigene schöpferische Produktion zu stimulieren. Denn wer selbst würdig leben und gleichzeitig neues Leben begründen wolle, so ihre Auffassung, habe die Grenze zu Rausch und Ekstase zu überschreiten. In einem Brief an George berichtete Vallentin über die revolutionäre, als Sinn und Leben stiftend wahrgenommene »aufwühlung und erschütterung des ganzen selbst«, die ihn während einer Zusammenkunft des Kreises im »Kugelzimmer«, dem Münchner Sanktuarium des Kreises in Wolfskehls Haus, ergriffen habe: Hier im verpflichtenden mittleren raume, in den alles leben einhellig eingelassen scheint, rückt das gesamte weltliche in eine neue runde umfänglich fühlbare rauschhaft anrührende zweifelsfreieste leiblichkeit. Und alles was man von diesem tage anfasst, hat einen neuen frischen flaum des lebens, dass man es als anfängliches neu geniessen neu erleben muss.105

Im Rahmen der Bemühungen, das innerliche Erleben dieser produktiven Kräfte herbeizuführen, wurde der pädagogisch-philosophischen ErosErfahrung eine hohe Wertschätzung beigemessen. Einerseits fungierte der Eros als Bindeglied der Anhänger untereinander; zur Stärkung der Gemeinschaft wurden deshalb homoerotische Praktiken gepflegt. Andererseits regte er auch die künstlerische Betätigung an, indem er im Drang nach Erkenntnis »die Liebe zur Idee und zu ihrem Verkünder, dem Dichter«,106 zu entfachen vermöge. Ein solches, nicht sinnliches, sondern rein geistiges platonisches Liebesverhältnis zwischen »Meister« und Schülern hatte sein Vorbild in der griechischen Antike in der Akademie Platons. Auch hinsichtlich der Formen und Lehrmethoden, auf die George und 105

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Vallentin an George, 04.01.1911, zitiert nach Stefan George. Dokumente seiner Wirkung. Aus dem Friedrich-Gundolf-Archiv der Universität London. Hrsg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock mit Karlhans Kluncker. 2. Aufl. Amsterdam 1974 (= CP 111–113), S. 262f. Groppe: Die Macht der Bildung, S. 418.

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seine Anhänger zurückgriffen, lassen sich viele Bezüge zur platonischen Tradition aufzeigen. Wie der antike Philosoph versammelte George in seinem esoterischen Dichterstaat107 eine kleine elitäre Gruppe junger Männer um sich. Er beabsichtigte, in einer ordensähnlichen Gemeinschaft die in der ›Politeia‹ entworfene Utopie des idealen Staates, in dem Philosophenkönige zu Herrschenden avancierten, zu verwirklichen und mit Hilfe bewußter Erziehung allmählich der konstatierten allgemeinen Auflösung der Kultur entgegenzuwirken.108 Diese Zielsetzung bringt ein ›Blätter‹-Merkspruch auf den Punkt. Er lautet: NEUER BILDUNGSGRAD (KULTUR) entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrhythmus offenbaren der zuerst von der gemeinde dann von einer grösseren volksschicht angenommen wird.109

Zudem erinnert Georges Vorliebe, revolutionäre Gedanken im kritischen Dialog zu entwickeln, an die platonisch-sokratische Gesprächskultur.110 Die für die Runde um den Dichter charakteristische Meister-Jünger-Konstellation verweist auf das streng hierarchische Schüler-Lehrer-Verhältnis bei Platon.111 Wolters und Gundolf beschrieben die innere Ordnung des sektenähnlich anmutenden Kreises mit den formelhaften, programmatischen Wendungen ›Herrschaft und Dienst‹ sowie ›Gefolgschaft und Jüngertum‹.112 Diese sollten die streng reglementierte Rangordnung innerhalb der Gruppe zum Ausdruck bringen, aber auch den verlangten Gehorsam und zugleich die aufopferungsvolle Hingabe an den »Meister« George sowie seine kultische Adoration vermitteln.113 Von Wolters wurde George 107

108 109 110 111 112

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Der Terminus ›Staat‹ wurde in Anlehnung an Platons ›Politeia‹ von Georges Schülern ab 1910 häufig zur Selbstbeschreibung der Gemeinschaft verwendet. – Vgl. Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 466. Vgl. ebd., S. 180. Neuer Bildungsgrad (Kultur). In: BfdK 5 (1900/1901), S. 1. Vgl. Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 179. Vgl. ebd., S. 466. Friedrich Wolters: Herrschaft und Dienst. In: BfdK 8 (1908/1909), S. 133–138 [In erweiterter Form: Berlin 1909]; Friedrich Gundolf: Gefolgschaft und Jüngertum. In: BfdK 8 (1908/1909), S. 106–112. Ute Oelmann warnt allerdings zu Recht davor, aus den Projektionen und Stilisierungen Gundolfs und Wolters’ zu folgern, daß George bereits mit einem »absoluten Willen zur Macht, zu Unterwerfung und Entmündigung« angetreten sei und »quasireligiöse Verehrung« eingefordert habe. Wie sie anhand früher Texte aus seiner Feder zeigt, hätten sich die charakteristischen »Vorstellungen von seiner Dichterrolle und seiner Funktion« erst »im Widerspiel mit den Erwartungen und Forderungen entwickel[t], die ihm von außen« entgegengebracht wurden [»Eine Sehnsucht nach höherer Kunst«. Vom Umgang mit dem Dichter George. Zwei Fallstudien. In: Verehrung, Kult, Distanz. Vom Umgang mit

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zum quasi-religiösen mächtigen Herrscher eines geistig-sakralen Reiches stilisiert, der eine menschenformende »geistige Tat« vollbringe. Der in seiner beinahe schon als heilig apostrophierten Dichtung inkorporierte Gehalt ergreife und bilde die Schüler so intensiv, daß sie selbst schöpferisch und missionarisch tätig würden. Ähnlich wie bei Jaeger der prometheische Grieche den aufgeklärten Menschen Licht – Weisheit, Mündigkeit und Tatkraft – gebracht habe, wird Georges Herrschaft in Wolters’ Programmschrift ›Herrschaft und Dienst‹ als »jene macht« gedeutet, »welche ihr licht aus der lebendigen mitte schleudert […] und indem sie damit den gliedern und gewalten ihre art aufdrückt · das gepräge des Geistigen Reiches für den kreislauf ihrer zeit bestimmt«.114 Die dienenden Untertanen werden mit »empfänglichsten gefässe[n]« verglichen, die angefüllt und »von dem immerwährenden strome gespeist die weiteren kreise« überströmen.115 Georges Schüler, so die implizite Schlußfolgerung, vermittelten über ihre Poesie, aber auch über ihre wissenschaftlichen Texte einem erweiterten interessierten, universitär-gebildeten Kreis dieses Gedankengut. Damit wird der Kunst bzw. Wissenschaftskunst die didaktische Funktion übertragen, die alte griechisch-antike Bildungsidee in eine ästhetische Form zu prägen, die von Bildungshungrigen dechiffriert werden könne. Dabei bezieht sich Wolters auf das platonische Theorem, Kunst werde aus einer ›idea‹ – hier der Paideia – hervorgebracht. Die literarische bzw. wissenschaftliche Produktion avanciert demnach zur ethischen Verpflichtung, zum »Dienst« am neuen Menschen in einer neuen Gemeinschaft. Noch nachdrücklicher als Wolters beschreibt Gundolf diese Aufgabe der Georgeaner als hingebungsvolle und ehrfürchtige Aufopferung der »Jünger« für das Menschenbildungs-Evangelium ihres »Führers« George. Dabei verfällt er in einen formelhaften Sprachduktus, der durch biblische Anspielungen, synästhetische Bilder, vitalistisches Vokabular und biologistische Metaphern gekennzeichnet ist, wie folgendes Zitat aus dem Essay ›Gefolgschaft und Jüngertum‹ belegt: Seine bilder sollen sie nicht m a c h e n · sondern sein werk s e i n · nicht seine erstarrten züge und gebärden aufstellen und herumtragen sondern sein blut und seinen hauch · sein licht und seine wärme · seine musik und seine bewegung aufnehmen in ihr dasein und weitergeben in die noch starre oder leere welt ·

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dem Dichter im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Braungart. Tübingen 2004 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 120), S. 279–290, hier S. 286]. Wolters: Herrschaft und Dienst, S. 134. Ebd., S. 135.

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wandelnde öfen die er geheizt hat · stoff den er beseelt: seines grossen atems umsetzung · verkörperung · vervielfältigung .. auch ohne dass sie reden spuren und strahlen und samen seiner kraft. Dazu tut not dass sie sich mit seinem wesen füllen und mit dem was ihn füllt.116

Literatur und Kunst als Medien eines lebendigen Humanismus bei Jaeger und Spranger Wie die Georgeaner gingen Jaeger und Spranger in ihren Bildungskonzeptionen von der Prämisse aus, eine ganzheitliche Formung des Individuums lasse sich am besten durch Berührung mit dem ursprünglichen Kultur- und Bildungsgedanken verwirklichen. Jedoch dachten sie nicht daran, die Antike ›nachzuspielen‹, um ihre Paideia zu erfahren und zu verinnerlichen, sondern sie bevorzugten einen kulturhistorischen Zugang: Sie deuteten die Geschichte Hellas’ als organische Entfaltung der Humanität und sprachen den literarischen und architektonisch-plastischen Hinterlassenschaften altgriechischer Zeit die Fähigkeit zu, das vitalistische und menschenformende Ethos zu bewahren und an nachfolgende Generationen weiterzugeben. In Jaegers Modell nimmt die Literatur allerdings eine privilegierte Stellung gegenüber der Kunst ein, der Spranger auch sinnstiftende Qualitäten zuschreibt. Jaeger geht es nicht – wie noch dem Klassizisten Winckelmann – um die ästhetische Erfahrung des vollendet Schönen im Kunstwerk, das Erleben seines Konturs als geistiges Prinzip, sondern um eine vorwiegend ethisch-pädagogische Erkenntnis. Zu deren Vermittlung eigne sich die Literatur als abgeschlossene Bildungswelt am besten, denn sie stelle den eigentlichen Träger der griechischen Kultur- und Menschenbildungsidee dar, die »via triumphalis der erzieherischen Idee«.117 Entsprechend formuliert Jaeger in seiner ›Paideia‹: [D]ie Geschichte der griechischen Bildung [fällt, BS] im wesentlichen zusammen mit der sogenannten Literatur. Sie ist im ursprünglichen Sinne ihrer Schöpfer der Ausdruck der Selbstformung des griechischen Menschen.118

Die Präferenz der Literatur gegenüber der bildenden Kunst als Mittlerinstanz zum Altertum und Objekt der Menschenbildung wurde bereits von Humboldt herausgestellt. In ›Über das Studium des Alterthums‹ hält er fest, die Dichtung besitze den höchsten Wert für die Bildung des Men116 117 118

Gundolf: Gefolgschaft und Jüngertum, S. 110. Jaeger: Humanismus und Jugendbildung. In: HRV, S. 45. Ders.: Paideia. Bd. 1, S. 18.

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schen,119 und an Schiller schreibt er, es sei die Bestimmung der Poesie, »der Menschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben«.120 Gegen den Gedanken, die antiken Kunstobjekte als Wegweiser zum hellenischen Altertum zu instrumentalisieren, verschließt sich nach Jaeger das vermeintlich ›exotische‹ Kunstempfinden der gegenwärtigen Moderne: Denn die zeitgenössische Kunst beherrsche eine ästhetische Formverwirrung, ein Stilpluralismus, der es nahezu unmöglich mache, einheitliche ästhetische Normen der Rezeption festzusetzen. Ein solcher Merkmalskatalog zu Bestimmung und Interpretation hoher Kunst sei aber dringend erforderlich, da vielen Gegenwartsmenschen das intuitive Gespür fehle, ausdrucksstarke und sinnstiftende Gehalte innerhalb der Objekte zu erkennen. Dadurch werde ein wahrhaftig inneres, empathisches Erfassen der ›klassisch-griechischen‹ Meisterwerke der bildenden Kunst und des ihnen inkorporierten paideutischen ›Geistes‹ nicht nur erschwert, sondern in vielen Fällen sogar verhindert.121 Aus diesem Grund werde auch ein moderner Winckelmann […] nicht von der Kunst, von der morphé aus den Weg zum Hellenischen suchen, sondern von den Geistesschöpfungen ausgehen, in denen diese unteilbare Einheit aller Kräfte des Geistes einen zwar weniger für alle sinnfälligen, aber expliziten Ausdruck findet, von der Literatur, von dem Logos.122

Als weiteres Argument für den Vorzug der Sprache gegenüber der Kunst führt Jaeger die Tatsache an, daß die geistigen Repräsentanten der griechischen Kultur- und Bildungsidee, also die Dichter, Philosophen und Gesetzgeber, Grundlagen des griechischen Lebens immer schriftlich fixiert hätten. So kann er dann auch behaupten, die eigentlichen Träger der Paideia im Sinne der Griechen [sind, BS] nicht die stummen Künste des Bildhauers, Malers und Baumeisters, sondern Dichter und Musiker, Philosoph und Rhetor d. h. Staatsmann. […] Wort und Ton […] sind dem Griechen die seelenformenden Kräfte schlechthin, denn das Entscheidende in aller Paideia ist das Tätige, das bei der Bildung des Geistes noch wichtiger wird als in dem Agon der körperlichen Fähigkeiten.123 119 120 121 122 123

Vgl. Humboldt: Über das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondere (1793). In: Werke 2, S. 1–24, hier S. 15. Ders. an Schiller, 18.12.1795. In: Schiller und Humboldt. Briefwechsel. Bd. 1, S. 265–269 (Nr. 51), hier S. 265. Vgl. Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 173f. Ebd., S. 174. Ders.: Paideia. Bd. 1, S. 18.

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Gerade die intensive, auf Interaktion angelegte Beschäftigung mit griechischen Texten und ihren Inhalten bewirkt in Jaegers Argumentation eigenes schöpferisches Handeln. Durch Lesen – d. h. im Sinne des lateinischen ›legere‹ in der Bedeutung ›auflesen‹ und ›bewahren‹ – der in Texten konservierten Wert- und Normvorstellungen und ihrer schöpferischen Gehalte werde die eigene wie überindividuelle Entwicklung vervollkommnet. Jaegers entschiedene Vorbehalte gegenüber der bildenden Funktion der Kunst sind im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Kunsterziehungsbewegung zu sehen, die überzeugt war, daß auch die künstlerische Tätigkeit die kulturelle Entfaltung fördere und daher den bildnerischen Erkenntnisvorgang dem sprachlichen als gleichwertig gegenüberstellte.124 In der Konsequenz konnte die vormals der Sprache vorbehaltene Deutungsmacht nun durch die bildende Kunst herausgefordert bzw. in ihre Schranken gewiesen werden. Auch im privaten Leben läßt sich die vergleichsweise geringe Bedeutung nachweisen, die Jaeger in seiner Utopie der visuellen Anschauung beimaß: So überliefert Calder III, daß Jaeger selten Museen besuchte und erst spät nach Griechenland reiste. Diese Fahrt unternahm er aber nicht wie andere Graecophile aus eigenem Antrieb zur Inspiration oder geistigen Erbauung, sondern lediglich, um die Ehrendoktorwürde der Athener Universität in Empfang zu nehmen.125 Jaegers Desinteresse an antiken Ruinenstätten ist um so erstaunlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, daß noch die ältere Philologengeneration nach Hellas-Fahrten geradezu gelechzt hatte (großer Anziehungspunkt waren die deutschen Ausgrabungen in Olympia und Pergamon) ebenso wie die griechenlandbegeisterten Intellektuellen um 1900 – zu erinnern ist hier an Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler, Gerhart Hauptmann, Rudolf G. Binding und Isolde Kurz –,126 die den ›heiligen‹ griechischen Boden betraten, um das Land der Sehnsucht mit eigenen Augen erblicken zu können. Auch in Sprangers Konzeption übernahm das Textstudium eine wegweisende Funktion in bezug auf die individuelle wie kollektive Bildung. Anders als Jaeger versprach er sich aber neben der Beschäftigung mit der 124 125 126

Vgl. Peter Ulrich Hein: Die Brücke ins Geisterreich. Künstlerische Avantgarde zwischen Kulturkritik und Faschismus. Hamburg 1992 (= Kulturen und Ideen; re 521), hier S. 11. Vgl. Calder III: Werner Jaeger, S. 350. Vgl. Gerhart Hauptmann: Griechischer Frühling. Berlin 1908; Hugo von Hofmannsthal: Augenblicke in Griechenland (1908–1917). Regensburg, Leipzig 1924; Harry Graf Kessler. Das Tagebuch 1880–1937. Hrsg. von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott u. a. Bd. 4: 1906–1914. Hrsg. von Jörg Schuster u. a. Stuttgart, Leipzig 2005, S. 450–486; Rudolf G. Binding: Erlebtes Leben. Berlin 1927; Isolde Kurz: Wandertage in Hellas. München 1913.

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kanonischen antiken Literatur gerade von einer Auseinandersetzung mit Texten der deutschen Klassik die angestrebte Fortentwicklung des eigenen Seins wie des Nationalcharakters. So postuliert er in seinem Humboldt-Buch: »Als erste Quelle unsrer letzten Bildung kann nie und nimmer das Altertum angesehen werden, sondern allein die deutsche klassische Literatur und der deutsche Idealismus.«127 Für Spranger stellte die Zeit um 1800 einen bedeutenden Anknüpfungspunkt dar, weil in ihr spezifisch deutsche Probleme behandelt worden seien, die auch jetzt die Gegenwart bedrängten und die als Grundlage der eigenen Lösungsstrategien dienen könnten.

Die Leitgröße Philologie im Spannungsfeld des Nationalismus Nach allgemeiner Überzeugung des »Dritten Humanismus« beförderte die Beschäftigung mit den als klassisch eingestuften Texten und ihre schöpferische Auslegung sowohl die individuelle als auch die nationale Entfaltung der Deutschen. Neben einer leistungsfähigen humanistischen Hermeneutik, die auf lebensphilosophischen Theoremen Diltheys basierte, sollte die Philologie als genuine Wissenschaft der Textexegese den Bildungsprozeß maßgeblich unterstützen, indem sie für eine produktive Auslegung der schriftlichen Überlieferung Kriterien vorgab und Instrumentarien bereitstellte. Aus diesem Grund restituierten Jaeger, Spranger und George mit seinen Schülern die Stellung der Philologie, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in Verruf geraten war, und erhoben diese wieder in den Rang einer Leitwissenschaft und ersten Wissenschaft des Humanitätsstudiums. Dabei projizierten sie auf die Philologie die paideutische Kraft, den Blick bzw. das Bewußtsein des Lesers für das in der Antike angelegte menschliche Urbild zu schärfen, das im Widerspruch zur eigenen Existenz stehe; als Reaktion auf diese Erkenntnis würden die Rezipienten angespornt, sich selbst nach dem Vorbild der alten Griechen zu entfalten und zugleich die ihrem ›Wesen‹ eingeprägte nationale Eigenart auszubilden. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die klassische (also griechisch-römische) Philologie in ähnlicher Weise als wertsetzende ›prima studia humaniora‹ fungiert. Jedoch büßte sie diese Stellung im letzten Jahrhundertdrittel zugunsten der Geschichtswissenschaft wieder ein. Der Historie wurde der Vorzug gegeben, weil sie als Wissenschaft, die den An127

Eduard Spranger: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909, S. 497.

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spruch geltend machen konnte, der ganzen Wirklichkeit zu dienen, sui generis Werte verzeitlichte und sich gegenüber einer Selektionsbestimmung auf das Wesentliche bezog: Die Geschichte besaß weder »eine feste Mitte noch einen abschließbaren Bestand exemplarischer, identifikationssichernder Daten«.128 Gleichzeitig beschleunigte ein erstarkender Nationalismus nach der Reichsgründung 1871 und die damit verbundene Aufwertung des Muttersprachlich-Nationalen den Bedeutungsverlust der klassischen Philologie. Auf den Reichsschulkonferenzen 1890, 1900 und 1920 wurden Stundenanzahl und Bildungsziele der alten Sprachen im Gymnasialunterricht kontinuierlich herabgesetzt. Diese Maßnahmen mußten als ein deutliches Anzeichen für die Prestigeeinbußen der klassischen Studien und zugleich als prägnanter Ausdruck des allgemeinen Mißtrauens gegenüber ihren Fähigkeiten gelten, zeitgemäße Werte zu setzen, die auch die nationale Entwicklung beförderten. Vor dem Hintergrund der stetigen und rigiden Degradierung der klassischen Philologie statteten Jaeger, Spranger und etliche Georgeaner diese mit einem erweiterten ethisch-philosophischen Bildungsauftrag aus. Als moderne platonische Ideenlehre129 stilisierten sie ihre erneuerte Philologie zu einer innovativen Lebensform und Denkrichtung; ihr allein sprachen sie die geradezu priesterliche Fähigkeit zu, den genuinen Gehalt von Texten zu entschlüsseln und die inkorporierten Urerfahrungen, d. h. anthropologischen Werte und geistigen Prinzipien, freizulegen. Indem sie ein sprachlich-spirituelles Verständnis von Literatur, die Imago, garantiere, stelle sie auf indirektem Wege bewährte kulturelle Normen für die Anwendung in der Gegenwart bereit und trage demnach zur allgemeinen Volkspädagogik bei. Mit der Aufwertung der Philologie erfuhr die Sprache als Mittlerinstanz des vermeintlich menschenbildenden ›griechischen Geistes‹ einen enormen Bedeutungszuwachs; sie avancierte nun zum entscheidenden Bildungsfaktor. Dabei konnten sich die Repräsentanten des »Dritten Humanismus« auf Wilhelm von Humboldts sprachphilosophische Überlegungen stützen, die die besondere Nähe und das spezifische Abhängig-

128 129

Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt a. M., New York, Paris 1993 (= Edition Pandora 14), S. 78. Vgl. Ingo Gildenhard: Philologia perennis? Classical Scholarship and Functional Differentiation. In: Out of Arcadia. Classics and Politics in Germany in the Age of Burckhardt, Nietzsche and Wilamowitz. Ed. by Ingo Gildenhard and Martin Ruehl. London 2003 (= Bulletin of the Institute of Classical Studies, Suppl. 79), S. 161–203, hier S. 171.

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keitsverhältnis der deutschen Sprache von der altgriechischen zu erklären versuchten. Während viele altphilologische Anhänger die Wirkmächtigkeit der Sprache allein auf das Altgriechische beschränkten, schrieben die Georgeaner und Spranger bevorzugt den literarischen Werken der Goethezeit die Funktion zu, den paideutischen Gehalt des Griechentums auf eine für die zeitgenössischen Deutschen besonders eingängige Art weiterzugeben. Sie argumentierten, in diesen Texten seien die ethisch-normativen Wertvorstellungen und Lebensprinzipien bereits auf den ›deutschen Charakter‹ vereinfacht und auf seine Bedürfnisse abgestimmt worden; eine Bildung an der auch zeitlich näheren Vorstellungswelt deutscher Idealisten und Klassiker sei daher leichter und erfolgversprechender als eine Bildung an der fernen griechischen Welt. Die divergierende Haltung in diesem Punkt ist auf unterschiedliche Interessen im zeitgenössischen Diskurs um eine betont nationale Ausrichtung des kulturellen Lebens zurückzuführen, der auch vor den Wissenschaften und dem Schulwesen nicht haltmachte. Während Altertumswissenschaftler mit dem Erstarken der Deutschtumsbewegung die Angst verbanden, an eigener Reputation und direktem Einfluß zu verlieren, konnten die Georgeaner und Spranger dieser Entwicklung gelassener entgegenblicken, weil ihre eigene Stellung nicht unmittelbar betroffen war. Daher zeigten sie sich zu wesentlichen Kompromissen bereit; sie setzten auf eine germanisierte Antike bzw. Antikerezeption. Die Philologie als überhistorische und normsetzende Leitwissenschaft Im Rahmen ihrer Bildungsutopie begründeten die Vertreter des »Dritten Humanismus« eine neuartige humanistische Philologie. Mit ihr verbanden sie den Anspruch auf ethisch-normative Lebensorientierung: Denn sie vermöge, das innere ›Wesen‹ und die höchste Wahrheit eines Dinges oder Begriffs aufzuzeigen. Zugleich gewährleiste sie durch den Bezug auf die griechisch-antike Welt kulturelle Kontinuität. Als Wissenschaft, die das sprachlich-intuitive bzw. -spirituelle Verständnis befördere, könne sie der herkömmlichen Auffassung von Philologie als wert- und zweckfreier Erkenntnismethode einer universalen Geschichts- und Kulturwissenschaft130 diametral entgegengestellt werden. 130

Zu dieser Deutung der Philologie, wie sie gerade von Hermann Usener in seiner Bonner Rektoratsrede ›Philologie und Geschichtswissenschaft‹ (1882) vertreten wurde, vgl. Gildenhard: Philologia perennis?, S. 163–166; S. 182f.; Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 62.

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Aus diesem Grund verwiesen Jaeger und seine Mitstreiter verstärkt auf die ethisch-pädagogische Dimension der überlieferten griechischantiken Textzeugnisse: In ihnen seien allgemeine, zeitlose Wahrheiten und Werte konserviert, die den oberflächlichen Wortsinn überlagerten und nur durch ein tiefergehendes Verständnis, nicht aber durch historisch-kritische Analysen, freizulegen seien. Zugleich erweiterten sie die nur geschichtliche Ausrichtung der Philologie durch eine enge Verzahnung mit ethisch-ästhetischen Denkmustern zu einer alle Erkenntnisse bündelnden, universalen humanistischen Wertwissenschaft und geistigen Lebensmacht, die zusätzlich eine sinnstiftende, religionsähnliche Funktion wahrnehme. Gegenüber einer formalistischen, geschichtlich orientierten Philologie vermöge nur sie es, einerseits die Bedingungen der schriftlichen Überlieferung zu erklären, die entscheidend seien, um ihre Wahrheit zu erfassen und ihre Gültigkeit anzuerkennen, und andererseits durch ihren pädagogischen Eros zu verstehendem Nacherleben des spezifischen Gehaltes dieser Texte anzuregen. Aufgrund dieser Fähigkeiten gewährleiste die erneuerte Philologie, daß die Menschheitsgeschichte als lebendiges Ganzes begriffen und vergegenwärtigt werde und damit auch neuen Sinn für die nationale Gegenwart erhalte. Nur so könne der alte Gegensatz zwischen »der reinen Forschung und der Betrachtung des gleichen Objekts unter dem Gesichtspunkt ethischer und pädagogischer Zielsetzung und Wertung für die Gegenwartsmenschen«131 überwunden werden. In seiner Baseler Antrittsrede ›Das Verhältnis der Philologen zur Historie‹,132 die Jaeger am 18. Dezember 1914 unter dem unmittelbaren Eindruck vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges hielt, fordert er gerade seine jungen Fachkollegen auf, ex officio die Bedeutung des Griechentums als sinnstiftende Macht für die nationale Gegenwart herauszustellen: Gerade in unserer Zeit, die aus innerer Not das Wertvollste über das bloß Wertvolle und Schätzenswerte bald erheben wird, müssen wir […] den ältesten und zugleich formsichersten Elementen der Gesamtkultur Europas, die keiner modernen nationalen Kultur tiefer als der deutschen mit Bewußtsein einverleibt sind: den Gütern der antiken Geisteswelt, zugewandt […] bleiben. […] Geben wir zu, was in Wahrheit unsere Stärke ist: wir leben in und von den Alten. Philologie war von jeher eine vom unmittelbarsten Lebensbedarf und Lebens-

131 132

Jaeger an Johannes Stroux, 11.10.1919, zitiert nach Mensching: Über Werner Jaeger (geb. am 30. Juli 1888) und seinen Weg nach Berlin, S. 72. Veröffentlicht unter dem Titel ›Philologie und Historie‹ (In: HRV).

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drang der Gegenwart ausgehende und die Menschen der Gegenwart zu dem Ewigen leitende Lehrmeisterin.133

Bereits in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts hatte Otto Immisch in einem Studienführer auf die kulturpädagogische Aufgabe seines Faches hingewiesen, nämlich ein auf das Hier und Jetzt anwendbares Wertbewußtsein zu schaffen. Darin heißt es, die Vermittlung von Kenntnissen und Fakten in den altsprachlichen Disziplinen habe lediglich dem übergeordneten Ziel der ethischen Erziehung zu dienen. Folglich müsse der Griechisch- und Lateinunterricht in der Schule »auf die künftige Handlungsweise, auf die gesamte sittliche Haltung seiner Zöglinge« einwirken: Nun ist aber die sittliche Haltung, die wir einnehmen, in der Hauptsache bestimmt durch ein System von Werturteilen, das wir in uns tragen und das die Entscheidungen unsres Willens leitet. Dieses System von Werturteilen in uns zu erzeugen, es auszubilden zu einem gesund funktionierenden Organismus, dies ist klärlich die Aufgabe jeder Erziehung.134

Die vorbildlichen sittlich-ethischen Vorstellungen, die sich Immisch im Unterricht vermittelt wünscht, sind gerade nach Auffassung der Altertumswissenschaftler unter den »Dritten Humanisten« der antiken Literatur in Reinform zu entnehmen. Dort nämlich sahen sie eine unvergängliche, d. h. immerwährende organisch gewachsene geistige Welt verwirklicht, aus der Ideen und Wertvorstellungen bereits Gebildeter der Nachwelt in nahezu plastischer Form gegenübertreten. Diese Vorstellung kommt besonders deutlich bei Jaeger zum Ausdruck, wenn er von der »geistig[en] Gegenwart« des Griechentums in der Literatur spricht: Mag auch noch soviel kostbarstes Gut des Altertums wieder versunken sein: das was erhalten geblieben ist, hat sich nicht ohne innere Notwendigkeit behauptet. […] In ihrer Literatur lebt die Geisteswelt der Antike als ein ideelles Ganzes fort. Sie stellt eine geschichtlich-geistige Einheit, eine organisch entfaltete, in sich vollkommene Bildungswelt, einen Stufenbau der menschlichen Werte dar.135

Jedoch sei die Geisteswelt der Antike nicht ohne weiteres dem vorgefundenen Material zu entnehmen, sondern nur durch ein besonderes hermeneutisches Verfahren, das auf einem hohepriesterlichen Ethos basiere, zu 133 134

135

Ebd., S. 14. Otto Immisch: Wie studiert man klassische Philologie? Ein Überblick über Entwicklung, Wesen und Ziel der Altertumswissenschaft nebst Ratschlägen zur zweckmäßigen Anordnung des Studiengangs. Stuttgart 1909, S. 131. Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 160.

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entschlüsseln. Nach Jaeger gelingt dies am besten mit Unterstützung der erneuerten Philologie. In ihrer Funktion als »Mitträger[in] der Überlieferung«136 könne sie den überkommenen Text auf seinen Wert hin auslegen und auf diese Weise die Schau des Heiligsten und Schönsten ermöglichen: Nicht von einem fernen Einst Zeugnis abzulegen, sondern den urbildlichen Schöpfungen des Menschengeschlechts, die die griechische Kultur zu reiner und ewiger Grundgestalt alles wahrhaft Menschlichen und Menschheitlichen geformt hat, ihr Gegenwartsleben zu kräftigen, dazu sind Philologen da.137

Die Befähigung zu einer derartig religiösen Betätigung führt Jaeger auf den »Sondercharakter«138 der Philologie zurück. Im Vergleich mit den beiden anderen altertumswissenschaftlichen Disziplinen Alte Geschichte und Klassische Archäologie zeichne sie sich durch schöpferisches, mehrere Sinne ansprechendes »Können der Sprache« aus: durch »feine[s] Ohr und rhythmische[s] Gefühl, […] Beherrschung der einzelnen Sprachperioden und Stile«.139 Auch Spranger hebt die auslegende, bewahrende und beschützende Funktion – die Priesterschaft und das Wächtertum – der Philologie gegenüber dem antiken Kulturgut hervor, wenn er die Philologen zu »Erben des Lebensverständnisses«140 erklärt. Allerdings faßt er den Begriff Philologe etwas genereller als Jaeger und bezieht ihn auf alle Sprach- bzw. Literaturwissenschaftler, vornehmlich die Lehrerschaft an den höheren Schulen. Als ihre gemeinsame Aufgabe bezeichnet er es, mit der Jugend die deutschen Kulturzusammenhänge von der Frühzeit bis zur Gegenwart durch Textinterpretation aufzudecken, den Heranwachsenden an dem historischen Gut das lebendige Wehen des sich immer wandelnden Geistes zum Bewußtsein [zu] bringen. Nicht das alte Ewige, sondern das ewig Neue liegt in ihrer Hand: die Deutung des Geistes i h r e r Zeit in der Auseinandersetzung mit dem Größten der Vorzeit.141

An anderer Stelle fordert er von den Philologen, »das heilige Feuer nicht nur [zu] bewahren, sondern auch in anderen [zu] entzünden«.142 Mit dieser Metapher spielt Spranger implizit auf die vestalische, im übertragenen 136 137 138 139 140 141 142

Ders.: Philologie und Historie. In: Ebd., S. 12. Ebd., S. 15. Ebd., S. 2. Ebd., S. 8; S. 9. Eduard Spranger: Von der ewigen Renaissance (1916). In: Kultur und Erziehung, S. 268–290, hier S. 268. Ebd. Ebd., S. 288.

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Sinne staatsbeschützende Aufgabe der Philologen als Wahrer des Volksgeistes an. Denn in der römischen Mythologie galt Vesta als Göttin des Staatsherdes, als Beschützerin des Staates. In ihrem Heiligtum, der Aedes Vestae auf dem Forum Romanum, brannte ein heiliges Feuer, das von sechs vestalischen Jungfrauen gehütet wurde, damit es niemals erlösche.143 Wie die antike Gottheit das Lebenselixier des Staates behütet habe, so hätten in der Gegenwart die Schulphilologen dafür Sorge zu tragen, daß eine künftige Jugend über die Aneignung des humanistischen Gedankens zu einem organischen deutschen Volk zusammenwachse. Den zentralen Bezugspunkt für eine derartig philosophisch-religiöse Bedeutungsausstattung der Philologie bzw. des Philologenamtes und für die damit assoziierte Wirkmächtigkeit bildete der Zeitraum von 1780 bis 1850, die sogenannte Glanzzeit der klassischen Philologie. In diesen rund siebzig Jahren stieg sie zur wertvermittelnden Leitgröße innerhalb der Geisteswissenschaften auf; ihre Blüteperiode war eng mit den Namen der Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne, Friedrich August Wolf und August Boeckh verbunden. Diese Gelehrten befreiten die vormalige Hilfswissenschaft Philologie aus ihrer dienenden Abhängigkeit von Theologie und Kirche. Entgegen einem bisher dominierenden antiquarischen Verständnis als textkritischer bzw. -erklärender Wortwissenschaft wiesen sie ihr nun als Wertphilologie eine kulturpädagogische Aufgabe zu. Unter Beibehaltung der strengen formalen textwissenschaftlichen Methodik wurde die inhaltliche Beschäftigung mit den schriftlichen Zeugnissen des antiken Lebens – die Interpretation des Materials in seinem historischen Kontext – in den Vordergrund gerückt.144 Die Darstellung von Einheit und Zusammenhang einer sich weiterentwickelnden menschlich-geschichtlichen Welt sowie ihre Interpretation als gemeinsames, vergangenes Leben avancierten nun zur eigentlichen Aufgabe der Philologie. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrierten sich nachfolgende Philologengenerationen aber verstärkt auf die historisch-kritische Rekonstruktion von Texten und die damit verbundene Lösung sprachlicher oder inhaltlicher Detailprobleme, denn der Vormarsch von Positivismus und Werterelativismus hatte philosophische Reflexionen und übergreifende Synthesen aufgrund fehlender Empirie unter generellen 143 144

Zur Göttin Vesta und ihrem Kult siehe Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Sp. 2451–2456. Vgl. zur Geschichte der Philologie im 19. Jahrhundert grundlegend Ada Hentschke und Ulrich Muhlack: Einführung in die Geschichte der Klassischen Philologie. Darmstadt 1972 (= Die Altertumswissenschaft); Marchand: Down from Olympus, S. 16–24.

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Weltanschauungsverdacht gestellt. Zudem führte die emsig vorangetriebene Steigerung von Quantität, Methodik und Systematik zur Ausdifferenzierung der Disziplin in vielverzweigte, dem alltäglichen Leben stark entrückte Einzelgebiete mit hoher Spezialisierung und entsprechender Dissoziation. In der Folge büßte die Philologie ihre humanistische Orientierung, die Beförderung der allgemeinen umfassenden Menschenbildung, ein. Das Griechentum wurde nun nicht mehr überhöht als ideale Gegenwelt dargestellt, sondern gemäß der neuen Objektivitäts- und Authentizitätsforderung ausschließlich im geschichtlichen Zusammenhang betrachtet. In diesen Kontext gehört auch Theodor Mommsens programmatischer Appell an eine sich historisch verstehende Altertumswissenschaft, doch vor allem die Alten herabsteigen zu machen von dem phantastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen, sie in die reale Welt, wo gehaßt und geliebt, gesägt und gehämmert, phantasiert und geschwindelt wird, den Lesern zu versetzen.145

Einer solchen vermeintlich naiven Haltung, die das Griechentum bewußt banalisiere wie nivelliere, wollte der »Dritte Humanismus« mit seiner wertsetzenden und zweckgebundenen Philologie, die zentrale Theoreme des wissenschaftlichen Neuhumanismus aufgriff, entgegenwirken, wie eine Stellungnahme Friedländers deutlich belegt: Daß in der klassischen Philologie eine neue humanistische Welle im Steigen sei, daß die jüngere Generation, ohne die Eroberungen der historischen Jahrzehnte aufgeben zu wollen, sich dem Anfang des 19. Jahrhunderts verwandter fühle als dem Ende, ist sicher mehr als nur Eindruck oder Wunsch eines einzelnen. Um der Wahrheit willen erforschen, wie es im Altertum ›eigentlich gewesen ist‹, das bestimmt das Wesen des philologischen Gelehrten. Dem Humanisten sind die Griechen nicht Gegenstand eines sachlichen, wenn auch noch so starken ›Interesses‹, vielmehr Maß und Richte über seinem Leben.146

Das Anliegen der jungen Altphilologenschaft, die humanistische Dimension der Philologie verstärkt in den Vordergrund ihrer Betrachtung zu rük145

146

Mommsen an Wilhelm Henzen, 26.11.1854, zitiert nach Lothar Wickert: Theodor Mommsen: Eine Biographie. Bd. 3: Wanderjahre. Leipzig – Zürich – Breslau – Berlin. Frankfurt a. M. 1969, S. 628. Paul Friedländer: Die Aufgabe der klassischen Studien an der Universität. In: Ders. und Walther Kranz (Hrsgg.): Die Aufgabe der klassischen Studien an Gymnasium und Universität. Berlin 1922 (= Schule und Leben. Schriften zu den Bildungs- und Kulturfragen der Gegenwart 6), S. 21–34, hier S. 30.

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ken, richtete sich auch explizit gegen die historisch-kritische Antikeauffassung, die die aktuelle fachwissenschaftliche Diskussion bestimmte und gerade von ihrem Lehrer Wilamowitz vertreten wurde. In seiner Funktion als Gelehrter betrachtete dieser die griechische Sprache nicht wie seine Schüler als zeitenthobenen Bildungswert oder als unabhängige schöpferische Macht, sondern als rein geschichtliche Quelle. Diese Einstellung tritt deutlich aus seinem ›Griechischen Lesebuch‹ hervor, in dem die Textauswahl weniger von der sprachlichen Ausdruckskraft oder ethisch-ästhetischen Überlegungen dominiert wird, sondern das thematische Interesse allein ausschlaggebend zu sein scheint. So finden sich dort überwiegend literarische Zeugnisse, die in Verbindung mit aktuellen naturwissenschaftlich-technischen und staatlich-politischen Diskursen zu betrachten waren. Im populärwissenschaftlichen und privaten Umfeld hingegen vertrat Wilamowitz eine andere Auffassung, die dem »Dritten Humanismus« erstaunlich nahekommt. Indem er hier die eigene Erlebniswelt in seine Interpretation der alten Welt einbezog, in die Auslegungen subjektive und ästhetische Urteile integrierte, Parallelisierungen mit der Gegenwart vornahm und den paideutischen Charakter des Griechentums auf ethischem Gebiet hervorhob, deutete er die griechische Antike idealistisch und normativ aus; damit bewegte er sich ganz auf den Bahnen einer humanistischen, wertsetzenden und damit eindeutig weltanschaulichen Antikerezeption, die für den Neuhumanismus wie »Dritten Humanismus« kennzeichnend ist. Wilamowitz’ ambivalente Haltung im Umgang mit dem Griechentum bezeichnete Reinhardt in einer Würdigung seines Lehrers treffend als »Charme des Widerspruches zwischen Denken und Person«,147 und Jaeger verwies in einem Nachruf auf seinen Doktorvater und Förderer auf die beiden Seelen, die in dessen »Brust unaufhörlich miteinander [rangen, BS]: der Historiker, der nichts anderes wissen will als was gewesen ist, und der Humanist und Philologe, der anbeten und verkünden muß was groß und ewig ist«.148 147 148

Karl Reinhardt: Die klassische Philologie und das Klassische (1941). In: Ders. Vermächtnis der Antike, S. 334–360, hier S. 348. Werner Jaeger: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1932). In: HRV, S. 215–221 [zuerst unter dem Titel ›Gedächtnisrede auf Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff‹. In: SPAW, Phil.-hist. Kl. 1932, S. CXXIV–CXXVIII], hier S. 219 – Zum Nebeneinander von historisch-kritischen und klassizistischen Denkmustern bei Wilamowitz vgl. Maximilian Braun: Wozu lernen wir Griechisch? Wilamowitz zwischen Klassizismus und Historismus. In: Wilamowitz und kein Ende. Wissenschaftliches Kolloquium Fondation Hardt, 9. bis 13. September 2002. FS William M. Calder III zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Markus Mülke. Hildesheim, Zürich, New York 2003 (= Spudasmata 92), S. 37–50.

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Die Sprache als Mittlerin der griechischen Bildungsidee In engem Zusammenhang mit der Neubestimmung der Philologie, deren Hauptanliegen nunmehr die wertbezogene Interpretation des Wortes wurde, stand die Bedeutungsaufwertung der Sprache an sich. Vermittelten noch im Neuhumanismus die bildenden Künste die antike Bildungsvorstellung, so avancierte in der Utopie des »Dritten Humanismus« die sprachliche Ausdruckskraft zum primären Bildungsfaktor. Entsprechend statuierte Jaeger: »Die Sprache ist das humanistische Bildungsmittel schlechthin, sie ist der Träger aller geistigen Bewegung.«149 Denn der Sprache gelinge es am besten, die Idee so zu versinnlichen, daß sie beim Rezipienten beinahe intuitiv ein überrationales »verstehende[s] Sich-Aneignen[…] geistiger Gehalte«,150 der vorbildlichen ästhetischen und moralischen Werte, auszulösen vermöge. Aufgrund dieser Fähigkeit wurde sie als privilegiertes Medium angesehen, das die anvisierte Annäherung an das wirkliche Leben herbeiführen könne, weil nur in ihr und durch sie ein gesteigertes, ganzheitliches Erleben möglich sei. In der Konsequenz bedeutete dies – wie ja bereits das Jaeger-Zitat anzeigt –, daß die verlorene Humanität in der Gegenwart lediglich mit Hilfe eines wiederbelebten Sprachsinns bzw. -bewußtseins restituiert werden könnte. Nach dieser Vorstellung hatte im Verlauf des 19. Jahrhunderts die natürliche Sprache durch die zunehmende Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche und das Eindringen moderner Technik auch in die Alltagssphäre an Wirkmächtigkeit und Überzeugungskraft verloren; bei vielen Vertretern des »Dritten Humanismus« entstand nunmehr der Eindruck, die plastische Bildlichkeit der Sprache würde verblassen, ihre Anschaulichkeit schwinden.151 Deshalb intendierten sie, im Rahmen ihrer Utopie auch Empathie, Intuition und Imaginationskraft des einzelnen zu stärken, also Kräfte, mit denen die Empfänglichkeit für das Wahre, Schöne, Gute im geschriebenen Wort verbunden wurde. Nur wenn es gelinge, ein Verständnis für die Ästhetik der Sprache zu erwecken, für die besondere Art und Weise, wie ihre Anwender versuchten, bedeutsame Inhalte zu vermit149 150 151

Jaeger: Humanismus und Jugendbildung. In: HRV, S. 52. Julius Stenzel: Die Bedeutung der Sprachphilosophie W. von Humboldts für die Probleme des Humanismus. In: Logos 10 (1921/1922), S. 261–274, hier S. 266. Die in der Gegenwart konstatierte und beklagte Sprachlosigkeit bzw. Sprachverwirrung kommt besonders deutlich in Hofmannsthals fiktivem Brief zum Ausdruck, den Lord Chandos an Francis Bacon schreibt. – Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Rölleke. Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. von Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 1991, S. 45–55, bes. S. 48–54.

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teln, könne das Wort seine einstige erzieherisch-humanistische Funktion wieder ausüben. Die paideutische Kraft, die einer natürlichen und vitalen Sprache angeblich innewohnt, führte man im »Dritten Humanismus« zurück auf die dieser eigene ursprüngliche und organologische Struktur. Sie sollte gewährleisten, daß ein über die Zeiten hinweg einheitlicher und logischer Sinnzusammenhang zwischen Wörtern und ihren Bedeutungen hergestellt wird, den alle Träger dieser Sprache intuitiv und überrational erfassen können: Bestimmte Begriffe artikulierten ganz bestimmte Empfindungen, wieder andere repräsentierten spezifische Vorstellungen; häufig seien bereits kleinere Nuancierungen für Bedeutungsverschiebungen determinierend, die sich nicht immer auf der Basis sprachlich-grammatikalischer Regeln begründen ließen, sondern sich erst im Gebrauch herausbildeten. Den Ausgangspunkt dieser sprachphilosophischen Theoreme, auf die die Anhänger des »Dritten Humanismus« – vor allem aber Jaeger – in ihren Modellen Bezug nahmen, markiert Herders schwärmerische Volksgeist-Idee. Sie besagt, daß sich der gemeinschaftsstiftende und identifikatorische ›Geist‹ eines jeden Volkes in dessen sprachlichen und poetischen Kunstwerken konstituiere. Wilhelm von Humboldt entwickelt diese Vorstellung weiter, wenn er einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Sprache und nationalem Bewußtsein, zwischen einer Sprachgemeinschaft und einer Nation konstruiert. In ›Latium und Hellas‹ stellt er heraus, die Sprache ist nichts anders, als das Complement des Denkens, das Bestreben, die äusseren Eindrücke und die noch dunkeln inneren Empfindungen zu deutlichen Begriffen zu erheben, und diese zu Erzeugung neuer Begriffe mit einander zu verbinden.152

Diese unauflösbare Grundbeziehung zwischen Sprachgebrauch und Vorstellungswelt in einem Volk legt wiederum die These nahe, daß unterschiedliche Sprachen, indem sie differierende nationale Weltsichten und Begriffssysteme verwendeten, ihre Sprecher anders denken und empfinden ließen. In ›Ueber den Nationalcharakter der Sprachen‹ hält Humboldt den Gedanken fest, dass die Verschiedenheit der Sprachen in mehr, als einer blossen Verschiedenheit der Zeichen besteht, dass die Wörter und Wortfügungen zugleich die Begriffe bilden und bestimmen, und dass, in ihrem Zusammenhange, und ihrem 152

Humboldt: Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum. In: Werke 2, S. 61.

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Einfluss auf Erkenntniss und Empfindung betrachtet, mehrere Sprachen in der That mehrere Weltansichten sind.153

Wie Herder und Humboldt gehen auch alle Vertreter des »Dritten Humanismus« von einem engen Beziehungsgeflecht zwischen Sprache und Nationalcharakter aus; so verkörpert Sprache für Wolfskehl die »Seele«, den »dämon jedes volkstums«,154 und auch Gundolf hebt in seinem ›Shakespeare‹ die passive Kraft der Sprache hervor, Nationalgeschichte in sich lebendig aufnehmen und konservieren zu können: Die Sprache jedes Volkes enthält seine Vergangenheit und umschließt seine Zukunft. Sie ist das Gefäss der allgemeinsten, ewigen Inhalte und zugleich der Ausdruck der individuellen, nie wiederkehrenden Bewegungen des Augenblicks. Sie ist der in Worte gewandelte, bewusst gwordene [sic!] Leib jedes Menschen.155

In einem anderen, nicht veröffentlichten Text betont Gundolf ihre aktive Funktion in bezug auf die nationale Konstituierung: Hier heißt es, eine Nation werde durch Sprache hervorgebracht, indem sie sich mit sprachlicher Hilfe forme und erst durch diesen Akt ihre Identität erlange.156 Eine ähnliche Auffassung vertritt Jaeger in seiner Baseler Antrittsvorlesung, die später unter dem Titel ›Philologie und Historie‹ veröffentlicht wird. Er erklärt, die Sprache sei ein »lebender, individueller Organismus, der der Ausdruck und Träger aller in der Kultur einer Nation tätigen Kräfte und ihrer Entfaltung ist«.157 Damit schreibt er ihr ganz im Sinne Humboldts die Funktion zu, identisches Abbild eines spezifischen ›Geistes‹, einer Weltsicht oder eines Nationalcharakters zu sein. Jedoch ließ sich die Vorstellung von einem lebendigen Sprachorganismus aus der Perspektive des »Dritten Humanismus« nicht auf die deutsche Gegenwartssprache übertragen, denn sie erlebte man, wie auch das aktuelle ›deutsche Sein‹, mit dem sie in enger Wechselbeziehung stehe, in einem desolaten Zustand. Sollte aber durch die Wirkmächtigkeit der Sprache der ›deutsche Nationalcharakter‹ seine ursprüngliche Lebendigkeit, Einheit und Organizität wiedererlangen, ja sich bestmöglich unter Aus153 154 155 156 157

Ders.: Ueber den Nationalcharakter der Sprachen (vermutlich 1822). In: Werke 3, S. 64–81, hier S. 64. Wolfskehl: Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur, S. 18. Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist. Godesberg 1947 [zuerst Berlin 1911], S. 313. Vgl. Groppe: Die Macht der Bildung, S. 308f. [mit Verweis auf Friedrich Gundolf: Vorlesungstyposkript ›Deutsche Litteratur von Opitz bis Lessing‹ (1919), S. 8]. Jaeger: Philologie und Historie. In: HRV, S. 11.

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prägung aller Anlagen entfalten, dann war nur eine Orientierung an einer Sprache sinnvoll, die sich noch in einem natürlichen und vitalen Zustand befand. Demnach mußte die Beschäftigung mit Sprachzeugnissen, die in einer national-kulturellen Blütezeit entstanden waren und damit noch ein ganzheitliches Leben repräsentierten, das Bestreben begünstigen, den angekränkelten Sprachsinn des gegenwärtigen deutschen Rezipienten zu stärken und dadurch den eigenen Bildungsprozeß einzuleiten. Als weitere Voraussetzung für eine erfolgversprechende Wiederbelebung und Entfaltung des ›deutschen Seins‹ durch die literarische Überlieferung wurde eine möglichst große geistige Nähe zwischen dem zu bildenden Subjekt und dem Bildungsobjekt angesehen. Diese Voraussetzungen erfüllte in Jaegers Denkmodell am besten das Altgriechische bzw. die antike griechische Literatur. Denn nur im alten Hellas sah Jaeger wahrhaftiges Leben in Reinform verwirklicht und mit Hilfe einer organisch geformten Schriftsprache, die – wie es sein Mitstreiter Otto Regenbogen formuliert – in allen ihren Stufen »Erscheinungsform des griechischen Geistes«158 gewesen sei, für die Nachwelt sinnlich erfahrbar konserviert. Die altgriechische Sprache erachtete er folglich als ein effizientes System, mit dem es gelinge, die abstrakten Lebensprinzipien des hellenischen Volkes in eine wahrnehmbare und damit paideutische Gestalt zu überführen. Durch die einzigartige Verkettung von Inhalt und Ausdruck seien Werte und Empfindungen zugleich eingängig und allgemeinverständlich an ähnlich denkende Völker – und hiermit sind vornehmlich die ›seelenverwandten‹ Deutschen angesprochen – zu vermitteln. Ergänzend und legitimierend konnte Jaeger dabei seine Argumentation auf ein weiteres sprachphilosophisches Theorem Humboldts stützen, das aufgrund der speziellen Disposition der deutschen Sprache eine besondere Empfänglichkeit dieses Volkes für den ›griechischen Geist‹ wissenschaftlich zu erklären versuchte. In seiner ›Geschichte des Verfalls‹ hält Humboldt nämlich fest: Die Deutschen besitzen das unstreitige Verdienst, die Griechische Bildung zuerst treu aufgefasst, und tief gefühlt zu haben; zugleich aber lag in ihrer Sprache schon vorgebildet das geheimnissvolle Mittel da ihren [i. e. der alten Griechen, BS] wohlthätigen Einfluss weit über den Kreis der Gelehrten hinaus auf einen beträchtlichen Theil der Nation verbreiten zu können. […] Deutsche knüpft daher seitdem ein ungleich festeres und engeres Band an die Griechen, als an irgend eine andere, auch bei weitem näher liegende Zeit oder Nation.159 158 159

Regenbogen: Original oder Übersetzung?, S. 63. Humboldt: Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten. In: Werke 2, S. 87.

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Diese Stellungnahme impliziert, daß sich die griechische und die deutsche Sprache deshalb ähneln, weil in beiden vergleichbare Signifikanten identische Signifikate repräsentieren. Demnach stelle sich beispielsweise der gegenwärtige Deutsche, der das griechische ›dendron‹ liest, einen Baum so vor, wie ihn der Hellene vor seinem geistigen Auge zu dem Zeitpunkt gesehen habe, als er den Text verfaßte. Auch verbindet er mit dem Bild des Blitzes wie die antiken Griechen Unwetter und Unheil. Das wiederum bedeutet, daß die Zuordnung von sprachlichem Ausdruck und ihrem Inhalt im Deutschen wie im Griechischen nach identischen Prinzipien erfolge und daher beide Nationen über eine analoge Weltsicht verfügen. Diese präsumierte Übereinstimmung im Denken, Fühlen und Empfinden ermögliche es nun den Deutschen, das ›Wesen‹ des griechischen Altertums überrational und intuitiv annähernd vollständig zu erfassen und damit seine menschenformende Kraft in ihnen wirken zu lassen. Aber nicht alle Anhänger des »Dritten Humanismus« schrieben wie Jaeger und seine Mitstreiter ausschließlich der griechischen Sprache dieses erzieherische Wirkpotential zu. So verwies Spranger auch auf den sinnstiftenden Gehalt der ›deutsch-griechischen‹ Literatur der Zeit um 1800. Einen gänzlich anderen Weg schlugen George und seine Schüler ein, um die für das »dritthumanistische« Weltbild charakteristische Verbindung von Sprache und griechischem Bildungsideal zu verdeutlichen. Sie nahmen nicht so stark auf überkommene Sprachdenkmäler Bezug, sondern entwickelten vor dem Hintergrund der diagnostizierten gegenwärtigen Sprachlosigkeit eine eigene poetische Sprache. Mit ihr wurde die Hoffnung verknüpft, dem in der ›deutschen Natur‹ präformierten ›deutschgriechischen Geist‹ zum schöpferischen Ausbruch zu verhelfen und damit die anvisierte individuelle wie nationale Entfaltung zu begünstigen. Die zentrale Stellung des geschriebenen Wortes, die bei allen Anhängern des »Dritten Humanismus« vorherrscht, ist neben kulturkritischen Impulsen und ästhetizistischen Ambitionen sicherlich auch der engen Anbindung seiner Vertreter an die philologischen Wissenschaften geschuldet, deren zentrales Objekt die »Literatur und ihr sprachlichgeistiges Verständnis«160 darstellt. Das Plädoyer für eine germanisierte Antike Neben der Bezugnahme auf den griechischen Kosmos und sein Spiegelbild in der antiken Literatur sprachen sich einige Vertreter des »Dritten 160

Jaeger: Philologie und Historie. In: HRV, S. 9.

