Wissen und Leben - Wissen für das Leben: Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik [1. Aufl.] 9783839421604

Biopolitik und Gouvernementalität ersetzen allmählich das politische Regieren durch Netzwerke von Biosozietät. Leben beg

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German Pages 356 [358] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Nach der Biopolitik — Politik des Lebens?
Mit der Biopolitik darüber hinaus
Die Ambiguität der Biopolitik
Für eine Ontologie des Lebens: Roberto Esposito Affirmative Biopolitik und die Macht des Lebenden
Communitas, Immunitas, Biopolitik
Der Ursprung des Konflikts
Vom Impolitischen zum ›Impersonalen‹
Das Schwindelgefühl des Lebens
Jenseits von Vitalismus und Dasein
Genealogie: von der ›Menschenwerdung‹ zur ›Tierwerdung‹
Biopolitik und Zoopolitik
Die Biopolitik der Geste in den mittelalterlichen Klosterregeln
Ästhetische Mediationen
Hispanische Vitalität? Über die Message — so es denn eine gab — des Romans Tiempo de Silencio von Luis Martín-Santos
Mikropolitik des Schreibens
Lyrik oder Gymnastik?
Paperbodies: Weibliche Biopoetik
Leben, das Mediale und die Technik aus Sicht des Ästhetischen
Mediale Gouvernementalität
BioArt — Vom Labor-Objekt zum sozialen Subjekt
Transfusionen des Humanen
Biopolitik, Körper und Lebensräume
Autorinnen und Autoren
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Wissen und Leben - Wissen für das Leben: Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik [1. Aufl.]
 9783839421604

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Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben

Vittoria Borsò (Hg.) unter Mitarbeit von Sieglinde Borvitz, Aurora Rodonò und Sainab Sandra Omar

Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik

Der Druck dieser Publikation wurde gefördert von: • Deutscher Akademischer Austauschdienst • Freunde und Förderer der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf • Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e. V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © mentaldisorder / photocase.com Korrektorat: Sieglinde Borvitz, Julia Fürwitt, Sainab Sandra Omar, Kristina van Raay, Aurora Rodonò Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2160-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2160-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort Vittoria Borsò | 9

N ach der B iopolitik — P olitik des L ebens ? Mit der Biopolitik darüber hinaus Philosophische und ästhetische Umwege zu einer Ontologie des Lebens im 21. Jahrhundert Vittoria Borsò | 13

Die Ambiguität der Biopolitik Eine weberianische Lektüre José Luis Villacañas | 41

F ür eine O ntologie des L ebens : R oberto E sposito A ffirmative B iopolitik und die M acht des L ebenden Communitas, Immunitas, Biopolitik Roberto Esposito | 63

Der Ursprung des Konflikts Vom Impolitischen zur Biopolitik bei Roberto Esposito Dario Gentili | 73

Vom Impolitischen zum ›Impersonalen‹ Ein Dialog mit Rober to Esposito Enrica Lisciani-Petrini | 97

Das Schwindelgefühl des Lebens Roberto Espositos Terza persona Alberto Moreiras | 115

Jenseits von Vitalismus und Dasein Roberto Espositos epistemologischer Ort in der Philosophie des Lebens Vittoria Borsò | 141

G enealogie : von der ›M enschenwerdung ‹ zur ›T ierwerdung ‹ Biopolitik und Zoopolitik Salvo Vaccaro | 173

Die Biopolitik der Geste in den mittelalterlichen Klosterregeln Daniel Blanga Gubbay | 191

Ä sthetische M ediationen Hispanische Vitalität ? Über die Message — so es denn eine gab — des Romans Tiempo de Silencio von Luis Martín-Santos Hans Ulrich Gumbrecht | 201

Mikropolitik des Schreibens Zur Biopoetik von William Blake Roger Lüdeke | 211

Lyrik oder Gymnastik? Die Schreibszene der Pisan Cantos von Ezra Pound Marie Schmidt | 245

Paperbodies: Weibliche Biopoetik Valeria Cammarata | 263

L eben , das M ediale und die T echnik aus S icht des Ä sthetischen Mediale Gouvernementalität Timo Skrandies | 281

BioArt — Vom Labor-Objekt zum sozialen Subjekt Desiree Förster | 305

Transfusionen des Humanen Zur visuellen Poetik des Blutes in Dexter und True Blood Dominik Mäder | 321

Biopolitik, Körper und Lebensräume Ein feministischer Blick Sergia Adamo | 335

Autorinnen und Autoren  | 349

Vorwort

Dieser zweite Band zu biopolitischen Themen schließt an die 2013 erschienenen Akten der internationalen Tagung »Biopolitik, Bioökonomie, Biopoetik im Zeichen der Krisis« (20.-23.01.2010) an, der ersten Jahrestagung im Rahmen des gemeinsamen Promotionsprogramms Europäische Kulturstudien mit der Universität Palermo. Die Idee zu diesem zweiten Band kam auf, als ich während der Tagung und im Anschluss daran feststellte, dass im biopolitischen Paradigma die Frage des bíos, also des Lebens, bei der Politik ansetzt, von dieser »gefangen wird« und nicht herauskommt. Zwar gilt dies in einer solch extremen Variante nicht für alle Interpretationen des biopolitischen Projektes, doch schien es mir notwendig, mich auf diese beunruhigende Feststellung einzulassen und nach möglichen Fluchtlinien zu suchen. José Luis Villacañas hatte schon bei der Tagung von 2010 kritische Fragen zum biopolitischen Paradigma formuliert; Salvo Vaccaro konturierte Fluchtwege jenseits der Biopolitik entlang des Deleuz’schen »Tierwerdens«, der Kontingenz und des Möglichen. Diese Beiträge und die Aufsätze von Daniel Blanga-Gubbay, Valeria Cammarata, Timo Skrandies, Dominik Mäder und Sergia Adamo, in denen die Grenzbereiche des biopolitischen Paradigmas aufgesucht werden, wurden aus dem ersten Band ausgegliedert und in diese zweite Publikation einbezogen. Bei der Suche nach Ansätzen, die das Leben epistemologisch und politisch nicht durch ihre Art des Fragens »einfangen«, nimmt der italienische Philosoph Roberto Esposito eine exponierte Stellung ein. Esposito erkannte am deutlichsten die epistemologische Leerstelle der Foucault’schen Biopolitik in Bezug auf das Leben selbst, denn bíos, also der erste Teil des biopolitischen Kompositums, wurde von Foucault nicht bearbeitet, auch wenn es im Begriff selbst mitschwingt und der französische Philosoph mit dem Projekt der Biopolitik das Ziel verfolgte, eben das Leben zu untersuchen. In seinem Œuvre, das vom ›Impersonalen‹ über die Trilogie Communitas, Immunitas, Bios bis hin zum ›Impolitischen‹ geht, stellte sich Esposito eben dieser Herausforderung. Deshalb wurden die von ihm entfalteten Vermittlungen zwischen Leben und Politik, aber auch zwischen Philosophie des Lebens und Biosciences zum Gegenstand der ersten Hälfte dieses Bandes gemacht, in dem sich Esposito selbst und einige seiner Interpreten äußern. Die Auseinandersetzung

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mit dem italienischen Philosophen, dessen Rezeption in den USA bemerkenswert ist, soll auch dem deutschen Leserpublikum seine Denkweise in der riskanten Frage des Wissens und der Politik des Lebens näherbringen. Dabei spielt nicht zuletzt die Übersetzungsentscheidung in Bezug auf den Begriff des ›Impersonalen‹ eine bedeutende Rolle, der in diesem Band eine Korrektur erfährt und das in deutschsprachigen Publikationen bisher verwendete ›Unpersönliche‹ ersetzt, verstellt doch Letzteres die Denkfigur des ›Impersonalen‹ und fördert ein Missverstehen dieses Begriffes im Sinne der Negation der Person.1 Mit ›Ontologie des Lebens‹ wird schon bei Esposito, aber auch im zweiten Teil des vorliegenden Bandes der Postheidegger’sche Rahmen betont, in dem mehrere Heidegger-Referenzen konvergieren. Wenn es um die Frage geht, wie das Denken des Lebens konfiguriert werden kann, ohne dass es der Rationalität des Politischen, Ökonomischen, Juristischen oder Wissenschaftlichen anheimfällt, sind die Seinsdifferenz und das Zurücksetzen metaphysischer Zugriffe auf das Sein diejenigen Operationen, die heute bei der Suche nach einem affirmativen Weg zum bíos mögliche Fluchtpunkte öffnen. Ontologie und Ästhetik sind dabei einander eigentümlich nahe. Diesem Aspekt ist die zweite Hälfte des vorliegenden Buchs gewidmet, die Hans Ulrich Gumbrecht eröffnet. Die Nähe von Physis und Aisthesis, die auch ästhetische Objekte betrifft, wirft nicht nur neue Fragen zum Verhältnis von Leben und Technik sowie ihrer Mediationen auf, sondern gibt auch bemerkenswerte Impulse für die internationale Theoriebildung im Bereich der Geschichtswissenschaften. Dieser zweite Band hat lange auf sich warten lassen. Aber ich hoffe auf Nachsicht, wenn man bedenkt, welch immenser Übersetzungsarbeit die hier gesammelten philosophischen Texte aus den USA, Italien und Spanien bedurften. Den Übersetzerinnen und Übersetzern ist deshalb ein großer Dank auszusprechen. Diese sind Maren Ahlzweig, Sieglinde Borvitz, Michael Heinze, Martin Henrich, Elisabeth Schmalen, Aurora Rodonò, Chiara Pomi und Jenny Wirth. Für die wissenschaftliche Koordination bin ich Dr. des. Sieglinde Borvitz, Aurora Rodonò und Dr. des. Sainab Sandra Omar zu großem Dank verpflichtet. Genauso unverzichtbar beim Korrektorat der Übersetzungen, bei Lektorat und Redaktion der Texte waren Julia Fürwitt und Kristina van Raay. Für ihre Beteiligung an der Redaktion der Texte danke ich den Mitarbeiterinnen Maren Ahlzweig und Jenny Wirth, und nicht zuletzt Laura Lumpe, Nina Restemeier, Elisabeth Schmalen, Philip Hüpkes, Matthias Edeler und Jorgo Narjes (Weimar) sehr herzlich. Vittoria Borsò Düsseldorf/Weimar, im März 2014

1  |  Die Gründe für meine Übersetzungsentscheidung finden sich in meinem hiesigen Artikel mit dem Titel: »Jenseits von Vitalismus und Dasein: Roberto Espositos epistemologischer Ort«.

Nach der Biopolitik — Politik des Lebens?

Mit der Biopolitik darüber hinaus Philosophische und ästhetische Umwege zu einer Ontologie des Lebens im 21. Jahrhundert Vittoria Borsò

Michel Foucault hatte in La volonté du savoir (1976) und in seinen Vorlesungen von 1979 das Paradigma der Biopolitik eröffnet. Es wurde jenes Feld sichtbar, in dem die produktiven Kräfte des Lebens seit dem 18. Jahrhundert zum Ziel politischer Strategien wurden: Individualisierungsprozesse und zugleich die Totalisierung der Individuationen führten zur demographischen Regulierung von Bevölkerung und Territorium, was schließlich zur Basis vom modernen kapitalistischen Staate und von dessen liberalen Regierungstechniken geworden ist. Dennoch bleibt in Foucaults Spätwerk trotz einer grundsätzlichen Wende vom Disziplinarstaat zu den gouvernementalen Techniken die Wirkung dieser Techniken zwischen disziplinärer und liberaler Macht ambivalent. So zeigten sich beispielsweise in der Analyse Foucaults die Aporien von Liberalismus und Neoliberalismus: Die liberalen Regierungstechniken müssen paradoxerweise Regulierungsmaßnahmen intensivieren, um die freie Kompetivität von Interessensubjekten zu sichern, welche ökonomisch (und militärisch) produktiv sein sollen. Da auch diese Aporien in Foucaults Verständnis produktiv sind, vergrößern sie auch das als Freiheit wahrgenommene Ausmaß der Wünsche.1 Genau diese paradoxale Produktivität im biopolitischen Paradigma ist Gegenstand der 2013 erschienenen Veröffentlichung Die Kunst, das Leben zu regieren in der Spannung von bíos, Ökonomie und Ästhetik. Der vorliegende Band stellt nun die Frage, ob eine Epistemologie des ›Lebens‹ anders möglich ist, als in dessen Abhängigkeit von der Ordnung des Politischen und des Ökonomischen, in der es bei Foucault und den weiterführenden Studien steht. Wie konfiguriert sich die Semantik von bíos in den Paradigmen, die sich auf Foucault berufen?

1  |  Zu diesem Thema verweise ich auf den Beitrag von Laura Bazzicalupo (2013).

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Die Frage des Lebens, der diese Publikation gewidmet ist, ist riskant, weil die Frage selbst das Leben in der Ordnung gefangen nimmt, auf die man sich beruft. Deshalb hatte auch Giorgio Agamben für eine kommende Gemeinschaft vorgeschlagen, das Leben zum Ansatzpunkt einer Philosophie des Politischen zu machen, ohne jedoch aus einer Bipolarität von Leben und Politik herauskommen zu können. Was heißt überhaupt Leben? Der Begriff ist tautologisch und fungiert gewissermaßen wie eine black box im Latour’schen Sinne (1987).2 Der Begriff black box wird von Kybernetikern oder Biowissenschaftlern benutzt, wenn die Phänomene zu komplex sind (wie etwa die DNA oder Doppelhelix). Wenn man die black box ›Leben‹ öffnet, so kommen weitere Assoziationen auf, ist doch dessen Verhalten unabhängig von seinem Kontext bekannt. So hat auch Foucault zwar mehr als an der Oberfläche sichtbar das ›Leben‹ selbst und seine biologischen Eigenarten als Möglichkeitsbedingung der Freiheit erkannt, was sich mit besonderer Deutlichkeit aus Philipp Sarasins Parallele zwischen Foucault und Darwin ergab (vgl. Sarasin 2008). Obwohl in Naissance de la Biopolitique (2004) kein Begriff des Lebens angeboten wurde, entwickelten sich dennoch alle späteren Versionen der Biopolitik vor dem Hintergrund eines nicht problematisierten Konzepts von Leben. ›Leben‹ zeige sich als Offenes und als Resistenz gegen die auf der Basis von Carl Schmitt formulierte Theologie der Macht (Agamben), als Resistenz der multitude im fragmentierten Empire (Negri/Hardt), als Biosozietät (Robinaw) oder Vitalpolitik (Lemke) und diene jeweils als dynamisierendes Element von Gesellschaft, Politik und Ethik. Die Schriften Foucaults bleiben somit ein ebenso anregendes, wie aber für die Bearbeitung der Frage des Lebens ambivalentes Projekt. Insofern mag die Skepsis von JOSÉ-LUIS VILLACAÑAS im Beitrag dieses Bandes mit dem Titel »Was regiert die liberale Regierung? Über das Missverständnis der Biopolitik« berechtigt sein, insbesondere wenn man bedenkt, dass Foucaults mündliche Ausführungen, die als Vor-Untersuchungen für eine Geschichte der Macht und ihrer Praktiken gelten, welche im Zusammenhang mit einer Geschichte der Produktionspraktiken des Subjektes und der Sorge um sich stehen, eigentlich nur Hypothesencharakter hatten. Es mag deshalb überraschen, dass diese Vorlesungen, die unter dem Titel Naissance de la biopolitique posthum publiziert wurden (2004), durch die Rezeption als ultimative Forschungen behandelt worden sind, als wären sie präzise Ausarbeitungen von Konzepten. Villacañas geht dementsprechend über die Rezeption von Giorgio Agambens Souveränitätsverständnis bis hin zur Immanenz von Resistenzkräften des Lebendigen im Ereignis der nicht personalen Individualisierung in Deleuzes Subjektivität und schärft dabei seine Skepsis 2 | Bei Black-Boxes werden die Aktanten bzw. deren Netzwerke zu identifizierbaren und prognostizierbaren Handlungseinheiten (vgl. Latour 1987: 131). Unter dem Titel Black-Box Leben. Zwischen Materialismus und Vitalismus hat Christiane Voss eine Tagung zur Philosophie des Lebens und den Medien organisiert (12.- 13.12.2013).

Mit der Biopolitik darüber hinaus

ausgehend von den Parallelen zwischen Michel Foucault und Max Weber. Mit dieser Optik und vor dem Hintergrund der Aporien von Agambens theologischem Paradigma der Biomacht als modellierbares und virtuell unendliches Überleben, stellt Villacañas das Double-bind-Szenario der Biopolitik heraus: Überall wird Arbeit in der Werkstatt gefordert, und überall wird die Klinik gefürchtet. Nicht viel anders verhalte es sich mit dem gouvernementalen Weg der biopolitischen Deutung, in dem Existenzformen und Lebenstile fokussiert werden. Obwohl Foucault aufgrund seiner anfänglichen Rezeption von Max Weber erkannt hatte, dass die Macht nicht ausgeübt werden kann, ohne die Reflexivität und den Freiheitssinn des Subjektes zu beeinflussen, führt letztendlich dieser Weg in der FoucaultRezeption zu einer aristokratisch-nietzscheanischen Form von Subjektivierung. Hier stellt Villacañas die Frage, ob dieser homo aesteticus, der zu Nietzsche und zum Animalischen zurückkehre und dessen Kapazität des Vergessens anstrebe, nicht die letzte Illusion Fausts sei. Wenn Villacañas’ Provokation von Max Webers Analyse des Liberalismus ausgeht und deshalb immer noch vom Politischen her orientiert ist, ist es Roberto Esposito, der deutlich aufgefordert hat, das Verhältnis von Politik und Leben, von Gesetz und Leben sowie von Erkenntnis und Leben epistemologisch auf den Prüfstand zu stellen. Am Anfang von bíos, dem dritten Buch der Trilogie Communitas, Immunitas und bíos, steht die Feststellung, dass Michel Foucault im Kompositum ›Biopolitik‹ den ersten Begriff, nämlich das bíos, nicht erarbeitet und auch seinen epistemologischen Status wenig reflektiert habe (vgl. Esposito 2004: 39). Das Leben werde deshalb in seinem jeweiligen epistemologischen Rahmen gefangen gehalten.3 Die Lösungswege von Roberto Esposito werden in der ersten Sektion dieses Bandes u. a. von Esposito selbst dargelegt und diskutiert. Darüber hinaus stellen sich in den weiteren Sektionen die Autorinnen und Autoren aus verschiedener disziplinärer Perspektive der Herausforderung der Analyse des Verhältnisses von Wissen und Leben. Die Relevanz dieses Zugangs zur Frage nach dem Verhältnis von Politik und Leben, von Wissen und Leben soll zunächst daran gemessen werden, inwieweit die aktuellen Paradigmen der Biopolitik, die sich um die Begriffe Biomacht und Gouvernementalität herum ranken, das Leben und nicht die Politik zum Einsatzort des Denkens machen. Orientiert sich nicht erneut die Ontologie und die Erkenntnis des Lebens an der Politik?

3  |  So Esposito: »Das Leben wird von einer Politik eingenommen – und fällt ihr zum Opfer –, die darauf abzielt das innovative Potential des Lebens gefangen zu nehmen« (Esposito 2004: 25, dt. d. Vf.).

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D er E insat zort des L ebens in der B iopolitik In der Fortentwicklung des biopolitischen Projektes seit den 1990er Jahren ist die von Foucault hinterlassene Ambivalenz von Biopolitik eine Black-Box-Lösung. Wir finden darin bestimmte Assoziationen, die letztendlich die Abhängigkeit des bíos von der Politik stabilisieren. Dies ist der Fall, auch wenn – über die Grenzen der auf die Körper bezogenen Biopolitik hinaus – ein duktileres Instrumentarium für die Analyse sozialer Prozesse der Gegenwart gesucht wird, was etwa Thomas Lemke in der Gouvernementalität aufgehoben sieht. Auch hier ist die Einführung des Begriffs der ›Vitalpolitik‹ entscheidend. Dieses Konzept von Alexander Rüstow, dessen Definition in der Vorlesung vom 14. Februar 1979 von Foucault übernommen wurde,4 ermögliche, so Thomas Lemke, den Übergang von den physisch-biologischen zu den politisch-moralischen Existenzformen.5 Auf dieser Basis nehmen sich die Gouvernementalitätsstudien die Analyse der Kontrolltechniken und der Fähigkeit von Subjekten zur Selbstadministration zum Ziel. ›Vitalpolitik‹, eine Metapher für die Gesamtsituation des Arbeitnehmers, wird zwar für die sozialwissenschaftlichen Gouvernementalitätsstudien zum Auslöser von überaus produktiven Fragekonfigurationen (vgl. Lemke 2007).6 ›Leben‹ wird aber als Weise der Existenz interpretiert und bleibt deshalb auch hier nicht weiter hinterfragt. An der Wende zum 21. Jahrhunderts herrscht maßgeblich die Stimmung von High-risk-Gesellschaften und den Biotechnologien bzw. biotechnologischen Kontrollen vor. Je mehr das Unvorhersehbare in Politik und in den Biowissenschaften trotz des gentechnologischen Aufrüstens wächst, desto radikaler erscheinen die Herausforderungen der Biopolitik und desto unklarer oszilliert die Terminologie zwischen Biopolitik und Biomacht. Zwei Weisen der Interpretation sollen im Folgenden genauer betrachtet werden: auf der einen Seite das italienische Paradigma, das in der Biomacht die Verkörperung der sich steigernden Kontrolltechniken im späten Kapitalismus sieht – es ist die Position von Giorgio Agamben und Toni Negri; auf der anderen die an den Biotechnologien orientierte Analyse einer neuen Anthropologie der Gegenwart von Rabinow und Rose.

4  |  »[…] eine Politik des Lebens, die im wesentlichen nicht wie die traditionelle Sozialpolitik auf die Erhöhung der Löhne und die Verkürzung der Arbeitszeit gerichtet ist, sondern die sich die gesamte Lebenssituation des Arbeiters bewusst macht, seine wirkliche konkrete Situation, von morgens bis abends und von abends bis morgens« (Foucault 2006: 223f.). 5  |  Lemke verweist auf die fundierende Bedeutung dieser Konzeption von Rüstow für den Übergang Foucaults von der Biopolitik auf die Gouvernementalität (z. B. 2007a). 6 | Ich verweise auch auf die an der Goethe-Universität Frankfurt unter der Leitung von Thomas Lemke 2010 abgeschlossene Dissertation von Alexandra Rau Psychopolitik. Gouvernementalitätstheoretische Untersuchungen zu Macht und Subjekt in subjektivierten Arbeitsverhältnissen.

Mit der Biopolitik darüber hinaus

Für Agamben manifestiert sich heute die einschließende/ausschließende Matrix der aristotelischen Opposition von bíos (politisches Leben) und zoé (nacktes Leben im Bann der Politik) nicht nur in der Politik, sondern auch in den biogenetischen Technologien. Jeder ist im Umfeld des eigenen technologischen Knowhows quasi-souverän über die Entscheidung, was bloßes Leben (zoé) und lebenswertes Leben (bíos) sein kann: Die biopolitische Entscheidungsmaschine geht bis zu den einzelnen Organen, Zellen und Genen. Je mehr die Entscheidungsgewalt wächst, desto mehr steigert sich die Unbestimmtheitszone und damit der latente Ausnahmezustand.7 Anders gesagt, die Entscheidung über Leben oder Tod ist nicht mehr eine Kompetenz des Staates, sondern der medizinischen Autorität. Die Thanatopolitik ist technologisch Teil der Biopolitik. Auch dieser Band geht an verschiedenen Stellen der Frage nach dem Problem des Lebens unter Bedingungen biotechnologischer Transformationen nach. Zum Auftakt fragt ALBERTO MOREIRAS nach den Möglichkeiten einer politischen Praxis am Wendepunkt der Menschheitsgeschichte, infolge der im Laufe einer oder zweier Generationen zu erwartenden technologischen Sprünge. Trotz seiner Zustimmung zu Roberto Espositos Dekonstruktion des Personenbegriffs neigt er zur Übernahme der Sorge von Agamben um die Einverleibung des Menschen durch die Technopolitik. Agambens Strategie besteht dabei aus bipolaren, miteinander unversöhnlichen Strategien, nämlich einerseits dem Produktionsdispositiv von bloßem Leben – dessen Zerlegung nur in der Kunst möglich ist –, andererseits dem Rückzug von der Politik in die in Die kommende Gemeinschaft von Deleuze übernommene beatitudo, d. h. Glückseligkeit als Erfahrung der reinen Immanenz von Leben. Entscheidend sei aber, so Moreiras, nicht das unpersönliche und doch einmalige Leben (homo tantum), das Deleuze vorschlägt (vgl. Deleuze 2006: 385), sondern der in Moreiras’ Aufsatz ausführlich rekonstruierte Zugriff Agambens auf die Lektüre des Seminars von Martin Heidegger im Wintersemester 1929/30 mit dem seltenen Fall der Stellungnahme Heideggers zum Begriff des Lebens.8 In der für Agamben üblichen Verknüpfung seiner Heidegger-Rezeption mit dem politischen Denken von Walter Benjamin am Ende von Das Offene erfolgt das, was Moreiras als »einen gedanklichen Schritt nach vorne« bei der Übernahme der 7  |  Obwohl atopische Konfigurationen wie Asyle oder Container-Dörfer, welche Asylanten bzw. Migranten das Recht auf den Ort versagen, Agambens Radikalität bestätigen mögen, ist in Stato d’eccezione (2003, dt. 2005) das Bild der Biomacht mit der Hauptthese, das Lager – also der Ort der Biomacht zur Auslöschung des Lebens – sei der Nómos der Moderne, apokalyptisch. 8  |  Heidegger unterstreicht mit einer »diskreten Geste« die Wichtigkeit dieser Vorlesungen Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, wenn er 1975, ein Jahr vor seinem Tod, den Text dieser Vorlesungen zu der erst 1983 in der Gesamtausgabe erfolgenden Publikation freigibt und eine Widmung für Eugen Fink mit der Erinnerung hinzufügt, dieser habe »wiederholt den Wunsch [geäußert], […] diese Vorlesung möge vor allen anderen veröffentlicht werden« (Heidegger, zit. n. Agamben, 2003: 57).

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Deleuze’schen Glückseligkeit bewertet. In einer post-humanen Gesellschaft gehe die »völlige Menschwerdung des Tieres mit der völligen Tierwerdung des Menschen einher« (Agamben 2003: 86). Darin entwickle Agamben eine ›gute‹ Politik des sich Besinnens des Offenen in der Gemeinsamkeit von Tier und Mensch, und dies verhindere, dass man die Verborgenheit der Welt im Tier vergisst und als Mensch Macht ausübt, d. h. Besitz des Anderen ergreift. In dieser Lösung, und in der verstörenden Nähe von Tierwerdung des Menschen und Menschwerdung des Tieres – was aber auch ein Erwachen hinsichtlich einer Ethik des Anderen sei – sieht Moreiras trotz der zugleich als notwendig anerkannten Kritik des Begriffs der Person durch Roberto Esposito doch auch einen Appell zur Rückkehr zum persönlichen Subjekt als unabdingbar für die politische Praxis. Espositos Forderung nach einer persona vivente könne angesichts der weltweiten Zerstörung von Menschenleben nur als Banner fungieren, so Moreiras, der zweifelt, dass das Impersonale in das Animalische und das Organische reichen kann, und wachsam genug ist, sich die Kraft der Technopolitik zunutze zu machen. Zu fragen wäre indes, wie die Praxis eines solchen Subjektes aussieht, wenn sich dessen Widerstand durch den Rückzug von der Politik in die Verzichtsformel äußert, die Agamben im berühmten Satz von Bartleby verkörpert sieht: »I would prefer not to«. Dabei wäre eine weder von Agamben noch von Moreiras vollzogene Besprechung von Melvilles narrativer Ästhetik weiterführend, hat doch Bartlebys Verzicht durchaus die Fähigkeit, Sand im Getriebe der Macht zu streuen und das funktionalistische Produktionsdispositiv wenn nicht zu zerlegen, so doch zu stören. Indes bleibt bei Agamben die Double-bind-Position von einem offenen ›nacktem Leben‹ in einem Arendt’schen Sinne, das in Agambens Denken stets riskiert zum homo sacer zu werden. Es ist der von Salvo Vaccaro in diesem Band besprochene Kurzschluss von öffnendem Tierwerden und dem zoo-logischen Ausschluss des unter dem Bann einer souveränen Biomacht fallenden Lebens, der eine weitere Perspektive dieser Fragestellung eröffnet.9 Abgesehen davon, dass Agamben verschweigt, dass der Begriff von zoé bei Aristoteles ebenfalls die Potenz impliziert, Gott und Tier zugleich zu sein, muss an ihn die Frage gestellt werden, ob dessen Lösung die Bipolarität von Politik und Ontologie des Lebens nicht weiter vertieft, wobei das Leben nur als Widerstand zur souveränen Biomacht politisch aktiv werden kann. Ohne anderweitige Mediation zwischen Leben und Politik riskiert das Lebende stets zerstört zu werden, weil es sich lediglich als Widerstand vor der Gefahr von dessen Auslöschung äußern kann. Es bedarf anderer, vielleicht riskanterer Zugänge zu dem, was Moreiras richtig erkennt, nämlich die Herausforderung des heutigen Wendepunktes in der »Menscheitsgeschichte«. Agambens extreme Position zeigt jedenfalls die Gefahren einer Biopolitik, die keine Anschließbarkeit an Fragen der Ökologie im 9 | Auch in Il Regno e la Gloria will Agamben in der Glorifizierung des Souveräns das Arkanum im Zentrum der Macht sehen (vgl. 2007: 83-121, 277-284).

Mit der Biopolitik darüber hinaus

Kontext der Technikwissenschaft hat, wie es dagegen im situierten Wissen von Donna Haraway oder in den Mediationen der Existenzweisen im technisch-wissenschaftlichen Sinne von Gilbert Simondon (1989) und dessen Fortführung in der Analyse von Bruno Latour (2012) der Fall ist. Agambens extremes Verständnis von Biomacht findet sich auch bei Toni Negri, der sich auf das ›Leben‹ beruft, wenn er in seinem neomarxistischen und operaistischen Ansatz die postmoderne Fragmentierung des Imperialismus als eine Chance bewertet, das zu realisieren, was der späte Foucault mit Biopolitik intendiere, nämlich eine nun durch die Multitude vollzogene allgemeine politische Ökonomie des Lebens (vgl. Negri 2003: 79f.) zu konzipieren. Foucaults Philosophie der Freiheit und die mit Subjektivierungsprozessen einhergehenden Resistenzen der Biopolitik verwirklichen sich deshalb innerhalb eines globalisierten Empire, das nach Auflösung der Grenzen von Politik und Ökonomie, von Reproduktion und Produktion von Leben kein Außen und kein Zentrum mehr aufweist. Die Produktivität des Körpers und der Affekte dynamisiere die Biopolitik gegen die Biomacht der das Leben durchdringenden Technologien. Subjektivitäten können sich im fragmentierten Empire befreien, weil sie nicht nur von der Arbeit und von der Sprache, sondern auch vom Körper, den Affekten, Wünschen und von der Sexualität, d. h. vom ›Leben selbst‹, hervorgebracht werden (vgl. Negri 2003: 81). Steht aber Leben in dieser Produktivität des Körperlichen nicht immer noch im Bann des Politischen? Von welchem epistemologischen Standpunkt wird Wissen vom Leben gewonnen? Wissen ist bei Negri ein immaterielles Gut, das durch neue Technologien und Infrastrukturen von der Kontrolle und ungerechten Verteilung befreit werden kann und soll. Wie immer die Produktivität der Gouvernementalität zwischen dem Regieren und dem Regiertwerden definiert wird, bleibt die Frage offen, was der Status des Lebens in dieser Produktivität des Körperlichen oder gar des Molekularen ist, deren Bezugsrahmen immer noch die Ordnung ist. Bei der Kontinuitätsthese des Lagers seitens Agambens und der Transformationsthese in eine andere (gouvernementale) Ordnung bleibt das Leben in heteronomer Position gegenüber diesen Ordnungen. Wie Salvo Vaccaro in diesem Band diagnostiziert: Mit der Biopolitik werde zwar unterdrückende und repressive Herrschaft dezentralisiert, die das Leben ausschließlich als Grenze der Entfaltung der souveränen Macht interpretierte. Die Beziehung zwischen Politik und Leben präzisiert sich aber immer noch unter dem Gesichtspunkt der Unterlegenheit: Das Leben wird leben gelassen, ohne weiter die konstante Erpressung des Todes zu erleiden, die – unerwartet – zu einer extremen Bedrohung werden kann. Agambens und Negris extreme Deutung des Begriffs der Biomacht erklärt sich möglicherweise als Publikationsereignis des Jahres 1990, als Foucaults Vorlesungen des Jahres 1975-1976, die erst 1997 in der Edition von M. Bertani und A. Fontana – unter der Leitung von F. Ewald und A. Fontana mit dem Titel Il faut défendre la société – auf Französisch erschienen, schon im Jahre 1990 auf Italienisch publiziert wurden. Der Titel Difendere la societá trug den Untertitel Dalla guerra

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delle razze al razzismo di stato, was die Hauptfrage der Vorlesungen interpretierte, nämlich wie der historische Übergang am Ende des 19. Jahrhunderts möglich war, als die rassischen Konflikte zu einer Modalität von Regierungspraktiken wurden. Gemeint sind folglich jene Praktiken, die die Handlung der Anderen bestimmen, als der Staat das biologische Rassenprinzip zur Grundlage politischer Entscheidungen machen konnte. Foucault argumentiert hier im Sinne einer tragischen historischen Kombination von Biomacht und staatlicher Souveränität. Der Staat setzt wieder die alte Macht ein, »sterben zu machen« und transformiert damit die Biopolitik zum extremen (wenn auch nicht seltenen) Fall einer thanatopolitischen Technik (vgl. Foucault 1997: 214-230).10 Die Interpretation von Biomacht in Italien steht unter diesen Vorzeichen, verstärkt durch den Kontext der interethnischen Kriege jener Jahre in Ex-Jugoslawien. Agambens These des Lagers als Nómos der Moderne lässt sich ebenso damit in Verbindung bringen wie Negris Verständnis der Biomacht oder Roberto Espositos Immunitätsparadigma als thanatopolitische Pragmatik. Doch Espositos Philosophie des Lebens sucht gerade Fluchtlinien aus den thanatopolitischen Extremen der Biopolitik. Tatsächlich ist sein Ansatzpunkt die Kritik daran, dass ›Politik‹ und ›Leben‹ im Denken Foucaults einen absoluten Charakter haben und ursprünglich separate Bereiche sind, die erst im politischen Denken zusammengeführt werden (vgl. Esposito 2004: 38). Die Frage Moreiras’ am Ende seines Aufsatzes, ob ›Leben‹ als Horizont der künftigen Philosophie, wie sie Esposito postuliert, nicht lediglich eine weitere transzendentale Illusion sei, verlangt eine epistemologische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Lebens. Wie wir sehen werden, ist der Umschlag, der im Denken Espositos den affirmativen Weg einer Philosophie des Lebens eröffnet, epistemologisch.

D as epistemologische Par adigma des L ebens Rabinows und Roses Analyse der Gegenwart gehören zum Teil zu dem epistemologischen Paradigma, das Foucault im letzten Text, dem er Ende 1984 die Imprimatur gab, findet und Georges Canguilhem betraf.11 Canguilhem hatte sowohl den Mythen des philologischen Vitalismus Bergsons als auch dem Biologismus als Ausgangspunkt in der Frage des Lebens widersprochen. Vielmehr gewann Canguilhem als Epistemologe aus der Geschichte der Biologie Indikatoren, nämlich im Hinblick auf die Probleme, die es zu lösen gilt, und in Bezug auf die Reduktionen, die vermieden werden müssen. Foucaults Diagnose auf der Basis 10  |  Zum Ereignisjahr 1990 für die Rezeption der Biomacht vgl. Ottavio Marzocca (2013: 149ff.). 11  |  Es handelt sich um den Aufsatz, der in der Georges Canguilhem gewidmeten Nummer Revue de métaphysique et de morale (janvier-mars 1985) als leicht modifizierte Version der Einleitung zur amerikanischen Fassung von Normal et Pathologique erschien. Die erste 1978 publizierte Fassung ist in Band III, No. 219 von Dits et Écrits aufgenommen.

Mit der Biopolitik darüber hinaus

von Canguilhem ist heute noch gültig: Das noch zu lösende Problem ist die Frage nach der »Originalität des Lebens«, ohne dass Originalität im Sinne einer unabhängigen Domäne des Natürlichen zu verstehen wäre. Zu vermeidende Reduktionen sind diejenigen, die uns vergessen lassen, dass die Biowissenschaften bei Prozessen der Konservierung, Regulierung, Adaptation und Reproduktion die Frage des Wertes – und damit biopolitische Fragen – volens nolens nicht entbehren können. Die Arbeiten von Rabinow und Rose sind in diesem Sinne »epistemologisch«. Sie gehen tatsächlich konkreter auf die Biotechnologien des Lebens ein, die a) auf die Problematisierung der kollektiven menschlichen Lebenskraft (vitality), Krankhaftigkeit (morbidity) und Mortalität sowie auf Wissensformen, Autoritätsregimes und Interventionspraktiken Einfluss nehmen, welche wünschenswert, legitim und wirksam sind (vgl. Rabinow/Rose 2003: 3). Wenn Biopolitik die Makrotechnologien der Macht betrifft, so ist für Rabinows »Biosozialität« und Roses »Ethopolitik« (Rose 2000: 5312) die Biomacht keine abstrakte Philosophie, sondern ein dynamisches Ensemble, das sich in drei zusammenfließenden Linien artikuliert: Im biotechnologischen Wissen über vitale Prozesse artikuliere sich ein Know-how des Lebens selbst, das jedoch auch in Machtrelationen verwickelt ist, da dieses Wissen Lebewesen zu ihrem Objekt macht. Demgegenüber produzieren Subjekte, die qua Lebewesen an sich selbst arbeiten, multiple Kombinationen und Subjektivierungsmodi, die in einer Analyse der Gegenwart noch kartiert werden müssen. Die biopolitische Rationalität der nächsten Zukunft muss auf detaillierten empirischen Analysen basieren und die Transformationen, die durch diese drei Achsen hindurch erfolgen, und die Kombinationen zwischen ihnen untersuchen.13 Rose koinzidiert epistemologisch die Sorge um die »Wiederbelebung« des Lebens nach dessen Informatisierung und Mathematisierung durch die Molekularbiologie, wobei »vitality« nun als materiell-biologische Kategorie zu verstehen sei. Der molekulare Ansatz in der Biologie mache es erforderlich, produktiv mit Unbestimmbarkeiten und Wahrscheinlichkeiten umzugehen und einzusehen, dass Erkenntnisse auf dem Gebiet der Genomik Unsicherheiten gerade nicht verringern, sondern steigern (vgl. Rose 2009: 171). 12 | Ethopolitics meint die zeitgenössischen Bio-Technologien des Selbst. Die körperliche Definition der Person hat neue Beziehungen zwischen unserer Biologie und unserem Verhalten – was u. a. Thema der Epigenetik ist. So ist die körperliche Individualität offen für eigene Entscheidungen, Vorsichtsmaßnahmen und Verantwortung sowie auch Experimenten und Widersprüchen. Es ist somit insgesamt eine »politic[] of ›life itself‹« (Rose 2001). 13  |  Auf der Basis von postkolonialen Relationen, so Rabinow und Rose, gilt es, auch die transnationalen Flüsse von Wissen in Spannung mit ihrer lokalen Situierungen zu berücksichtigen – etwa das Verhältnis zu den supranationalen Institutionen wie der Europäischen Union und der World Health Organization (vgl. Rabinow/Rose 2003: 35). Trotz dieser Netzwerke räumen die Autoren ein, dass sich neue Marginalisierungen ergeben, nämlich bei denjenigen, die über die Technologien des Selbst nicht verfügen.

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Biomacht als biotechnologisch verstandener Lebensprozess steht hier nicht direkt im Bann der Politik; sie stellt vielmehr einen Verhandlungsraum von Politik, Biotechnologie und sozialen Prozessen dar. Die von Foucault bei Canguilhem betonte Unbestimmtheit und Kontingenz des Lebendigen kommen im molekularen Vokabular zwar wieder zur Geltung, doch welcher Platz wird der Kontingenz zugeschrieben, die durch die Möglichkeit, in die Natur einzugreifen, noch zusätzlich gestiegen ist,14 wenn es um die Analyse des Lebenden geht? Wie kann eine solche Analyse überhaupt formuliert werden, bevor sie zur Analyse der Weisen wird, wie Kontingenz durch Normierung reduziert wird (alte Biopolitik) oder in »zahlreichen Optionen dessen [vorkommt], was sein sollte (oder könnte)« (Nowotny/Testa 2009: 16)? Transformiert sich die Analyse des Lebens nicht wieder in eine Analyse der biopolitischen Techniken, nämlich der Art und Weise, wie das alte »Natürliche auf der molekularen Ebene erheblich politisch wird« (Nowotny/ Testa 2009: 16)15? Diese skeptischen Fragen stellen die Biowissenschaftler und Mediziner Helga Nowotny und Giuseppe Testa im Zusammenhang mit der Biogenetik (vgl. Nowotny/Testa 2009: 17). Foucault hat im obengenannten Aufsatz, in dem er die Bedeutung von Georges Canguilhems epistemologischer Positionierung in der Frage nach dem Wissen des Lebenden rekonstruierte, pointiert das Ereignishafte der Epistemologie hervorgehoben.16 Schon für Gaston Bachelard waren die Grenzen zwischen den Disziplinen keine Barriere, sondern ein Zwischenraum wechselseitiger Assimilation und deshalb auch besonderer mentaler Aktivität (vgl. Bachelard 1974: 25).17 Canguilhem hatte dieses Prinzip extrem ausgeführt. Er hatte den exakten Wissenschaften aus der Höhe ihrer Formalisierung in die Regionen der Imagination und zugleich der Philosophie unbequeme Fragen gestellt, die nicht mehr von der Ökonomie von Wahr und Falsch absehen konnten. Foucault hebt besonders die Kontingenz des Unvorhergesehenen hervor, die das Lebende als Potentialität ausmacht (von Seiten der Norm als Potentialität von Fehlern bewertet). Das Unvorhergesehene ist die noch nicht kontrollierte Bewegung, bevor es als Krankheit, Mangel oder Monstrosität bewertet wird. Es ist eine Art produktive Perturbation in einem Informationssystem, jene Perturbation, die im Zusam14 | Vgl. den Hinweis von Joseph Vogel (2002) hinsichtlich der Isolierung der Kontingenz schon in der Neuzeit. 15  |  Während noch für die Naturgelehrten des 18. Jahrhundert (etwa Diderot) aus der Ansicht der Natur Normen über den Umgang mit ihr abgeleitet werden können, was die normative Debatte über Werte und Sinngebung regeln konnte, ist mit der Biogenetik das von der Natur Vorgegebene offen für Eingriffe, sodass das Natürliche fortan deren Kontingenz unterliegt. Das, was ist, vervielfältigt sich dann in zahlreiche Optionen dessen, was sein sollte (oder könnte) – soweit Nowotny/Testa (2009: 16f.). 16  |  Vgl. Vittoria Borsò in diesem Band. 17  |  Ich verweise auch auf Friedrich Balkes Betonung des vorläufigen und produktiven Charakters wissenschaftlicher Grenzziehungen und Überschreitungen (vgl. Balke 1993: 242).

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menhang ästhetischer Prozesse eine besondere Rolle spielt, wie sich in der der Ästhetik gewidmeten Sektion dieses Bandes herausstellt, die aber den Umschlag von einem thanatologischen in einen lebensfördernden Begriff von Immunität bei Roberto Espositos epistemologischer und genealogischer Auseinandersetzung mit dem medizinischen Begriff immunitärer Prozesse ermöglichte. Es ist deshalb nicht zufällig, dass Canguilhems Epistemologie und Neudeutung der Norm in Immunitas einen Umbruch im Denken von Immunität herbeiführt,18 nämlich von der Objektivierung des Lebens in Abhängigkeit von der Norm hin zur Transzendenz des Lebens gegenüber der Norm. »Die Norm des Lebens eines Organismus ist vom Organismus selbst gegeben, sie ist in seiner Existenz enthalten« (Canghuilhem zit. n. Esposito 2004: 200).19 Canguilhem kehrt also die Abfolge von Vorgängigkeit und Nachfolge um. Das Abnorme bestimmt die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit der Norm. Das Abnormale besteht vor der Normierung, widersteht ihr, die es vereinnahmt, es dringt in ihr Inneres ein und modifiziert sie. Es ist die Tendenz zur permanenten Selbstdekonstruktion, oder anders gesagt: Der normalste Organismus ist derjenige, der am häufigsten seine Normen übertreten und transformieren kann. Die Norm ist also die Fähigkeit, die eigenen Normen zu verändern. Das Außen im Inneren ist die Bedingung der Lebenskraft der Existenz – eine in der Biogenetik fundamentale Einsicht. Für Canguilhem bedeutet dies, dass sich das Leben und – anders als das Gesetz – die Norm, auf die es sich bezieht, sich nicht im Grenzbereich der Trennung, sondern am Berührungspunkt zwischen Lebendem und Leben abspielt, wie auch von der heutigen kulturwissenschaftlichen Ökologie20 angestrebt.21 Wir sind nicht mehr 18  |  Am Ende des vorletzten Kapitels von Immunitas ermöglicht der Bezug auf Canguilhem den Übergang von der immunitären Thanatologie als Schutz des Lebens geschlossener Organismen – ein Schutz, der »das Risiko erzeugt, das er abwehren soll (vgl. Esposito 2004a: 197) – zu einem Immunitätskonzept, das als Alterierung von Identitäten lebenserhaltend ist. Donna Haraway ist die Referenz des darauf folgenden, letzten Kapitels von Immunitas mit dem Titel »Implantat«. Das Ineinandergreifen von Norm und Abweichung wird zu einer Bedingung der Lebenskraft der Existenz. Darauf geht die Biologin und Kulturtheoretikerin in The promises of monsters ein: »The genetics of immune system cells, with their high rates of somatic mutation […] makes a mockery of the notion of a constant genome even within ›one’s‹ body. […] The immune system is everywhere and nowhere. Its specificities are indefinite if not infinite, and they arise randomly; yet these extraordinary variations are the critical means of maintaining bodily coherence« (1992: 323). Vgl. Vittoria Borsò (2013a). 19  |  Die Original-Passage Canghuilhems findet sich in Canghuilhem (1977). 20  |  So Donna Haraway: »If the word exists for us as ›nature‹, this designates a kind of relationship, an achievement among many actors, not all of the human, not all of them organic, not all of them technological. In its scientific embodiments as well as in other forms nature is made, but not entirely by humans; it is a co-construction among humans and non-humans« (1992: 297). 21  |  Hierauf geht der vorliegende Band speziell im Kontext der Bioart ein.

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im Bereich der von Benjamin denunzierten Gewalt der Rechtsprechung, die das Leben durch Aufopferung des Lebenden sichert und erhält. Vielmehr muss das Denken des Lebenden vom Lebenden selbst zu Konzepten inspiriert werden,22 schlussfolgert Esposito auch in bíos mit Bezug auf La connaissance de la vie.23 Hier wird das, was Esposito im Vorwort zu bíos postuliert, nachvollziehbar: Wonach bisher nicht gefragt wurde, ist nach einem bíos, nach einem Leben, das nicht – wie in der modernen Biopolitik – durch die Mediation der Ordnung und mit von ihr abhängigen Kategorien konzipiert wird, eine Ordnung, die das transzendentale Apriori des Verhältnisses zwischen Macht und Subjekten darstellt (wie im gouvernementalen Paradigma). Vielmehr wird auch in Auseinandersetzung mit den Biowissenschaften nach Konzepten von Leben gesucht, das in dessen Immanenz die Normen seiner eigenen Politik enthält, denn eine etwaige absolute, bejahende Politikfähigkeit des bíos ist noch nicht behandelt worden (vgl. Esposito 2004: XIII). Im Lebenden finden sich also Spuren der Macht des Lebens selbst. Das Epiteton »vivente« für das Denken der italienischen Philosophie (vgl. Esposito 2010) nimmt Bezug auf im Leben verwurzelte Konzepte, wie sie Canguilhem gefordert hatte. So ist dieses Denken zwar der Geschichtlichkeit zugewandt, doch mit dem Bewusstsein, dass keine symbolische Ordnung das ursprüngliche Magma der Potentialität des Lebens vollkommen ausradieren kann, die eine der animalischen Dimension nahestehende anthropologische Schicht darstellt und von jeher eine Quelle lebenspendender Antagonismen gewesen ist.

R oberto E sposito und die M acht des L ebenden : F ür eine O ntologie des L ebens Der Frage nach dem Status des ersten Bestandteils des Kompositums Biopolitik, nämlich bíos, Leben, ist der dritte Band der Trilogie gewidmet. Den Weg dazu macht sich Esposito frei ausgehend von einer etymologisch gewonnenen Neudefinition von Gemeinschaft als gemeinsamer munus, als geteilte Verpflichtung zur Gabe (Communitas), was aber im Laufe der politischen Theorie in Konflikt zur separatistischen Teilung und Verabsolutierung des Individuums gerät. Immunitäre Operationen, die schon im römischen Recht einige Privilegierte von der Pflicht freistellten, werden im separatistischen Denken moderner Staaten zum Hauptprinzip der Identitätssicherung auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene. Immunität ist damit die komplementäre Operation von Communitas und zugleich ihre Negativform (vgl. Esposito 2004a: 47ff.), die mit der Verflechtung 22  |  »Il pensiero di ciò che vive deve assumere dal vivente l’idea di esso« (Esposito 2004: 208). Diese und alle folgenden Übersetzungen von Espositos Schriften sind von mir. 23  |  Es ist notwendig, Methoden des »Denken[s] des Lebendigen zu finden, die eine Konstellation realisieren, in der das Lebendige nicht als Objekt gegen das Leben aufgerechnet wird« (Canguilhem 1992: 12f.).

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von biologisch-medizinischen und staatspolitischen Konzepten eine thanatologische Dynamik erhält.24 Wenn diese Dynamik eine gewisse Schwelle überschritten hat, richten sich Immunitätsoperationen auch gegen das Innere des Gemeinschaftskörpers und gegen das Leben selbst. Esposito schreibt bíos, das dritte Buch seiner Trilogie, um den Begriff des Lebens von der Abhängigkeit von Ordnung und Subjektivität zu befreien und damit epistemologischen Reflexionen über die Ontologie des Lebens Raum zu geben. Auf diesem Weg versucht Esposito einzulösen, was er in seinen verschiedenen Studien postulierte: eine politische Theorie sei notwendig, die nicht eine Theorie über das Leben, sondern des Lebens ist, was verlangt, die Politik in der Immanenz des Lebens selbst und nicht das Leben in Funktion der Politik zu denken (vgl. Esposito 2004: XVI). ›Jenseits der Biopolitik‹ bedeutet also für Esposito die Suche nach einer duktilen, anpassungsfähigen Konzeption von Leben, das nicht an die Norm einer ihr äußerlichen politischen Ordnung festgebunden ist (vgl. Esposito 2004: XIII). Dies findet sich in der Deutung des Begriffs der Biomacht als Macht des Lebens und nicht Macht über das Leben. Das ›italienische Denken‹ habe immer gewusst, dass die Menschengeschichte jenen Traum der europäischen Philosophie in Bezug auf einen neuen rationalen und artifiziellen Beginn nie realisieren kann, der das Gewicht des Ursprungs ausmerzen könnte (vgl. Esposito 2010). In Bíos nennt Esposito das Leben als Potenz, wie es über Nietzsche in die Moderne eingegangen ist, nämlich als vitalen Impuls, den Nietzsche als Ausgang aus der sich erschöpften politischen Ordnung der Mediation zwischen Macht und Leben vorschlägt (vgl. Esposito 2004: XIV) – einer biopolitischen Mediation, die im 19. Jahrhundert zur Bio-Kratie wird und in die Biologisierung der Politik mündet (vgl. Esposito 2004: XVI). Das Ende von Bíos mündet in einer Reflexion zur Immanenz des Lebens ausgehend von Deleuzes (1998) »Immanence: une vie«. Der Status des Lebens wird als eine Virtualität konzipiert, die das Verwirklichte transzendiert (vgl. Esposito 2004: 213). Denn die überschüssige Vitalität entbirgt sich aus einer Lebensnorm. Hier gelingt Esposito der Übergang zur Konzeption einer Politik des Lebens, das nicht das Leben einer je externen (juridischen, politischen) Norm unterstellt. Vielmehr antwortet die politische Norm dem immanenten Impuls des Lebens, dessen Sprache für Esposito die Ansprache des Impersonalen (»richiamo dell’impersonale«, Anm. d. Verf.) ist. Es ist ein immanenter Impuls, der der Norm die Potenz des Werdens des Lebens verleiht (vgl. Esposito 2004: 214). DARIO GENTILI und ENRICA LISCIANI PETRINI führen die von Moreiras 24  |  Neben der von Foucault ebenfalls besprochenen Bedeutung von Marie-François-Xavier Bichats Isomorphismus der Gewebe (das Wissen über deren vitalen Eigenschaften eröffne sich durch das Wissen des Todes, so dass der Tod zum Ausgangspunkt wird, von dem aus ärztliches Wissen die Wahrheit des Lebens zu fassen sucht [vgl. Esposito 2004a: 188-189]) verweise ich auf die Besprechung der politischen Transformation der Semantik von Rudolf Virchows Cellularpathologie (1858) als ›Zellenstaat‹ (vgl. Esposito 2004a: 183-186) wie auch auf die Analyse der Kriegsmetaphorik in der Medizin (vgl. Esposito 2004a: 214-222).

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begonnene Debatte zum Impersonalen weiter aus. Gentili betont, dass die »affirmative Biopolitik« Espositos die Überwindung der Dichotomie zwischen Biopolitik und Biomacht meint. Leben als Horizont einer affirmativen Biopolitik ist nicht eine weitere transzendentale Illusion oder ein metaphysischer Rest. Vielmehr denke Esposito die Immanenz des Lebens radikal. Biomacht ist eine Form der Politik des Lebens selbst, eine Falte des Lebens in sich selbst, weil sich das Leben selbst gegen todbringende Überschüsse immunisiert. Die Biomacht ist also nicht die Macht über das Leben, sondern sie ist selbst die Macht des Lebens, die von der Politik verlangt, eine Unbegrenztheit durch die Begrenzung der Immunität zuzulassen. Dies werde seit dem mit Hobbes angesetzten modernen Politischen dadurch pervertiert, dass es den produktiven, lebenserhaltenden Konflikt ausschaltet und jenes Subjekt erst herbeiführt, das sich durch Teilung und Unterwerfung (zunächst der Disziplinär-, dann der Kontrollgesellschaft) autorisiert. Ab diesem Moment ist der von allen geteilte munus, die Pflicht zur Gabe, zu einer Schuld und einer Gefahr für die Individualisierung und Privatisierung des Eigenen geworden, gegen die sich das Subjekt und die Gemeinschaft durch Ausschaltung eben dieser Pflicht immunisieren müssen. »Terza Persona« sei insofern eine neue politische Praxis, weil es mit dem Impersonalen ermögliche, Konflikt und Mediation zu konzipieren, zumal das Leben selbst aus dem Konflikt Kraft schöpft. Gentili zeigt so den Zusammenhang von Espositos Konzept des munus mit der Ethik von Levinas. Denn die Pflicht zur Gabe macht bei der Störung der Nähe zum Antlitz erneut den Konflikt zwischen Befangenheit und Gleichheit möglich (vgl. Esposito 2007: 152), ein Konflikt, der den moralischen Bezugsrahmen als unzutreffend dekuvriert, die Sprache der Person zur Form des Impersonalen umkehrt und so den Bedarf einer Ethik in der Politik des Lebens selbst begründet. Trotz einer Skepsis hinsichtlich der politischen Praktikabilität des Impersonalen beschreibt auch ENRICA LISCIANI PETRINI die »absolute Immanenz«, die Esposito mit der Deleuze’schen Grundlage des Impersonalen erreicht, als den Schlusspunkt einer Erneuerung der politischen Philosophie, die mit der Dekonstruktionsarbeit des Impolitischen begann. Im Sinne der Heideggerianischen Basis von Esposito betreffend die ›ontologische Differenz‹ vollzieht das Impersonale wie auch schon davor das Impolitische eine Bewegung der Verschiebung. Vorgängige Annahmen werden verabschiedet und die Immanenz des Politischen und der weltlichen Polis verlieren ihr festes Fundament. Eine Leere und ein Außen bestimmen – im Sinne des »Denken des Außens« von Foucault und Deleuze25 – die

25  |  Vgl. Foucaults »La pensée du dehors« (1994a). Die Immanenz des Außen an der Grenze widersteht der Zentralität (vgl. Deleuze 1998: 95f.). Das primordial zu denkende Moment der reinen Potenz aller Formen schreibt sich als ein »milieu d’extériorité« ein, woraus sich relativ freie oder befreite Kräfte entfalten, seien diese Kräfte solche der Kreativität oder der Transformation und Resistenz. Als eine im Sein vorhandene Exteriorität öffnet das Außen im Innen die Grenzbereiche des Seins (vgl. Proust 1998: 36).

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Immanenz selbst. So wie das Impolitische keine Anti- oder Apolitik ist,26 sondern einen radikalen Wandel sucht, so ist das Impersonale keine unpersönliche Position des Subjektes, sondern die Entleerung von dessen Essentialismus. Tatsächlich ist Espositos Philosophie des Lebens eine nicht essentialistische Ontologie, bei der neben Nietzsches expansiver Potenz auch der Substanzbegriff von Baruk Spinoza den weiteren Baustein einer »innovativen Politik« des Lebens darstellt. Espositos Rückkehr zu Nietzsche ist im Rahmen seines Versuchs zu sehen, bíos von der Ordnung der Politik abzukoppeln, worauf VITTORIA BORSÒ eingeht, um mit der Rekonstruktion des Zugriffs auf Nietzsche in bíos auch eine Antwort auf Villacañas’ Warnung hinsichtlich der Rückkehr zum homo aestheticus zu geben. Nietzsches expansive Potenz und Spinozas Substanzbegriff erhalten in Espositos Denken eine gesteigerte Intensität durch den Austausch mit den Anderen und mit der Umwelt (vgl. Esposito 2004: 205f.) – ein Moment, das zu einem zentralen Motiv der Transformation des Immunitätsbegriffs wird. Mit dem Immanenz-Begriff ist die Potenz des Lebens als expansives, – im Sinne Spinozas – von anderen kommendes und sich zu anderen bewegendes Prinzip die Basis eines neuen Denkens des Politischen (Esposito 2004: 211).27 Hier werden mit Bezug auf Deleuze ein semantischer Übergang und eine ontologische Implikation betont, die die Politik »des Lebens« von transzendentalen Illusionen befreit, um jeweils zum partikularisierten Ereignis eines Lebens zu kommen. Esposito beruft sich auf Deleuzes Begriff von haeccéité, der nicht individualisierten Singularität eines Neugeborenen als Verkörperung der – noch nicht geformten – Potentialität und absoluten Immanenz innerhalb eines Lebens, so die Deleuze’sche Transposition des Heidegger’schen Daseins.28 Genau hier liegt das Ziel einer Philosophie jenseits der Biopolitik: Es geht um die Desubstantivierung des Lebens zugunsten des Lebenden in allen partikulären Individuationen eines jenen Lebens, und dieser Fluchtpunkt erfolgt durch die De-Essentialisierung der Teilungen des Lebens in unterschiedliche Lebensformen. 26 | Dabei setzt sich Esposito in Categorie dell’Impolitico – ein Titel, der einen direkten Widerspruch zu Carl Schmitts Kategorien des Politischen formuliert – mit den maßgeblichen Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts auseinander. So geht er von Nietzsche und Heidegger zu Derrida, von Kojève und Bataille zu Foucault, von Weber und Schmitt zu Weil, Canetti und Arendt (vgl. Lisciani-Petrini in diesem Band). 27 | Esposito geht auf die Interpretation von Dickens »Our Mutual Friend« durch Deleuze ein (vgl. 2004: 212). 28 | Diese Transposition geht über verschiedene Stufen. Deleuze übernimmt von Gilbert Simondon das als Verbindung von Informations- und Gestalttheorie transformierte Individuationsprinzip von Dun Scotus; er selbst transponiert die eccéité Simondons in haeccéité (oder auch heccéité) und betont so die zeiträumliche Gebundenheit des Da-Seins in Bezug auf das hic et nunc, wohingegen Simondon mit eccéité die Individuation der Dinge durch die Produktivität der Arbeit und die ›Informationsfunktion‹ der Form meinte (vgl. Simondon 1989: 57).