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Humanismus« für einen dezidiert ›deutschen‹ Zugang zur griechischen Antike aus, d. h. unter expliziter Bezugnahme auf die deutsche Sprache zu Lasten der Werke der Alten in der Originalsprache. Dabei wurden zwei Varianten zur Diskussion gestellt, die den Weg der modernen Deutschen nach Hellas unbeschwerlicher gestalten sollten: zum einen durch die Übertragung altgriechischer kanonischer Texte in ein zeitgemäßes, lebendiges Deutsch, zum anderen indirekt vermittelt durch die Literatur deutscher Schriftsteller und Gelehrter der Goethezeit, die ja die Verarbeitung griechisch-antiker Vorstellungen im Konnex nationaler Utopien angeblich kennzeichne. Zur Bekräftigung ihres Standpunktes brachten die Befürworter einer ›deutschen‹ Antikerezeption das Argument vor, daß das primäre Anliegen, die Zeitgenossen für die griechische Paideia zu sensibilisieren und auf ihrer Grundlage einen umfassenden Bildungsprozeß einzuleiten, nur zu realisieren sei, wenn es gelinge, möglichst vielen und zudem einflußreichen Deutschen die neue revolutionäre Auffassung vom Altertum eingängig zu vermitteln. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügte allerdings das deutsche Bürgertum nicht mehr über einen einheitlichen gymnasialen Bildungshintergrund. Gerade wirtschaftlich orientierte Kreise besaßen keine oder nur sehr geringe Griechischkenntnisse, so daß es ihnen unmöglich gewesen wäre, den belebenden Gehalt aus den literarischen Werken in Originalsprache herauszulesen. Insofern ist es durchaus nachvollziehbar, daß einige Anhänger des »Dritten Humanismus« postulierten, die griechische Sprache bzw. Philologie dürfe nicht der einzige und exklusive Weg zu einer neuen humanistischen Weltsicht bleiben und folglich nach weiteren Zugängen zum griechischen Altertum suchten, die gerade für den Deutschen der Gegenwart leichter nachzuvollziehen seien und seinem ›Wesen‹ eher entsprächen. Wilamowitz, der zwar nicht zum »Dritten Humanismus« gerechnet werden kann, ihm aber vielfältige Denkanstöße lieferte, propagierte als erfolgversprechende Strategie für eine humanistische und zugleich nationale Bildung den Rückgriff auf deutsche Übersetzungen antiker Quellen. Gemäß seinem im ›Hippolytos‹ verkündeten Motto, »die Philologie für die Philologen; das Hellenentum, das, was darin unsterblich ist, für jedermann, der kommen, sehen, erfassen will«,161 bemühte er sich als Privatmann, gebildeten Laien das antike Griechenland als lebenstiftende Quelle der Wirklich161

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Was ist übersetzen? [= Geändertes Vorwort zu Euripides: Hippolytos. Griechisch und deutsch. Berlin 1891]. In: Reden und Vorträge. 2 Bde. in einem Bd. 5., unveränderte Aufl. Dublin, Zürich 1967 (= Unveränderter Nachdruck der 4., umgearbeiteten Aufl. Berlin 1925). Bd. 1, S. 1–36.

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keitserkenntnis und als herausragendes Exemplum der Menschheitsgeschichte nahezubringen. Denn auch er war der Überzeugung, daß vor dem hellenischen Spiegelbild jeder Deutsche seine eigene Gegenwart besser verstehe und im Vergleich mit den vorbildlichen Alten individuelle Mängel und Unzulänglichkeiten erkenne, um diese dann idealiter nach antikem Muster umzugestalten und zu beheben.162 Vor dem skizzierten Hintergrund fertigte Wilamowitz Übertragungen antiker Tragödien ins Alltagsdeutsch an, die im Berliner Zirkus Busch zur Aufführung gelangten, und initiierte dort moderne Lesungen aus Aischylos’ ›Orestie‹. Daneben verfaßte er eine Biographie Platons,163 die nicht – wie bisher üblich – das Hauptaugenmerk auf seine philosophischen oder politischen Überlegungen richtete, sondern den ›modernen‹ Platon porträtierte und ihn dabei wie einen Zeitgenossen erscheinen ließ. Diese Intention beteuerte er bereits in der Einleitung; hier heißt es: »Platon war nicht bloß ein Professor der Philosophie, den nur Kollegen verstehen können. Er wollte mehr sein; ich will zeigen, was er wollte und was er war. Ich will den Menschen zeigen.«164 Von vielen Kritikern – so auch von Kurt Hildebrandt – wurde Wilamowitz allerdings wegen seines modernen Zugangs zum Griechentum ein distanzloser und entwürdigender, ja profanierender Umgang mit der Antike vorgeworfen.165 Diese Rüge konnte ihn aber nicht von dem eingeschlagenen Weg abbringen; vielmehr sah er sich gezwungen, weitere Zugeständnisse an den unzureichenden Bildungshorizont der Deutschen zu machen und sich für eine Annäherung an antikes Gedankengut über die Texte der sogenannten deutschen Klassiker einzusetzen. Denn diese seien dem gehobenen Bürgertum vertrauter und stünden ihm näher als die antiken Historiker, Dichter und Philosophen. Die nicht nur von Wilamowitz, sondern von vielen Seiten – so auch von Kaiser Wilhelm II. auf der Schulkonferenz 1890 – verordnete Begeisterung für das deutsche Kulturgut und seine 162

163 164 165

Vgl. beispielsweise ders.: Die Geltung des klassischen Altertums im Wandel der Zeiten (1921). In: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Kleine Schriften. Hrsg. von der Akademie zu Berlin und Göttingen. Bd. 6: Philologiegeschichte, Pädagogik und Verschiedenes. Nachlese zu den Bdn. 1 und 2. Nachträge zur Bibliographie. Besorgt von Wolfgang Buchwald. Berlin 1972, S. 144–153, hier S. 152f.: »Aber den Dienst, den es [= das Griechentum, BS] mehr als einmal den Nachlebenden geleistet hat, ihre eigene nationale Kraft und Art zu beleben und zu steigern, hat es nicht verloren, so weit es eben selbst Unvergängliches zu bieten hat, den Gehalt für unsern Busen und die Form für unsern Geist.« Ders.: Platon. 2 Bde. (Bd. 1: Leben und Werke; Bd. 2: Beilagen und Textkritik). Berlin 1919. Ebd., Bd. 1, S. 3. Vgl. Hildebrandt: Hellas und Wilamowitz.

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Pflege steigerte den Bekanntheitsgrad und die Popularität der klassischen und idealistischen Literatur. Das Schrifttum der Zeit um 1800 wurde als herausragende kulturelle Leistung proklamiert, da es damals den Deutschen erstmalig gelungen sei, einen eigenständigen literarischen Stil zu begründen, der noch gegenwärtig und auch im Ausland Anerkennung finde und einen Vorbildcharakter aufweise. Unter Rückgriff auf Wilamowitz und natürlich auch auf seinen Antipoden Nietzsche, der ebenfalls ein lebensvolles Bild der Antike zu vermitteln suchte, sahen viele Anhänger des »Dritten Humanismus« die Schriftsteller und Denker der Goethezeit als eine mögliche Mittlerinstanz für eine wirksame Begegnung mit dem Altertum in der Gegenwart an. Sie argumentierten, daß die ›Klassiker‹ Winckelmann, Herder, Humboldt, Goethe und Hölderlin – um nur einige Namen zu nennen – die ›antike Gesinnung‹ als Deutsche erfaßt, verinnerlicht und an dieser zu eigener Produktion angespornt worden seien. In ihren Texten lebe »das antike Menschheitsideal noch einmal in tieferer Durchdringung« auf spezifisch deutsche Weise auf, weil sie bei den alten Griechen in die Schule gegangen seien, sich selbst an ihren Ideen und Vorstellungen geformt und daran »eigenes Können und Wollen entzünde[t]« hätten.166 Insofern verbinden sie in der eigenen Person und in ihrem literarischen Werk spezifisch ›deutsches Denken‹ mit ›griechischem Geist‹. Durch ihr »Spiegeln in der Geschichte« hätten die Klassiker und Idealisten – wie es Spranger prägnant formuliert – »deutscher Art und Kunst« dazu verholfen, »das eigne, ungekannte Antlitz [zu] enthüllen«167 und damit den langen Weg der nationalen Selbstfindung eingeschlagen, der schließlich in die Reichsgründung 1871 mündete. Ihr herausragendes Engagement für die Prägung eines eigenständigen ›deutschen Nationalcharakters‹ wurde von George und seinen Anhängern, Jaeger und Spranger anerkennend und bewundernd hervorgehoben und als vorbildlich für seine Modernisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesehen. Demnach kennzeichnet einen zeitgemäßen Humanismus also die Annäherung an das Griechentum von zwei Seiten – durch die Beschäftigung mit griechischen Originaltexten und als Ergänzung oder Substitut durch die Auseinandersetzung mit der ›klassischen‹ deutschen Literatur der Zeit um 1800. Dieses Denkmuster erinnert stark an Schillers Postulat, ein modernes Griechentum sei nur zu realisieren, wenn die Schriften der Alten 166 167

Eduard Spranger: Humanität. In: Ethische Kultur 12 (1904), S. 1–3, hier S. 1, Sp. 2; S. 2, Sp. 1. Ebd., S. 2, Sp. 1.

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(die »naiven« Dichtungen) und die vorzüglichsten Werke der modernen Poesie (die »sentimentalischen« Dichtungen), in denen das griechische Menschenbildungsideal in zeitgemäße Formen übersetzt worden sei, im Verbund rezipiert würden.168 Das Beispiel Spranger: Der Neuhumanismus als der deutsche Weg zu den Griechen Aus dem Kreis der »Dritten Humanisten« setzte sich Spranger am entschiedensten dafür ein, an Stelle eines direkten Bezugs auf die Gedankenwelt des griechischen Altertums sich ihr vermittelt über neuhumanistische und idealistische Denkweisen zu nähern. Denn wähle man diese als Ausgangspunkt, wie er es vorschlug, lasse sich »der Blick rückwärts und vorwärts« richten – rückwärts auf das antike Griechentum mit seinen den europäischen Kulturkreis und damit auch die deutsche Tradition prägenden Vorstellungen und vorwärts auf die nationale Gegenwart mit den zu bewältigenden Herausforderungen der Moderne. Gegenüber den Gelehrten, die die antiken Schriften als primäre Basis für eine adäquate Erschließung des Altertums ansahen, rechtfertigte er seine Position mit einer denkbar einfachen schematischen Argumentation. Ganz strategisch spielte er auf den ›deutschen Sonderweg‹ an, der im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Prozeß der nationalen Konstituierung eingeschlagen worden sei und der die Ausnahmeerscheinung und -stellung der deutschen Identität begründen sollte. Die geistige Elite Deutschlands zeigte nach Spranger in den ersten Jahrzehnten nach 1800 beispielhaft auf, wie sich der Mensch, vor allem aber der deutsche, am Hellenentum effizient orientieren und weiterbilden könne. In diesem Kontext seien in Philosophie und Dichtung erstmalig griechisch-antike Vorstellungen auf wahrhaftig deutsche Weise aufgegriffen und verinnerlicht worden. Der lebendige, ganzheitliche griechische Kosmos mit seinen ideologischen Grundlagen habe vor dem Hintergrund der konstatierten geistigen Nähe zwischen antiken Griechen und modernen Deutschen das paradigmatische Muster bereitgestellt, wie sich Schwierigkeiten bzw. Probleme des zeitgenössischen Lebens erfolgreich bewältigen ließen. Indem man antike Lösungsstrategien nicht unreflektiert übernommen, sondern an die eigene Zeit und konkrete nationale Be168

Vgl. Horst Joachim Frank: Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945. 2 Bde. München 1976 (= dtv. Wissenschaftliche Reihe 4271/2). Bd. 1, S. 252 [hier mit Verweis auf Friedrich Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung (1796)].

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dürfnisse angepaßt habe – und damit das primäre Anliegen im Blick behielt, einen eigenständigen, originellen Nationalcharakter zu begründen –, hätten sie zur Fortentwicklung des ›deutschen Seins‹ nachhaltig beitragen können. Die potentielle Adaptation griechischer Wertvorstellungen und Lebenshaltungen an das Hier und Jetzt, wie sie zu Anfang des 19. Jahrhunderts vollzogen wurde, zeigt sich nach Spranger – trotz des nicht zu verleugnenden späteren Niedergangs des Nationalcharakters seit der zweiten Jahrhunderthälfte – aber weiterhin am deutlichen Erfolg der klassischen und idealistischen Literatur; dieser sei an der anhaltenden internationalen Wertschätzung und dem bestehenden nationalen Interesse gegenüber diesen ersten und eigenständigen deutschen Werken abzulesen. Bereits in seiner Habilitationsschrift über die humboldtsche Humanitätsidee findet sich im Abschlußkapitel, das ihre Anwendbarkeit auf die Gegenwart reflektiert, dieses Argumentationsmuster. Spranger betont: Als erste Quelle unsrer letzten Bildung kann nie und nimmer das Altertum angesehen werden, sondern allein die deutsche klassische Literatur und der deutsche Idealismus. Hier liegt die Form, die der deutsche Geist annehmen kann, vorgebildet; hier haben wir die Kämpfe und z. T. die Realitäten, die unsre eignen sind. Hier also liegt die Wurzel unsrer Humanität, und die griechisch-römische Welt kann gleichsam nur als ein Anhängsel dieser Zeit angesehen werden.169

Die hier postulierte Auseinandersetzung mit dem Altertum durch Vermittlung der Zeit um 1800 impliziert jedoch keine verengte Perspektive auf die Antike durch die Brille dieser Epoche. Im Gegenteil, Neuhumanismus und Idealismus stellten für Spranger lediglich ein Hilfsmittel dar, mit dem eine stärkere Fokussierung auf einen spezifisch deutschen und bereits bewährten Umgang mit dem antiken Gedankengut erreicht werden sollte. Denn nur wenn das Griechentum in seinem eigenen kulturellen Zusammenhang studiert und zugleich auf die eigene Geschichte bezogen werde, entfalte es die ihm inhärente paideutische Wirkung, auch in der Gegenwart ein vitales und ganzheitliches individuelles wie nationales Dasein zu garantieren. Als Zeugnisse für dieses schöpferische Potential verwies er auf das nationalpolitische Schrifttum der Goethezeit, wie es aus der Feder eines Johann Gottlieb Fichte, Wilhelm von Humboldt oder Ernst Moritz Arndt hervorgegangen sei. In ihren Texten sei zum Beispiel die Forderung nach politischem Engagement des einzelnen für die Nation aus antiken staatstheoretischen Vorstellungen abgeleitet worden. 169

Spranger: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, S. 497.

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Goethe als moderner Deutscher: Die Goethe-Rezeption im George-Kreis Das sprangersche Motto ›durch die deutschen Klassiker zur Antike‹ prägte auch das Denken der Georgeaner. So avancierten Goethe, der auch bei ihnen als der deutsche Klassiker schlechthin galt, und Hölderlin, dessen dichterisches Werk sich epochengeschichtlich zwischen Klassik und Romantik bewegte, zu besonders geschätzten und verehrten Heroen des Kreises. Entsprechend wurden in Gedichten und Prosa-Arbeiten ihrer Person und ihren Werken literarische Denkmäler gesetzt.170 Beide fungierten als deutsche Autoritäten, um Vorstellungen der Gemeinschaft nach außen zu tragen und zu legitimieren. Dazu wurden sie als »Verkörperung[en, BS] jener Idealverbindung von Deutsch- und Griechentum, von Moderne und Antike«171 instrumentalisiert, wie sie in der Gegenwart realisiert werden sollten. Mit ihrer Würdigung war deshalb immer auch die eigene Inszenierung als innovative Denker und Begründer eines vitalen Daseins verbunden. So kann Gundolfs Einschätzung, »[w]as sie [i. e. Goethe und Hölderlin, BS] geleistet, ist ein völlig Neues: eben die Zeugung eines griechisch-deutschen Geschöpfs, die Verbindung […] von deutschem Geistesverlangen und antiker Lebensfülle«,172 zugleich auf den eigenen paideutischen Anspruch übertragen werden. Goethe, um den es im folgenden Abschnitt vornehmlich gehen soll, wurde bereits zu Lebzeiten von namhaften Gebildeten als »Kenner und Darsteller des Griechischen Geistes«173 gewürdigt. Friedrich August Wolf und andere herausragende Altertumswissenschaftler der Zeit um 1800 suchten den Dialog mit ihm, und ihre Wertschätzung trug zu Goethes Sti170

171

172 173

Zur Goethe-Huldigung des Kreises vgl. Georges Gedicht ›Goethes lezte nacht in Italien‹, den ›Blätter‹-Aphorismus ›Das Hellenische Wunder‹, Gundolfs Goethe-Biographie und Wolters’ Rede ›Goethe als Erzieher zum vaterländischen Denken‹. Zur Hölderlin-Verehrung siehe Georges Hymnus ›Hyperion‹, seinen Prosatext ›Hölderlin‹, Gundolfs Vortrag ›Hölderlins Archipelagus‹ (1911) [In: Ders. Dem lebendigen Geist. Aus Reden, Aufsätzen und Büchern ausgewählt von Dorothea Berger und Marga Funk. Mit einem Vorwort von Erich Berger. Heidelberg, Darmstadt 1962, S. 25–40], Wolters’ Rede ›Hölderlin und das Vaterland‹ [In: Vier Reden über das Vaterland] und Norbert von Hellingraths Vortrag ›Hölderlin und die Deutschen‹ (1915) [In: Ders. Hölderlin-Vermächtnis. Forschungen und Vorträge. Ein Gedenkbuch zum 14.12.1936. Eingeleitet von Ludwig von Pigenot. München 1936, S. 123–154]. Ute Oelmann: Nachwort. In: Deutsche Dichtung. Hrsg. und eingeleitet von Stefan George und Karl Wolfskehl. 3 Bde. Bd. 2: Goethe. Stuttgart 1991 (= Nachdruck der Ausgabe Berlin 1901), S. 105–115, hier S. 106. Gundolf: Anfänge deutscher Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winckelmann, S. 102. Wolf: Darstellung der Alterthums-Wissenschaft. In: Friedrich August Wolf. Kleine Schriften 2, S. 808.

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lisierung als ›deutschem Griechen‹ bei, die die deutsche Geistesgeschichte nachhaltig prägte und noch bis in die Gegenwart wirkt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Nietzsche zum Apologeten Goethes: In seinen kulturkritischen Schriften finden sich viele Verweise auf den jungen Goethe als Ausgangspunkt für eine wiederzubelebende, zeitgemäße deutsche Kultur.174 Nietzsches emotional-irrationales Denken zog schließlich viele – gerade junge – Geisteswissenschaftler aus dem Umfeld des »Dritten Humanismus« in ihren Bann. Wie in alten Zeiten wurde Goethe nun »als Zugpferd und Gütezeichen«175 für eine sich etablierende neuartige Weltanschauung bemüht. Gerade am Beispiel der Goethe-Rezeption des George-Kreises läßt sich demonstrieren, wie ein dem deutschen literarischen Blütezeitalter zugeschriebenes, vermeintlich klassisches und wahrhaftig deutsches Denken als Mittlerinstanz eingesetzt wurde, um den humanistisch gebildeten Deutschen der Zukunft zum neuzeitlichen Griechen zu stilisieren. Dabei wurden immer wieder dieselben Klischees und Stereotypen verwendet; man spielte auf seine dichterische Weisheit und sein Sehervermögen an, aber auch auf seinen Willen, durch tätiges Handeln Veränderungen zu initiieren, sowie auf seine vermeintlichen Führungsqualitäten. Gerade die beiden letzten Eigenschaften wurden als entscheidende Konsequenzen seiner patriotischen, wahrhaft deutschen Gesinnung präsentiert. Auf einen derartig idealisierten und nationalistisch präparierten Goethe übertrugen George und seine Schüler alle diejenigen Eigenschaften, die in ihrer Utopie eine zukünftige deutsche Führungspersönlichkeit – der Dichterprophet oder Gelehrtenpolitiker – verkörpern sollte. Für George stellte Goethe im Verbund mit Winckelmann und Herder den maßgeblichen Initiator des deutschen Humanitätsdenkens dar;176 entsprechend würdigte er ihn als den ersten wahrhaftig deutschen Dichter, der als Wegzeiger der Zukunft »für Deutschland Mensch und Sprache 174

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Allerdings ist Nietzsches Goethe-Bild sehr ambivalent: Er verehrte den jungen ›Stürmer und Dränger‹ als Inbegriff des schöpferischen, genialen Menschen und sah in ihm einen neuzeitlichen Prometheus. Am ›Klassiker‹ Goethe, dem Dichter des ›Faust‹, kritisierte er jedoch das fehlende heroische, dionysisch-tragische Moment. – Vgl. Theo Meyer: Faustisches Streben, Zarathustra-Attitüde, Seelentiefe und deutsche Innerlichkeit. In: Die Lebensreform. Bd. 1, S. 113–116. Manfred Beetz: »In den Geist der Alten einzudringen«. Altphilologische Hermeneutik als Erkenntnis- und Bildungsinstrument der Weimarer Klassik. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. FS Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Karl Richter und Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 27–55, hier S. 29. Vgl. Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 55f. (Aufzeichnungen zum 07.12.1921).

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entdeckt«177 habe. Bereits aus Georges frühen Gedichten und Aphorismen der Zeit um 1900 läßt sich die charakteristische Huldigung an Goethe als seherischen ›praeceptor Germaniae‹ herauslesen. So verweist er im ›Goethe-Tag‹, einem zeitkritischen Gedicht, das die nationalen Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag 1899 als lediglich profanen Goethe-Kult ironisch entlarvt, mit den kryptischen Schlußversen auf Goethes eigentliche Leistung, nämlich die Vision eines deutschen Hellas vorgetragen zu haben: »Doch ahnt ihr nicht dass er der staub geworden / Seit solcher frist · noch viel für euch verschliesst«.178 Noch deutlicher tritt die ihm zugesprochene prophetische Qualität in Texten zum Vorschein, die in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts entstanden, wenn George nicht mehr über den verehrten Goethe dichtet, sondern ihm die Vorstellung von einem »Neuen Reich« direkt in den Mund legt und damit unvermittelt von ihm selbst vortragen läßt. Als geschätzter Repräsentant des deutschen Volkes, »genannt / ›Echteste[r] erbe[…]‹« und »herz [d]es volkes«179 sei er geradezu prädestiniert, seine jungen Landsleute auf ihre bevorstehenden nationalen Aufgaben hinzuweisen und vorzubereiten. In der Ode ›Goethes lezte nacht in Italien‹ tritt das artikulierte Ich Goethe im Gewand eines antiken ›poeta vates‹ oder Hohenpriesters als weiser Sinnstifter der Nation auf, der den Deutschen die »Freudige Botschaft« vom »lebendigen strahl« der Sonne Hellas’ eröffnet.180 Am letzten Abend seiner italienischen Reise wird sich Goethe in Neapel der engen Bindung seines Volkes an die antiken Hellenen bewußt. Er erkennt, daß nur durch eine Orientierung an ihren Einstellungen und ihrem Lebensstil, von George in die Worte »Zauber des Dings – und des Leibes · der göttlichen norm« gefaßt, die politischen und kulturellen Mißstände, der »Nebel« und die »Trübe« in der Heimat, zu bekämpfen seien.181 In einer Zukunftsvision, die ihm den Abschied aus dem südlichen, gräzisierten Italien erleichtern soll, erahnt er, wie sich seine deutsche Heimat in ein modernes Griechenland verwandelt, sieht seine Landsleute als Griechen der Neuzeit vor sich entstehen: Säulenhöfe seh ich mit bäumen und brunnen Jugend und alter in gruppen bei werk und bei musse Maass neben stärke .. so weiss ich allein die gebärden 177 178 179

180 181

Ebd., S. 56. Stefan George: Goethe-Tag (08/1899). In: SW VI/VII, S. 10f., hier S. 11. Ders.: Goethes lezte nacht in Italien (evt. vor 09/1905, nicht aber nach 1908). In: SW IX, S. 7–10, hier S. 8. – Zu diesem hymnenartigen Gedicht vgl. auch Ernst Osterkamp: Poesie der Zeitenwende. In: Poesie der leeren Mitte, S. 57–113. George: Goethes lezte nacht in Italien. In: SW IX, S. 10; S. 9. Ebd., S. 9.

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Attischer würde .. die süssen und kräftigen klänge Eines äolischen mundes. Doch nein: ich erkenne Söhne meines volkes – nein: ich vernehme Sprache meines volkes.182

In ähnlicher Funktion als weiser Verkünder ›deutsch-griechischer Art‹ mit volkserzieherischem Anspruch erscheint Goethe in zwei Aphorismen, die 1910 in den ›Blättern für die Kunst‹ abgedruckt wurden. Im ›Hellenischen Wunder‹ wird Goethe als der erste in der Reihe »unsre[r] führenden geister« präsentiert, der mit seinem am sinnstiftenden »Griechische[n] Gedanke[n]« genährten Werk zeitenthobene Lebensmodelle und Deutungsangebote bereitgestellt habe.183 In ›Tote und lebende Gegenwart‹ wird er als der »gegenwärtigste« Deutsche, d. h. zugleich überzeitlicher bzw. zeitloser und aktueller Denker, zum Gewährsmann für die immerwährende Schöpferkraft der Antike und ihre besondere Affinität zum ›deutschen Nationalcharakter‹ erhoben.184 Auch Georges Schüler waren bestrebt, mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten diese Deutung zu bestätigen und weiterzuverbreiten. In Gundolfs Monumentalbiographie ›Goethe‹ wird er zum Inbegriff des modernen, seine Umwelt gestaltenden Menschen, der die kommende deutsche Jugend bereits präfigurierte und sich zugleich als ihr Erzieher betätigte bzw. immer noch betätige. Aufgrund der ihm innewohnenden »Bildnerkraft« sei es Goethe gelungen, »alle seine Eigenschaften, alle von der N a t u r ihm als Rohstoff mitgegebnen Anlagen, in K u l t u r, in lebendige Bildung [zu] verwandel[n], in Lebensgestalt: seine Vitalität in Produktivität« zu überführen.185 Das Potential zur Selbstformung sei durch sein Griechenerlebnis erweckt bzw. stimuliert worden, das ihm »unverlierbar die kalokagathía, das schöne Urbild des Menschen« in die Seele eingebrannt habe.186 Wie in ihm die Auseinandersetzung mit dem antiken Hellas als Initialzündung für einen neuartigen Vitalismus gewirkt habe, so seien an seinem Dichten und Denken weitere Menschen zu erwecken, die das Zukunftsprojekt eines neuen Deutschland mittragen und schließlich vollenden könnten. Wie Gundolf stellt Wolters in einer seiner chauvinistischen Reden, mit denen er an die deutsche Selbstgestaltung nach der Niederlage 1918 und der Versailler ›Schmähung‹ appellierte, Goethe als Idealgestalt des Deut182 183 184 185 186

Ebd., S. 10. Das Hellenische Wunder. In: BfdK 9 (1910), S. 2. Tote und lebende Gegenwart. In: Ebd., S. 3. Gundolf: Goethe, S. 3. Ders.: Rede zu Goethes hundertstem Todestag. Berlin 1932, S. 20.

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schen vor, denn er synthetisiere in seiner Person den Erzieher, den Bildner, den ›Führer‹ und den Retter seines Volkes.187 Die Formung der Landsleute an seinem literarischen Werk, aus dem das auf Hellas zurückgehende Humanitätsideal eingängig hervortrete, habe er als höchstes Ziel und selbstauferlegte patriotische Aufgabe verstanden. So betont Wolters beinahe all dies resümierend, »der weiseste unter den Weisen unseres Volkes« beabsichtigte in allem Handeln, durch eine »wahrhaft humane und harmonische Bildung für die Gesamtheit« und das Individuum, »den einigen, den geformten deutschen Menschen zu schaffen, die Atmosphäre zu schaffen, in der er leben, atmen und wirken könnte«.188 Jaegers eingeschränkte Klassikbegeisterung Wie Spranger und die Georgeaner betonte Jaeger, daß den Schriften der Weimarer Klassiker viele zeitenthobene Beispiele für eine einheitlichnationale Bildung am Muster der Antike zu entnehmen seien.189 So hob er bei verschiedenen Gelegenheiten hervor, daß die philosophischen und literarischen Werke der Zeit um 1800 den Deutschen die griechische Antike als »Führerin und Anregerin der werdenden Volkskultur«190 nahebrächten und der »›griechische Mensch‹ Goethes nichts anderes war und sein sollte, als der schöpferische Ausdruck Goethescher und das heißt höchster deutscher Lebensform«.191 Trotz dieser Würdigung von Neuhumanisten und Idealisten als Begründern deutscher Humanität und Nationalität am hellenischen Modell sprach sich Jaeger aber gegen eine breit angelegte rezeptionsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Griechentum aus. Statt dessen befürwortete er den elitären Zugang zum Altertum über den Griechischunterricht an Gymnasien und Universitäten. Diese exklusive Forderung versuchte er zu begründen, indem er den griechischen Bildungsgedanken als »eine Originalschöpfung« klassifizierte, die nur vollständig zu erfassen sei, wenn sie in ihrem spezifischen kulturgeschichtlichen Kontext betrachtet werde. Läßt man sich mit Jaeger auf diese Vorstellung ein, so ergibt sich die Konsequenz, daß die zentrale Paideia-Idee nur auf dem Weg 187 188 189 190 191

Vgl. Friedrich Wolters: Goethe als Erzieher zum vaterländischen Denken. Altona 1925, S. 3. Ebd., S. 5; S. 18; S. 16 (Zitate in der angegebenen Reihenfolge). Vgl. Werner Jaeger: Begabung und Studium [= Rezension zu Sprangers gleichnamiger Schrift]. In: NJP 20 (1917) (= NJklA 40), S. 265–282, hier S. 277f. Ders.: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. In: HRV, S. 19. Ders.: Begabung und Studium, S. 278.

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›ad fontes‹, d. h. durch Rückgriff auf die schriftliche Überlieferung der Hellenen in der Originalsprache anverwandelt werden kann. Dementsprechend beteuert er in ›Humanismus und Jugendbildung‹ auch, daß das Recht und die Aufgabe, den ewigen Gedanken der reinen Menschenbildung den Völkern einzuprägen, in alle Zukunft den Erfindern dieses Gedankens gewahrt bleiben [muß, BS]. Denn auch die Geschichte kennt eine Art Urheberschutz: er beruht auf der Unnachahmlichkeit aller echten Originalität.192

Auch Otto Regenbogen verschreibt sich diesem Dogma, wenn er sich 1926 vor einer Versammlung von Altertumswissenschaftlern gegen den ›Mißbrauch‹ von deutschen Übertragungen im Griechischunterricht ausspricht. Er führt an, als Dokument einer anderen Zeit repräsentierten sie nicht den originären paideutischen ›Geist‹; diese Fähigkeit – so fährt er fort – besäßen allein die Urtexte: »Bilden im Sinne des Humanismus […] kann aber nur die Beziehung zu einem Endgültigen, also dem Originalen, nicht die zu einem Abgeleiteten, Provisorischen.«193 Ein weiteres Argument gegen einen muttersprachlichen bzw. weiter gefaßt neuhumanistischen Zugang zum Altertum bringt sein Kollege Otto Immisch ins Spiel. Er merkt an, daß die Verarbeitungen antiker Wertvorstellungen und Lebenshaltungen durch die Weimarer Klassiker sehr tendenziös seien und häufig im Widerspruch zu den historischen Tatsachenerkenntnissen stünden.194 Anstatt den griechischen Kosmos den Lesern nahezubringen, verwässerten ihre literarischen Schriften lediglich das erhabene Bild vom Griechentum und seinen Geistesschöpfungen. Anders verhalte es sich dagegen mit der professionellen Beschäftigung mit der Antike. Durch die Analyse der Originalquellen gewährleiste der wissenschaftlich ausgerichtete universitäre, aber auch der schulische Griechischunterricht, daß ein gestochen scharfes, realistisches Porträt der Antike gezeichnet werde, das zeitenthobene Gültigkeit besitze. Indem die Wissenschaft das Denken und Handeln der Hellenen im jeweiligen historischen Kontext beleuchte, ermögliche sie indirekt einen Vergleich mit der Gegenwart und das Aufzeigen von parallelen Erscheinungen in Antike und Moderne. Altgriechische Strategien könnten in der Folge als Muster und Maßstäbe für die Bewältigung ähnlich gelagerter aktueller Probleme herangezogen werden. Gerade an einem solchen analogisierenden Um-

192 193 194

Ders.: Humanismus und Jugendbildung. In: HRV, S. 63. Regenbogen: Original oder Übersetzung?, S. 59. Vgl. Immisch: Wie studiert man klassische Philologie?, S. 133.

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gang mit dem antiken Erbe zeige sich seine Permanenz und immerwährende Aktualität.195 Das Anliegen, ein überzeitlich gültiges Altertum zu präsentieren, sei allerdings von den Neuhumanisten und Idealisten vernachlässigt worden. Die Ahistorizität und Wirklichkeitsferne ihres klassizistischen Antikebildes schließe eine remediale Anwendung auf die zeitgenössische Realität aus. Zudem hätten die Schriftsteller und Gelehrten jener Epoche ein einseitiges, d. h. auf bestimmte idealisierte Eigenschaften – wie erhabene Harmonie und Vollkommenheit – reduziertes Griechenbild geschaffen.196 Denn ihr primäres Anliegen sei es gewesen, das stilvolle Schöne darzustellen, das das ästhetische Empfinden des Lesers anspreche und befriedige; das aus der Sicht des »Dritten Humanismus« maßgebliche natürliche Erziehungssystem der alten Griechen läßt sich nach Auffassung Jaegers und seiner Mitstreiter jedoch nicht aus Texten der Goethezeit extrahieren, sondern ist lediglich aus den Originalschriften der Griechen zu gewinnen. Eine Erziehung des Menschen zum Menschen anhand der klassischen deutschen Literatur wird deshalb von ihnen herablassend als eine »mehr ästhetische Form der Bildung« betrachtet, die ausschließlich die Emotionen anspreche und damit weit hinter der ganzheitlichen philosophischen »Denkschule der alten Sprachen« zurückstehe.197 Denn nur letztere sei in der Lage, gesinnungsbildend zu wirken und das gesellschaftliche Handeln des einzelnen nachhaltig zu beeinflussen. Angesichts dieser schwerwiegenden Vorbehalte verwundert es, daß sich Jaeger nach seiner Emigration aus Deutschland im Jahr 1936 in seinen philologischen Seminaren mit amerikanischen Studenten nicht mehr auf griechische Originaltexte stützte, sondern englische Übersetzungen für den Unterricht heranzog.198 Diese Praxis wirft zwangsläufig die Frage auf, warum Jaeger die alte Position, die er in den 1920er Jahren ausgeklügelt theoretisch fundierte und vehement verteidigte, später kampflos aufgab. Die Erklärung, anglophone Völker verfügten eben nicht über jene intuitive, angeborene ›Seelenverwandtschaft‹ mit den Hellenen wie die Deutschen, die es nur ihnen ermögliche, den originären ›griechischen Geist‹ intuitiv zu erfassen, greift hier zu kurz. Es müßte daher noch genauer untersucht werden, ob nicht vielmehr folgende Deutung herangezogen werden könnte: Möglicherweise hatte Jaeger resignierend feststel195 196 197 198

Vgl. Werner Jaeger: Classical Philology and Humanism. In: TPAPA 67 (1936), S. 363–374, hier S. 372. Vgl. ebd., S. 366f. Ders.: Humanismus und Jugendbildung. In: HRV, S. 63. Vgl. Calder III: Werner Jaeger, S. 359f.

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len müssen, daß – gerade aufgrund der politischen Vereinnahmung seiner Ideen im NS-Deutschland – seine nebulöse Utopie mit ihren vagen (und deshalb mit verschiedenen Inhalten auszufüllenden) Phrasen und Begrifflichkeiten aus dem Umfeld geistesgeschichtlichen Denkens eine Gefahr für die moderne Welt darstellte und deshalb nicht mehr weiterverfolgt werden dürfe. Indizien hierfür könnte sein Rückzug auf einen dezidiert apolitischen, theologischen Humanismus in den 1950er und 1960er Jahren liefern. Zugeständnisse an die radikalen Deutschtümler Die bei vielen Vertretern des »Dritten Humanismus« zu beobachtende Tendenz, auf den besonderen Zusammenhang von Antike und deutschem Kulturerbe zu verweisen, ist als Zugeständnis an den erstarkenden Nationalismus zu werten, der in zunehmendem Maße an Einfluß auf die Geisteswissenschaften und das Bildungswesen seit den 1870er Jahren gewann. Im Schulkampf zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprachen sich die Vertreter der radikal-nationalistischen Deutschtumsbewegung dezidiert gegen eine höhere Schulbildung mit Schwerpunkt auf der griechisch-römischen Tradition aus. Sie forderten, auf einem deutschen Gymnasium verstärkt die germanischen Wurzeln und Errungenschaften des deutschen Volkes in den Vordergrund zu stellen, um damit die Beförderung des deutschen Kulturlebens und der nationalen Gesinnung zu gewährleisten. In den zwanziger Jahren wurden dann Stimmen laut, die zu Lasten der etablierten höheren Schulformen – Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule – ein deutsches Einheitsgymnasium forderten, das angeblich das innere Zusammenwachsen des deutschen Volkes durch seinen besonderen Schwerpunkt auf dem deutschen Geistesleben noch intensiver als die bestehenden Institutionen zu befördern vermöge. Im Kontext dieses Diskurses wurde eine übergreifende volks- bzw. deutschkundliche Ausrichtung aller Unterrichtsfächer vorgeschlagen. Mit der preußischen Schulreform des Jahres 1924 und der Einführung der ›Richertschen Richtlinien‹199 wurde dieser Forderung entsprochen und eine verstärkte Orientierung an der germanischen Tradition zum allgemeinen Unterrichtsprinzip erhoben.200

199 200

Hans Richert (Hrsg.): Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens. 2 Bde. (Bd. 1: Grundsätzliches und Methodisches; Bd. 2: Lehraufgaben). Berlin 1925. Vgl. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 117.

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Dem entschieden und laut vorgetragenen Willen zum Deutschtum konnte sich der »Dritte Humanismus« nicht entziehen. Seine Anhänger bemühten sich deshalb, in ihren Bildungsüberlegungen den speziellen Beitrag hervorzuheben, den das antike Griechentum zu einer »vertieften Deutschheit« leiste, also zu erklären, wie »das Kennenlernen fremder Kulturen stets zur Vertiefung des eigenen Kulturbewußtseins« führe.201 Beide Positionen, die der gemäßigten und um Ausgleich bemühten Deutschkundler um Hans Richert, den Verfasser der ›Richtlinien‹, und die der dezidierten Verfechter der Normativität des Altertums, waren nur über ein Verbindungsglied zusammenzubringen: die Kunst und Kultur der deutschen Klassiker, die sich zwar auf antike Vorstellungen beriefen, diese aber mit ›deutschem Geist‹ aufbereitet hatten. In seiner Programmschrift über die nationalen Erziehungsaufgaben des künftigen Deutschland schreibt Richert der deutschen idealistischen Literatur – hier als Oberbegriff für Klassik und Romantik gebraucht – die Fähigkeit zu, sowohl die Eigenart des ›deutschen Geistes‹ vorbildlich darzustellen als auch die ›am Boden liegende‹ nationale Kultur wieder aufzurichten: Hier [i. e. im deutschen Idealismus, BS] oder nirgends ist unser Vaterhaus, hier ist unser Hellas, hier ist die klassische Epoche, die der jugendliche Geist durchleben muß, wenn er geschichtlicher Geist werden soll; hier ist die abgeschlossene Epoche, in der der jugendliche Geist ungestört ausreifen kann. Denn in dieser Epoche hat der deutsche Geist das Lebensfähige aller bisherigen Entwicklungsstufen übernommen, es gesammelt, gesteigert, dem deutschen Geist assimiliert.202

In den ›Leitsätzen‹ des Gymnasialvereins von 1920 wurde die griechischrömische Welt sogar als Quellbezirk des ›deutschen Geistes‹ bezeichnet. Mit den in ihnen vorgetragenen Überlegungen zum inneren Aufbau des Gymnasiums war die Richtung vorgegeben, an der sich die Vertreter des »Dritten Humanismus« – vor allem Spranger mit seinem Appell ›durch die deutschen Klassiker zur Antike‹ – verstärkt orientierten. Als Kennzeichen dieser Institution wurde »im Einklange mit der Entwicklung des deutschen Geisteslebens die enge Verbindung von Deutsch, Latein und Griechisch« herausgestellt, denn die »Betrachtung der deutschen Sprache 201

202

Hubert Cancik und Rainer Nickel: Zur Geschichte der klassischen Philologie und des altsprachlichen Unterrichts II. Zur Einführung. In: AU 27 (1984), Heft 4, S. 3–9, hier S. 6. – Vgl. auch Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 116f. Hans Richert: Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule. Ein Buch von deutscher Nationalerziehung. Tübingen 1920, S. 112.

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und Literatur erhält durch Bezugnahme auf die antike Geisteswelt ihre besondere Färbung«.203 Die aktuellen Bestimmungen für den Unterricht, die mit den ›Richertschen Richtlinien‹ vorgegeben waren, zogen eine veränderte Unterrichtsgestaltung und die Einführung neuer Lehrmaterialien nach sich. Lesebücher und Anthologien, die der geforderten Bezugnahme auf die nationalen Ursprünge und Wesensmerkmale in den gesinnungsbildenden Fächern Rechnung trugen, mußten zusammengestellt werden. In diesem Kontext eröffnete sich ein neues und einflußreiches Betätigungsfeld für Humanisten und Bildungstheoretiker. Das kulturkundliche Curriculum für den Deutschunterricht in der Prima schrieb zu Beginn der 1920er Jahre einen Schwerpunkt auf Dichtung und Sachliteratur der Goethezeit vor. Spranger und einige Georgeaner erkannten die Möglichkeit, in die Lesebücher gerade dieser Jahrgangsstufe ihr humanistisches Gedankengut zu integrieren. Eine kommentierte Auswahl an aussagekräftigen literarischen und philosophischen Texten der Zeit um und nach 1800 für den Unterricht wurde als ein passabler Weg erachtet, den jungen Männern die anregende geistesgeschichtliche Verbindung zwischen deutscher und griechisch-antiker Kultur zu vermitteln und sie dabei für die humanistische Utopie zu sensibilisieren. Indem die Schüler bewußt erführen bzw. nacherlebten, wie gerade in der Aufbauphase Preußen-Deutschlands nach den Napoleonischen Kriegen ein Gedankengut, das den alten Griechen entlehnt und idealistisch ausgedeutet worden sei, für die nationale Bewegung nutzbar gemacht wurde, würden sie sich offener und aufnahmebereiter gegenüber einer erneuten Renaissance hellenischer Wertvorstellungen in der deutschen Gegenwart zeigen. Derartig motiviert, beteiligten sich auch Vertreter des »Dritten Humanismus« bei der inhaltlichen Konzeption der Lesebücher. Sie beeinflußten die Textauswahl für die vorgeschriebenen Themenkomplexe und erwirkten Mitspracherechte in bezug auf die diese einleitenden Bemerkungen. Spranger arbeitete an dem von Willy Scheel herausgegebenen ›Deutschen Lesebuch für höhere Schulen aller Formen‹ mit, das den sprechenden Namen ›Aussaat‹204 trägt; in dem Band für die Prima wurde der Schwerpunkt auf Beiträge aus der idealistischen Phase um 1800 gelegt. Wolters stellte eine fünfbändige Anthologie ›Der Deutsche‹ zusammen, deren erster Teil 203 204

Vorstandssitzung des deutschen Gymnasialvereins in Leipzig. In: Das humanistische Gymnasium 31 (1920), S. 1–3, hier S. 2. Aussaat. Deutsches Lesebuch für höhere Schulen aller Formen. Hrsg. von Willy Scheel. Neun Abteilungen. Berlin 1925.

200

sich dem »Bild der Antike bei den Deutschen« widmet und deren dritter Teil von der »Gestalt des Deutschen« handelt.205 Neben der literarischen Verbindung von deutschem mit griechischem Kulturgut zeigten bereits die ›Leitsätze‹ die Möglichkeit auf, sich dem Griechentum über die deutsche Sprache anzunähern. Damit bot sich eine gute Gelegenheit, den vielkritisierten, verbrämten griechischen Sprachunterricht als etymologische Brücke zur deutschen Kultur zu propagieren. In ihm konnten wort- und begriffsgeschichtliche Verbindungen des Griechischen zum Deutschen erläutert werden.206 In der Vorstellung der Deutschkundler hatte die höhere Schule auch eine gründliche Sprachkunde zu betreiben, um so mit den Worten Richerts »die junge Seele aus der lebendigen Quelle« der Muttersprache »mit Sprachleben und Sprachkraft zu tränken«.207 Dabei konnte der Griechischunterricht als ergänzende Stütze des Deutschunterrichts propagiert werden, denn über die vielen griechischen Lehnwörter in der deutschen Sprache ließ sich ein Bezug zur humanistischen Sprachphilosophie herstellen und auf die angebliche geistesgeschichtliche Verbindung von Griechen und Deutschen anspielen. Die starke Betonung der deutschkundlichen Seite der Altphilologie folgte der Strategie, die Existenzberechtigung des Faches zu legitimieren und den Anspruch auf eine leitwissenschaftliche Stellung überzeugend zu begründen. Das altsprachliche Gymnasium als Hort des Humanismus Ziel der Bildungsutopie im »Dritten Humanismus« war die Entwicklung eines modellhaften »Menschentums für unsere Zeit«,208 wie es Spranger in einem Brief an Kerschensteiner programmatisch formuliert. Das zu generierende ›Menschentum‹ sollte in der Tradition neuhumanistischer Bildungsvorstellungen stehen, was eine nicht zu unterschätzende Abhängigkeit vom äußeren Schicksal des altsprachlichen Gymnasiums bedeutete, da sich gerade diese Schulform die Losung auf ihre Fahnen schrieb, alle Anlagen des Individuums in Auseinandersetzung mit dem antiken Kosmos zu entwickeln. Im Bewußtsein der bildenden Funktion aller Schulen bemühten sich die Vertreter des »Dritten Humanismus« in besonderem Maße, Einfluß 205 206 207 208

Wolters (Hrsg.): Der Deutsche, Teil 1 bzw. Teil 3. Vgl. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 126. Richert: Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule, S. 210. Spranger an Kerschensteiner, 20.06.1916. In: Kerschensteiner und Spranger. Briefwechsel, S. 61–65, hier S. 63.

201

auf die Gestaltung des deutschen Schulwesens auszuüben. Da die Adressaten ihrer Erziehungskonzeption hauptsächlich junge, aus dem gebildeten Bürgertum stammende Männer waren, interessierten sie vor allem Entwicklungen im Bereich der höheren Knabenschulen, und so versuchten sie, dort Mitspracherechte zu erwirken. Aufgrund der besonderen Bedeutung, die der griechischen Philologie und Sprache in ihrer Utopie zukam, ist es nachvollziehbar, daß sie sich im Schulkampf der 1920er Jahre für die Begünstigung bzw. Erhaltung des Schulzweiges engagierten, der auf dem Fundament des Griechisch- und Lateinunterrichts beruhte. Entgegen der vielfältigen Kritik, die dem Gymnasium gerade von Seiten radikaler Deutschkundler, aber auch modernistisch gesinnter Naturwissenschaftler oder des besitzenden Bürgertums entgegengebracht wurde, stellten Jaeger, Spranger und etliche Georgeaner die Aneignung der Schlüsselqualifikationen ›allgemeine Denkschulung‹ und ›Ausbildung des Verstehensaktes‹ als seine Vorzüge heraus; diese Fertigkeiten, die besonders gut durch die alten Sprachen zu vermitteln seien, begünstigten die harmonische Kräfteentfaltung des Individuums, beförderten die Entwicklung der eigenen Schöpferkraft und stärkten den nationalen Zusammenhalt. Allerdings widersprach die Realität zu Beginn des 20. Jahrhunderts dieser idealistisch präparierten Sichtweise deutlich; das Gymnasium humboldtscher Prägung hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weiter vom ursprünglichen humanistischen Gedanken entfernt. Dabei pervertierte die schulische Vermittlung des persönlichkeitsbildenden Griechischen und des Lateinischen zu lebensfernen Pauk- und Drillfächern; mit ihnen wurde nunmehr primär die Ausbildung und Stärkung der als preußisch-deutsch identifizierten Charaktereigenschaften Durchhaltevermögen und Selbstdisziplin verbunden. So ließ sich im altsprachlichen Unterricht als Mittelpunkt des zeitgenössischen Gymnasiums der humanistische Gehalt antiker Texte, der viele Schriftsteller und Gelehrte der Goethezeit noch beflügelt hatte, kaum mehr verspüren. Zudem war diese Institution seit den 1870er Jahren immer stärker ins Kreuzfeuer der Kritik geraten: Neben den harschen Einwänden gegen einen rein formalistischen Sprach- und Grammatikunterricht wurden als weitere Mängel der Schulform die Vernachlässigung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und nationaler Belange sowie eine fehlende Praxisorientierung angeführt und heftig beklagt.209 209

Zur Situation des Gymnasiums im Kaiserreich siehe grundlegend James C. Albisetti und Peter Lundgreen: Höhere Knabenschulen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Hrsg. von Christa Berg u. a. Bd. 4: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Hrsg. von Christa Berg. München 1991, S. 228–278; ferner

202

Vor diesem Hintergrund standen Überlegungen zur Reformierung und Modernisierung des traditionellen Gymnasiums weit oben auf den Tagesordnungen der drei Schulkonferenzen der Jahre 1890, 1900 und 1920; als Ergebnis der Verhandlungen wurde eine Reduzierung von Stundenzahl, Anforderungsprofil und Prüfungsstoff im Lateinischen und Griechischen beschlossen. Zudem wurden bereits 1900 die beiden konkurrierenden höheren Schulen – Realgymnasium und Oberrealschule – dem bisher privilegierten Gymnasium gleichgestellt. Sie durften nun auch die begehrte Hochschulberechtigung mit dem Reifezeugnis erteilen, die den Zugang zu beinahe allen Universitätsstudienfächern gewährte. Damit schwand – neben der Entscheidung für eine ganzheitliche Bildung, die ja auch nur noch eine Farce darstellte – ein weiteres Motiv, sich für den Besuch des Gymnasiums zu entscheiden. Natürlich konnten auch die Vertreter des »Dritten Humanismus« ihre Augen vor den allgemein konstatierten Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen Gymnasiums nicht verschließen und über die Konterkarierung des ursprünglichen humanistischen Gedankens durch den Einfluß des Positivismus nicht hinwegsehen. Deshalb merkte Jaeger auch in einer Rezension 1917 kritisch an, es könne nicht die einzige bzw. hauptsächliche Lehraufgabe des altsprachlichen Unterrichts sein, daß die Schüler die neunjährige Gymnasialzeit hindurch sich mit dem Einpauken der unzähligen ›Ausnahmen‹ herumplagen, aus denen das dickleibige Lehrgebäude der alten Schulgrammatik in der Hauptsache bestand.210

Die Tatsache, daß die alten Sprachen in den letzten hundert Jahren zu einem »Petrefakt« verkümmert seien, ließ sich nach Jaegers Auffassung nicht wegdiskutieren. Deshalb forderten im Verbund mit ihm auch andere Humanisten, die alten Sprachen wieder als lebendigen, stimulierenden Organismus zu präsentieren und damit das angeblich nur ihnen inhärente Bildungspotential hervorzuheben. Die Losung der Gegenwart habe daher »Wiedererweckung der humanistischen Schule«211 zu lauten; ihre Umsetzung betrachteten Jaeger, Spranger und die Georgeaner, die sich ja

210 211

Karl-Ernst Jeismann (Hrsg.): Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung. Stuttgart 1989 (= Nassauer Gespräche der Freiherr-vomStein-Gesellschaft 2); Margret Kraul: Das deutsche Gymnasium 1780–1980. Frankfurt a. M. 1984 (= Neue Historische Bibliothek; es 1251, N. F. 251); Helga Romberg: Staat und Höhere Schule. Ein Beitrag zur deutschen Bildungsverfassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Weinheim, Basel 1979 (= Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte 11). Jaeger: Begabung und Studium, S. 275. Ders.: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. In: HRV, S. 18.

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alle selbst als Gelehrtenpolitiker bzw. geistige Mentoren des Volkes verstanden, nunmehr als eine ihrer vornehmsten Kulturaufgaben. Dabei war ihnen allerdings bewußt, daß die überkommene Schulform nicht allein durch grundlegende »Erneuerung an Haupt und Gliedern«,212 d. h. durch Überdenken ihrer Bildungsinhalte, zeitgemäß und damit lebensfähig würde. So entwickelten sie unterschiedliche Reformvorschläge, die ihr gemeinsames Ziel verwirklichen sollten, nämlich die angeblich dem Griechentum in Reinform eingeschriebene Paideia-Idee den Schülern nahezubringen. Dabei war Jaeger im Vergleich mit anderen Humanisten zu den minimalsten Reformen bereit; er befürwortete lediglich methodische und didaktische Veränderungen des altsprachlichen Unterrichts. An dem traditionellen Schwerpunkt dieser Schulform, der auf der Vermittlung der antiken Weltsicht und der Kulturleistungen der alten Völker lag, wollte er nicht rütteln. Die Vorstellungen der Georgeaner – soweit sie sich überhaupt zu diesem Problemkreis äußerten – entsprachen im großen und ganzen Jaegers Haltung. Auch sie dachten konservativ und elitär.213 Dagegen war Spranger im Reformdiskurs zu einschneidenden, das allgemeine Profil der Institution betreffenden Veränderungen bereit. Er plädierte für eine auf reformiert-humanistischer Basis errichtete höhere Bildung, die die Naturwissenschaften und modernen Fremdsprachen stärker als bisher einbeziehen sollte. Denn anders als Jaeger und seine altertumswissenschaftlichen Mitstreiter störte er sich an der konstatierten Realitätsferne dieser Anstalten.214 So betont er in dem programmatischen Essay ›Humanismus und Realismus‹, das gegenwärtige Gymnasium sei zwar in der Lage, Menschen zu bilden, »aber keine Menschen für diese Welt«.215 In Ermangelung »des realistischen Sinnes für die Beurteilung heutiger Verhältnisse« könne die heranwachsende Generation aber dort nicht in ausreichendem Maße auf die notwendige Mitarbeit »an den Aufgaben des Volkslebens« vorbereitet werden.216 Diese Unzulänglichkeit läßt sich aber nach Spranger beheben, indem man das Profil des alten Gymnasiums erweitere, in seinen Worten: indem man dafür Sorge trage, daß »Humanismus und Realismus ein neues Durchdringungsverhältnis eingehen«.217 Dabei sei der weitgehend exklu212 213 214 215 216 217

Ders. zitiert nach Willibald Klatt: Die Berliner Gymnasialtagung. I. In: Das humanistische Gymnasium 36 (1925), S. 127–136, hier S. 127. Vgl. Berthold Vallentin: Zur Kritik des Fortschritts. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), S. 49–63, hier S. 56f. Vgl. Eduard Spranger: Humanismus und Realismus. In: PA 51 (1909), S. 1–9, hier S. 2. Ebd. Ebd., S. 5; S. 2. Ebd., S. 2f.

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sive humanistische Gedanke, der die bestehenden Anstalten auszeichne, durch Einbezug der Realien – d. h. naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, moderner Fremdsprachen und technischer Innovationen – zu ergänzen, um ihn besser an die Bedürfnisse einer modernen ›Industriegesellschaft‹ und Weltmacht, als die sich ja die deutsche Nation bezeichnen lasse, anzupassen. Geschehe dies, so sei gewährleistet, daß der Lernende wieder »von seiner eigenen inneren Welt aus die Welt um sich versteht, bewertet und beherrscht«.218 Sprangers Idee eines humanistisch-realistischen Reformgymnasiums wirkte sich aber auch auf die Perspektive aus, die auf das Griechentum gerichtet wurde. Anstatt einer vermeintlich neuhumanistisch-idealistischen Betrachtung, die lediglich »ästhetisch« verkläre und »ein altes Traumbild« fortspinne,219 sei ein »realistischer« kulturhistorischer Zugang zur antiken Welt in allen Fächern, nicht nur in den alten Sprachen und im Geschichtsunterricht, zu wählen. In der Konsequenz bedeutete dies, daß die Sonderstellung des Griechischen und Lateinischen aufgegeben werden mußte, nicht aber der Gedanke, daß das Altertum für das Hier und Jetzt Einflußmöglichkeiten und Aktualität besitze.220 Neben dem bildungspolitischen Grundanliegen, das ihr Engagement im Diskurs um das humanistische Gymnasium erklärt, wurden die »Dritten Humanisten«, besonders die Altertumswissenschaftler unter ihnen, auch von opportunistischen Erwägungen geleitet, die einen neuen »Elitediskurs im Medium der Antike«221 initiieren sollten. Sie erblickten in der Fürsprache für das Gymnasium die Chance, ihren gesellschaftlichen Einfluß (und zugleich den ihrer Klasse, des gebildeten Bürgertums) zu sichern sowie ihr Prestige zu wahren. Deshalb zeigten sie sich bemüht, der Schulform und dem sie prägenden humanistischen Gedanken Gegenwartsrelevanz zu bescheinigen. Zugleich verwiesen sie auf den staatstragenden Charakter der alten Sprachen, der die Ausbildung bürgerlicher Sekundärtugenden immens begünstigen könne. Verständnis und Erlebnis des Griechentums wurden demnach »zum Ausweis einer Prädestination zur Bildung und gesellschaftlichen Führung«222 deklariert. Von einer solchen Strategie versprachen sie sich allgemeine Aufmerksamkeit, zuneh218 219 220 221

222

Ebd., S. 7. Ders.: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, S. 499. Vgl. ders.: Die Antike und der deutsche Geist, S. 5. Carola Groppe: Diskursivierungen der Antikerezeption im Bildungssystem des deutschen Kaiserreichs. In: Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof (Hrsgg.): »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Frankfurt a. M. 2002 (= Das Abendland, N. F. 30), S. 21–44, hier S. 21. Ebd., S. 44.

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mendes Interesse und Unterstützung durch einflußreiche bürgerliche Kreise; dies wiederum könne – so ihre Motivation – dazu beitragen, Gymnasium und Universität den erwünschten Nachwuchs zu sichern, der notwendig sei, um den befürchteten Niedergang der altertumswissenschaftlichen Studien aufgrund zurückgehender Nachfrage abzuwenden.

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Drittes Kapitel

Der »Dritte Humanismus« als politisches Programm

Von goethescher Bildung und bismarckscher Kraft: Persönlichkeitsbildung und Gesellschaftsreform Athen und Sparta statt Perikles »Die Stunde ist gekommen, das p o l i t i s c h e D e n k e n , das in Deutschland noch in den Anfängen liegt, aufs höchste zu steigern«.1 Mit diesem programmatischen Ausspruch bezeichnete Spranger 1914/1915 in einem Beitrag, der die Frage stellt: »Welchen Sinn hat es, jetzt zu studieren?«, die Funktion geisteswissenschaftlicher Arbeit als Deutungs- und Weisungsinstrumentarium in Zeiten politischer Wirren. Zugleich dokumentiert sein Artikel die Ambition, nicht nur Humanismus und Realismus, sondern auch Geisteswissenschaften und Realpolitik wieder stärker aneinanderzubinden und als Gelehrtenpolitiker nationale Führungsaufgaben in der Gegenwart zu übernehmen. Das Postulat, Einfluß auf die Gesellschaft auszuüben, ist dem Bildungsdiskurs seit seinem Ursprung inhärent. Entsprechend trugen die Vertreter des »Dritten Humanismus« mit ihrer nationalen Bildungsutopie dazu bei, das beklagte Sinnstiftungsvakuum der Deutschen um die Wende zum 20. Jahrhundert mit einem neuen, auf das reale Leben bezogenen ethischen Gehalt aufzufüllen. Dabei wiesen sie der philologischen Hermeneutik eine leitende Rolle zu und übertrugen die beanspruchte geistige Führerschaft in den autonomen Räumen der Kunst und Wissenschaft in den zwanziger Jahren auch auf das heteronome Feld der Politik.2 Die Georgeaner, wie auch Jaeger und Spranger, die sich als Geisteswissenschaftler par excellence verstanden, wollten ihre politischen Ambitionen nicht über ein parteipolitisches Engagement verwirklichen – anders 1 2

Eduard Spranger: Welchen Sinn hat es, jetzt zu studieren? In: Akademische Rundschau 3 (1914/1915), S. 142–146, hier S. 144. Zur Tradition der im George-Kreis inszenierten Vorstellung vom Dichterfürsten, der sich scheinbar gleitend zwischen den Einflußbereichen Kunst und Politik hin- und herbewegt, vgl. Eberhart Lämmert: Der Dichterfürst. Metamorphosen einer Metapher in Deutschland. In: Ulrich Raulff (Hrsg.): Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien. München, Wien 2006 (= Edition Akzente), S. 144–185.

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als die großen Gelehrtenpolitiker des 19. Jahrhunderts nahm keiner von ihnen ein Reichstagsmandat wahr oder vertrat in der Öffentlichkeit eine politische Partei. Sie setzten vielmehr auf Meinungsbildung durch populärwissenschaftliche Betätigung. Selbst George zog in Erwägung – diesen Schluß erlaubt jedenfalls ein Merkspruch aus den ›Blättern‹ des Jahres 1904 –, als Künstler, d. h. über seine Lyrik, »das schwert des kampfes«3 gegen den kulturellen und gesellschaftlichen Notstand zu erheben. Den Übergriff in diesen neuen Wirkungsbereich, der bei allen Anhängern des »Dritten Humanismus« auszumachen ist, begünstigte die gesteigerte Nachfrage und Aufmerksamkeit, die die Idee des Sozialen und das gemeinschaftliche Miteinander aufgrund der weitverbreiteten Erfahrung von Vereinzelung, Anonymität, persönlicher Verlassenheit und Fragmentierung des individuellen Lebens seit Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhren. Zudem wurde mit der umfassenden Gemeinschaftserfahrung im Ersten Weltkrieg der emphatische Ruf nach einer inklusiven »Volksgemeinschaft« laut, in der alle Deutschen ihren Platz fänden. Die für den »Dritten Humanismus« charakteristische Bezugnahme auf das antike Griechentum als Instrument der nationalen Identitätsstiftung gab man auch unter den neuen Vorzeichen nicht auf, jedoch verlagerte sich nun der Fokus vom Subjekt auf das Kollektiv bzw. auf das Verhältnis beider zueinander. Für den Bildungsdiskurs ergab sich die Konsequenz, daß der Mensch nicht mehr als selbstbestimmtes Individuum angesehen werden konnte, sondern vielmehr als Glied eines organischen Ganzen, in aristotelischer Terminologie als ›zoon politikon‹, betrachtet werden mußte.4 Denn nach dieser Vorstellung war es »Grundtatsache alles griechischen Erziehertums […], daß die Humanität, das ›Menschsein‹, von den Griechen stets wesenhaft an die Eigenschaft des Menschen als politisches Wesen geknüpft worden ist«.5 Entsprechend empfing im zeitgenössischen humanistischen Bildungsdenken der ›neue‹ Deutsche wie bereits der PolisGrieche »vom sozialen Ganzen [seine, BS] besten Werte« und gab diesem »damit seine besten Werte« zurück.6 Seine Paideia wurde zur »Sache der 3 4

5 6

Künstler und Kämpfer. In: BfdK 7 (1904), S. 11. Vgl. Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie. Übersetzt und hrsg. von Franz F. Schwarz. Stuttgart 1989 (= RUB 8522), S. 78 [I, 2]: »Daraus geht nun klar hervor, daß der Staat zu den von Natur aus bestehenden Dingen gehört und daß der Mensch von Natur aus ein staatsbezogenes Lebewesen ist und daß ferner der, der seiner Natur nach und nicht dem Zufall gemäß ohne Bindung an einen Staat ist, entweder schlecht ist oder bedeutender als ein Mensch«. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 16. Spranger an Kerschensteiner, 16.01.1916. In: Kerschensteiner und Spranger. Briefwechsel, S. 46–50, hier S. 49.

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Gemeinschaft«, d. h. zur überindividuellen Angelegenheit erklärt: Indem sich der einzelne in freier Bindung am »lebendigen Normbewußtsein« der Gemeinschaft orientiere, sei die nationale Entfaltung zu begünstigen.7 Hinsichtlich des Bildungsziels ergab sich damit eine eklatante Verschiebung. Galt es früher, die freie Selbstentfaltung des Individuums durch Förderung seiner künstlerisch-ästhetischen Natur anzuregen, sollten nun ethisch-soziale Fertigkeiten geprägt werden, die das kollektive Zusammenleben regelten. Unter Paideia verstand man nun – wie es der selbsternannte George-Adept Frommel prägnant auf den Punkt brachte – den Akt der »v e r p f l i c h t e n d e n L e n k u n g d e s D u «.8 Entsprechend entnahm die Philologie als humanistische Leitdisziplin ihre Wertorientierung bzw. die Kategorien für die inhaltliche Bestimmung der richtungsweisenden Normen Harmonie, Organizität, Einheit, Ordnung und Stabilität nun der Sphäre der Staats- und Gesellschaftspolitik. Das neue Griechenbild, das so konstruiert wurde, stellte die dorische Virilität des Polis-Bürgers in den Vordergrund. Die geschlechtsneutrale apollinische Anmut und Würde des Individuums, das alte Ideal des Neuhumanismus, trat hinter ihr deutlich zurück. Eine Bezugnahme auf das soziale und politische Leben der Hellenen hatte sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Siegeszug des Historismus in den Wissenschaften angekündigt. Eine Griechenauffassung, die das gesellschaftliche und staatliche Umfeld ausblendete, schien mit der Forderung nach umfassender, realistischer und lebensnaher Analyse nicht mehr zu vereinbaren. Die entscheidende Zäsur dieses Denkens markierte allerdings erst der Ausbruch des Ersten Weltkrieges: Seit August 1914 sahen es Jaeger, Spranger, George und ihre Anhänger als Verpflichtung an, die Nation durch ideologische Begründung bzw. Rechtfertigung der Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Nach der Niederlage 1918 sollten ihre Lehren schließlich zur geistigen Wiederaufbauarbeit beitragen. Mehr denn je verspürten sie die dringende Notwendigkeit, mit Hilfe der Paideia »die Gegenwart auf das Wesentliche zu verweisen, oder doch wenigstens, geistig zu kompensieren, was in der politischen Realität nicht zu erreichen«9 sei. Als richtungsweisend für ihre bildungspolitischen Überlegungen der folgenden beiden Jahrzehnte ist Gundolfs Mahnung zu deuten, »die Tat geistig und den Geist tathaft zu machen«.10 7 8 9 10

Vgl. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 2. Helbing [= Frommel]: Der Dritte Humanismus, S. 99. Näf: Von Perikles zu Hitler?, S. 86. Friedrich Gundolf: Tat und Wort im Krieg. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 11.10.1914, Erstes Morgenblatt, S. 1f., hier S. 1.

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Dabei galten die nationale Euphorie und das große Teile der Bevölkerung umfassende Zusammengehörigkeitsgefühl des Frühherbstes 1914 als Impetus für die Begründung einer allgemeinverbindlichen wie spezifisch deutschen Gesinnung und Triebkraft für die anvisierte Gesellschaftsreform. Im Diskurs um die zukünftige deutsche Staats- und Herrschaftsform, der den Zusammenbruch des Kaiserreiches 1918 begleitete, bezogen die Vertreter des »Dritten Humanismus« Stellung zugunsten einer aristokratischen Republik und korporativer Ordnungsentwürfe. Typisierte Vorbilder für ihr Bildungs- und Gesellschaftsmodell entnahmen sie der deutsch-griechischen Geschichte: Die archaische Polis und das friderizianische Preußen galten ihnen als Musterbeispiele einer organischen Gemeinschaft, in die sich der einzelne durch freiwillige Gebundenheit harmonisch einfügte. Auch setzten sie sich verstärkt mit Platons Staatsschriften auseinander, denn sie glaubten, ihnen Antworten auf gegenwärtige Fragen entnehmen zu können. Dabei trugen sie jedoch eine eigenwillige, nationalistisch präparierte Lesart des platonischen Staatsdenkens vor: Sie setzten – um auf ein zeitgenössisches Bonmot des Sozialdemokraten Karl Kautsky zurückzugreifen – »dem griechischen Philosophen die Pickelhaube auf[…]«.11 Der enge Fokus auf die frühgriechischen Stadtstaaten wurde durch eine einseitige und damit historisch verzerrte Adaptation des Hellenentums begünstigt; zudem unterstrich den idealisierten Charakter ihres Griechenbildes die Tendenz, aus der Überlieferung nur das herauszufiltern, was dem eigenen Zeitgeist entsprach – hier also Gemeinschaftsgesinnung, Pflichtbewußtsein und Opfermut sowie autoritäres Staatsdenken. Andere, desillusionierende Aspekte – wie die bereits von Burckhardt in seiner ›Griechischen Kulturgeschichte‹ angeprangerte Selbstzerstückelung der griechischen Welt in despotische Kleinstaaten, Sklaverei und die konsequente Unterdrückung der Masse durch eine kleine Aristokratie – wurden bewußt vernachlässigt, weil sie die Illusion einer harmonischen und ganzheitlichen, d. h. ›schönen‹ Welt gestört hätten. Im Kontext der skizzierten politischen Ambitionen wurde die humanistische Bildungskonzeption, die ursprünglich nur für eine kleine Elite – das gymnasialgeprägte männliche Bürgertum – bestimmt war, in einen ge-

11

Karl Kautsky: Vorläufer des neueren Sozialismus (Bd. 1: Kommunistische Bewegungen im Mittelalter; Bd. 2: Der Kommunismus in der deutschen Reformation). 2., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1909 (= Internationale Bibliothek 47/48). Bd. 1, S. 24, Anm. (hier jedoch zur Charakterisierung der deutschen Geschichtsschreibung Ende des 19. Jahrhunderts gebraucht).

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samtgesellschaftlichen Entwurf überführt. Ganz im Sinne Gerhart Rodenwaldts, eines hochrangigen Archäologen aus dem Umkreis Jaegers, der betonte, »Wirkung auf weite Kreise unseres Volkes ist heute vielleicht eine noch wichtigere Aufgabe als die wissenschaftliche Produktion im Dienste reiner Forschung«,12 entwickelten sie ein breitgefächertes öffentlichkeitswirksames Engagement: Populärwissenschaftliche Vorträge und Zeitschriftenaufsätze zu aktuellen Themen und Anlässen, tagespolitische Stellungnahmen in der überregionalen Presse sowie die Gründung eigenständiger kulturpolitischer Organe sollten zur Gesinnungsbildung bzw. -förderung der Allgemeinheit beitragen und zugleich Interesse und Unterstützung für die eigene Bewegung einwerben. Hierbei kam Reden anläßlich der Reichsgründungsfeiern eine besondere Bedeutung zu; denn der 18. Januar war in den Weimarer Jahren im Festkalender der deutschen Hochschulen als Tag vaterländischen Gedenkens und geistiger Erhebung fest verankert.13 Jaeger und Spranger boten die Festivitäten an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin Anlaß und Gelegenheit, vor erlesenem Publikum – das Auditorium setzte sich neben Regierungsvertretern aus Prominenz von Wirtschaft, Kultur und Bildung zusammen – »ihrem aus ›wissenschaftlichem Ethos‹ abgeleiteten ›nationalen Verantwortungsbewußtsein‹ Ausdruck zu verleihen«.14 Gerade vor diesem Hintergrund zeigte sich im »Dritten Humanismus« vielleicht ein letztes Mal die für die Professorengeneration eines Theodor Mommsen oder Heinrich von Treitschke noch charakteristische Einheit von wissenschaftlicher Bildung und bürgerlicher Öffentlichkeit.15 Jaegers und Sprangers Gelehrtenpolitik wurde durch die enge Verbindung zum preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker begünstigt; sie garantierte nicht nur direkten Zugang zu den Schaltstellen der Bildungspolitik, sondern ermöglichte auch die Mitarbeit in entscheidenden kulturpolitischen Gremien. Im Verbund mit Becker bemühten sich die beiden darum, Deutschland in einen Kulturstaat griechischer Prägung, d. h. in ein mächtiges Staatswesen mit bedeutender Kultur, zu überführen.16 Gemäß der Vorstellung, ohne festes staatliches Band sei eine hohe

12 13 14 15 16

Gerhart Rodenwaldt: [Rezension zu] W. H. Schuchhardt: Das Meisterwerk. Griechische Plastik. Berlin 1938. In: Gnomon 16 (1940), S. 327–329, hier S. 327. Vgl. Bernd Weber: Pädagogik und Politik vom Kaiserreich zum Faschismus, S. 228. Ebd., S. 229. Vgl. dazu Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte. Göttingen 2006. Zu Beckers Kulturstaatsidee vgl. Groppe: Neubeginn durch einen dritten Humanismus?

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Kunst nicht zu verwirklichen, hätten Kultur und Wissenschaft den Staat zu stabilisieren und zu legitimieren, um dann im Gegenzug von ihm geschützt und gefördert zu werden. Mit seiner umstrittenen dreibändigen ›Paideia‹ legte Jaeger eine prononciert politische Interpretation der griechischen Geistesgeschichte vor – gleichsam als Quintessenz seiner Kulturpolitik.17 In ihr läßt er, wie der gegenüber der völkischen Germanistik aufgeschlossene Literaturwissenschaftler Robert Petsch,18 seinerzeit Ordinarius in Hamburg, in einer Rezension des ersten Bandes betonte, »überall den volks- und staatspädagogischen, den aus der Tiefe heraus belebenden und ausrichtenden Gedanken hervorleuchten«,19 denn Jaeger deutete die Erziehung zu politischem Bewußtsein, die Erzeugung einer verbindlichen nationalen Gesinnung, als eigentliche Substanz und stimulierenden Impuls der griechischen Kultur und zugleich als Konstante des bis in die Gegenwart wirkmächtigen Einflusses des Hellenischen auf das Deutsche. Indem er das politische Bewußtsein des einzelnen in neokonservativer, antidemokratischer Manier als selbstlose, absolute Hörigkeit gegenüber dem Staat – in seinen Worten als Verlangen nach »energischer Selbstbeschränkung« –20 interpretierte, propagierte, ja legitimierte er schließlich die totale Unterwerfung des Individuums unter die autoritäre Kollektivgewalt. Damit entzog er dem ursprünglichen liberalen Humanismusgedanken jegliches regimekritische Potential; gerade die Bezugnahme auf ein apollinisch verstandenes Griechentum mit seinen Leitidealen Individualismus, Freiheit und Kalokagathie hätte eine effektive Waffe im Kampf gegen die nationalsozialistische Barbarei darstellen können.

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18

19 20

Vgl. hierzu Reinhard Mehring: Humanismus als »Politicum«. Werner Jaegers Problemgeschichte der griechischen »Paideia«. In: Antike und Abendland 45 (1999), S. 111–128. – Mehring deutet Jaegers Humanismus als Antwort eines nationalkonservativen Gelehrten auf die »Problemlage der Weimarer Zeit« (S. 127); in seiner ›Paideia‹ (1934–1947) werde sein Programm einer kritischen Überprüfung unterzogen mit dem impliziten Resultat im letzten Band, »daß die politischen Grundlagen des griechischen Bildungsideals entfallen sind« (S. 124). Zu Robert Petsch (1875–1945) vgl. den Personaleintrag im Internat. Germanistenlexikon 2, S. 1389–1391. Siehe auch Christa Hempel-Küter: Germanistik zwischen 1925 und 1955. Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz. Berlin 2000 (= LiteraturForschung), S. 140–143. Robert Petsch: Werner Jaeger. Paideia. In: Dichtung und Volkstum 38 (1937), S. 102–110, hier S. 110. Jaeger zitiert nach A. Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis, S. 75.

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Deutschlands ›Aufbruch‹ Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 änderte sich das Leben in Deutschland schlagartig: Eine nationale Euphorie, die in erster Linie die Bildungsschichten ergriff, brach aus – Deutschland sollte den europäischen Mächten nun endlich seine weltpolitische Bedeutung demonstrieren. Der gemeinsame Kampf der Angehörigen aller Schichten für das Vaterland – so die Propaganda – sollte alle Klassengegensätze überwinden; ein neuartiges Gemeinschafts- und Solidaritätsbewußtsein wurde beschworen und als »Geist von 1914« gefeiert. Man appellierte an die allgemeine Pflicht, für die Sache der Nation ins Feld zu ziehen;21 Intellektuelle, die nicht (mehr) aktiv am Kriegsgeschehen teilnehmen konnten, sollten Kriegsdienst mit der Feder und Widerstand mit der Waffe des Wortes leisten.22 Die patriotisch gestimmte geistige Elite des Weltkriegs-Deutschland, zu der sich an vorderster Front die Vertreter des »Dritten Humanismus« zählten, verband mit ihrem Wirken die sozialutopische Ambition, durch eine Politik der geistigen Tat Vorkämpfer oder besser Vordenker einer progressiven und intermedialen Bewegung zu sein. So erklärte Spranger, der hier stellvertretend für die Gelehrtenpolitiker zu Wort kommen soll, seinen Willen, die Kampfhandlungen ideologisch zu begründen und die Kräfte des nationalen Aufbruchs für die schon lange geforderte gesellschaftliche Neuordnung Deutschlands nach Kriegsende zu instrumentalisieren. Gegenüber seiner engen Freundin und Vertrauten Käthe Hadlich äußerte er: [Es ist, BS] Pflicht und Bestimmung, mit diesen meinen Kräften hinter unsrem Heer einherzuziehen und in angespannter geistiger Arbeit daraus etwas zu gestalten, das die Siegenden empfängt oder – im schlimmsten Fall – den Unterlegenen emporhilft.23 21

22

23

Zur vieldiskutierten Kriegsbegeisterung von 1914 siehe Jeffrey Verhey: Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Aus dem Englischen von Jürgen Bauer und Edith Nerke. Hamburg 2000; zur Aufnahme des Kriegsausbruchs in Intellektuellenkreisen vgl. folgende Dokumentation: Endzeit Europa. Ein kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter im Ersten Weltkrieg. Mit zeitgenössischen Farbfotografien von Hans Hildenbrand und Jules Gervais-Courtellemont. Hrsg. von Peter Walther. Göttingen 2008. Vgl. Bernhard vom Brocke: ›Wissenschaft und Militarismus‹. Der Aufruf der 93 ›An die Kulturwelt!‹ und der Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenrepublik im Ersten Weltkrieg. In: Wilamowitz nach 50 Jahren, S. 649–719, hier S. 693 (hier mit Bezug auf Wilamowitz’ öffentlichen Vortrag ›Militarismus und Wissenschaft‹). Spranger an Hadlich, o. D. [Mitte August 1914]. In: Karin Priem: Bildung im Dialog. Eduard Sprangers Korrespondenz mit Frauen und sein Profil als Wissenschaftler (1903–1924). Köln, Weimar, Wien 2000 (= Beiträge zur Historischen Bildungsforschung 24), S. 125. – Dagegen ist über Jaegers Haltung und Empfindung in den Kriegs-

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Auch der ›Dichterfürst‹ George, der sich in bezug auf die konkrete Staatskunst sonst eher zurückhaltend gab und noch in einem Briefentwurf an Hugo von Hofmannsthal 1905 klargestellt hatte, »[w]ir treiben doch weder mit geistigen noch mit greifbaren dingen handel von hüben nach drüben«,24 betonte in den Kriegsjahren gegenüber dem befreundeten Historiker Kurt Breysig die Notwendigkeit eines praktischen Engagements. Wie dieser in Gesprächsaufzeichnungen festhielt, habe George allen Ernstes den folgenden Standpunkt vertreten: »Wenn – im Krieg – alles übel gehe und kein Besserer für die Leitung (d. h. also das Reichskanzleramt) da sei, so würde er das tun.«25 Auch soll er betont haben: »Um die Politik komme man diesmal nicht herum«, denn »jetzt drücke sie uns so auf dem Leben, dass wir uns einer Stellungnahme dazu nicht entziehen könnten«.26 Zugleich warnte er aber vor einseitiger Kriegseuphorie, wie die ernüchternden Briefe an seine schwärmerischen Schüler Gundolf und Wolters belegen, und wehrte sich gegen eine radikale Gleichsetzung des Weltkrieges mit seinem ›heiligen Krieg‹. Dennoch ist seine Devise, der Dichter sei Führer – wie Stefan Breuer ganz richtig herausstellt –27 durchaus politisch aufzufassen, allerdings nicht mit Bezug auf konkrete politische Situationen bzw. reale politische Konstellationen – die Welt des Geistes blieb bei ihm der politischen Sphäre übergeordnet –, sondern vielmehr als gegenwartsbezogener kulturpolitischer Bildungsauftrag. Ihren Anspruch auf ein politisches Mandat leiteten die Vertreter des »Dritten Humanismus« aus ihrem Gelehrten- bzw. Künstlerstatus ab. Als ›lebenswissenschaftliche‹ Elite fühlten sie sich prädestiniert, das Geschehen kultur- bzw. geistesgeschichtlich auszudeuten und, darauf aufbauend, eine neue Ethik zu entwickeln. Wie wohl die Mehrheit der Deutschen werteten auch sie im Sommer und Herbst 1914 den Kriegsverlauf überwiegend positiv und deuteten die anfänglichen Erfolge des Heeres als göttliches Zeichen in einer kulturgeschichtlichen Entscheidungsschlacht, die die ersehnte und angeblich lange vorbestimmte schöpferische Erup-

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25

26 27

jahren wenig bekannt; mit Kriegsreden ist er nicht an die Öffentlichkeit getreten. – Vgl. hierzu Mensching: Über Werner Jaeger (geb. am 30. Juli 1888) und seinen Weg nach Berlin, S. 68f. sowie ders.: Über Werner Jaeger im Berlin der zwanziger Jahre, S. 104. George an Hofmannsthal, 04.12.1905 [nicht abgesandt]. In: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal [Hrsg. von Robert Boehringer]. 2., ergänzte Aufl. München, Düsseldorf 1953, S. 226f. (Nr. 88), hier S. 226. Kurt Breysig: Begegnung mit Stefan George. Tagebuchblätter. In: Kurt Breysig und Stefan George: Gespräche. Dokumente. Amsterdam 1960 (= CP 42), S. 9–45, hier S. 27 (Aufzeichnung zum 03.11.1916). Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 48 (Aufzeichnungen zum 04.01.1920). Vgl. Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 225.

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tion der ›deutschen Art‹ begünstige.28 Unter Bezugnahme auf Heraklits Vorstellung, der Krieg sei Vater aller Dinge (und damit auch Stimulus kulturellen Einflusses wie politischer Macht, wie bereits Nietzsche betonte),29 und Fichtes Theorem von den Deutschen als schöpferischem ›Urvolk‹, erklärten sie den Kampf der europäischen Mächte zum Auftakt einer anbrechenden deutschen Suprematie. In diesem Sinne begrüßte George den kommenden Krieg als reinigendes Gewitter, als eine »Notwendigkeit, die Deutschland aus seiner geistigen Misere retten würde, kurzum wie […] etwas Willkommene[s]«.30 Wolfskehl rechtfertigte die deutsche Kriegsführung als schicksalhafte »Notwendigkeit« und »sittlich formende Kraft« im Prozeß der eigenen Identitätsfindung sowie der Konstituierung Europas.31 Er konstatierte: »Wir waren noch nicht bei uns, noch unsres Wesens: dazu wollen wir jetzt kommen und dazu soll uns dies ungeheuere Geschehen helfen, das in äußerer Gestalt als Weltkrieg erscheint«.32 Allerdings bargen diese metaphysischen und damit irrationalen Interpretationen des Geschehens die Gefahr in sich, eine in der künstlerischästhetischen Sphäre des Poetischen entwickelte Utopie mit der Realität zu verwechseln. Hier kündigte sich bereits die Gleichsetzung des ästhetischen Reiches Georges mit der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit an, die ungeachtet seiner Kassandrarufe von vielen seiner Anhänger betrieben wurde. Dieser Versuchung erlag Wolfskehl, wenn er glaubte, in den »äußeren Geschehnisse[n] Symbole innerer Vorgänge«33 erkennen zu können, d. h. die harten und umkämpften Auseinandersetzungen im We28

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31 32

33

Vgl. z. B. die Schlußstrophe von Stefan Georges Gedicht ›Geheimes Deutschland‹ (evt. erst nach 08/1922 – Salin plädiert jedoch für eine Entstehungszeit vor dem 1. Weltkrieg) [In: GW IX, S. 45–49, hier S. 49]. Zur georgeanischen Deutung des Kriegsgeschehens siehe grundlegend Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In seiner unveröffentlichten Vorrede ›Der griechische Staat‹ (1872) [In: KSA 1, S. 764–777] entwirft Nietzsche einen »Päan auf den Krieg«, der der wahren Kultur zum Ausbruch verhelfe und damit »uns ein Abbild, oder gar vielleicht U r b i l d d e s [ K u l t u r s ] t a a t e s vor Augen gestellt« habe (hier S. 774f.). Auf die positiven kulturbefördernden Züge des Krieges hebt auch der Aphorismus mit der bereits für sich sprechenden Überschrift ›D e r K r i e g u n e n t b e h r l i c h ‹ in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ I. 8. Hauptstück: »Ein Blick auf den Staat« ab [vgl. KSA 2, S. 311f. (Nr. 477)]. Sabine Lepsius: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft. Berlin 1935, S. 89 [Georges Äußerung ist nicht genau zu datieren; sie steht in einem Bericht über Ereignisse der Zeit zwischen Dezember 1910 und Oktober 1912, kann sich aber (neben der Marokkokrise) ebensogut auf einen späteren Zeitpunkt beziehen]. Karl Wolfskehl: Offener Brief an Romain Rolland. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 12.09.1914, Erstes Morgenblatt, S. 1f., hier S. 1. Ders.: Ein Deutscher Dichter und der Krieg [= ›Offener Brief an Albert Verwey‹ (1914)]. In: Wolfskehl und Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946. Hrsg. von Mea Nijland-Verwey. Heidelberg 1968, S. 128–131, hier S. 130. Ebd., S. 129.

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sten und die deutschen Erfolge an der Ostfront als Indizien für das beginnende Regiment des »geheimen Deutschland« auslegte.34 Ähnlich dachte Gundolf: Bereits 1911 hatte er in seinem ›Jahrbuch‹-Aufsatz ›Wesen und Beziehung‹ auf die ontologische Notwendigkeit eines Krieges hingewiesen und ihn zur Grundvoraussetzung für menschheitliche Weiterentwicklung erklärt: Aber eine jugend und mannheit die nichts zu überwinden, nur zu ›verstehen‹ sieht, kurz eine ›feinsinnige‹ welt, eine ›objektive‹ welt, eine ›ästhetische‹ welt ist dem verderben geweiht. Der allgemeine duldende frieden ist ein müdes greisenideal. Wo jugend, wandlung, schöpfung möglich und nötig ist, da ist krieg nötig: er ist eine menschliche grundform, wie das wandern, die liebe, das beten und das dichten: er kann durch keine zivilisation überflüssig werden.35

Während der Julikrise 1914 – nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo deutete alles hin auf einen beginnenden Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland auf der einen und einer Koalition aus Serbien, Rußland, Frankreich und England auf der anderen Seite – applizierte er nun die katalytisch-schöpferische Kraft des Krieges auf das ›deutsche Werden‹. Ende Juli teilte er George mit, er »fühlte«, daß es sich bei der erwarteten militärischen Auseinandersetzung »um unser Deutschland handelt« und »dass die ungeheure Entscheidung auch für uns alle nun sichtbar wird, auch das geheime Deutschland«.36 In seinem bellizistischen Artikel ›Tat und Wort im Krieg‹ erklärte Gundolf unter impliziter Bezugnahme auf Nietzsches vitalistische Heraklit-Deutung den Krieg zum großen Scheidekünstler, der Echtes von Unechtem trenne und damit Substanz offenbare.37 In diesem Kontext ließ sich mit dem deutschen Vormarsch nach Westen die Verteidigung der wahren Kultur und die Wiederbegründung eines wirklichen ›Menschentums‹ durch Errichtung »eines überdeutschen Geisterreichs«38 als Bollwerk gegen die romanisch-westliche Zivilisation verbinden. Seine starken Vorbehalte gegenüber der Romanitas verdeutlichten die Bezugnahmen auf populäre zeitgenössische Nationalstereotypen, also zum einen auf die realitäts34 35 36

37 38

Vgl. ders.: Offener Brief an Romain Rolland. Gundolf: Wesen und Beziehung, S. 25. Ders. an George, wohl am 30.07.1914. In: George und Gundolf. Briefwechsel, S. 254f., hier S. 254 – Vgl. auch ders. an Wolters, 14.08.1914: »Teurer, sind Sie nicht auch von diesen ungeheuren Stunden geschwellt, und froh des Deutschen Wesens das auf einmal wieder, verschollen geglaubt, wach wird.« [In: Gundolf und Wolters. Briefwechsel, S. 108 (Nr. 79)]. Zum bellizistischen Nietzscheanismus vgl. Safranski: Nietzsche, S. 342f. Gundolf: Tat und Wort im Krieg, S. 1.

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ferne, weil künstliche französische Geistigkeit und zum anderen auf das dem Utilitarismus verpflichtete, britische Händlertum. Auch Wolters identifizierte den Krieg als »anfang einer neuen menschenart«,39 mit deren Hilfe »das alte Europa […] auf die gewalten der urkräfte«40 zurückzuführen sei. Entgegen der Überzeugung vieler seiner Anhänger, die die Doktrin »bildwerdung des blutes durch den geist: die Geistige Tat«41 nun vermehrt dahin auslegten, daß sie der immateriellen Kriegstat eine katalytische Funktion für die anvisierte Umwandlung des Deutschen zuschrieben, setzte George im Bildungsprozeß auf innere, geistige Erneuerung, nicht auf äußeren Druck durch politische oder militärische Mächte. Diese Haltung kommt auch in seinem im Kriegsjahr 1917 entstandenen Gedicht ›Der Krieg‹ zum Ausdruck. In ihm läßt er einen weltabgewandten, weisen Einsiedler, der als Sprachrohr Georges in seiner Funktion als ›poeta vates‹ gedeutet werden kann, Anklage gegen die in Kriegstaumel verfallenen, kurzsichtigen Menschen erheben: Das trübste wird erst sein und keiner sieht. Ihr lasst euch pressen von der äussern wucht .. Dies sind die flammenzeichen · nicht die kunde. Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil.

Im weiteren Verlauf des lyrischen Textes kommt das Unverständnis für ihre Euphorie noch deutlicher zum Ausdruck, wenn der Sprecher des Gedichtes über den Eremiten berichtet: Er kann nicht schwärmen Von heimischer tugend und von welscher tücke

und ihn mahnen läßt, Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein · Nur viele untergänge ohne würde ..42

Wie im folgenden deutlich wird, resultiert die distanziert-relativierende Einstellung des Sehers – die ja auch die des Verfassers dieses Gedichtes, des Dichterpropheten George, ist – daraus, daß er erkannt hat, daß die die Menschen und ihre Gesinnung verwandelnde schöpferische Tat lediglich 39 40 41 42

Wolters an George, 16.04.1915. In: George und Wolters. Briefwechsel, S. 112–114, hier S. 113. Ders. an George, 17.10.1916. In: Ebd., S. 127f., hier S. 128. Ders.: Herrschaft und Dienst, S. 136. Stefan George: Der Krieg (vor 06/1917). In: SW IX, S. 22–26, hier S. 23; S. 24.

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»fernab« von der Realität des Weltkrieges, nämlich im Geistigen und in der Sage, also in Wissenschaft und Dichtung, entstehe.43 Allerdings deutete auch George – wie noch eines seiner letzten Gedichte, der Hymnus ›Geheimes Deutschland‹, belegt – den Ersten Weltkrieg als mythisch-metaphysisches Geschehen, als Vorboten bzw. erstes Anzeichen für den Anbruch eines neuen Zeitalters, eines geistigen Reiches, eines »geheimen Deutschland«. In der dreizehnten Strophe läßt George die Walküren als Siegesbotinnen der nordisch-germanischen Hauptgottheit Odin respektive Wotan aufs Schlachtfeld reiten.44 Damit signalisiert er, daß die reale, äußere Niederlage der Nation durch ihre bevorstehende geistige Emanzipation aufgewogen werde, weil der Krieg Urkräfte freilege, die für einen echten Humanismus in individueller wie kollektiver Hinsicht unentbehrlich seien. Anders als seine Schüler setzte er aber nicht den Einflußbereich der kommenden ›deutschen‹ Ära mit den engen geographischen, nationalen oder ethnischen Grenzen Deutschlands gleich, sondern interpretierte das zu stiftende »Neue Reich« deutscher Prägung als Reservat vorbildlicher allgemeinmenschlicher Prinzipien und sittlich-ethischer Wertvorstellungen. Von einer atomistischen Masse zu einem organischen Volksverbund Seit dem Kriegsjahr 1914 verknüpften die Anhänger des »Dritten Humanismus« mit gesellschaftspolitischem Engagement vor allem die Hoffnung, auf der Grundlage humanistischer Harmonie- und Ganzheitsvorstellungen ein altes Desiderat, den allgemeinen Wunsch nach ›wahrhaftiger‹ Volkwerdung, d. h. nach einem organischen nationalen Dasein und Leben, endlich erfüllen zu können. Dabei bildeten vermeintlich paideutische Urkräfte, die in Verbindung mit dem Kriegserlebnis zu stimulieren seien, den Ausgangspunkt der bildungspolitischen Überlegungen. Nach übereinstimmender Überzeugung im »Dritten Humanismus« ließen sich eben diese Urkräfte auf den Griechen der Antike als allgemeinmenschlichen Prototyp zurückführen. Eine mit ihm assoziierte Eigen43

44

Ebd., S. 25. – Vgl. auch zu Georges Haltung gegenüber dem Weltkrieg Wolfgang Graf Vitzthum: Staatsdichtung und Staatslehre – Das Beispiel Stefan George. In: NJW 53 (2000), Heft 30, S. 2138–2147. Wie Morwitz in seinem Kommentar überzeugend darlegt, sind die »silberhufigen rosse«, die »durch dust und bröcklig geröll« (George: Geheimes Deutschland. In: SW IX, S. 48) stürmen, als Hinweis auf die Pferde der Walküren zu lesen. Das Wetterleuchten, das nach altem Volksglauben ihren Ausritt begleitet, läßt die Hufe ihrer Pferde silbern schimmern (vgl. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. München, Düsseldorf 1960, S. 444).

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schaft, die im Neuhumanismus zum Topos stilisiert wurde und die auch für den politischen Humanismus der Zwischenkriegsjahre bedeutsam war, ist die Fähigkeit, Einheit in der Vielheit zu garantieren. Sie läßt sich nicht nur auf das Individuum projizieren, sondern auch auf das gesamte Volk übertragen. Wie sich der einzelne durch harmonisches Zusammenspiel aller inneren Kräfte auszeichne, so sei auch das Gemeinwesen der Hellenen wie ein Lebewesen strukturiert gewesen, in dem jedes Organ die für ihn vorgesehene Funktion ausfülle, für das Ganze einstehe und so zur überindividuellen ›Gesundheit‹, also Einheit, Stabilität und Stärke des Kollektivs beitrage. Davon ausgehend betrachteten Jaeger, Spranger, George und ihre jeweiligen Anhänger die frühe griechische Polis als Musterbeispiel einer organischen und vitalen Gemeinschaft, wie sie für die Zukunft anvisiert werden sollte. Anders als bei den vorbildlichen antiken Griechen hätten jedoch im deutschen Menschen der Vorkriegsära die synthetisierenden, vereinheitlichenden und gemeinschaftstiftenden Kräfte noch nicht wirken können: Daher sei es auch bisher nicht gelungen, die amorphe Masse der Deutschen in einen organischen Volksverbund, wie ihn die griechischen Stadtstaaten – allen voran Sparta – darstellten, zu verwandeln. Bereits Tacitus hatte in der ›Germania‹ auf diese barbarische ›Schwäche‹ des ›deutschen Charakters‹ hingewiesen; seitdem geisterte der Topos von der deutschen Uneinheitlichkeit und Zerrissenheit, mit der man später den territorialen, konfessionellen und kulturellen Reichspartikularismus gemeinhin zu begründen suchte, durch die Nationalgeschichte.45 Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt es als historische Aufgabe, diese spezifisch deutsche Charakterschwäche zu überwinden. Zwar seien mit der Begründung einer genuin deutschen Kultur um 1800 und mit der Reichsgründung 1871, der erfolgreichen Überführung der deutschen Kulturnation in die deutlich konturierte und geschlossene Staatsnation, schon erste Meilensteine in diese Richtung gesetzt worden, doch hätten synthesefeindliche kulturelle und soziale Bewegungen in der Folgezeit und verstärkt zum Fin de siècle entschieden dazu beigetragen, daß die kurzfristige gesellschaftliche Homogenität, das Einheitsbewußtsein und Brüderlichkeitsgefühl der ›Befreiungskriege‹, zu Atomisation, Individualisation und Egoismus degenerierten. Folglich sei den Deutschen »die bloß 45

Vgl. Conrad Wiedemann: Römische Staatsnation und griechische Kulturnation. Zum Paradigmawechsel zwischen Gottsched und Winckelmann. In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985 – Kontroversen, alte und neue. Bd. 9: Deutsche Literatur in der Weltliteratur. Kulturnation statt politischer Nation? Hrsg. von Franz Norbert Mennemeier und dems. Tübingen 1986, S. 173–178, hier S. 176.

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räumliche Machtentfaltung ohne den belebenden Geist« geblieben, wie Vallentin dieses Phänomen prägnant beschrieb; die ersehnte Schaffung eines »mächtig eindrucksvollen Volksleib[es]« (man beachte hier Vallentins Körpermetaphorik, die das Organizitäts- und Totalitätspostulat unterstreicht) stand demnach noch aus.46 Aber im August-Erlebnis 1914, der »Erfahrung des Wir als eines neuartigen, alle Individualität aufhebenden Gesamtsubjekts«,47 sah Wolfskehl die Möglichkeit, dieses »kulturell, social und politisch zerklüftete[…] […] Land«, in dem »so viel Sondersüchte, so viel Meinungen, Richtungen, Schulen und Parteien« herrschten,48 in einen einheitlichen Volksverbund zu überführen, mit dem sich der einzelne vollends identifiziere. Denn ausgelöst durch die Schlüsselerfahrung des gemeinsamen Kampfes gegen das feindliche Europa seien die in der ›deutsch-griechischen Art‹ angelegten harmonisierenden, den Volksgeist belebenden ewigen Menschheitskräfte wachgerufen worden und entfalteten nun wieder ihre Wirkung. Von diesem besonderen, als belebend erfahrenen ›Genius‹ des Krieges berichtete Gundolf exaltiert in einem Brief an den Kollegen Gustav Roethe, aus dem hier exemplarisch zitiert werden soll: Die ungeheuren Tage die wir erleben dürfen, die Verwandlung von vielen Millionen Leuten in ein deutsches Volk, das diesen heiligen Namen verdient, die Tatwerdung einer dumpfen Kräftemasse, deren Zersetzung uns schon ängstete, werden uns ja wohl auch ein neues Heldentum wenn nicht schon verwirklichen, so doch ermöglichen.49

Als äußeres Anzeichen der von Gundolf konstatierten allmählichen Volkwerdung deuteten die Vertreter des »Dritten Humanismus« die neuartige, große Teile der Bevölkerung erfassende Solidarität, die ausgeprägte Dienstbereitschaft und den Opfermut während der Kriegstage. Auch die Gefahren und das Grauen des Krieges, die die Fundamente des einzelnen Lebens gewaltig erschütterten, wurden herangezogen, diese Entwicklung voranzutreiben. Denn aus Selbstschutz und zum Trost, aber auch zur 46 47

48 49

Berthold Vallentin: Deutschlands Berufung. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 30.10.1914, Erstes Morgenblatt, S. 1. Hans-Ulrich Thamer: Volksgemeinschaft: Mensch und Masse. In: Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000. Hrsg. von Richard van Dülmen. Wien, Köln, Weimar 1998, S. 367–386, hier S. 372 mit Bezug auf einen Entwurf des Soziologen Hans Freyer von 1928. – Vgl. auch Eduard Spranger: Vom inneren Frieden des deutschen Volkes. In: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 11 (1916/1917), Heft 2, Sp. 129–156, hier Sp. 132. Wolfskehl: Ein Deutscher Dichter und der Krieg, S. 129. Gundolf an Roethe, 27.08.1914. In: Gundolf. Briefe, N. F., S. 141–143, hier S. 143.

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Bewältigung des Erlebten wurden kollektive, d. h. einander annähernde, Geborgenheit stiftende und soziale Heimat vermittelnde Tugenden wie Gemeinschaftsgeist, Brüderlichkeit sowie Liebe zum Vaterland und dem Nächsten nachdrücklich propagiert; gemeinsames Leid und gemeinsamer Einsatz (besonders an der Front) sollten dazu beitragen, die sonst als trennend empfundenen Klassengegensätze in den Hintergrund zu rücken.50 Indem der Krieg offensichtlich in der Lage war, Menschen zu verwandeln, wollte ihn der »Dritte Humanismus« als Erziehungsinstrument nutzbar machen: als Stimulans für die ›schönen‹, also Kalokagathie auslösenden Eigenschaften. Im Gegensatz zum ablaufenden individualistischen Zeitalter wurden diese nun als kollektive, vor allem kämpferischmännlich konnotierte Tugenden identifiziert: Opferbereitschaft, Treue, Brüderlichkeit, Leidensfähigkeit, aber auch Liebe, Hilfsbereitschaft und echter Führersinn.51 Entsprechend diesen Anforderungen sei es nun die Aufgabe der Geisteselite, die Stärkung, ja dauerhafte Sicherung dieser noch ›jungen‹ und schwachen ›Kräfte‹ im nationalen Bewußtsein zu begünstigen. Dabei sollte die innere Achtsamkeit für diese zwischenmenschlichen Werte durch praktische wie theoretische Bildung in Schulen, Vereinen und Jugendbünden verstärkt werden, um daraus ein Bewußtsein für gesamtgesellschaftliche Verantwortung und Betätigung zu entwickeln, das in ein Einheitsdenken in Kategorien der Nation münde. Erst wenn dies gelungen sei, hätten sich die Deutschen zu einer wahren, organischen Volks- und Staatsgemeinschaft mit einheitlichem Nationalbewußtsein gebildet und ihre alte, den Gemeingeist vernichtende Selbstbezogenheit überwunden. Entsprechend tauchte seit den Kriegsjahren in der Publizistik des »Dritten Humanismus« verstärkt der Appell an Gemeinschaftsgeist, Pflichtbewußtsein, Selbstzucht bzw. Disziplin und Gehorsam auf. Diese Eigenschaften haben eine lange Tradition in der deutschen Geistesgeschichte; sie wurden nicht nur im Preußen Friedrichs des Großen verklärt, sie galten nicht nur als Pfeiler des lutherischen Protestantismus, sondern auf ihnen basierte auch die mittelalterliche Adelsgesellschaft und das Lehnswesen. Zurückführen lassen sie sich aber ebenfalls – und dies betonte ja bereits Nietzsche – auf die frühe Polis-Gesellschaft und die ho50

51

Vgl. demgegenüber zur Realität der Kriegserfahrungen bzw. -wahrnehmungen HansUlrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. 1914–1949. 2., durchgesehene Aufl. München 2003, S. 104–106. Vgl. Eduard Spranger: An die Jugend. In: Der Säemann. Monatsschrift für Jugendbildung und Jugendkunde, N. S. 5 (1914), S. 386–393, hier S. 387.

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merische Kriegerkultur. Im antiken Griechenland galt der Krieg als Instanz mutiger Bewährung des einzelnen für das Wohl des Kollektivs; hierbei avancierte gerade der heldenhafte Tod im Kampf – das horazische Motto ›dulce et decorum est pro patria mori‹ (Carm. III,2,13) – zur Urtugend, die man der Muttererde bzw. Vaterstadt schuldig sei. In Hölderlins Ode ›Der Tod fürs Vaterland‹ wird diese selbstlose und aus der historischen Rückschau folgenschwere, weil mißverstandene Opferbereitschaft als höchster und schönster Dienst fürs Vaterland, die humanitäre ›patrie‹ der Republikaner, beschrieben.52 In dem lange vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Gedicht ›Pente Pigadia‹ trägt George, der Hölderlin-Verehrer, eine ähnliche Deutung des Kriegstodes vor. Anders als die Apologeten des Soldatentodes 1914 oder während des Nationalsozialismus bezieht auch er seine Würdigung des Opfertodes auf ein paneuropäisch verstandenes ›hesperisches‹ Vaterland, das Vorbote für eine zukünftige universale und geistige Nation – sein »Neues Reich« bzw. »geheimes Deutschland« – sei. Im Mittelpunkt des lyrischen Textes steht der 1897 in Griechenland gefallene Engländer Clement Harris, ein mit George befreundeter junger Komponist des Wagner-Kreises. Dem Beispiel philhellenisch gesinnter Europäer der 1820er Jahre folgend, schloß sich Harris einem Freischärlerheer an, das die Neugriechen im wiederentfachten Kampf gegen das Osmanische Reich Ende des Jahrhunderts unterstützte.53 Die Trauer über den viel zu frühen Tod des Hochbegabten vermindere, so George, die Hoffnung auf eine kommende »hochgemute[…], opferbereite[…] jugend«,54 die sein Ethos verinnerliche: Wir preisen ihn · froh dass des gottes volle Die für das wort und die gestalt verscheiden Die kalte erde immer noch gebiert Und dass es rollt bei ihrer namen tone In unsern adern wie ein edler wein Und tage noch verheisst wo wir erwachen Wie neu: wo uns gelöst von jedem band Fern-dunkel locken und fahr-freude winkt.55

Anders Spranger: Er begriff das antike Heldenethos nicht als zu rühmende geistige Haltung (die in ihren Konsequenzen der nationalistischen 52 53 54 55

Vgl. Hölderlin: Der Tod fürs Vaterland (1799). In: KA 1, S. 216f. Vgl. George: SW VI/VII, S. 206f. (= Kommentar zu Georges ›Pente Pigadia‹). Claus Victor Bock: Pente Pigadia und die Tagebücher des Clement Harris. In: CP 50 (1961), S. 5–93, hier S. 82. Stefan George: Pente Pigadia (nicht vor 07/1897). In: SW VI/VII, S. 24f., hier S. 25.

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Ausdeutung nahekommt), sondern verband mit ihm katalytische Kräfte für die notwendige gemeinschaftliche Tat, die Stiftung eines neuen einigen Deutschland. Entsprechend beendete er im Gedenken an die ›heroischen‹ Kriegstaten der Väter seinen »an die Jugend« gerichteten Artikel aus dem Jahr 1914 mit einem folgenschweren Appell: Ihr habt das Glück gehabt, in entscheidenden Jahren die größten Schicksale Eures Volkes mitzuerleben. An Euch wird es sein, zu erhalten, wofür Tausende geblutet haben und freudig gestorben sind. Sorgt also dafür, daß dieser Geist der Pflicht und Opferfreude hinauswirke in ferne Zukunft, damit Euer ganzes Dasein würdig sei dessen, was Ihr erlebt habt!56

In der Jugendbewegung zu Beginn der zwanziger Jahre sollten das hier mythisch verklärte Gemeinschaftserlebnis des Krieges und der hier idealisierte Opfergeist auf vitalistische Weise synthetisiert werden. Entsprechend definierte der Sozialdemokrat und Jurist Gustav Radbruch in seiner zeitgenössischen ›Kulturlehre des Sozialismus‹ die jugendbewegte Kultur als eine Abkehr von der Zügellosigkeit des Individualismus und die Hinwendung zur Gemeinschaft, also die Sehnsucht nach neuen Bindungen, Bindungen der Sitte, des Stils, der Kultur, der Kameradschaft, des Führertums und der Gefolgschaft.57

Bindung, Kameradschaft, Führertum und Gefolgschaft wurden als spezifisch ›deutsche‹ Werte verstanden, die die Diskussion um eine neue politische Form Deutschlands nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches noch bis in die von nationalsozialistischer Ideologie geprägten dreißiger Jahre bestimmen sollten. Der Geist der neuen »Volksgemeinschaft« »Nach der Diastole folgte die Systole«.58 Mit diesen ernüchternden Worten beschrieb Jaeger aus der Rückschau 1929 das wechselreiche Stimmungsbad der deutschen Emotionen seit 1914. Die anfängliche Euphorie und Siegesgewißheit verkehrte sich spätestens mit Beginn des Jahres 1917 in laute Klagen über blinden Siegeswillen und sinnlose Materialschlachten, die Abertausende das Leben kosteten. Im Herbst 1918 gestand auch die oberste Heeresleitung die ausweglose militärische Situation ein und 56 57 58

Spranger: An die Jugend, S. 393. Gustav Radbruch: Kulturlehre des Sozialismus (1922), zitiert nach Thamer: Volksgemeinschaft, S. 374. Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 164.