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G ene alogien : V on der ›M enschenwerdung ‹ zur ›Tierwerdung ‹ Zwei Aufsätze zeigen, wie das Leben in der Philosophiegeschichte seit dem Mittelalter – mit all den hier besprochenen Diskontinuitäten – zwischen zwei Extremen gespannt ist: Von der Menschenwerdung zur Tierwerdung. DANIEL BLANGA-GUBBAY analysiert in Traktaten des frühen Mittelalters, wie die Dynamiken der klösterlichen Disziplin die Geste nach ihrer Kodifizierung in eine historische Dimension der Biopolitik tragen: Wie auch schon bei der ersten Geste der Scham von Adam und Eva nach dem Sündenfall, wird durch die Disziplinierung der Geste der Körper der tierischen Gestualität entzogen. Letztere würde ein nacktes Leben des Körpers und die zoologische Zentralität offenbaren, die Benjamin und Agamben diesem Begriff gegeben haben. Der Entzug der tierischen Gestualität ist zugleich die Wende zur politischen Überschreibung des Körpers. Die Geste formt als erste Sphäre das bíos, nämlich das politische Leben des Körpers, wie sich in diesem Aufsatz bei der Analyse verschiedener theologischer Traktate des Mittelalters aufzeigt – vom Heiligen Ambrosius bis hin zu Hugo von Sankt Viktor und Bernhard de Clairveaux im 12. Jahrhundert. Die religiös-mittelalterliche Gestik entwerfe zwar eine pars construens in Richtung einer moralischen Erziehung des Körpers und diese diene zunehmend der politischen Hierarchie von Kirche und Monarchie, doch zeigt sich von Anfang an die Spannung der Techniken des Selbst, die Foucault in frühchristlichen Kulturen analysiert hat. Denn die Entstehung des Individuums dient zwar schon bei Hugo von Sankt Viktor entsprechend der organischen Körpermetapher zur Sicherung des Allgemeinwohls und der Körper wird schon hier zum Miniaturbild des Reiches oder der aufkommenden nationalen Monarchien, doch gibt die Kollektivierung der Geste zugleich auch Subjektivierungsprozessen statt. Die Geste wird zwar erstmalig im Ad quid venisti? des Bernhard de Clairvaux dem Blick Gottes unterworfen, doch wird dadurch die Geste als Konstituent der Seele von einem externen sozialen Urteil unabhängig. Am Anfang des 21. Jahrhunderts müsse es, so SALVO VACCARO, um die Desubstantivierung der ontologischen Fixierung des Menschen auf einer überlegenen Form der Domestizierung des Seins (vgl. Vaccaro 2013: 8) gehen. Diese Dessentialisierung des Menschseins erfolgt mit Hilfe des Deleuzianischen Paradigmas des Tierwerdens als wilde Lebens-Form, mit der das In-forme, das Deleuze bei dem Maler Francis Bacon analysiert, der Offenheit des ›nackten Lebens‹ im Sinne Hannah Arendts entspricht. Vaccaro sieht in ›in-formen Lebensformen‹ mögliche Fluchtlinien aus einem objektivierten Leben, die in Richtung eines Tierwerkes als germinales Leben führen. Darin könne man, so Vaccaro, eine nicht todbringende Beziehung zur Politik konzipieren, die dem Lebenden wieder ein Werden ermöglicht, das sich nicht in einem einzigen Bedeutungsgeflecht fangen ließe. Wenn der Einsatz des Lebens immer im Zentrum jeglicher spekulativer Reflexion stand – gleich welche theoretische oder disziplinäre Perspektive ein-

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genommen wird – so werde mit diesem Paradigma eine neue Ontologie formuliert: nämlich die Kontingenz der materiellen Beziehung jedwedes Lebenden mit der Welt gegen die erbauende Konstruktion einer (zu enthüllenden) verborgenen, spekulativen Formgebung des Verhältnisses von Leben und Welt. Die radikale Frage »welches Leben?« beantwortet Vaccaro also mit dem Wagnis eines zoopolitischen Ansatzes, der mit der Destitution des zweideutigen lexikalen Distichon zoé/bíos die Bedeutungen einer tierischen Zoopolitik als Dekonstruktion der ›Ontologie des Menschen‹ reflektiert. Das aristotelische Vermächtnis wird zugrunde gelegt, in dem zoé und bíos übereinstimmend sind, was ermöglicht, die politische Übereinstimmung zwischen zoé und Zoo zu entkoppeln: Ersteres als Lebender, der sich nicht an den reinen, menschlichen, das Animalische domestizierenden Blick assimilieren lässt, zweitens in Form des heillosen Durcheinanders des Zoos, als Sinnbild der menschlichen Behandlung des Tierischen, in der sich die eigene Bestialität des ausschließenden Blickes widerspiegelt. Diese Veränderung der Optik ist eine privilegierte Domäne der Ästhetik.

Ä sthe tische M ediationen Ästhetik ist nicht die revolutionäre Bedingung für einen Ausgang aus der Biopolitik wie etwa die historischen Avantgarden glauben mochten; sie ist höchstens Widerstand, aber vor allem eine Weise des Sprechens, Schreibens, Sehens, die z. T. in gefährlicher Weise Grenzbereiche des Lebens auch in Auseinandersetzung mit der Politik und dem Wissen über das Leben betritt und Spurenräume jenes Überschusses an Lebenden erfahren lassen kann. Nicht zufällig ist in den letzten Jahren die Erforschung von Affekten, von körperlichen Mediationen, von Intensitäten, Pathos und Gesten einer der prominentesten Kompetenzbereiche der Ästhetik geworden – auch etwa als Bestandteile von Patienten-Narrativen, eben dies, was den Konzepten den Sitz im Leben zurückgibt. Einer der kongenialen Versuche, diese Seite der Performanz von Literatur und Kunst theoretisch zu fassen, ist das Präsenz-Paradigma von Jean-Luc Nancy und Hans-Ulrich Gumbrecht. Die Ontologie des ›Lebenden‹ offenbart sich in einer ›Selbstentbergung‹ und wird als Präsenz erfahren, eine Erfahrung, die Gumbrecht zu Recht jenseits eines hermeneutisch wie auch semiotisch konzipierten Sinns oder dessen Dekonstruktion ansiedelt. Von der Ontologie Heideggers leitet Gumbrecht die differentielle Gleichzeitigkeit von Sinnkultur und Präsenzkultur ab. ›Präsenz‹ ist die von Jean-Luc Nancy ins Spiel gebrachte Frage nach der Erfahrung der physischen Nähe und Greifbarkeit unter den Bedingungen extremer Zeitlichkeit (vgl. Gumbrecht 2004: 77) mit dem (scheinbaren) Verschwinden von Gegenständlichkeit oder dem in einer je spezifischen Welt zum Verschwinden gebrachten oder zerstörten Leben. Gumbrecht sieht das Spannungsverhältnis zwischen dem Sinn (also dem, wodurch die Dinge zu etwas kulturell Spezifischem werden) einerseits und der Präsenz andererseits als den wichtigsten »Konvergenzpunkt mit dem Heideggerschen Sein« (Gum-

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brecht 2004: 77). Wir suchen nach dem Leben, weil wir vorgängig von diesem – vom Gesuchten – hergeleitet werden, so Heideggers antwortende Ontologie (Heidegger 1993: 5). Dieses Leben, das unter Einwirkung von Gewalt zerstört wurde, siedelt sich an der Grenze des Bedeutens an: Das Leben, das für die Henker nichts bedeutet, ist bedeutsam als affizierende Präsenz, als einziger »Zuspruch, der die Sterblichen in das Wohnen ruft« (Heidegger 1967: 36). An dieser Grenze verortet sich das Leben als Seiendes. Von dieser entbirgt es sich – es zeigt und entzieht sich. Aus Präsenz als dem physischen »wirklich-in-der-Welt-Sein« (Gumbrecht 2004: 101) ergeben sich Intensitäten und Intensivierungen als quantifizierbare Größe: gestische und körperliche Rituale (vgl. Gumbrecht 2004: 104f.), Kräfte der Magie als Kulturtechniken der Nachbarschaft und Figurationen des Sympathetischen, Energien von Pathosformeln. Dieses Paradigma fasst Gumbrecht mit Präsenz zusammen: Beide Begriffe – Sein wie Präsenz – implizieren Substanz; beide hängen mit Räumlichem zusammen; und beide lassen sich mit Bewegung in Verbindung bringen (vgl. Gumbrecht 2004: 97f.). So beruft sich der Präsenzbegriff auf den Substanz-Begriff in der aristotelischen Zeichendefinition als raumverlangendes Sein (vgl. Gumbrecht 2004: 102), betont aber zugleich den Entzug von Welt in dessen Bild bzw. in dessen Wissen über sie. Eelco Runia bezeichnet deshalb Präsenz als Metonymie der Diskontinuität von historischem Sein (2006).29 Die Ontologie der Literatur offenbart sich in Latenzen und kondensiert sich in Stimmungen (vgl. Gumbrecht 2011). So hat auch Literatur in der Präsenzerfahrung eine Nähe zur Dinglichkeit der Welt in ihrem autonomen Sich-Zeigen und Sich-Entziehen. Als Selbstentbergung der Welt ist also ›Präsenzwissen‹ ein Wissen der Welt als ein selbst ›offenbartes‹ oder ›entborgenes‹ Wissen. Genau diese ›Lebenskraft‹ im Sein der Welt, die sich autonom offenbart – und auch die Potenz ›epistemischer Dinge‹ ausmacht, verlangt methodologisch die Konfiguration eines differentiellen Wissens, wie etwa in der Gleichzeitigkeit von Sinn- und Präsenzeffekten. Im rauschhaften sprachlichen Fluß von Tiempo de silencio (1961) des spanischen Schriftstellers und Psychiaters Luis Martin-Santos werde die Energie des Lebens unter allen Umständen behauptet und radikal erfahren, so die Hauptthese in dem diesem Roman gewidmeten Aufsatz von HANS ULRICH GUMBRECHT in diesem Band. Diese Radikalität denunziert zwar die Schrecken einer faschistischen Politik, die eben diese Energien zunichtemacht, desakralisiert aber zugleich auch das liberale Europa der Nachkriegszeit, das von einem anderen ideologischen Kontext her das Leben zerstört oder anästhetisiert. Darin liege die Performanz dessen, was Martín-Santos die entsakralisierende und zugleich ›genetisch-sakralisierende‹ Funktion von Literatur (»la función desacralizadorasacrogenética«) nennt. Literatur habe die Funktion, die radikale Anarchie des Lebens aufscheinen zu lassen und zugleich kompromisslos alle Zugriffe auf sie 29  |  Dieses Paradigma der Philosophie der Geschichte sieht in ›Präsenz‹ eine postnarrative Form der historischen Analyse: Präsenz sind latent Dinge in der Geschichte, die wir nicht berühren können, die uns aber berühren, so lautet das Manifest dieses Paradigmas.

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zu desakralisieren. Gumbrecht sieht darin das Potenzial einer kommenden, zu wünschenden Literatur (»littérature à venir«) – mit einem indirekten Verweis auf Derrida (2007).30 Diese »sagrada escritura«, die desakralisiert, steht in gewisser Weise in einer spezifischen spanischen Tradition.31 Denn tatsächlich konnten spanische Intellektuelle auf die politische Geschichte Spaniens oft nur mit der Radikalität beider Gesten – der uneingeschränkten Vitalität und der Desakralisierung – antworten und waren damit im Hinblick auf die Entwicklung der Moderne in Europa prophetisch – die Ekphrasis von Goyas Aquelarre (1798) im Text von Martín-Santos verweist in diese Richtung. Schließlich zeigt Gumbrecht, dass a) eine solche Literatur nicht mit der provinziellen Frage nach einer wie auch immer gearteten Identität angenähert werden kann und vor allem, dass b) eine andere Form von Kritik oder »Literaturwissenschaft« notwendig ist, die eben nicht nach einer Moral sucht (etwa im Hinblick auf Gender oder politische Botschaften), sondern jenseits ideologischer Bekenntnisse die Unbestimmtheit des Textes (u. a. durch Ironieprozesse) und dessen auch sprachliche Energie zu erkennen weiß, mit der der Text – wie das Leben – einer Vereinnahmung widersteht. Denn auch hier gilt besonders die Notwendigkeit, zwischen der Suche nach »Wahrheit« und »Leben« zu unterscheiden. Es sollte nicht darum gehen, »zu der im Text artikulierten Wahrheit, sondern zum Text als Teil des Lebens seiner Gegenwart« (Gumbrecht 2011: 30) zu gelangen. Ästhetik und ihre topologische Ansiedlung im Imaginären mag auch eine Art der Seinsweisen von Sprache und Bild umfassen, deren Spezialität es ist, die natürliche Rahmung der Wahrnehmung zu stören, dieser zu widersprechen, und insoweit hat die Ästhetik eben durch die rüttelnde Arbeit an der Grenze des Kompromisses der Sprache mit Politik und Recht eine eminent politische Funktion, auf die auch Jacques Rancière (2000) mit aller Deutlichkeit hingewiesen hat und die in vielen Beiträgen dieses Bandes adressiert wird (vgl. Förster, Lüdecke, Schmidt, Skrandies). Gerade die besondere Seinsweise der Ästhetik, nämlich eine Mediation zu sein, die die Mittelbarkeit der Mediation rückgängig macht oder machen kann und so die in der ›reinen Sprache‹ gegebene, ›göttliche‹ (oder primordiale) Performativität des (Un-)Möglichen zumindest für Momente der ästhetischen Erfahrung

30 | Derrida unterscheidet die Zukunft (l’avenir), die – wie die Vergangenheit – nur eine in der Zeit verschobene Gegenwart ist, vom unerwartet kommenden Ereignis im Sinne der Eröffnung einer Differenz, die gängige Konzepte aufschiebt (von Literatur, Recht, Politik u. s. w.). 31  |  In Pasolinis Literatur und Kino könnte man eine ähnliche, paradoxale Geste feststellen (etwa Accattone).

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zurückgibt,32 kann die Nähe zum Leben erfahrbar machen,33 die aber auch zur riskanten Nähe mit Gewalt und souveräner Macht in Bezug steht. Dieser Frage gehen ROGER LÜDEKE und MARIE SCHMIDT in ihren Aufsätzen zu William Blake und Erza Pound nach. William Blake setzt sich mit den zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England wie in Europa verschärften normativen Referenzordnungen auseinander, insbesondere des Politischen und des Religiösen, wodurch das Subjekt mit Körper und Seele in eine politische Anatomie der Gesellschaft integriert wird, sodass es die Überwachung bis hin zur einer kontrollierenden Selbstbeobachtung interiorisieren kann. Mehr als nur eine von der Forschung bisher thematisierte Transgressionemblematik ermöglicht es, Blakes zutiefst religiös verankerte Imagination des ewigen Körpers ästhetisch die Bezugsgrößen von Leben und Körper konsequent in ihrer reinen Potentialität, als energetische Materialität, zu denken – so Lüdekes Hauptthese. Der Rekonstruktion der entstehenden politischen Mikrophysik der Macht setzt die feingliedrige Analyse der materiell-empirischen Produktionsebenen von Schreibpraxis in Urizen sowie der Schreibszene eine skripturale Mikropolitik gegenüber. Dies zeigt zugleich die politische Verstrickung von Blake und die ästhetische Differenz als biopoetischer Bezugspunkt einer ästhetischen Produktivität, eines permanenten Sinn- und Formenüberschusses, der die Schreibszene zur ästhetisch souveränen Erfahrung eines prinzipiell »Auch-anders-möglich-seins« umschreibt. Dies verweist gewiss auf die LebensForm Agambens, nämlich eine Form, »in der es niemals möglich ist, etwas wie ein bloßes Leben zu isolieren« (Agamben 2001: 18) und »in dem die einzelnen Weisen, Akte und Verläufe […] niemals einfache Tatsachen sind, sondern immer und vor allem Lebensmöglichkeiten, immer und vor allem Potenz« (Agamben 2001: 18). Dass eine solche Lebens-Form nicht eine Politik der Ästhetik darstellt und in gefährlicher Weise der Souveränität nahekommt, und diese zugleich in die Ohnmacht zwingt, demonstriert auch Marie Schmidts Analyse der Schreibszene der Pisan Cantos von Ezra Pound. Pound schrieb in der Gefangenschaft der US-Armee bei Pisa, wo er 1945 sechs Monate lang in dem Disciplinary Training Center inhaftiert war. Die Schreibszene ist hier materiell der Ausnahmezustand, der sich als Konstellation auf das Schreiben selbst bezieht. Die Figur der Beziehung der 32 | So das Hauptmoment der auf Hölderin bezogenen Ästhetik des Medialen in Walter Benjamins Aufsatz »Die Aufgabe des Übersetzers« (1972: 19f.). Vgl. auch Krämer (2008: 52f.) 33  |  Benjamin geht ausdrücklich auf das Verhältnis von Sprache und Leben ein. Wenn dies in der ›reinen Sprache‹ transparent im Sinne von Präsenzerfahrung ist (»So wie die Äußerungen des Lebens innigst mit dem Lebendigen zusammenhängen, ohne ihm etwas zu bedeuten«, 1972: 11), geht die direkte Beziehung von Sprache und Leben durch die Mediationen der ›Sprache der Menschen‹ verloren und muss ständig übersetzt werden. Kunst kann in der Art des Meinens, in der Geste und durch Rücknahme des (nicht mitteilbaren) Sinns (Benjamin 1972: 18-20) diese Mediation zumindest für Momente rückgängig und die Nähe von Sprache und Leben möglich machen.

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Souveränität zum Leben macht die Autorin auch in der poetologischen Pragmatik von Pound aus, dessen Schreiben eine Komplizenschaft mit der Ausnahmesituation zeitigt. In der Thematisierung des Schreibwerkzeugs, oder auch im Rahmen der »chinesischen Schreibübungen«, der materiellen Schreibgenese und der textuellen Gestik der Ideogramme zeigt sich wie es dem ideogrammatischen (oder ideographischen) Moment von Pounds Dichtung gelingt, das nackte Leben des Lagers in die »nackte Sprache« der Dinge zu übersetzen, die mit Bezug auf Benjamin Anteil an der göttlichen Performanz einer transparenten Sprache hat – eine Sprache des Lebens selbst – sowohl im Sinne der Pluralität der Erscheinung als auch einer »primären« Qualität, die Pound als Element der Ästhetik wie auch der Naturwissenschaften ansah. Das Riskante dieses Unternehmens ist, dass Kunst hier als »Teil der Biologie« zur souveränen Größe mit Souveränitätsanspruch wird – einer totalitaristischen Ästhetik trotz der Forderung nach ästhetischer Autonomie gegenüber ideologischen Vereinnahmungen. Diese souveräne Ästhetik, die die Autorin mit Bezug auf die Sprache der Dinge als Aufhebung der Mittelbarkeit der Sprache der Menschen sowie auch der Unterwerfung des Lebens unter externe juristische und politische Normen beschreibt, verlangte eine Überwindung der Bipolarität von Form und Leben im Sinne der gleichzeitigen Geltung der Unbestimmtheit, des Unzertrennlichen am Leben, der Differenzierung durch intelligible Formen. Die Spaltung von Leben und Form ist allerdings ein gefährlicher Ausnahmezustand der Sprache, die so den »Naturelementen« ebenso ausgesetzt ist wie der Körper im Disziplinierungslager. Insofern zeigt sich in diesem Aufsatz sowohl die Faszination einer nur im Ästhetischen möglichen Lebensform im Sinne Agambens als auch die gefährliche Analogie zur Zerstörung des Lebens, die keine politische Mediation mehr möglich macht. Diese riskante konstellative Analogie wird in der Dichtung von Pound zugleich ausgestellt, so dass eine kritische Reflexion darüber möglich wird. VALERIA CAMMARATA diskutiert die Radikalität der Mikrophysik der Macht im 17. Jahrhundert in Bezug auf den weiblichen Körper wie auch die Möglichkeiten der biopoetics,34 verstanden als eine – schon von Ezra Pound – angedachte Analogie von artistischer und wissenschaftlicher Erkenntnis, die heute insbesondere die Kognitionswissenschaften und die evolutionäre Psychologie umfasst. Hier gilt der Körper als universelle biologische Basis von beidem: der artistisch/künstlerischen und der wissenschaftlichen Erkenntnis. Biopoetics nimmt an, dass biologische und kulturelle Evolution innerhalb eines allgemeinen Prozesses evolutionärer Emergenz miteinander im Verhältnis stehen (vgl. Turner 1999), wodurch auch der Sinn der transhistorisch und kulturell gültigen Themen und Narrative erklärt werden kann. Die Rekurrenzen und Präferenzen des Homo Aestheticus (Ellen Dissanayake) wären der Evolutionstheorie entsprechend im Sinne vitaler Interessen des Menschen als lebender Organismus zu deuten. Kunstpro34  |  Zu dem hier adressierten Paradigma der biopoetics und dessen deutscher und italienischer Rezeption vgl. Michele Cometa (2013).

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duktion gelte als eine Art Training zum Leben und Überleben durch ästhetischen Austausch mit dem Milieu und zwischen Körper und Objekten. Cammarata zeigt die Lebens- und Überlebenspraktiken anhand der literarischen Produktion von Margaret Cavendish, Schriftstellerin und Naturphilosophin aus dem 17. Jahrhundert (1623-1673), die mit Körpern aus Papier und exzentrischen, imaginären Kleidern Genderbestimmung und Körperkonzepte ihrer Zeit kritisierte und verwarf – so etwa die königliche Symbolik von The Empress of The Blazing World oder die männlichen Kleider der Heldin von The Convent of Pleasure.

L eben , das M ediale und die Technik aus S icht des Ä sthe tischen Das ästhetische Subjekt, dessen Ort die »Kinästhese«35 ist, hat Emmanuel Levinas in Autrement qu’être (1974), dem Hauptwerk nach Totalité et Infinie (1961) als sensorielle Erfahrung beschrieben. Damit gründet sich die ethische Beziehung in der sensorischen Nähe sowie den Affekten. TIMO SKRANDIES stellt aus Sicht des Ästhetischen die kritische Frage nach der Rolle des Medialen bei der Durchsetzung gouvernementaler Strategien. Die Relevanz des Medialen, der medialen Induzierung der Regierungsweisen und -möglichkeiten von Bevölkerung und Subjekt wurden von Foucault außen vor gelassen und auch die Darstellung der inszenatorischen Strategien von Medien für die Sicherung des Funktionierens einer Regierungskunst der Bevölkerung ist weiterhin nahezu unbearbeitet geblieben. Es geht um das Individuierungs- bzw. Subjektivierungskalkül des Medialen, nämlich um die Frage, wie der Einzelne medial angesprochen wird – wie etwa in der die gesamten Medien mobilisierenden Kampagne Du bist Deutschland im September 2005 –, weil er zwar für die gouvernementalen Strategien unabdingbar ist, um jedoch im Begriff der ›Bevölkerung‹ zu verschwinden. So steht uns eine Entscheidung, ob wir regiert werden (wollen), oder nicht, nicht zur Verfügung; vielmehr muss die Frage Wie des Regiert-Werdens in Bezug auf die Medialität beantwortet werden, die Foucault nur politisch behandelt hat. Vor dem kritischen Blick des Ästhetischen entspreche die ›Regierung‹ im Sinne der modernen, dezentralisierten Machttechnik der Gouvernementalität dem politischen »Ge-Stell« (Heidegger 2004: 16ff.) als dem Wesen der Technik unserer Zeit, was zwar bedrohlich, aber zugleich in seinem Wesen sich als die Möglichkeit der Rettung entbergen kann. Skrandies schlussfolgert: Zwar kann es nicht ein ›Jenseits der Regierung‹ geben, doch ist es möglich und notwendig, mit der Kunst als ord35  |  Es geht um die Bewegung der Geste des Sagens (dire) vs. das Gesagte, um die ›Entstellung‹ (dé-position) oder ›Ent-situierung‹ (dé-situation) des Subjekts, das für den Anderen im wörtlichen Sinne ver-antwortlich ist, indem es sich ›exponiert‹ (exposition). Die ›Exposition‹ ist, im Gegenzug zur Intentionalität des Bewußtseins, eine leibliche Bewegung (›Kinästhese‹) zum Anderen hin (vgl. Lévinas 1988).

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nungszerlegendem Agent über ein ›Anders-als-Regierung-geschieht‹ nachzudenken – so die Paraphrasierung von der deutschen Übersetzung von Levinas’ Autrement qu’être36. Als Beispiel eines solch zersetzenden Handels von Kunst werden die künstlerischen Strategien von Gregor Schneider in dem im Frühjahr 2008 angekündigten Projekt einer kulturellen Topographie des Todes oder des Sterbenden mitten in musealen Räumen besprochen. So kann Kunst nicht gegen die Technik, sondern mit der Technik kritische und »rettende« Wege aufzeigen, wofür die Kunst wegweisend sein kann.37 In seiner Hinwendung zum Substanz-Begriff von Aristoteles entdeckt Heidegger das Sein als φύσις, wobei die Physis bei den Griechen das eigentliche Gegenüber der τέχνη darstellt. τέχνη und φύσις stehen aber für Heidegger in einem verborgenen Zusammenhang, der sich besonders im Kunstwerk äußert. Hier bedeutet τέχνη – anders als eine als Mittel verstandene Technik – nicht den Verlust der φύσις in ihrer überwältigenden Kraft.38 Eingefangen in der τέχνη wird vielmehr die φύσις mit ihrer Offenheit und Verborgenheit ins Kunstwerk aufgenommen. Auch im Zusammenhang mit der Technik ermöglicht es die Ästhetik, Mediationen zwischen Leben und Technik an der Schnittstelle von Politik und Biowissenschaften zu entwerfen und die Alterierung des Subjektes angesichts der ständigen Metamorphose von Menschsein (Esposito, Sloterdijk) auszustellen, zu erfahren und zu reflektieren. BioArt vollzieht so auf künstlerischer Ebene, was Donna Haraway in ihrer Auseinandersetzung mit den Technowissenschaften als Konzept des Miteinanderhandelns einschließlich der für lebbare Welten produktiven Differenzen entwickelt hat. Bio-Künstler eignen sich die Technologien der Biowissenschaften an, produzieren künstlerisches Wissen und initiieren einen Diskurs über Biotechnologien. Ästhetisch relevant sind auch hier die Bedeutungsüberschüsse der technowissenschaftlichen Bildproduktionen. Anhand derer können Selbstreflexionen über Auflösungsprozesse traditioneller Grenzmarkierungen zwischen Natur und Kultur, Mensch und Nichtmensch erfolgen und ordnungsbildende 36 | Jenseits des Seins – Anders als Sein geschieht – so die deutsche Übersetzung von Thomas Wiemer. 37 | »Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muss die […] Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits doch von ihm grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.« (Heidegger 2004: 36) 38 | Vgl. Franco Volpi (1984). Heideggers Überlegungen zum Verhältnis von φύσις und τέχνη erklären diese offenbarende Wirkung von Kulturtechniken der Kunst, die mit »Leben« bewohnt sind – ein Leben, das nicht zum Abbild des Anwesenden transformiert werden kann: Die Kunst entspricht der φύσις und ist gleichwohl kein Nach- und Abbild des schon Anwesenden; φύσις und τέχνη gehören auf eine geheimnisvolle Weise zusammen. Aber das Element, worin φύσις und τέχνη zusammengehören, und der Bereich, auf den sich die Kunst einlassen muss, um als Kunst das zu werden, was sie ist, bleiben verborgen (vgl. Heidegger 1983: 139).