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erklärte damit die Niederlage Deutschlands. Auf Drängen der Alliierten, die nur mit Vertretern einer demokratisch gebildeten Regierung in Friedensverhandlungen treten wollten, und begünstigt durch Aufstände in der Bevölkerung, die ein baldiges Kriegsende erzwingen sollten, wurde am 9. November 1918 die Republik ausgerufen; Kaiser Wilhelm II. floh ins Exil nach Doorn. Damit waren das Ende der Monarchie und der Zusammenbruch des Kaiserreiches endgültig besiegelt. Aber bereits Ende August 1914 hatte George Gundolf hellsichtig mit den Worten, »und ich rufe euch allen zu: ob es gut oder schlecht ausgeht: – das schwierigste kommt ERST HINTENNACH!!«,59 darauf hingewiesen, daß nicht im Krieg, sondern erst nach seinem Ende das eigentliche Wirken der Dichterfürsten und Gelehrtenpolitiker beginne. Dann nämlich habe sich das neue Gemeinschaftsbewußtsein und Solidaritätsdenken der Kriegstage im Alltag zu bewähren. Für einen dauerhaften Zusammenhalt als ein deutsches Volk seien aber erst die äußeren Rahmenbedingungen zu schaffen, d. h. vor allem müsse die Staats- und Gemeinschaftsordnung gefunden werden, die dem ›deutschen Sein‹ entspreche und seinen Zukunftsaufgaben gerecht werde. Auch Spranger hielt eine Reform des bestehenden bzw. die Begründung eines wahrhaft deutschen Staates für essentiell, denn der Staat erschien ihm »nicht nur als der höchste Wert, den ein Volk sich für sein eigenes Dasein zu erzeugen vermag, sondern auch als das Einende und Übergeordnete, das im Grunde für alles Weitere Voraussetzung ist«.60 Sprangers Diktum scheinbar bejahend, sahen es viele Geisteswissenschaftler als »politische[s] Ziel« ihrer wissenschaftlichen Betätigung an, sich für den »Bau eines neuen deutschen Staates, wenn auch zunächst nur in seiner geistigen Vorbereitung«, einzusetzen. Sie folgten – wie Fritz Taeger, auf dessen Rückblick aus dem Jahr 1946 hier Bezug genommen wird – einem allgemeinverbindlichen »Grundgesetz des Glaubens an die Autonomie der sittlichen Persönlichkeit und an die Autonomie der Gemeinschaft, die aus autonomen Individuen besteht«.61 Die Anhänger des »Dritten Humanismus« fühlten sich zu einer politischen Stellungnahme geradezu prädestiniert, da seit dem beginnenden 19. Jahrhundert die professionelle Beschäftigung mit der griechischen Antike eng mit dem nationalen Diskurs verknüpft war und als Beleg für 59 60 61

George an Gundolf, 26.08.1914. In: George und Gundolf. Briefwechsel, S. 258. Spranger: Vom inneren Frieden des deutschen Volkes, Sp. 132. Fritz Taeger, Ordinarius für Alte Geschichte in Marburg in den 1920er und 1930er Jahren, zitiert nach Karl Christ: Klios Wandlungen. Die deutsche Althistorie vom Neuhumanismus bis zur Gegenwart. München 2006, S. 77.

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eine staatstragende Haltung angesehen wurde.62 Ihre Arbeiten fügten sich in die Tradition einer antiliberalen Staatsphilosophie ein, deren Motto nach Jaeger »Einordnung des Einzelnen in das überindividuelle Gefüge des Staates« war und damit eine Rückkehr zum »echten Staatsgeist der klassischen Periode des Griechentums« bedeutete.63 Denn im antiken Gemeinwesen habe – wie mit Wolters fortgeführt werden kann – »keine andre menschlichkeit als die der glieder einer auf besonderm lebensgrund gewachsenen gemeinschaft« existiert: »damit war das verhältnis von mensch zu mensch das gegebene, als der im organismus gebundenen, nicht aber das vom menschen zu einem allgemeinen, unwirklichen.«64 In gelehrten Kreisen entbrannte schon vor dem endgültigen Zusammenbruch der alten Ordnung eine umfassend geführte Diskussion über Staats- und Gesellschaftsformen als Alternativen zur konstitutionellen Monarchie, da diese sich mit dem »Geist von 1914« überlebt habe. Die propagierte Vorstellung von einer organischen »Volksgemeinschaft« als einer »auf Totalität zielende[n] Handlungseinheit«65 ließ sich also nach überwiegender Meinung der Intellektuellen nicht mit der gegebenen Gesellschaftsordnung vereinbaren. Denn der wilhelminische Obrigkeitsstaat stellte demnach mit seinen unüberwindbaren Standesbarrieren ein inhomogenes Gebilde dar, das alle Formen wahrer Gemeinschaft unterdrücke und statt umgreifender Brüderlichkeit Standesdünkel begünstige. Mit der Entscheidung für die Republik und eine demokratische, d. h. das gesamte Volk einbeziehende Regierungsform im November 1918 zeigten sich aber große, überwiegend nationalkonservative Teile der geistigen Elite nicht einverstanden; ihr Mißtrauen gegenüber dem neuen Staat, aber auch seine großen äußeren und inneren Probleme ließen die alte verfassungspolitische Frage beständig wiederaufkommen, so daß sie noch keineswegs als endgültig gelöst anzusehen war. Vor diesem Hintergrund konnte sich Jaeger dann auch 1924 auf die beinahe topische deutsche »Staatsnot« beziehen und sie für die »tiefe Not des Vaterlandes« verantwortlich machen.66 Ansatzpunkt der allgemeinen verfassungspolitischen Debatte nach 1918 war die Sehnsucht nach einer langfristigen Harmonie zwischen 62

63 64 65 66

Vgl. Lambert Schneider: Die deutsche Graecophilie stürzt vom Sockel. Abschied vom germanischen Griechentum: Zweihundert Jahre klassische Archäologie. In: FAZ, 06.02.1997, S. 10. Werner Jaeger: Staat und Kultur (1932). In: HRV, S. 195–214, hier S. 198. Friedrich Wolters: Mensch und Gattung. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 3 (1912), S. 138–154, hier S. 141. Thamer: Volksgemeinschaft, S. 368. Werner Jaeger: Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato (1924). In: HRV, S. 87–102, hier S. 88.

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Individuum und Kollektiv. Die Forderung, das Individuum fester in die nationale Gemeinschaft zu integrieren und es an der gegebenen Machtordnung partizipieren zu lassen, wurde bereits während der gesellschaftlichen und sozialen Umwälzungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts prononciert vorgetragen. Der rasante wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands und die Entwicklung urbaner Ballungszentren hatten den Menschen einerseits in eine stärkere Abhängigkeit vom Ganzen getrieben. Zugleich begünstigte andererseits das Aufweichen fester familiärer Bindungen Individualisierungstendenzen und das Gefühl einer allgemeinen Dissoziation, die auch vor dem Ich nicht haltmachte. Der »Geist von 1914« und die Fronterlebnisse, aber auch die Notwendigkeit der Mithilfe eines jeden am Wiederaufbau der Nation, verliehen dem Wunsch nach Volkwerdung und aktiver Teilnahme am Staatsleben Nachdruck. In dieser Atmosphäre erschien es nahezu unmöglich, dem Volk Mitspracherechte zu verwehren. Ein Mehrparteienstaat wurde jedoch aufgrund divergierender Interessen der einzelnen Fraktionen auch als Gefahr für die Volkseinheit angesehen. Insofern bestand letztlich die Alternative nur zwischen zwei antagonistischen Entwürfen – der konstitutionalistischen und der korporativistischen Ordnungsidee. Die Vertreter des »Dritten Humanismus«, allen voran Spranger und Wolters, bezogen eindeutig Position für das korporativistische Modell, denn mit ihm sei die gesamtgesellschaftliche Harmonie durch universelle Integration, Einheitsbewußtsein und Solidarität gemäß dem Motto »einer für alle, alle für einen« zu befördern. Es verspreche also, Chaos durch Organisation zu beseitigen, die atomistische Masse in eine organische »Volksgemeinschaft« zu transformieren, den Individualismus durch Sozialismus67 zu überwinden.68 Entsprechend bescheinigte Spranger dem korporativistischen Organisationsgedanken Aktualität; mit seinem vermeintlich gemeinschaftstiftenden Potential galt er ihm als »das Zeichen der Zeit. Organisation ist die neue Idee, die das Jahr 1914 an Stelle der Freiheit und Gleichheit von 1789 gesetzt hat.«69 Während die Konstitutionalisten für einen demokratischen Volksstaat optierten, in dem dem Volk Partizipation auf allen Ebenen und das Recht 67

68 69

Hier zu verstehen »als eine Chiffre für die anzustrebende nationale Gemeinschaft« (Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die »Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003, S. 279). Vgl. Spranger: Vom inneren Frieden des deutschen Volkes, Sp. 144–156 sowie ders.: Sozialistische Ethik und Erziehung. In: Leipziger Tageblatt, 19.12.1918, Mittagsausgabe. Ders.: Gedanken über Organisation. In: Die Hilfe. Wochenzeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 23 (1917), Heft 8–10, S. 128f.; S. 144–146; S. 159f., hier S. 128.

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der Selbstregierung zugesprochen wurden, forderten die Korporativisten einen autoritären Ständestaat, in dem sich der einzelne durch freie Gebundenheit dem Kollektiv zu Führung und Gefolgschaft verpflichte und nur über ein pyramidal gestuftes Rätesystem indirekte Mitbestimmungsrechte erlange.70 Im Verlauf der 1920er Jahre steigerten sich die Vorbehalte gegenüber der Demokratie zu rigoroser Ablehnung, so daß Spranger, Jaeger und die Georgeaner Ende der Weimarer Periode sogar einen autokratischen ›Führerstaat‹ herbeisehnten. Konstitutionelle Ordnungsidee und demokratische Willensbildung identifizierten sie mit der ›verhaßten‹, weil als typisch bürgerlich und westlich eingestuften Ideologie des Liberalismus, der gemäß jeder nach seiner Façon leben und sich damit den allgemeinen, gemeinschaftlichen Erfordernissen widersetzen kann.71 Die demokratische Republik als Staatsgebilde, das sich auf diesen beiden kritisierten Prinzipien gründet, wurde folglich auch abgelehnt. Man warf ihr vor, Individualismus und selbstbezogene Nützlichkeitserwägungen zu begünstigen. Die sie auszeichnende Mehrparteienregierung und die Tendenz zu partikularistischen Bestrebungen, die die allgemeine Uneinheitlichkeit und Zerrissenheit72 zum Ausdruck brächten, wurden als Indizien für eine intendierte Absenz, die Negation eines einheitlichen nationalen Wollens interpretiert. Auch wurden die vielfältigen Kontrollinstanzen, die in der Demokratie zwischen die staatlichen Organe und das Individuum treten, kritisch gesehen, weil sie die Einflußmöglichkeiten des Kollektivs auf den einzelnen behinderten bzw. sogar einschränkten. Die Präferenz eines korporativistischen Staatswesens spiegelte sich in dem Leitgedanken – der Staat als Lebensinhalt – wider, der ihre Vorträge und Essays durchzog, die sie an einen breiten, laizistischen Adressatenkreis richteten: Nur durch die Bereitschaft jedes Volksgliedes zur tätigen Mitarbeit am und im Staat sei wahre Gemeinschaft zu begründen. Die Einbindung des Individuums in das große Ganze sollten die zentralen Kategorien des neuen Nationalismus »Volkheit, Führung und Dienstschaft«73 bestimmen und regulieren. Die Erziehung zum Citoyen, dem am 70 71 72

73

Vgl. Bruendel, S. 104–108 und S. 240–258 (Konstitutionalisten); S. 110–141 und S. 258–291 (Korporativisten). Vgl. Eduard Spranger: Staatsbildende Kraft? In: Vossische Zeitung, 29.12.1918, S. 1f., hier S. 2. Vgl. ders.: Probleme der politischen Volkserziehung (1928). In: GRA, S. 77–106, hier S. 99: »Partei kommt von pars. Der Teil aber hat, besonders in organischen Lebensgebilden, nie ein unbedingtes Lebensrecht. Er hat es nur im Ausgleich und im geordneten Zusammenwirken mit anderen Gliedern.« Stefan Breuer: Der Neue Nationalismus in Weimar und seine Wurzeln. In: Mythos und Nation, S. 257–274, hier S. 258 (mit Bezug auf Edgar Julius Jung, 1927).

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Ganzen orientierten, pflichtbewußten Staatsbürger, avancierte in der Zwischenkriegsära zum absoluten Ziel der Paideia für die Zukunft. Die Grundprinzipien des favorisierten korporativistischen Staatsgebildes waren in Georges ›Dichterstaat‹, der sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts herausbildete, »prototypisch präformiert«,74 wie Rainer Kolk in seiner wegweisenden literatursoziologischen Untersuchung über den George-Kreis herausstellt. Der ›Dichterfürst‹ war in Personalunion Herrscher und Führer der Gemeinschaft; er bestimmte die Richtlinien ihrer Politik, d. h. er entwickelte die Grundsätze der Lehre und verfügte Regeln für das gemeinschaftliche Wirken. Die Schüler, sein ›Volk‹, leisteten ihm unbedingte Gefolgschaft. Sie vertraten ihn und seine Lehrsätze, die sie schriftlich fixierten,75 nach außen und erwiesen ihm aufopferungsvoll Dienste, indem sie z. B. seine Korrespondenz erledigten, seine Gedichte und andere Texte redigierten, Auftragsarbeiten verfaßten sowie den Nachwuchs rekrutierten und ausbildeten. Zudem war Georges ›Staat‹ streng hierarchisch geordnet: An der Spitze stand der »Meister« George, unmittelbar darunter rangierten ein bis zwei enge Vertraute – in den Anfangsjahren Gundolf, später etwa Kommerell oder Morwitz – gefolgt von den ›Häuptern‹ einzelner Nachwuchsdichterkreise, die sich in den Universitätsstädten Heidelberg und Marburg, aber auch in Berlin um charismatische Georgeaner wie Wolters, Gundolf, Hildebrandt und Morwitz gebildet hatten. So befanden sich nicht alle Schüler in unmittelbarem Kontakt zu George. Die Jüngsten, die Aspiranten für die Gemeinschaft, kommunizierten hauptsächlich über ihre Mentoren, ältere und erfahrene Mitglieder, die sich als Dichter und Wissenschaftler bereits bewährt hatten, mit George; erst wenn die Zöglinge sich als der Gemeinschaft würdig erwiesen hatten, durften sie ihm direkt gegenübertreten.76 Der Staat als Lebensinhalt Aufgrund der Schlüsselfunktion, die Gemeinschaftsideologie und Ordnungsdenken seit dem Spätsommer 1914 im Leben der deutschen Bildungseliten einnahmen, darf es nicht verwundern, daß auch die Anhänger des »Dritten Humanismus« in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren verstärkt die Intention verfolgten, »das S t a a t l i c h e der Antike schärfer zu sehen und im eigenen Raum zu verwirklichen«.77 Dabei konn74 75 76 77

Kolk: Literarische Gruppenbildung, S. 458. Vgl. Gundolf: Gefolgschaft und Jüngertum. – Vgl. auch Wolters: Herrschaft und Dienst. Vgl. hierzu Groppe: Die Macht der Bildung, S. 441–479. Helbing [= Frommel]: Der Dritte Humanismus, S. 24.

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ten sie sich auch an Überlegungen orientieren, die zuvor Nietzsche in vielen seiner Schriften – beispielsweise in den nachgelassenen Texten ›Der griechische Staat‹ und ›Homer’s Wettkampf‹ –78 entwickelt hatte. Durch die intensive Beschäftigung mit der politischen Tradition des Altertums wurden ihre Aufmerksamkeit und ihre Sympathien verstärkt auf den frühgriechischen Staatsgedanken gelenkt, der schließlich Modellcharakter für ihre gesamtgesellschaftliche Bildungsutopie erlangte. Wie bereits Nietzsche, projizierten Jaeger, Spranger und die Georgeaner auf die gesellschaftlich-sozialen Mechanismen der frühen griechischen Stadtstaaten, die sie freilich nur vereinfacht und ausschnitthaft wahrnahmen bzw. wiedergaben, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse für die Zukunft. Mit der Polis-Idee wurde im »Dritten Humanismus« dreierlei assoziiert: eine harmonische und integrative »Volksgemeinschaft«, das Potential, alle Kräfte auf den Staat als Zentrum des Kollektivs zu bündeln, und nicht zuletzt, als Konsequenz aus beidem, kulturelle wie politische Wirkmächtigkeit. Der Göttinger Altphilologe Max Pohlenz, den eine gedankliche Nähe mit Jaegers Humanismus verband,79 konstatierte vor diesem Hintergrund: Uns Deutschen hat bisher das rechte Staatsgefühl gefehlt. Erwachsen wird es nur, wenn der Staat für uns das wird, was er für die Griechen in ihrer großen Zeit war: die aus der geistigen Haltung geborene Lebensform, die auch dem Einzelnen Ziel und Inhalt für sein Leben gibt.80

Als Grundform hellenischer Staatlichkeit wurde in der Nachfolge Nietzsches die frühe, vorklassische Polis angesehen, die sich fundamental vom modernen Staatswesen unterscheidet. Im Gegensatz zu ihm existierte im antiken Hellas kein alle Griechen einbeziehender Nationalstaat, sondern es gab viele konkurrierende, aber ähnlich strukturierte Stadtstaaten, die Poleis, die alle einen eigenen und in sich geschlossenen Kosmos darstellten. Die Polis war eine enge, alle Einwohner umfassende und miteinander verbindende Lebensgemeinschaft, in der es kein Privatleben im modernen Sinne gab. Sie bot den Zugehörigen umfassenden Rechtsschutz und garantierte ihnen Gleichheit vor dem göttlichen Nomos. Als Gegenlei78 79

80

Nietzsche: Der griechische Staat. In: KSA 1, S. 764–777; ders.: Homer’s Wettkampf. In: Ebd., S. 783–792. Vgl. Cornelia Wegeler: »… wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik«. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962. Wien, Köln, Weimar 1996, S. 138. Max Pohlenz: Das humanistische Gymnasium und das neue Reich. Beilage zum Hannoverschen Kurier, 03.05.1933. – Pohlenz’ Stellungnahme stammt zwar aus der Zeit unmittelbar nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten, läßt sich aber ohne weiteres auf die politisch brisanten 1920er Jahre übertragen.

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stung für den kollektiven Beistand wurden Aufopferungsbereitschaft und selbstloser Einsatz des einzelnen für das Gemeinschaftswohl erwartet. Vor dem Hintergrund dieser kurzen Skizze ist es leicht nachvollziehbar, daß sich in der politisierten Atmosphäre der Zwischenkriegsära der griechische Mensch als Typus nicht mehr ohne seinen ›Staat‹ – die Polis – begreifen ließ.81 Im »Dritten Humanismus« wurde der Hellene in den 1920er und 1930er Jahren zum Inbegriff des ›homo politicus‹ schlechthin. Seine Humanität war, wie es Jaeger in ›Staat und Kultur‹ in Anlehnung an Nietzsche prägnant formuliert, stets an seine Eigenschaft als politisches Wesen geknüpft: Die ältere griechische Polis ist sozusagen ein Paradieseszustand im Verhältnis von Staat und Kultur. Der Mensch ist dort in erster und letzter Linie Bürger, politisches Wesen. Für sein privates Dasein bleibt nur wenig Raum, mit seinen besten Kräften gehört er dem Gemeinwesen an, das jede Forderung zu stellen das Recht hat und mit seinem Gesetz sich in alle Bezirke des Lebens einmischt. Die staatliche Religion bindet alle, weniger als Dogma denn als kultische Verpflichtung. Sie gibt dem Gesetz die höhere Sanktion, die Polis ist selbst göttlich, steht in göttlichem Schutz. Was man Tugend, areté des Menschen heißt, erhält seinen Maßstab ausschließlich von der Polis und von der Eignung des Menschen für das Gemeinwesen.82

Nach übereinstimmender Überzeugung aller Vertreter war aber der Stadtstaat nicht nur für die sittliche Bildung des einzelnen, sondern besonders auch für die Entfaltung eines ganzheitlichen Volksverbundes der entscheidende organisatorische Rahmen gewesen. Anders als noch in Humboldts oder Schillers idealistischen Staatsmodellen, in denen sich die Gemeinschaft freier und gleicher Individuen durch den jedem Menschen eigenen Bildungstrieb organisch forme und lediglich den festen staatlichen Rahmen als Ordnungsinstanz benötige, betonten Nietzsche und die Vertreter des »Dritten Humanismus« den entgegengesetzten Gedanken, nämlich daß die einzelnen Bürger in der Polis harmonisch »unter einem rätselhaften Zwange vereint«83 und dadurch erst geformt würden. 81 82

83

Vgl. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 16. Ders.: Staat und Kultur. In: HRV, S. 202. – Die entsprechende Passage in Nietzsches Abhandlung ›Der griechisches Staat‹ lautet: »Die Griechen aber haben wir uns, im Hinblick auf die einzige Sonnenhöhe ihrer Kunst, schon a priori als die ›politischen Menschen an sich‹ zu construiren; und wirklich kennt die Geschichte kein zweites Beispiel einer so fruchtbaren Entfesselung des politischen Triebes, einer so unbedingten Hinopferung aller anderen Interessen im Dienste dieses Staateninstinktes« (KSA 1, S. 771). Hildebrandt: Die Wirkung der Idee im Aufbau des Staates. In: Staat und Rasse, S. 43. – Nietzsche spricht von der »eiserne[n] Klammer« des Staates, »die den Gesellschaftsprozeß erzwingt« (Der griechische Staat. In: KSA 1, S. 772).

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Laut Jaeger nahm die Prägung einer allgemeinverbindlichen und von allen verinnerlichten Gesinnung dabei eine besondere Rolle ein: Deshalb hätten auch die bedeutendsten Dichter und Denker an der Begründung und Rechtfertigung sowie Ausdifferenzierung sittlich-moralischer Normen und Maximen für das Gemeinschaftsleben partizipiert. In seiner ›Paideia‹ hob er diesen Aspekt hervor, indem er festhielt: Die griechische Erziehung ist nicht eine Summe privater Künste und Veranstaltungen, deren Endziel die selbstgenugsame Vervollkommnung des Individuums bildet. […] Die größten Werke des Griechentums sind Momente einer Staatsgesinnung von einzigartiger Großartigkeit, deren Ringen sich in einer lückenlosen Reihe durch alle Stufen der Entwicklung entfaltet vom Heroentum der Gedichte Homers bis zu Platos autoritärem Staat der herrscherlichen Wissenden, in dem Individuum und soziale Gemeinschaft auf dem Boden der Philosophie ihren letzten Kampf ausfechten.84

Aber nicht nur für Jaeger, sondern auch für Spranger und die Georgeaner erwies sich die Polis-Idee als eine attraktive und nützliche Lehre für die nationale Gegenwart und als ein maßgebliches Vermittlungselement für korporativistische Entwürfe. Mit ihr ließ sich – wie es Karl Christ in seiner Darstellung über das Griechenbild in der deutschen Geschichtswissenschaft auf den Punkt bringt – die Unterordnung der Interessen und Rechte des Einzelnen unter die Ansprüche von Gesellschaft und Staat, die Festigung der verpflichtenden Gemeinschaft durch Erziehung, Recht und Moral, die Behauptung von Autonomie und Autarkie, nicht zuletzt die Anerkennung überragender politischer Führungspersönlichkeiten und Staatsmänner85

nicht nur assoziieren, sondern gerade auf der Folie ihrer kulturellen Leistungen und ihres weltgeschichtlichen Einflusses legitimieren. Auch bot sie aufgrund des mit ihr unauflöslich verbundenen Ordnungsgedankens ein geeignetes Instrumentarium, den als zerrissen und formlos wahrgenommenen ›deutschen Charakter‹ – »die überquellende Geistesfülle« – »zu bändigen und einem höheren Prinzip unterzuordnen«.86 Zugleich konnte die Vorstellung der griechischen Staatlichkeit auch mit dem Ideal eines künftigen deutschen Kulturstaates verknüpft werden, denn der antiken Polis attestierte man mit Burckhardt und Nietzsche ein 84 85 86

Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 16. Karl Christ: Hellas. Griechische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft. München 1999, S. 243. Jaeger: Staat und Kultur. In: HRV, S. 198.

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großes kulturpolitisches Interesse, das seinen Ausdruck in der aktiven Förderung von Kunst und Kultur gefunden habe: Nicht nur unter der Ägide des Perikles habe sich der attische Stadtstaat als Diener der Kultur erwiesen, sondern auch unter den Tyrannen hätten Kunst und Kultur eine erstaunliche Blüte erlangt.87 Diese Sichtweise wurde auch durch die platonische Utopie genährt, derzufolge Philosophenkönige, also weise Herrscher, die eindeutig dem ästhetisch-kulturellen Sektor zuzuordnen sind, als Staatenlenker agierten; was lag also näher, als auch sie als potente Förderer der Kunst darzustellen? Unter Berücksichtigung all dieser Zuschreibungen avancierte der griechische Staat in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem bei Jaeger zum entscheidenden sittlichen Maß aller Dinge, auch für die Deutschen: Er bestimme »des Menschen Wert« und setze »seinem Leben das Ziel«.88 Er bilde »den Höhepunkt der Entwicklung der Natur des Menschen« und erblicke »doch gleichzeitig in der freien Entfaltung der menschlichen areté das Ziel […], an dessen Erfüllung auch der Wert des Staates gemessen werden muß«.89 Gemeinschaftssinn und eine autoritäre Staatsidee wurden zum ausschlaggebenden, der inneren Natur konformen Merkmal des ›griechischen Seins‹ stilisiert. Da dieses axiomatisch das ›deutsche Werden‹ begründe, ja seine Wirkmächtigkeit erst die wahre Substanz der Deutschen hervortreten lasse, sei bei der Reformulierung des ›deutschen Charakters‹ besonders die politische Seite – das überindividuelle ›Menschentum‹ – hervorzukehren. So betonte Jaeger in seiner Rede ›Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato‹, die Geschichte Hellas’ helfe, »die Notwendigkeit alles Geschehens [zu] begreifen«.90 Denn es gebe keine tiefere Belehrung über Wesen und Zusammenhang dieser Kräfte [i. e. des Staats-, Rechts- und Machtsinns der Griechen, BS] als die Betrachtung der Ge-

87

88 89 90

Vgl. ebd., S. 203f. – Siehe auch ders.: Paideia. Bd. 1, S. 298–302. – Burckhardt betont in ›Über das Studium der Geschichte‹, daß die griechische Kultur ohne die Tyrannis bedeutungslos geblieben wäre (vgl. Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Der Text der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hrsg. von Peter Ganz. München 1982, S. 297), und diesen Gedanken aufgreifend, schreibt Nietzsche in einem Fragment aus dem Sommer 1875, das im Nachlaß überliefert ist, daß ohne die rigide Herrschaft eines Peisistratos die Athener nicht in der Lage gewesen wären, Tragödien zu schreiben (vgl. 6[29]. In: KSA 8, S. 109). Jaeger: Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato. In: HRV, S. 91. Ders.: Staat und Kultur. In: Ebd., S. 202. Ders.: Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato. In: Ebd., S. 101.

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schicke jenes hochbefähigten Volkes, das alle höchsten menschlichen Lebenswerte, aber auch alle menschlichen Schwächen in gesteigerter Form und schroffster Entschiedenheit besaß.91

Neoplatonischer Wille zur kollektivistischen Staatsgründung In den Kontext der verstärkten Bemühungen, altgriechische Staats- und Gemeinschaftsvorstellungen auf das zu bildende neue Deutschland anzuwenden, gehörte auch die Renaissance, die Platons staatstheoretische Schriften nach dem Ersten Weltkrieg erlebten. Im Gegensatz zur philosophischen Platon-Lektüre im Zeitalter des Neuhumanismus und Idealismus wurde nun das Augenmerk auf den revolutionären Politiker und Volks- bzw. Menschheitserzieher gelegt.92 Von Interesse waren deshalb in erster Linie seine ›Politeia‹, aber auch die ›Nomoi‹ und der als Selbstbiographie identifizierte ›Siebte Brief‹. Lebensphilosophische Impulse, für die viele Geisteswissenschaftler im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sehr empfänglich waren, beförderten einen affektiven Zugang zu seinen Texten und antirationalistische Auslegungen zu Lasten sachlicher Interpretationen, die verstärkt auf den politisch-historischen Kontext der Entstehungszeit abhoben. So glaubte man nun, daß Platons politische Schriften einen latenten Sinn dokumentierten, der nur von den Deutschen aufgrund eines alten Vermächtnisses – erinnert sei hier wieder an den Topos der mythischen ›Seelenverwandtschaft‹ beider Völker, der Griechen und der Deutschen – aufzuspüren sei.93 In besonderem Maße identifizierten sich die Vertreter des »Dritten Humanismus« mit der ›Politeia‹, der sie eine hohe Aktualität bescheinigten. Sie lasen sie als konkrete Gebrauchsanweisung für die anvisierte Restitution von Staat, Gesellschaft, Kultur und Gesittung nach altgriechischem Muster. In diesem Kontext entdeckte Jaeger in Platon den großen »Erneuerer der griechischen Staatsethik«, weil er an »die ursprüngliche, vorindividualistische griechische Lebensform« anknüpfe und damit eine Erziehung »zum Staat und zum bewußten Lebensaufbau« wiederbegründet 91 92

93

Ebd., S. 102. Einen Überblick über die unterschiedlichen Inanspruchnahmen Platons für die nationale Erziehung (allerdings mit Schwerpunkt auf der Zeit des Nationalsozialismus) bietet JensUwe Schmidt: Platon und die nationale Erziehung. In: Wort und Dienst. Jahrbuch der kirchlichen Hochschule Bethel, N. F. 20 (1989), S. 53–77. Vgl. Teresa Orozco: Die Platon-Rezeption in Deutschland um 1933. In: »Die besten Geister der Nation«. Philosophie und Nationalsozialismus. Hrsg. von Ilse Korotin. Wien 1994, S. 141–185, hier S. 146f. – Vgl. auch Luciano Canfora: Platon im Staatsdenken der Weimarer Republik. In: Hermann Funke (Hrsg.): Utopie und Tradition. Platons Lehre vom Staat in der Moderne. Würzburg 1987, S. 133–147.

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habe.94 An anderer Stelle bezeichnete er ihn als »unserer Generation Staatsgründer und Gesetzgeber«.95 Auf ähnliche Weise erklärte Walther Kranz, Altphilologe und Anhänger des jaegerschen Humanismus, Platon zum Erfinder der Vision vom sittlichen deutschen Staat. Über die Auseinandersetzung mit seinen Schriften, so Kranz, sei ein neuer Mensch »zu schaffen, der […] mithelfe bei der Verwirklichung der besten Staatsform, auf daß die Polis zur Kallipolis werde«.96 Eine vergleichbare Platon-Deutung trugen die Georgeaner vor. So verfaßte Heinrich Friedemann, der einzige Gräzist in der näheren Umgebung Georges, eine Gestaltbiographie über Platon als modernen Staatsphilosophen. Sein Verdienst sei es gewesen, den Staat als lebendigen Organismus, als eine »lebendig gewordene gemeinschaft«97 begriffen zu haben, die sich aus dem »Geist der Kunst« entwickele bzw. durch künstlerisch-ästhetische Bildung hervorgebracht werde.98 Kurt Hildebrandt beschwor Platon als Krisenphilosophen mit Gegenwartsbedeutung; in seinem kurzen Literaturbericht über das gegenwärtige Platon-Bild stilisierte er den Denker zum »Vorbild des Retters in Zeiten der Auflösung und Zersetzung«, besonders »für uns Deutsche«.99 In seiner Einleitung zur ›Politeia‹-Ausgabe, die 1939 bei Kröner erschien, bemühte er sich, Parallelen zwischen Deutschlands Situation in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts und der Athens zur Zeit Platons aufzuzeigen. Er notierte: »Es ist die Ähnlichkeit der Weltstunde, es ist die gleiche Not, der drohende Untergang der Nation, die unsere Zeit hellhörig macht für das Werk des größten aller Philosophen.«100

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Jaeger: Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato. In: HRV, S. 97; ders.: Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung. In: Ebd., S. 150; ders.: Die geistige Gegenwart der Antike. In: Ebd., S. 176f. Ders.: Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, S. 46. Walther Kranz: Platon im Gymnasium. In: Platon im Gymnasium. Sophokles, Aias und Antigone. Neuere Forschungen auf dem Gebiet der griechischen Metrik. Drei Vorträge und Berichte über die zugehörigen Arbeitsgemeinschaften aus der »Griechischen Woche« in Breslau (2.–6.10.1928). Leipzig, Berlin 1929 (= Neue Wege zur Antike 8), S. 3–32, hier S. 24. Friedemann: Platon, S. 134. Gert Mattenklott: »Die Griechen sind zu gut zum schnuppern, schmecken und beschwatzen«. Die Antike bei George und in seinem Kreis. In: Urgeschichten der Moderne, S. 234–248, hier S. 245. Kurt Hildebrandt: Das neue Platon-Bild. Bemerkungen zur neueren Literatur. In: Blätter für die deutsche Philosophie 4 (1930/1931), S. 190–202, hier S. 190. Ders.: Einleitung (1934). In: Platon: Politeia. Deutsch von August Horneffer. Stuttgart 1939 (= Kröners Taschenausgabe 111), S. VII–XXXIX, hier S. VIII, hier zitiert nach Canfora: Platon im Staatsdenken der Weimarer Republik, S. 144.

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Gerade mit dieser Stellungnahme Hildebrandts läßt sich zu einem weiteren Spezifikum der politischen Antikerezeption im »Dritten Humanismus« überleiten, nämlich der charakteristischen Neigung aller Vertreter, die reale Gegenwart und eine idealisierte Vergangenheit zu parallelisieren, um Heilserwartungen zu transportieren. In der Anfangsphase der Weimarer Republik ließ sich leicht eine Analogie zwischen Nachkriegsdeutschland und Nachkriegsathen – dem Ort der Jugend Platons – konstruieren, indem man auf ähnliche Positionen im zwischenstaatlichen Gefüge verwies: Sowohl die attische Polis in der Auseinandersetzung mit Sparta im Peloponnesischen Krieg der Jahre 431–404 v. Chr. als auch das Deutsche Reich standen bei Kriegsende auf der Verliererseite, und beiden wurde eine Reform ihres Staatswesens verordnet. Aber bereits vor dem staatlichen Zusammenbruch konnten in Athen wie Deutschland erste Anzeichen eines bevorstehenden Niedergangs beobachtet werden. Mit Perikles’ Tod 429 v. Chr. und den folgenden Auseinandersetzungen um seine Nachfolge und als Begleiterscheinung des langwierigen militärischen Konflikts mit Sparta setzte ein allgemeiner Werteverfall ein. Im Deutschland des Fin de siècle beklagten Kulturkritiker den Verlust alter Tugend- und Normvorstellungen sowie das Fehlen fester gemeinschaftlicher Bindungen, wie sie ehemals die Familie oder die Religion dargestellt hatten. Speziell die Ausbreitung von Individualismus und Selbstbezogenheit, beides vermeintliche Geißeln des modernen Zeitgeistes, wurde für den Zerfall der alten Werteordnung verantwortlich gemacht. Wie Jaeger immer wieder betonte, führte Platon die trostlose Lage seiner Vaterstadt auf mangelnden Gemeinschaftsgeist und fehlende Staatsgesinnung zurück. In dem Aufsatz ›Die geistige Gegenwart der Antike‹ notierte er deshalb: »Das pädagogische Problem, das ist für Plato das Problem des Staates«;101 diesem Defizit habe er mit einer Staats- und Gesellschaftsreform begegnen wollen. Platon entwickelt seine Vorstellung eines idealen Staates als Utopie. In der ›Politeia‹, die starke Züge der frühen griechischen Poleis – vor allem Lakedämons – trägt, entwirft er ein organisch gegliedertes Staatsgebilde, das eine heroische Einbindung des Individuums in die Gemeinschaft kennzeichnet. Jaeger stellt die Platons Modell inhärente soziale Idee als wirksames Mittel zur Bekämpfung des gegenwärtigen Individualismus dar. Entsprechend hält er in seinem Essay ›Staat und Kultur‹, der Mitte der zwanziger Jahre entstand, fest: 101

Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 176.

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Auch darin gleicht ihre Lage [i. e. die von Platons Vaterstadt Athen, BS] der unsrigen, daß sie sich einer vorangehenden Generation gegenüber sahen, die den Höhepunkt des Individualismus in der Entwicklung des griechischen Geistes bezeichnet. Es kam jetzt alles darauf an, die individuelle Vereinzelung und Isolierung des Menschen zu durchbrechen und ihm von der Idee der Gemeinschaft aus wieder den Weg zum Staat zu weisen. Der Staat wurde wieder als der höchste Repräsentant der Einheit und Harmonie der Gemeinschaft erlebt und so als fundamentale geistige Notwendigkeit begriffen, nicht nur als Spielball ökonomischer Interessen und parteipolitischer Sonderbestrebungen.102

Da die Athener dem konstatierten Werteverfall und Individualisationsprozeß mit der Umformung der attischen Demokratie in ein kollektivistisches Gemeinwesen mit aristokratischen und erziehungsstaatlichen Zügen Einhalt geboten hatten, erschien auch den Deutschen der zwanziger Jahre eine korporativistische Staatsform als erfolgversprechendes Korrektiv für die ungeliebte und schwache Demokratie der Gegenwart. Man projizierte auf einen mächtigen Staat die Hoffnung, die ersehnte innere und äußere Stabilität herbeiführen und garantieren zu können. Indem die Anhänger des »Dritten Humanismus« auf die nicht unbedingt offenkundige Parallele zwischen Nachkriegsathen und Nachkriegsdeutschland verwiesen, legitimierten sie zum einen ihre staatsumstürzlerischen Ambitionen zugunsten einer autoritären Ordnung. Zum anderen ließ sich auch aus ihrer Berufung auf die ›wesensverwandten‹ Griechen und ihre Polis Athen die Vorstellung ableiten, daß die Begründung eines aristokratischen ›Führerstaates‹ ein historischer, aber noch unerfüllter Auftrag an die Deutschen sei, den man nun realisieren könne. Das Bestreben, eine Entsprechung zwischen deutscher Gegenwart und griechischem Altertum zu entwickeln, charakterisierte nicht nur das Denken im »Dritten Humanismus«. Schon Wilamowitz hatte in seiner Rede mit dem wegweisenden Titel ›Von des attischen Reiches Herrlichkeit‹, die er anläßlich des Kaisergeburtstages 1877 vortrug, eine gewagte Analogie zwischen dem bismarckschen Preußen und dem Athen des Perikles hergestellt. In ihr setzte er antike und zeitgenössische Situationen sowie Auffassungen in Beziehung zueinander. So parallelisierte er Patriotismus und Pflichtbewußtsein preußischer Art mit attischer Vaterlandsliebe und pflichtgemäßer Aufopferung des einzelnen für das Gemeinwesen. Er konstatierte, in manchem [ist, BS] die Sinnesart, welche zuerst im athenischen Volke ausgebildet worden ist, dieselbe, die auch uns beseelt. Auch wir fordern von jedem Vollbürger, dass er die schwerste Pflicht auf sich nehme, sich selbst an der Ver102

Ders.: Staat und Kultur. In: Ebd., S. 210.

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waltung seines Staates zu beteiligen, und verleihen ihm dafür das schönste Recht, sein Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Allerdings mühen auch wir uns noch mit den ewigen Problemen, welche zuerst der athenische Geist erfasst und in seiner Art zu lösen versucht hat, die Gegensätze der Freiheit und des Gesetzes, die Rechte des Individuums und die der übergeordneten Gemeinschaft auszugleichen.103

Noch deutlicher ist die Gleichsetzung des attischen Reiches mit dem deutschen Kaiserreich aus Wilamowitz’ Rede ›Basileia‹104 zum 25-jährigen Regierungsjubiläum Wilhelms I. anno 1886 herauszulesen, denn hier wagt er sogar bewußte Modernismen.105 Wie sein akademischer Lehrer, so bezog auch Jaeger in seinen Reden und Vorträgen populäre, spezifisch moderne Termini auf das antike Griechentum. Allerdings sind seine Übertragungen nicht ausschließlich den Sphären Staat, Gesellschaft und Militär entnommen, sondern lassen sich überwiegend der allgemeinen Kulturkritik um 1900 im Gefolge Nietzsches zuordnen, wie die häufig verwendeten Schlagworte Naturalismus, Nihilismus, Lehre vom Übermenschen, Individualismus, »Umwertung aller Werte« belegen. Die Zustände im alten Griechenland nach den Perserkriegen und speziell während des Peloponnesischen Krieges erschienen Jaeger als präzise Spiegelbilder der gegenwärtigen politisch-kulturellen Verhältnisse. Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung Neben der vermeintlich historisch-situativen Parallele zwischen dem Deutschland der Gegenwart und Athen zu Beginn des vierten vorchristlichen Jahrhunderts ließen sich Griechen und Deutsche auch unter mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten in Beziehung setzen: Beide Völker bemühten sich im Verlauf ihrer Geschichte, ihre auch territoriale ›Zerrissenheit‹ durch Disziplin und bürokratische Organisation aller Lebensbereiche zu kompensieren. Dabei spielte der Grundsatz der inneren Bindung, die feste Integration des einzelnen, aber auch der Pflanzstädte und einverleibten Territorien, eine entscheidende Rolle. Geradezu mustergültig konnten Sparta und Preußen aufeinander bezogen werden, denn das Denken und Handeln ihrer ›Bürger‹ dominierte eine ausge103 104 105

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Von des attischen Reiches Herrlichkeit (1877). In: Reden und Vorträge. Berlin 1901, S. 27–64, hier S. 63. Ders.: Basileia (1886). In: Ebd., S. 65–83. Vgl. dazu die Liste der Modernismen bei Uvo Hölscher: Strömungen der deutschen Gräzistik in den Zwanziger Jahren. In: Flashar (Hrsg.): Altertumswissenschaft in den 20er Jahren, S. 65–85, hier S. 69f.

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prägte Vorliebe für ein mächtiges und autoritäres Staatswesen auf der Grundlage einer integrativen, disziplinierten »Volksgemeinschaft«. Die paradigmatische Verbindung beider Staaten wurde nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem im Rahmen des antirepublikanischen und antiparlamentarischen Diskurses, verstärkt betrieben; in den 1920er und 1930er Jahren erfaßte das konservative Deutschland eine regelrechte Lakedämonomanie106 und Preußenbegeisterung. Die Präferenz, die auch Jaeger, Spranger und viele Georgeaner für das Spartiatentum als zweite Natur der Preußen hegten, war aber keine Innovation der Kriegsjahre, sondern läßt sich in der deutschen Ideengeschichte bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Herder erklärt in seinen ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹107 Lakedämon zu einem in staatskünstlerischer Hinsicht großen Gedächtnisort der Menschheit und begründet diese Auffassung explizit mit dem dort gelebten, für alle Völker vorbildlichen Patriotismus, der besonders eindrucksvoll in der Thermopylenschlacht des Jahres 480 v. Chr. zutage getreten sei: Unter der Führung ihres Königs Leonidas zeigten 300 Krieger aus Sparta auch in aussichtsloser Situation Gehorsam gegenüber ihren Gesetzen, indem sie nicht vor der persischen Übermacht flohen, sondern sich ihr mutig und opferbereit entgegenstellten und in einem aussichtslosen Kampf ihr Leben auf heroische Art für die Vaterstadt ließen.108 Die früheste direkte Gegenüberstellung von Preußen und Sparta findet sich in einer historischen Abhandlung über den Stadtstaat, die in den Jahren 1800–1805 entstand und in den Kontext preußischer Reformbestrebungen gehört. In ihr erhebt der weitgehend unbekannte Verfasser Johann Caspar Friedrich Manso,109 Rektor eines Breslauer Gymnasiums, 106

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Zur Sparta-Rezeption in Deutschland siehe grundlegend Karl Christ: Spartaforschung und Spartabild. Eine Einleitung (1983). In: Sparta. Darmstadt 1986 (= WdF 622), S. 1–72 [Wiederabdruck mit Nachträgen in: Griechische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. Mit 7 Tafeln. Stuttgart 1996 (= Historia. Einzelschriften 106), S. 9–57; S. 219–225] sowie Volker Losemann: Sparta I. Bild und Deutung. In: DNP 15/3 (2003), Sp. 153–172. – Vgl. auch Elizabeth Rawson: The Spartan Tradition in European Thought. Oxford 1969. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 4 Bde. Riga 1784–1791. Vgl. Christ: Spartaforschung und Spartabild, S. 10. – Zur Rezeption der Thermopylenschlacht generell siehe Anuschka Albertz: Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart. München 2006 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 17). Zu Johann Caspar Friedrich Manso (1758/1760–1826) und seinen Spartaforschungen vgl. Barbara Bauer: Der Gegensatz zwischen Sparta und Athen in der deutschen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800. Hrsg. von ders. und Wolfgang G. Müller. Wiesbaden 1998 (= Wolfenbütteler Forschungen 79), S. 41–94, hier S. 77–84.

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die Polis zum »lehrende[n] und warnende[n] Beispiel«110 für den preußischen Staat. Erst rund hundert Jahre später konstruiert Arthur Moeller van den Bruck in seiner einflußreichen Programmschrift ›Der preußische Stil‹111 über den »eigentümlich männlich[en]«112 Charakter beider Staaten, der sich in der besonderen Wertschätzung von Vaterlandsliebe, Opferbereitschaft, Disziplin und heroischem Soldatentum zeige, eine besondere ideologische Nähe zwischen ›altpreußischem‹ und ›dorischem Geist‹.113 Aufgrund einer ähnlichen Gesinnung hätten sich die Preußen stets an Sparta orientiert; im Laufe der Zeit sei aber die Bezugnahme derartig intensiv geworden, daß nach Moeller Preußentum und dorisches Altertum so stark miteinander amalgamierten, daß sie schließlich »eines und einig«114 wurden und aus dieser Verschmelzung ein »neue[s] Dorertum[…]«115 hervorging. Dieses ›dorische Preußentum‹, auf das sich wie viele Intellektuelle während der Weimarer Republik auch die Anhänger des »Dritten Humanismus« beriefen, weil sie es als vorbildliches gesellschaftspolitisches System wie nachahmenswerte geistige Haltung erachteten, hatte aber nur wenig mit der historischen Realität zu tun. Vielmehr muß es als ein ideologisches Kunstprodukt und erinnerungskräftiges Symbol mit deutlich kontrapräsentischer Ausrichtung aufgefaßt werden. Durch Anbindung der eigenen Staatsutopie an die idealisierte Vergangenheit wurde eine politische und soziale Scheinwirklichkeit entworfen, auf die es hinzuarbeiten galt. Als fundierende Geschichte erweckte der Komplex Preußen-Sparta Erinnerungen an eine erfolgreiche Nationalgeschichte, die man sich in enger Verflechtung mit einer charakteristischen Geisteshaltung dachte. So konnte die beharrliche, schon Jahrhunderte andauernde nationale wie internationale Selbstbehauptung Brandenburg-Preußens, eines agrarisch geprägten, an natürlichen Ressourcen armen Landes mit weit zersplittertem Staatsgebiet, sowie sein späterer Aufstieg zur europäischen Großmacht die weitverbreitete Überzeugung rechtfertigen und legitimieren, daß deutsche Glanzleistungen nur durch starken Willen und Organisationstalent zu erzielen seien. Zudem ließ sich diese preußische ›Großtat‹ 110 111 112 113 114 115

Johann Caspar Friedrich Manso zitiert nach Christ: Spartaforschung und Spartabild, S. 11. Arthur Moeller van den Bruck: Der preußische Stil. München 1916 (Neue Fassung. 2. Aufl. München 1922). Ebd. (1922), S. 227. Vgl. ebd. (1916), S. 92f.; S. 98; S. 130–132. Vgl. ebd. (1916), S. 134f. (Zitat S. 134). Ebd. (1922), S. 142 (Diese Wendung ist in der Erstfassung von 1916 noch nicht enthalten).

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im ideengeschichtlichen Kontext geschickt als Bestätigung der Strategie instrumentalisieren, das vermeintlich zerrissene ›deutsche Wesen‹ sei besonders effektiv durch dorisch-preußische Erziehung zu Selbstzucht, Pflichtbewußtsein und gebundener Freiheit zu bändigen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß Preußen und Sparta bzw. Preußentum und Spartiatentum vorwiegend als metaphorische Kategorien aufgefaßt und gebraucht wurden. Dementsprechend sollten diese Begriffe weniger realhistorische Fakten transportieren als vielmehr eine sittlich-ethische Dimension. Gerade im konservativen Milieu fungierten sie zwischen den Jahren 1914 und 1945 als Chiffren für eine spezifische soziale und politische Ordnung – den starken und autoritären Ständestaat mit aristokratischer Führungsspitze – sowie für eine staatstragende, kollektivistische Gesinnung. In den heiß geführten Debatten um die vermeintlich richtige Staatsund Gesellschaftsform teilten auch die Anhänger des »Dritten Humanismus« die weitverbreiteten Sympathien für das antike Sparta und das friderizianische Preußen und hoben daher den Vorbildcharakter beider Systeme für ein neues Deutschland hervor. So trug Spranger im Januar 1916 vor der Bildungselite Preußens in einem Festvortrag im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin seine zentrale These vor. Er legt dar: Noch heute weisen […] alle Zeichen nach Sparta, dem Lande des härtesten Staatsgedankens. Aber auch der preußische Staat des 18. Jahrhunderts hat in der Erziehung seiner Armee wie seines Beamtentums solche Kräfte entfaltet.116

Für Spranger und seine humanistischen Gesinnungsgenossen stellten der spartanische und preußische Kosmos wirkmächtige historische Beispiele dar, die die Notwendigkeit einer korporativistischen Ordnung demonstrierten. Zusätzlich legitimierte die Bezugnahme auf diese beiden Typen, die per definitionem als ›urdeutsch‹ galten, ihre Utopie in doppelter Hinsicht: Von einer Orientierung am spartanisch-preußischen Modell versprachen sie sich Erfolg, weil es nicht nur mehrfach in der Nationalgeschichte erfolgreich erprobt, sondern auch auf die ›deutsche Art‹ abgestimmt worden sei. Viele von den auf die spartanische Polis und ihre ›Bürgerschaft‹ projizierten Eigenschaften korrespondierten mit ihren Vorstellungen eines kommenden Deutschland. So rühmten sie den Gemeinschaftsgeist und 116

Spranger: Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen Deutschland. In: GRA, S. 15.

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die heroisch-agonale Gesinnung der Lakedämonier, aber auch ihren mächtigen und durchorganisierten Staat: Jaeger schätzte besonders den »urindogermanischen Lebensinstinkt« des spartanischen Volkes, d. h. den Trieb, sich in größeren Verbänden zu organisieren, und lobte seine Fähigkeit, »ein Edles und Echtes« in Reinform zu verkörpern.117 In der ›Paideia‹ hob er affirmativ die in Sparta bis zur Perfektion betriebene »Einordnung des Einzelnen in ein streng gefügtes Ganze«118 hervor. George identifizierte im ›Hyperion‹-Zyklus mit den Lakedämoniern vor allem »Spartas gebändigten mut«,119 und Brasch überlieferte in seinen Erinnerungen Georges Gleichsetzung des Spartanischen mit dem Heldenhaften.120 Spranger rekurrierte gerade auf das zum Mythos gewordene »spartanische Staatsideal« –121 Machtdenken und aristokratische Herrschaft sowie personale bzw. gebundene Freiheit des Individuums mögen hier als Stichworte genügen –, um die anvisierte Ordnung Deutschlands zu beschreiben. Die Entwicklung dieser Polis hin zu einer Hegemonialmacht in Griechenland erschien ihm als ein lehrreiches Exempel für die Zweckmäßigkeit einer geordneten und streng hierarchisierten Gemeinschaft sowie eines autoritären Staatswesens. Ähnliche Attribute wie die oben angeführten wurden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch auf das Preußen zur Zeit Friedrichs des Großen bezogen bzw. mit dem ›altpreußischen Geist‹ assoziiert: Selbstdisziplin und Enthaltsamkeit, Pflichtbewußtsein, Ordnungsdenken und Organisation, Dienstbereitschaft, Unterordnung und Gehorsam, Aufopferungsbereitschaft und Selbstlosigkeit, Vaterlandsliebe, Gemeinschaftsgeist und Staatsgesinnung. Diese Eigenschaften lesen sich wie ein aus dem alten Sparta bzw. dem Zeitalter der frühen griechischen Poleis überlieferter Tugendkatalog, wie er bei Tyrtaios oder Pindar zu finden ist. Im »Dritten Humanismus« wurden vor allem die die Gemeinschaft regulierenden und strukturierenden Aspekte »Herrschaft und Dienst« sowie »Führertum und Gefolgschaft« mit dem Preußentum verbunden. Als 117

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Jaeger an Borchardt, 09.11.1931. In: Ernst A. Schmidt: Werner Jaeger and Rudolf Borchardt: Correspondence 1929–1933. In: Calder III (Ed.): Werner Jaeger Reconsidered, S. 161–208, hier S. 187; S. 188. Ders.: Paideia. Bd. 1, S. 17f. George: Hyperion. In: SW IX, S. 13. Vgl. Hans Brasch: Erinnerungen an Stefan George. In: Ders. Bewahrte Heimat. Aus dem Nachlaß hrsg. von Peter Landmann. 2. Aufl. Düsseldorf, München 1971, S. 23–40, hier S. 26. Spranger: Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen Deutschland. In: GRA, S. 12. – Vgl. auch ders.: Staatsbildende Kraft?, S. 2; ders.: Zum politischen Bildungsideal. In: V&G 8 (1918), S. 49–54, hier S. 53.

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notwendige Voraussetzung für die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz und Anwendung dieser sozialen Prinzipien galten individuelle Fertigkeiten, die durch strenge Selbstzucht in körperlicher wie geistiger Hinsicht herausgebildet werden sollten. Entsprechend verklärten Jaeger, Spranger und die Georgeaner die preußische Fähigkeit, sich so intensiv einer Aufgabe zu widmen, daß in der Konsequenz eigene Bedürfnisse oder Begierden zurückstünden. So schwärmte Wolters in einem Feldpostbrief an George von den Offizieren, denen er während seines Kriegseinsatzes begegnete: Alle seien sie »aus dem besten preussentum entnommen: leiblich gehärtet, schnell und leicht im entschluss, nur der sache hingegeben«. Auch zeichne sie – wie er in einem anderen Brief notierte – Hingabe, gute Führung und ›züchtige‹ Gefolgschaft aus.122 Spranger charakterisierte das Preußische als »eine historisch fundierte ethische Grundgesinnung«, »die sich zuerst an den Forderungen des Staates gebildet hat, dann auf die gesamte Lebensführung ausgestrahlt ist«.123 Neben der dienenden Unter- bzw. Nachordnung eigener Bedürfnisse und Begierden sei im preußischen Staatsethos »der Wille zu führen und der Wille sich führen zu lassen«124 aufgegangen. Dagegen sind Georges Äußerungen deutliche Vorbehalte gegenüber dem Preußentum als System zu entnehmen. Gerade die starke Fixierung auf äußere Macht und politischen, militärischen wie wirtschaftlichen Einfluß mußten ihm, dessen Sorge vorwiegend der Pflege von Kunst und Kultur galt, bedenklich erscheinen.125 Sie lief seiner Auffassung zuwider, daß nur mit Hilfe des Ästhetischen das bestehende Gemeinwesen zu reformieren und ein Gesinnungswandel im Volk herbeizuführen seien. Die Applikation des realen altpreußischen Staats- und Gesellschaftsverständnisses auf sein in der Kunst angesiedeltes »Neues Reich« stufte er folgerichtig als »eine fast teuflische gegenkraft gegen das wahre, das wirkliche Deutschland«126 ein. Wie seine Schüler schätzte er aber das preußische 122 123 124

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Vgl. Wolters an George, 25./27.08.1916. In: George und Wolters. Briefwechsel, S. 125f. – Vgl. auch S. 26. Eduard Spranger: Das Preußische (2. Fassung um 1958). In: GS 8, S. 392–410, hier S. 403 (Fundamentalthesen I.); S. 392 (§ 1). Ders.: Preußentum und Sozialismus. In: Dresdner Anzeiger, 15.02.1920, Morgenausgabe, S. 1f. (= Teil 1); 16.02.1920, Morgenausgabe, S. 1 (= Teil 2); Abendausgabe, S. 1f. (= Teil 3), hier Teil 3, S. 2. Vgl. Preussentum. In: BfdK 5 (1900/1901), S. 2: »Wenn wir von den schädlichen einflüssen des Preussentums reden so weiss jeder verständige dass wir uns gegen keine person – nicht einmal gegen einen volksstamm richten sondern gegen ein allerdings sehr wirksames aber aller kunst und kultur feindliches system.« Brasch: Erinnerungen an Stefan George, S. 26.

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Ethos, die als preußisch identifizierten Tugenden – also: Pflichterfüllung, aufopferungsvollen Dienst, absoluten Gehorsam und Selbstzucht – und drängte energisch auf ihre Einhaltung.127 Georges ambivalente Haltung ist ein deutliches Signal für die unheilvolle Janusköpfigkeit des Sparta- und Preußenbildes des »Dritten Humanismus«, die aber nur wenige Anhänger vor Ausbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bemerkten oder bemerken wollten. So blendeten viele das Gefahrenpotential aus, das diese Projektionen sui generis in sich bargen: Sie verschlossen die Augen vor der Vernachlässigung, ja sogar Unterdrückung individueller Neigungen, Interessen und Meinungen, die schließlich auch durch eine konsequente Formung des Menschen nach dorisch-preußischen Idealen begünstigt wurde. In der Folge einer derartig selektiven Wahrnehmung erkannten sie nur den im Geist der Zeit als positiv gehandelten Effekt, ein Denken in gemeinschaftlichen und korporativen Kategorien zu befördern. Aufgrund dieses Dilemmas ist ihrer Gesinnungsbildung von Beginn an die Tendenz eingeschrieben, jede persönliche Eigenart zugunsten einer kollektiven Homogenität aufzuheben und den einzelnen im Volksverbund im wahrsten Sinne des Wortes untergehen zu lassen. Mit eben diesen rigiden Beschränkungen in der Persönlichkeitsentwicklung tat sich eine Kluft gegenüber traditionellen Bildungsbestrebungen auf, die sich stetig vergrößerte und schließlich nicht mehr zu überbrücken war. Denn eine Grundfeste der neuhumanistischen Konzeption war ja gerade der Gedanke, nur ein allseitig gebildetes, selbstbewußtes Subjekt könne einen guten Staatsbürger abgeben; Reflexionsvermögen und unabhängigen, individuellen Positionen versuchte man dagegen in der Zwischenkriegsära entgegenzusteuern, weil sie angeblich die Einheit des Volkes zersetzen und die umfassende Macht des Staates in Frage stellen würden.

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Thormaehlen berichtete von Georges Verdikt aus dem Winter 1915/1916, »daß [im gegenwärtigen Krieg, BS] jeder die ihm obliegende Pflicht tue und die an die Allgemeinheit gestellten Forderungen erfülle. Erleichterungen oder Möglichkeiten der Zurückstellung oder Versetzungen auf etwas sicherere Plätze […] lehnte er streng ab« (Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George. Hamburg 1962, S. 142). – Auch rühmte George selbst im Spruch auf den gefallenen Norbert von Hellingrath dessen Pflichtgefühl, wenn er betont, daß er trotz »abscheu vor dem kriegsgerät« die »angebotne schonung stolz verschmäht[e]« und damit seinen Tod in Kauf nahm [Stefan George: Norbert (wohl nach 02/1917). In: SW IX, S. 92].

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Bindung, Pflicht und ›deutsche Freiheit‹ als soziale Tugenden Mit Ausnahme Sprangers, der sich für einen deutsch-nationalen Sozialismus spenglerscher Prägung aussprach, entwickelten die Vertreter des »Dritten Humanismus« kein konkretes Modell zukünftiger Herrschaft. Allerdings hegten auch sie Sympathien für konservative, antiliberale Staatsideen, wie sie im Umfeld der »Konservativen Revolution« bzw. des »Neuen Nationalismus«128 geäußert wurden. Zentrale Ideologeme in ihrer Menschen- und Gesellschaftsutopie waren die Vorstellung von der Bindung des einzelnen an das Ganze durch den Pflichtgedanken und die Idee der ›deutschen Freiheit‹. Diese Leitkategorien und Ordnungsprinzipien wurden aus Kants Moralphilosophie sowie Hegels und Fichtes idealistischen Staatstheorien abgeleitet129 und am antiken Griechentum ebenso wie am neuzeitlichen Preußentum exemplifiziert. Gemäß neokonservativer Manier sollte von dem Vorgefundenen aber lediglich das erhalten werden, was man als bewahrenswert erachtete. Eine althergebrachte Vorstellung, die im »Dritten Humanismus« als zukunftsträchtig eingeschätzt wurde und an die sich im Politischen anschließen ließ, war der sozialistische Gedanke. So plädierte Spranger dafür, die marode konstitutionelle Monarchie und den kaiserzeitlichen Klassenstaat mit Hilfe des sozialistischen Gedankens in eine organische »Volksgemeinschaft« zu überführen.130 Auch Jaeger schätzte die »sozialistische Genossenschaftsidee« als eine der »wesentlichen Formen modernen sozialen Denkens«131 mit Zukunftspotential. Auf den ersten Blick erscheint der Begriff ›sozialistisch‹ in beiden Äußerungen irreführend, wird er doch nach allgemeinem heutigem Ver128

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Siehe einführend zur »Konservativen Revolution« und zu dem »Neuen Nationalismus« Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993; ders.: Der Neue Nationalismus in Weimar und seine Wurzeln; Mohler und Weissmann: Die Konservative Revolution in Deutschland; Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. Studienausgabe mit einem Ergänzungsteil: Antidemokratisches Denken in der Bundesrepublik. München 1968. Spranger bezeichnete das Wirken des Aufklärers und der beiden Idealisten als gedankliches Fundament für das »politische Ideal der neuen deutschen Zeit« [Eduard Spranger: Shaftesbury und wir. In: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 11 (1916/1917), Heft 12, Sp. 1477–1504, hier Sp. 1502]. Jaeger verwies auf die »Wurzeln« des Humanismus im »rationalistischen Kultursystem der westeuropäischen Aufklärung« (Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, S. 43). Vgl. Spranger an Susanne Conrad, 27.12.1918. In: GS 7, S. 97; ders. an Käthe Hadlich, 29./30.12.1918. In: Martinsen und Sacher (Hrsg.): Eduard Spranger und Käthe Hadlich, S. 203f., hier S. 204. – Siehe auch ders.: Stimmen führender Männer über die Not der Zeit. In: Deutsche Gesellschaft für staatsbürgerliche Erziehung 3 (21.11.1918), S. 1f., hier S. 1. Jaeger: Geschichte und Leben, S. 176.

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ständnis ausschließlich auf den marxistisch-leninistischen Ideenhorizont bezogen. Aber gerade mit diesem Gedankengut steht er im sprangerschen Sinn in scharfem Widerspruch, denn mit ihm ist ja eben nicht das Postulat verknüpft, gleiche Lebensbedingungen für alle Volksglieder zu schaffen und den Staat an sich aufzuheben. Vielmehr ist dem Wort ›sozialistisch‹ hier eine spezifisch deutsche und zeitgebundene Konnotation mitgegeben, nämlich das altpreußische »Gemeingefühl, in dem jeder mit seinem gesamten Dasein aufgeh[e]«,132 wie es in Oswald Spenglers in der Zwischenkriegszeit besonders einflußreicher und vielrezipierter Schrift ›Preußentum und Sozialismus‹ heißt. Für das von Spengler gepriesene Gemeingefühl führte Spranger die Prägung »Ethos der Kollektivverantwortlichkeit«133 ein. In dieser Bezeichnung schwingt bereits die Vorstellung mit, es sei eine Pflicht des Individuums, für das Wohlergehen und Fortkommen der Gesellschaft zu sorgen und sich dafür zu engagieren. Dieser Pflichtbegriff ist nicht neu, sondern er läßt sich bis ins Zeitalter der preußischen Aufklärung zurückverfolgen und in den Kontext des ›kategorischen Imperativs‹ einordnen. Wie schon Kant, geht es Spranger und seinen Mitstreitern darum, jeden einzelnen darauf zu verpflichten, das eigene Handeln derartig zu gestalten, daß es auch für die Allgemeinheit verbindlich sei und folglich allgemeines Gesetz werden könne. Pflicht als Handlungskategorie wird demnach als absolut uneigennützig eingestuft und lediglich als Ausdruck von großer Sittlichkeit gedeutet.134 Die Nähe zum altpreußischen Pflichtbegriff und zum kantischen Denken tritt besonders prägnant in Sprangers Rede ›Zum politischen Bildungsideal‹ hervor. Unter direkter Bezugnahme auf den Königsberger Philosophen beteuert er in ihr, daß s i t t l i c h e Freiheit immer gebunden ist an einen sozialen Zusammenhang, in dem Regeln herrschen, die für den einzelnen bei der inneren Wahl seiner Maximen einen entscheidenden Gesichtspunkt abgeben. […] Denn es gibt keine sittliche Macht über andere, die nicht auf sittlicher (d. h. vor allem ›geregelter‹) Beherrschung des eigenen Wollens beruhte.135

Wie Spranger orientierte sich auch Jaeger an Kants Ethik. So legte er in seinem Essay ›Staat und Kultur‹ dar: »Was man Tugend, areté des Men132 133 134 135

Oswald Spengler: Preußentum und Sozialismus. München 1920, S. 31f. Spranger: Stimmen führender Männer über die Not der Zeit, S. 1, Sp. 2. Vgl. Ute Frevert: Pflicht. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hrsg. von Etienne François und Hagen Schulze. Bd. 2. München 2001, S. 269–285, hier S. 270. Spranger: Zum politischen Bildungsideal, S. 53.

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schen heißt, erhält seinen Maßstab ausschließlich von der Polis und von der Eignung des Menschen für das Gemeinwesen.«136 Neben den philosophischen Anleihen waren dem zeitgenössischen Pflichtbegriff, auf den der »Dritte Humanismus« rekurrierte, auch die sozialen Ideale Aufopferung und Selbstverleugnung sowie eine Neigung zur Härte gegenüber dem Selbst und anderen eingeschrieben, die auf die dorisch-preußische Tradition zurückgehen. Diese Dimension der Pflichtauffassung wurde besonders nachdrücklich in Stellungnahmen zum Ersten Weltkrieg beschworen. Aber auch in der Folgezeit glorifizierten viele seiner Anhänger eben diese Charaktereigenschaften – trotz oder besser ungeachtet der vielen jungen und schlecht ausgebildeten Männer, die sich von einer solchen Propaganda hatten fesseln lassen und ›heldenhaft‹ ihr Leben in den Schützengräben für eine Phantasmagorie hingaben.137 So forderte Spranger 1930 in einer Universitätsrede die Studenten auf, auch »draußen im Leben« ihrer Verpflichtung für die nationale Gemeinschaft nachzukommen. Denn Dienen heißt opfern. D a s F ü h r e r t u m i m Vo l k e i s t n i c h t d e r B o d e n d e s G l ü c k s, sondern der Selbstzucht und der Entsagung. Der Inhalt Ihrer Pflicht aber ist das Gedeihen, die Wohlfahrt und Blüte Ihres Volkes als eines organischen Gliedes der Menschheit. Sie werden den Frieden wünschen und schützen mit der ganzen Kraft eines reinen Kulturwillens. Aber auch eine friedliche Gesellschaft fordert Menschen, die bereit sind, sich ganz einzusetzen, ihr Glück, ja ihr Leben zu opfern für das größere Leben.138

Auch Frommel betonte in einer Rundfunkrede ›Der dritte Humanismus als Aufgabe unserer Zeit‹ die enge Verflechtung von Pflicht- und Opferethik im humanistischen Denken seit dem frühen Griechentum: Humanistischer Geist, wie er bei Homer, Pindar, Plato und Thukydides uns in klassischer Vollendung entgegentritt, ist niemals Geist der genüßlerischen Vielfalt und uferlosen Belesenheit, sondern ein Geist des entschiedensten persönlichen Einsatzes, der zuchtvollen Mäßigung und des unvoreingenommenen Wirklichkeitssinnes.139 136 137

138 139

Jaeger: Staat und Kultur. In: HRV, S. 202. Vgl. Friedrich Wolters: Vom Sinn des Opfertodes für das Vaterland (1925). In: Vier Reden über das Vaterland, S. 5–29; Spranger: An die Jugend; Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George, S. 142. Eduard Spranger: Wohlfahrtsethik und Opferethik in den Weltentscheidungen der Gegenwart (1930). In: GRA, S. 107–134, hier S. 133. Lothar Helbing [= Wolfgang Frommel]: Der Dritte Humanismus als Aufgabe unserer Zeit (1932/1933). In: Vom Schicksal des deutschen Geistes. Erste Folge: Die Begegnung mit der Antike. Reden um Mitternacht. Hrsg. von Wolfgang Frommel. Berlin 1934, S. 125–140, hier S. 131.

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Als weitere Grundfeste neben dem Pflichtbegriff und dem aus ihm resultierenden Opfergedanken fungierte im Gesellschaftsmodell des »Dritten Humanismus« die Idee der ›inneren‹ bzw. spezifisch ›deutschen Freiheit‹. So verkündete Spranger programmatisch: »Neben der Freiheit steht unmittelbar der Imperativ, neben der Autonomie die Pflicht«.140 Beide Tugenden – Pflicht und Freiheit – wurden als ethische Kategorien normativ gedacht, die den einzelnen wie eine ungeschriebene Verfassung oder ein göttlich empfundenes Gesetz an die »Volksgemeinschaft« binden sollten. Schon die Verknüpfung der in ihrer Grundbedeutung einander widersprechenden Ideen ›Freiheit‹ und ›Bindung‹ deutete an, daß es sich hier um eine autoritäre Reformulierung des aktivischen liberalen Freiheitsbegriffs – der Vorstellung eines selbstbestimmten Denkens und Handelns ohne äußere Determination oder Fremdbestimmung – handeln mußte. Denn Freiheit wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in neokonservativen Kreisen, mit denen auch viele Vertreter des »Dritten Humanismus« sympathisierten, als passive Freiheit gedeutet: Man argumentierte, indem sich das gebildete Individuum dafür entscheide, Glied einer Gemeinschaft zu sein, ordne es sich mit der »i n n e r e n Freiheit in einem großen Sinne, der libertas oboedientiae, der Freiheit im Gehorsam«,141 willig in den Gesamtorganismus ein. Entsprechend konnte eine dem einzelnen auferlegte Pflicht als gebundene Freiheit des Handelns interpretiert werden, als ein Agieren, das nicht nur dem eigenen Willen stattgebe, sondern auch Ausdruck eines allgemeinen Sollens sei und ethische Werte transportiere. Eine solche Pflicht- und Freiheitsauffassung, die der Autonomie des Individuums Grenzen setzt, identifizierte Jaeger bereits im alten Hellas und betrachtete sie als Grundvoraussetzung für das dort praktizierte normative Erziehertum zu Staat und Gemeinschaft. Diesbezüglich hält er in seiner ›Paideia‹ fest: In der Atmosphäre einer inneren Freiheit, die sich dem Ganzen gegenüber durch das Wesenswissen um höchste als göttlich empfundene Gesetze verpflichtet fühlt, ist das Schöpfertum der Griechen zu seiner erzieherischen Größe emporgewachsen, die es hoch über das künstlerische und intellektuelle Virtuosentum der modernen individualistischen Zivilisation stellt.142

140 141 142

Spranger: Shaftesbury und wir, Sp. 1501. Spengler: Preußentum und Sozialismus, S. 32. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 17. – Zur Idee der Gebundenheit bei den Griechen siehe auch ders.: The Problem of Authority and the Crisis of the Greek Spirit. In: Authority and the Individual. Cambridge, Mass. 1937 (= Harvard Tercentenary Publications), S. 240–250.

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Trotz des Bestrebens, das eigene Pflichtideal aus Theoremen der preußisch-deutschen Aufklärung zu entwickeln, unterscheidet sich das Denken eines Spranger, Jaeger oder der Mitglieder des George-Kreises deutlich von dieser Vorstellungswelt. Gerade Kant, dem deutschen Aufklärer par excellence, kommt das Verdienst zu, durch seine Philosophie das Individuum von äußeren Zwängen befreit und ihm Mündigkeit zugesprochen zu haben, weil er dem vernünftigen Menschen die Befähigung zugestand, das eigene Handeln und Sein wie auch das der Gemeinschaft beeinflussen zu können. Dem gegenüber sprachen die Vertreter des »Dritten Humanismus« in den 1920er und 1930er Jahren dem gewöhnlichen Menschen das Potential zur politischen Selbstreflexion wieder ab und unterdrückten damit auch jegliche Möglichkeiten, es auszubilden. Die Forderung nach bedingungsloser Hingabe des einzelnen an eine weisungsbefugte Führungspersönlichkeit machte es überflüssig, eigene unabhängige Entscheidungen zu treffen und kritische Erwägungen anzustellen. Der gemeine Mensch wurde damit zu einem Organ degradiert, das lediglich die ihm übertragenen Aufgaben ausführt, aber von einem kreativen Auffinden eigener Strategien, auch individueller Verantwortung entbunden ist. Der besondere Stellenwert, der dem Gedanken der Bindung an die Gesamtheit bzw. an eine höhere Instanz nun zukam, spiegelte sich auch in den fachwissenschaftlichen Arbeiten wider. Ausgehend von der Vorstellung einer engen Verflechtung und gegenseitigen Beeinflussung der Sphären Staat, Gesellschaft und kultureller Produktion wurden überindividuelle soziale Strukturen auf inhaltliche Aspekte sowie ästhetische und stilistische Merkmale griechischer Kunst und Literatur des archaischen wie auch des klassischen Zeitalters übertragen.143 Entsprechend beschrieb Jaeger »die frühe und klassische Literatur der Griechen« als »eine Galerie unvergleichlicher Denkmäler des heroisch-politischen Menschentums«.144 Aus der Ahnenreihe der Dichter der vorklassischen Epoche hob er den spartanischen Elegiker Tyrtaios, den athenischen Lyriker und Politiker Solon und Hesiod aus Boiotien, den Verfasser von Lehrgedichten, als bedeutende Sozialethiker hervor. In seiner ›Paideia‹ wird Tyrtaios aufgrund seiner pathosgeladenen Rhetorik als »ein wahrer Prophet des neuen nüchtern-strengen Bürgersinns« gepriesen: Denn für ihn gebe es »nur einen einzigen Maßstab der wahren Arete, das ist der Staat und was ihm nutzt und schadet«; die »den Menschen so streng bindende Gemeinschaft« 143 144

Vgl. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 284. Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, S. 46f.

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könne damit zur »Geberin alles [sic!] idealen Wertes ihrer Bürger« umgedeutet werden.145 Auch Solons lyrisches Werk galt Jaeger als weiterer Beleg einer »einzigartigen Vereinigung der verschiedenen überindividuellen Momente […] in einer persönlichen Einheit und in der innerlich gebundenen Freiheit«. Neben dem Inhalt seiner Texte versinnbildliche auch der Stil, in dem z. B. seine Elegie auf die ›eunomia‹ abgefaßt ist, das »Zurücktreten des Selbstgestaltungswillens hinter dem Normhaften«.146 Den Befund, daß gesellschaftspolitische Vorstellungen auch professionellen Analysen eingeschrieben wurden, bestätigt auch die Studie ›Griechensehnsucht und Kulturkritik‹ von Esther Sophia Sünderhauf, die eine große Anzahl (fach)wissenschaftlicher Texte prominenter Archäologen aus den Jahren 1840 bis 1945 zu ihrem Winckelmann- bzw. Antikebild befragt hat. Für die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts konstatiert sie eine Indienstnahme der griechischen Archaik als »ethosgeladenes« Gegenideal einer liberalen und demokratischen Gesinnung: Viele Wissenschaftler hätten sich bemüht, auf »plastische Gebundenheit« als artistische Umsetzung der ethischen Sinngehalte männliche gesunde Kraft, Adel, Disziplin und Festigkeit in den Kunstwerken des frühen Griechentums hinzuweisen. Laut Verfasserin führten sie dieses angeblich charakteristische Merkmal darauf zurück, daß die untersuchten Objekte in einem aristokratischen, vordemokratischen Zeitalter angefertigt wurden.147 Eine vergleichbare Indienstnahme klassischer griechischer Werke des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts als Medium neokonservativer gesellschaftspolitischer Vorstellungen zeichnete sich gegen Ende der Weimarer Jahre ab. Gerade auf der von Jaeger initiierten altertumswissenschaftlichen Fachtagung in Naumburg 1930 wurde eine ethisch-politische Akzentuierung des Klassikbegriffs proklamiert, wie schon ein zeitgenössischer Rezensent des Tagungsbandes anmerkte.148 Bei diesem Anlaß wagte Schadewaldt den Versuch, die Kategorie ›klassische Form‹ in antiker Kunst und Literatur im Hinblick auf ihre Gegenwartsbedeutung näher zu bestimmen und sie zeitlich innerhalb des Altertums einzugrenzen. Als entscheidende ethische Dimension dieses Normativ-Urbildlichen führte er zum einen an, daß das Klassische »durch die überpersönlichen 145 146 147 148

Ders.: Paideia. Bd. 1, S. 131f. Ders.: Solons Eunomie. In: SPAW, Phil.-hist. Kl. 1926, S. 69–85, hier S. 85; S. 84. Vgl. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 261–263 (Zitat S. 261). Vgl. Kulturwissenschaftliche Bibliographie zum Nachleben der Antike. Bd. 1: Die Erscheinungen des Jahres 1931. Bearbeitet von Hans Meier, Richard Newald und Edgar Wind. Hrsg. von der Bibliothek Warburg. Leipzig, Berlin 1934 (= Nachdruck Nendeln, Liechtenstein 1968), S. 6.

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Ordnungen des Lebens bestimmt« sei, in die sich seine Konstituenzien »zu freier Unterordnung verpflichte[n]« würden. Zum anderen verwies er auf dessen »erlösendes Gebundensein an das Gute« und spielte damit auf eine Formwerdung oder Kristallisation durch geistige Organisation an.149 Ihre Manifestation erfahre die klassische Form in den Epen Homers sowie in der attischen Kunst und Literatur des fünften und vierten Jahrhunderts, aber auch im augusteischen Rom.150 Der Archäologe Ernst Langlotz, der nach eigenem Bekunden unter dem Einfluß georgeanischen Denkens stand, aber wohl auch durch seinen Lehrer Ludwig Curtius mit Denkmustern des »Dritten Humanismus« vertraut war,151 deutete Ende der 1920er Jahre literarische wie plastische Werke des Zeitraums zwischen den Perserkriegen und dem Ende der Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta als Ausdruck einer am Gemeinwesen ausgerichteten »Lebens-Haltung«, die auch für die eigene Gegenwart vorbildlich sei: Denn »in Wort, Bild und Werk« vollziehe sich die »Leibwerdung« des homerischen Menschen im Polis-Bürger, der sich durch gebundene »Einheit von Mensch und Volk, von Führer und Demos« auszeichne.152

Die weltpolitische Mission des »Dritten Humanismus« Mit einem homogenen und integrativen starken deutschen Volksverbund als neuzeitlicher Kallipolis wurde im »Dritten Humanismus« der Gedanke einer internationalen Vormachtstellung verknüpft. Diese Idee ist nicht neu: Schon zur Zeit Kaiser Wilhelms II. meldeten Ende des 19. Jahrhunderts Vertreter des radikalen nationalistischen Lagers imperialistische Ambitionen an. Im Kampf der Völker um einen Platz an der Sonne sowie um Macht und Einfluß in Europa und Übersee sollte Deutschland nicht länger tatenlos zusehen. Im Vorfeld der ›Befreiungskriege‹ zu Beginn des Jahrhunderts hatte Fichte in seinen appellativen und patriotischen ›Reden an die deutsche Nation‹ des Winters 1807/1808 die vermeintliche Besonderheit der Deutschen gegenüber den anderen modernen Nationen hervorgehoben und daraus eine noch unerfüllte geschichtliche Sendung dieses Volkes abgelei149 150 151 152

Schadewaldt: Begriff und Wesen der antiken Klassik, S. 23 bzw. S. 31. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik, S. 285–288. Ernst Langlotz: Griechische Klassik. Ihr Wesen und ihre Bedeutung für die Gegenwart. Stuttgart 1932, S. 26; S. 22–24 (hier auch die Zitate).

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tet.153 So beschwor er im Schlußabschnitt der vierzehnten und letzten Rede seine Landsleute, am Aufbau einer geeinten Nation aktiv mitzuwirken, mit folgenden Worten: »Es ist daher kein Ausweg: wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung.«154 Auch Schiller und Hölderlin hatten gerade in ihrem lyrischen Werk – zu erinnern ist besonders an Schillers Balladenentwurf ›Deutsche Größe‹155 und Hölderlins vaterländische Gesänge – Deutschland eine für die Weltgeschichte leitende kulturelle Rolle zugesprochen. Mit Bezug auf diese allerdings noch (weitgehend) kosmopolitisch verstandenen Vorstellungen begriff in der zweiten Jahrhunderthälfte Emanuel Geibel, der heute beinahe in Vergessenheit geraten ist, in der Wilhelminischen Ära aber als Nationaldichter gefeiert wurde,156 das Endziel der deutschen Politik als ein chauvinistisches: Er erklärte die vermeintliche ›deutsche Sendung‹ zu einer über den kulturellen Bereich hinausgreifenden weltpolitischen Mission und wies ihr damit eine radikale imperialistische Facette zu. In einem seiner Gedichte mit dem bezeichnenden Titel ›Deutschlands Beruf‹ findet sich als Schlußfolgerung die vielzitierte und häufig instrumentalisierte nationalistische Wendung »Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen«,157 die diese noch ausstehende ›Verpflichtung‹ der Deutschen kurz und bündig und auf eingängige Weise formuliert. In der Folge des Ersten Weltkrieges, besonders aber seit Mitte der zwanziger Jahre wurde auch von den Anhängern des »Dritten Humanismus« dieses sinnstiftende Motto für ihre Paideia-Konzeption fruchtbar 153

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Vgl. Fichte: Reden an die deutsche Nation, S. 246 [VII, 499]: »Ist in dem, was in diesen Reden dargelegt worden, Wahrheit, so seid unter allen neuren Völkern ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entschiedensten liegt, und denen der Vorschritt in der Entwicklung derselben aufgetragen ist.« – Vgl. auch S. 106 [VII, 359]; S. 113f. [VII, 366f.]. Ebd., S. 246 [VII, 499]. Vgl. Friedrich Schiller: Deutsche Größe (wohl Frühjahr/Sommer 1801). In: NA 2,1, S. 431–436. Hier heißt es euphorisch: »Ihm [i. e. dem deutschen Sohn, BS] ist das höchste bestimmt, / Und so wie er in der Mitte von / Europens Völkern sich befindet, / So ist er der Kern der Menschheit« oder »Jedes Volk / hat seinen Tag in der Geschichte, doch / der Tag der Deutschen ist die Aernte der / ganzen Zeit« (S. 433). – Die oben angegebene Datierung des Gedichtentwurfs beruht auf dem Kommentar folgender Ausgabe: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel. München 2004, hier Bd. 1, S. 954. Vgl. Theodor Verweyen und Gunther Witting: Emanuel Geibel: ›Dichterfürst‹ und ›Fürstenknecht‹. In: Verehrung, Kult, Distanz, S. 219–242, hier S. 220. Emanuel Geibel: Deutschlands Beruf (1861). In: Geibels Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Hrsg. von Wolfgang Stammler. 3 Bde. Bd. 2: Neue Gedichte. Leipzig, Wien o. J. [1918], S. 219f., hier S. 220.

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gemacht. Ging es ihnen früher ausschließlich darum, den allseitig ausgebildeten Deutschen auf seine Aufgabe innerhalb der Nation vorzubereiten, so sollte nun ein künftiger deutscher Volksverbund zum Vorbild für ganz Europa, ja die gesamte westliche Hemisphäre aufsteigen. Deutsche Mentalität, aber auch deutsche Staats- und Gesellschaftsform sollten wegweisend für die gesamte Menschheit werden. Diese anmaßende Zielsetzung implizierte einerseits eine Erweiterung der Bildungsutopie um internationale Aspekte, andererseits aber auch ihre Verengung durch die deutliche Zuspitzung auf die Bedürfnisse einer kleinen Führungselite. Der übersteigerte Nationalismus und der radikale Zukunftsglaube der Deutschen, die beide auch in den politischen Optionen eines Jaeger, Spranger und des George-Kreises zum Ausdruck kamen, wurden durch die scheinbare Konsolidierung ihres Landes im Zeitraum von 1924 bis 1928 begünstigt; so halfen eine entspannte innenpolitische Situation, wirtschaftlicher Aufschwung, kulturelle Blüte in den Metropolen, außenpolitische Erfolge und herausragende wissenschaftliche Leistungen den Deutschen, ihr brüchig gewordenes Selbstbewußtsein zu stabilisieren und gleichzeitig internationales Ansehen wiederzuerlangen. Das neue Selbstwertgefühl, die Überzeugung, ›wir Deutschen sind wieder wer‹, paarte sich mit dem nachdrücklichen Verlangen, den rasanten nationalen Aufschwung durch Mobilisierung aller Kräfte – besonders der Jugend – noch weiter anzukurbeln. Folglich fanden Leistungsdenken und kämpferische Ambitionen auch Eingang in den Bildungssektor, und die Vertreter des »Dritten Humanismus« gaben ihrer Konzeption eine stark martialische Note. Dabei konnten sie sich wiederum auf Nietzsche beziehen. In Schulen und Jugendorganisationen, Orten, an denen das geregelte Zusammenleben im Mikrokosmos praktiziert wurde, wo es charismatische ›Führer‹ und hingebungsvolle Geführte gab, sollte die männliche Jugend auf ihre neue und verantwortungsbewußte Funktion in Theorie und Praxis vorbereitet werden. Auf dem Gymnasium kam deshalb neben dem alten Fächerkanon und seinen Inhalten nun der ethisch ausgerichteten Staatsbürgerkunde eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu; staatsbürgerliche Unterweisungen wurden vor allem in den Unterricht der gesinnungsbildenden Fächer Deutsch und Geschichte, aber auch der alten Sprachen integriert. Das Griechische und Lateinische – so die allgemeine Überzeugung – böten sich für die Vermittlung von patriotischem Staatsethos und imperialistischem Gedankengut geradezu an, weil die antike Überlieferung einen großen Fundus staatsphilosophischer und ethisch-politischer Texte bereitstelle, aus denen sich prägnant die Vorstellung von »Führertum und Gefolgschaft«, die favorisierte korporativistische Staats- und Ge252

sellschaftsform, kämpferische Gemeinschaftstugenden und imperialistische Bestrebungen ableiten und exemplifizieren ließen. Ein Blick auf die zeitgenössischen Lehrpläne bestätigt eine solche ideologische Ausrichtung des höheren Schulwesens in der Endphase der Weimarer Republik. Wie auch in der Zeit um 1900 fungierte die Philologie als Transmitterin der nunmehr aktuellen und Leben stiftenden Leitgrößen Gemeinschaftsgeist und Staatsethos. Gemäß dem sprangerschen Diktum – [p]olitische Erziehung ist noch mehr als ein Begeistern mit dem Herzen und ein Bemeistern mit dem Verstand: sie ist Eingliederung der ganzen Seelenkraft in organisierte feste Form –158

kam in dieser Phase neben der Vertiefung der patriotischen Gesinnung auch der Ausbildung, Entwicklung und Umsetzung bzw. Erprobung paramilitärischer Tugenden (wie z. B. Siegeswille, Durchhaltevermögen, Zähigkeit, Härte, Gehorsam) eine verstärkte Aufmerksamkeit zu. In diesem Zusammenhang erfuhr der Sport als Instrument der Körperausbildung und Leibesertüchtigung eine Aufwertung. Im sportlichen Wettkampf mit Gleichaltrigen konnte die eigene Leistungsfähigkeit stimuliert, erprobt und unter Beweis gestellt werden. Von besonderer Bedeutung für die humanistische Bildungskonzeption der 1920er und frühen 1930er Jahre war aber auch die Förderung des großen Einzelnen als Schöpfer der Gesamtkultur, d. h. als Initiator international ausstrahlender Macht und bleibenden Einflusses in kultureller wie politischer Hinsicht. Diese – ausschließlich maskulin gedachte – ›deutsche‹ Führerpersönlichkeit sei für die zukünftigen Geschicke der Nation verantwortlich; allein sie vermöge es, Harmonie und Zufriedenheit nach innen zu erzeugen und Einfluß bzw. Macht nach außen zu sichern. In ihrer Person kulminiere das für alle anderen Nationen vermeintlich Nachahmenswerte. Im Laufe der Zeit wurde die Idee des großen Mannes, der in der Lage sei, das nationale Geschick zu befördern, verstärkt mit dem politischen Genie gleichgesetzt. Daher wurden gerade Napoleon als Beispiel eines Praktikers und der Theoretiker Platon als Projektionen für Machtphantasien ausgewählt und usurpiert. Der Führerkult wurde schließlich derartig sakralisiert, daß er als Religionssurrogat fungieren konnte; damit wurde der Führerideologie des »Dritten Reiches« ein Nährboden bereitet. 158

Spranger: Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen Deutschland. In: GRA, S. 19.

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Das populäre deutsche Sendungsbewußtsein und die verbreitete Tendenz, den Sport als Instrument der Selbstdisziplinierung und der eigenen Ertüchtigung aufzuwerten, gehen auf die prominente Vorstellung vom Kampf der Völker um die Suprematie in Europa und der Welt zurück. Ganz im Sinne des später von Hitler geprägten Mottos, »[n]ur wer dauernd nach Höchstleistungen strebt, kann sich in der Welt durchsetzen«,159 wurde auch im »Dritten Humanismus« das ›deutsche Werden‹ zu einem heroischen Wettkampf stilisiert. Als Vorbild einer derartig agonal ausgerichteten Gesellschaft galt seinen Vertretern – analog zu Nietzsches Griechenbild – das frühe Griechentum, in dem sie Leistungsdenken und aristokratische Prinzipien verwirklicht glaubten. Dabei deuteten sie das archaische Hellas nicht ausschließlich als nachahmenswertes Ideal, sondern verbanden mit ihm die Vorstellung eines großen Bruders, von dem man lernen, an dem man sich messen und den man herausfordern könne. Das Bemühen, den deutschen Staat neu zu formen und an seinem glänzenden Wiederaufstieg zur prägenden Macht in Europa mitzuwirken, sowie der lebenswissenschaftliche Hintergrund schufen eine deutliche Affinität des »Dritten Humanismus« zum »Dritten Reich«. Mit der Annäherung an radikale nationalistische und rassenhygienische Vorstellungen wurde eine nicht ungefährliche politische Funktionalisierung von Bildung betrieben und damit Humboldts altehrwürdiges Ideal einer Individualbildung in freiheitlicher Selbstbestimmung und unter bestmöglicher Entwicklung aller Anlagen des Menschen zerstört. Eine Erziehung, die lediglich auf nationale und gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse ausgerichtet ist, verengt nicht nur die ursprüngliche, immer auch kosmopolitisch gedachte Idee allgemeinmenschlicher Bildung unabhängig von Religion, ethnischer Zugehörigkeit und sozialer Herkunft, sondern macht sie auch zu einem Instrument totalitären, systemkonformen Einheitsdenkens. Deutschland als künftige Avantgarde der Welt Der deutsche Avantgarde-Gedanke, auf den sich auch der »Dritte Humanismus« berief, hat eine lange geistesgeschichtliche Tradition. Bereits die Genie-Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts schrieb ruhmvollen Einzeltaten, die sich (noch überwiegend) auf die künstlerisch-kulturelle Sphäre beschränkten und als allgemeinmenschliche Leistungen gal159

Hitler zitiert nach Henning Eichberg: Sport zwischen Ertüchtigung und Selbstbefreiung. In: Erfindung des Menschen, S. 459–481, hier S. 475. – Dieser ›Sinnspruch‹ wurde wohl zuerst 1935 in der Rede zum NSKK-Führerappell verwendet, 1939 dann für ein Werbeplakat der Deutschen Arbeitsfront.

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ten, durch mythologische Überhöhung quasi-messianische Qualitäten zu. Nach dem Ende der Kunstperiode wurden derartige Leistungen als kollektiv-nationale Handlungen usurpiert und damit politisch aufgeladen. Sie konnten nun als treffende Beispiele für die erfolgreiche Nationalgeschichte herangezogen, ja sogar überspitzt zu Großtaten für die europäische Menschheit erklärt werden. Eine ausgeprägte Orientierung an der Vergangenheit bedeutete immer auch eine Abwertung der eigenen Zeit. So forderten viele Intellektuelle und Künstler unter dem Eindruck der Reichsgründung 1871, der erfolgreichen Konstituierung einer deutschen Staatsnation, selbstbewußt, sich für die Zukunft nicht mehr mit einer epigonalen Stellung gegenüber der tätigen Vätergeneration zufriedenzugeben. Entsprechend erklärte Max Weber in seiner vielbeachteten Freiburger Antrittsrede 1895: »Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art«.160 Der liberalen Grundhaltung zum Trotz verdeutlicht Webers Aufruf den prägenden Einfluß, den sozialdarwinistische Theoreme auch oder gerade auf die geisteswissenschaftliche Elite ausübten. Die Vorstellung vom brutalen Überlebenskampf der Völker untereinander, in dem sich die am besten vorbereitete bzw. optimal ausgestattete Ethnie durchsetze, sowie die Überzeugung, durch Züchtungsprinzipien gezielt auf die Entwicklung der Menschheit (und damit auch auf die des eigenen Volkes) Einfluß nehmen zu können und ihren Fortgang zu befördern, avancierte zu einem ontologisch-kulturhistorischen Grundprinzip, das sich für nationalistische Anliegen gut vereinnahmen ließ. Besonders stark wurde es in Zeiten des nationalen Aufbruchs – zu Beginn des Ersten Weltkrieges, gegen Ende der Weimarer Jahre, im »Dritten Reich« – reklamiert. Unter Zuhilfenahme einer anderen zeitgenössischen ›Erkenntnis‹, die aus der Evolutionsbiologie in die politisch aufgeladene Geistesgeschichte Eingang fand – der vermeintlichen Existenz höher- und minderwertiger Rassen –, konnte die idealisierte Vorstellung, die Deutschen verkörperten eine geistige, kulturelle oder politische Elite, umgedeutet werden zu einer allgemeinen geistigen und körperlichen Superiorität der ›germanischen Art‹. Diese übersteigerte und radikale These mit ihren fatalen Folgen formulierte erstmals Joseph Arthur Graf von Gobineau in seiner rassentheoretischen Schrift ›Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen‹,161 160

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Max Weber: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895) [= Freiburger Antrittsrede]. In: Ders. Gesammelte politische Schriften. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuss hrsg. von Johannes Winckelmann. 4. Aufl. Tübingen 1980, S. 1–25, hier S. 14. Joseph Arthur Comte de Gobineau: Essai sur l’inégalité des races humaines. Paris

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die in vier Bänden zwischen 1853 und 1855 in Paris erschien. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wirkte sie nachhaltig auf den Kulturpessimisten Richard Wagner; auch fand sie – vermittelt duch Ludwig Schemann – großen Anklang in chauvinistischen deutschen Kreisen.162 Wie viele national gesinnte Intellektuelle in Deutschland verknüpften Jaeger, Spranger sowie George und seine Anhänger mit der schöpferischen Eruption des ›deutschen Wesens‹ in der Folge der Kriegserlebnisse der Jahre 1914 bis 1918 den Beginn seiner lange ersehnten geschichtlichen Sendung. Dieses Denkmuster wurde ideologisch untermauert durch die populäre Deutschtumsphilosophie, in deren Zentrum Fichtes Urvolk-Theorie stand. Fichtes nationalpolitische Schriften erlebten aufgrund ihrer angeblichen Gegenwartsrelevanz gerade in den Kriegsjahren eine ungeahnte Renaissance.163 So assoziierte der rechtskonservative Philosoph Rudolf Eucken 1916 in einem Beitrag über ›Fichtes Reden an die deutsche Nation‹ mit dem Kriegsgeschehen deutsche Befreiungstaten für die gesamte Menschheit. Seiner Ansicht nach ermögliche erst der große Kampf eine klarere und reinere Herausarbeitung der ›deutschen Art‹, »zum Segen für uns selbst zum Heil auch für das Ganze der Menschheit«.164 Eine ähnliche Auffassung vertrat Gundolf in dem bereits zitierten Brief an seinen Kollegen Gustav Roethe aus der letzten Augustwoche 1914. Er schrieb in Anspielung auf Hölderlins Ode ›Gesang des Deutschen‹, durch die »ungeheuren« Kriegstage sei Deutschland in eine ›glückliche‹ Lage versetzt worden: [Es wird, BS] nicht nur ›das heilige Herz der Völker‹, sondern auch der heilige Leib […]. Es gibt wohl jetzt kein andres Volk mehr von dem man eine

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1853–1855 (Dt.: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen. Übersetzt von Ludwig Schemann. 4 Bde. Stuttgart 1898–1901). Vgl. Manfred Fuhrmann: Die humanistische Bildungstradition im Dritten Reich. In: Der Mensch in Grenzsituationen. Hrsg. vom Württembergischen Verein zur Förderung der humanistischen Bildung. Stuttgart 1984 (= Humanistische Bildung 8), S. 139–161, hier S. 149f. Zur Fichte-Begeisterung um 1914 siehe grundlegend Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn u. a. 2004, Kap. IV.2.a–IV.2.b, hier v. a. S. 293–305; Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. Basel, Stuttgart 1963, S. 200–207; Jens Nordalm: Fichte und der »Geist von 1914«. Kulturgeschichtliche Aspekte eines Beispiels politischer Wirkung philosophischer Ideen in Deutschland. In: Transzendentale Logik. Hrsg. von Klaus Hammacher, Richard Schottky und Wolfgang H. Schrader. Amsterdam, Atlanta 1999 (= Fichte-Studien 15), S. 211–232. Rudolf Eucken: Fichtes Reden an die deutsche Nation. In: Bühne und Welt. Monatsschrift für das deutsche Kunst- und Geistesleben 18 (1916), Heft 1, S. 11–16, hier S. 16.

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Weltwerdung erwarten darf, wenn es nicht die Deutschen leisten. Nur hier ist noch bildsame Glut, Wahrheit und Zucht als Volksbedürfnis und Gesamtforderung.165

In seinem bellizistischen Aufruf ›Tat und Wort im Krieg‹ trug er diesen Anspruch ein weiteres Mal vor; hier insistierte er, »die künftige Kulturwelt aber, das heißt ein neues Reich der europäischen Werte, hat gerade der d e u t s c h e G e i s t zu bestimmen«.166 Die ihm zugeschriebene Führungsfunktion läßt sich nach georgescher Auffassung mit seiner besonderen Disposition begründen. Glöckner überliefert ein Gespräch mit dem ›Meister‹ aus dem Jahr 1916, in dem »[d]ie eruptive Veranlagung des Deutschen und des ganzen Volkes, das zeitweilige Hervorbrechen des Großartigsten«, abgesetzt wurde von ›Charaktereigenschaften‹ der anderen Völker: Sie regiere lediglich »das Gleichmäßige, das schöne, aber nicht gerade tiefe [außerordentliche] Niveau«.167 Aber auch in den Jahren nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, in einer Phase internationaler Kaltstellung und Diffamierung zu Beginn der zwanziger Jahre, legten viele Geisteswissenschaftler ihr überhöhtes Selbst- und Sendungsbewußtsein nicht ab. Immer noch galt ihnen – wie der konservativen Elite insgesamt – Fichte als der Gewährsmann schlechthin für die noch ausstehende Weltmission des deutschen Volkes. Sie begründeten ihre überschwengliche Parteinahme für Fichte folgendermaßen: Da er doch während des französischen Einfalls in Preußen 1806/ 1807 mit seinem aufrichtenden und stärkenden Zuspruch den späteren, entscheidenden Befreiungsschlag motiviert habe, könnten seine Theoreme auch in der gegenwärtigen Krise Trost und Antriebskraft für künftige Aufgaben spenden. Bei der Realisierung der noch ausstehenden Zukunftsaufgaben kam der deutschen Jugend, der Generation der heranwachsenden, gymnasial gebildeten Männer, eine herausgehobene Funktion zu. Denn sie blickten einer weiten Zukunft entgegen und verfügten über ein großes, noch formbares mentales wie physisches Potential. Bereits um die Jahrhundertwende faßten die Lyriker der ›Blätter‹-Runde den Traum vom deutschen Genius, von dem Leben zugewandten, jugendlichen Kalokagathoi als maßgeblichen Impulsgebern des gesellschaftlichen Aufbruchs in kunst165 166 167

Gundolf an Gustav Roethe, 27.08.1914. In: Gundolf. Briefe, N. F., S. 143. Ders.: Tat und Wort im Krieg, S. 2. Ernst Glöckner: Begegnung mit Stefan George. Auszüge aus Briefen und Tagebüchern 1913–1934. Hrsg. von Friedrich Adam. Heidelberg 1972, S. 72 (Tagebucheintrag vom 21.02.1916).

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volle Worte.168 Ein ähnliches Bild der heranzubildenden Jugend, wie es mit diesem Aphorismus entworfen wurde, zeichnete Gundolf 1920 in seiner George-Biographie. Allerdings impliziert seine Beschreibung bereits die Idee von der Profilierung der jungen Griechen in den jungen Deutschen. Denn indem er den werdenden deutschen Jüngling in einem Atemzug mit dem legendären jugendlichen Strategen Alexander mit dem Beinamen ›der Große‹ nennt, projiziert er das ›Menschsein‹ des Makedonenkönigs auf die Deutschen – seine »vollkommene Jugend«,169 seine Führungsqualitäten, seinen Machtwillen und sein Kalkül sowie sein geistiges Profil, d. h. seinen ethisch-philosophischen Bildungshintergrund als Zögling des Aristoteles. Damit prophezeit er dem künftigen Deutschen eine ähnlich heroische Leistung in menschenbildnerischer und weltpolitischer Hinsicht, wie sie einst Alexander vollbrachte. In ›Dichter und Helden‹ würdigt Gundolf diesen jungen Herrscher als »Verewiger« der Jugend, als eine kosmische Urform des Gesamtmenschen. Trunken und wissend, früh und reif, einfach und umfassend, magischer Wandrer und politischer Städtebauer, ein Wunderkönig des Ostens und das Modell des Lysipp, legendär und wirklich.170

Der deutschen Jugend, die er als Wiedergeburt des antiken ›imperator mundi‹ feiert, prognostiziert er deshalb auch einen bleibenden Platz im kulturellen Gedächtnis und eine ewige Stellung in der Menschheitsgeschichte. Denn – wie er in ›George‹ herausstellt – sei [d]eutsche Jugend […] eine Weltkraft, von der Jugend aller anderen Völker unterschieden, eine geistig sinnliche Urform des Menschtums derengleichen seit dem griechischen Jüngling, seit dem Tod Alexanders auf Erden nimmer erschienen ist. […] Und nur diese beiden Völker kennen auch die Gewalt die aus dem schönen Leib die Heldentaten und die Götterbilder zeugt.171

George und Gundolf behielten ihre Jugendprojektionen nicht ausschließlich dem rein ästhetischen Bereich des Künstlerisch-Artifiziellen vor, sondern wiesen ihnen durchaus Wirklichkeitspotential zu. Sie beteuerten, wenn die heranwachsenden jungen Männer sich an Gleichaltrigen im an168

169 170 171

Zum besseren Verständnis wird hier der entscheidende Satz noch einmal zitiert: »Die jugend die wir vor uns sehen gestattet uns den glauben an eine nächste zukunft mit höherer lebensauffassung vornehmerer führung und innigerem schönheitsbedürfnis.« [Neue Träume. In: BfdK 5 (1900/1901), S. 4]. Friedrich Gundolf: Dichter und Helden. 2. Aufl. Heidelberg 1923, S. 53. Ebd., S. 54. Ders.: George, S. 205f.

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tiken Hellas ausrichteten und an ihrem Beispiel lernten, ihr ›Deutsch-Sein‹ als Sollen bzw. ethische Bestimmung und übergreifendes Prinzip zu verstehen, könne das Traumgesicht in die Realität überführt werden. Deshalb appellierten George und seine Dichterfreunde in einem ›Blätter‹Aphorismus bereits 1897 an die junge Generation, sie möge wie die heranwachsenden Hellenen »ihr volkstum gross und nicht im beschränkten sinne eines stammes auffassen«.172 In diesen frühen Worten schwingt bereits die für die Weimarer Jahre charakteristische Vorstellung von der unmittelbar bevorstehenden kulturellen und politischen Weltmission mit, der »Glauben an den Tag des Deutschen, an den Genius der Nation«.173 Aber auch in der vorletzten, versöhnlich stimmenden Strophe in Georges apokalyptischer Dichtung ›Der Krieg‹ aus dem Jahr 1917 verkündet das artikulierte Ich, daß dem werdenden Deutschland »viel verheissung / Noch innewohnt«.174 Denn der Ausgang des Kampfes der Kulturen, der im Ersten Weltkrieg nur seinen äußeren Ausdruck gefunden habe, sei lange im Vorfeld von höheren Mächten zugunsten des lichtbringenden Volkes beschlossen worden: Apollo lehnt geheim An Baldur […] Der kampf entschied sich schon auf sternen: Sieger Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann.175

Mit der Ägide der ›Sonnenerben‹ –176 hier symbolisch ins Bild der gegenseitigen Annäherung der griechischen und germanischen Lichtgottheit gefaßt – ist das Wirken der humanistisch gebildeten Jugend zu assoziieren, denn nur sie sei in der Lage, in ihrem ›Wesen‹ sowohl Germanisches als auch Altgriechisches produktiv zu vereinigen. Morwitz mutmaßt in seinem Kommentar zu Georges lyrischem Werk, daß dieser mit dem erwähnten Palladium auf das Schutzbild anspielte, das Odysseus in Vergils ›Aeneis‹ (II,161–171) aus dem heiligen Tempel entwendet habe und dessen Verlust »Untergang zur Folge haben sollte«. Ferner sei die »im Palladium dargestellte Athene zum Sinnbild für die besondere jugendliche 172 173

174 175 176

Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel. In: BfdK 4 (1897), Heft 1/2, S. 4. Ernst Kantorowicz: Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte. Ediert und mit einem Kommentar versehen von Eckhart Grünewald. In: DA 50 (1994), S. 104–125, hier S. 125. George: Der Krieg. In: SW IX, S. 26. Ebd. Vgl. auch Georges ›Hyperion‹ (In: SW IX, S. 14).

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Kraft der Griechen geworden«. Aus diesen Hinweisen läßt sich wiederum folgern, daß sich George aus den Reihen der neuen Jugend, die sich an griechischen Idealen orientieren sollte, ohne dabei aber ihre germanischen Wurzeln zu vernachlässigen, den Aufstieg des ersehnten Führergenies erhoffte.177 Die Vorstellung von der Überlegenheit der Deutschen und ihrer daraus resultierenden universalhistorischen Bedeutung wurde im »Dritten Humanismus« mit dem unwidersprochenen Topos der vermeintlich engen Verbindung von alten Griechen und modernen Deutschen begründet. Da die Griechen dem Ziel, ihre ›Art‹ zu vollenden, am nächsten gekommen seien, könne diese Fähigkeit, die sie als Erbe an die ›seelenverwandten‹ Deutschen übergeben hätten, im gegenwärtigen Deutschen wiedererweckt werden; der auf diese übergegangene »hellenische Strahl« sei nur durch ethisch-gesellschaftspolitische Paideia zum Leuchten zu bringen. Innerhalb dieses nationalen ›Illuminationsprozesses‹ schrieb Jaeger die entscheidenden, wirkmächtigen Impulse einer kleinen geistig-künstlerischen Elite zu.178 Auch Spranger vertrat die Idee einer männlichen Avantgarde, die sich für die Geschicke des Volkes verantwortlich zeige und alle Angehörigen der Gemeinschaft zu nationaler Vollendung führe. So forderte er für die Zukunft tatbereite und der Augenblickslage gewachsene Köpfe an der Spitze des Staates, […] Menschen, in denen die überindividuelle Wucht und Würde des Staates zum Lebenselement geworden ist, und die sich in diesem sittlichen Dienst verzehren.179

Die hier angesprochene Funktionselite bzw. staatstragende Schicht sei durch eine politisierte Paideia zu formen, die ein kollektives Denken und Handeln im Einklang mit korporativistischen Ordnungsvorstellungen auszubilden helfe, zugleich aber auch Führungsqualitäten stimuliere und stärke.

177 178 179

Vgl. Morwitz: Kommentar zum Werk Stefan Georges, S. 426 (dort die Zitate). – Siehe auch Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg, S. 209ff. Vgl. Jaeger: Staat und Kultur. In: HRV, S. 213. Eduard Spranger: Hochschule und Staat (1930). In: GS 10, S. 189–224, hier S. 206.