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Polarisierungen als fiktionale Konstrukte entlarvt werden. So sind die Provokationen der BioArt eine Konkretisierung der Auseinandersetzung mit den Biotechnologien, die DESIREE FÖRSTER am Beispiel des Kacs Kunstprojekts GFP Bunny und der multimedialen Installationen von Patricia Piccinini mit der Ausstellung monströs-fremder ›Kreaturen‹ bespricht. Anhand der zeitgenössischen US-amerikanischen TV-Serien Dexter, True Blood sowie Six Feet Under zeigt DOMINIK MAEDER in seinem Aufsatz die Interferenzebene zwischen der systematischen bildästhetischen Indienstnahme einer Poetik des Blutes und der biopolitischen Rekonfiguration des Humanen. Als figurales Element (Georges Didi-Hubermans) innerhalb dieser Serien-Ästhetiken ist Blut zugleich Symptom einer organlosen Leiblichkeit, welche einerseits die einzelnen Körper durchdringt und konstituiert, andererseits aber auch ein transgressives, die distinkten Körpergrenzen übersteigendes Moment beinhaltet und damit als materialisierende Materie das Humane selbst im Modus seiner Übertragbarkeit bestimmt. Ausgehend von den ästhetischen Prozessen der Serialität bespricht Maeder den Spurencharakter innerhalb einer Epistemologie des Zeichens als indexikalische Verweisfigur auf Devianz und Pathologie – sowie deren Tilgung – in der Serie des gleichnamigen Serienkillers und Blutspezialisten Dexter Trauma und Reintegrationsnarrative, die – mit Waldenfels – als reaktive Iatrie und proaktive Therapie analysiert werden können und in der Serie systematisch auf eine Ökonomie des Blutvergießens bezogen werden. In Six Feet Under korrespondiert die Leiche als unintelligibles Körper-Ding, das zu allererst noch in ein vorzeigbares Bild verwandelt werden muss, mit der gespenstischen Erscheinung der Toten, denen im Rahmen der Binnennarrative zunächst die Funktion von Katalysatoren der Subjektivierungsverfahren gegeben wird. Zugleich ist ihre Funktion hinsichtlich dieser Selbsttechniken jedoch durch ihre Nicht-Zugehörigkeit zum Bereich des Lebendigen die Manifestation einer Form des (Noch-) Nicht-Lebbaren, das stets auf der Schwelle zwischen Virtualität und Aktualität oszilliert und die Subjekte mit einer Ansprache konfrontiert, welche sich nie restlos in einer Antwort aufheben ließe. Leiche und Gespenst zeigen somit einen anämischen Zustand an, der nicht nur jegliche Re-Transfusion des entzogenen Blutes – im Sinne der Iatrie – vereitelt, sondern auch noch die therapeutische Figur auf die Persistenz ihres potentiellen Scheiterns bezieht. True Blood fasst diese beiden Momente in der Figur des Vampirs zusammen. Dank der Synthetisierung menschlichen Blutes (»TruBlood«) wird hier der Vampir des überlebensnotwendigen Menschenmordes entbunden, in die Ökonomie des Warenkonsums einbezogen, und in (bio-)politische Integrationsmaßnahmen eingebettet, welche indes die Entmarginalisierung des Fremden zum Ziel setzen. True Blood beruft sich damit auf die Materie des Menschlichen als Figuration einer Poetik der Transfusion, die permanent das bloß Lebendige auf das Nicht- und Über-Leben bezieht und damit eine präzise Beschreibung der posthumanen Situation liefert, welche das Menschliche zwischen seiner Abschaffung und Optimierung verortet.

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In ihrem Aufsatz verschiebt SERGIA ADAMO den Blick nach Afrika und diskutiert die Strategien der südafrikanischen Fotografin Zanele Muholi im Zusammenhang mit den biopolitischen Praktiken des Körpers afrikanischer Frauen. Mit ihrer Ästhetik sollen aus der Technik der Fotografie selbst neue Denkräume entstehen, die das Objekt weder mit exotischen Rahmungen – wie im bekannten Beispiel von Saartjie ›Sarah‹ Baartman, die als sog. »Hottentottenvenus« zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa vorgezeigt wurde –, noch mit ethnographischer Beobachtungs- bzw. Dokumentationspraxis kolonialisieren. Die ausgestellten Körper fordern vielmehr die Grenzen der fotografischen Legitimität offen heraus. Mit Bezug auf Judith Butlers Analysen in Gefährdertes Leben (2005) und Raster des Krieges (2010) bearbeitet Adamo die Fragen der Prekarität dieser Körper anhand verschiedener medialer Formen – von Fotoausstellung bis hin zu Dokumentarfilmen. Die jüngsten Bilder von Muholi praktizieren eine Art von – wie sie selbst es nennt – ›visuellem Aktivismus‹, der die Intimität, die Liebe, das Lachen und die Freude des Alltags, damit die Einzigartigkeit dieser auf den Bildern festgehaltenen Leben bejaht, aber auch deren skandalöse, sensationelle Entstellung und das Schweigen darüber zur Schau stellt. Muholis Herausforderung der Grenzen der Darstellbarkeit ist mit den literarischen Techniken des Nobelpreisträgers J. M. Coetzee vergleichbar, der in Afrika des Rassismus beschuldigt wurde, und zeigt abermals in Übereinstimmung mit Achille Mbembe, wie prägnant die afrikanische Nekropolitik die Repräsentierbarkeit der Körper aufs Spiel setzt. Was zur Schau stehe, sind die Normen dieser Politik des Todes. Die Normen selbst werden zur Bühne, die sie ästhetisch verschiebt, sodass Auswege und Alternative denkbar werden. Derartige Bilder stellen jedenfalls auch die Frage nach der Intelligibilität und Darstellbarkeit eines »würdigen Lebens« unter extremen Bedingungen (so Butler mit Bezug auf Hegels Sittlichkeitsbegriff) und sie zeigen vor allem die Dringlichkeit einer anderen Politik des Lebens nach der Biopolitik an.

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Die Ambiguität der Biopolitik Eine weberianische Lektüre José Luis Villacañas

In diesem Beitrag schlage ich vor, den späten Foucault im Licht des wissenschaftlichen Programms Webers zu lesen, und zwar so, wie es sich in seinem Spätwerk abzeichnete (vgl. Weber 1985: 506f., 527, 532). Dazu werde ich das Problem der Biopolitik und ihre Beziehung zur Bevölkerungspolitikanalyse von Weber, die ich an anderer Stelle angeschnitten habe (vgl. Villacañas 2009), sowie Webers Begründung des ›Ordoliberalismus‹, die das zentrale Thema in Die Geburt der Biopolitik (vgl. Foucault 2009; Villacañas 2010) darstellte, auslassen. Stattdessen werde ich kurz Foucaults Konzept von ›pouvoir‹ und seine Beziehung zu Webers ›Herrschafts-Konzept‹ analysieren, um dann zum zentralen Punkt meines Beitrags zu kommen: der Gegenüberstellung des Basiskonzepts in Webers kulturwissenschaftlichem Programm mit dem Konzept der ›Sorge um sich‹ bei Foucault. Dieses Konzept impliziert, wie Foucault selbst anerkannte, den Triumph der Weltanschauung des homo aestheticus (vgl. Foucault 2009b). Mit diesen Werkzeugen werde ich die übliche Assoziation der ›neoliberalen Regierung‹ mit der ›Kontrollgesellschaft‹ im Sinne Deleuzes diskutieren und die Spannungen zwischen den beiden Sichtweisen aufzeigen. Dabei zeigt sich, dass die ambivalente Konzeption der Biopolitik in einer dualen Form Anwendung findet. Diese tritt in ein Spannungsverhältnis mit der Subjektivitätstheorie, die latent im Foucault’schen Ansatz vorliegt. Allerdings wurde seitens einiger italienischer Wissenschaftler angemerkt – u. a. von Maurizio Lazzarato –, dass die Analyse der Gegenwart von Deleuze, die mit den Werkzeugen Foucaults realisiert wurde, eine geringere Aussagekraft habe. Ich werde mit der Forderung schließen, dass wir eine Analyse der Gegenwart, und damit einhergehend eine aufklärerische Haltung, benötigen, die fähig ist, das Problem des Subjektes, seine kulturellen Voraussetzungen und seine Konditionierung durch das aktuelle materielle Produktionssystem im Sinne Webers mit größerer Aufmerksamkeit herauszustellen. Dies hätte vielleicht zum Preis, den maßgeblichen Stellenwert der Subjektivitätstheorie von Deleuze für die Hermeneutik Foucaults zu diskutieren und Foucaults Rolle als Historiker von seiner philosophischen Einstellung in kohärenter Weise zu differenzieren.

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M acht und legitime M acht ? In seiner unter dem Namen Gouvernementalität bekannten Schrift begann Foucault seine Untersuchungen über die Regierungstechniken. Hier traf er eine eindeutige, konzeptuelle Unterscheidung zwischen zwei weiterhin synchron bestehenden Denkwegen: zwischen demjenigen, der zum Problem der Souveränität hinführte, und jenem anderen, der sich an die Regierungsstrukturen hielt. Auf andere Weise als in den Studien der Begriffsgeschichte, so wie sie von Duso (vgl. Duso/Chignola 2009) systematisiert wurden, beharrte man nicht auf einer Differenz zwischen Macht und Regierung (vgl. Foucault 2001: 187), sondern auf ihrer Konvergenz. Foucault schlug vor, dass der relevante Wandel aus einer Art historischer Synthese beider Elemente bestand; aus dem, was er die Gouvernementalisierung der Macht nannte (vgl. Foucault 2008) – und damit lag er richtig. Zweifelsohne hat Foucault nie infrage gestellt, dass Regierungsmacht sich mit hoher Wahrscheinlichkeit einer freien Zustimmung erfreuen sollte. Mit einem allgemein geltenden Argument schlug er vor, dass der Vertrag – der spezifische Weg, die Souveränität festzulegen – die theoretische Matrix sein würde, »von der aus man die allgemeinen Prinzipien einer Regierungskunst einzuholen versucht« (Foucault 2003b: 814). Damit war das Spiel der Souveränität und der Regierung sehr komplex und hatte einerseits mit dem Einverständnis mit dem zentralen Herrscher in der Vertragstheorie zu tun (vgl. Duso 1999), aber andererseits auch mit der Konstitution der konfessionellen Gemeinschaft und der religiösen Pastoralregierung. Nach 1648 (vgl. Foucault 2008) war Frieden möglich, weil beide Vektoren in dem cuius regio eius religio konvergierten. Dies implizierte eine Politik, die der Bevölkerung das Recht der Emigration gestattete, um sich zu dem Herrscher der eigenen Konfession zu begeben und sich in die pastoral regierte religiöse Gemeinschaft zu integrieren. Wir sehen hier, wie die komplexe Dialektik von Gesetz/Prohibition (der Herrscherlogik eigen), von Befähigung/ freier Zustimmung (der Pastoralregierung eigen), von Macht/Regierung und von Pflicht/Recht die europäische ratio in die volle Entfaltung der Modernität begleitete. Anders gesagt: Es gibt keine Macht ohne Freiheit, kein Gesetz ohne Subjekt; es gibt keine Macht ohne Akzeptanz und es gibt keine Regierung ohne eine Bevölkerung, die sich artikuliert und fähig zum Widerstand ist. Daher die kontinuierlichen Spannungen, Kämpfe, Widerstände und politischen Anpassungen, die Foucault in In Verteidigung der Gesellschaft beschrieben hat. Nun möchte ich mich etwas mehr auf einen entscheidenden und konkreten Aspekt konzentrieren. Wenn wir akzeptieren, dass das Programm Foucaults als eine Geschichte der Macht- oder Regierungspraktiken und ihrer Beziehung zu dem Subjekt1 beschrieben wird, dann können wir uns nach der Angemessenheit des Machtkonzeptes fragen, mit dem wir hier konfrontiert werden. Wenn wir 1 | Vgl. folgenden Abschnitt: »Ich betreibe keine Theorie der Macht. Ich schreibe die Geschichte, zu einem gegebenen Zeitpunkt, der Art und Weise, wie sich die Reflexivität von sich

Die Ambiguität der Biopolitik: eine weberianische Lektüre

uns diese Frage stellen, entdecken wir, dass die Macht bei Foucault funktional zu ihren eigenen Kontexten steht und keine abstrakte Kategorie ist. Im Gegensatz zu Weber gibt es bei Foucault keinen Versuch der fundamentalen soziologischen Konzepte, es gibt auch keine Unterscheidung zwischen ›Gewalt‹ – ›Macht‹ – ›Herrschaft‹2 . Es gibt keinerlei Doktrin der Legitimität, keinen Aspekt der Herrschaft verbunden mit der Form, in der sich die moderne Macht konfigurierte. Indem er seine Forschungen immer weiter betrieb, festigte Foucault seine Begriffe nicht. Eine zentrale Ambiguität wird hier deutlich: Obwohl Foucault die Form Souveränität/Gesetz zu überwinden wünscht, bewegt sich seine Vorstellung von Biopolitik manchmal in einem Kontext von Souveränität und manchmal in einem Kontext von Regierung. Manchmal bedeutet das, dass die Biopolitik die Macht der Souveränität extrem verschärft, und zwar durch die Regierung, die über die gesamte Bevölkerung herrscht (vgl. Foucault 2001: 194). Sie kann sich nicht am Rande des zentralen Verwaltungsstaates verwirklichen – die Gebiete der Disziplinen –, dieser herrscht nach dem Gesetz, wird aber von Wissenschaft und Technik unterstützt. Wenn Foucault sich auf diese Technologie bezieht, dann setzt er immer voraus, dass es sich um die Disponibilität der Menschen – sofern sie lebendige Objekte sind – handelt, die es mithilfe des Gesetzes zu bestimmen gilt, aber auf eine produktive Weise und nicht mehr als Verbot. Der Grundgedanke ist nicht mehr »du darfst nicht«, sondern »du darfst« (Foucault 2005: 226). Die Verschiebungen der Strategien seiner vorherigen Überlegungen in Überwachen und Strafen, die sich auf das Panoptikum und die Disziplinargesellschaft, das Gefängnis, das Krankenhaus, die Klinik und die Gesellschaft im Allgemeinen richten, sind hier evident (vgl. Tirado 2009: 99). Die biopolitische Macht folgt hier weiterhin den Souveränitätsattributen: Sie ist autoritär, berechnend, zentralisierend, transzendent den Untertanen gegenüber. Sie verfügt über sie, die Untertanen sind in diesem Sinne ihre Objekte, die von der biopolitischen Macht über ihre Wissenschaft und ihre Technik normalisiert werden. Dieses Argument nimmt die Analysen Heideggers über die volle Disponibilität des Menschlichen wieder auf, die nur erreicht wird, wenn das Dasein3 von einer Idee des Seins aus als Verfügbarkeit, Erstmaterie, Energie gedacht wird. Dort verschafft sich die Vorstellung des ›nackten Lebens‹ Raum, welches die Bevölkerung in den Zustand bringt, in dem sich die Menschen in das Generalsystem der Lebewesen einschreiben (vgl. Foucault 2008: 101). Deswegen konnte Foucault sagen, dass das Gefängnis das Modell der Disziplinargesellschaft ist, und diese eine Forderung der biopolitischen Macht; eine ebenso gewagte Verallgemeinerung wie die von Agamben, wenn er behauptet, dass die institutionelle Matrix der heutigen Gesellschaft das Konzentrationslager ist (vgl. Agamben 1998: 230). auf sich und der damit verbundene Wahrheitsdiskurs hergestellt haben.« (Foucault 2005: 547.); vgl. den Einwand Baudrillards (1978) und Schubert (1981). 2  |  Auch im Originaltext in deutscher Sprache (Anm. d. Ü.). 3  |  Auch im Originaltext in deutscher Sprache (Anm. d. Ü.).

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Bis zu diesem Punkt wird das nackte Leben am Rande der konkreten historischen Prozesse der religiös, politisch und kulturell konnotierten Bevölkerung betrachtet. Auf der Basis dieses ersten Schemas erscheint uns die Biopolitik hier unter der Bedeutung der Plastizität und Passivität zu stehen, die der Macht die autoritäre Intervention überlässt und dem Leben die Disponibilität. Regierungsmacht ist hier volle Souveränität im Sinne der politischen Theologie: potentia absoluta dei oder vielmehr potentia absoluta vitae. Und dies aus dem Grund, da das Objekt, das das ›nackte Leben‹ regiert, pure Plastizität, pure Potenzialität ist. Angesichts dieses Verständnisses von Macht vergisst Weber niemals die Legitimität und die reine und riskante Wahrscheinlichkeit des Gehorsams; also jene Dimension der Macht, die den freiwilligen Gehorsam, den subjektiven Glauben an seine Wertigkeit und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Wertehorizontes der Herrscher und Beherrschten verlangt, und so Zustimmung und wechselseitige Kooperation oder Kampf und Bürgerkrieg produziert. In diesem Moment sticht die Rolle der Freiheit und des politischen Kampfes mit seinem konkreten kulturellen Horizont hervor. Mit der Zeit wurde der späte Foucault gegenüber diesen Aspekten der Beziehung zwischen Regierungsmacht und den Bevölkerungen sensibler. Tatsächlich hätte das, was Foucault ›gouvernementale Eingriffe‹ in das menschliche Leben nennt, nicht diese Erfolge bezüglich der Normalisierung des sozialen Lebens erzielen können, wenn nicht mit einer gewissen Legitimität zu rechnen gewesen wäre. Die geteilten Werte waren vor allem die Wissenschaft als charismatische Kraft des Wissens, der Transformation und des Beherrschens des Realen. Die Disziplin ließ sich nicht durch Machtausübung auferlegen, sondern vor allem durch die Religion. Dies ist nicht möglich ohne einen tiefen Glauben an deren Gültigkeit. Deshalb hätte sich diese Regierung nie ohne die Wertegemeinschaft, die Verinnerlichung der Werte und ohne aktive Teilnahme der Bevölkerung entwickeln können. Die Werkstatt ist nicht die Klinik: Überall wird Arbeit in der Werkstatt gefordert und überall wird die Klinik gefürchtet. Ähnlich kann die Kaserne nicht mit dem Gefängnis verglichen werden. Nach dem charismatischen Prestige der homogenen Nation fühlten sich viele Subjekte wertvoll durch den Eintritt in die bewaffneten Streitkräfte eines religiös geprägten Vaterlandes. Ohne einen tieferen Zusammenhalt durch eine gesellschaftliche Zensur, die auf allgemeinen Werten beruht, wäre nichts von alldem möglich gewesen. In jedem Fall forderten Glaube, Wissenschaft, Fabrik und Nation Treue und Gehorsam und zwar nicht durch eine reine disziplinäre souveräne Technologie, sondern durch in gewisser Weise freie Bewegungen, die oft von unten Widerstand gegen andere, traditionelle und alte Kräfte ausübten, die schon pastoral oder herrschaftlich waren. Wenn die modernen disziplinären Formen triumphierten (und dies taten sie zweifelsohne), lag dies an den vielen subjektiven Energien, die sich in diesem Kampf gegen die Autoritätsmächte zusammenfügten, die schon als illegitim angesehen wurden: die katholische Kirche, die parasitären Herren, die unfähigen Theologen und der heilige König. Die Interpretation, die Foucault aus diesen Kämpfen in In Verteidigung der Gesellschaft zieht, als wären es Rassenkämpfe,

Die Ambiguität der Biopolitik: eine weberianische Lektüre

dient der Vorbereitung der Genealogie der zentralen Rolle der Rasse im 19. Jahrhundert, aber nicht der Beschreibung des modernen Prozesses, der eher durch die religiöse Gemeinschaft geprägt wurde. Es ist eher in diesem Sinne, dass Weber die modernen Prozesse identifiziert, welche ihre Basis in einer ethisch-religiösen Konfiguration des Subjekts hatten, welche nicht aus der Macht entstanden waren, sondern diese allmählich veränderten. Trotzdem zeigte sich Foucaults Spätwerk geprägt von einer Sensibilität für Webers Probleme in Bezug auf die Legitimität, welche nur über das Aufgeben der Kategorie des ›nackten Lebens‹ angegangen werden können. Logischerweise möchte ich nicht andeuten, dass alles bei Foucault auf diese vereinfachte Schicht der aktiven Regierungsmacht und der passiven Bevölkerung zu beziehen ist. Ich behaupte, dass diese Schicht existiert. Trotzdem ließ das Spätwerk Foucaults sie zurück. Als er in Die Maschen der Macht schätzte, dass die Biomacht ›Teil der Entwicklung des Kapitalismus‹ sei, entwickelte er bereits Thesen, die 1979 in Die Geburt der Biopolitik ausformuliert wurden. In diesem Essay fand die Präsenz Webers sehr intensiv ihren Ausdruck. Ab diesem Moment begann er, Konsequenzen zu ziehen: Die neue Macht produzierte ebenso Subjektivität, Freiheit, Begehren und Vergnügen. Foucault musste daraufhin anerkennen, dass das Vergnügen der Bevölkerung und die Macht nicht in einem masochistischen Verhältnis stehen. Wir können »[…] verstehen, warum wir der Macht gehorchen und uns zugleich daran erfreuen […], was nicht unbedingt als masochistisch einzustufen wäre« (Foucault 2005: 243). Masochistisch ist sicherlich korrekt, aber was konnte jenseits dessen kommen? Nie wurde das näher erläutert. Das Legitimitätsproblem ist nie angegangen worden. Jedenfalls gab es keine so große Passivität auf Seite der Beherrschten, wie Foucault oder seine Anhänger behaupten. Weder konnte ein den Menschen inhärentes, nacktes Leben in der jene regierenden Macht noch in der modernen Bevölkerungspolitik ausgemacht werden. Es gibt menschliches Leben, das heißt es gibt Leben, das von einer Kultur durchdrungen ist, die den Freiheitssinn und den Aktionssinn verdeutlicht hat und die sowohl menschliche Typen definiert als auch erlaubt hat, Wünsche und Vergnügen entstehen zu lassen. Diese kulturellen Faktoren boten mit ihrer tiefen Wunschkomponente die Wertelemente, die die Macht legitimierten. Aus diesem Wert leitet sich ein Komplex von Wünschen ab, ausgedrückt in Symbolen und Bildern, die die Macht mit ihren Bevölkerungen aushandelt, die sie aber schon nicht mehr unter der inquisitorischen, herrschaftlichen oder souveränen Form halten kann. Zusammenfassend war es eine Technik der liberalen Regierung, die mit der Annahme und der Produktion der Freiheit zählte. Die Analyse dieser Technik machte sich Foucault in Die Geburt der Biopolitik, seiner letzten Annäherung an die Modernität, zur Aufgabe.

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M acht und die S orge um sich Das produktive, politische, religiöse und kulturelle System bezieht sich niemals auf einen Menschen, der auf das nackte Leben oder die volle Disponibilität reduziert ist. Im Gegenteil funktionieren all diese Systeme in einer konkreten materiellen Historizität, in der ein kulturspezifischer Freiheitssinn verankert ist und bis zu einem gewissen Punkt sogar allgemein geteilt wird. Es gibt keine Instanz der absoluten Souveränität, weder juristisch noch biopolitisch, sondern einen Dialog zwischen menschlichen Typen und Subjektivitäten, mit jeweils einem eigenen Gewicht der Macht, in diesem Sinne also eine Beziehung zwischen der gouvernementalen Macht und den diversen Eliten, die diese aus einem kulturellen Kontext entstandenen menschlichen Typen repräsentieren, verkörpern und rechtfertigen. In diesem Dialog wird bereits von der reflexiven Energie jener in Aktion tretenden Subjektivitäten ausgegangen. Es gibt demzufolge keine nackte Macht-Untertan-Dualität und auch keine radikale Opposition von ›Sorge um sich‹ und ›Macht‹. Welche Technologie der Regierungsmacht es auch sei, sowohl in der pastoralen Technik, in der Disziplinärtechnik als auch in der Regulationstechnik (vgl. Foucault 2003, 2001 und 1992: 262), die Macht baut immer auf die Möglichkeit, dass eine reflexive Dimension der Subjektivität ihre Ausübung unterstützt oder diese zumindest akzeptiert. Dies entspricht gleichermaßen der Weber’schen Auffassung von ›Chance‹. Selbst Foucault erkennt an, dass die Biomacht Sicherheit, Konservation, Wohlstand zu erzeugen versucht, aber sie tut dies nicht in Hinblick auf das nackte Leben, sondern in Anbetracht dieses konkret historisch und kulturell definierten Lebens. Viele sahen in der sozialen Disziplin, die die Schule, das Militär, die Fabrik, die Universität oder das Künstlerkabinett herstellte, all jenes, was sich zu akzeptieren lohnte, um diese wünschenswerten Ziele zu erreichen, mit denen sich die menschliche Reflexivität identifizierte, die ›Sorge um sich‹ ausübte, ihre menschlichen Typen konfigurierte und die Wahrheit sagte. Derselbe späte Foucault postulierte: »Man weiß sehr wohl, dass die Macht nicht das Böse ist.« (Foucault 2005: 899) Ferner folgerte er daraus, dass die Beziehungen der Macht ›strategische Spiele zwischen Freiheiten‹ seien, und er musste diese von den ›Herrschaftszuständen‹ unterscheiden. Diese konzeptuelle Differenz ist wichtig, wurde aber nicht weiter ausgebaut. Beispielsweise wurde nicht analysiert, ob die liberale Regierung aus diesen strategischen Spielen ihre eigenen Herrschaftszustände erschafft. Foucault entschied, dass die Regierungstechniken als kantianische Schemata zwischen diesen strategischen Spielen und den Herrschaftszuständen vermittelten, er sagte uns aber nicht, wie sie es tun (vgl. Foucault 2001: 413ff.). In jedem Fall löschten diese Regierungstechniken nicht die subjektive Wahrnehmung von Freiheit aus und zwangen die Herrschaftszustände zu einer rasenden und raschen Entwicklung. In der liberalen Gouvernementalität definieren sich diese Techniken in jedem Fall über eine Form reflexiver Zusammenarbeit des Subjektes. Die neue Devise »Gründe deine Freiheit auf die Meisterung deiner selbst« (Foucault 2005:

Die Ambiguität der Biopolitik: eine weberianische Lektüre

902) schien anfangs keinen Gegensatz zur liberalen Regierung darzustellen. Vielleicht war es ihre technische Form sich aufzuzwingen. Der in meiner Darstellung erweckte Eindruck, dass dieser späte Foucault komplexer ist als der Foucault, der seine Basis in den Dualitäten von Überwachen und Strafen sieht, ist durchaus intendiert. Dennoch wirkten diese letzten Resultate nicht auf die ersten Programmschritte Foucaults zurück. Die liberalen Regierungstechniken der Risikosenkung und der Produktion konkreter Freiheit als Raum, in dem Wünsche und Vergnügen bestehen, benötigen keine souveräne Produktion von Tod, dies zumindest scheint eindeutig zu sein. Sie brachen aus dem Modell der theologischen Politik aus. Dies war Carl Schmitt bereits bewusst, der im Liberalismus immer den Hauptfeind sah. Aber ich frage mich, ob Foucault die Konsequenz aus diesen Spannungen gezogen hat. Die ersten Analysen Foucaults führten auf natürliche Weise zur Erklärung der Entstehung des Nazismus und des Totalitarismus, aber als diese sich mit den Analysen der liberalen Regierung kreuzten, machten sie sich so, wie sie waren, trotzdem undurchführbar. Dies hat die Autoren, die ihm wie Deleuze und auf bestimmte Weise auch Agamben folgen, dazu gebracht, diese Dissonanz zu vergessen, und trotz alledem eine Kontinuität zwischen Gegenwart und dem Nazismus aufzuzeigen, um seine Analysen weiterhin als glaubwürdig darstellen zu können. Deswegen haben sie den Gedanken des nackten Lebens beibehalten, um gleichzeitig gegen den Totalitarismus der Nazi-Herrschaft und gegen die Gegenwart zu kämpfen. Ein Schritt, der sehr problematisch ist und Missverständnisse beinhaltet. Vor allem wusste der späte Foucault, dass die liberale Regierungstechnik nicht die größtmöglichste gewaltbereite Kraft sucht, um das größte reale Gut, fokussiert in der Rasse, zu schützen und dabei den Tod in Kauf zu nehmen. Beim Analysieren der Geschichte der liberalen Regierung sah er, dass diese versuchte, Freiheit als volle Disponibilität des Wunsches – konditioniert durch den homo oeconomicus – zu erzeugen. Agamben entsprechend sei das eigentliche Bestreben der Biomacht, ein modellierbares und virtuell unendliches Überleben herzustellen (vgl. Agamben 2004: 162f.). Die liberale Macht spekuliert damit, dass es scheint, als würde dieses Bestreben von den Subjekten geteilt. Es ist natürlich, dass diese geteilte Dimension eher in triebhaften Sehnsüchten verankert sein kann als in reflektiert elaborierten Überzeugungen. Ich spreche nicht von ihrem Wert oder ihrer Genauigkeit. Ich behaupte, dass dies nicht das Bestreben der Verwaltung der Konzentrationslager zu sein scheint. Trotzdem wurde überall weiterhin von den beiden Dingen gleichzeitig gesprochen: von der konkreten liberalen Regierung und von der absoluten Souveränität über das nackte Leben; von der Regierung, die das als Freiheit wahrgenommene Ausmaß der Wünsche vergrößert, da sie produktiv ist, und von totalitären Kontrollgesellschaften. Mein Eindruck konkretisiert sich folgendermaßen: die Dualität und die Ambivalenz der Foucault’schen Diagnose hält sich zwischen disziplinärer Macht und liberaler Macht. Diese Dualität, die in konkreten Analysen aufgehen kann, ist nur durch einen überspannten Schritt theoretisch wieder zu vereinen, dessen Durch-

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führung einen andersgearteten Blick und einen anderen Grad an Verallgemeinerung impliziert. Ohne Zweifel hat Foucault die Subtilität verstärkt, wenn er behauptet, dass die liberale Regierung eine Disziplin erfordert, die ständig den Freiheitssinn verstärkt. Aber an diesem Punkt angekommen, erweist sich die Analyse als wenig funktional. Erstens, weil – um dieser disziplinären Macht zu widerstehen – vorauszusetzen ist, dass der eigene Sinn für Freiheit, welcher die ›Sorge um sich‹ meint, sich extrem verstärken sollte. Mir kommt der Verdacht, dass diese ›Sorge um sich‹ nichts anderes als ein Appell an das andere Gesicht der liberalen Regierung ist, die – weit davon entfernt sich der Sorge zu widersetzen – nichts anderes tut, als diese zu bestätigen. Zweitens: Wenn gesagt wird, dass diese potenzielle globale liberale Macht ein globales disziplinäres Panoptikum generiert und das nackte Leben regiert, so werden die immanenten konkreten Komparative aufgebraucht, und wir vor einen nicht-irdischen idealistischen Komparativ gestellt. Selbstverständlich gibt es eine intuitive Nähe zwischen dem nackten Leben und diesem Trieb des unendlichen Überlebens und der virtuellen Flexibilität der nackten Potenzialität, die Agamben benannt hat. Zweifelsohne wird dieser Trieb von einer Verallgemeinerung der Mimesis unterstützt, die schon Caillois als die Basisstruktur des Lebens erkannte (vgl. Caillois 1939). Aber mit Walter Benjamin sollte nicht vergessen werden, dass sich die kapitalistische Technik inzwischen auf die Mimesis auswirkt und diese öffnet. Also hat sie eine determinierte produktive und kulturelle Basis und ist historisch konnotiert. Alle materialistischen Analysen sagen uns, dass es sich nicht um nacktes Leben handelt. Beim Betrachten des Menschen von außen mit einem reflexiven Blick zweiten Grades – von einem Panoptikum des Panoptikums aus – äußert Agamben Misstrauen gegenüber der irdischen und historischen Kondition des Menschen und organisiert eine Strategie tiefgründiger gnostischer Beschaffenheit. Wir vermuten bereits, welche vagen, noch am Grunde des kulturell Unbewussten liegenden Versprechen durch das Angebot, uns von der räumlich-zeitlichen Materialität der Welt zu trennen, erfüllt werden und bis zu welchem Punkt diese Versprechen der felsige Grund für diese gewisse europäische Kultur und den Menschentyp sind, die Agamben in Die Zeit, die bleibt erwähnt hat. So eröffnet uns der späte Foucault zwei Perspektiven: Die erste zeigt uns die Sorge um sich als zweifelhaften Widerstand gegen eine liberale Regierung auf, denn dieser scheint eine eher geeignete Strategie dafür zu sein, mitten im Herzen derartiger Regierungen zu agieren. Namenhafte Soziologen haben anerkannt, dass für viele Menschen dieses Streben die triebhafte Basis der ›Sorge um sich‹ ist. Die etablierten Regierungen rechnen damit, eine Beziehung mit Menschen einzugehen, die ihre narzisstischen Triebe bis zum Äußersten treiben. Es gibt nichts Entfernteres vom nackten Leben als diesen Narzissmus. Es scheint nicht so, als gäbe es hier eine Dualität zwischen der Sorge um sich und den Formen der liberalen Regierungen. Im Gegenteil: Sie sind merkwürdigerweise funktional. Diese Lebensformen und -möglichkeiten, die bereits zu allgemeinen Lebensstilen geworden sind, sich immer um eine Virtualität kümmern und mit Ausnahme

Die Ambiguität der Biopolitik: eine weberianische Lektüre

der je eigenen Änderung ihrer Wünsche unverbindlich gegenüber allem sind, haben einen ästhetischen Hintergrund. Dies wusste man, seit Weber vom herrschenden Menschen gesprochen hat, dem Ästheten ohne Herz, wobei Schmitt in Politische Romantik 4 dessen Verbindung mit der liberalen Regierung anhand von Kierkegaards Kritik der bourgeoisen Gesellschaft zeigte. Das Akzeptierbare dieser liberalen Mächte erklärt sich dadurch, dass sie die ›Sorge um sich‹ im höchsten Grad zulassen, ein Umstand, den Lasch ›narzisstische Massenkultur‹ nannte (vgl. Lasch 1991). Subjektivierungs- und Regierungsweisen stehen in enger Verbindung, da die Herrschaft nicht ohne Legitimität bestehen kann und ihr die Legitimität niemand anderes geben kann als die Subjekte und ihre Strategien. Wir sollten nicht die Norm oder den Wert dieses Einverständnisses verurteilen und auch nicht seine Stärke oder Fähigkeit, seine Durchführbarkeit und Zukunft. Selbstverständlich hat dies nichts mit dem sogenannten republikanischen Einverständnis zu tun. Uns interessiert keine Wertung in diesem Sinne. Es interessiert allein die Vermutung zu äußern, dass die kontinuierliche Veränderlichkeit der Sorge um sich, die dem homo aestheticus eigen ist, sich der liberalen Regierung und dem homo oeconomicus nicht widersetzt, sondern diese zur Entfaltung bringt und sie verherrlicht. In diesem Sinne hätte sich Foucault in der Genealogie dieses modernen Prozesses erfolgreich damit beschäftigt. Die andere Möglichkeit bringt eine Wende mit sich und lässt den Gedanken zu, dass dieses Angebot der konkreten Freiheit mit der Geschichte der liberalen Regierung die eigene Form der Subjektivierung einer Weltkontrollgesellschaft ist. Der Wechsel einer historischen Genealogie zur Ontologie ist nicht trivial. Dieser Blick zeigt das, was wir aus Sicht Webers einen ›absoluten Gesichtspunkt‹ nennen könnten. Die Biopolitik wäre gleichzeitig souverän und liberal, disziplinär und kapitalistisch, global und provinziell, omnes et singulatim. Ihr Paradigma wäre ein Weltpanoptikum disziplinärer Kontrolle über die Subjektivität. Anstelle einer konkreten Kritik an dieser historischen Form der liberalen Menschheit würde dieser neue Gesichtspunkt eine ontologische Kritik an der vollendeten Form dieser Menschheit anbieten und einen nietzscheanischen Schritt zum Übermenschen fordern. Weit entfernt davon die Genealogie Foucaults als Argument für ihre historische Einzigartigkeit (um dies mit den Worten Webers zu sagen) zu nutzen, würde dieser den liberalen Prozess und seinen Typ Mensch zu einer Ontologie des Subjektes erhöhen. Dies entsprach in gewisser Weise der Forderung Deleuzes. Indem Deleuze eine kritische – nicht historische – Onto4 | In diesem Sinne sind die Kommentare Deleuzes in seinem Foucault-Interview von 1986 zu verstehen: »Wenn Foucault schließlich zum letzten Thema der »Subjektivierung« kommt, besteht diese wesentlich in der Erfindung neuer Lebensmöglichkeiten, wie Nietzsche sagt, in der Bildung regelrechter Lebensstile: diesmal also Vitalismus auf der Grundlage der Ästhetik.« (Deleuze 1993: 132). Dann appellierte er an Nietzsche: »[…] nach unserem Künstler-Willen, der nicht auf Wissen und Macht reduzierbar ist« (Deleuze 1993: 135) und die Subjektivierung wurde als Leidenschaft gesehen. Zu Schmitt vgl. Villacañas 2008.

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logie vollzog, bot er keinen anderen Ausweg an, als diesem Subjekt bis zu seinem Fluchtpunkt zu folgen bzw. die Triebe des von der liberalen Regierung vorhergesehenen und disziplinierten Menschen bis zum Ende seiner Selbstauflösung zu verschieben.

K ontrollgesellschaf ten Zweifelsohne bemerkte der späte Foucault, dass jene Kategorien, die er in Umlauf gebracht hatte, um das Programm der Frankfurter Schule zu vollenden und um die Entstehung des Rassismus und des Totalitarismus zu erklären – Souveränität, Tod, Rasse –, ihn zu Kategorien wie Bevölkerungsdisziplin und -politik führten, die mit dieser Linie einhergingen. Aber je mehr er mit den konkreten Analysen der liberalen Regierung und den modernen Prozessen kollidierte, umso mehr verstand er, dass der evolutionäre Kernpunkt des Westens nicht notwendigerweise in Richtung dieses totalitären Endes laufen musste. Das heißt nicht, dass dieser nicht für einen wertenden Blick in Richtung etwas extrem Unerwünschten lief. Aber es handelte sich um eine andere Regierungstechnik. Foucault scheiterte theoretisch, als er etwas spät die liberale Regierung entdeckte und ihren Erfolg gegenüber den Totalitarismen nicht erklären konnte. Die totalitären Disziplinen, nämlich die aus Überwachen und Strafen übertragenen Kategorien, funktionierten nicht, um die historische Besonderheit zu beschreiben, die sich in England zwischen 1640 und 1688 eröffnet hatte (oder allgemein in Europa um 1979) und die sich dann auf das Scheitern der letzten Form des sowjetischen Totalitarismus 1939 zubewegte. All das, was den späten Foucault so sehr interessierte und die Wahrnehmung einer aufgeklärte Mentalität charakterisiert, nämlich das Neue, das Hervorstechende, die Aktualität, die Gegenwart, beinhaltete die souveräne Macht nicht, welche die Eigenschaft hat, sterben zu machen. Die Anatompolitik, der biopolitische, regulierende Eingriff und die konkreten Formen der neoliberalen Regierung implizierten ein Sich-Verlassen auf eine reflexive Freiheit der Individuen und auf eine verallgemeinerte Sicherheit, die – wie das Beispiel der Nazis und Sowjets zeigte – von der totalitären Tyrannei zerstört worden war. Trotzdem bestärkt die philosophische Rezeption Foucaults die anfängliche Analyse, um zu zeigen, dass die liberalen, gouvernementalen Techniken keine materiell und historisch interpretierte Freiheit implizieren, sondern das nackte Leben, und in dieser Hinsicht Form des globalen Konzentrationslagers sind. Auf diese Weise musste die liberale Biopolitik von einem souveränen Schema des Ausnahmezustandes aus interpretiert werden, das der politischen Theologie eigen ist. Wie war diese konzeptuelle Verwirrung möglich, die Schmitt überraschte, der in dieser gewissen politischen Theologie in der Gegenwart einen Triumph ebenjener sieht? Als Deleuze über Foucault schrieb, konzentrierte er sich auf dieses ganze totalitäre Schema, auf die Archive, die Diagramme, die Dispositive, die Maschinen.

Die Ambiguität der Biopolitik: eine weberianische Lektüre

Trotzdem musste er sich mit den offensichtlichen Unstimmigkeiten auseinandersetzen. Insbesondere verstand Deleuze, dass die Mikrophysik der Macht mehr mit der Mikropolitik des Wunsches von Guattari zu tun hatte.5 Was diese Mikrophysik der Macht als strategische Form betrifft, in der das gesellschaftliche Wissen praktiziert wird, finde ich keine bessere Weise sie zu verstehen, als durch eine Aktualisierung der anthropologischen Notwendigkeit der Rhetorik. Dieses Wissen, das im bereits weltweit zugänglichen audiovisuellen Archiv auf bewahrt wird, erteilt – sobald es aktualisiert wird – dem Ausdrückbaren und Sichtbaren eine rhetorische Macht. Im Empfänger, der sich um sich, seine Wahrheit und um einen objektiven Effekt in Bezug auf die von ihm betretenen Räume sozialer Handlungen sorgt, produziert diese rhetorische Macht stets einen reflexiven Effekt der Subjektivierung. Zweifelsohne hatte Deleuze Recht, wenn er daran erinnert, dass das zentrale Thema bei Foucault immer das Paar Wissen/Macht war, aber nun – nach der liberalen Gouvernementalität als Rhetorik, die das verfügbare audiovisuelle Archiv aktualisiert – konnte er das Schema der heterogenen Herrschaft der politischen Theologie (im Stil von Hobbes/Bataille) nicht mehr anschneiden. Die liberale Gouvernementalität stattete die Macht und das Wissen mit einer Wirkung in Bezug auf die menschliche Bemühung um des konkreten Lebens willen aus. Wir müssen uns fragen, ob Deleuze Recht hatte, indem er die Subjektivierung nicht so sehr als Identität bestimmte – eine Wahrheit des Ichs, die an sich durchdacht und anerkannt ist –, sondern als eine Begebenheit, einen Prozess, eine Individualisierung ohne Subjekt. Ferner muss nach den Umständen gefragt werden, in denen dies der Fall ist und nach den Formen, in Gestalt derer dies sich zeigte. In jedem Fall handelt es sich um einen Prozess, der den objektiv technischen Bereich aktivierte und eine durchdachte Falte voraussetzte – bei Deleuze ›impersonal‹, aber ich bin mir nicht sicher, ob dies ebenso bei Foucault der Fall ist. Das Archiv zu aktivieren, impliziert einen Kräftefluss, der sich nicht auf etwas bezieht, sondern ein Ende hat, sich über sich zurückzieht, in einem Sich-Eigen ohne Bezug auf etwas anderes. Dieser subjektive Effekt der liberalen Macht bzw. des liberalen Wissens wurde trotz allem nicht bei seinem lacanianischen Namen genannt: ›Genuss‹. Dieser Genuss konnte nicht auf einer Macht der Prohibition und Unterdrückung basieren (vgl. Foucault 2001: 236). Foucault beschränkte sich auf die Aussage, dass es kein masochistischer Genuss sei. Mit seinem absoluten, wertenden Blickwinkel entfernte sich Deleuze von diesem Zustand – für Foucault historisch bedingt – und appellierte an das romantische Wort: die Leidenschaft (vgl. Deleuze 1999: 186). Dies war die Weise, der Subjektivierung eine traditionell philosophische Relevanz zu geben, sie von den Strategien der Administratoren zu 5 | Das Interview von Deleuze in Liberation im September 1986 zeigte bereits, wie das Buch Foucault von 1986 die Essenz nicht gefasst hatte, sondern das Ereignis seiner wissenschaftlichen Produktion. Die letzten Seminare wurden in nicht geeigneter Weise in Betracht gezogen.

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trennen, und intellektuelles Heldentum zu fordern. In einer komplett seltsamen Form bindet sich dieses subjektive Ereignis ohne Subjekt oder Identität, das bei Lacan vollkommen säkular und konventionell ist6, an die aristokratische moderne Tradition und an die poiesis von sich als nietzscheanisches Kunstwerk, an etwas, das die Identität ablehnt, aber erneut Macht, Rhetorik, Wissen, audio-visuelles Archiv, Exposition, Ausdruck, Bild, Lebensstil, Existenzmodus implizierte (vgl. Deleuze 1999: 160). Damit versuchte Deleuze etwas, das zu diskutieren wäre: Er versuchte weiterhin, die Übereinstimmung zwischen Foucault und seinem eigenen Werk zu beweisen. Aber in der Implikation des Identitätsverlustes konnte sich die Leidenschaft nicht mehr als Sorge um sich oder als Regierung von sich verstehen. Diese Grenzerfahrung hatte den herrschenden Poesieformen in Frankreich von Michaux und Roussel bis zu Cocteau ihre bevorzugte Metaphorik erteilt (vgl. Deleuze 1999: 181). Es war eine Lebensweise, die nicht die Selbstbeherrschung zur Regel hatte (vgl. Deleuze 1999: 240), sondern eher eine Klage über die Endlichkeit des Selbst und seiner Wünsche. In einem berühmten Gespräch assoziierte Deleuze diese Falte als unvermeidbares Zurückziehen vor der Fluchtlinie des Todes, jedoch nicht einen Schritt früher; die Erfahrung, die Quelle der Subjektivierung dort zu lokalisieren, wo das Sein und das Wesen sich treffen, wo das Dionysische Form annimmt. Deleuze sprach von Grenzerfahrungen und deswegen drückte er sich in Termini eines Quasi-Suizides aus, der in seiner Lust überlebte und das gesamte Leben einnimmt (vgl. Deleuze 1999: 182). Nacktes Leben? Oder ist es mit Weber die letzte Erbschaft eines Durstes nach dem Unendlichen, über Jahrhunderte vererbt, die in dem europäischen Künstler ihre letzte Idealisierung findet, seinen absoluten wertenden Gesichtspunkt? Bringen wir die Frage einen Schritt vorwärts. Dieses ästhetisch-aristokratische Ideal, diese nietzscheanische Lebensweise, die weiter als das Wissen und die Macht geht, dieses leidenschaftliche Kunstwerk seiner selbst – ist das nicht der Archetyp einer trivialen demokratisierten Erfahrung der Formen der orgiastischen Freude der liberalen Gesellschaft? Sich all diesem entgegensetzend zitierte Foucault Weber, um eindeutig die ›Sorge um sich‹ mit einer asketischen Praxis zu verknüpfen. Wenn die Ethik der ›Sorge um sich‹ eine Freiheitspraktik war, implizierte die Freiheit nun eine Asketik (vgl. Foucault 2001: 394). Wenn wir die ›Existenzformen und die Lebensstile‹ betrachten, gibt es keinen Grund mehr, zwischen ihrer künstlerischen aristokratischen und der demokratischen Form zu unterscheiden. Der Einfluss des technisch objektiven Dispositivs auf die Subjektivierung – das ureigenste Thema Webers – ist qualitativ nicht anders. Auf jeden Fall lassen wir komplett das Thema der Biopolitik als Disziplin/ Panoptikum/Autoritarismus hinter uns. Lazarrato sprach von der Noopolitik, von der Fähigkeit, das audio-visuelle Archiv und seinen Fluss der Wünsche und des Glaubens zu aktivieren, ohne in die Beziehung Kapital/Arbeit einbezogen zu wer6  |  Das Subjekt besitzt immer ein imaginäres Ich und dafür mobilisiert es die symbolischen Signifikanten manuell.

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den, sondern in die gemeinschaftliche Situation als Zuschauer. Dieses Archiv ist das Gedächtnis, und die Politik konstituiert sich in der Fähigkeit, die selektive Aufmerksamkeit des spirituellen Gedächtnisses zu aktivieren.7 Zu denken, dass diese Subjektivierungsprozesse unabhängig vom Wissen – das Sagbare und das Sichtbare des audio-visuellen Archivs – oder unabhängig von den Mächte-Rhetoriken stattfinden, ist absolut naiv und entsteht aus einer Idealisierung Nietzsches. Auf jeden Fall produziert diese Aktivierung eine Freude, die ohne einen reflexiven Beitrag undurchführbar ist. Wenn die Wahrheit, so wie Deleuze sagte, keine Methode voraussetzt, um sie zu entdecken, sondern Verfahren und Prozesse, um sie zu wollen (vgl. Deleuze 1999: 187)8, dann ist es offensichtlich, dass die Menschen diesen Genuss wollen. Das Entscheidende war die Wahrnehmung, die in einem Interview von 1988 aufkam, dass die Macht nicht mehr im Staat liege. Deleuze sprach von seinem Diesseits, dem weltweiten Binnenmarkt. Zweifelsohne war dies übereinstimmend mit dem Neoliberalismus. Trotzdem charakterisierte Deleuze diese liberale Regierung Foucaults als Kontrollgesellschaft. Dieser Wechsel wandelte die Foucault’sche Idee der liberalen Regierung gemäß der audio-visuellen Rhetorik in die Idee des Konzentrationslagers um. Selbstverständlich fuhr Deleuze daran anschließend mit Nietzsche fort und bekannte sich zu seinem Werden, den Leuten, der Volksmenge, den Nomaden, den Minoritäten, den Palästinensern9. Er akzeptierte all das, was in jedem Fall bereits da war – ohne die Notwendigkeit einer Akzeptanz. All diese Konzepte, ebenso wie das Konzept der konstituierenden Macht des Ereignisses und des Daseins, definierten sich in dem Interview zwischen Deleuze und Toni Negri, der 7 | Zu den Stellungnahmen Lazzaratos vgl. Santiago Castro Gómez: »Disciplinas, biopolitica y noopolitica«, in: Rostros, S. 71ff. Den Nutzen, den man aus Gabriel Tarde aufgrund dieser Tendenz gezogen hat, ist sehr charakteristisch. Dies ist auch bei Laclau zu sehen (vgl. Laclau 2005). Alles besteht in dem Bedürfnis, die Wünsche des Konsumenten zu formen, um aus ihm einen Zuschauer zu machen. Deswegen stellt die Werbung nicht die Ware zur Schau, sondern aktiviert einträchtige unbewusste Wünsche über Bild-Konstruktionen, die in ihrer Organizität einen Lebensstil formen, der soziale Beziehungen ausdrückt. Dadurch ergibt sich eine kulturelle Verwaltung des Lebens, die mit der Produktion von Mehrheitsmodellen einhergeht. 8 | Den Aufruf an die Ethik und an den Verdienst vermied er nicht: »Wir haben immer die Wahrheiten, die wir verdienen, in Abhängigkeit von den Wissensverfahren […], Subjektivierungs- oder Individuierungsprozessen, die uns zur Verfügung stehen.« (Deleuze 1993: 169). 9 | Dieses Interview von 1988 ist entscheidend für den Ausbruch der neuen Biopolitik. »Und im Diesseits sind es die Werden, die der Kontrolle entgehen, die Minoritäten, die immer neu entstehen und Widerstand leisten. […] Deshalb haben uns die Nomaden so interessiert, weil sie ein Werden sind und nicht zur Geschichte gehören. […] Das ist sogar einer unserer Unterschiede zu Foucault: für ihn war ein soziales Feld von Strategien durchzogen, für uns flieht es von allen Punkten aus.« (Deleuze 1993: 222) Daraufhin wurde für die Philosophie ein Abtauchen in den Untergrund gefordert.

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1990 Futur Antérieur gründete. Auf nietzscheanische Art sagte er sich, dass die Kunst der Ort des Widerstandes sei, der Ort des Fabulierens. In diesem Zusammenhang wurde über Foucault gesprochen und Negri fragte ihn: »In Ihrem Buch über Foucault […] schlagen Sie vor, drei Machtpraktiken weiter zu erforschen: die souveräne, die disziplinarische und vor allem die Kontrolle über die ›Kommunikation‹, die heute dabei ist, hegemonial zu werden.« (Deleuze 1993: 250) Dies implizierte die Herrschaft des Archivs und somit die Herrschaft über das Wort und die Vorstellung. Negri sagte – indem er die Gegenwart, die sich in Richtung des Internets bewegte, den alten Utopien gegenüberstellte –, dass die Singularitäten »potentiell das Wort ergreifen und damit einen höheren Grad an Freiheit« (Deleuze 1993: 250). Es ist offensichtlich, dass das Interview sich in erster Linie auf den späten Foucault fixierte und jenen modernisierte. Selbst ohne dies explizit zu artikulieren, gelangte es bis zur zentralen Entscheidung. Kontrolle oder höherer Grad an Freiheit? Ein Umstand, der gleichermaßen als Vorgeschichte von Imperio gedeutet werden kann. Deleuze zeigte sich treu gegenüber seiner Art die Dinge zu betrachten und sagte: »Wir sind dabei, in ›Kontroll‹gesellschaften einzutreten, die genaugenommen keine Disziplinargesellschaften mehr sind.« (Deleuze 1993: 250). In Wirklichkeit hatte Foucault gerade angefangen, sich mit Weber auseinanderzusetzen, als er die Entdeckung machte, dass die Macht im gesamten Westen nicht ohne die Reflexivität des Subjektes ausgeübt werden konnte, und nicht ohne dessen Freiheitssinn zu beeinflussen. Foucault entdeckte in diesem Sinne, dass die moderne Subjektivität neue Techniken der ›Sorge um sich‹ entwickelt hatte, die über kulturelle und religiöse Werte verbreitet wurden. Entgegen aller Prognosen hatten diese zur Universalisierung des homo aestheticus geführt, außerhalb der aristokratischen Form der liberalen Regierung oder der demokratisierten Form, die dem homo oeconomicus des liberalen Wunschsystems eigen ist. Negri bestätigte nun, dass sich diese Geschichte der Freiheit weiterhin über einen freien Gebrauch des audio-visuellen Archivs entfaltete. Zweifelsohne stellte er sich auf die Seite der Mehrheit. Im Anschluss an Nietzsche und seine Dichter sagte Deleuze, dass dieses eher die Kontrollgesellschaft sei. Beide sprachen von verschiedenen Ebenen aus. Der eine ausgehend vom Standpunkt der spinozianischen Immanenz, der andere aus einem absoluten Außen. Und so übersetzte Deleuze die ›liberale Gouvernementalität‹ als eine »unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation« (Deleuze 1993: 250). Zweifelsohne war die neue kybernetische Maschine der präzise Beweis für das audio-visuelle Archiv, das sowohl als höchster Trieb als auch als höchste Reflexivität zur Verfügung stand, aber beide waren Formen der gestörten Subjektivität. Anstatt allerdings seine Sprache zu ändern, insistierte Deleuze, dass die Menschheit dadurch, dass sie Zugang zu allem habe, »die kommenden Formen permanenter Kontrolle im offenen Milieu« (Deleuze 1993: 251) produziert hat. Dies war kontra-intuitiv. Jenes Archiv produzierte eher den Typ der Individualisierung ohne Subjekt, die derselbe Deleuze in aufwertenden Ausdrücken beschrieben hatte. Über all das, was der menschliche Intellekt produziert hat,

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zu verfügen, gab den freien Individuen keine Gelegenheit, sich zu organisieren. Die unbegrenzte Aufschiebung, die andauernde Veränderung, die andauernden Austausche, die schnelle Rotation, der Kapitalismus der Überproduktion wurden als Strafe gesehen, als eine Kontrolle des »spirituellen Gedächtnisses« (Lazzarato/ Negri 2006: 37), um es mit Lazzarato und Negri zu sagen. Aber in Wirklichkeit führte genau dieses Deleuzianische Subjekt ohne Individualisierung – sobald ihm seine aristokratisch-nietzscheanische Aureole entzogen wurde – zu dieser Form der Subjektivierung. Was in seiner aristokratischen Form bewundernswert war, war in seiner konventionellen und profanen Form verabscheuungswürdig. Foucault, der eher Soziologe war, sagte in Bezug auf diese liberale Gesellschaft, dass »der Konsummensch ein Produzent« sei und »einfach seinen eigenen Genuss produziere« (Foucault 2001: 264f.). Diese Sichtweise der Dinge beschrieb die Produktion der Informationen, Symbole und Vorstellungen, die aus der Aktivierung des virtuellen audio-visuellen Archivs entstanden sind. Zumindest bei Foucault gab es keinen absoluten Blick, als er sagte: »Wir müssen neue Lüste erschaffen. Dann wird das Begehren vielleicht folgen.« (Foucault 2005: 914) Damit zeigte Foucault, dass sein Programm nicht ausdrücklich für den Widerstand gegen die neoliberale Regierung und seine Form, nämlich das audiovisuelle Archiv, konzipiert wurde. Nun hatte das Fortbestehen des Wunsches nicht das Zusammenfallen des Realitätsprinzips, d. h. die Unterdrückung, zur Bedingung, sondern die Aktivierung des Prinzips der eigenen Lust. Bei Deleuze beobachten wir eine andere Möglichkeit, aber auf seltsame Weise kommt sie fast zum gleichen Punkt. Die Gnosis, die dem nietzscheanischen Denken innewohnt, durchbricht Deleuze mit Gewalt, als er sagte: »Vielleicht sind Wort und Kommunikation verdorben.« (Deleuze 1993: 252) Agamben setzte das Zitat fort, als er versicherte, dass wir unserer Sprache enteignet worden sind. Er sagte nicht, durch wen. Der Melancholie um die alten Gewissheiten konnte man nicht mehr ausweichen (vgl. Deleuze 1999: 283ff). Zweifelsohne war das aristokratische Modell von Deleuze das William Burroughs, wie es vorher die des Artaud und Sades für Foucault gewesen waren, was uns heute nur noch als Paradoxon erscheinen mag: Sie lehrten den Weg der Demokratisierung des homo aestheticus. Sich der Kontrolle zu entziehen bedeutete in diesem Sinne ›Vakuolen der Nicht-Kommunikation zu kreieren‹. Die mystische Lektion wurde gelernt. Sich der Kontrolle zu entziehen, hieß Bartleby nachzuahmen. Deleuze berief sich auf Heidegger, ohne ihn zu zitieren, als er sagte: »Denn die Kräfte des Menschen allein reichen nicht aus, eine beherrschende Form zu bilden, in der der Mensch unterkommen kann.« (Deleuze 1993: 169) Die Ontologie setzte sich durch und mit ihr der absolute transzendente Blick, der von Außen betrachtet. Die Anweisung war, zu dem nackten animalischen Leben zurückzukehren, das fähig ist, alles durch die infame menschliche Kreatur Produzierte zu vergessen, dessen lange Geschichte bereits im Computer verfügbar war. So wurde die idealistische Annahme eingeführt, dass das Tier kein Ethos habe. Die Biopolitik kehrte zu Nietzsche zurück: Das Streben nach dem tierischen Leben war das Einzige, das

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die Flucht vor dem »konstituierten Wissen und den herrschenden Mächten«10 er10  |  Zweifelsohne besteht der grundlegendste Fehler der Philosophie Deleuzes darin, dass sie abhängig von den Fluchten aus der Gesellschaft als Emanzipatoren ist, aber gleichzeitig weiß, dass der Kapitalismus eine permanente Flucht ist. In diesem Sinn glaubt er, dass die Ontologie des Subjektes die kontinuierliche Produktion von Differenzen sein sollte, und zur gleichen Zeit erkennt er an, dass der einzige Träger, der wirklich Differenzen produziert, der Kapitalismus ist. »Die Schizophrenie hängt untrennbar mit dem kapitalistischen System zusammen, das selbst als eine erste Flucht aufgefaßt wird: eine exklusive Krankheit.« (Deleuze 2003: 397) Von diesem Gesichtspunkt aus erwägt er als Emanzipator die Grundgestaltung eines schizoiden Subjektes und ist nicht fähig zu sehen, dass der Kapitalismus das objektive Dispositiv ist, das dieses produzieren kann: »Natürlich, der Kapitalismus war und ist noch immer eine gewaltige Wunschmaschine« (Deleuze 2003: 389). Von dort aus ist, wenn wir die Neuheit suchen und vor den konstituierten Mächten und dem Wissen fliehen wollen, der Kapitalismus das stabilste Schiff für diese Reise. In einem Interview von 1973, das bekannt ist unter dem Titel Über den Kapitalismus und den Wunsch (vgl. Deleuze 2003b), kurz nach der Publikation des Anti-Ödipus, sprach man von der »Demenz der kapitalistischen Maschine«, als würde sich eine »Rationalität der Pathologie« einstellen. Diese Pathologie war das Delirium. Wenn sie die Wünsche aktivieren wollten, »alle Arten unbewußter libidinöser Ströme, die den Wahn dieser Gesellschaft bilden« (Deleuze 2003: 382), dann wäre der Kapitalismus der größte Befreier der Dispositive. Trotzdem zeigte auf ähnliche Weise Foucault die Seltsamkeit des Affektes der Menschen gegenüber dem Kapitalismus als Masochismus auf, die »uneigennützige Liebe zur Unterdrückungsmaschine« (Deleuze 2003: 382). Negri sah klar, dass der gesamte utopische Horizont von Deleuze sich im Kapitalismus realisierte. Wenn er uns sagt, dass es notwendig ist, dass »der Wunsch aus der Sackgasse des individuellen, privaten Phantasmas herauskommt«, und zwar auf die Weise, dass sein »Prozeß in einem gesellschaftlichen Körper nicht unterbrochen wird und dass er kollektive Aussage produziert« (Deleuze 2003: 389), erweist es sich als schwierig, nicht zu bemerken, dass es das ist, was der aktuelle Kapitalismus schafft. Der entscheidende Punkt ist, dass Deleuze dachte, die Schizo-Flucht und die Toxiko-Flucht auf eine revolutionäre Ebene zu lenken. Trotzdem wissen wir, dass all diese Fluchtpunkte auf die Marktebene abzielen. Die Endaussage Deleuzes »Wie Sie sehen, besteht Hoffnung« (Deleuze 2003: 393) bleibt weiterhin naiv. Im Grunde war die Wertung der Psychoanalyse bereits das Schema der allgemeinen Wertung der Kontrollgesellschaften: »Es ist wie mit der Psychoanalyse: Es funktioniert im Freien, aber als repressive Kraft ist das noch schlimmer, weitaus gefährlicher« (Deleuze 2003: 395f.). Da die Psychoanalyse den Wahn nicht verstanden hat, hat sie nichts verstanden. Dies ist diskutierbar, aber es bleibt kein Zweifel der wählbaren Affinität zwischen Konsument und Wahnsinnigem. Das Unglaubliche ist, dass dort das Revolutionäre zu sehen ist: »Die kapitalistische Ökonomie verfährt mittels Decodierung und Deterritorialisierung: sie hat ihre extremen Kranken, d.h. die Schizophrenen, die sich an der Grenze decodieren und deterritorialisieren, aber auch ihre extremen Konsequenzen, die Revolutionäre.« (Deleuze 2003: 397) Auf dieser Basis würde Tausend Plateaus die These andeuten oder das Theorem, dass die Reterritorialisierung immer zum meist deterritorialisierten Fluss wird (vgl.