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Der Staat als Erzieher der Nation: Die Schule als Ort der »Volksgemeinschaft« In ihrer kurzen Geschichte der deutschen Bildungsidee stellt Aleida Assmann dem humanistisch-paganen Bildungsgedanken – dem alten Bild vom Saatkorn, das durch Pflege seiner gesamten inneren Anlagen ungehindert heranreifen kann – prägnant den religiösen, christlich-mystischen gegenüber, mit dem sie den Akt des Stempelns, das Prägen einer einheitlichen Form, assoziiert.180 Auch wenn klar sein dürfte, daß es sich hier um eine überspitzte Opposition handelt, ist der »Dritte Humanismus« – seinem Namen zum Trotz – nicht ausschließlich der humanistisch-paganen Tradition zuzuordnen. Vielmehr verkörperte er beide Bildungsvorstellungen, jedoch mit wechselnder Akzentuierung: Während im Zeitraum von 1890 bis 1914 die humanistisch-pagane Tradition die Paideia-Konzeption bestimmte, begünstigte die zunehmende Politisierung des Lebens mit ihrem Appell an das National- und Gemeinschaftsgefühl die Dominanz der christlich-mystischen Richtung, denn mit den Kriegserfahrungen war auch die Zuversicht gewachsen, daß gesellschaftliche Reformen durch Erziehungsprozesse – durch gezielte äußere Konditionierung des menschlichen Verhaltens – zu steuern seien.181 In der Phase intensivierten politischen Engagements fungierte der Staat mit seinen Institutionen als äußere Prägeinstanz. Seine Glieder sollten derartig modelliert werden, daß eine konforme Gemeinschaft entstehe; denn als allgemeingültige Überzeugung galt es, daß der einzelne seine Sittlichkeit ausschließlich durch das Gemeinwesen erlangen könne. Wie in einem geistlichen Orden sollte der Glaube an Erlösung durch dienende Gefolgschaft den entscheidenden Anreiz bieten für ein aufopferungsvolles Leben in Hingabe und Demut zum Wohl der Gesamtheit. In säkularisiertem Kontext wurde so der alte mystizistische Chiliasmus in eine weltliche Religion mit dem Heilsversprechen eines kommenden neuen Weltreiches deutscher Prägung umgedeutet.182 Jaegers Münchner Platon-Vorlesung 1927 stand ganz unter dem Eindruck einer solchen Erlösung suggerierenden, staatskonformen Gesinnungsbildung. So betonte er unter Bezugnahme auf den antiken Philoso180 181

182

Vgl. A. Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis, S. 20. Vgl. Friedrich Wolters: Von der Herkunft und Bedeutung des Marxismus. In: Bilder und Studien aus drei Jahrtausenden. Eberhard Gothein zum siebzigsten Geburtstag als Festgabe dargebracht von Georg Karo u. a. München, Leipzig 1923, S. 243–274, hier S. 258–261. Vor allem bei Helbing [= Frommel]: Der Dritte Humanismus, S. 25f.

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phen, »der einzige und eigentliche Sinn des Staates« sei es, seine Bürger zu erziehen, denn der einzelne Mensch empfängt sein Gepräge und das Ethos seiner Existenz durch den Geist des Staates, in den er durch seine Erziehung hineingeformt wird. Alles Bilden ist gebunden an das Vorhandensein einer solchen allgemeinen überindividuellen Form.183

Ähnlich argumentierte Spranger 1911 in dem Beitrag ›Fichte als politischer Denker‹. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts hatte er in mehreren kleineren Abhandlungen184 die Vernachlässigung einer überindividuellen und sittlichen Erziehung des einzelnen im deutschen Bildungswesen beklagt. Mit dem Fichte-Vortrag knüpfte er an dieses Defizit an; am Beispiel des populären Nationalerziehers, auf den er die eigenen Wünsche, aber auch ihre Realisierung übertrug, entwickelte er seine Vorstellung von einem humanistisch-politischen Bildungsideal, das alle Individuen zu einem von Gott gegebenen, aber auch ihm verpflichteten Volksverbund verschmelze. Das Fundament einer solchen Erziehungskonzeption habe Fichtes Leitgedanke abzugeben: Der nationale Staat ist […] der wahre Erzieher der Nation. Religion, Sittlichkeit und Wissenschaft gehören zum Staatszweck; der Staat ist der höchste Verweser der menschlichen Angelegenheiten, und als der Gott und seinem Gewissen allein verantwortliche Vormund der Unmündigen hat er das vollkommene Recht, die letzteren auch zu ihrem Heile z u z w i n g e n . Mag er auch in einem höchsten Sinne immer Mittel bleiben, so hat er doch idealen I n h a l t , er ist […] ein Organismus, durch und durch von Leben durchströmt.185

Das hier angesprochene Heil, das auch dem einzelnen zu seinem Wohl aufgezwungen werden dürfe, werde diesem aber erst gewährt, wenn er den für ihn im nationalen Staat vorgesehenen Platz eingenommen und ausgefüllt habe. Gerade von Pädagogen und Lehrern der höheren Schulen erwartete man Unterstützung bei der Vorbereitung der Jugendlichen auf diese verantwortungsvolle Aufgabe. Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Bildungsprozeß sei es, daß alle Volkserzieher ihren Bildungsauftrag als Kulturauftrag auffaßten. Daraus resultiere erstens, daß 183 184

185

Jaeger: Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung. In: HRV, S. 150f. Z.B. Eduard Spranger: Politische Erziehung. Handschriftliches, unveröffentlichtes Manuskript (5 Seiten) – eine Kopie des (verschollenen) Manuskripts befindet sich im Spranger-Archiv der Technischen Universität Braunschweig; ders.: Humanismus und Realismus; ders.: Das moderne Bildungsideal. In: Natur 4 (1913), S. 123–127. Ders.: Fichte als politischer Denker. In: Deutscher Frauenbund 3 (1911), S. 51–53; S. 67–71, hier S. 71.

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sie ihre Zöglinge zur Teilnahme am kulturellen Leben der Nation, das man sich in engem Wechselverhältnis mit dem staatlichen dachte, anregen und motivieren würden.186 Zweitens garantiere eine solche Haltung, daß ein Kulturbegriff vermittelt werde, dem Schutz und Förderung der Kultur durch den Staat eingeschrieben seien, der aber zugleich zeitgenössische gesellschaftspolitische Zielsetzungen und staatliche Ordnungsvorstellungen ideologisch stütze. Denn, wie Jaeger betonte, setze die jetzt heranwachsende Jugend […] mit ihrem Lebensbedürfnis überhaupt nicht so sehr beim Geistigen ein wie bei der Politik, und es wäre kaum möglich, ihr für eine gegen den Staat gleichgültige Wissenschaft oder Kunst ein ernstliches Interesse abzugewinnen.187

Vor diesem Hintergrund forderte Spranger einen modernen, den gegenwärtigen Erfordernissen Rechnung tragenden Arbeitsunterricht ein, wie er von seinem Kollegen und engen Freund, Georg Kerschensteiner, konzipiert wurde. Diese Lernform bzw. Unterrichtsmethode sollte die »Stählung der Energie, des Zielbewußtseins und Pflichtgefühls« sowie die »Arbeitskraft und Selbstzucht« des Heranwachsenden begünstigen.188 Durch methodische Neuerungen, wie die Integration von Arbeitsgemeinschaften in das Unterrichtsgeschehen, könnten soziale Schlüsselkompetenzen – z. B. die für das harmonische Miteinander im Staat unentbehrlichen Fertigkeiten Herrschen, Gehorchen und Helfen, aber auch gegenseitiges Geben und Nehmen – in der Schule aktiviert, eingeübt und vertieft werden. Als Resultat dieser Maßnahmen werde die Schule in ihrem Ganzen […] eine L e b e n s g e m e i n s c h a f t , in der die sozialen und politischen Bedingungen des großen Lebens sich spiegeln. Dies ist die einzige Form staatsbürgerlicher Erziehung, daß der junge Mensch früh hineinwachse in die Erfahrungen des Gemeinschaftslebens. Anfänge der Selbstverwaltung, Arbeitsteilung und Ämterteilung sind in der Schule möglich.189

Allerdings warnte man davor, diesen neuartigen Gemeinschaftsgeist lediglich in Arbeitsgemeinschaften oder Klassen- bzw. Unterrichtsprojekten zu erproben und weiterzuentwickeln; vielmehr sei ihnen als theoretische Ergänzung das neu einzuführende Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde an die Seite zu stellen. In ihm sollte neben der Erarbeitung ethisch-politischer so186 187 188 189

Vgl. ders.: Zum Geleit für 1915, S. 5. – Siehe auch ders.: Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen Deutschland. In: GRA, S. 22. Jaeger: Staat und Kultur. In: HRV, S. 201. Spranger: Das moderne Bildungsideal, S. 126, Sp. 1. Ebd., S. 126, Sp. 2.

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wie sozialer Kompetenzen verstärkte Realienkunde betrieben werden;190 nach Jaegers Mitstreiter Pohlenz hatte seine Zielsetzung darin zu bestehen, »überhaupt Staatsgesinnung zu wecken, Klarheit über die politischen Grundbegriffe zu bringen, vaterländisches Wollen zu stärken.«191 Staatsgesinnung, nationale Kultur und Bildung wurden im »Dritten Humanismus«, besonders in der Zeit nach 1914, eindeutig männlich konnotiert und entsprechend als nur diesem Geschlecht vorbehalten gedacht. Als anzustrebende Ideale fungierten die Charakterdispositionen Machtwille, Mut, Durchsetzungsvermögen, Kraft bzw. Wehrhaftigkeit, die sich aus einer als maskulin klassifizierten soldatischen griechischen Kultur nietzscheanischer Auslegung192 ableiten ließen. So mag es auch nicht allzusehr verwundern, daß sich der George-Anhänger und Heidelberger Nationalökonom Edgar Salin für die Einführung »einer Art staatstragenden Wehrkundeunterrichts« im Gymnasium aussprach. Dieser habe, wie es in einem mit ›Volk und Heer‹ überschriebenen Manuskript aus seinem Nachlaß heißt, die »Eingliederung des Heeres auch in die geistige Erziehung unsres Volks«193 zu sichern. Allerdings wurde die Idee eines eigenständigen Unterrichtsfaches für staatsbürgerliche oder gar wehrkundliche Erziehung Mitte der 1920er Jahre verworfen; die preußischen Lehrpläne wiesen statt dessen nun die Vermittlung kämpferischer Tugenden und staatskonformen Denkens dem Geschichtsunterricht sowie den Latein- und Griechischstunden als zusätzliche Aufgabenfelder zu.194 Als mustergültig kann in diesem Zusammenhang der Lehrplanentwurf des Deutschen Altphilologenverbandes aus dem Jahr 1930 herangezogen werden. Er ist als Versuch zu werten, einheitliche und konsensfähige Richtlinien für das Gymnasium der Zukunft festzuschreiben, das vor der Folie des antiken ›homo politicus‹ einen ethischpolitisch gebildeten Menschentypus, den deutschen Staatsbürger par excellence, verwirklichen möchte. Die Eingabe beruht auf dem maßgeblichen Gedanken, daß eine künftige »Volksgemeinschaft« eine kollektivistische 190

191 192 193 194

Vgl. Art. 148 der Weimarer Reichsverfassung: »In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. […] Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen« (hier zitiert nach Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 113). Max Pohlenz: Staatsbürgerliche Erziehung im griechischen Unterricht. Berlin 1926 (= Neue Wege zur Antike 3), S. 3–51, hier S. 3. Vgl. Nietzsche: Der griechische Staat. In: KSA 1, S. 775f. Salin zitiert nach Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg, S. 204. – Vgl. auch Gundolf an Salin, Mai 1916. In: Gundolf. Briefe, N. F., S. 153–156. Vgl. Pohlenz: Staatsbürgerliche Erziehung im griechischen Unterricht, S. 3; Wegeler: »… wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik«, S. 87.

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Gesinnungs- und Willensgemeinschaft sein müsse, der von allen akzeptierte, verbindliche Werte, Normen und Rituale zugrunde lägen. Diese wiederum ließen sich besonders prägnant aus der griechisch-antiken Gesellschaftsordnung ableiten und seien dem Schüler durch Paideia bewußt zu machen. Dabei komme der antiken Literatur eine besondere Funktion zu: Als »künstlerische Gestaltung« des Volkserziehungsgedankens führe sie den »einzelnen durch das Werk zur Gemeinschaft«, indem sie ihm auf eingängige Weise Identifikationsmuster für das eigene Denken und Handeln präsentiere.195 Vor diesem Hintergrund statuiert das Curriculum: Da den Griechen und Römern der klassischen Zeit der Mensch ein Gemeinschaftswesen war, wird die Beschäftigung mit ihren Werken dazu beitragen, den einzelnen zur Einordnung in die Gemeinschaft, vor allem in die Staatsund Volksgemeinschaft, zu erziehen. Diese Wirkung ist heute wichtiger als je zuvor.196

Die alten Sprachen boten sich für die Zuschreibung als Prägeinstrument gemeinschaftlichen und staatstragenden Denkens geradezu an, galten sie doch seit 1800 mehr oder weniger als die allgemeinbildenden Fächer. In bezug auf die Vermittlung eines Staatsethos wurden sie bald federführend. Denn man hatte erkannt, daß die antike Überlieferung nicht nur ein »Repertoire von Begriffen und Formeln, von exemplarischen Figuren und Situationen« bereitstelle, auf deren Grundlage »die ästhetischen, individualethischen und politischen Probleme der eigenen Gegenwart« erfaßt und debattiert werden könnten,197 sondern auch vielfältige Exempel für eine vorbildlich gelebte patriotische Gesinnung präsentiere. Mit der Wiederbelebung des traditionellen, aber spätestens seit der Jahrhundertmitte immer mehr in Vergessenheit geratenen ethisch-politischen Bildungsauftrags dieser textlastigen Fächer wurde die Philologie, die Interpretin des Wortes, in ihrer Funktion als humanistische Leitwissenschaft nicht nur bestätigt, sondern auch gestärkt. So kam ihr gerade im Bemühen, das Individuum noch stärker auf den Staat auszurichten, eine verantwortungsvolle Funktion zu, die ihre Bedeutung in der Vorkriegsära oder gar im Neuhumanismus um ein Vielfaches überstieg. Die Aufwertung von Literatur und Philologie gegenüber der Kunst und Kunstwissenschaft läßt sich neben pragmatischen Gründen – die maß195 196 197

Altsprachlicher Lehrplan für das Deutsche humanistische Gymnasium. Vorgelegt vom Deutschen Altphilologen-Verband. Berlin 1930, S. 12; S. 6. Ebd., S. 6. Manfred Fuhrmann: Allgemeinbildung – Staatsethos – Alte Sprachen. In: Mitteilungsblatt des deutschen Altphilologenverbandes 23 (1980), Heft 2, S. 1–12; Heft 3, S. 2–4, hier Heft 2, S. 4.

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geblichen Vertreter des »Dritten Humanismus« waren Textwissenschaftler und/oder Lyriker und wollten ihrer Disziplin bzw. ihrem Schreibstil zu neuer Geltung verhelfen – und ästhetizistischen Erwägungen auch inhaltlich vor dem Hintergrund einer politischen Paideia erklären. Anders als beispielsweise das Totalitäts- oder das Harmoniepostulat, die sich beide auf artifizielle Gesetzmäßigkeiten übertragen lassen, sind Gesinnungen nur schwer in eine konkrete Form oder plastische Gegenständlichkeit zu überführen. Eine vorbildlich gelebte Staatsauffassung, wie sie den Griechen attestiert wurde, kann mit Worten in einem zusammenhängenden Text weitaus präziser und eingängiger dargestellt werden als in der bildenden Kunst oder Malerei. Entsprechend trat gegenüber früheren Bestrebungen die Vermittlung abstrakter ästhetisch-ethischer Ideen in den Hintergrund. Im Zentrum des Bildungsprozesses stand jetzt die Orientierung an einer – wenn auch idealisierten – historischen Realität, dem griechischantiken ›homo politicus‹. Auch wenn Archäologen und Kunsthistoriker das Prinzip der freien Gebundenheit, das die grundlegende Beziehung zwischen dem politisch sensibilisierten Individuum und dem kollektiven Gemeinwesen regele, ebenfalls in der archaischen Plastik und Architektur repräsentiert glaubten und durch stilistische Kriterien wie symmetrische Anordnung und Formstrenge zu belegen suchten, so ist dies doch lediglich ein Teilaspekt des griechischen Staatsdenkens. Weitere charakteristische Tugenden, wie aristokratisches und agonales Ethos oder staatstragender Patriotismus, lassen sich kaum in Bild oder Stein transportieren. Zudem löst der Anblick des Apollon aus dem Westgiebel des Zeustempels von Olympia als paradigmatische Plastik der griechischen Frühzeit beim ungeschulten Auge keine so intensive Ergriffenheit aus, wie sie beispielsweise durch das Betrachten des Laokoon der gleichnamigen Gruppe in den Vatikanischen Museen hervorgerufen wird, der sich in stoischer Gelassenheit seinem Leiden hingibt; kann in dieser Darstellungsform die »edle Einfalt und stille Größe« der Statue durch die ästhetische Erfahrung unvermittelt wahrgenommen werden, so erfordert eine Apperzeption des vermeintlich ethisch-politischen Geistes der Antike eine deutende Vermittlung durch die Wissenschaft. Diese Erklärung bekräftigt auch Jaeger im ersten Band seiner ›Paideia‹, wenn er hervorhebt, daß der Appell zur physischen Tat des einzelnen für das Gemeinwesen nur vom Wort, nicht von der ›stillen‹ plastischen Kunst oder Malerei ausgehen könne.198

198

Vgl. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 18.

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›Führerbildung‹ und ›Führermythos‹ In den ausgehenden 1920er und beginnenden 1930er Jahren wurde es zum primären Anliegen der Bildungstheoretiker, eine Erziehungskonzeption zu erarbeiten, mit der sie einerseits gegenwärtigen Bedürfnissen Rechnung tragen wollten, andererseits aber auch vorausblickend auf zukünftige Entwicklungen Einfluß zu nehmen suchten. Im Zentrum stand die Formung des politischen Deutschen, der sich in Denken und Handeln auf die staatliche Gemeinschaft verpflichtet. Als natürliche und daher normative Form der staatlichen Gemeinschaft wurde mit Nietzsche199 die altgriechische Gesellschaftsordnung angesehen, die eine Dialektik von adligen ›Führern‹ und gemeinen Geführten ausgezeichnet habe. Deshalb sollte auch das anvisierte neue Deutschland auf harmonischer Wechselbeziehung eines von wenigen Qualifizierten ausgeübten ›Führertums‹ und der ›Gefolgschaft‹ vieler beruhen. Um dem Individuum die geforderte Unterordnung unter den ›Führerwillen‹, der sich stets am Wohl des Kollektivs ausrichte, zu erleichtern, wurde die ›Führeridee‹ mit einer charismatisch-religiösen Aura verbunden: Die Pflicht, dem erwählten Mann an der Spitze zuzuarbeiten, deklarierte man zum notwendigen Einzelbeitrag, um die erlösende Gemeinschaftsvision in die Wirklichkeit überführen zu können.200 Mit der Zielvorstellung, eine hierarchisch geordnete »Volksgemeinschaft« mit kleiner Führungsspitze zu begründen, waren auch neue Anforderungen an die Paideia-Konzeption und das Bildungssystem verbunden: Neben einer allgemeinen politischen Erziehung und einer anspruchsvolleren zur Vorbereitung auf gehobene und höhere Positionen in der Gesellschaft erwies sich nun eine exklusive Ausbildung für künftige Staatslenker als Notwendigkeit. Da aber das höhere Schulwesen und damit auch das Gymnasium seit ca. 1900 einen wachsenden Zulauf verzeichnen konnte – sicherlich begünstigt durch seine Reformen und die Öffnung für 199

200

Vgl. beispielsweise Nietzsches Ausführungen in der Vorrede ›Der griechische Staat‹ oder das nachgelassene Fragment 30[8] des Zeitraums Herbst/Winter 1873/1874. In: KSA 7, S. 733f. Vgl. Thomas Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918–1936. In: Hardtwig (Hrsg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, S. 91–127, hier S. 125. – Das charismatische Herrschaftsverständnis des »Dritten Humanismus« ist auch Thema eines ›Blätter‹-Aphorismus: »Bedeutender trost für die kleineren: wenn ihr das höhere leben eurer führer begriffen habt so seid ihr nicht nur dazu nötig das feld frisch und locker zu erhalten sondern ihr sammelt gar oft blumen und früchte die – wenn ihr es selber nicht vermögt – ein grösserer später in seinen kranz flicht.« [BfdK 4 (1897), Heft 1/2, S. 3.]

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Begabte auch aus mittleren und unteren Bevölkerungsschichten –, gingen aus diesen Institutionen zwar viele spätere Führungskräfte hervor, doch zur besonderen Förderung einer zukünftigen staatstragenden Elite eigneten sie sich weniger. Hatte Jaeger 1921 in die Absolventen der Gymnasien noch uneingeschränkt die Hoffnung gesetzt, daß sie im Laufe ihrer Schulzeit neben intellektuellen Fähigkeiten auch ein »Wollen gerechter und uneigennütziger Ziele, zu denen ein ganzes Volk gemeinschaftlich aufblicken kann«,201 ausgeprägt hätten, so relativierte er drei Jahre später diese Sichtweise zugunsten einer hochgebildeten Minderheit. Unter Bezugnahme auf die platonische Staatsutopie betonte er, daß »nur wenige Auserwählte, die ihr Leben ganz dem Wahrheitsdienste hingegeben haben«, zu »Herrscher[n] des neuen Staates, Wisser[n] höchster Wahrheit und ewigen Maßes« aufsteigen könnten.202 Jedoch blieb zu diesem Zeitpunkt noch unausgesprochen, wie er sich ihre Aus- bzw. Weiterbildung vorstellte. Erste konkretere und institutionelle Überlegungen lassen sich seinem Artikel ›Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike‹ entnehmen, der im Sommer 1933 entstand. In ihm streift er die auf Spranger zurückzuführende Idee eines deutschen Elitegymnasiums203 für künftige politische ›Führer‹. Am Beispiel der englischen Public-Schools, der Kaderschmieden für die britische Elite, verdeutlicht Jaeger, wie noch in der Gegenwart die frühgriechische Lebensgemeinschaft und ihre Ideale mit »ethisch-politische[r] Geistesbildung« zu verweben seien. Deshalb fordert er, auch für Deutschland eine Eliteanstalt zu errichten, die auf der Ergänzung einer »keineswegs nur als Fachwissenschaft betrieben[en]« sittlich-moralischen Formung an den Griechen durch intensivierte »körperliche Zucht durch den Sport« neben der »praktischen Rednerschule des debating club« beruhe. Nur wenn diese drei Säulen der Disziplinierung des jungen Mannes im Gymnasium der Zukunft verankert würden, sei die ersehnte »Bildung eines festen Typus des politisch hochgeschulten Menschen« zu erreichen, der eine wahrhaftige ›Volkwerdung‹ einzuleiten vermöge.204 Indem die Vertreter des »Dritten Humanismus« gelobten, daß ihre Paideia nicht nur junge Männer zu guten ›Führern‹ und Geführten ausbilde, sondern zudem in der Lage sei, frühzeitig spätere Eliten auszulesen und ihnen eine besondere Förderung zu gewähren, reagierten sie auch auf eine 201 202 203 204

Jaeger: Humanismus und Jugendbildung. In: HRV, S. 67. Ders.: Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato. In: Ebd., S. 100. Vgl. z. B. Spranger: Das deutsche Bildungsideal der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Beleuchtung. In: GS 5, S. 103. Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, S. 47; S. 48.

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allgemeine Sehnsucht. Familie und Religion als die traditionellen Instanzen, die bisher Werte vermittelten, Normen setzten und kollektive Identität sicherten, hatten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer pluralistischen und säkularisierten Wirklichkeit an Einfluß verloren. Diese Leerstelle sollte durch eine andere kollektive Sinnstiftungsmacht aufgefüllt werden, der eine ebenso charismatische Führungspersönlichkeit vorstehe und die genauso den einzelnen anspornen könne, sich mit der Gemeinschaft zu identifizieren und sein Denken und Handeln auf ihr Wohl auszurichten. In einem Gespräch mit Vallentin brachte George die Politik als eine solche Leitgröße der Zukunft ins Spiel, wenn er es zu ihrer Aufgabe deklarierte, den »politischen Menschen« zu formen, die »grosse Täterperson«, die »eines Tages die Gedanken der Bewegung politisch zu einem Körper zusammenstelle und damit die Nation bewege«.205 Als Fluchtpunkt für gemeinschaftliche Sinnstiftungen bot sich die politische Sphäre in der zeitgenössischen Gegenwart geradezu an, hatte sich doch mit dem Anbruch des langen 19. Jahrhunderts das politische Denken als allgemeinprägende, die universale Vorstellungswelt bestimmende Macht etabliert und damit eine Funktion übernommen, die noch im 17. Jahrhundert die Religion und im 18. Jahrhundert die Philosophie ausübten. In Deutschland wurde das große Vertrauen in die Politik durch die Reichsgründung weiter gestärkt, denn mit der gelungenen Vereinigung der Klein- und Mittelstaaten zu einer Staatsnation war die Integrationskraft und Wirkmächtigkeit politischer Prinzipien plastisch vor Augen geführt worden. Nationalistische Propaganda in der Folgezeit – besonders die »Ideen von 1914« –, begünstigte die Vorstellung von einer deutschen Großfamilie, in der jedes Mitglied für das andere, aber auch für die Ehre der Gemeinschaft geschwisterlich einstehe und sich der Autorität und richterlichen Gewalt eines Familienoberhauptes unterwerfe. Diesem idealistischen Denken konnte auch nicht der Parteienzwist der zwanziger Jahre Abbruch tun, wurde doch die Demokratie mit ihrem Mehrparteiensystem als eine der ›wahren‹ Politik entgegengesetzte Herrschaftsform eines Übergangszeitalters gebrandmarkt. In einer derartig politisch aufgeladenen Atmosphäre war es nur zu folgerichtig, daß der kommende große Mann, der scheinbar Außergewöhnliches zu verrichten vermöge und Erlösung verspreche, schließlich auch von einigen Anhängern des »Dritten Humanismus« mit einem autokratischen Machtpolitiker an der Spitze des Staates gleichgesetzt wurde. Ihm schrieb man die quasi-messianischen Qualitäten zu, alle widerstrebenden 205

Vallentin: Gespräche mit Stefan George, S. 102 (Aufzeichnungen zum 19.02.1928).

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Kräfte zu bündeln, Orientierung und kollektive Geborgenheit zu garantieren sowie heroische Haltung zu vermitteln. Zur schärferen Konturierung des neuen Heilbringers aus dem Kreise der ›homines politici‹ drängte sich neben dem Religionsstifter und Familienvater als dritte Projektionsfläche das selbstbewußte, autonome und schöpferische Subjekt auf. Die mythisch verklärte Vorstellung von eben diesem Menschen, dem Genie, manifestierte sich in der deutschen Geistesgeschichte zuerst in der Literatur des Sturm und Drangs. Aber bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Genie-Gedanke der künstlerisch-philosophischen Sphäre enthoben und im Zuge eines allgemeinen politischen Aufbruchs und wachsender nationaler und imperialistischer Ambitionen auch auf die Staatskunst übertragen.206 Damit konnten neben die alten Dichtergenies Homer und Shakespeare nun politische Genies wie Caesar und Napoleon treten. Zu ihrem gemeinsamen Kennzeichen wurde die vermeintliche Fähigkeit stilisiert, durch intuitives, tatkräftiges Wirken die als starr und bedrückend empfundenen geltenden Normen und Traditionen aufzubrechen und dadurch einen Neuanfang zu begründen. So bestimmte bereits Jacob Burckhardt in seinen Basler Vorlesungen ›Über das Studium der Geschichte‹ das Genie – in seinen Worten »das große Individuum« – als Schöpfer allen kulturellen Lebens und leitete seine Größe aus der Verkörperung eines überindividuellen Willens ab – »als Wille Gottes, als Wille einer ‹Nation oder› Gesammtheit, als Wille eines Zeitalters«.207 Sein Schüler und Kollege Friedrich Nietzsche definierte – sicherlich in Anlehnung an dessen Vorstellung – »[g]rosse Männer« als notwendige »Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist«.208 Ähnlich revolutionäre Züge wies Gundolf dem Genie respektive Heros zu, wenn er den großen Mann als ›Täter‹ beschrieb, der durch Verwandlung neuen, allgemeingültigen Sinn erzeuge, Entfremdetes synthetisiere und universale Einheit stifte. Dieser Gedanke findet sich in prägnanter Form in seinem Essay ›Dichter und Helden‹. Hier statuiert er, der »große Mensch der Gesamtheit« müsse

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207

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Zur Genese des Genie-Gedankens vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bde. 3., verbesserte Aufl. Heidelberg 2004. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, S. 400; S. 401. – Vgl. auch S. 405: »Denn die großen Männer sind zu unserm Leben nothwendig damit die weltgeschichtliche Bewegung sich ‹periodisch und› ruckweise frei mache von bloße[n] ‹abgestorbenen Lebensformen und vom› reflectirenden Geschwätz.« Nietzsche: Götzen-Dämmerung: Streifzüge eines Unzeitgemässen. Nr. 44: M e i n B e g r i f f v o m G e n i e. In: KSA 6, S. 145f., hier S. 145.

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immer von Zeit zu Zeit kommen, um erstarrte oder gehöhlte Ueberlieferung mit neuem Urgehalt zu sprengen oder zu füllen, oder um ein Chaos zu gestalten: in beiden Fällen hat er Natur und Kultur zu vereinen durch sein Werk oder durch sein Wesen, kurz das Gesamtmenschtum in sich zu erneuern.209

Jaeger erweiterte Burckhardts, Nietzsches und Gundolfs Heldenbild, das sich noch weitgehend mit dem Genie-Begriff der Sturm-und-Drang-Zeit deckt, um eine machtpolitische Dimension, indem er sich zu seiner Bestimmung auf das platonische Ideal eines Philosophenherrschers bezog. In seiner ›Paideia‹ notierte er, daß nur derjenige, in dessen Person »[d]ie griechische Trias des Dichters (poietés), des Staatsmanns (politikós) und des Wissenden (sophós)« aufgehe, »das höchste Führertum der Nation« verkörpere.210 Jaegers Position darf allerdings nicht als nationale Verengung der alten universalen Genie-Idee mißverstanden werden, denn im »Dritten Humanismus« wurden ja gerade mit einer nationalen Erneuerung kosmopolitische Ansprüche verknüpft. Die Beobachtung, daß im ›Führermythos‹ der alte Genie-Begriff zusehends auch eine politische Färbung erhielt und mit der gewaltsamen Durchsetzung einer ständestaatlichen Ordnung mit kleiner Führungsspitze in Zusammenhang gebracht wurde, unterstreicht bereits eine frühe Stellungnahme Gundolfs. Die Rede ist von einer Passage aus dem ›Blätter‹-Essay ›Gefolgschaft und Jüngertum‹, der als Statut des Dichterstaates um den ›Führer‹ George gelesen werden kann. In ihr betont Gundolf, daß es eine Notwendigkeit jedes charismatischen ›Führers‹ sei, durch »Umbildung der Seelen« Macht über andere zu gewinnen und diesen seine Gesetze aufzuzwingen: Umbildung der seelen aber ist wunsch oder sinn jedes gewaltigen sagers und tuers – mit oder ohne sein eigenes wissen. Er ist getrieben · wohin er kommt muss er verwandeln · er mag wollen oder nicht. […] wer das zeichen unter dem er kommt erkannt hat muss ihn vernichten oder ist ihm verfallen: der sieht die welt in einem neuen morgen und folgt dem verwandler.211

Obwohl sich Gundolfs Vorstellung eines genialen Staatslenkers auf den esoterischen Mikrokosmos des George-Kreises bezieht, sind aus ihr auch das aggressive Moment und die Tendenz zur ästhetischen Verklärung der erlösenden Tat herauszulesen, die Jochen Schmidt als charakteristisch für die verstärkte Politisierung des Genie-Konzeptes durch das deutsche 209 210 211

Gundolf: Dichter und Helden, S. 31. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 17. Gundolf: Gefolgschaft und Jüngertum, S. 106f.

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›Mandarinentum‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärt.212 Innerhalb dieses vorgeprägten Musters, aber unter Verwendung einer stark religiösen Metaphorik und eines hieratischen Sprachduktus, zeichnet Gundolf das Bild des charismatischen ›Führers‹, der seinen Schutzbefohlenen, dem (Dichter-)Volk, absolute Gefolgschaft, aufopferungsvollen Dienst und bedingungslosen Gehorsam abverlange. Dagegen findet sich in Sprangers Texten, die stärker an die äußere Realität gebunden sind, die Vorstellung vom politischen Heros als dem exklusiven Gestalter der Nation. Unmißverständlich erklärt er in einem mit ›Erziehung‹ überschriebenen Beitrag, den er im ›Deutschen Adelsblatt‹ veröffentlichte, daß »kühle Köpfe, die die politischen Tatsachen richtig sehen, die über Wirtschaftliches und Staatliches in ihren internationalen Zusammenhängen gleich gut orientiert sind, und die – mit e i n e m Worte – eine große Kulturperspektive mitbringen«,213 einzig und allein für das höchste nationale ›Führeramt‹ geeignet seien. Eine solche pragmatische Definition des politischen ›Führers‹, der zuerst die Deutschen und später alle Erdbewohner zu einem neuen Dasein geleiten solle, mußte den Georgeanern als einseitige Reduktion auf ein auffallendes Sondertalent erscheinen. Deshalb schrieben sie dem genialen ›Führer‹ als distinktives Merkmal die Fähigkeit zu, scheinbar divergierende Seinsbereiche in der eigenen Person zu synthetisieren und daraus überindividuelle »Lebenskräfte« zu schöpfen, die ihn schließlich befähigen würden, »ein gesetzliches Weltganzes darzustellen oder auszudrükken, Sinnbild zu sein der weltschaffenden Kraft die den Allstoff (Chaos) gestaltet zu einem menschlichen Kosmos«.214 Sein »kosmisches Wesen« ließe ihn zugleich als Staatsoberhaupt von weltmännischem Format und seherischen Täter erscheinen. Dementsprechend konnte auch Napoleon zum »einzigen kosmischen Herrscher« der Neuzeit stilisiert werden, denn er habe militärisches und diplomatisches Geschick mit einem revolutio212

213 214

Vgl. J. Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. Bd. 2, S. 195f.; S. 203. – Zu ergänzen ist freilich, daß bereits Nietzsche, der ja gerade mit seinen kulturkritischen Überlegungen rechtskonservativen Denkern entscheidende Anregungen lieferte, diese Entwicklung vorwegnahm: Er hielt das kulturstiftende Genie nur in einem streng hierarchisierten, gefolgschaftlich organisierten Staat für möglich. So notierte er 1873/1874, Ziel des Volksstaates sei es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die »höchsten Exemplare« – damit sind »die schöpferischen Menschen, sei es die besten moralischen oder sonst im grossen Sinne nützlichen, also die reinsten Typen und Verbesserer der Menschheit« gemeint – »in ihm leben können und schaffen können« ([Fragment aus dem Nachlaß] 30[8]. In: KSA 7, S. 733). Eduard Spranger: Erziehung. In: Deutsches Adelsblatt 44 (1926), Heft 18/19, S. 393f.; S. 407f., hier S. 408, Sp. 1. Gundolf: Dichter und Helden, S. 52.

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nären paideutisch-ethischen Auftrag verbunden.215 Indem es ihm gelungen sei, vermeintlich fremdartigem Stoff seine Weltart aufzuprägen, habe sich an seinem Beispiel eine »wunderhafte Wiedergeburt antiken Staats- und Heldengeistes, nicht nur antiker Sehnsucht und Gesinnung«,216 offenbart. Mit dieser Tat sei er »der Vorläufer der vorläufig endlichen Weltform« geworden, zu deren »Vollstrecker« nun die Deutschen heranwüchsen.217 Trotz der großen Sympathien für »kosmische« Staatsmänner, wie sie im George-Kreis gehegt wurden, gab man aber im direkten Vergleich den seherischen Dichtern den Vorzug. Darauf weist bereits die eminent politisch zu verstehende Devise der Gemeinschaft »der Dichter als Führer«218 hin. Sie spielt auf die Fähigkeit des genialen Dichters an, in seiner Person geistige und politische Macht zu vereinigen und damit eine Verbindung von Wort und Tat, von künstlerisch-ästhetischen Prinzipien und sozialer Revolution einzuleiten. Neben Goethe und vor allem Hölderlin, der nach Norbert von Hellingraths spektakulären Handschriftenfunden unbekannter Spätdichtungen vom wenig beachteten elegischen Sänger zum herausragenden politischen Propheten avancierte, wurde der dichtende »Maximin« als göttlicher Wegweiser, Vorbereiter und Herrscher des anvisierten »Neuen Reiches« verehrt. Gerade an Georges postumer Würdigung »Maximins« läßt sich die programmatische Verbindung von Herrschaftstopik, Messianismus und Dichtertum deutlich ablesen. So wird bereits »Maximins« Eintritt in die Gemeinschaft zum triumphalen Siegeszug eines jungen Caesars oder neuen Christus stilisiert: Die Vorrede zum ›Maximin‹-Zyklus überliefert, der »zum herrscher erkoren[e]« junge Mann sei »uns aus dem siegesbogen [entgegen]geschritten mit der unbeirrbaren festigkeit des jungen fechters und den mienen feldherrlicher obergewalt«.219 Über sein Vermächtnis heißt es, daß seine hinterlassenen Verse zwar an »zartheit und seherische[r] pracht […] 215

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Zur Geschichte der Napoleon-Rezeption siehe die gründliche Studie von Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800–1945. Darmstadt 2007. Gundolf: Dichter und Helden, S. 58. Berthold Vallentin: Napoleon und die Deutschen. Berlin 1926, S. 16. So der verkürzte Titel von Kommerells beeindruckender Studie zur Rezeption des Klassischen in literarischen Texten des Zeitraums von 1750–1830, die von George stark gefördert wurde. In der Vorbemerkung notiert Kommerell: »Wenn der Verfasser sein Buch ›Der Dichter als Führer‹ nennt, so ist er gewillt, die Dichter darin auftreten zu lassen als Vorbilder einer Gemeinschaft als wirkende Personen« (Max Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin. Berlin 1928, S. 7). George: Vorrede zu Maximin. In: SW XVII, S. 63; S. 62.

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jedes uns gültige maass« überstiegen, aber »das tiefste seines wirkens […] erst sichtbar [werde, BS] aus dem was unsren geistern durch die kommunion mit seinem geiste hervorzubringen vielleicht vergönnt« sei.220 Von seinen Anhängern wurde jedoch George als der ›poeta vates‹ der Gegenwart gefeiert, von einigen sogar in den Rang des »Vorläufers des neuen Staates«221 erhoben. Sicherlich begünstigte Georges Gedicht ›Der Dichter in Zeiten der Wirren‹ diese Sichtweise; nicht ganz grundlos wurde es als lyrische bzw. künstlerische Manifestation des eigenen Selbstverständnisses gelesen. In diesem lyrischen Text werden die vaterländischen Aufgaben und Pflichten eines Lyrikers von nationalem Rang reflektiert. Dazu gehöre an erster Stelle, wie es unmißverständlich aus der dritten Strophe hervorgeht, das eigene Dichtertum besonders in nationalen Krisenzeiten als Berufung zu begreifen. Die entscheidenden Verse, auf die sich dann später auch Wolters, Uxkull und Bertram mit ihren auf das Nationalistische verengten George-Deutungen beziehen sollten, beschreiben Georges Vision einer »lichteren zukunft«, die Weissagung eines heilbringenden Revolutionsführers aus den Reihen einer deutsch-hellenischen Jugend, der die Volksmassen durch autoritäres Regiment zusammenhalte: Ein jung geschlecht das wieder mensch und ding Mit echten maassen misst [...] [...] Den einzigen der hilft den Mann gebiert . . Der sprengt die ketten fegt auf trümmerstätten Die ordnung · geisselt die verlaufnen heim Ins ewige recht wo grosses wiederum gross ist Herr wiederum herr · zucht wiederum zucht, er heftet Das wahre sinnbild auf das völkische banner Er führt durch sturm und grausige signale Des frührots seiner treuen schar zum werk Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.222

In seiner Rede vor Tübinger Studenten zu Georges 65. Geburtstag im Juli 1933 identifizierte der George-Schüler und Althistoriker Woldemar Graf von Uxkull-Gyllenband, der politisch dem rechten nationalistischen Flügel zuzurechnen war, den Jubilar mit dem ›poeta vates‹ dieses Gedichts. Zentrales Thema seiner Ausführungen ist das vom »Seher« George verkörperte und verbreitete »revolutionäre Ethos«. Uxkull legt dar, daß 220 221 222

Ebd., S. 64. Petrow: Der Dichter als Führer?, S. 55. Stefan George: Der Dichter in Zeiten der Wirren (zwischen 06/1918–12/1921). In: SW IX, S. 27–30, hier S. 30.

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George mit seiner weltanschaulichen Lyrik die Zeitgenossen nicht allein zum »Kampf […] gegen die Fäulnis der Zeit« mobilisieren wolle, sondern mit ihr »in gleichem Maße die Forderung zur Umkehr des Lebens, die Gestaltung der neuen Daseinsform« verbinde.223 Die von George angeblich geweissagte und vorbereitete zukünftige Daseinsform der Deutschen setzt er mit einem staatlichen Kollektivismus gleich, der sich auf einer heroisch-mythischen Gesinnung und einer harmonischen Wechselbeziehung von »Führertum und Gefolgschaft« gründe. Dabei appelliert er an seine Hörer, Georges Aufruf Folge zu leisten und am Aufbau des ›Neuen Reiches‹ aktiv mitzuwirken; allerdings läßt sich seinem Vortrag nicht eindeutig entnehmen, welches Reich – die reale nationalsozialistische Herrschaft oder Georges ästhetischen Künstlerstaat – Uxkull vor Augen hatte. Wie Uxkull hielt auch der Kölner Ordinarius Ernst Bertram unter dem Eindruck des ›nationalen Aufbruchs‹ eine Geburtstagsrede auf den verehrten George. Auch er stellte dessen prophetisch-politisches Dichtertum in den Mittelpunkt der Erörterungen. Zur Schärfung seines GeorgeBildes spielte er auf populistische Wendungen an, mit denen zuvor Wolters in einer seiner ›Reden über das Vaterland‹ den Dichterheros Hölderlin einer nicht unproblematischen Vergegenwärtigung und nationalpolitischen Präparation unterzogen hatte. Damit stellte Bertram schon auf sprachlicher Ebene George auf eine Stufe mit einem anderen politischen Propheten und erklärte ihn gleichsam zum »seherischen Dichter[…] und Mitheraufführer[…]«224 des anbrechenden ›Neuen Reiches‹. Diese Charakteristik entsprach aber noch weitgehend Georges eigenem Selbstverständnis, hatte er doch im artikulierten Ich des ›Hyperion‹-Zyklus die eigene Person, Hyperion und seinen geistigen Vater Hölderlin zu einer Einheit verschmolzen und damit die Würdigung Hölderlins in eine Selbstinszenierung als gleichrangiger ›poeta vates‹ überführt. Bertrams Beitrag hebt sich allerdings von den bisher vorgetragenen George-Deutungen ab, denn er verweist neben dem Prophetentum auf ein weiteres Profil des Lyrikers: den Dichter als Tatmenschen. George wird hier als eine wirkmächtige Persönlichkeit präsentiert, die nicht nur revolutionäre Gesinnungen verbreite, sondern aktiv am gesellschaftlichen Umbau mitwirke. Indem Bertram auf George die umstürzlerischen Eigenschaften überträgt, die dieser in seinen Gedichten noch einer kommenden Generation junger Deutsch-Hellenen vorbehält, instrumentali223 224

Woldemar von Uxkull-Gyllenband: Das revolutionäre Ethos bei Stefan George. Tübingen 1933 (= Philosophie und Geschichte 45), S. 4. Bertram: Möglichkeiten deutscher Klassik, S. 246.

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siert er ihn zum Dichter-Führer der nationalsozialistischen Gegenwart. Er beteuert, George habe sowohl mit seinem literarischen Werk als auch mit seinem pädagogischen Engagement den preußisch-dorischen Herrschafts- und Ordnungsgedanken als zeitgemäße und zukunftsträchtige Idee hoffähig gemacht. Daher komme ihm das gewaltige Verdienst zu, »im lebendigen Heute« »ein neues staatliches, ein platonisches wie germanisch-deutsches Ideal von Herrschaft und Dienst, von Führertum und Gefolgschaft« geschaut »und zu ihrem Teil verwirklicht« zu haben.225 Gerade Gedichte wie ›Der Krieg‹ oder ›Der Dichter in Zeiten der Wirren‹, aber auch schon die Tyrtaios-Würdigung ›Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?«226 im ›Stern des Bundes‹ belegten die Realisierbarkeit altdeutsch-dorischer Prinzipien und die erfolgversprechende Synthese von poetischem und staatlichem Entwurf.227 Der deutsche Agon: Von der nachahmenden Nation zur Originalnation Eng verwoben mit dem ›Führermythos‹ war der Wille zur Macht, dem die übersteigerte Zielvorstellung einer nahen deutschen Weltmission zugrunde lag. So wurde auch mit dem ethisch-politisch hochgebildeten Mann der Zukunft die Hoffnung verbunden, die besondere mentale und physische Stärke zu entfesseln, die schon immer in der ›deutschen Art‹ angelegt gewesen sei, aber bisher noch auf ihren schöpferischen Ausbruch warte. Gerade diese Charakterdisposition ermögliche es den Deutschen, aus dem bevorstehenden finalen Wettkampf der Völker als Sieger und demnach Lenker des zukünftigen Weltgeschehens hervorzugehen. Um jedoch diese kollektive Vision realisieren zu können, seien in der deutschen Gegenwart Leistungsdenken, Einsatzbereitschaft und kämpferisches sowie aristokratisches Ethos des einzelnen intensiv zu schulen. Vor diesem Hintergrund erlangte der Sport neben seiner gemeinschaftstiftenden Funktion als Instrument der physischen und psychischen Ertüchtigung eine hervorgehobene Stellung. Als lehrendes Beispiel einer agonalen und gleichzeitig altruistischen Gemeinschaft wurde auf das frühe Griechentum mit seinem angeblichen Heroismus, wie ihn Nietzsche Ende des 225 226 227

Ebd., S. 271 (alle Zitate). Stefan George: Kommt wort vor tat kommt tat vor wort? In: SW VIII, S. 26. Vgl. Bertram: Möglichkeiten deutscher Klassik, S. 275. Bertram ist der Auffassung, daß Georges Gedichte »die Gestalt zugleich und die Forderung einer Großen Ordnung sind, einer lebendigen Gesetzlichkeit, darin Gesang und Staat Eines werden, und auch Ein Schicksal haben, unauflöslich und unzertrennlich. Das ist der dorische Gedanke aus Platons Politeia.«

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19. Jahrhunderts predigte, verwiesen. Besonders im vorklassischen Sparta seien Leistungsprinzip, kriegerische Haltung und Zuchtvorstellungen nicht allein zum Selbstzweck, sondern vor allem zum Wohl der Gesamtheit verwirklicht worden.228 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschrieben Dichter und Denker das ewige Ringen um die eigene Vollendung als typisches Merkmal der ›deutschen Art‹; zum Höhe- und Zielpunkt des ›deutschen Werdens‹ erklärten sie die heroische, weltbewegende Tat. In Goethes Gestalt ›Faust‹ glaubten viele, ein paradigmatisches Abbild dieser ehrgeizigen, aber bisher unerfüllten Vorstellung erkennen zu können; das ›faustische‹, aber letztlich an seinen hehren zivilisatorischen Plänen scheiternde Wesen – man denke hier nur an den blinden Faust des zweiten Teils, der sich dem Glauben hingibt, neuen, besseren Lebensraum für Millionen zu schaffen, aber dabei wird nur sein eigenes Grab ausgehoben – wurde zum Inbegriff des tragischen ›deutschen Seins‹ gesteigert. Im »Dritten Humanismus« gelang es jedoch, diese pessimistische Perspektive auf den Nationalcharakter in eine optimistische zu verkehren, indem Burckhardts und Nietzsches Griechenauffassung auf die werdenden Deutschen übertragen und aus dem eigenen Leiden Stärke und Lebenswillen abgeleitetet wurden. In der kurzen Schrift ›Homer’s Wettkampf‹, die als Vorrede eines noch zu schreibenden Buches konzipiert wurde, legt Nietzsche dar, daß in dem griechischen Menschen ein agonaler Trieb angelegt sei, der die eigene wie kollektive Weiterentwicklung maßgeblich begünstige. Dieser Trieb habe sich als »berechtigt« und sinnvoll erwiesen, denn er kanalisiere Emotionen wie Eifersucht, Groll und Neid, die aus der eigenen Unzulänglichkeit im Vergleich mit anderen hervorgingen, und nutze sie als »Stimulanzmittel« zur Entfesselung des persönlichen Ehrgeizes.229 Dem Ehrgeiz wiederum wird die positiv bewertete Funktion zugeschrieben, das Begehren nach einem »Wettspiel der Kräfte« anzustacheln, um im schließlich erfolgenden Kampf mit dem Selbst oder anderen individuelle Begabungen weiter zu entfalten und eigene wie nationale Größe zu erlangen. Nietzsche schreibt: Jede Begabung muß sich kämpfend entfalten, so gebietet die hellenische Volkspädagogik: […] Ziel der agonalen Erziehung [war, BS] die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft. Jeder Athener z. B. sollte sein Selbst im Wett-

228 229

Vgl. Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, S. 45f. Nietzsche: Homer’s Wettkampf. In: KSA 1, S. 786–789. – Zu Nietzsches Homer-Bild vgl. auch Osinski: Träumende Homere. Versuch über Nietzsche.

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kampfe soweit entwickeln, als es Athen vom höchsten Nutzen sei und am wenigsten Schaden bringe.230

Wenn es nun den Deutschen wie Nietzsches Griechen gelinge, das Leiden an sich, an der eigenen Unvollkommenheit und Schwäche, in äußeren Aktionismus, d. h. entfesselnden Schaffens- und Tatendrang – in Sprangers Worten »d a s S p a r t a n i s c h e i n u n s « –231 zu verwandeln, sei eine Wiedergeburt als ein ebenso heroisches Volk möglich. Diese hochbrisante Idee propagierte Spranger 1923 in einer Rede, die in ihrer politischen Bedeutung nicht zu unterschätzen ist, denn sie wurde am höchsten nationalen Feiertag, dem Tag der Reichsgründung (18. Januar), im Auditorium maximum der Berliner Universität vor einer erlesenen Hörerschaft vorgetragen, die sich aus Vertretern der kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Elite zusammensetzte. Unter Bezugnahme auf den »neuen Akt feindlicher Willkür, der frevelnd in das Hoheitsrecht des deutschen Reiches und in das Lebensrecht des deutschen Volkes eingegriffen«232 habe – hier spielt Spranger auf die wenige Tage zuvor erfolgte französische Besetzung des Ruhrgebietes an –, beendete er seine Ausführungen mit dem indirekten Appell an die heroisch-geistige Tat, die den Deutschen die bisher versagte Vormachtstellung endlich sichern solle: Kohlengruben und Provinzen kann man uns nehmen. Wahrheit und Recht aber haben gewaltigere Mächte hinter sich als Bataillone und Bajonette. Diese Mächte sind unsere Bundesgenossen für die Zukunft. Deshalb ›läßt uns nicht zittern Pallas Athene‹. Aus dem tragischen Dunkel des heutigen Tages leuchten schon die Sterne, die ihr Licht empfangen von der nahenden Sonne der deutschen Zukunft. […] Wir sind noch We r d e n d e . Wir haben noch Stufen ü b e r u n s. Die höchste und größte Stunde des Deutschtums ist noch nicht v o r ü b e r, sie liegt noch v o r uns.233

Sieben Jahre später kam er erneut, aber diesmal weniger verklausuliert auf das mit chiliastischen Erwartungen verbundene kämpferische Ethos der Deutschen zu sprechen. Wie der Titel des Essays ›Zur geistigen Lage der Gegenwart‹ bereits signalisiert, steht hier eine ideengeschichtliche Problematik im Vordergrund – der geistige Agon zwischen der lebensphilosophisch-wertorientierten Wissenschaftsauffassung und dem objektivie230 231 232 233

Nietzsche: Homer’s Wettkampf. In: KSA 1, S. 789. Spranger: Der Anteil des Neuhumanismus an der Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins (1923). In: GRA, S. 34–56, hier S. 56. Ebd., S. 34. Ebd., S. 56.

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rend-relativierenden Historismus. Allerdings bettet Spranger seine Erörterungen in einen realhistorischen Kontext ein: Mit der sicher geglaubten siegreichen Bewährung geistesgeschichtlichen Denkens verbindet er eine künftige deutsche Dominanz der internationalen Kultur und Politik, denn die feste Verankerung lebens- bzw. geisteswissenschaftlicher Prinzipien in das öffentliche Bildungsdenken erlaube es, ethisch-politische Zielsetzungen, wie die Anleitung zu mentaler Stärke, ins Zentrum pädagogischer Schulungen zu rücken: Die heutige Jugend muß sittlich stark werden für den Kampf; aber jeder Kampf, vor allem der geistige, hat zum Ziele eine neue, bessere Ordnung der Welt. Wie die Rechtsordnung selber überall das Doppelgesicht trägt, zugleich Kampfordnung und Friedensordnung zu sein, so liegt im sittlichen Leben überhaupt die Dialektik, daß nur im Sicheinsetzen und Durchhalten wirklich neue höhere Formen menschlichen Daseins gestaltet werden können.234

Allerdings reicht nach Spranger die Erziehung zu geistiger Sittlichkeit allein nicht für eine erfolgreiche Behauptung im internationalen Kulturkampf aus. Deshalb gibt er zu bedenken, daß derjenige, der sich im weltpolitischen Mächtespiel durchsetzen möchte, auch physische Stärke benötige, nicht nur als mögliches Druckpotential. Diese ganz offensichtliche soziologische Erklärung für die essentielle Notwendigkeit des Zusammenspiels beider Kräfte läßt sich aber auch modellimmanent begründen, denn ein organologisch-ganzheitliches Denken verbietet die getrennte, voneinander unabhängige Ausbildung von ›mens‹ und ›corpus‹. Wie ein gesunder Geist nur in einem gesunden Körper hause, so hätten auch geistige und physische Tüchtigkeit im Gemeinwesen, dem »Volkskörper«, Hand in Hand zu gehen. In den Dienst der körperlichen Seite der Sittlichkeit, des Strebens nach Gesundheit und vitaler Stärke, würden sich – wie Spranger wiederholt betont – Körperkultur und sportliche Betätigung stellen.235 Entsprechend lobt er die organisierte Sportbegeisterung der Jugend als einen Weg, »mit dem Volk verbunden zu sein und durch die Gesundung des Volkslebens […] die Gesundung des Staates«236 vorzubereiten. Nationalfeste, auf denen die heranwachsenden Männer ihre Kräfte und Fähigkeiten untereinander messen könnten, beschreibt er deshalb in einem anderen Text als Möglichkeit, »ihren Kraftüberschuß und ihren Wetteifer auf ein Tun 234 235 236

Ders.: Zur geistigen Lage der Gegenwart (1930). In: GS 5, S. 211–232, hier S. 231. Vgl. ebd., S. 226. Ders.: Die männliche Jugend und die Politik. In: Jugendführung 17 (1930), S. 262–273, hier S. 273.

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ab[zu]leiten […], dem der Blick der ganzen Nation mit Stolz und Wohlgefallen zugewandt«237 sei. Die Würdigung des persönlichen Einsatzes und der körperlichen Anstrengungen, die im begeisterten Zuspruch des Volkes zum Ausdruck komme, hebe nicht nur das Selbstbewußtsein, sondern biete zugleich neuen Ansporn. Genau wie die zu Vorbildern erhobenen frühgriechischen Helden, die nach Jaegers Auffassung das »unablässige[…] Streben nach dem ›Besten‹, der Vollkommenheit menschlicher Existenz«238 auszeichnet, würden auch die großen Deutschen vom aristokratischen Ethos ergriffen, das Peleus seinem Sohn Achill mit auf den Weg gen Troja gab, »[i]mmer der erste zu sein und sich auszuzeichnen vor allen«.239 In kollektiver Identifikation mit dem Wettkampfresultat des herausragenden Sportlers ließe sich seine Leistung von den Zuschauern als nationale Großtat vereinnahmen und zugleich als deutliches Signal für eine stetige und zielgerichtete Vervollkommnung der ›deutschen Art‹ werten. Bevor jedoch der begabte junge Deutsche zu einer derartig heroischen Tat im Kampf der Völker bzw. Nationen wie seine griechischen Altersgenossen Achill, Aias und Patroklos befähigt sei, habe er eine ähnlich martialische Ausbildung zu leibseelischer Sittlichkeit zu durchlaufen. Deshalb plädierte Spranger, der die nationalsozialistische »Machtergreifung« zumindest anfangs guthieß und in sie große Hoffnungen für eine Realisierung seiner politisch-ethischen Utopie setzte, um das Jahr 1933 für eine verstärkte »Wehrhaftmachung der deutschen Jugend«.240 Er war der Auffassung, ein quasi-militärischer Drill der heranwachsenden Männer in Unterricht und Jugendorganisationen gewährleiste, daß »ein bestimmter, spezifisch leistungsfähiger, hochwertiger Typ gebildet«241 werde. Als Modell für Sprangers kämpferische Paideia fungierte die frühgriechische Spartia237

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Ders.: Hölderlin und das deutsche Nationalbewußtsein (1919). In: GS 11, S. 317–327, hier S. 327. – Auch dieser Gedanke läßt sich auf Nietzsches agonales Griechenbild zurückführen: In ›Homer’s Wettkampf‹ werden die sportlichen Wettkämpfe der Griechen als kollektive Ereignisse gepriesen, in denen der junge Mann seine Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen und sich damit seiner Mutterstadt als würdig erweisen konnte (vgl. KSA 1, S. 789). So jedenfalls eine Formulierung Hölschers bezüglich Jaegers Idee vom griechischen Menschen (Uvo Hölscher: Angestrengtes Griechentum. Die dritte Wiederkehr des Klassischen. Zu Werner Jaegers 100. Geburtstag. In: FAZ, 30.07.1988, S. 19, Sp. 2). Homer: Ilias. Griechisch und deutsch. Übertragen von Hans Rupé. Mit Urtext, Anhang und Registern. 11. Aufl. Düsseldorf, Zürich 2001 (= Sammlung Tusculum), S. 389 (11,784). Eduard Spranger: März 1933. In: Die Erziehung 8 (1933), S. 401–408, hier S. 406. Ders.: Jungmännererziehung unter psychologischen und nationalen Gesichtspunkten. In: Die deutsche Wehrkraft. Beilage zur »Deutschen Wehr«. Zeitschrift für Wehrmacht und Wehrpolitik 4 (1934), Heft 10–14, S. 89–91; S. 102f.; S. 115f.; S. 126f.; S. 134f., hier S. 89, Sp. 1. – Vgl. auch S. 127.

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ten-Erziehung, die er mit der Verinnerlichung von preußisch-bismarckschen ›Tugenden‹ gleichsetzte: »Eiserner Staatsdienst, Kriegstüchtigkeit, Eugenik, Aufgehen des einzelnen im politischen Ganzen«.242 Auch Jaeger spielte auf die Nutzbarmachung von biologischen Erkenntnissen aus der Erbforschung zur Steigerung der physischen Ertüchtigung an, wenn er »bewußte Züchtung« als Möglichkeit in Erwägung zog, um »die körperliche Natur des Menschen und ihre Eigenschaften […] zu verändern und zu höherer Leistungsfähigkeit zu steigern«.243 Diese Forderung läßt sich mit Nietzsches Gedankengut in Zusammenhang bringen – oder, genauer gesagt, mit einem zeitgenössischen Rezeptionsstrang, dessen Anhänger sich nicht scheuten, seine Ideen unter dem Einfluß eines aggressiven Nationalismus für rassistische Überlegungen zu instrumentalisieren. Richtig ist zwar, daß Nietzsche in Texten wie beispielsweise der Aphorismen-Sammlung ›Was ist vornehm?‹ über die Möglichkeiten einer »Erhöhung des Typus ›Mensch‹« reflektierte und diese nur in einer aristokratischen Gesellschaft, in der sich die leistungsfähigsten Individuen zu gegenseitigem Wettkampf anspornten, für realisierbar erachtete.244 Allerdings – und dies muß explizit hervorgehoben werden – verstand er diesen Entwicklungsprozeß, für den er auch die Begriffe Zucht, züchten, Züchtung synonym gebrauchte, mit denen wir heute Auswüchse des Rassenwahns wie »Lebensborn« oder gar »Euthanasie« verbinden, nicht biologisch, sondern im Sinne von moralischer Disziplinierung und Weiterbildung zu einer im Geistigen und Kulturellen leistungsfähigeren Menschheit.245 Anders als in den eben zitierten Spranger- bzw. Jaeger-Texten enthalten die Schriften von Hildebrandt und Frommel sehr deutliche Anklänge an sozialdarwinistische Theoreme, wie sie verstärkt von nationalsozialistischen Denkern verbreitet wurden.246 Sowohl Hildebrandt als auch 242 243 244 245

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Ders.: Der politische Mensch als Bildungsziel. In: Die Erziehung 9 (1934), S. 65–79, hier S. 69. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 1. Nietzsche: Was ist vornehm? In: KSA 5, S. 205f. (Nr. 257), hier S. 205. – Vgl. auch ebd., S. 214–217 (Nr. 262). Vgl. Thomas H. Brobjer: Züchtung. In: Nietzsche-Handbuch, S. 360f. – Zu Nietzsches ›pädagogischem‹, d. h. über das soziokulturelle Umfeld definiertem Züchtungsbegriff siehe auch Nicholas Martin: Breeding Greeks: Nietzsche, Gobineau, and Classical Theories of Race. In: Paul Bishop (Ed.): Nietzsche and Antiquity, S. 40–53, hier bes. S. 43; Gerd Schank: Race and Breeding in Nietzsche’s Philosophy. In: Nicholas Martin (Ed.): Nietzsche and the German Tradition. Oxford u. a. 2003, S. 237–244. Zu Hildebrandts rassenhygienischen und eugenischen Überlegungen vgl. Stefan Breuers erhellende Studie: Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik bei Kurt Hildebrandt. In: Wissenschaftler im George-Kreis, S. 291–309. Allerdings kann der Einschätzung, Hil-

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Frommel verbanden mit der Forderung nach körperlicher Ertüchtigung Züchtungsutopien und rassenhygienische Zielsetzungen. So betonte Hildebrandt, daß man nicht ausschließlich durch Optimierung äußerer Bedingungen, wie z. B. einer ausreichenden sportlichen Betätigung, guter und bewußter Ernährung sowie intensivierter Gesundheitspflege und Körperhygiene, die Nation rassenhaft verbessert, sondern allein durch Zuchtwahl, d. h., daß man zahlenmäßig die Fortpflanzung der tüchtigen Rasse-Linien fördert, die der untüchtigen hemmt, die der entarteten nach Möglichkeit ausschaltet. Die rassenhafte Tüchtigkeit einer Nation hängt ab von der Schärfe der Zuchtwahl.247

Für die »Auslese der Besten« bedürfe es allerdings, wie es im folgenden heißt, eines verbindlichen Leitbildes, das die geistige Idee einer leistungsfähigen deutschen ›Rasse‹ in plastische Form überführe; diese Norm sei einzig und allein durch Gesinnungsbildung dem einzelnen lebendig einzuprägen.248 Als Kronzeuge für die Gültigkeit der Maxime vom engen »Zusammenwirken von Zuchtwahl, leiblicher Erziehung und geistiger Erziehung«,249 die auch leitend für die Formung einer ›deutsch-hellenischen Mischrasse‹250 sein sollte, wurde der ›Volkserzieher‹ Platon vereinnahmt; damit erhielt dieser eine weitere radikale Facette. Unter Berufung auf seine Staatsutopie konnte es Frommel zu einer Hauptaufgabe des »Dritten Humanismus« deklarieren, einen hochwertigen »neuen Adel« als »W ä c h t e r t u m d e s S t a a t s « zu prägen, der im Besitz der besten Erbgüter seines Volkes ist und mit ganzem Einsatz darum sich müht, die Artung der großen Gründer als Sitte fruchtbar zu machen, ihre Eigenschaften als Erbtugenden der Nation mitzugeben.251

Allerdings blieb es nicht bei der Zielsetzung, eine ›Mischrasse‹ zu begründen, die in sich zu nahezu gleichen Anteilen griechisches und deutsches Erbe aufgehen lasse. Im Kontext wachsender imperialistischer Bestrebungen wurde der agonale Gedanke, der im großen Deutschen zum Aus-

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debrandt sei sensu strictu weder Nationalist noch Rassist gewesen, sondern ein äußerst radikaler ästhetischer Fundamentalist, der sich (Teil-)Positionen dieser Strömung zu eigen machte, nicht vorbehaltlos zugestimmt werden. Kurt Hildebrandt: Nation und Rasse (1927). In: Staat und Rasse, S. 5–19, hier S. 14. Ders.: Rassenhygiene und geistige Erziehung (1926). In: Ebd., S. 21–37, hier S. 29. Ebd., S. 36. Vgl. ders.: Nation und Rasse. In: Ebd., S. 19. Helbing [= Frommel]: Der Dritte Humanismus, S. 87; S. 88.

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bruch gelange, auf eine konkurrierende Auseinandersetzung mit dem Griechentum ausgedehnt. So betonte Frommel, daß eine zukünftige humanistische »Erziehung, d. h. Schule zur Macht«, nicht auf einen »Wettkampf mit dem Altertum, die durchaus gefährliche Auseinandersetzung mit diesem geliebten Gegner«, verzichten könne.252 Auch Spranger sprach von einem notwendigen kämpferischen Vergleich mit dem hellenischen Vorbild, der es erlaube, »s i c h […] an der von ihm erreichten Höhe«253 zu messen. Das Bild vom Agon mit dem Altertum, das nun verstärkt Verwendung fand, ist ein deutliches Signal dafür, daß sich der »Dritte Humanismus« vom neuhumanistischen Vorbildlichkeitsdogma und der Nachahmungslehre abwandte, ja beide Vorstellungen sogar verwarf. An die Stelle des früheren demütigen Strebens nach Annäherung trat der Anspruch, mit dem antiken Menschen an Trefflichkeit gleichzuziehen, ihn, wenn möglich, sogar zu überbieten. Darum definierten seine Anhänger auch das Verhältnis von ›deutscher Art‹ zum Griechentum nicht mehr auf Grundlage einer reinen Filiation, sondern begriffen es vielmehr als verwandtschaftliche Konkurrenz, die das eigene Leistungspotential herausfordere und steigere. Vor diesem gedanklichen Horizont konnte Frommel dann auch das Sich-Messen mit dem antiken Ideal zum wahren »Ahnendienst« erklären, den der nachgeborene Deutsche gegenüber dem griechischen Vatergeschlecht zu verrichten habe: Nicht anders als es bei Indianerstämmen der feste Brauch ist, müssen wir jedem jungen Geschlecht die Ehrfurcht vor dem heiligen Vermächtnis von Schrift und Bild einhämmern und ihm bündig beweisen, daß ein Sohn seinem Vater nur dann gegenübertreten dürfe, wenn er dessen bester Leistung selber gleichgekommen sei.254

Die Einsicht, daß die väterliche »griechische Form« kein »Letztes und Vollkommenstes« darstelle,255 erlaubte es, nun von einem ›deutschen Charakter‹ zu sprechen, der sich in seiner Wertigkeit selbstbewußt über das Vorbild zu erheben vermöge, nachdem er mit dem griechischen »Stachel zum plus ultra«256 infiziert worden sei. Entsprechend wurden jetzt die Leistung und der »Adel« des neuen Deutschen am Grad der kompetitiven

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Ebd., S. 12. Spranger: Die Antike und der deutsche Geist, S. 5. Helbing [= Frommel]: Der Dritte Humanismus, S. 68. Jaeger: Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung. In: HRV, S. 126. Spranger: Die Antike und der deutsche Geist, S. 5.

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Überbietung des Hellenentums, am Übermaß ihres menschlichen Könnens, gemessen. Einen frühen Hinweis auf die intendierte Überbietung des Griechischen durch das Deutsche stellt möglicherweise Georges Dichtung ›Der Krieg‹ dar. In den beiden letzten Strophen verkündet das artikulierte Ich den baldigen Anbruch eines neuen Deutsch-Hellas, das eine Führungsrolle in Europa nach dem Ersten Weltkrieg übernehmen werde. Allerdings scheint es, als ob in diesem künftigen ›Leitvolk‹ dem germanischen Erbe gegenüber dem griechischen eine hegemoniale Stellung zukommt. Dafür spricht zum einen, daß sich Apollo als Repräsentant des Griechischen an den germanischen Baldur anlehnen muß, also wohl nicht mehr in der Lage ist, sich eigenständig zu halten. Zum anderen läßt sich die von George entwickelte Herrschergenealogie, die im »Herr[n] der zukunft« kulminiert, als Aufeinanderfolge der germanischen bzw. urdeutschen Gottheiten Donar/Thor, Tir/Tiwan, Odin und Baldur lesen.257 Besonders eingängig formulierte Rudolf G. Binding die Anfang der dreißiger Jahre häufig zitierte Vorstellung von der deutschen Superiorität in einer Rede vor »Freunden des humanistischen Gymnasiums« 1936. In ihr bezieht sich der in den Weimarer Jahren, aber auch im »Dritten Reich« sehr populäre Volksschriftsteller affirmativ auf Gedankengut des »Dritten Humanismus«, verbindet es aber zugleich mit nationalsozialistischen Denkmustern. Als alles überragende Zukunftsvision, die unter der Ägide Hitlers Wirklichkeit werden könne, entwirft er gegen Ende seiner Ausführungen das Bild einer deutschen Jugend, an deren Seite das Griechentum lediglich als schwacher Schemen erscheine. Die bisher alles andere überragende Faszination vom Hellenischen wird damit ein für alle Mal zugunsten der Begeisterung für das Eigene verabschiedet: Wenn einmal die Gestalt des Griechenjünglings abgelöst sein wird von der deutschen Gestalt, wenn wir selber Vorbild werden, selber Inbegriff geworden sind, dann mag der griechische Jüngling vor dem deutschen in den Schatten treten: in den Schatten deutschen Wesens. Wir werden uns dessen nicht zu schämen brauchen daß e r es war der uns dazu geholfen hat ihn zu überwinden.258

Auch Hitler bediente sich in seiner Eröffnungsrede zur ›Großen Deutschen Kunstausstellung‹ in München 1938 dieses Denkbildes, indem er 257 258

George: Der Krieg. In: SW IX, S. 26. – Vgl. hierzu auch den Kommentar (In: Ebd., S. 141f.). Rudolf G. Binding: Der deutsche und humanistische Gedanke im Angesicht der Zukunft (1936). In: Das Innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben 3 (1936/1937), Heft 2, S. 1239–1251, hier S. 1251.

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unter Bezugnahme auf die gerade erworbene Marmorkopie des Diskuswerfers von Myron an die Deutschen den Appell richtet, durch kämpferischen Vergleich mit den Hellenen ihre eigene Größe herauszubilden: Mögen Sie alle […] nicht versäumen, in die Glyptothek zu gehen, und mögen Sie dann erkennen, wie herrlich schon einst der Mensch in seiner körperlichen Schönheit war, und wie wir von Fortschritten nur dann reden dürfen, wenn wir diese Schönheit nicht nur erreichen, sondern wenn möglich noch übertreffen. […] Und mögen Sie daraus einen Maßstab finden für die Aufgaben und Leistungen unserer eigenen Zeit. Mögen Sie alle zum Schönen und Erhabenen streben, um in Volk und Kunst ebenfalls der kritischen Bewertung von Jahrtausenden standzuhalten.259

Gerade das seit den ausgehenden 1920er Jahren zielstrebig verfolgte Anliegen, eine im internationalen Vergleich überlegene ›deutsche Rasse‹ herauszubilden, spricht – wie es Kritiker auch immer wieder betonten – für eine geistige Nähe des »Dritten Humanismus« zum Nationalsozialismus. Jedoch muß – aller Berechtigung dieser These zum Trotz – darauf verwiesen werden, daß das rassistisch-biologistische Denken Hitlers und seiner Anhänger nur schwer mit Jaegers, Sprangers und Georges Selbstverständnis als Humanisten in Einklang zu bringen ist. Dennoch läßt ihr permanentes Oszillieren zwischen geistigem Reich und empirischem Staat die Grenzen der geistigen Utopie zur nationalen Realität bedrohlich verschwimmen. Zudem begünstigte die semantische Offenheit ihrer Theoreme die Möglichkeit, die »dritthumanistische« Menschenbildungskonzeption an die nationalsozialistische Utopie anzubinden. So verwundert es auch nicht allzusehr, daß sich 1933 einige Vertreter des »Dritten Humanismus« – wenn auch nur kurzfristig – von dieser Option angezogen fühlten. »Dritter Humanismus« und »Drittes Reich« Unmittelbar nach der »Machtergreifung« sprach sich Bernhard Rust, Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, in einem Reformentwurf für einen einheitlichen Unterbau aller höheren Schulformen aus. Er sollte die Klassen Sexta bis Quarta, also die drei unteren Jahrgänge, umfassen. In der Konsequenz bedeutete die angestrebte Maßnahme die verbindliche Festlegung auf das Englische als erste Fremdspra259

[Adolf Hitler:] Die Rede des Führers zur Eröffnung der »Großen Deutschen Kunstausstellung 1938«. In: Die Kunst im Dritten Reich 2 (1938), Heft 8, S. 229–235, hier S. 232.

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che.260 Rusts Überlegungen waren Teil einer größeren Hetzkampagne gegen den Humanismus, denn die Nationalsozialisten befürchteten von dieser Seite nicht nur starke Kritik an ihrer Erziehungskonzeption, sondern auch ein eindrucksvolles Gegenmodell, wonach ein mündiger und vernünftiger Kosmopolit heranzubilden sei, der den Interessen des neuen Staates entgegenwirken könne. Friedrich Eichhorn, Leiter des Reichssachgebietes für Alte Sprachen, rückte das Bildungsideal des »Dritten Humanismus«, an dem »die Altsprachler so unbegreiflich hartnäckig« festhielten, »in die verdächtige Nachbarschaft des neuhumanistischen […], das seine starke Durchdringung mit teils individualistisch-liberalistischen, teils menschheitlich-weltbürgerlichen Anschauungen nicht verleugnen« könne.261 Deshalb hörten viele Altertumswissenschaftler und Anhänger des »Dritten Humanismus« – mit dem Pädagogen Eduard Stemplinger – »das Zügen(= Toten)glöcklein [sic!] für das humanistische Gymnasium läuten«.262 Im Angesicht der Gefahr einer schrittweisen Degradierung der alten Sprachen, aber auch aus Furcht vor dem eigenen Prestigeverlust bemühten sich die meisten von ihnen um Einvernehmen mit dem herrschenden Regime und nahmen dabei die gewollte Verbiegung humanistischer Grundsätze in Kauf.263 So betonte der Latinist Otto Regenbogen, der hier stellvertretend für die Altertumswissenschaftler unter den Vertretern des »Dritten Humanismus« zu Wort kommen soll, als Vorsitzender des Deutschen Gymnasialvereins auf der Jahresversammlung 1934: Unser sehnlichster Wunsch ist es, der Erzieher- und Bildnerarbeit im neuen Deutschland mit einem deutschen Gymnasium dienen zu dürfen, das, gesichert in seinem Wesenskern, volksverbunden und verantwortlich, Körper und Geist, Wissen und Charakter schult an einem blutvoll lebendigen Bilde des Altertums und des deutschen Wesens zugleich, nicht nur theoretisch und lehr260 261

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Vgl. J.-U. Schmidt: Platon und die nationale Erziehung, S. 64. Friedrich Eichhorn: Das Reichssachgebiet »Alte Sprachen« in NSLB. [sic!] und der altsprachliche Unterricht im Dritten Reich. In: Ziele und Wege des altsprachlichen Unterrichts im Dritten Reich. Vorträge und Berichte der Tagung der altsprachlichen Arbeitsgemeinschaft im NS-Lehrerbund Gau Württemberg-Hohenzollern auf der Reichenau (Bodensee). Stuttgart 1937 (= Sonderheft »Aus Unterricht und Forschung«), S. 1–23, hier S. 1. Eduard Stemplinger: Die unsterbliche Antike (1936), hier zitiert nach J.-U. Schmidt: Platon und die nationale Erziehung, S. 59. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel stellen die Leitsätze des Vereins Bayerischer Philologen dar, in denen die einzelnen Vorgaben mit Hitlers Stellungnahmen zur Antike belegt werden [Vgl.: Das humanistische Gymnasium im nationalsozialistischen Staat. Leitsätze des Vereins Bayerischer Philologen. In: NJW* 9 (1933), S. 572–574].

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haft, sondern auch in einer Lebensführung und Leitung, die Freude an Kraft und Schönheit des Körpers vereint mit Zucht, Maß und Haltung.264

Ein Beispiel für die hier angesprochene lebens- und gegenwartsbezogene Ausdeutung der Antike hatte er bereits ein Jahr zuvor mit seinem Vortrag ›Politik und Geschichte im Werke des Thukydides‹ geliefert. Ein Kurzprotokoll dieser unveröffentlicht gebliebenen Rede wurde in der populären Fachzeitschrift ›Das humanistische Gymnasium‹ abgedruckt. Aus ihm geht hervor, daß Regenbogen mit seiner Thukydides-Deutung für den nationalsozialistischen Staat Stellung bezog. Wie vor der Folie der realen Gegenwart beschrieb er den »Staat, wie er Thukydides vorschwebt«, als »totale[n] Staat, in dem jeder in der Volksgesamtheit gebunden schafft und lebt«, und verwies zugleich darauf, daß bereits der griechische Historiker »[u]nseren Grundsatz ›Gemeinnutz vor Eigennutz‹« gefordert habe. Den Eindruck der geistigen Nähe des antiken Autors zu den gegenwärtigen Deutschen, der vermittelt werden sollte, begründete Regenbogen rassenbiologisch: Thukydides sei »ein Mischblut gewesen aus nordischem Thrakerstamm und attischem Stamm. Vielleicht hat er auch deshalb so viele Züge, die ihn uns näher bringen.«265 Aber nicht nur unter den Altertumswissenschaftlern waren derartige Modifikationen – zumindest für eine Übergangsphase – zu konstatieren; auch in anderen Texten aus dem Umfeld des »Dritten Humanismus« tauchten gehäuft nationalsozialistische Schlüsselvorstellungen um das ›Wendejahr‹ 1933 auf. Spranger glaubte, in der nationalsozialistischen Erhebung die Erfüllung seiner ethisch-politischen Bildungsvorstellungen zu erkennen. Nach dem Motto »Deutschland ist […] endlich erwacht«266 unternahm er mit seinem Essay ›März 1933‹ eine taktisch-vorsichtige »Anbiederung im Gewande völkisch-nationaler Sprache«.267 Noch deutlicher wurde er in einem Brief an den Vizekanzler Franz von Papen, den er als

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Zitiert nach Fritz Bucherer: Die achtundzwanzigste Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins in Trier am 27. Oktober 1934. In: Das humanistische Gymnasium 46 (1935), S. 1–4 (mit Abdruck der Ansprache Regenbogens S. 2–4), hier S. 3. [Gottfried] Wolterstorff: Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums. Bericht aus Erfurt. In: Das humanistische Gymnasium 46 (1935), S. 100–102, hier S. 101 (alle Zitate). Spranger: März 1933, S. 401. Ulrich Herrmann: »Die Herausgeber müssen sich äußern«. Die »Staatsumwälzung« im Frühjahr 1933 und die Stellungnahmen von Eduard Spranger, Wilhelm Flitner und Hans Freyer in der Zeitschrift »Die Erziehung«. Mit einer Dokumentation. In: Pädagogik und Nationalsozialismus. Weinheim, Basel 1988 (= Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik 22), S. 281–325, hier S. 288.

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Begründung seines Rücktrittsgesuches vom April 1933 verfaßte.268 Hier heißt es unmißverständlich, zu Hitlers »großem Werk für das deutsche Volk [sage, BS] ich mit | innerster Überzeugung und Treue Ja«.269 Aus dem GeorgeKreis liefen Bertram, der Klassische Philologe Albrecht von Blumenthal,270 Hildebrandt, der Bildhauer Ludwig Thormaehlen271 und Woldemar Uxkull-Gyllenband zu Hitler über;272 unter dem Eindruck der »Machtergreifung« verkündete Bertram zu Beginn des Sommersemesters 1933 vor seinen Kölner Studenten den Anbruch eines »germanischen Wunder[s]«, das die »gewaltige[…] Selbsterneuerung unseres so tief gefährdeten Volkes« stimulieren werde.273 Im Sommer desselben Jahres sprach er vom »Erwachen« des georgeschen »Neue[n] Reich[es] in unseren Tagen«274 und setzte damit das mythische »geheime Deutschland« Georges mit dem realen »Dritten Reich« gleich. Selbst der sonst eher reservierte George äußerte sich anfangs anerkennend über den Nationalsozialismus, denn »es sei doch immerhin das erste Mal, dass Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von aussen wiederklängen«.275

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Zu den Hintergründen von Sprangers Bitte um Entlassung und der Frage, ob dieser Schritt aus gekränkter Eitelkeit geschah oder als Akt des Widerstands gegen inhaltliche Prinzipien der NS-Bildungspolitik interpretiert werden kann, siehe Uwe Henning und Achim Leschinsky: Unterstützung, Anpassung, Protest, Widerstand. Analyse zeitgenössischer Pressereaktionen auf Eduard Sprangers Rücktrittsaktion vom Frühsommer 1933 (mit Quellenanhang). In: Enttäuschung und Widerspruch. Die konservative Position Eduard Sprangers im Nationalsozialismus. Analysen – Texte – Dokumente. Weinheim 1991, S. 3–90; Klaus Himmelstein: »Wäre ich jung, wäre ich Nationalsozialist …« – Anmerkungen zu Eduard Sprangers Verhältnis zum deutschen Faschismus. In: Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus – Eine kritische Positionsbestimmung. Hrsg. von Wolfgang Keim. Marburg 1990 (= Forum Wissenschaft, Studienheft 9), S. 39–59; HeinzElmar Tenorth: Eduard Sprangers hochschulpolitischer Konflikt 1933. Politisches Handeln eines preußischen Gelehrten. In: Zeitschrift für Pädagogik 36 (1990), Heft 4, S. 573–596. Spranger zitiert nach Tenorth: Eduard Sprangers hochschulpolitischer Konflikt 1933, S. 577. Zu Albrecht von Blumenthal siehe Schuller: Altertumswissenschaftler im George-Kreis. Zu Ludwig Thormaehlen siehe Doris Schumacher: Ludwig Thormaehlen. Bildhauer und Kunsthistoriker zwischen George-Kreis und Brücke-Künstlern. In: »Ihre Bindung beruht auf gegenseitiger Wertschätzung«. 50 Jahre Arbeitsgemeinschaft Bildender Künstler am Mittelrhein. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Bildender Künstler am Mittelrhein AKM und dem Mittelrhein-Museum Koblenz. Redaktion Georg Ahrens. Koblenz 1999, S. 29–55. Vgl. Franz Schonauer: Stefan George. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 10. Aufl. Reinbek 2000 [zuerst 1960] (= rm 50044), S. 161f. Ernst Bertram: Deutscher Aufbruch. In: Deutsche Zeitschrift. Monatshefte für eine deutsche Volkskultur 46 (1933), S. 609–619, hier S. 609. Ders.: Möglichkeiten deutscher Klassik, S. 279. Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf, München 1963, S. 209.

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Und wirklich, zwischen dem Denkmodell des »Dritten Humanismus« und dem des Nationalsozialismus lassen sich frappierende Gemeinsamkeiten bzw. gegenseitige Anknüpfungsmöglichkeiten ausmachen.276 So zollten Hitler wie auch Jaeger, Spranger, George und seine Anhänger der idealschönen griechischen Kunst und Körperkultur höchsten Respekt und verbanden ein anmutiges Äußeres mit einem tugendhaften Inneren sowie mit einem gesunden und regen Geist. Laut Henry Picker, der Aufzeichnungen von Gesprächen im Führerhauptquartier anfertigte, bemerkte Hitler, als die Sprache auf die Hellenen kam: Sehen wir auf die Griechen, die auch Germanen waren, so finden wir eine Schönheit, die doch über dem liegt, was wir heute aufzuweisen haben. Das gilt für die Großartigkeit ihrer Gedankenwelt – nur die Technik war ihnen versagt – wie für das Bild ihrer Erscheinung. Man braucht nur einmal den Kopf des Zeus oder der Athene mit dem eines mittelalterlichen Gekreuzigten oder eines Heiligen zu vergleichen.277

Anlaß für den vergleichenden Rückgriff auf das antike Griechentum boten akute Dekadenzängste, von denen beide Seiten heimgesucht wurden; die Vertreter des »Dritten Humanismus« – und hier vor allem die Georgeaner – wie auch Hitler und seine Anhänger versuchten, solche Ängste nach altgriechischem Vorbild mit initiatorischen Kulten der Einheit, Stärke und Reinheit zu kompensieren. So erhoben Jaeger, Spranger und George das Griechentum zur neuen Orientierungs- bzw. Sinnstiftungsinstanz. Sein vermeintlich belebendes Ethos wurde zu einem Sakralen erklärt, das sich nach ihrer Ansicht nur durch geistiges Erlebnis, durch inneren Glauben anverwandeln ließ.278 Mit der mythischen Inszenierung und religionsähnlichen Feier des Gemeinschaftserlebnisses, die eine besondere Ausprägung in Frommels »religiöser« Spielart fand, stellte der »Dritte Humanismus« ein Angebot für Subjektivierungs- und Gemeinschaftsaffekte bereit, wie es gerade der Nationalsozialismus einforderte – 276

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Zum Verhältnis von »Drittem Humanismus« zum Nationalsozialismus siehe zuletzt den Aufsatz von Peter Kuhlmann: Humanismus und Alte Sprachen im Dritten Reich. In: AKG 88 (2006), S. 409–431, hier besonders S. 421–425. – Vom Griechenlandbild in der deutschsprachigen Literatur der 1930er und 1940er Jahre handelt das Buch der Oxforder Germanistin Santini mit dem Titel ›Wohin verschlug uns der Traum?‹. Darin zeigt die Verfasserin u. a., daß im Zusammenhang mit dem Anliegen, den Urgrund des eigenen ›Wesens‹ aufzuspüren, eine profunde, begeisterte Auseinandersetzung mit Hellas auch in offiziösen Texten im Dienst der nationalsozialistischen Ideologie stattfand. Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942. Neu hrsg. von Percy Ernst Schramm in Zusammenarbeit mit Andreas Hillgruber und Martin Vogt. Stuttgart 1963, S. 163–168 (Nr. 18: Aufzeichnungen vom 25./26.01.1942), hier S. 166. Vgl. Jaeger: Geschichte und Leben, S. 179.

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erinnert sei in diesem Zusammenhang an Goebbels programmatischen Appell »wir wollen selber eine Kirche sein«.279 Zudem beschworen beide Weltanschauungen die Vorstellung eines kommenden ›Neuen Reiches‹, in dem die Geißeln der Gegenwart – Individuation, Fragmentierung, Leblosigkeit, fehlender nationaler Zusammenhalt, schwaches Staatswesen – effizient bekämpft würden. Dabei beriefen sich Nationalsozialisten wie Vertreter des »Dritten Humanismus« auf einen altpreußische und sozialistische Elemente verbindenden Gesellschaftsentwurf, der versprach, alle ›wahren‹ Deutschen in die »Volksgemeinschaft« zu integrieren, aber im Gegenzug verpflichtende, aufopferungsvolle Einbindung einforderte.280 Diesem ständisch organisierten Idealstaat stand ein elitärer, sich von der gemeinen Masse abhebender Führerkreis vor. In bewußter Distanz zum verhaßten bürgerlichliberalen Zeitalter wurden demokratische Freiheiten zugunsten eines einheitlichen Kollektivwillens beschnitten bzw. dann im Nationalsozialismus gänzlich aufgegeben. Vor diesem Hintergrund kann die provokante, aber durchaus bestechende These Breuers, der nationalsozialistische Staat wirke mit seinem »männerbündischen, das charismatische Gefolgschaftsverhältnis betonenden Aufbau« wie eine Anwendung der »Bauprinzipien« des georgeschen Dichterkosmos auf die politische Realität,281 auch auf das Staats- und Gesellschaftsmodell (fast) aller Anhänger des »Dritten Humanismus« ausgeweitet werden. Diesen Befund bestätigt eine Äußerung des Altphilologen Heinrich Weinstock. In seiner Schrift ›Polis‹, die im Amsterdamer Verlag ›Die Runde‹ des George-Anhängers Wolfgang Frommel erschien, feiert er die antidemokratische Tradition des »Dritten Humanismus«, die »in der Weimarer Republik nicht den ersehnten Staat zu finden vermochte«282 und deshalb erst im Nationalsozialismus ihre wahre Erfüllung erhalten könne. Unmißverständlich heißt es hier: Was Humboldt und die Seinen, im Individualitätsglauben befangen, nicht sahen und nicht sehen konnten – diese Blindheit ist von unseren Augen gefallen […]. Die Stunde für eine neue Begegnung mit den Griechen ist da, eine 279

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Manfred Funke: Äußerste Radikalisierung. Robert O. Paxton vereinnahmt auch die NSDAP und formuliert eine transnationale Faschismustheorie. In: FAZ, 08.05.2006, S. 10. Vgl. z. B. Helmut Berve: Antike und nationalsozialistischer Staat (1934). In: Über das Studium der Alten Geschichte. Hrsg. von Wilfried Nippel. München 1993 (= dtv wissenschaft 4583), S. 283–299, hier S. 297. Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 237. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 176.

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neue Wiedergeburt des griechischen Geistes kündet sich in den Wehen der deutschen Revolution an. Dies ist der Kairos eines dritten deutschen Humanismus.283

Eine weitere, beiden Modellen gemeinsame Traditionslinie ist die normative Orientierung am platonisch-dorischen Griechentum, das als soziokulturelles Paradigma für ein künftiges starkes Deutschland herangezogen wurde und – wie es Hitler gegenüber seinem Rüstungsminister Albert Speer erklärte – zum maßgeblichen »Ausdruck der neuen Ordnung«284 avancierte. So ließen sich die vom neuen Deutschen geforderten Tugenden Gehorsam, Gemeinschaftsbewußtsein, Dienstbereitschaft und Opferwille aus der spartanischen Ethik ableiten und mit ihr ebenso begründen wie der elementare Wunsch, die physische Leistungsfähigkeit des einzelnen zu optimieren, um damit die Kollektivkraft stetig zu verbessern. Als effizientes Mittel gegen die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beklagte allgemeine Schwächung, Verweichlichung und Effeminierung der physischen und auch psychischen Konstitution junger Deutscher wurden deshalb von beiden Seiten Abhärtungs- und Ertüchtigungspraktiken beschworen, wie sie im antiken Sparta erfolgreich praktiziert worden seien. Von den höheren Schulen erwartete man, ja forderte geradezu ein, die Stärkung des Willens und Stählung des männlichen Körpers zu entscheidenden Bildungszielen zu erheben, durch das Unterrichtsgeschehen zu unterstützen und damit einen Beitrag zur Förderung der allgemeinen ›Volksgesundheit‹ zu leisten. Neben den Sportstunden, die bereits seit dem Ersten Weltkrieg vielfach als Erweiterung der Wehrerziehung mißbraucht worden waren, sollte nun der Unterricht in den alten Sprachen zu einer anderen Einstellung gegenüber dem eigenen Körper beitragen. So betonten die Verfasser der amtlichen Richtlinien für den altsprachlichen Unterricht aus dem Jahr 1938 auch die körperertüchtigende Seite dieses Faches: Sie argumentierten, da »die nationalsozialistische Revolution uns Hellas, seinen Begriff vom Leibe, von der Kunst, vom politischen Leben nahegerückt« habe, ergebe »sich eine neue Möglichkeit für den griechischen Unterricht. […] Unser neues Verhältnis zum Leibe eröffnet uns einen unmittelbaren Zugang zur Gymnastik, zum Agon, zur Plastik der Hellenen.«285 283 284 285

Heinrich Weinstock: Polis. Der griechische Beitrag zu einer deutschen Bildung heute an Thukydides erläutert. Berlin 1934, S. 44. Albert Speer: Spandauer Tagebücher. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1975, S. 262 (Aufzeichnungen vom 14.01.1951). Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule. Amtliche Ausgabe des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Berlin 1938, S. 231f.

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Die Überzeugung, die ›deutsche Art‹ könne – gerade aufgrund ihrer angeblichen Stärke und Gesundheit – in baldiger Zukunft eine mit den antiken Hellenen vergleichbare Superiorität erlangen, erreichte im Rassenwahn des »Dritten Reiches« ihren Höhepunkt. Obwohl dieser Gedanke seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in chauvinistischen Kreisen kursierte und zusehends Popularität erlangte, wurde er erst nach dem Ersten Weltkrieg auch verstärkt vom »Dritten Humanismus« aufgegriffen. Sein Grundtheorem, die Fortentwicklung des ›deutschen Seins‹ sei durch gezielte bildungspolitische Eingriffe zu begünstigen, bot Anknüpfungspunkte für autoritäre und totalitäre Optionen, die sich bis zu radikalen volkshygienischen Phantasien steigern ließen und die zumindest in die Nähe der nationalsozialistischen Doktrin gerückt werden müssen. Bereits Jaeger, der unbedingt zu den Gründungsvätern des »Dritten Humanismus« gezählt werden muß, verwies indirekt und wohl unbeabsichtigt selbst auf das diesem Weltbild inhärente Potential, das die Adaptation an das nationalsozialistische Denken ermöglichte. Unter dem Eindruck der »Machtergreifung« erklärte er: »Nicht innere Umstellung, sondern äußere Umformung sei nötig, freilich müsse man den Begriff der humanistischen Bildung richtig fassen im Sinne politischer Bildung.«286 Die hier angesprochene Umformung der Lehrsätze bringt nichts anderes als das Bestreben zum Ausdruck, die eigene theoretische Konzeption an die als nationalsozialistisch eingestuften Ideologeme anzupassen, ja sogar – wie es Preuße treffend formuliert – »sich dem NS-Regime als ›erzieherische Instanz anzudienen‹«.287 Deshalb spitzten viele Vertreter des »Dritten Humanismus« ihr Weltbild in Richtung der pädagogischen Grundprinzipien des Nationalsozialismus zu. Fatalerweise bemerkten sie nicht oder wollten es nicht wahrhaben, daß sie durch den Anschluß an spezifisch nationalsozialistisches Gedankengut humanistischen Idealen den Rücken kehrten, ja diese sogar aus eigenem Opportunismus verrieten. Mit dieser Entscheidung ist ihr verstärktes Bemühen zu sehen, dem kämpferischen Ethos, dem Wert der Arbeit und der Wehrkraft sowie dem Rassen- und Zuchtgedanken als maßgeblichen Idealen des neuen Regimes größere Beachtung zukommen zu lassen. Wohl deshalb nimmt Jaeger in seinem Essay ›Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike‹ direkten Bezug auf Überlegungen des NS-Vorzeigepädagogen 286 287

Jaeger zitiert nach Irmscher: Altsprachlicher Unterricht im faschistischen Deutschland, S. 238. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 175.

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Ernst Krieck.288 Er erinnert daran, daß Krieck in einem mit ›Nationalpolitische Erziehung‹ überschriebenen Text289 den »Mensch[en] griechischer Zucht, musischer und wehrhafter Erziehung im Zusammenhang frühgriechischer Polisordnungen« zum Vorbild des neuen Deutschen erklärte.290 An diesen Gedanken anknüpfend, zeigt Jaeger nun am Beispiel der literarischen Werke von Tyrtaios, Solon und Hesiod den Wert der heroischen Lebenshaltung und des Arbeitsethos hinsichtlich der angestrebten »allgemeinen Bildung zur politischen Tätigkeit« auf. Die hier angesprochenen Tugenden – heroische Lebenshaltung und Arbeitsethos – waren nach allgemeiner Überzeugung im archaischen Hellenentum zur Vollkommenheit gesteigert worden und wurden im Nationalsozialismus auch vom Deutschen der Gegenwart eingefordert. Vor diesem Hintergrund bestätigt Jaeger die zeitgenössische Auffassung, daß die Werke der drei griechischen Autoren von dem alten heroischen Geist der homerischen Welt erfüllt [sind, BS] und […] ihn in immer neuer Form aus[prägen], als Heroismus des Vaterlandsverteidigers, des bürgerlichen Mutes und des politischen Warnertums wie als Heroismus der Arbeit.291

Auch Spranger berührt in seinem Beitrag ›März 1933‹, mit dem er die neue Regierung begrüßte, diese aus dem frühen Hellenentum abgeleiteten kämpferischen Ideale. Um den Vorwurf abzuwehren, der nationalsozialistische Staat sei militant, verweist er auf den lebenserhaltenden Charakter der männlichen Arbeits- und Wehrkraft. Er betont, nur durch Förderung und Beanspruchung beider Tugenden sei ein gemeinschaftlicher Wiederaufbau des am Boden liegenden Deutschland möglich: Die respublica militans, als die unser Staat heut erscheint, kämpft um den Bestand ihres Volkes: Arbeit und Wehrkraft sind die beiden Dinge, hinter denen so lange alles andere weichen zu müssen scheint, als wir arbeitslos und wehrlos sind. Auf diese beiden Aufgaben wirft sich mit der Wucht eines wiedererwachten Lebenswillens die ganze Energie der deutschen Menschen. Das ist die Situation. Kein Sehender kann ihr gegenüber verständnislos sein.292 288

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Krieck, der sich ohne Abitur vom Volksschullehrer zum Professor für Philosophie und Pädagogik hochgedient hatte – 1932 trat er erst dem NS-Lehrerbund und dann der NSDAP bei –, galt in nationalsozialistischen Kreisen als vielbeachtete Instanz in pädagogischen Fragen. – Zu Kriecks Leben und Werk vgl. Hermann Giesecke: Hitlers Pädagogen. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung. Weinheim, München 1993, S. 31–73. Ernst Krieck: Nationalpolitische Erziehung. Leipzig 1933. Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, S. 45. Ebd., S. 46. Spranger: März 1933, S. 404.

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Im resümierenden Schlußabschnitt fordert Spranger deshalb, daß in einer zeitgemäßen deutschen Bildungskonzeption die für einen starken nationalen Aufbau und Zusammenhalt essentiellen Ideale »[f]reiwilliger Arbeitsdienst und Arbeitsdienstpflicht, Wehrwille des Leibes und Wehrwille des Geistes, Freiheit und Bindung, Wille zur Macht und Achtung vor Recht, irdisches Bauen und demütiger Gottesdienst«293 Beachtung finden müßten. Hatten die Vertreter des »Dritten Humanismus« bereits in der Endphase der Weimarer Republik im Strudel einer zunehmend antidemokratischen Atmosphäre die kämpferische und wehrhafte Facette ihres Modells stark konturiert und damit noch unbeabsichtigt dem späteren Hitler-Regime zugearbeitet, so machten sie 1933/1934 bewußt deutliche Eingeständnisse gegenüber der nationalsozialistischen Doktrin. Mit ihrer Bezugnahme auf den nationalsozialistischen Rasse- und Zuchtbegriff verbogen sie ihre humanistischen Grundtheoreme fast bis zur Unkenntlichkeit in eine totalitäre, inhumane Richtung und trugen damit den alten, die Würde des Menschen betonenden »Dritten Humanismus« zu Grabe. Jaegers ›Paideia‹, aber auch Sprangers ›März 1933‹ sowie Bertrams Rede zum George-Jubiläum sind deutliche Belege dafür, daß 1933/1934 »[d]er Gedanke der Rasse und des Blutes […] vollen Eingang«294 in ihr Weltbild fand. So erklärt Jaeger in dieser Zeit die Besonderheit und Wirkmächtigkeit des ›griechischen Geistes‹ über seine spezifische »rassenmäßige Formanlage« bzw. über die »verborgenen Erbeigenschaften der Rasse und des Blutes«, die von den Deutschen aufgrund ihrer engen rassischen Verbundenheit mit den antiken Griechen besonders gut wahrnehmbar seien.295 Ähnlich argumentiert Bertram, wenn er die Vermählung von ›griechischem‹ mit ›germanisch-nordischem Geist‹ in der Literatur als wahrhaftig ›deutsche Geste‹ und Vorschein auf das reale »Dritte Reich« präsentierte.296 Denn beide Ethnien – frühe Griechen wie Deutsche – verfügten als Nordvölker über »das uralte arische, gemeinsame Bluterbe«; den vermeintlich nordischen Einschlag des vorhomerischen Griechentums begründet er mit der engen freundschaftlichen Beziehung zu den im hohen Norden beheimateten Hyperboräern.297 Bertrams Gedanken scheinbar 293 294

295 296 297

Ebd., S. 408. Gisela Müller: Die Kulturprogrammatik des dritten Humanismus als Teil imperialistischer Ideologie in Deutschland zwischen erstem Weltkrieg und Faschismus. Diss. masch. [Ost-]Berlin 1978, S. 106. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 9; S. 88. – Siehe auch S. 4. Vgl. Bertram: Möglichkeiten deutscher Klassik, S. 248f. Vgl. ebd., S. 264 (dort das Zitat); S. 269f. – Zum mythischen Volk der Hyperboräer siehe Annemarie Ambühl: Hyperboreioi. In: DNP 5 (1998), Sp. 802f. Die Angehörigen dieses

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fortschreibend, betont Jaeger in dem Abschnitt »Spartanische Staatserziehung« in seiner ›Paideia‹, daß sich gerade in Sparta die »Eigenart« der mitteleuropäischen Völker, die im Zuge der dorischen Wanderung nach Griechenland gekommen waren, »am reinsten« erhalten habe; dabei verwendet er ein deutlich nationalsozialistisch gefärbtes Vokabular. An entsprechender Stelle heißt es: Von dem dorischen Stamm hat wohl Pindar sein Ideal des blonden hochrassigen Menschentypus hergenommen, als den er nicht nur den homerischen Menelaos, sondern auch den Nationalhelden Achilleus und schlechthin alle ›blondhaarigen Danaer‹ der heroischen Vorzeit des Hellenentums sich vorstellt.298

Die von Jaeger vorgetragenen Überlegungen erinnern stark an die Überzeugung Hitlers, Sparta sei »[d]er klarste Rassenstaat der Geschichte«,299 und an dessen Idealbild vom arischen Deutschen; als Gewährsmann der bertramschen Hyperboräer-Theorie könnte dagegen der führende Ideologe der NSDAP und Chefredakteur des ›Völkischen Beobachters‹, Alfred Rosenberg, in Betracht kommen oder aber Richard Walther Darré, bekannt als ›Reichsbauernführer‹ und Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft: Rosenberg behauptet in seinem ›Mythus des 20. Jahrhunderts‹,300 die großen Kulturen des Altertums seien durch Menschen nordischen Geblüts hervorgebracht worden, untergegangen aber, weil sich ihr Volk mit Angehörigen anderer, angeblich ›minderwertiger‹ Rassen vermischt habe,301 und Darré bezeichnet in einem ersten Konzept für ein Sparta-Buch den dorischen ›Musterstaat‹ »als Staatsschöpfung aus Nordischem Blut«.302

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antiken Volksstammes bewohnten der Legende nach ein Gebiet »jenseits des Nordwinds (Boreas)«. Apollon soll sich, wie auch Bertram hervorhebt, den gesamten Winter über dort aufgehalten haben, bis er in den Parnassos einzog, und Herakles besorgte aus diesem Gebiet den heiligen Ölbaum für die Spiele in Olympia. Jaeger: Paideia. Bd. 1, S. 118f. Adolf Hitler: »Appell an die deutsche Kraft«. Rede auf dem NSDAP-Reichsparteitag in Nürnberg (04.08.1929). In: Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte. Bd. III: Zwischen den Reichstagswahlen Juli 1928 bis September 1930, Teil 2: März 1929 bis Dezember 1929. Hrsg. und kommentiert von Klaus A. Lankheit. München u. a. 1994, S. 345–354 (Nr. 64), hier S. 348. Alfred Rosenberg: Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München 1930. Der Bezug zu Rosenberg ist von Bertram nicht explizit hergestellt worden, kann jedoch meines Erachtens vielfältigen Anspielungen entnommen werden. Zu Rosenbergs Abhandlung vgl. Hilde Kammer und Elisabet Bartsch (Hrsgg.): Nationalsozialismus. Begriffe aus der Zeit der Gewaltherrschaft 1933–1945. Hamburg 1992, S. 44f. Volker Losemann: »Ein Staatsgedanke aus Blut und Boden«: R. W. Darré und die Agrargeschichte Spartas. In: Laverna 16 (2005), S. 67–120 (mit Edition), hier S. 94.

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Wie Jaeger verstrickt sich auch Spranger in eine rassistische Argumentation, wenn er in dem affirmativen Beitrag ›März 1933‹ versucht, den Vorwurf eines übersteigerten Antisemitismus zu entkräften, der von Kritikern der nationalsozialistischen Anschauung vorgebracht wurde. Dabei stellt er die seiner Meinung nach positiven Aspekte der hitlerschen Rassenpolitik und Züchtungsutopien heraus, die in einer zeitgemäßen Erziehungskonzeption hinreichende Berücksichtigung finden sollten: Auch der Sinn für den Adel des Blutes und für Gemeinsamkeit des Blutes ist etwas Positives. Bewußte Pflege der Volksgesundheit, Sorge für einen leiblich und sittlich hochwertigen Nachwuchs (Eugenik), bodenständige Heimattreue, Wetteifer der Stämme und Stände ohne unnötige Zentralisierung an verkehrter Stelle, gehören zu den Kräften, die neu belebt sind und die in eine bessere Zukunft weisen.303

Auch wenn kurzfristig der Eindruck entstand, als sei es Jaeger, Spranger und Bertram gelungen, mit ihren opportunistischen Texten Anschluß an das hitlersche Weltbild zu finden, so gab es doch markante Unterschiede zwischen »Drittem Humanismus« und Nationalsozialismus, die eine konfliktfreie Verbindung erschwerten und letztendlich unmöglich werden ließen. So setzte Hitler mit seinem kleinbürgerlichen Kunstgeschmack, seinem positivistischen Wissenschaftsverständnis und seiner Faszination für moderne Technik Traditionen des 19. Jahrhunderts fort, die Jaeger, Spranger und die Georgeaner gerade zu überwinden strebten.304 Auch verstand sich der Nationalsozialismus als volksnahe und alldeutsche, geschlechterübergreifende Bewegung; der »Dritte Humanismus« dagegen richtete sich vorwiegend an das gymnasial gebildete männliche Bürgertum und unterstrich damit seine elitäre Grundhaltung. Zudem vertrat Jaeger, zumindest bis Ende der 1920er Jahre, die These von einer geistigen Verbundenheit der abendländischen Völker durch einen gemeinsamen, beinahe kosmopolitischen Humanismus; seine Vorstellung vom Humanismus als dem »tragende[n] Gerüst im Aufbau unserer politischen Welt«, der »wie kein zweites geistiges Prinzip die nationale Idee der Völker mit der Tatsache ihrer übernationalen Verbundenheit zu vereinigen weiß«,305 war nicht mit der nationalsozialistischen Fixierung auf die germanische Rasse zu vereinbaren, die sich von den anderen europäischen Ethnien aufgrund ihrer angeblichen Überlegenheit absetzte. 303 304 305

Spranger: März 1933, S. 403. Vgl. Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, S. 233. Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. In: HRV, S. 162.

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Während der »Dritte Humanismus« das antike Griechentum vor dem Hintergrund kultureller Erwägungen rezipierte und bewunderte, war die nationalsozialistische Bezugnahme auf Hellas rassisch motiviert. Damit ist die entscheidende und nicht zu überbrückende Differenz angesprochen, die sich zwischen beiden Weltanschauungen wie eine riesige Schlucht auftat: Ein biologistischer Rassismus, wie ihn die Nationalsozialisten betrieben, ist mit humanistischen Überlegungen, die auf dem Grundgedanken einer aktiven, die Menschenwürde schützenden Weiterbildung basieren, nicht zu vereinbaren. Wenn das Blut, also eine angeborene genetische Eigenschaft, zum entscheidenden Kriterium für die gesellschaftliche Progression erhoben wird, dann ist unumkehrbar vorbestimmt, wer zum Kreis der Auserwählten gehört; eine Aufnahme in diese elitäre Gemeinschaft nach erfolgreich absolvierter Paideia ist nicht mehr möglich. Diesen wunden Punkt trifft auch der nationalsozialistische Rasseforscher Hans F. K. Günther, wenn er in seiner Schrift ›Platon als Hüter des Lebens‹ gegen das humanistische Axiom polemisiert, »Tüchtigkeit sei lehrbar und erlernbar«306 und nicht erblich bedingt. Seine Stellungnahme ist ein deutliches Signal dafür, daß eine Verbindung von »Drittem Humanismus« und »Drittem Reich« zum Scheitern verurteilt sein mußte. Aber nicht nur divergierende Vorstellungen bezüglich der Entwicklungsfähigkeit des Menschen behinderten aus nationalsozialistischer Perspektive eine Zusammenarbeit mit den Vertretern des »Dritten Humanismus«. So wurden bald nach ihren ersten Versuchen, die eigene Konzeption als »bildungspolitisches Korrelativ der staatstheoretischen Vision des ›Dritten Reiches‹«307 den neuen Machthabern anzupreisen, unter den Nationalsozialisten Stimmen laut, die gerade die intellektualistisch-kontemplative Seite des »Dritten Humanismus« anprangerten und dem gegenüber ein noch stärker vitalistisches und praxisbezogenes bzw. handlungsorientiertes Antikebild einforderten. Obwohl Krieck Jaegers Essay ›Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike‹ in die erste Ausgabe seines Propagandaorgans ›Volk im Werden‹ aufgenommen und damit auch gutgeheißen hatte, bezweifelte er wenig später, daß humanistische Grundgedanken mit der konkreten, lebensweltbezogenen nationalsozialistischen Anschauung zu vereinbaren seien. Er war der Überzeugung, daß jede Erscheinungsform des Humanismus, auch des gegenwärtigen »Dritten«, sich auf ein abstraktes, durch die 306 307

Hans F. K. Günther: Platon als Hüter des Lebens. Platons Zucht- und Erziehungsgedanken und deren Bedeutung für die Gegenwart. 2. Aufl. München 1935, S. 76. Benda: Die Bildung des Dritten Reiches, S. 30.