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lauben konnte. Das Animalische wurde als enorme Kapazität des Vergessens gesehen. Die letzte der Illusionen Fausts. Und so erhielten wir die Lösung des Paradoxes, wieder einmal durch die Schriften Foucaults: Es gab eine schlechte Biopolitik, die uns in die virtuellen Bereiche der Kontrollgesellschaft einschließt, welche dem neuen rhetorischen Kapitalismus angepasst sind, und es gab eine gute Biopolitik, die das Tierleben – noch einmal, das ›nackte Leben‹ – als reflexiven Horizont der Freiheit erforscht, die dem Wissen und der Macht entkommen möchte. In beiden Optionen sehen wir das Dominante: die Unmöglichkeit, sich mit der Endlichkeit eines Menschen zu versöhnen, der in Wirklichkeit nur wenige Wege zur Verfügung hat, wenige Ethoi. Und so wurden die Anspielungen von Walter Benjamin auf das Paradies in eine Konvergenz mit der Mimesis des ›absolut Anderen‹ von Adorno wieder aufgenommen. Die Schwierigkeit dieses Ansatzes der guten Biopolitik ist, dass das Modell eines ontologischen Vergleiches uns nie etwas dazu sagen kann, ob wir sie richtig interpretieren. In diesem Sinne sind die Tiere genau so stumm wie die platonischen Ideen – und somit steht dies im Widerspruch zu Lemm (vgl. Lemm 2009). Und es wäre sogar möglich, dass beide identisch sind. Auf jeden Fall scheint es evident, dass im Unterschied zu den Menschen die Tiere nichts vergessen. Sie bewegen sich nah an der Idee der immerwährenden Form. Wir sind es, die vergessen, und deshalb müssen wir uns erinnern. Sie können mit Gleichmut die Schwächen der Identität und der Endlichkeit aushalten. Wir haben diesbezüglich anscheinend mehr Schwierigkeiten.

Z usammenfassung Der Triumph des ästhetischen Menschen, sei es in seiner aristokratischen oder in seiner demokratischen Version, bleibt weiterhin eine singuläre historische Kontingenz für einen Anhänger Webers. Er wird nicht durch eine Ontologie getragen. Ich glaube nicht, dass die Weiterentwicklung dieser Idee mit der Unterstützung der Ontologie von Deleuze bedeuten würde, nicht zu widerstehen, noch weniger dem aktuellen Kapitalismus. Die Gegenwart bleibt. Für ein von Weber gezeichnetes Programm wird es zeigen, inwiefern das neue produktive System die zukünftige Subjektivitätsform und die konkreten Interpretationen von Freiheit beeinflusst und weiterhin beeinflussen wird. Exakt diese Dialektik der Objektivierung/Subjektivierung war das Problem, auf das sich Maurice Florence in seinem Beitrag Foucault (vgl. Florence 1984: 943) konzentrierte. Aber es ist schon an der Deleuze 2000: 224). Dies wurde zur These der Hegemonie von Negri: »Die Technologien der Macht artikulieren sich immer über die Hegemonie der meist Deterritorialisierten von allen.« Und dies bedeutet, dass sich dort kommunikativ-finanzielle Apparate hineinstürzen, um die verschiedenen Typen der Arbeit und der Subjektivierung zu kapitalisieren (vgl. Lazzarato/ Negri 2006: 35-44).

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Zeit einen Typ Mensch einzufordern, der nicht zu einigen seiner ästhetischen Transformationen verurteilt ist. Die Freiheit ernst nehmen impliziert zu akzeptieren, dass andere Typen Mensch möglich und andere Beziehungen mit dem Produktionssystem machbar sind. Strenger betrachtet verdienen diese vielleicht eher die Bezeichnung ›Widerstandsform‹. Der Anspruch, eine existentielle Ontologie auf der Entfaltung der europäischen postnietzscheanischen Menschheit basieren zu lassen, ist die letzte Hybris des Eurozentrismus. Der Einfluss auf das Subjekt der kapitalistischen Produktionsweise verändert sich und dies wird nicht von den kulturellen Faktoren zu trennen sein. Die kapitalistische Produktionsweise wird nie das ›nackte Leben‹ betreffen, eine idealistische Annahme, die weiterhin an das glaubt, von dem wir wissen, dass es nicht mehr existiert: eine radikale Kluft zwischen dem Ethos Tier und dem Ethos Mensch. Vielleicht ist unsere die einzige Gesellschaft, die daran glaubt. Aber sie sollte diesen Glauben nicht zur Ontologie erheben. Vielleicht sollten wir diese via regia des Eurozentrismus verlassen, um den Weg für einen wirklichen kulturellen Polytheismus zu öffnen, auf den Weber uns früher und besser als jeder andere vorbereitet hat. Es kann sein, dass dieses Programm der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften den Kontext bietet, in dem Foucault ein Diskussionspunkt und nicht ein Objekt der Verehrung werden kann. Aus dem Spanischen von Maren Ahlzweig

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Für eine Ontologie des Lebens: Roberto Esposito Affirmative Biopolitik und die Macht des Lebenden

Communitas, Immunitas, Biopolitik 1 Roberto Esposito

›C ommunitas ‹, ›I mmunitas ‹, ›B iopolitik‹ In welcher Beziehung stehen diese drei Wörter zueinander, entlang derer sich meine Arbeit in den letzten Jahren entwickelt hat? Ist es möglich, diese Termini in ein Verhältnis zu setzen, das über eine einfache Abfolge von Konzepten oder unterschiedlichen Begrifflichkeiten hinaus geht? Ich glaube, dass dies nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist, da jeder Begriff nur in der Beziehung zum jeweils anderen seinen eigenen vollen Sinn entfaltet. Aber gehen wir historisch vor und rufen uns kurz die Bewegungen ins Gedächtnis, welche die Semantik der beiden Begriffe – zuerst die Gemeinschaft und später die Biopolitik – im Rahmen der aktuellen philosophischen Debatte miteinander in Beziehung gesetzt haben. Ende der 1980er Jahre entwickelt sich in Frankreich und Italien ein Diskurs über die Kategorie der Gemeinschaft, welcher sich gegenüber der Art und Weise, in der dieser Begriff in der gesamten Philosophie des 20. Jahrhunderts verwendet wurde, als radikal dekonstruktivistisch ausnimmt. Er stellt sich gegen eine Entwicklung, die zunächst mit der organizistischen Philosophie der Gemeinschaft in Deutschland ihren Ausgang nahm, dann in die verschiedenen Ethiken der Kommunikation und schließlich in den amerikanischen Neo-Kommunitarismus mündete. 1. Trotz zahlreicher Differenzen verband diese drei Konzeptionen von Gemeinschaft eine gemeinsame Tendenz, die wir metaphysisch nennen könnten, sofern man sie substantialistisch oder subjektivistisch denkt. Die Gemeinschaft wurde als jene Substanz verstanden, die bestimmte Subjekte in der Teilhabe an einer bestimmten Identität miteinander verknüpft. Auf diese Weise erschien die Gemeinschaft konzeptuell mit der Figur des Eigenen verbunden; sie war durch eine reziproke Zugehörigkeit definiert. Ihre Mitglieder hatten ihr Eigenes gemeinsam, nämlich die Tatsache, dass sie Besitzer des eigenen Gemeinsamen waren. 1  |  Der Vortrag wurde am 20. Mai 2011 an der Heinrich-Heine-Universität gehalten.

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Rober to Esposito

Eine Reihe von Texten, die rasch aufeinander folgten, haben sich gegen diesen konzeptuellen Kurzschluss gewandt, in dem das Gemeinsame in das logisch Gegensätzliche, nämlich das Eigene, verkehrt wurde. Diese sind: La communauté désoeuvrée von Jean-Luc Nancy, La communauté inavouable von Maurice Blanchot, La comunità che viene von Giorgio Agamben und mein Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Das, was diese Studien einander ähnlich machte, war die Art der Veränderung der vorangehenden Semantik, in dem buchstäblichen Sinne, dass die Gemeinschaft anstatt auf Eigenschaft oder Zugehörigkeit seiner Mitglieder auf eine konstitutive Alterität bezogen wurde, welche ihr jedwede Identitätskonnotation entzog. Die Subjekte der so definierten Gemeinschaft hatten nicht eine Substanz oder eine res gemeinsam; vielmehr wurden sie von einer Differenz durchkreuzt, durch die sie sich einer wechselseitigen Ansteckung exponierten. Besonders im Buch von Jean-Luc Nancy ist die Gemeinschaft nicht als das konzipiert, was Subjekte in Beziehung setzt, sondern als das Sein selbst der Beziehung. Wie Nancy zu sagen, dass die Gemeinschaft nicht ein gemeinsames »Sein« ist, sondern ein »Gemeinsam-Sein« (»l’essere in comune«, A. d. Ü.), also eine Existenz, die mit der Exposition gegenüber der Alterität koinzidiert, bedeutet einen Schlussstrich unter alle substantialistischen Auslegungen – partikularer und universeller, subjektiver und objektiver Art – des vorhergehenden philosophischen Denkens der Gemeinschaft zu ziehen. Trotz der theoretischen Fruchtbarkeit dieses Übergangs blieb gleichwohl ein Problem offen. Indem Nancy die Gemeinschaft aus dem Bereich der Subjektivität löste, machte er ihre politische Artikulation besonders problematisch – nicht zuletzt angesichts der deutlichen Schwierigkeit, eine der subjektiven Dimension vollends externe Politik zu denken –, die das Subjekt so in einer notwendigerweise unpolitischen Dimension verortete. Mein Eindruck ist, dass sich hinter derartigen Schwierigkeiten von Nancy und anderen Theoretikern bei der Formulierung dieser neuen Konzeption von Gemeinschaft die Tendenz verbirgt, die Gesellschaft mehr vom Blickpunkt des cum als von dem des munus aus zu betrachten. Es ist so, als würde das der Figur der Relation zugesprochene, absolute Privileg deren relevantesten Inhalt – nämlich den Gegenstand des wechselseitigen Austauschs selbst – auslöschen und damit auch deren potentiell politische Bedeutung. Mein Beitrag, den ich in die Diskussion einzubringen versucht habe, war eine genealogische Verschiebung am Ursprung des Begriffes. Mein Ausgangspunkt war die Vorannahme, dass die Idee der Gemeinschaft in sich selbst den Schlüssel trägt, um ihrer eigenen unpolitischen Falte zu entkommen und die politische Prägnanz wiederzuerlangen, allerdings unter der Bedingung, dass man die Begriffsgeschichte bis zum lateinischen Etymon communitas zurückverfolgt und gar noch weiter zurück bis hin zu dem Wort, von dem es abgeleitet ist, nämlich dem Begriff munus.

Communitas, Immunitas, Biopolitik

Deshalb habe ich einen interpretativen Weg unternommen, der sich mindestens in einem entscheidenden Punkt merklich von dem der französischen Dekonstruktion unterscheidet. Ich übernehme zwar den pars destruens ihres Diskurses hinsichtlich identitätslogischer Kommunitarismen, verschiebe aber die Aufmerksamkeit innerhalb des Gemeinschaftsbegriffs vom Feld des cum, auf das sich Nancys Analyse bezog, zu dem des munus, den er im Dunkeln gelassen hatte. Seine bivalente Bedeutung von ›Gesetz‹ und ›Gabe‹ bzw. ›Gesetz der Gabe‹ ermöglichte es mir, die von der Dekonstruktion erarbeitete, enteignende Semantik beizubehalten und sogar zu akzentuieren – sich der ursprünglichen communitas anzuschließen bedeutet, auf die eigene individuelle Substanz zu verzichten. Zugleich erlaubte dies mir aber auch einen möglichen Übergangsweg zur politischen Dimension wieder zu öffnen. Im Zentrum dieses Übergangs steht das Paradigma der Immunität, zu dem sich der Zugang von der Seite des cum schwierig gestaltet, weil seine Bedeutung, sei sie negativ oder privativ, eben vom Ausdruck munus abstammt. Wenn communitas das ist, was die Mitglieder durch die Verpflichtung zur Gabe wechselseitig verbindet, so ist immunitas im Gegenzug das, was von dieser Pflicht befreit. So wie die Gemeinschaft auf etwas Allgemeines verweist, so zeigt Immunität oder Immunisierung auf das Privileg einer Situation, die durch den Entzug einer gemeinsamen Bedingung definiert ist. Dies wird unter juristischen Gesichtspunkten deutlich, gemäß denen derjenige eine – parlamentarische oder diplomatische – Immunität genießt, der in Abweichung vom Gemeinen Recht nicht der Rechtsprechung untersteht, der alle anderen Bürger unterliegen. Aber dies lässt sich auch in der medizinischen und biologischen Bedeutung des Begriffs gut erkennen. Hier impliziert die natürliche oder induzierte Immunisierung die Fähigkeit eines bestimmten Organismus, dank der eigenen Antikörper einer von einem externen Virus verursachten Infektion zu widerstehen. Wenn man beide Semantiken – die juristische und die medizinische – übereinander legt, lässt sich Folgendes daraus schließen: Wenn die Gemeinschaft die Schutzbarrieren der individuellen Identität aufbricht, so baut die Immunität diese in Form der Verteidigung oder eines Angriff gegen jedwedes äußeres, bedrohendes Element wieder auf. Dies kann für Einzelindividuen, aber auch für Gemeinschaften selbst gelten, wenn sie in ihrer jeweils partikulären Dimension angenommen und zugleich gegenüber jedem ihnen fremden Element immunisiert werden. Hieraus erklärt sich der double bind der immunitären Dynamiken, die bereits für die Moderne typisch sind und sich heute zunehmend auf alle Bereiche der individuellen und kollektiven Erfahrung erstrecken. Immunität ist zwar zur Erhaltung unseres Lebens notwendig, doch sobald sie eine bestimmte Schwelle überschreitet, zwingt sie das Leben in eine Art Käfig, der uns letztlich nicht nur unsere Freiheit, sondern auch den Lebenssinn selbst verlieren lässt – nämlich jene Öffnung der Existenz außerhalb ihrer selbst, der man den Namen communitas gegeben hat.

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Dank dieses analytischen Übergangs erkennt man, dass die Kategorie der Gemeinschaft eine neue politische Valenz erlangen kann, ohne in eine substantialistische Metaphysik zu verfallen. In dem Augenblick, in dem das Immunitätsdispositiv zum Syndrom unserer Zeit wird, zeigt sich die Gemeinschaft als eine zugleich reale und symbolische Form, die einer übertriebenen und von allen Seiten auf uns einwirkenden Immunisierung widersteht. Wenn auf der einen Seite die Immunität dazu tendiert, unsere Existenz in abgeschlossene, nicht miteinander kommunizierende Bereiche abzuriegeln, so bricht auf der anderen Seite die Gemeinschaft die Grenzlinien wieder auf und wird damit zu einem Übergang, der die menschliche Erfahrung neu ordnet und sie von ihrer Sicherungs- und Schutzobsession befreit. 2. Doch hier drängt sich die zweite, bereits angekündigte Frage auf: Die Politik, von der wir in diesem Falle sprechen, kann nur eine Form von Biopolitik sein. Von dem Moment an, da sich das Immunitätsphänomen genau an der Kreuzung von Recht und Biologie, von medizinischen Verfahren und Rechtschutz einschaltet, wird klar, dass auch die hierdurch induzierte Politik in einem direkten Verhältnis zum biologischen Leben stehen wird. Es erübrigt sich hier die Entwicklung des biopolitischen Paradigmas zu rekonstruieren, die mit den Vorlesungen von Michel Foucault in den 1970er Jahren beginnt und insbesondere durch italienische Interpretationen fortgeführt wurde. Letztere haben Foucaults Intuitionen auf originelle Weise weiter bearbeitet und so eine internationale Debatte eingeleitet. Gerade die Frontstellung zwischen diesen – einerseits tragischen und apokalyptischen, andererseits euphorischen – Auslegungen der Biopolitik deutet indes auf eine bereits in Foucaults Texten latent erkennbare Schwierigkeit und sogar grundsätzliche Antinomie hin. Diese besteht im Wesentlichen aus einer verfehlten oder unzureichenden Artikulation zwischen den zwei Polen von bíos und Politik, aus denen sich der Begriff ›Biopolitik‹ zusammensetzt. Es ist so, als wären diese nicht zu einem einzigen semantischen Block verschmolzen, sondern separat gedacht und lediglich in zweiter Instanz aufeinander bezogen worden, sodass die Begriffe wechselseitig dazu tendieren, den jeweils anderen ihrer absoluten Vorherrschaft zu unterwerfen. So erscheint das Leben entweder besetzt und wie von einer Macht gefangen genommen, die es allein auf eine biologische Materie reduziert, oder es ist die Politik, die es riskiert, sich im Rhythmus eines Lebens aufzulösen, das fähig ist, sich ohne Kontraste zu reproduzieren. Im ersten Fall tendiert das biopolitische Regime dazu, nicht vom Souveränitätsregime abzurücken, dessen innere Falte es zu sein scheint. Im zweiten Fall emanzipiert es sich so sehr davon, bis dass es fast jeden Kontakt mit der eigenen tiefen Genealogie verliert. Foucault selbst hat sich nie auf eine der beiden Optionen zwischen diesen zwei extremen Möglichkeiten festgelegt; vielmehr schwankte er zwischen der einen und der anderen, ohne je zu einer definitiven Entscheidung zu kommen.

Communitas, Immunitas, Biopolitik

Es ist so, als ob in seinem großartigen konzeptuellen Dispositiv etwas fehlte – ein Zwischenring oder ein Verbindungsstück –, das in der Lage ist, die zwei grundsätzlichen Polaritäten von Leben und Politik in einer Form zu verbinden, die organischer und komplexer ist, als die in Foucaults Pionierarbeiten vorgeschlagene, noch zögerliche Form. Eben diesen konstitutiven Nexus habe ich im Immunisierungsparadigma zu erkennen versucht. Bei seiner doppelten Auslegung als Paradigma der Biologie und des Rechts handelt es sich genau um den Berührungspunkt zwischen den Sphären des Lebens und der Politik. Dies macht es möglich, die grundsätzliche Distanz zwischen den beiden extremen Interpretationen der Biopolitik (ihrer tödlichen und ihrer euphorischen Version) zu überbrücken. Aber anstatt gegensätzliche und unversöhnliche Arten für das Verständnis dieser Kategorie zu sein, stellen sie zwei innere Möglichkeiten des immunitären Dispositivs dar. Dieses ist aufgrund seines bivalenten Wesens in einem vereinheitlichten, zugleich positiven und negativen, schützenden und zerstörerischen Horizont zu verstehen. Wenn einmal das janusköpfige, zugleich auf Schutz und Negation des Lebens bezogene Profil des Immunisierungsprozesses geklärt ist, so erfährt auch das Paradigma der Biopolitik eine adäquatere Definition. Die negative Bedeutung, die dem Paradigma der Biopolitik zu bestimmten Zeiten anhaftet, ist nicht das Resultat einer gewalttätigen Unterwerfung, welche die Macht von außen her auf das Leben ausübt, sondern vielmehr die widersprüchliche Art und Weise, mit der das Leben selbst versucht, sich vor den es bedrohenden Gefahren zu schützen. Ich meine damit, dass die Immunität, die zur Erhaltung des individuellen und kollektiven Lebens notwendig ist – niemand von uns würde ohne das körperliche Immunsystem am Leben bleiben –, letztlich die Entwicklung des Lebens bremst, wenn wir sie als exklusiv und exkludierend gegenüber jedweder umweltmäßigen oder menschlichen Alterität verstehen und verwenden. Wenn man so will, ist es die Differenz zwischen Immunisierung und Autoimmunisierung, die in diesem negativen Abdriften auf dem Spiel steht. Alle wissen, was Autoimmunkrankheiten sind. Es handelt sich um pathologische Formen, die dann auftreten, wenn das Immunsystem unseres Körpers so stark wird, dass es sich gegen sich selbst wendet und irreparable Schäden verursacht. Selbstverständlich geschieht dies nicht immer. In der Regel beschränkt sich das Immunsystem auf eine erhaltende Funktion, ohne sich gegen den Körper zu wenden, dem es innewohnt. Aber wenn dies geschieht, erfolgt es nicht aus einem äußerlichen Grund, sondern infolge des immunitären Mechanismus selbst, der in einem nicht mehr erträglichen Maße verstärkt wird. Eine ähnliche Dynamik ist auch im politischen Körper erkennbar, wenn die Schutzbarrieren in Bezug auf das Außen beginnen, selbst zu einem größeren Risiko zu mutieren als das, was sie ausschließen möchten. Bekanntlich ist heute eines der größten Risiken unserer Gesellschaft gerade das übermäßige Sicherheitsbedürfnis, was in manchen Fällen dazu tendiert, den Eindruck einer realen

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oder imaginären Gefahr erst entstehen zu lassen, mit dem Ziel, gegen diese Gefahr immer mächtigere Mittel zum präventiven Schutz zu aktivieren. Diese logische und historische Artikulation zwischen den Paradigmen von Biomacht und Immunisierung ermöglicht es, einerseits die Bedeutung selbst des Biopolitikbegriffs zu klären, andererseits aber auch innerhalb des Konzepts zwischen seiner negativen und seiner potentiell affirmativen Modalität zu unterscheiden. Obwohl während des gesamten Verlaufs des vergangenen Jahrhunderts die erste Auslegung des Biopolitikbegriffs die zweite deutlich überwog, ist es dennoch nicht ausgeschlossen, dass die zweite erneut zu Tage treten kann. 3. Aber was könnte heute eine affirmative Biopolitik sein, in der das Leben nicht mehr das Objekt, sondern das Subjekt der Politik sein könnte? Wie könnte eine solche Biopolitik konturiert sein? Wo könnten ihre Symptome aufgespürt werden? Und mit welchen Instrumenten? Es handelt sich um eine Frage, oder besser, um ein ganzes Bündel von Fragen, die alles andere als leicht sind. Es reicht nicht, Erfahrungen mit einer negativen Biopolitik, oder wie im Falle des Nazismus gar mit einer Thanatopolitik gemacht zu haben, um im Kontrast dazu ihr Gegenteil auszumachen. Ein qualitativer Sprung ist gefordert, der es ermöglicht, den Nexus zwischen Bindungen und Bedürfnissen, zwischen dem Zuwachs der Finanzmärkte und dem Schutz der sozial, kulturell, generationell Schwächeren gänzlich anders zu organisieren. In dieser breit gesteckten Arbeit, die nur durch eine neue Allianz von nationalen und internationalen Politikformen, von Parteien und Bewegungen, von individuellen und kollektiven Subjekten geleistet werden kann, mag ein erster, neuer, nicht nur theoretischer Orientierungspunkt gerade in der vorgenannten Dialektik von Gemeinschaft und Immunität bestehen. Es geht darum, die Kräfteverhältnisse zwischen ›gemein‹ und ›immun‹ umzukehren und durch das Gemeine den Schutz und die Zerstörung des Lebens voneinander abzukoppeln. Dies bedeutet, das Immunitätsparadigma von innen heraus umzuwandeln, indem es nicht als eine exkludierende Barriere, sondern als eine Art Beziehungsmembran2 zwischen Innen und Außen verstanden wird. Das Problem muss auf doppelter Ebene angegangen werden: Einerseits müssen die für eine negative Immunisierung verantwortlichen Apparate deaktiviert und andererseits neue Räume des Gemeinen aktiviert werden. Beginnen wir mit dem ersten Punkt. Wir haben gesehen, dass der abnorme Zuwachs an Kontrolldispositiven einen entsprechenden Verlust an individueller und kollektiver Freiheit bedeutet. Die Trennungsbarrieren, die Blockierungen bei der Zirkulation von Ideen und die Überwachungsmechanismen, die an allen 2  |  Der Begriff ›filtro‹, den Esposito im Kompositum ›filtro di relazione‹ benutzt, bedeutet auf Italienisch auch ›materia porosa‹. Die teils durchlässige Stofflichkeit von Filtern ist also im Originaltext betont, während die Semantik vom deutschen Lexem ›Filter‹ vornehmlich die selektive Funktion dieses Dispositivs konnotiert.

Communitas, Immunitas, Biopolitik

sensiblen Orten aktiviert sind, führen zunehmend dazu, dass sich gemeinsame Erfahrungen vermindern. Diesen Prozessen muss man sich einerseits entziehen und ihnen andererseits mit allen legitimen Mitteln widerstehen. Dies ist besonders schwierig. Zum einen weil die zeitgenössischen Dispositive – von den biometrischen Maßnahmen in den Flughäfen bis hin zur Überwachung durch fotoelektrische Zellen – zum Schutze der Gesellschaft und zu unserem eigenen Schutz bestimmt sind. Aber es ist auch aus einem anderen, tiefer liegenden Grund schwierig. Und zwar, weil die Unterwerfung mit den Subjektivierungsprozessen verflochten ist, wie Foucault herausragend analysiert hat. Den Dispositiven zu entgehen oder der Versuch, sie zu deaktivieren, hat sodann ein doppeltes Ergebnis zur Folge, nämlich die Befreiung und Isolierung sowie die Emanzipierung und Verarmung. Gewiss ist es möglich, außerhalb des durch das Internet geschaffenen Netzes zu leben, doch mit einem keineswegs geringen Preis an Entfremdung und Desorientierung in Bezug auf die globalisierte Welt. Bevor man diese Dispositive deaktiviert, sollte man vorsorglich zwischen Verbots-, Kontroll- und Unterwerfungsdispositiven unterscheiden; also zwischen Systemen, die unsere individuelle und kollektive Erfahrung zu erleichtern vermögen, und Apparaten, die unsere Lebenspotenz reduzieren. Dennoch reicht das nicht aus, denn dies kann nur den negativen Teil, nämlich den individuellen Entzug und damit eine Strategie darstellen, die dagegen auch ins Positive gewendet und ins Spiel gebracht werden muss. Die Loslösung von den Zwängen des Immunen muss durch die Produktion von Räumen, Sphären und gemeinsamen Dimensionen begleitet werden, die zunehmend von einem Übergriff ihres eigenen Gegenteils bedroht sind. Wenn man darüber nachdenkt, so hat das Konzept des ›Gemeinen‹ drei verschiedene Gegensätze, deren negative Effekte sich überlappen. Es handelt sich um die Paradigmen von ›eigen‹, ›privat‹ und ›immun‹. Alle drei widersetzen sich der Semantik des Gemeinen in den unterschiedlichen und dennoch konvergenten Formen des Besitzergreifens, der Privatisierung und der Immunisierung. Es handelt sich um drei Modi der Auflösung der sozialen Bindung und in erster Linie um die Auflösung der Idee von ›Gemeingut‹, dessen Intensität und Ausbreitung trotz der sich zunehmend global organisierenden Welt immer mehr eingeschränkt werden. Seit einiger Zeit hat nicht nur eine Reihe von Philosophen, sondern auch von Juristen eine semantische Rekonstruktionsarbeit des Begriffs von ›Gemeingut‹ geleistet, der von den gegenteiligen und spiegelbildlichen Begriffen wie ›Privatgut‹ und ›Öffentliches Gut‹ eingeengt und fast zermahlen wird. Das Recht selbst wird in Rom als Privatrecht geboren und soll den ursprünglichen Besitz der Dinge in einer juristisch kodifizierten Weise regeln. Dies gilt aber auch für den Besitz bestimmter Menschen, welche von denjenigen zum Gegenstand reduziert werden, die sich mit Gewalt zu ihrem Herrscher erklärt haben. Zu dieser Aneignungsdynamik hat sich in der modernen Welt die Enteignung zur Bildung öffentlicher Güter gesellt, die der Kontrolle und Nutzung durch staatliche

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Organismen zugeordnet werden. Auf diese Weise ist der Raum des Gemeinen, der weder von einzelnen Individuen noch vom Staat angeeignet werden kann, stets kleiner geworden, bis dass er mit der juristisch unbestimmten Zone der res nullius, der ›Niemandssache‹, zusammenfiel. Als der allgemeine Mechanismus moderner Immunisierung aufkam, zog sich das Gemeine unter dem konvergierenden Druck des Eigenen, des Privaten und des Öffentlichen noch stärker zurück. Die Immunität beschränkte sich nicht mehr darauf, die Grenzen des Eigenen zu stärken, sondern hat sich progressiv auch der Sphäre des Öffentlichen bemächtigt. Nicht zufällig hat sich die Souveränität als das erste und fundamentale, moderne Immunisierungsdispositiv entpuppt. Als dann beim Untergang der ersten Moderne diese Kategorien in direkte Verbindung mit dem Horizont des biologischen Lebens traten, verstärkte sich die Erosion des ›Gemeinguts‹ – nämlich der Güter, die allen und damit niemandem gehören – weiter. Erst wurden die Umweltressourcen – das Wasser, die Erde, die Luft, die Berge, die Flüsse – privatisiert, dann die Stadträume, die öffentlichen Bauten, die Straßen, die Kulturgüter sowie schließlich die intellektuellen Ressourcen, die Kommunikationsräume und die Informationsmittel. All dies geschah in der Erwartung, dass früher oder später auch die Organe des biologischen Lebens legal verkauft und beim besten Anbieter erstanden werden können. Schon die Moderne tendierte dazu, das Gemeingut auszuschließen oder dieses zumindest zugunsten einer Dialektik von Privatem und Öffentlichem zu schmälern – eine Dialektik, die progressiv das gesamte gesellschaftliche Leben besetzen sollte. Liest man Autoren wie John Locke oder Ugo Grozio, so sieht man, wie die Notwendigkeit theoretisch begründet wird, die Welt in Privat- und Staatseigentum aufzuteilen – eine Welt, die Gott allen und damit niemandem im Besonderen gegeben hat. Lange Zeit und bis heute stellte das Konzept des demanio (lat. »dominium«, A. d. Ü.) als öffentliches Eigentum des Staates nicht das Gegenteil, sondern die komplementäre Umkehrung des Privatbesitzes dar. Mit der Globalisierung hat sich diese Art der Transformation des Privaten in öffentliche Güter immer mehr mit dem umgekehrten Phänomen der Privatisierung des Öffentlichen verflochten, und zwar auf eine Weise, welche Dinge wie das Gemeingut zu erschöpfen und sie gar außerhalb des Horizonts des Möglichen zu platzieren scheint. Dies wird noch relevanter, wenn im Zuge der aktuellen biopolitischen Wende jedes materielle oder geistige, jedes körperliche oder technologische Gut die Sphäre des biologischen Lebens direkt oder indirekt betrifft, sodass sie auch die Ressourcen des Verstandes und der Sprache, des Symbolischen und Imaginären, der Bedürfnisse und des Begehrens umfasst. Nun muss gerade auf diesem Terrain der Kampf um eine affirmative Biopolitik aufgenommen und möglichst gewonnen werden. Dieser Kampf muss sich zunächst gegen die Einklammerung von Öffentlichem und Privatem richten, die ja riskiert, das Gemeine auszumerzen, und muss den Raum für das Gemeine erweitern. Bereits bestehende Konflikte gehen alle in diese Richtung, so zum Beispiel

Communitas, Immunitas, Biopolitik

die Anfechtung der Privatisierung von Wasser, Energiequellen oder von Exklusivpatenten, mit welchen die Pharmaindustrie die Verteilung von Medikamenten zu niedrigen Preisen in den ärmsten Gegenden des Planeten verhindert. Es handelt sich selbstverständlich um einen schwierigen Kampf, auch weil man nicht den strategischen Fehler begehen darf, den schon konstituierten öffentlichen Raum zugunsten eines noch zu erfindenden gemeinsamen Raumes aufzugeben. Weil Letzterer noch nicht existiert, könnte in der Zwischenzeit der Privatisierungsprozess begünstigt werden. Aber man darf das Gemeingut auch nicht mit jenem Gut verwechseln, das im souveränen Sinne dem Staat oder den regionalen Verwaltungen angehört und von der bisherigen, juristischen Aufteilung zwischen Öffentlichem und Privatem geregelt wird. Problematisch ist dabei, dass zurzeit keine Statuten oder juristische Bestimmungen bestehen, die sich mit dem Schutz des Gemeinen gegenüber dem Privaten, dem Eigenen und dem Immunen befassen. Eigentlich existieren gegenwärtig nicht nur keine angemessenen Gesetze, sondern auch kein Vokabular für das Gemeine, denn das Gemeine wurde de facto erst vom Modernisierungs- und dann auch vom Globalisierungsprozess ausgeschlossen. Das Gemeine ist weder das Öffentliche als dialektischer Gegensatz zum Privaten, noch ist es das Globale als Gegensatz zum Lokalen. Das Gemeine ist vielmehr noch unbekannt und widerstandsfähig auch gegenüber unseren Konzepten, die seit Langem nach dem Immunisierungsdispositiv organisiert werden. Und dennoch spielt sich der Einsatz für eine affirmative Biopolitik, des Lebens und nicht über das Leben, genau hier ab. Sie besteht in der Fähigkeit, innerhalb dieses Horizonts zu denken, und zwar noch bevor man handelt. Es geht darum, das Leben über oder besser aus dem Inneren des Gemeinen heraus zu konzipieren. In den vergangenen Jahren habe ich u. a. mit der Kategorie des ›Impersonalen‹ versucht, mich mit meinen Recherchen in genau diese Richtung zu bewegen. Aus dem Italienischen von Vittoria Borsò

L iter atur Agamben, Giorgio (1990): La comunità che viene, Turin: Einaudi. Blanchot, Maurice (1996): La communauté inavouable, Paris: Éditions de Minuit. Esposito, Roberto (2004): Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: diaphanes. Nancy, Jean-Luc (2004): La communauté désoeuvrée, Paris: Christian Bourgois Éditeur.

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Der Ursprung des Konflikts Vom Impolitischen zur Biopolitik bei Roberto Esposito Dario Gentili

In seinem kürzlich erschienenen Buch Pensiero vivente rekonstruiert Roberto Esposito die italienische Genealogie seines Verständnisses der Biopolitik (vgl. Esposito 2010). Dabei bringt er verschiedene Denktraditionen und Autoren miteinander in Verbindung. Hiervon soll im vorliegenden Text eben jene philosophische Linie im Vordergrund stehen, die es mir erlaubt, in Espositos Denken die durchgängige Präsenz einiger grundlegender Fragen herauszustellen, die von seinen frühen Überlegungen zum Impolitischen bis hin zu seinen aktuellen Ideen zur Biopolitik reichen. Es handelt sich dabei zudem um Fragen, die auch generell den sogenannten »italienischen Unterschied«1 ausmachen, der das heutige Denken zur Biopolitik bestimmt. Es ist also nicht unwichtig, dass die Denktradition, auf die ich mich beziehe, beim Urvater der italienischen politischen Philosophie ihren Ausgang nimmt: Machiavelli. Dieser hatte zu Beginn der Moderne einen Begriff des Politischen entworfen, der seinerseits von einem produktiven und kreativen Konfliktverständnis getragen ist. Im Vergleich zu Hobbes’ Auffassung, die auf einer Neutralisierung des Konflikts fußt und welche später in der Moderne dominiert, hat Machiavelli nur eine Nebenlinie begründet. Um eben jenen Konflikt einzudämmen und zu beherrschen, in dem Machiavelli zufolge das Wesen der Politik selbst besteht, hat die Hobbes’sche Denktradition außerordentliche Denkgebäude wie den modernen Staat errichtet 2 und die Kategorien eben dessen bestimmt, was seine theoretische Disziplin ist: die politische Philosophie. Was dabei jedoch ungedacht geblieben ist, ist ein affirmatives Politik- und Konfliktverständnis, das an die Ränder des modernen Verständnisses des Politischen

1 | Der Ausdruck »italienischer Unterschied« stammt aus Antonio Negris Pamphlet La differenza italiana (vgl. Negri 2005) und wurde in der Folge von Chiesa und Toscano (2009) aufgegriffen. 2  |  Der Staat ist das Paradebeispiel für die Form des Politischen, dem man insbesondere in Italien traditionell dennoch die Partei zur Seite gestellt hat.

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geknüpft ist. Genau darauf bezieht sich Roberto Esposito, um die Aktualität der Krise der Formen des Politischen herauszustellen.

D as I mpolitische Das, was Esposito in Categorie dell’impolitico (vgl. Esposito 1999) als »hobbesianisches Ordnungsparadigma« (vgl. Esposito 1999: 9) bezeichnet, ist eben jenes Dispositiv, mit dem die politische Philosophie den Konflikt ›darstellt‹ – und auf diese Art und Weise auch neutralisiert. Dennoch ist der Konflikt nicht aus der Ordnung des Politischen verbannt. Er ist vielmehr sogar notwendig, denn erst seine Neutralisierung legimitiert die Konstitution der künstlichen Ordnung des Politischen und sichert deren Aufrechterhaltung. Die ›Nichtdarstellbarkeit‹ des Konflikts außerhalb der Ordnung ist daher für die politische Philosophie grundlegend; dies bedeutet jedoch nicht, dass er, tout court, nicht denkbar wäre. Es bedeutet nur, dass das Dispositiv der philosophischen Darstellung nicht in der Lage ist, den Konflikt als solchen zu denken. Die politische Philosophie kann lediglich die Ordnung des Politischen abbilden: Um die Politik darzustellen, muss sie den Konflikt neutralisieren und reduziert daher die Politik zwangsläufig auf das Politische – auf die Organisation des Staates und der Partei. Die Politik selbst wird also entweder auf die Darstellung des Politischen reduziert oder sie kann gar nicht dargestellt werden. Genau an diesem Punkt kommt der Unterschied zum Tragen, der Espositos Denken des Impolitischen innewohnt und der erst im Vergleich mit der ersten von Massimo Cacciari Ende der 1970er Jahre gegebenen Definition des Begriffs zu Tage tritt (vgl. Cacciari 1978). Cacciari zog eine affirmative Dimension nicht in Betracht. Für Esposito hingegen ist das Impolitische positiv gedacht und meint die Differenz der Politik innerhalb des Politischen – das nichtdarstellbare Denken der Politik innerhalb der repräsentativen Ordnung des Politischen. Das Impolitische nicht nur als äußeren Rand, sondern ausdrücklich als Kern selbst des Politischen und seiner grundlegenden Kategorien zu denken, ist das besondere Verdienst von Nove pensieri sulla politica (vgl. Esposito 1993), eben jenes anderen Buches, das Esposito neben Categorie dell’impolitico (vgl. Esposito 1999) dem Thema des Impolitischen widmet. Nicht zufällig nimmt hier die an das Impolitische geknüpfte Problematik unter dem Stichwort ›Politik‹ ihre klarsten Formen an: »[Die politische Philosophie] kann [die Politik] nur in der Form der Repräsentation denken. Und konkreter in der Form der Repräsentation der Ordnung. Es existiert eine enge und notwendige Verbindung von Ordnung und Repräsentation, in dem Sinne, dass die Darstellung – in all ihren möglichen Ausprägungen – immer die Darstellung der Ordnung ist. Auch wenn sie auf den Konflikt stößt, so tut sie dies ausgehend und innerhalb einer vorausgesetzten möglichen, wenn nicht gar aktuellen Ordnung. Ein Konflikt für die Ordnung. Es scheint ganz so, als ob die politische Ordnung direkt aus der begrifflichen Ordnung hervorgeht oder als

Der Ursprung des Konflikts ob das philosophische Begriffsnetz an sich den Konflikt zwangsläufig auf die Ordnung reduziert, ihn einer Ordnung unterwirft und ein Szenarium schafft, das ihn symbolisch werden lässt: Das heißt, dass der Konflikt erneut mit genau der Repräsentation, der er seine Form verdankt, wieder vereint wird, in sie integriert und in ihr fixiert wird.« (Esposito 1993: 16f.; Dt. d. Ü.) 3

Die Figur der Nichtdarstellbarkeit, die das Impolitische ›bestätigt‹, ist die ›Gemeinschaft des Todes‹, wie sie Bataille denkt beziehungsweise als Mit-teilbarkeit (it. con-divisione): partage (dt. eines von allen gemeinsam Geteilten). In dem von Bataille – und später anderen französischen Philosophen der Gemeinschaft (vgl. Blanchot 2007; Nancy 1995) – verwendeten Sinne bedeutet partager nämlich genau ›etwas durch die Herstellung von Unterschieden in Beziehung setzen‹, eine nichtaneigenbare Differenz mit anderen teilen, die sich nicht auf Identität reduzieren lässt, da sie vielmehr allen gemein ist: der Tod. Und dennoch, selbst wenn der Tod die Grundlage der Gemeinschaft ist, so äußert sich die Differenz der Politik nur als ›Negativum‹ des Politischen: als Entzug, Ausschließung, Bann – nämlich als Tod. Demzufolge ist die Gemeinschaft des Todes die äußerste Folge des Impolitischen – und vielleicht ist sie die einzige, der es möglich ist, ein kritisches und dekonstruktives Denken geltend zu machen, so wie es im Grunde auch beim Denken des Impolitischen der Fall ist: »Der Tod gehört nur dem Einzelnen (oder vielleicht: der Einzelne gehört nur dem Tod): und zwar in dem Sinne, dass der Tod einen Teil darstellt, der mit Anderen nicht ›geteilt‹ werden kann. Und dennoch stellt die Gemeinschaft genau diese Teilung dar: aber eine Teilung, welche die Teile weder einander annähert noch diese identifiziert, sondern sie gar unendlich voneinander entfernt. […] Gemeinschaft bedeutet, die Unmöglichkeit zu teilen, am eignen Tod zu sterben: Deshalb ist sie im spezifischen Sinne unmöglich. Eine unmögliche Gemeinschaft. Die Gemeinschaft einer unmöglichen Gemeinschaft. Nichts der Gemeinschaft – nicht einmal ihre Ferne, ihr Fernsein – ist darstellbar, in Präsenz überführbar. […] In diesem

3 | It. Orig.: »[La filosofia politica] non può pensare [la politica] che nella forma della rappresentazione. E, più precisamente, della rappresentazione dell’ordine. C’è un nesso stretto e vincolante tra ordine e rappresentazione, nel senso che la rappresentazione – in tutte le sue possibili declinazioni – è sempre dell’ordine. Anche quando incontra il conflitto, lo fa a partire e dentro il presupposto dell’ordine, possibile se non attuale. Conflitto per l’ordine. È come se l’ordine politico scaturisse direttamente dall’ordine del concetto o fosse la stessa trama dei concetti filosofici a ridurre necessariamente il conflitto all’ordine, a ordinare il conflitto. A istituire una scena in cui il conflitto è reso simbolico: vale a dire ancora una volta riunificato, reintegrato, fissato nella stessa rappresentazione che lo pone in essere.«

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Dario Gentili Sinne ist die Gemeinschaft wirklich die extreme Figur des Impolitischen. (Esposito 1999: 308f.; Dt. d. Ü.) 4

Dennoch kann die Gemeinschaft des Todes nicht die einzige Möglichkeit sein, um die Gemeinschaft im Hinblick auf Begründung oder auf Subjektivität hin zu denken; sie ist zweifelsohne auch nicht ihr Extrem, im Sinne einer endgültigen Befreiung vom Joch des Politischen.5 Aber die Idee einer Politik als Konflikt, welche die Dekonstruktion des Impolitischen im Bezug auf jedwede repräsentative Ordnung als überflüssig enthüllt hat, muss anders dargelegt werden. Für Esposito bedeutet dies, das eigene Denken von einem kritischen und dekonstruktiven Ansatz zu lösen, der schon im Begriff ›im-politisch‹ implizit mitschwingt, bezeichnet doch im Italienischen der Präfix im- sowohl die Inhärenz des Politischen als auch den Umstand, dessen Negativität zu sein. Kurz, wenn eine affirmative Konzeption der Politik das eigene und charakteristische Feld im Politischen der Moderne haben soll, so kann aus ihm nur das Impolitische resultieren. Aber was wäre, wenn sich Politik und Konflikt ursprünglich nicht innerhalb des modernen Politischen ansiedelten? Espositos Denken nimmt eben solche Fragen als Ausgangspunkt, um über das Denken des Impolitischen hinauszugehen.

D ie V erquickung von C ommunitas und I mmunitas Auch wenn Communitas (vgl. Esposito 2005), der erste Band der aus Immunitas (vgl. Esposito 2004a) und Bíos (vgl. Esposito 2004b) bestehenden Triologie, die Überlegungen zur Gemeinschaft weiterverfolgt, die Esposito bereits in Categorie 4  |  It. Orig.: »La morte appartiene solo al singolo (o forse: il singolo appartiene solamente alla morte): nel senso che è una parte non ›spartibile‹ con altri. Eppure la comunità è precisamente questa spartizione: ma una spartizione che non avvicina, né identifica, le parti; e anzi infinitamente le allontana. […] Comunità è condivisione dell’impossibilità di morire della propria morte: perciò essa è in senso specifico impossibile. Impossibile comunità. Comunità dell’impossibile comunità. Nulla della comunità – neanche la sua lontananza, l’essere lontananza – è rappresentabile, portabile a presenza. […] In questo senso la comunità è davvero l’estrema figura dell’impolitico.« 5 | Schon im Vorwort der zweiten Ausgabe von Categorie dell’impolitico, ist sich Esposito bewusst, dass ein dekonstruktivistischer Ansatz unzureichend ist, um das affirmative Denken der Gemeinschaft (und mit ihr die Politik) zu thematisieren: »Die Unmöglichkeit von Gemeinschaft, mit sich selbst im Einklag zu sein, sich selbst historisch darszutellen, war von Beginn an zentral für die Perspektive des Impolitischen im Sinne desjenigen kostitutiven Konflikts, der allein theologisch-politisch geregelt oder, im Gegensatz dazu, gemäß der im Projekt der Moderne dominanten Richtung neutralisiert wird. Was ich heute jedoch besonderes hervorheben möchte, ist die Notwendigkeit, die ursprüngliche Leere nicht einzig negativ oder nur dekonstruktiv auszulegen« (Esposito 1999: XXXI; Dt. d. Ü.).

Der Ursprung des Konflikts

dell’impolitico (vgl. Esposito 1999) unternommen hatte – sodass auch dieses erneut mit Bataille schließt –, so kehrt er dennoch die Perspektive radikal um. Es wird nun der Ursprung der Gemeinschaft in den Blick genommen, und nicht ihr endgültiger und extremer Ausgang, um ihren Unterschied zum modernen Politischen positiv zu bestimmen. Esposito betrachtet nun das munus der com-munitas, also das, was der Gemeinschaft gemein ist: »Wie uns die komplexe, aber zugleich eindeutige Etymologie, die wir beigezogen haben, anzeigt, ist das munus, das die communitas miteinander teilt, weder ein Eigen-tum noch eine Zugehörigkeit. Es ist kein Haben, sondern im Gegenteil eine Schuld, ein Pfand, eine zu-gebende-Gabe. Und somit dasjenige, was ein Fehlen hervorrufen wird, im Begriff ist, ein Fehlen zu werden, es potentiell schon ist. Die Subjekte der Gemeinschaft sind durch ein ›Schulden‹ vereint […], dass sie nicht vollständig Herren ihrer selbst sein läßt. Und das sie, genauer gesagt, zum Teil oder ganz und gar enteignet, sie ihres anfänglichen Eigentums, ihrer eigentlichsten Eigen-schaft enteignet – nämlich ihrer Subjektivität selbst. […] das Gemeine ist nicht vom Eigenen gekennzeichnet, sondern vom Uneigen(tlich)en – oder, drastischer gesagt, vom Anderen. Von einer – teilweisen oder gänzlichen – Entleerung des Eigenen in sein Negatives. Von einer Ab-eignung, welche das Eigentümersubjekt überfällt und dezentriert, es dazu zwingt, aus sich selbst herauszugehen. Sich zu alterieren.« (Esposito 2005: 16)

Obgleich sich in der Argumentation von Communitas bisweilen noch dekonstruktive Spuren6 ausmachen lassen, so kommt Epositos Wende dennoch klar zum Ausdruck. Indem er bis auf die ethymologische Wurzel von munus (eine Gabe, die verpflichtet, eine Schuld, die uns der Alterität aussetzt) zurückgeht, kehrt er dabei nicht nur die Perspektive um, von der aus er seine Überlegungen zur Gemeinschaft anstellt: Ausgehend von der aktuellen Verwendung des Wortes – auf welche sowohl Agambens Die kommende Gemeinschaft (vgl. Agamben 2003b) als auch die ›Produktion von Gemeinsamkeit‹ von Negri und Hardt (vgl. Hardt/Negri 2010) verweist – unternimmt Esposito den Weg hin zur Wurzel. Das Gemeinsame wird dabei nicht mehr nur als ›eine von allen geteilte Eigenschaft‹ (proprietà7) verstanden und löst sich somit vom Bezug auf eine Eigenschaft, die das Wortpaar öffentlich/privat charakterisiert. Mehr noch, hat sich die Gemeinschaft erst einmal von der Vorstellung der Eigenschaft gelöst, so lässt sie sich 6 | »Die Gemeinschaft ist und muß konstitutiv impolitisch bleiben, in dem Sinn, daß wir unser Gemeinsam-sein nur verstehen können, wenn wir es diesseits jeglicher angeblich historisch-empirischer Verwirklichung halten. Wenn wir diesbezüglich nicht die Rolle der Subjekte übernehmen: Die Gemeinschaft kann keine ›Subjekte‹ haben, weil sie selbst die Subjektivität konstruiert – und dekonstruiert – in der Gestalt ihrer Alteration.« (Esposito 2004a: 147) 7  |  Der Autor spielt hier mit dem doppelten Wortsinn von »proprietà« als Besitz und Eigenschaft; Anm. d. Ü.

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nicht auf die individuelle oder kollektive, die persönliche oder staatliche Subjektivität reduzieren: Deshalb lässt sie sich auf keinen Identitätsbegriff reduzieren, so wie jener, auf den sich letztlich der Kommunitarismus bezieht. Aber anstatt die communitas ausgehend vom cum, von der Beziehung, zu denken (vgl. Nancy 1988), wird sie – und das ist der entscheidende Schritt – ausgehend vom munus gedacht. So ist es die communitas selbst, die ursprünglich die neutralisierenden Dispositive des modernen Politischen aktiviert und wirksam werden lässt, denn diese sind im Wesentlichen Dispositive der Immunisierung. Das moderne Politische ist in der Tat die Immunisierung der communitas. Die immunitas rührt aus eben diesem munus, aus jener unendlichen Kompensationsschuld, zu der uns die Gabe des Anderen verpflichtet, welche die ursprüngliche Gemeinschaft bildet. Es ist also genau dieses munus, was das Politische immunisieren möchte. Kurz, die communitas ist nicht nur das Negative, welches das moderne Politische und dessen auf Repräsentanz begründete Ordnung un-begründet werden lässt, ebenso wenig ist es auch nicht nur das Kommende (»a-venir«, Anm. d. Ü.) einer nie definitiv abgeschlossenen Dekonstruktion des Politischen (vgl. Derrida 2000). Die communitas ist vor allem der Grund dafür, dass es das moderne Politische, dessen Dispositive und nicht zuletzt auch Subjektivität gibt: »Darauf nun – auf dieses unannehmbare munus – versucht die moderne politische Philosophie zu antworten. Und zwar wie? Hier tritt wiederum jene Kategorie der ›Immunisierung‹ auf den Plan, die, wie wir sahen, den einschneidendsten semantischen Kontrapunkt der communitas darstellt. Die These, die ich hier vorbringen möchte, besagt, daß sie als Schlüsselfigur des gesamten Paradigmas der Moderne verwendet werden kann: an der Seite von, und stärker noch als andere hermeneutische Modelle, wie jene, die unter den Stichworten ›Säkularisierung‹, ›Legitimisierung‹, ›Rationalisierung‹ figurieren, und die deren lexikalische Prägnanz vernebeln bzw. abschwächen. Und zwar deshalb, weil in ihnen zwar die Loslösung von der vormodernen Vergangenheit anklingt, nicht aber die perspektivische Inversion und die Kraft der Negation, die immunitas und communitas einander direkt gegenüberstellt. Das ›Immune‹ ist nicht einfach vom ›Kommunen‹ unterschieden, sondern ist sein Gegenteil – das, was es derart entleert, daß nicht nur seine Wirkungen, sondern seine Voraussetzung selbst komplett ausgelöscht werden.« (Esposito 2005: 24f.)

Die Gemeinschaft ist demzufolge nicht, wie es der dekonstrutivistische Ansatz will, das Negative des immunisierenden Dispositivs der modernen politischen Philosophie. Es gilt vielmehr das Gegenteil: Die immunitas negiert die communitas. Und dennoch sind die Dispositive unabdingbar geworden, welche die moderne Philosophie wirksam werden ließ, um das munus der communitas zu immunisieren, um die Menschen von ihrer Pflicht zur Kompensation zu befreien. In der Tat macht in der ursprünglichen Gemeinschaft die bedingungslose Öffnung, zu welcher der munus verpflichtet, jeden verletzlich und setzt ihn daher dem Tod aus (vgl. Esposito 2011). Es handelt sich dabei um genau das, was Hobbes zu Beginn

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der Moderne als ›Naturzustand‹ beschrieben hat, um die Notwendigkeit eben jenes Pakts oder Vertrags zu rechtfertigen, der die Menschen an den Gehorsam bindet und diese als Untertanen dem Souverän unterstellt und ihnen dafür aber im Gegenzug Schutz und Sicherheit bietet: »Was die Menschen miteinander gemein haben – und was sie mehr als jede andere Eigenschaft einander angleicht –, ist ihre generalisierte Tötbarkeit: die Tatsache, dass ein jeder von jedem anderen getötet werden kann. Das ist es, was Hobbes am dunklen Grund der Gemeinschaft liest. Was er als ihr unentschlüsselbares Gesetz deutet: die Gemeinschaft trägt eine Todesgabe in sich. Daher die unausweichliche präskriptive Konsequenz: Wenn sie als solche die individuelle Unversehrtheit der Subjekte, die sie in Beziehung setzt, bedroht, dann bleibt nichts übrig, als daß wir uns im vorhinein ›immunisieren‹, indem wir ihr in ihren eigenen Grundfesten entgegentreten.« (Esposito 2005: 26f.)

Das Immunisierungsdispositiv, das von der Souveränität eingesetzt wurde, um auf die Todesangst zu reagieren, welche die ursprüngliche Gemeinschaft weckt, kompensiert die Unterdrückung des cum der communitas durch die Schaffung von Subjektivität, die insbesondere zu Beginn der Moderne die ursprüngliche Bedeutung von Unterwerfung und Subjektwerdung, die später in jedem Subjektivierungsprozess implizit mitschwingt, voll offenbart. Bei Hobbes sind die beiden Aspekte der Subjektivität noch klar getrennt: Der Hörigkeit des Untergebenen entspricht das Subjektwerden des Souveräns. Wie uns Foucault lehrt, verringert sich diese Trennung im Zuge der Herausbildung des modernen Politischen: Die Unterwerfung der einen Partei ist die Bedingung für ihr Subjektwerden, und umgekehrt. Was dennoch beim Übergang von der ursprünglichen Gemeinschaft zur Immunisierung des modernen Politischen hervorgehoben werden muss, ist, dass die Teilung und die Trennung, die aus der Unterdrückung des cum und aus der Mit-Teilung des munus rühren, nicht ursprünglich sind, sondern vielmehr durch die Immunisierung der Gemeinschaft produziert werden, die das moderne Politische bestimmt: »Untergebene – dieses Souveräns – sind genau diejenigen, die nichts gemein haben, weil alles zwischen ›mein‹ und ›dein‹ aufgeteilt ist: Teilung ohne Mit-teilung. Genau sie ist es, die gegen die Todesgefahr ›immunisiert‹, welche in der Gemeinschaft enthalten ist, gemäß jener Opposition von immunitas und communitas, die das gesamte Projekt organisiert. […] Es ist diese irreparable Trennung, die jener Form des ursprünglichen munus ein Ende setzt, die das vorvertragliche Gesellschaftsverhältnis noch auszeichnete.« (Esposito 2004a: 50)

Die entscheidende Wende in Bezug auf jede dekonstruktivistische Perspektive erfolgt definitiv mit Immunitas (vgl. Esposito 2004a), dem zweiten Band der Triologie. Hier werden nämlich die besonderen Merkmale des Immunisierungsdispositivs vollkommen entwickelt, welches das Paradigma der modernen politischen Philosophie par excellence darstellt. Wie bereits schon teilweise in Communitas

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(vgl. Esposito 2005) vorweg genommen, bezeichnet immunitas, auch in etymologischer Hinsicht, das, was das munus – jene aus der Gabe rührende Schuld, die die communitas mit-teilt – entbehrt oder negiert: Die immunitas befreit einige Privilegierte von der compensatio des munus, zu dem ursprüglich ausnahmslos alle verpflichtet sind. Ausgehend vom Verständnis des Gesellschaftsvertrags und der Souveräntität bei Hobbes rühren die Dispositive des modernen Politischen also aus einem Ursprung, der nicht angeeignet werden kann, den sie aber dennoch voraussetzen müssen und von dem sie sogar abhängig sind, um wirksam zu werden. Was hier also radikal auf den Plan gerufen wird, ist die Möglichkeit selbst einer ›Autonomie des Politischen‹, unabhängig davon, ob sie die Form des Staates oder der Partei annimmt: »Aber wenn die Gemeinschaft [comunità] den Sinnhorizont konstituiert, vor dem allein die Immunität sich abheben kann, wie bestimmt sich dann das Verhältnis zwischen beiden? Handelt es sich um ein einfaches Oppositionsverhältnis oder vielmehr um eine komplexe Dialektik, in welcher der eine Terminus den anderen nicht bloß negiert, sondern ihn unterschwellig als die eigene notwendige Voraussetzung impliziert? [Eine erste Antwort auf die Fragen liefert die Etymologie.] 8 Die Wörterbücher des Lateinischen lehren uns, daß das Substantiv immunitas – wie das entsprechende Abjektiv immunis – eine privative oder negative Vokabel ist, die ihren Sinn von dem herleitet, was sie negiert und dessen sie ermangelt: dem munus also. Untersucht man die Hauptbedeutung dieses Terminus, so erhält man konstrastiv die Bedeutung von immunitas […].« (Esposito 2004a: 11f.)