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Wissenschaften generiertes Ideenkonstrukt gründe. Insofern seien seine Leitgedanken nicht in praxi in der Realität zu erfahren, sondern nur durch philosophisches bzw. ästhetisches Literatur- und Kunststudium anzuverwandeln.308 Wie Krieck distanzierte sich auch der nicht nur im Nationalsozialismus als Wissenschaftler hochgeschätzte Althistoriker Helmut Berve schnell vom »Dritten Humanismus«, den er als »zu gedanklich, zu wenig vital«309 erachtete. Daher riet er auch seinen Anhängern, den geschichtsphilosophisch ausgerichteten Altertumswissenschaftlern um Jaeger sowie den George-Schülern, die einen »künstliche[n] Neoklassizismus, eine Altertumsromantik bedenklicher Art« betrieben, »ein blutvolles Verhältnis« zum Altertum aufzuzeigen, aus dem eine »unmittelbare lebendige Antike« geschaffen werden könne.310 Unter Anspielung auf Jaegers programmatische Idee von der »geistigen Gegenwart der Antike« – die auch im Titel des großen Festvortrages zum einhundertjährigen Bestehen des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches 1929 festgehalten ist – statuierte Berve: Nicht eine geistige Gegenwart, der die Blässe des Gedankens anhaften muß, entspricht unserem dem Intellektualismus absagenden Willen, nein, die sinnliche Gegenwart gilt es zu beschwören. Das ist zeitgeboten, und das ist auch im antiken Sinn.311

Eine solche sinnlich-körperliche Berührung mit dem Griechentum inszenierte Leni Riefenstahl mustergültig in ihren beiden Propagandafilmen zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, ›Fest der Völker‹ und ›Fest der Schönheit‹, die vom Geist der nationalsozialistischen Antikebegegnung getragen sind.312 Mit zunehmender Kritik am humanistischen Gedankengut seitens einflußreicher nationalsozialistisch gesinnter Parteifunktionäre und Wissenschaftler wurden auch aus den eigenen Reihen leise Vorbehalte gegenüber dem herrschenden Regime geäußert, wie es sich besonders gut am Beispiel Sprangers demonstrieren läßt, der sich über das Jahr 1934 hinaus – auch in der Öffentlichkeit – noch häufig zu Wort meldete. Anders als in 308 309

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Vgl. Ernst Krieck: Unser Verhältnis zu Griechen und Römern. In: Volk im Werden 1 (1933), Heft 5, S. 77f., hier S. 77. Berve: Antike und nationalsozialistischer Staat, S. 290. – Zu Helmut Berves Wissenschaftspolitik vgl. Stefan Rebenich: Alte Geschichte in Demokratie und Diktatur: Der Fall Helmut Berve. In: Chiron 31 (2001), S. 457–496. Berve: Antike und nationalsozialistischer Staat, S. 288; S. 291; S. 292. Ebd., S. 293. Zu Riefenstahls beiden Olympiafilmen des Jahres 1938 vgl. Thomas Alkemeyer: Körper, Kult und Politik. Von der »Muskelreligion« Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936. Frankfurt a. M., New York 1996, S. 474–488.

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den zwanziger Jahren lag es ihm nun verstärkt daran, die Bedeutung einer sich freiheitlich entfaltenden Persönlichkeit für den Aufbau einer deutschen »Volksgemeinschaft« als Gegengewicht zu einer staatlichen Gleichschaltung zu betonen. Schon 1933 legte die neue Regierung etwa mit dem ›Ermächtigungsgesetz‹ oder der ›Reichstagsbrandverordnung‹ ihre Absicht offen, mit dem Außerkraftsetzen verfassungsmäßiger Grundrechte totale Kontrolle über den einzelnen zu gewinnen. In seiner philosophischen Abhandlung ›Die Individualität des Gewissens und der Staat‹ aus demselben Jahr prangerte Spranger die staatliche Vereinnahmung der bisher autonomen Bereiche Kirche und Wissenschaft als gefährlich an. Er gab zu bedenken, daß beide durch den Akt der Gleichschaltung ihrer eigentlichen Funktion nicht mehr nachkommen könnten, als Statthalter einer höheren Wahrheit ein unabhängiges Gewissen als absolute moralische Instanz zu generieren, vor der sich der einzelne zu verantworten habe und die (politisches) Handeln bewerte und kontrolliere.313 Mit dem dezidierten Bezug auf ein subjektives Gewissen als höchsten Maßstab für das eigene Tun deutete sich bereits Mitte der dreißiger Jahre Sprangers späterer Rückzug in die Kontemplation an. Durch die Erfahrung des »Dritten Reiches« seien ihm, wie er 1957 in der Rückschau bekannte, die bisher üblichen, d. h. die dezidiert politischen HumanismusDeutungen fragwürdig geworden.314 Deshalb bemühte er sich – vielleicht auch zur Kompensation der eigenen Schuld, die er dadurch auf sich geladen hatte, daß er zeitweilig der nationalsozialistischen Barbarei zuarbeitete –, in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten um einen möglichst pragmatischen und realistischen Bildungsbegriff. Dieser sollte es dem Individuum ermöglichen, daß es »in seiner besonderen Wirkungssphäre sittliche Entscheidungen treffen kann, Verantwortungen trägt und sich in Konflikten an einem wachen Gewissen ausrichtet«.315 Als Bezugsrahmen bot sich für den gläubigen Spranger nun die weniger stark politisch konnotierte ethisch-religiöse Sphäre geradezu an. Es entstand die Theorie einer christlich-humanistischen Bildung, die sich »am Absoluten der ethischen Verpflichtung und der Gotteserfahrung«316 entzündete. Anders als Spranger konzentrierte sich Jaeger, nachdem ihm sein Essay für ›Volk im Werden‹ nicht die erwünschte Resonanz eingebracht hatte, 313 314 315 316

Vgl. Eduard Spranger: Die Individualität des Gewissens und der Staat (1933). In: GS 8, S. 1–33, hier S. 30–32. Vgl. ders. an Theodor Haering, 25.08.1957. In: GS 7, S. 325f., hier S. 325. Ders.: Der geborene Erzieher (1958). In: GS 1, S. 280–338, hier S. 313. Ders.: Das deutsche Bildungsideal der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Beleuchtung. In: GS 5, S. 105.

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auf die noch ausstehenden Teile seiner voluminösen ›Paideia‹ und kehrte damit der deutschen Öffentlichkeit den Rücken. Die gerne wahrgenommene Gelegenheit, 1935 ein Semester lang die prestigeträchtige Stanforder Sather-Professur einzunehmen sowie der Ruf nach Chicago 1936, der eine Übersiedlung in die Vereinigten Staaten ermöglichte, erleichterten seinen Rückzug in die Wissenschaft. Wie Spranger bewahrte sich Jaeger im amerikanischen ›Exil‹ sein Vertrauen in eine Menschenbildung auf humanistischer Grundlage, und auch er tauschte seinen politischen Bildungsbegriff gegen einen religiös fundierten aus, indem er die altgriechische Philosophie als Präfiguration des christlichen Glaubens deutete:317 The true paideia, be it education or legislation, is founded on God as the supreme norm. It is – to speak with Plato’s Republic – ›conversion‹ from the world of sensual self-deception to the world of the one true being which is the absolute good and the one desirable. Or in the words of Plato’s Theaetetus: true human virtue is assimilation to God.318

Ein geplanter vierter Band der ›Paideia‹, der die »Amalgamierung des griechischen Kulturgedankens mit der christlichen Glaubenswelt«319 umreißen sollte, wurde nicht in die Tat umgesetzt; seine Konzeption schlägt sich allerdings in Jaegers letztem Buch, ›Early Christianity and Greek Paideia‹,320 nieder, das 1961 erschien.321 Für den Nachkriegshumanismus der Georgeaner läßt sich ein Ausweichen in den kontemplativ-religiösen Bereich nicht nachweisen, was aber wohl hauptsächlich daran liegen dürfte, daß sich mit Georges Tod am 4. Dezember 1933 im Tessin der Kreis faktisch auflöste.322 Es fehlte, da mit Gundolf, Wolters und Vallentin bereits besonders charismatische Mitglieder gestorben waren, die seine Führungsposition hätten übernehmen können, eine bündelnde Mitte, die weiterhin die verschiedenen Fraktionen auf eine zumindest oberflächlich einheitliche Interpretation der Lehre festgelegt hätte.323 317 318 319 320 321 322 323

Vgl. Marchand: Down from Olympus, S. 358. Werner Jaeger: Humanism and Theology (1943). In: HRV, S. 300–324, hier S. 320. Wolfgang Schadewaldt: Gedenkrede auf Werner Jaeger 1888–1961. Mit einem Verzeichnis der Schriften Werner Jaegers. Berlin 1963, S. 16. Werner Jaeger: Early Christianity and Greek Paideia. Cambridge, Mass. 1961. Vgl. Schadewaldt: Gedenkrede auf Werner Jaeger 1888–1961. Vgl. zur Entwicklung des George-Kreises nach dem 04.12.1933 die beeindruckende Studie von Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009. Bereits in den 1920er Jahren läßt sich eine gewisse weltanschauliche Inhomogenität innerhalb des Kreises konstatieren; dazu wird die Tatsache beigetragen haben, daß – veranlaßt durch die stetig anwachsende Mitgliederzahl und die diversen Unterkreise – sich die enge und persönliche Bindung aller Georgeaner zu George, wie sie noch für den Zeit-

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Jaegers und Sprangers Rückzug in den scheinbar unverfänglichen humanistisch-religiösen Bereich während der 1950er und 1960er Jahre geht konform mit einem typischen Handlungsmuster, das sich für viele preußisch-konservative Intellektuelle des alten antidemokratischen Lagers nachweisen läßt, die zunächst die nationalsozialistische »Machtergreifung« empathisch begrüßt hatten. Sowohl Ringer als auch Schildt verweisen in ihren Studien darauf, daß sich Wissenschaftler aus diesem Milieu nach 1945 häufig in ein »esoterisches Gelehrtentum« bzw. einen christlichen Nachkriegskonservatismus flüchteten.324 Trotz der Bemühungen, den Humanismus unter einem religiösen Vorzeichen fortzuführen, hinterließ Sprangers und Jaegers paideutisches Wirken in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg keine tiefen, zeitbeständigen Spuren – vielleicht auch, weil ihre spontanen Kooperationsversuche mit dem nationalsozialistischen Staat die humanistische Anschauung diskreditiert hatten. Auch wenn letztendlich die Integration von humanistischem Gedankengut in die nationalsozialistische Ideologie scheiterte, bleibt abschließend die Frage zu erörtern, wie es überhaupt möglich werden konnte, humanistische Ideale derartig ins Rassische zu verbiegen und politisch zu modifizieren. Ein Grund für diese Option ist mit Sicherheit in den systematischen Schwächen zu suchen, die einem geistesgeschichtlichen Denkmodell wie der humanistischen Anschauung, das den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit zu beeinflussen, per se inhärent sind. Anders als empirisch-fundierte Theorien, die bestimmte geschichtliche Ereignisse oder Entwicklungen mit Hilfe überprüfbarer analytischer Verfahren wertneutral erklären und auf dieser sicheren Basis Empfehlungen für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft abgeben, gründet sich der deutsche Humanismus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf empirisch nicht verifizierbare und daher nur schwer nachvollziehbare metaphysische und

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raum von ca. 1900 bis 1920 charakteristisch war, nun nicht mehr realisieren ließ und damit eine Verselbständigung seiner Lehre begünstigte. Ergänzend und unterstützend kam hinzu, daß im Zirkel Persönlichkeiten aufeinandertrafen, die trotz ihres adligen bzw. großbürgerlichen Hintergrundes und der gemeinsamen Kreis-Sozialisation ganz unterschiedliche religiöse und politische Anschauungen hegten. So verband die Verehrung der georgeschen Lyrik beispielsweise den Zionisten Wolfskehl mit dem assimilierten Deutsch-Juden Morwitz, den liberal eingestellten jüdischen Historiker Kantorowicz mit dem chauvinistischen, deutschnationalen Wolters und mit dem geradezu fanatischen NSAnhänger Woldemar Graf von Uxkull-Gyllenband. Vgl. Axel Schildt: Der deutsche Konservatismus – Kontinuitäten und Brüche im 20. Jahrhundert. In: Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960). Ed. par Michel Grunewald et Uwe Puschner. Bern 2003, S. 27–45, hier S. 44. – Das Zitat ist folgendem Buch entnommen: Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933. Stuttgart 1983, S. 392.

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metapolitische Spekulationen. Zeit- und raumübergreifende Gesamtentwicklungen werden unter Zuhilfenahme abstrakter, nicht greifbarer geistiger Phänomene gedeutet, die der gläubigen Aufnahme bedürfen. Damit hängt die Akzeptanz und Relevanz geistesgeschichtlicher Modelle einerseits stark von äußeren Faktoren wie aktuellen und allgemeinen religiösen, sozialen, humanitären, wirtschaftlichen sowie politischen Bedürfnissen ab, andererseits aber auch von der propagandistischen Leistung der Verfechter; entscheidend ist, inwieweit es ihnen gelingt, die vorgetragenen Ideen überzeugend in Bezug zur konkreten Lebenswirklichkeit zu setzen, sie als vermeintliche ›Lösungen‹ der drängenden Probleme und Fragen der eigenen Zeit zu präsentieren und damit die Notwendigkeit, diese kritisch zu hinterfragen, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Soll also der humanistischen Anschauung der Status einer allgemeinen, unantastbaren Wahrheit zugewiesen werden, wie ihn auch religiöse Grundsätze für sich beanspruchen, sind auch ihre fundierenden Ideen – natürlich in einem vorgegebenen Rahmen – so auszulegen, daß sie den potentiellen Adressaten sinnstiftend und subjektiv nachvollziehbar erscheinen. Dieser Anspruch ist nur dann umzusetzen, wenn mit phrasenhaften Verallgemeinerungen oder semantisch offenen bzw. mehrdeutigen Begrifflichkeiten operiert wird, die individuell und flexibel ausgedeutet werden können. Allerdings eröffnet eine solche Praxis auch – und darin verbirgt sich das explosive Potential eines derartigen ›Geist‹-Denkens – multiple Interpretationsmöglichkeiten: Ändern sich die Kontexte, in denen auf den Humanismus als Orientierungshilfe bietende Instanz zurückgegriffen wird, so muß sich zwangsläufig das ihm zugewiesene Profil wandeln, weil die Erwartungen und Hoffnungen, die auf ihn projiziert werden, andere geworden sind. Damit ist auch radikalen Deutungen und politischen Funktionalisierungen Tür und Tor geöffnet. Diese Problematik läßt sich an einem prominenten Beispiel demonstrieren: Im Neuhumanismus um 1800 wurde mit der konstitutiven Idee einer spezifisch ›deutsch-griechischen Wesensverwandtschaft‹, die es erlaubte, sich in kultureller wie weltpolitischer Hinsicht zu den alleinigen Erben der Hellenen zu stilisieren und damit eine Führungsrolle in menschheitlicher wie allgemein-kultureller Hinsicht zu beanspruchen, die deutsche Griechenrezeption politisch aufgeladen. Anders als in der Zeit nach 1900 wurde sie jedoch in eine liberale, kosmopolitische Gedankenwelt eingebettet, die in Folge der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution zur allgemeinbestimmenden, universalen politischen Leitinstanz avancierte. Damit war vorläufig eine konkret-nationale Auslegung bzw. Instrumentalisierung des humanistischen Gedankengu302

tes unterbunden. Erst unter wachsendem Einfluß nationalpolitischer Interessen, internationalen Konkurrenzdenkens und imperialistischer Vorstellungen, die seit der zweiten Hälfte des ›politischen‹ 19. Jahrhunderts das Weltbild der Deutschen bestimmten, wurde der Humanismus national enggeführt, mit einem deutschen Überlegenheitsgefühl und daraus resultierenden missionarischen Ansprüchen gekoppelt. In der Atmosphäre allgemeiner Orientierungslosigkeit, aus der scheinbar nur eine radikale Option einen Ausweg versprach, wurden daher humanistische Grundideologeme mit deutsch- (bzw. national)sozialistischen und sozialdarwinistischen Vorstellungen amalgamiert und zur zeitgemäßen Erlösungsutopie stilisiert. Aber auch innerhalb eines vergleichsweise geschlossenen sozialen Gefüges wie des George-Kreises ist eine divergierende, ja sich in extreme Positionen spaltende weltanschauliche Konkretisierung der gemeinschaftlichen humanistischen Lehrsätze – vor allem der Idee vom »Neuen Reich« bzw. »geheimen Deutschland« – zu konstatieren. Wolters, Bertram und der spätere Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg forcierten zwar jeweils eine nationale Sinngebung der Lehre und arbeiteten an der Überführung des geistigen Reiches in eine konkrete politische Form, allerdings unterschieden sich ihre Entwürfe diametral. Der von einem charismatischen Sendungsbewußtsein geleitete Wolters war nach dem deutschen Zusammenbruch 1918 besessen davon, die Idee eines geistigen Deutschtums in neokonservative, korporativistische Staats- und Gesellschaftsentwürfe zu integrieren. Einen Eindruck von seiner missionarischen Tätigkeit, mit der er »einen ideologischen Rahmen« schuf, »der den Übergang zu rechten politischen Überzeugungen erleichterte und mit vorbereitete«,325 vermitteln seine ›Vier Reden über das Vaterland‹.326 Anders als Wolters setzte Bertram Georges ästhetisch-kulturelles »Neues Reich« mit dem »Dritten Reich« der Gegenwart gleich und instrumentalisierte damit Georges Dichtung zu Propagandazwecken für das HitlerRegime. Dagegen verband der Offizier Stauffenberg,327 nachdem auch er anfangs mit dem Nationalsozialismus sympathisiert hatte, mit dem 325 326 327

Groppe: Die Macht der Bildung, S. 265. Wolters: Vier Reden über das Vaterland. Zu Stauffenberg und seiner Ausdeutung des »geheimen Deutschland« vgl. Manfred Riedels gründliche ideengeschichtliche Studie (Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Köln, Weimar, Wien 2006). – Riedel führt die Widerstandsbemühungen der drei Brüder und Claus’ Attentat ursächlich auf ihre Kreiserziehung zurück, besonders auf das Verständnis und die Verinnerlichung der georgeschen Reichsutopie, die gemäß Hölderlins Deutschlandprojektion eine übernationale, ›hesperische‹ Qualität aufweise.

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georgeschen »geheimen Deutschland« einen humanen und universalen Staat, zu dem »nichtdeutsche Völker wohl dazu gehören konnten«.328 Noch unmittelbar vor seiner Erschießung – von den Nationalsozialisten war er am 20. Juli 1944 als Drahtzieher des gescheiterten Staatsstreiches und versuchten ›Führermordes‹ zum Tode verurteilt worden – rechtfertigte er das Attentat und den intendierten Sturz des Regimes nach Edgar Salin im Namen des »geheimen Deutschland«.329 Allein Kantorowicz warnte bereits 1933 vor den Gefahren der Übertragung ästhetisch-geistiger Konstrukte auf die politische Realität, indem er mit Euripides seine studentische Hörerschaft dazu aufrief: »›Keine Gemeinschaft mit Denen [sic!] unmusischer Art‹, wollen Sie Ihr Eigenstes bewahren.«330 In Verbindung mit der Überzeugung, das Nur-Faustische, welches in das Dunkel der Tiefen hinunterdrängt und sich in ihnen verliert, statt die Tiefen ans Lichts [sic!] zu heben und sie im Tagesglanz Leib werden zu lassen, ist […] die Gegenkraft des ›geheimen Deutschland‹,331

läßt sich Kantorowicz’ Rede wie ein verklausulierter Appell zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Ideologie auffassen, die dem ›wahren‹ Deutschtum entgegenwirke. Bereits im Sommer desselben Jahres hatte die jüdischstämmige Basler Philosophin und George-Anhängerin Edith Landmann einen Aufruf »An die deutschen Juden, die zum geheimen Deutschland hielten« verfaßt. In diesem wohl nicht für die Öffentlichkeit bestimmten unpublizierten Text, der nach Groppe »die klarste Stellungnahme eines Kreismitglieds zu den Ereignissen 1933«332 darstellt, verurteilt Landmann die »Parodie auf das Neue Reich, die vom Dritten Reich gemimt wird«,333 aufs Schärfste. Zu328 329

330 331 332

333

Vgl. Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart 1992, S. 449. Vgl. Salin: Um Stefan George, S. 324, Anm. 123. – Die letzten Worte Stauffenbergs sind umstritten; auch Augenzeugen überliefern einen unterschiedlichen Wortlaut. Der Stauffenberg-Biograph Peter Hoffmann geht aber von einem Ruf auf ein »geheiligtes Deutschland« aus (vgl. Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, S. 443 mit Anm. 318). Jüngst plädierte der George-Biograph Karlauf wieder für die Formulierung »geheimes Deutschland« (vgl. Karlauf: Stefan George, S. 638). Kantorowicz: Das Geheime Deutschland, S. 173. Ebd., S. 171. Carola Groppe: Widerstand oder Anpassung? Der George-Kreis und das Entscheidungsjahr 1933. In: Günther Rüther (Hrsg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn u. a. 1997, S. 59–92, hier S. 90. Edith Landmann: An die deutschen Juden, die zum geheimen Deutschland hielten. Typoskript. 20 Seiten. Stefan-George-Collection. AR 1038. Leo Baeck Institute New York, zitiert nach Groppe: Widerstand oder Anpassung?, S. 90.

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gleich brandmarkt sie die von einigen Kreismitgliedern bekundete Sympathie mit dem Nationalsozialismus als »Verrat am Geheimen Deutschland, das bis dahin Juden und ›Arier‹ eingeschlossen hatte«.334 Nun werde plötzlich unterschieden: »Juden sind Pack, das weg muss. Und Du und Du, natürlich, Ihr seid Ausnahmen, ihr könnt bleiben«.335 Zwar ist nicht vorbehaltlos der Mehrzahl der Vertreter des »Dritten Humanismus« – Kantorowicz bleibt hier eher die zu rühmende Ausnahme – zu unterstellen, daß es sie »im Grunde genommen nur mit halbem Herzen interessierte, wer nun in Deutschland an der Macht war und wem Kultur und Bildung dienten«,336 doch fehlte vielen von ihnen ein selbstkritisches Bewußtsein für die Tragweite einer solchen Vermischung von Realpolitik und religiöser Ästhetik. Der Archäologe Ludwig Curtius, der wohl dem Umfeld des »Dritten Humanismus« zuzurechnen ist,337 bekannte sich aus der Rückschau in seiner Autobiographie ›Deutsche und antike Welt‹ zu dieser ›Politik‹ der Unpolitischen, wenn er schreibt, daß die Politik für uns kein Geschäft, kein Klasseninteresse, kein Stück persönlichen Ehrgeizes, sondern ein Teil unseres weltanschaulichen Idealismus war.338

Doch endete dieser für die konservative geistige Elite allzu typische unkritische, gläubige Idealismus offenbar ausgerechnet an dem Punkt, als eindeutige Klarstellungen und Abgrenzungen gegenüber der NS-Ideologie gefragt waren. Aufgrund ihres herausgehobenen Status als angesehene Wissenschaftler bzw. Schriftsteller galten die Vertreter des »Dritten Humanismus« in der gebildeten Öffentlichkeit als Statthalter der Wahrheit – um so mehr Gewicht wäre ihren die realpolitische Situation betreffenden Äußerungen zugekommen, mit denen sie sich während des Kaiserreiches und der Weimarer Republik keineswegs zurückgehalten hatten. Doch nur eine einzige öffentliche Stellungnahme, die – wenn auch in verklausulierter Form – Kantorowicz mit seiner ›Wiederantrittsvorlesung‹ im Wintersemester 1933/1934 abgab und aus der die eigene Distanz gegenüber der nationalsozialistischen Anverwandlung des Humanismus 334 335 336 337 338

Groppe: Widerstand oder Anpassung?, S. 90. Landmann: An die deutschen Juden, die zum geheimen Deutschland hielten, zitiert nach Groppe: Widerstand oder Anpassung?, S. 86. Beat Näf: Werner Jaegers Paideia. Entstehung, kulturpolitische Absichten und Rezeption. In: Calder III (Ed.): Werner Jaeger Reconsidered, S. 125–146, hier S. 146. Vgl. Sünderhauf, S. 290. Ludwig Curtius: Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen. Stuttgart 1950, hier zitiert nach G. Müller: Die Kulturprogrammatik des dritten Humanismus als Teil imperialistischer Ideologie in Deutschland, S. 108.

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deutlich hervorgeht, stellte sich dem Mißbrauch neuhumanistischen Gedankengutes entgegen. Dagegen verwendete Jaeger, der bislang ausschließlich von einem »erneuerten Humanismus« gesprochen hatte, in den Jahren 1933/1934 gezielt den Begriff »dritter Humanismus« – in offensichtlicher Anlehnung an das »Dritte Reich«, seine Pädagogik an die herrschende Doktrin andienend, ohne aber die realpolitischen Konsequenzen dieser Annäherung kritisch zu hinterfragen. Zwar hatte sich Jaeger zuvor gegen eine konkrete politische Lesart seines Humanismus ausgesprochen und noch in ›Staat und Kultur‹ 1932 formuliert: »Jeder Versuch des Staates, den Geist auf sein Programm festzulegen oder ihn als bloßes Mittel sich dienstbar zu machen, lähmt die Kultur und macht auch ihre Hilfe für den Staat wertlos.«339 Doch daß er schon bald darauf das Gegenteil behaupten konnte, ohne dies als Bruch wahrzunehmen, verweist auf die grundlegende Ambiguität des »Dritten Humanismus«, der von Anfang an als eine Medaille mit zwei Seiten zu gelten hat: Denn einerseits veranschlagte er für sich im Umgang mit dem humanistischen Ideengut eine größere Rationalität sowie einen deutlicheren Realitätsbezug im Vergleich mit Denkern der Zeit um 1800, andererseits zeigte sich, daß trotz dieses Postulats eine kritische, skeptische Auseinandersetzung mit dem ›Geist‹-Denken unterblieb.

339

Jaeger: Staat und Kultur. In: HRV, S. 212f.

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Der »Dritte Humanismus«: Ein deutsches Modell

Der »Dritte Humanismus« läßt sich als eine betont ganzheitliche, nationalpädagogische Denkströmung in Reaktion auf die allgemeine Moderneund Kulturkritik in der Nachfolge Nietzsches begreifen, die vom Beginn der Wilhelminischen Ära bis 1933/1934 Einfluß auf Gymnasiasten und junge Akademiker ausübte. Auf der Grundlage eines vitalistisch verstandenen Griechentums entsteht durch Amalgamierung ästhetischer, kulturkritischer und politischer Überlegungen neuer Sinn für die Gegenwart und für ein künftiges Deutschtum. Eine humanistische Paideia, eine Bildungskonzeption auf wissenschaftlich-philosophischer Grundlage, vermittelt und sichert eben diese gefestigte und verpflichtende individuelle wie nationale Identität. Sie animiert den Menschen zur Selbsttätigkeit, zur selbstbestimmten und freiheitlichen Entfaltung aller Anlagen und zur Ausprägung einer ganzheitlichen, aber zugleich auch zeitgemäßen Persönlichkeit, die den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts gewachsen ist. Der »Dritte Humanismus« beruht auf drei konstituierenden Ideen, die im Zusammenspiel den Wunsch nach einem neuen und besseren Dasein erfüllen sollen: erstens auf der Wiederholbarkeit bzw. Fortsetzung von Höhepunkten der Menschheits- und Nationalgeschichte, zweitens auf der Verschmelzung von Tradition und Gegenwärtigem und drittens auf der Veredelung des Eigenen durch Ergänzung mit dem angeblich natürlichen Komplement des Deutschen, nämlich dem (Alt-)Griechischen in einem weit verstandenen Sinn. Das erste Axiom ist die geschichtsphilosophische Voraussetzung der beiden anderen; zugleich ist es die Legitimation des Gesamtmodells, indem es diesem bereits im voraus Wirkmächtigkeit bescheinigt. Das zweite und dritte Axiom steuern den Erneuerungs- und Vervollkommnungsprozeß durch Synthese; sie garantieren, daß bewährte Denkmuster aus dem Kontext von Weimarer Klassik, deutschem Idealismus und Neuhumanismus wiederaufgenommen, aber entsprechend den gegenwärtigen Erfordernissen umfunktioniert werden: Winckelmanns Wertschätzung griechischer Kunst als lebendiger Form, Humboldts Bildungsgedanke, Schillers Utopie eines harmonischen Staates, Goethes Verteidigung der Einheit ästhetischer Erfahrung, aber auch Hölderlins Forderung, das Nationale durch Aneignung des Griechischen als des eige307

nen Fremden zu entfalten – all diese als theoretisch-abstrakt wahrgenommenen Ideen werden aus einer fernen künstlerisch-literarischen bzw. philosophischen Sphäre herausgelöst. Dies geschieht mit Hilfe zeittypischer Vergegenwärtigungsstrategien, die mit der antiken Auffassung einer körperlich-geistigen Harmonie, der Kalokagathie, kombiniert werden. Sie stellen die ›Vitalisierung‹ dieser Denkmuster, d. h. ihre Integration in die zeitgenössische Lebenswelt sicher. Auf der Basis eines ganzheitlichen Erlebens und Verstehens humanistischer Werte und Lebensmuster wird so ein konkretes, auf die Zukunft projiziertes Lebensmodell für die Nation begründet, das alle Bereiche – die Kultur, das Bildungswesen, die Politik und den Staat – beeinflußt. In der Konsequenz führt dies zu Postulaten wie Praxen einer irrationalen Aneignung eines vorbildlich Schöpferischen, das im kommenden Deutschen neu Gestalt annehmen soll. Im Begriff der ›Gestalt‹ als des idealschön geformten, schöpferischen menschlichen Geistes verbinden sich klassizistische Ästhetik und idealistische Geschichtsphilosophie mit vitalistischen und lebensphilosophischen Denkmustern derartig, daß das »Deutsche« und das »Klassische« zu Metaphern für das anthropologisch Große und Vorbildliche werden. Im Aneignungsprozeß wird der Auseinandersetzung mit dem geschriebenen Wort eine zentrale Rolle innerhalb der Bildungsutopien zugewiesen und damit einer Orientierung an der antiken Plastik, wie sie von Winckelmann bis Goethe geschätzt wurde, eine deutliche Absage erteilt. Entsprechend avancieren Texte zu den zeitgemäßen Medien, die Grundzüge der neuen Weltanschauung unmittelbarer, eindringlicher und allgemeinverständlicher darzulegen vermögen. Eine »humanistische« Philologie, die wesentliche Impulse der diltheyschen Hermeneutik aufgreift, wird zum entscheidenden Bildungsinstrumentarium der Zukunft. Sie gewährleistet, daß der ethisch-paideutische Gehalt, der sprachlichen Zeugnissen eingeschrieben sei, erkannt, verstanden und verinnerlicht wird. Der »Dritte Humanismus« wird in individuellen Varianten mit jeweils besonderer Akzentsetzung vertreten. Werner Jaeger beabsichtigt, nach 1918 unter der Signatur eines »Dritten Humanismus« eine akademische Fachrichtung zu initiieren, die durch Rückgriff auf das antike Griechentum zu einer veränderten Wahrnehmung und damit Bewältigung der als krisenhaft empfundenen Gegenwart beitragen soll, und Eduard Spranger will in den 1920er Jahren über den ästhetischen Nachvollzug von Höhepunkten der Menschheitsgeschichte eine humanistische Nationalbildung begründen. Damit betonen Jaeger und Spranger besonders die wissenschaftliche bzw. bildungspolitische Dimension des »Dritten Humanis308

mus«. Dessen künstlerisch-literarische Ausrichtung verkörpern dagegen vornehmlich die Georgeaner – eine nicht streng homogene Gruppierung, zu der sich, untergliedert in einzelne Schülerkreise und -generationen, im Banne Georges Männer unterschiedlicher religiöser Prägungen und politischer Überzeugungen zusammenschließen. Ihr Anliegen ist es, durch Produktion und produktive Rezeption von Dichtung die ganzheitliche Wirkung des antiken Kairos vornehmlich in der eigenen Person, aber auch in einer jungen Elite zu stimulieren. Während den Georgeanern das griechische Altertum als eine Blütezeit unter anderen gilt, attestiert Spranger der spezifisch deutschen Gestaltgebung des Hellenentums durch die Schriftsteller und Gelehrten der Goethezeit einen höheren Bildungswert als der antiken Überlieferung. Hingegen hält der Philologe Jaeger an der Beschäftigung mit der altgriechischen Sprache und Literatur zu Bildungszwecken fest. Vor allem aufgrund seines umfassenden Anspruchs auf Sinnstiftung, aber auch aufgrund seines Holismus wird der »Dritte Humanismus« anfällig für verwässerte geistesgeschichtliche Phantasmagorien und damit letztlich für eine totalitäre, antihumanistische Instrumentalisierung. Eine ideologische Nähe des »Dritten Humanismus« zum Nationalsozialismus, mit dem er aber nicht enggeführt werden kann, ist von außen gesteuerten, ereignisbedingten Verschiebungen geschuldet, denen das Modell auf systematischer wie historischer Ebene unterliegt. Die Transformationen verlaufen parallel zu den drei ›großen‹ historischen Ereignissen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die einschneidende Veränderungen des gesamten Lebens in Deutschland nach sich ziehen: der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Ausrufung der Republik in Reaktion auf den Zusammenbruch der alten Ordnung und die nationalsozialistische »Machtergreifung«. Während die »dritthumanistische« Weltanschauung um und nach 1900 noch auf einem weitgehend ästhetisch-lebenswissenschaftlichen Denken gründet, verlagert sich seit 1910 das Schwergewicht zunehmend auf gesellschaftliche bzw. nationalpolitische Zielsetzungen. Dabei wird eine direkte Einflußnahme auf die soziokulturelle Realität in den 1920er und 1930er Jahren angestrebt. Diese Verschiebungen vom Ästhetischen zum Politischen haben Auswirkungen auf die Antikewahrnehmung. In Abwendung von der Weimarer Klassik wird das vorbildliche Hellenentum seit etwa 1914 nicht mehr im Athen des Perikles gesucht – also im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert –, sondern auf das archaische Griechenland projiziert, die Zeit von ca. 700 bis 500 v. Chr. Gewährsmann dieser Neuorientierung ist Nietzsche, der das frühe Griechentum – und hier vor allem den spar309

tanischen Kosmos – gegenüber dem klassischen Zeitalter vorzieht. Unter unausgesprochenem Rückbezug auf seine Vorstellungen wird der griechische Mensch als Polis-Bürger wahrgenommen, als dessen nachahmenswerte Merkmale sein Vitalismus, sein Gemeinschaftsbewußtsein, seine Aufopferungsbereitschaft und sein heroisches Kämpfertum gelten. Damit verlagert sich der Fokus vom einzelnen auf die »Volksgemeinschaft«. Zugleich wird der abgerichtete, systemkonform agierende Staatsbürger anstelle des unabhängigen, in Freiheit allseitig gebildeten Individuums zum neuen Bildungsideal erhoben. Die Bezugnahme auf das idealistische Konstrukt einer ›deutsch-griechischen Wesensverwandtschaft‹ ermöglicht, das kommende Deutsche, in dem das Griechische aufgeht, als das Kosmopolitische schlechthin zu identifizieren. Zugleich unterliegt nun das kosmopolitisch-anthropologische Denken der Weimarer Klassik einer nationalistischen Engführung. Damit wird einem gefährlichen kulturpolitischen Hegemonialbewußtsein der Nährboden bereitet, dem sich nationalsozialistische Denkmuster zwanglos einfügen lassen. Die Überlegung, die ›deutsche Art‹ könne gerade aufgrund ihrer angeblichen Stärke und Gesundheit eine mit den antiken Griechen vergleichbare Überlegenheit erlangen, erreichte im Rassenwahn des »Dritten Reichs« ihren Höhepunkt. Jedoch ist der biologistische Rassismus des Nationalsozialismus mit humanistischen Überzeugungen nicht zu vereinbaren, die auf dem Gedanken einer aktiven Weiterbildung aller beruhen. Die Vorstellung, daß durch das Blut vorbestimmt sei, wer zum Kreis der Auserwählten gehöre, spricht jeglichem Paideia-Denken Hohn: Ein Humanismus, dem die Bildungsidee gleichgültig wird und in dem nur Werte der Abstammung zählen, ist kein Humanismus mehr, sondern Rassismus. Auch wenn sich letztendlich »Dritter Humanismus« und Nationalsozialismus nicht vereinen lassen, wird doch durch die Anbiederungsversuche etlicher ihrer Vertreter der »dritthumanistischen« Weltanschauung nicht nur die Überzeugungskraft endgültig entzogen, sondern auch das aufklärerische und regimekritische Potential, das der idealistischen Humanismusidee eingeschrieben ist. Denn gerade die Bezugnahme auf das kosmopolitisch verstandene Griechentum der Weimarer Klassik mit seinen Leitidealen Individualismus, Freiheit und Kalokagathie hätte ein Element des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Barbarei darstellen können. Diesen Weg des Widerstands versuchte der George-Anhänger und frühere Nationalsozialist Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit seinem Attentat auf Hitler zu beschreiten. Daß es möglich ist, vor der Folie ein und derselben Gesamtanschauung einerseits den Nationalsozialismus zu 310

rechtfertigen, ihm andererseits aber jegliche Legitimation abzusprechen, ist eine fundamentale Schwäche des »Dritten Humanismus«, die maßgeblich zu seinem Scheitern beigetragen hat. Zurückzuführen ist sie auf das holistische, spekulative ›Geist‹-Denken, das bereits im Neuhumanismus angelegt ist. Jedoch ist um 1800 die humanistische Idee noch in einen kosmopolitischen, auf die Bildung des Individuums zielenden Denkhorizont eingebettet und damit vor einer totalitären Vereinnahmung geschützt. Erst die Atmosphäre des aggressiven Nationalismus im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert läßt schließlich die Verengung des Humanismus auf das Deutsch-Nationale möglich werden. Zu betonen bleibt die zweiseitige Ausrichtung des »Dritten Humanismus« – einerseits auf die Vergangenheit durch die selektive Wiederaufnahme bewährter Denkmuster aus dem Kontext von Idealismus und Neuhumanismus, andererseits auf die Gegenwart bzw. nahe Zukunft durch die Bereitstellung von Anknüpfungsmöglichkeiten für die nationalsozialistische Kultur- und Bildungspolitik. Er gehört sowohl in die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Weimarer Klassik als auch in die mentale Vorgeschichte des »Dritten Reichs«. Es bietet sich also an, den »Dritten Humanismus« als eine Weichenstellung zu verstehen, von der aus die deutsche Antikerezeption vom 18. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre im europäischen Kontext als Sonderweg erscheint.

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[Ders.] Gundolf. Briefe, N. F. Hrsg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock. Amsterdam 1965 (= CP 66–68). – Caesar. Geschichte seines Ruhms. Berlin 1924. – Dichter und Helden. 2. Aufl. Heidelberg 1923. – Gefolgschaft und Jüngertum. In: BfdK 8 (1908/1909), S. 106–112. – George. Berlin, Leipzig 1920. – Goethe. Berlin 1916. – Hölderlins Archipelagus. In: Ders. Dem lebendigen Geist. Aus Reden, Aufsätzen und Büchern ausgewählt von Dorothea Berger und Marga Funk. Mit einem Vorwort von Erich Berger. Heidelberg, Darmstadt 1962, S. 25–40. – Rede zu Goethes hundertstem Todestag. Berlin 1932. – Shakespeare und der deutsche Geist. Godesberg 1947 [zuerst Berlin 1911]. – Shakespeare. Sein Wesen und Werk. 2 Bde. Berlin 1928. – Über Stil. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2 (1911), S. 116–122. – Tat und Wort im Krieg. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 11.10.1914, Erstes Morgenblatt, S. 1f. – Wesen und Beziehung. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2 (1912), S. 10–35. [Gundolf, Friedrich und Friedrich Wolters] Friedrich Gundolf – Friedrich Wolters. Ein Briefwechsel aus dem Kreis um Stefan George. Hrsg. und eingeleitet von Christophe Fricker. Köln, Weimar, Wien 2009. – Einleitung der Herausgeber. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 3 (1912), S. III–VIII. GutsMuths, Johann Christoph Friedrich: Gymnastik für die Jugend. Enthaltend eine praktische Anweisung zu Leibesübungen. Ein Beytrag zur nöthigsten Verbesserung der körperlichen Erziehung. Schnepfenthal 1793. Das humanistische Gymnasium im nationalsozialistischen Staat. Leitsätze des Vereins Bayerischer Philologen. In: NJW* 9 (1933), S. 572–574. [Hardenberg, Friedrich von] Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. 3 Bde. Hrsg. von HansJoachim Mähl und Richard Samuel. Darmstadt 1978–1987. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1978. Hauptmann, Gerhart: Griechischer Frühling. Berlin 1908. Helbing, Lothar [= Wolfgang Frommel]: Der Dritte Humanismus. 3., veränderte Aufl. Berlin 1935 [zuerst 1932]. – Der Dritte Humanismus als Aufgabe unserer Zeit. In: Vom Schicksal des deutschen Geistes. Erste Folge: Die Begegnung mit der Antike. Reden um Mitternacht. Hrsg. von Wolfgang Frommel. Berlin 1934, S. 125–140. Hellingrath, Norbert von: Hölderlin und die Deutschen. In: Ders. Hölderlin-Vermächtnis. Forschungen und Vorträge. Ein Gedenkbuch zum 14.12.1936. Eingeleitet von Ludwig von Pigenot. München 1936, S. 123–154. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 4 Bde. Riga 1784–1791. [Ders.] Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Günter Arnold u. v. a. Frankfurt a. M. 1985–2000. Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1994 (= Bibliothek deutscher Klassiker 105). Hildebrandt, Kurt: Einleitung. In: Platon: Der Staat. Deutsch von August Horneffer. Stuttgart 1939 (= Kröners Taschenausgabe 111), S. VII–XXXIX. – Hellas und Wilamowitz (Zum Ethos der Tragödie). In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), S. 64–117.

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Abkürzungsverzeichnis

Bücher, Zeitschriften und Reihen A&A AKG AU BfdK

Antike und Abendland Archiv für Kulturgeschichte Der altsprachliche Unterricht Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Hrsg. von Carl August Klein. Berlin 1892–1919 (= Abgelichteter Neudruck Düsseldorf, München 1968) CP Castrum Peregrini DA Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters DBE Deutsche Biographische Enzyklopädie. 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Hrsg. von Rudolf Vierhaus. München 2005–2008 DNP Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. von Hubert Cancik u. a. Stuttgart u. a. 1996ff. DTB Deutsche Text-Bibliothek dtv Deutscher Taschenbuch Verlag DVjs Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte EHS Europäische Hochschulschriften es Edition Suhrkamp GeorgeJb George-Jahrbuch George: SW Stefan George. Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hrsg. von der Stefan-George-Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Stuttgart 1983ff. Goethe: WA Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919 (= Weimarer Ausgabe) FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland FS Festschrift fw Fischer Wissenschaft HölderlinJb Hölderlin-Jahrbuch Hölderlin: KA Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1992–1994 (= Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag) Humboldt: Werke Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1960ff. HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hrsg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann. 5 Bde. Berlin 1971–1998 Internat. Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. und eingeleitet Germanistenlexikon von Christoph König. Bearbeitet von Birgit Wägenbaur zusammen mit Andrea Frindt u. a. 3 Bde. Berlin, New York 2003 InternatJbBvAGesell. Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Forum für die Erforschung von Romantik und Vormärz Jaeger: HRV Werner Jaeger: Humanistische Reden und Vorträge. 2., erweiterte Aufl. Berlin 1960

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JbFDH JbSchillergesell.

Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für neuere deutsche Literatur Killy Walther Killy (Hrsg.): Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Gütersloh, München 1988–1993 Killy Literaturlexikon Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann. 2., vollständig überarbeitete Aufl. Berlin, New York 2008ff. MLR The Modern Language Review NDB Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1951ff. N. F. Neue Folge N. S. Neue Serie NJklA Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik NJP Neue Jahrbücher für Pädagogik Nietzsche: KGA Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1982 Nietzsche: KSA Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Aufl. München 1988 NJW Neue Juristische Wochenschrift NJW* Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung PA Pädagogisches Archiv PCA Proceedings of the Classical Association RGG Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hrsg. von K. Galling und H. Frhr. von Campenhausen. 4. Aufl. Tübingen 1957–1962 rm Rowohlts Monographien RUB Reclams Universal-Bibliothek Schiller: NA Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums und der Deutschen Akademie hrsg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke. Weimar 1943ff. SM Sammlung Metzler SPAW Sitzungsberichte der (Kgl.) Preußischen Akademie der Wissenschaften Spranger: GS Eduard Spranger. Gesammelte Schriften. Hrsg. von Hans Walter Bähr u. a. Tübingen, Heidelberg 1969–1980 Spranger: GRA Eduard Spranger. Volk, Staat, Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze. Leipzig 1932 stw Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft TPAPA Transactions and Proceedings of the American Philological Association UTB Uni-Taschenbücher V&G Vergangenheit und Gegenwart. Zeitschrift für den Geschichtsunterricht und staatsbürgerliche Erziehung in allen Schulgattungen V&R Vandenhoeck und Ruprecht WdF Wege der Forschung WZJena Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe

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Personenregister

In das folgende Personenregister werden aus pragmatischen Gründen Stefan George, Werner Jaeger und Eduard Spranger nicht aufgenommen; als zentrale Bezugspunkte der Untersuchung wären sie für (fast) jede Seite nachzuweisen. Erwähnungen in den Fußnoten werden mit einem Sternchen * vor der entsprechenden Seitenzahl versehen. Aischylos 187 Albertus Magnus 99 Alexander der Große 258 Antinous (aus Bithynien) 131f. Aristoteles 99, 208, 258 Arndt, Ernst Moritz 190 Basedow, Johann Bernhard 124 Becker, Carl-Heinrich 5f., 11–15,

211

Benn, Gottfried 15 Bergson, Henri 86, 146 Bertram, Ernst 17, 20f., 108, *120, 139, 158, 274–276, 288, 294–296,

303

Berve, Helmut 298 Binding, Rudolf G. 7, 171, 284 Bismarck, Otto von 236, 281 Blumenthal, Albrecht Graf von 288 Boeckh, August 178 Böhlendorff, Casimir Ulrich 73f., *75 Böttiger, Karl August *66 Borchardt, Rudolf 15, 140, *241 Brasch, Hans 241 Breysig, Kurt 214 Burckhardt, Jacob 106, 210, 231f., 270f.,

277

Butler, Eliza Marian 31, 33f. Caesar, Gaius Julius 157, 270 Campbell, Thomas 69 Conrad, Susanne (seit 1934 Ehefrau Sprangers) *244 Curtius, Ernst Robert *5 Curtius, Ludwig *36, *96, 250, 305 Dante Alighieri 157 Darré, Richard Walther 295

Dilthey, Wilhelm 39, 71, 79, 86, 138, 146–148, *152, 172, 308 Diodor *153 Ebel, Johann Gottfried 77 Eckermann, Johann Peter 67 Eichhorn, Friedrich 286 Epiktet *153 Eucken, Rudolf 256 Euripides 304 Fichte, Johann Gottlieb 100, 136, 190, 215, 244, 250f., 256f., 262 Freyer, Hans *220 Friedemann, Heinrich 142f., 234 Friedländer, Paul 22, 89, 110, 179 Friedrich II. (König von Preußen) 221, 241 Frommel, Wolfgang 5f., *12, 17, 20, 134, 209, 246, *261, 281–283, 289f. Furtwängler, Addy *121 Furtwängler, Adolf *107, 121f. Geibel, Emanuel 251 Glöckner, Ernst 20, 257 Gobineau, Joseph Arthur Comte de 255f. Gock, Karl Christoph Friedrich *71, *73 Goebbels, Joseph 290 Goethe, Johann Wolfgang von 32f., 37, 43, 57, 63f., 66–71, 79, 84, 140, 151, 156f., 162, 188, 191–195, 273, 277, 307f. Grimm, Herman 84 Grimm, Wilhelm 84 Günther, Hans F. K. 297 Gundolf, Friedrich 17–19, 21, 29–31, 39, *94, 109, 112, 122, 126, 128, 130, 139, 142–145, *146, 149f., *158, 167–169, 183, 191, 194, 209, 214, 216, 220, 224,

341

228, 256–259, *264, 270–272, *273, 300 GutsMuths, Johann Christoph Friedrich 124f. Hadlich, Käthe 24, 213, *244 Hadrian (röm. Kaiser) 131 Haering, Theodor *299 Hardenberg, Friedrich von (= Novalis) 100 Harris, Clement 222 Hauptmann, Gerhart 15, 171 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 100, 244 Helbing, Lothar (siehe Frommel, Wolfgang) Hellingrath, Norbert von 19, *191, *243,

273

Heraklit (von Ephesos) 99, 215f. Herder, Johann Gottfried 33, 101, 113, 118, 156, 158, 162, 182f., 188, 192,

238

Heron (von Alexandria) *153 Hesiod 98, 248, 293 Heyne, Christian Gottlob 178 Hildebrandt, Kurt 17–21, 24, 61f., *143, 187, 228, *230, 234f., 281f., 288 Hitler, Adolf 254, 284f., *286, 288f., 291, 294–296, 303, 310 Hölderlin, Friedrich 19, 32f., 37, 43, 71–79, 82, 101, 114, 157, 162, 188, 191, 222, 251, 256, 273, 275, *303, 307 Hofmannsthal, Hugo von 15, 107, 140, 171, *181, 214 Homer 49, 64f., 67f., 71, 83f., 130, 150, 221f., 231, 246, 250, 270, 277, *280, 293, 295 Horaz 222 Humboldt, Wilhelm von 33, 36, 43, 51–57, *75, 79, 81, 136f., 140, 159, 162, 169f., 172–174, 182–185, 188, 190, 202, 230, 254, 290, 307 Immisch, Otto 23, 176, 196 Isokrates 9, 155 Joachim von Fiore 3f., 99 Jünger, Ernst 15 Jünger, Friedrich Georg 15 Jung, Edgar Julius *227 Kahler, Erich von 149 Kammerer, Paul 137 Kant, Immanuel 244f., 248 Kantorowicz, Ernst 17, 19, 21, 98f., *135, 139, *158, *259, *301, 304–306

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Kautsky, Karl 210 Kerschensteiner, Georg 24, 201, 263 Kessler, Harry Graf von 171 Klein, Carl August *12 Klopstock, Friedrich 160 Knebel, Karl Ludwig von 66 Körner, Gottfried 60 Kommerell, Max 19, 228, *273 Kranz, Walther 234 Krieck, Ernst 293, 297f. Kronberger, Maximilian 130–132 Kurz, Isolde 171 Landmann, Edith 142, *288, 304f. Landmann, Julius 142 Langbehn, Julius 86, 119 Langlotz, Ernst *36, 250 Leonidas I. (König von Sparta) 238 Lepsius, Reinhold *146 Lepsius, Sabine *121, *146, *215 Litt, Theodor 11 Ludwig I. (bayer. König) 82f. Ludwig XVI. (frz. König) 57 Lysipp 258 Mallarmé, Stéphane 161 Mann, Thomas 15 Manso, Johann Caspar Friedrich 238f. Markus (Evangelist) *153 Maximus von Tyros *153 Menander *130 Mesomedes 131 Moeller van den Bruck, Arthur 3f., 239 Mommsen, Theodor 179, 211 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat de 160 Morwitz, Ernst 127, *218, 228, 259f., *301 Müller, Wilhelm 83 Napoleon Bonaparte 157, 253, 270, 272f. Nietzsche, Friedrich 2, 6, 13f., 20, 32, 43, 70, 80, 84–87, 90f., 95, 102, 106f., 112, 114, 119–122, 140–142, 145f., 149, 152f., 157, 162, 188, 192, 215f., 221, 229–232, 237, 252, 254, 264, 267, 270f., *272, 276–278, *280, 281, 307, 309 Novalis (siehe Hardenberg, Friedrich von) Numenios von Apamea 131 Ovid 133 Pankrates 131 Papen, Franz von 287f.

Pausanias (der Periheget) 106 Peisistratos *232 Perikles 112, 232, 235f. Petsch, Robert 212 Pindar 241, 246, 295 Platon 16, 67, 99, 127f., 140–142, 157f., 164, 166f., 173, 187, 210, 231–236, 246, 253, 261f., 268, 271, 276, 282, 291, 297, 300 Plautus *130 Plinius d. Ä. 106 Plutarch 112f. Pohlenz, Max 229, 264 Poseidonios *153 Radbruch, Gustav 223 Rathenau, Walther *111 Regenbogen, Otto *43, 184, 196, 286f. Rehm, Walther 32f. Reinhardt, Karl 22, 90, *155, 180 Rhode, Erwin 90 Richert, Hans 198–201 Riefenstahl, Leni 298 Rilke, Rainer Maria 15, 107, 114 Rodenwaldt, Gerhart *36, 211 Roethe, Gustav 141f., 220, 256, *257 Rolland, Romain *215f. Rosenberg, Alfred 295 Rüdiger, Horst 6f., 31f. Rust, Bernhard 285f. Salin, Edgar 143, *215, 264, 304 Schadewaldt, Wolfgang 23, 94f., 249f., *300 Scheel, Willy 200 Schemann, Ludwig 256 Schiller, Friedrich 33, 43, 57–63, 66, 78f., 170, 188f., 230, 251, 307 Schinkel, Karl Friedrich 81 Schlegel, Friedrich 159 Schliemann, Heinrich 83f. Schwab, Gustav 84 Schweighäuser, Johann Gottfried *57 Shakespeare, William 151, 157, 183,

270

Simmel, Georg 146 Snell, Bruno *122 Sokrates 167 Solon 248f., 293 Sophokles 48, 64 Speer, Albert 291 Spengler, Oswald 102, 107, *118, 244f., *247

Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 303f., 310 Stemplinger, Eduard 286 Stenzel, Julius *181 Strabon *153 Stroux, Johannes *175 Tacitus, Publius Cornelius 219 Taeger, Fritz 224 Theokrit 64 Thomas von Aquin 99 Thormaehlen, Ludwig *243, 288 Thukydides 246, 287 Treitschke, Heinrich von 211 Tyrtaios 241, 248f., 276, 293 Usener, Hermann *174 Uxkull-Gyllenband, Woldemar Graf 108, 274f., 288, *301 Vallentin, Berthold 17, 19, 162, 166, *192, *204, 220, 269, *273, 300 Velde, Henry van de 7 Vergil 48, 259 Verlaine, Paul 161 Verwey, Albert *215 Vitruv 106 Voß, Johann Heinrich 67 Wagner, Richard 222, 256 Weber, Max 149, 255 Weinstock, Heinrich 290f. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 7, 92, 112, 152–154, 180, 186–188, *213, 236f. Wilhelm I. (König von Preußen, Dt. Kaiser) 237 Wilhelm II. (König von Preußen, Dt. Kaiser) 1f., 187, 224, 250 Winckelmann, Johann Joachim 32f., 36f., 43–51, 56, 59, 63f., 66f., 74, 79, 83, 87, 106, 124, 157, 162, 169f., 188, 192, 249, 307f. Wolf, Friedrich August 54, 64–66, 68–70, 84, 178, 191 Wolfskehl, Karl 17f., *98, 119f., *121, *148, 166, 183, 215f., 220, *301 Wolters, Friedrich 17–21, 24, 128, 139, 142, *143, 153f., 158, 162f., 167f., *191, 194f., 200f., 214, *216, 217, 225f., 228, 242, *246, *261, 274f., 300, *301, 303 Wolterstorff, Gottfried *287

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