Die immunitas ist also von einem Fehlen und von Entzug, dem des munus, gekennzeichnet und tritt nur durch die Negation eben jener communitas in Kraft, dessen Träger sie – im Gegensatz zum gemeinsamen munus – ist: »[D]er eigentliche Gegenbegriff zu immunitas [ist] nicht das abwesende munus […], sondern die communitas derjenigen, die sich ihrerseits zu dessen Träger machen. Wenn die Privation also auf das munus bezogen ist, dann ist der Brennpunkt, von dem aus die Immunität ihren Sinn gewinnt, das cum, in welchem das munus sich in Gestalt der communitas verallgemeinert.« (Esposito 2004a: 13)

Der Unterschied zu anderen Konzepten von Gemeinschaft, einschließlich derer, die Espositos Position am Nächsten stehen, müsste nun klar sein: Das munus bestimmt ursprünglich das Verhältnis von communitas und immunitas und verbindet sie in einem ›einzigen Dispositiv‹. Die Immunabwehr reagiert proportional auf die Gefahr, auf die Öffnung, zu der das Gemeine verpflichtet und die nicht nur das Leben des Individuums aufs Spiel setzt, sondern auch die Möglichkeit

8  |  Der Satz in Klammern ist im italienischen Original vorhanden, aber nicht in der verwendeten deutschen Übersetzung; Anm. d. Ü.

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selbst, sich als solches zu begreifen, d.h. als von der Gemeinschaft verschieden und getrennt: »Je mehr die das Leben bedrängende Gefahr ausnahmslos in all dessen Praktiken zirkuliert, um so deutlicher konvergiert die Antwort auf diese Gefahr in den Räderwerken eines einzigen Dispositivs: auf das immer diffusere Risiko des Gemeinsamen [comune] antwortet die immer kompaktere Abwehr des Immunen.« (Esposito 2004a: 11)

Dass communitas und immunitas in einem einzigen Dispostiv zusammenfallen, führt noch zu etwas anderem: Im Denken derjenigen, die zwar wie Esposito das Thema der Gemeinschaft ebenfalls aus ontologischer Sicht betrachten – ohne sie jedoch auf die ursprüngliche und konstitutive Verbindung mit dem das moderne Politische begründende Immunitätsparadigma zurückzuführen –, kann dieses Thema faktisch nicht in politische Begriffe übersetzt werden und bleibt höchstens auf die Ebene der Ethik, wenn nicht gar der Metaphysik verbannt. Aber um welche Politik handelt es sich, welcher Politikbegriff vermag communitas und immunitas und damit die sich wechselseitig negierenden Momente gemeinsam zu fassen, nämlich den Überschuss des gemeinsamen Lebens und den immunitären Schutz des menschlichen und des politischen Körpers? Das in Immunitas verwendete Vokabular birgt die Antwort: Es handelt sich um ›Biopolitik‹. Im Unterschied zu anderen Konzepten der Biopolitik rührt die Immunisierungsfunktion, auf die sich die Dispositive des modernen Politischen beziehen, hier aus dem Inneren des Lebens selbst, egal ob dieses individuell oder kollektiv ist: »Was aber heißt es, zu sagen, daß die Politik in den Grenzen des Lebens eingeschlossen ist? Daß das Leben das vorrangige Objekt – und Ziel – der Politik darstellt? Welchen Sinnhorizont verleiht eine solche Zusammengehörigkeit der Biopolitik? Ich glaube nicht daran, daß die Antwort auf diese Frage in den Faltungen einer souveränen Macht gesucht werden muß, die das Leben ausschließend einschließt. Sondern ich meine, daß sie auf eine historische Situation Bezug nehmen muss, von der ausgehend die Kategorie der Souveränität selbst jener Immunisierung weicht oder sich mit ihr zumindest unentwirrbar vermengt. Diese ist die generelle Prozedur, innerhalb derer sich die Überkreuzung von Politik und Leben vollzieht.« (Esposito 2004a: 194)

Der Verweis auf Agambens Verständnis der Biopolitik ist offensichtlich (vgl. Agamben 2002). Esposito distanziert sich weit mehr davon, als die oben zitierte Passage aufzeigt: Während das Dispositiv der souveränen Verbannung das Leben im Politischen einfängt und dieses ausnahmslos nackt und tötbar werden lässt, rührt die Immunisierung des Politischen bei Esposito hingegen aus dem Leben selbst, um dieses zu schützen. Es ist die Politik, die innerhalb der Grenzen des Lebens eingeschlossen ist – oder in den Begriffen von Agamben: Es ist nicht die Souveränität, die das nackte Leben im Lager einschließt, sondern es ist die ursprüngliche Un-Begrenztheit des Lebens, die dessen immunitäre Begrenzung

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vonseiten des Politischen aktiviert. Kurz, während bei Agamben das Souveränitätsdispositiv das nackte Leben produziert – und so die Biopolitik als Paradigma des abendländischen Politischen par excellence zum aktuellsten Ausdruck der Souveränität macht –, ist es bei Esposito das Leben selbst, das unter den anderen Immunitätsdispositiven die je unterschiedlichen historischen Bedingungen der Souveränität motiviert. Esposito ist also im Einklang mit Foucault, wenn er ›die Geburt der Biopolitik‹9 in der Moderne ausmacht. Denn wenn auch die ontologische Verbindung communitas-immunitas am Ursprung des Politischen tout court steht, durchbricht dies demnach erst in der späten Moderne das Leben direkt und unmittelbar und macht es selbst zunehmend zum Objekt und zur Materie der Immunisierung, bis hin zu den thanatopolitischen Folgen der nazistischen Biopolitik. Deshalb tritt die Biopolitik in der Geschichte zweifelsohne mit einer negativen Bedeutung in Erscheinung: »Der Zweck der Biopolitik ist nicht, das Leben entlang einer Scheidelinie auszurichten, die einen Teil von ihm der Gewaltherrschaft eines anderen Teils opfert – auch wenn diese Möglichkeit nie vollkommen ausgeschlossen ist –, sondern es im Gegenteil in seiner Gesamtheit zu erhalten, zu schützen, zu entwickeln. Der Punkt, auf den von Anfang an unser Hauptaugenmerk gerichtet war, ist, daß dieser Zweck den Gebrauch eines Instrumentes verlangt, das mit dem Leben negativ verbunden ist. Es ist, als ob dieselbe Verdoppelung, die das Leben an sich selbst erfährt – durch den politischen Imperativ, der es ›leben macht‹ – etwas enthielte, das ihm von innen entgegenwirkt.« (Esposito 2004a: 194)

So wie die immunitas des Politischen eingreift, um die Menschen vor der Gefahr des Todes zu bewahren, welche in die ursprüngliche communitas eindringt, so kann es aber auch damit enden, dass sie diese ausschließlich zu Individuen formt, die der Macht des Souveräns »sterben zu machen oder leben zu lassen« (Foucault 1986: 162) unterworfen sind. Während die Immunisierung auf die gleiche Art und Weise den Schutz des Lebens selbst darstellt, der wirksam wird, um auf die Ansteckung der Krankheit zu reagieren, so kann auch sie sich gegen das zu beschützen9 | In B íos wird die Übereinstimmung mit Foucault noch konkreter und betont, jenseits einiger Unsicherheiten Foucaults, die intrinsische Verbindung von Biopolitik und Moderne; die Biopolitik geht nicht aus der Krise des modernen Politischen hervor, sondern entsteht innerhalb des immunitären Paradigmas, das dieses von Beginn an konstituiert: »Das Element, das sofort bestimmt werden muss, weil es das fehlende Kettenglied von Foucaults Argumentation darstellt, ist die besondere Verbindung, welche [die Immunisierung] zwischen Biopolitik und Moderne schafft: Ich will sagen, dass die Biopolitik ihre spezifisch moderne Genese nur offenlegt, wenn sie konzeptuell an die immunitäre Dynamik eines negativen Schutzes des Lebens gebunden ist. Nicht weil Teile ihrer Wurzeln nicht in anderen Epochen erkennbar wären, sondern weil nur die Moderne die individuelle Selbstbewahrung zur Voraussetzung für alle politischen Kategorien erhebt, von der Souveränität bis hin zur Freiheit.« (Esposito 2004b: XIII; Dt. d. Ü.)

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de Leben richten, es negieren und zerstören. Genau das geschieht im medizinischen Bereich bei Autoimmunkrankheiten, bei denen das Immunsystem, anstatt den Körper zu schützen, diesen selbst angreift. Genau das ist auch im politischen Körper geschehen, als die nazistische autoimmunitäre Politik die Bandbreite der ansteckenden menschlichen Typologien derart erweitert hat, sodass sich diese letztlich gegen die deutsche Bevölkerung selbst wendete. Genau das könnte mit den politischen Sicherheitsmaßnahmen geschehen, die heute von den Nationalstaaten unternommen werden, um der zum Beispiel durch die Einwanderung drohenden Ansteckung zu begegnen. Und dennoch ist das Immunsystem ein notwendiger Filter, um das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft vor dem Risiko des Todes zu schützen, das aus einer unkonditionierten Öffnung auf die communitas rühren kann. Aber die Sicherheitsleinen zu lockern, die Grenzen durchlässiger werden zu lassen, den Filter des Immunsystems weiter zu öffnen, bedeutet nicht, die Gesellschaft einer Ansteckung durch das Nichts oder durch fehlende Werte auszusetzen, wie es vielleicht der Nihilismus und seine Gegener möchten. Es bedeutet auch nicht, die Gesellschaft dem Bürgerkrieg auszusetzen, in welchem jeder gegen jeden kämpft, wie es der politische Realismus möchte. Der Immunisierung liegt nicht das Nichts oder der Krieg zugrunde, sondern die Gemeinschaft – dies unterscheidet diese Kategorie vom Gros der philosophischpolitischen Tradition. Mehr noch, wie wir bereits herausgestellt haben, ist es die Gemeinschaft selbst, die die Dispositive wirksam werden lässt, um der Gefahr durch eine unkonditionierte Öffnung entgegenzuwirken. Gemeinschaft und Immunität bilden ein einziges Dispositiv: Weniger Immunität bedeutet somit mehr Gemeinschaft. Aber wie kann dennoch das Verhältnis von communitas und immunitas ausgeglichen werden, um den Schutz des Lebens nicht in sein Gegenteil zu verkehren, wenn die traditionellen Dispositive des modernen Politischen heute nunmehr – diesmal in Übereinstimmung mit Agamben – in einer negativen Biopolitik aufgehen? Wie kann der Schutz des Lebens also potenziert werden, anstatt in sein Gegenteil verkehrt zu werden? Ist eine affirmative Biopolitik möglich, die nicht ausschließlich – wie bei Agamben – in den Begriffen einer Praxis der Untätigkeit gedacht wird? Die von Immunitas (vgl. Esposito 2004a) gelieferte abschließende Antwort bedient sich erneut eines Beispiels, das den menschlichen Körper betrifft: der Beziehung zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft. In politische Begriffe übersetzt kann diese Antwort überraschend, wenn nicht gar paradox, erscheinen: Wird er offensichtlich von einem immunitären Filter reguliert, so kann der Konflikt – eben der Konflikt, den das von Hobbes eingeführte moderne Immunisierungsparadigma neutralisieren wollte –, in der Tat das politische Leben potenzieren und regenerieren: »Auf diese letzte – und erste – Frage faltet sich das gesamte Immunitätsparadigma zurück, bis es einen Punkt berührt, da es ununterscheidbar wird von seinem eigenen ›kommunitären‹ Gegenüber: Es ist gerade die Kraft des Immunangriffs, der am Leben erhält, was normalerweise hätte zerstört werden müssen. Die Mutter wirkt dem Kind entgegen und das

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Dario Gentili Kind der Mutter: und doch ist die Frucht dieses Konflikts der Funke des Lebens. Anders als in der Metapher des Kampfes auf Leben und Tod findet im Mutterbauch ein Kampf statt, bei dem es nur ums Leben geht – wie um zu beweisen, daß die Differenz und auch der Kontrast nicht unbedingt destruktiv sein müssen. […] Nichts bleibt – aus dieser Sicht – von der Inkompatibilität zwischen Selbst und Anderem übrig. Das Andere ist eben die Form, die das Selbst annimmt, wo das Innen sich mit dem Außen kreuzt, das Eigene und mit dem Fremden, das Immune mit dem Gemeinsamen.« (Esposito 2004a: 240f.)

Wenn wir daran denken, wie Esposito vorher das Problem des Impolitischen ausgearbeitet hat, dann entpuppt sich diese Lösung als weit weniger überraschend: Das Denken des Impolitischen zielte nämlich darauf ab, den Unterschied von Politik und dem Politischen aufrechtzuerhalten, oder anders gesagt: den Unterschied zwischen der Politik als Konflikt und dem modernen Politischen, dessen auf Repräsentanz – auf Immunisierung, können wir nun sagen – gründende Ordnung die Funktion hat, den Konflikt und mit ihm die Politik selbst zu neutralisieren. Um auf das todbringende Ungleichgewicht zwischen communitas und immunitas zu reagieren, das sich in der späten Moderne herausgebildet hat, verläuft die Suche nach einem – wenn auch prekären und zufälligen – Gleichgewicht, welches das Leben zu potenzieren vermag, über die Stärkung des Konflikt zwischen gemein und immun. Dies führt wiederum zur Potenzierung der Politik auf Kosten den Politischen: Weniger Immunität und mehr Gemeinschaft bedeutet auch weniger Politisches und mehr Politik. Gerade deswegen findet hier die Suche nach einem affirmativen Politikverständnis, die mit der Thematisierung des Impolitischen angestoßen wurde, ihre kohärenteste Lösung in der Ausarbeitung einer affirmativen Biopolitik.

B íos Die Fragen, mit denen Immunitas (vgl. Esposito 2004a) schließt, werden in Bíos (vgl. Esposito 2004b) aufgenommen und im Rahmen der Biopolitik ausführlicher behandelt. Bíos greift von Foucault offen gelassene Fragen auf, um die Möglichkeit einer ›affirmativen Biopolitik‹ in Betracht zu ziehen; ein Thema, das seither Espositos spezifische Position in der internationalen Debatte kennzeichnet (vgl. Campbell 2006): »Wenn da Leben stärker ist als die es bedrängende Macht, wenn sein Widerstand sich nicht vom Druck der Macht einknicken lässt, wie kann dann das Ergebnis, zu der die Moderne gelangt, die massenhafte Herbeiführung des Todes sein? Wie erklärt sich, dass auf dem Höhepunkt der Politik sich aus dem Leben eine tödliche Potenz abgeleitet hat, die sich dessen produktiven Impulsen entgegenstellt? Ist dies das Paradoxon, der unüberwindbare Stolperstein, vor welche nicht nur der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, sondern auch die darauf folgende Nuklarmacht dem Philosophen im Hinblick auf eine entschieden affir-

Der Ursprung des Konflikts mative Notion der Biopolitik stellen: Wie ist es möglich, dass die Macht des Lebens sich gegen das Leben selbst richtet?« (Esposito 2004b: 33; Dt. d. Ü.)10

Wie ist es im Grunde möglich, dass die Biopolitik, anstatt die Macht des Lebens zu bestimmen, letzten Endes mit historischen Phänomenen assoziiert wird, in denen Macht auf das Leben ausgeübt wurde? Warum hat sich die Biopolitik in der Geschichte ausschließlich als Negation des Lebens geäußert? Kurz, gehört es fatalerweise dazu, dass sich die Beziehung von Politik und Leben in der Regierung des Erstgenannten über das Zweite konkretisiert, d.h. in jener Reduktion auf das ›nackte Leben‹, welches von den verschiedenen Formen bewirkt wird, die das souveräne Dispositiv im Laufe der Geschichte angenommen hat? »Was bedeutet die politische Regierung des Lebens, wie ist das zu verstehen? In dem Sinne, dass das Leben die Politik regiert oder in dem Sinne, dass die Politik das Leben regiert? Handelt es sich um eine Regierung des Lebens oder über das Leben? Die gleiche konzeptuelle Alternative kann durch die lexikalische Unterscheidung der mehrmals synonymisch gebrauchten Begriffe ›Biopolitik‹ und ›Biomacht‹ ausgedrückt werden – unter dem ersten Begriff verstehe ich eine Politik im Namen des Lebens und mit dem zweiten ein dem Kommando der Politik untergeordnetes Leben. Aber so erweist sich dieses Paradigma, das eine konzeptuelle Verbindung suchte, erneut als gespaltet und wie von seiner eigenen Bewegung zweigeteilt.« (Esposito 2004b: 5; Dt. d. Ü.)11

Die Unterscheidung von Biomacht und Biopolitik, die es schon bei Foucault gibt, auch wenn sie nie ausdrücklich definiert wurde, ist von Negri und Hardt in der Empire-Triologie auf gegensätzliche Art verwendet worden (vgl. Hardt/Negri 2002, 2004, 2010). Wenn man unter Biomacht die souveräne Macht versteht, 10  |  It. Orig.: »[S]e la vita è più forte del potere che pure l’assedia, se la sua resistenza non si lascia piegare dalle pressioni di quello, come mai l’esito cui la modernità perviene è la produzione di massa della morte? Come si spiega che al culmine della politica della vita si sia generata una potenza mortifera portata a contraddirne la spinta produttiva? È questo il paradosso, l’insuperabile pietra d’inciampo, che non soltanto il totalitarismo novecentesco, ma anche il successivo potere nucleare pongono al filosofo in ordine a una declinazione risolutamente affermativa della biopolitica: come è possibile che un potere della vita si eserciti contro la vita stessa?« 11  |  It. Orig.: »Cosa vuol dire, come intendere, il governo politico della vita? Nel senso che la vita governa la politica o in quello che la politica governa la vita? Si tratta di un governo della o sulla vita? È la stessa alternativa concettuale che si può esprimere attraverso la biforcazione lessicale tra i termini, altre volte usati indifferentemente, di ›biopolitica‹ e di ›biopotere‹ – intendendo con il primo una politica in nome della vita e con il secondo una vita sottomessa al comando della politica. Ma ancora una volta, anche in questo modo, quel paradigma che cercava una saldatura concettuale risulta sdoppiato e come tagliato in due dal suo stesso movimento.«

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die auf das Leben ausgeübt wird, dann müsste Biopolitik hingegen eine Politik des Lebens bezeichnen: Im ersten Fall greift die Macht von außen her auf das Leben über, um es zu negieren, oder, in den Begriffen von Negri, auszubeuten; im zweiten Fall entsteht die Politik innerhalb des Lebens, um es zu potenzieren. Da es sich jedoch nicht darum handelt, für die Biopolitik auf Kosten der Biomacht zu optieren, bleibt das Problem für Esposito: Wie kann man tatsächlich eine affirmative Biopolitik konzipieren, wenn doch genau das Leben, was diese hervorbringen soll, der Biomacht unterworfen ist? Negri und Hardt antworten wie folgt: Es ist die ›Entscheidung des Exodus‹, die das Leben von der Ausbeutung durch die Biomacht befreit (vgl. Hardt/Negri 2010: 157). Und dennoch gestaltet sich die Befreiung von der Macht über das Leben immer noch als Negativum einer Politik des Lebens. Wir müssten Espositos Antwort nun eigentlich schon kennen: Die Unterscheidung zwischen Biomacht und Biopolitik ist künstlich, da auch die sogenannte Biomacht vom Leben hervorgebracht wird. In der Tat entspricht die Biomacht der Entartung eben jenes Immunitätsparadigmas, das vom Leben selbst herrührt, um es zu beschützen: »Die Kategorie der Immunisierung erlaubt uns, einen weiteren Schritt nach vorn zu tun oder, vielleicht besser, zur Seite, auch in Bezug auf das Auseinanderdriften der beiden vorherrschenden Ausprägungen des biopolitischen Paradigmas – jener affirmativen und produktiven sowie jener negativen und tödlichen. Man hat gesehen, wie [beide, d. Ü.] dazu neigen, gegenseitig alternative Formen anzunehmen, die keine Kontaktpunkte vorsehen: Entweder negiert die Macht das Leben oder sie steigert dessen Entwicklung; entweder tut sie ihm Gewalt an und schließt es aus oder sie schützt und reproduziert es; entweder objektiviert sie es oder sie subjektiviert es […]. Nun besteht der hermeneutische Vorteil des immunitären Modells genau in dem Umstand, dass diese beiden Modalitäten, diese beiden Sinneffekte –[seien sie nun, d. Ü.] positiv oder negativ, bewahrend oder zerstörend – endlich einen inneren Ausdruck finden, eine semantische Verbindung, die über eine kausale, wenngleich auch negative Beziehung verfügt. Dies bedeutet, dass die Negation nicht die Form der gewaltsamen Unterwerfung ist, welche die Macht dem Leben von außen her auferlegt, sondern eine innerlich widersprüchliche Art und Weise, wie sich das Leben durch die Macht bewahrt.« (Esposito 2004b: 42; Dt. d. Ü.)12 12 | It. Orig.: »[L]a categoria di immunizzazione ci consente di fare un ulteriore passo avanti o, forse meglio, laterale, anche in ordine alla divaricazione tra le due declinazioni prevalenti del paradigma di biopolitica – quella affermativa e produttiva e quella negativa e mortifera. Si è visto come esse tendano a costituirsi in una forma reciprocamente alternativa che non prevede punti di contatto: o il potere nega la vita o ne incrementa lo sviluppo; o la violenta e la esclude o la protegge e la riproduce; o l’oggettivizza o la soggettivizza […]. Ora il vantaggio ermeneutico del modello immunitario sta precisamente nella circostanza che queste due modalità, questi due effetti di senso – positivo e negativo, conservativo e distruttivo – trovano finalmente un’articolazione interna, una giuntura semantica, che le dispone in una relazione causale, sia pure di tipo negativo. Ciò significa che la negazione

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Es gibt also ursprünglich nicht zwei Leben – bíos und zoé, ein zur Subjektivierung fähiges Leben und ein anderes unterworfenes – und somit gibt es auch keine zwei Formen der Biopolitik: Vielmehr ist das eine die Kehrseite des anderen, da diese, wie communitas und immunitas, ein einziges Dispositiv bilden. In seiner biologischen Materialität betrachtet, ist das Leben kein neues Objekt, auf das die Politik einwirkt, sondern – wie immer schon – der Ursprung jedweder Form von Politik. Die Wende, die in der späten Moderne stattgefunden hat, bestand nicht so sehr in einem Paradigmenwechsel – das Leben erhält sich selbst faktisch immer noch mittels des Immunisierungsparadigmas. Vielmehr sind es die immunitären Dispositive des modernen Politischen, die sich vom Schutz hin zur Negation des Lebens verändert haben: »Das, was von klarer ontologischer Bedeutung ist, muss immer in politischer Hinsicht interpretiert werden. Nicht im Sinne einiger Formen, die von außen her die Materie des Lebens überlagern – genau das ist der Anspruch, den die moderne politische Philosophie in all seinen möglichen Kombinationen durchgespielt hat, um das Fundament endgültig zu verwerfen. Aber wie der konstitutive Charakter des Lebens selbst: Das Leben ist immer schon Politik, wenn man unter ›Politik‹ nicht das versteht, was die Moderne will – d.h. eine neutralisierende, immunitäre Vermittlung –, sondern die ursprüngliche Beschaffenheit, in der das Lebende ist oder in der das Sein lebt.« (Esposito 2004b: 82; Dt. d. Ü.)13

Damit eine affirmative Biopolitik möglich und denkbar ist, darf das Kriterium nicht eine Art adaequatio von Politik und Leben sein. Die Biopolitik befreit sich nicht von ihrer negativen Bedeutung, indem man neue politische Kategorien schafft, die näher am Leben liegen: Das Leben muss in der Tat beschützt werden, aber seine Immunabwehr würde sich erneut in Negation verwandeln, wenn die Politik zugleich nicht auch das Leben reproduziert und potenziert. Daher müssen die Kategorien einer affirmativen Biopolitik aus dem Leben selbst hervorgehen, und für Esposito sind es die gleichen Kategorien, welche die Negationsmacht des immunitären Wahns der nazistischen Thanatopolitik entfesselten. Neben der Kategorie des ›Lebens‹ handelt sich es um die Begriffe ›Körper‹ und ›Geburt‹. Den immunitären Zugriff auf diese Kategorien zu lockern, bedeutet, wie wir bereits non è la forma dell’assoggettamento violento che dall’esterno il potere impone alla vita, ma il modo intrinsecamente antinomico in cui la vita si conserva attraverso il potere.« 13 | It. Orig.: »[C]iò che ha un’evidente rilevanza ontologica va interpretato sempre anche in chiave politica. Non nel senso di una qualche forma che si sovrapponga dall’esterno alla materia della vita – è appunto questa pretesa, sperimentata in tutte le sue possibili combinazioni dalla filosofia politica moderna, ad essere definitivamente destituita di fondamento. Ma come il carattere costitutivo della vita stessa: la vita è già da sempre politica, se per ›politica‹ s’intenda non ciò che vuole la modernità – vale a dire una mediazione neutralizzante di carattere immunitario – bensì la modalità originaria in cui il vivente è o in cui l’essere vive.«

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wissen, sie der communitas zurückzuerstatten, aus der ihre ursprüngliche vitale Potenz rührt: »Es muss versucht werden, die gleichen Kategorien ›Leben‹, ›Körper‹ und ›Geburt‹ zu übernehmen und ihre immunitäre, d.h. selbstnegative Abweichung, in eine Richtung zu lenken, die für den ursprünglichsten und intensiven Sinn der communitas offen ist. Nur so […] wird es möglich sein, die Grundzüge einer endlich affirmativen Biopolitik abzustecken: nicht mehr über, aber des Lebens. D.h. derart, dass die von der modernen Politik bereits gebildeten und nunmehr verworfenen Kategorien das Leben nicht überlagern, sondern die innovative Potenz eines in seiner ganzen Komplexität und Vielfältigkeit gedachtes Leben in die Politik selbst einschreiben.« (Esposito 2004b: 171f.; Dt. d. Ü.)14

Die politische Praxis besteht letztlich darin, das Dispositiv zu deaktivieren, mit dem das moderne Politische den ›politischen Körper des Volkes‹ vom Körper abgetrennt hat, die ›Nation‹ von der Geburt, die ›juristische Person‹ vom Leben. Es ist genau jenes Dispositiv, welches das zoé aus dem Bereich des bíos ausgeschlossen hat. Dennoch impliziert eine solche Deaktivierung nicht nur – wie es im Grunde Agambens Vorstellung der Untätigkeit möchte – die Aufhebung der Entscheidung, durch die Trennung von bíos und zoé, lebenswertes Leben zulasten eines anderen zu negierenden Lebens zu bestimmen15. Die Deaktivierung des Immunitätsdispositivs des Politischen erstattet vielmehr den politischen Kategorien des Lebens ihre gemeinsame ursprüngliche Dimension wieder, die Esposito in folgenden Dimensionen ausmacht: Im Fleisch (welches Tier und Mensch, d.h. dem Lebenden, gemein ist), in der Geburt (der gemeinsame Ursprung, der jede definierte, persönliche und nationale Individualisierung durchquert und über14  |  It. Orig.: »Il tentativo che va fatto è quello di assumere le stesse categorie di ›vita‹, di ›corpo‹ e di ›nascita‹, convertendone la declinazione immunitaria, cioè autonegativa, in una direzione aperta al senso più originario e intenso della communitas. Solo in questo modo […] sarà possibile tracciare i lineamenti di una biopolitica finalmente affermativa: non più sulla, ma della vita. Tale, cioè, da non sovrapporre alla vita le categorie già costituite, e ormai destituite, della politica moderna, ma da inscrivere nella stessa politica la potenza innovativa di una vita ripensata in tutta la sua complessità e articolazione.« 15 | »Der Mensch war in unserer Kultur, wie wir gesehen haben, stets das Resultat einer Teilung und zugleich einer Gliederung des Animalischen und des Humanen, wobei einer der beiden Begriffe jeweils auf dem Spiel stand. Die herrschende Maschine unserer Konzeptionen des Menschen abzuschalten, bedeutet also nicht, nach neuen, effizienteren und authentischeren Verbindungen zu suchen, als vielmehr, die zentrale Leere auszustellen, den Hiat, der – im Menschen – den Menschen vom Tier trennt, bedeutet also, sich in dieser Leere aufs Spiel zu setzen: Aufhebung der Aufhebung, Shabbat sowohl des Tieres als auch des Menschen. […] Noch einmal löst sich das mysterium coniunctionis, aus dem das Humane produziert worden ist, durch eine unerhörte Vertiefung des praktisch-politischen Geheimnisses der Trennung« (Agamben 2003a: 100f.).

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schreitet) und in der Lebensnorm (die Rechtsnorm richtet sich nicht an der Person aus, sondern wird vom Leben in der Gemeinschaft hervorgebracht). Am Anfang, und damit es jedes Mal einen Urspung gibt (vgl. Esposito 2010: 47-60), existiert keine Trennung, sondern die ›Einheit und Gemeinschaft des Lebens‹, die einzige Voraussetzung für eine affirmative Biopolitik oder für eine Politik des Lebens: »Dass ein einziges Projekt das Lebende in seiner ganzen Breite ohne Kontinuitätslösung durchquert – dass jedwedes Lebende in der Einheit des Lebens gedacht werden muss –, bedeutet, dass keines seiner Teile zu Gunsten eines anderen zerstört werden kann: Jedes Leben ist eine Form des Lebens und jede Form muss auf das Leben bezogen werden. Dies ist weder der Inhalt noch der letzte Sinn der Biopolitik, aber zumindest ihre Voraussetzung.« (Esposito 2004b: 214f.; Dt. d. Ü.)16

D as D ispositiv der K rise und das D ispositiv der P erson Ich schlage vor, das Dispositiv, das für die italienische Philosophie der letzten vierzig Jahre von grundlegender Bedeutung ist und das weiterhin, auch bei der Ausarbeitung der Biopolitik, einflussreich ist, ›Dispositiv der Krise‹ zu nennen. Worin besteht es? Die etymologische Analyse des Begriffs ›Krise‹ kann hierfür wichtige Anhaltspunkte liefern. Im Griechischen bedeutet krisis: Unterscheidungskraft, Trennung, Spaltung; aber auch: Entscheidung, Beschluss, Urteil, Bestimmung, Wahl. Daraus folgt, dass der von der Krisis verursachte Konflikt nicht nur zu einer Teilung und einer Trennung in Teile führt, sondern auch zu einer Entscheidung über sie, die zugleich immer auch bestimmend und diskriminierend ist. Diese Formulierung, welche die generelle Definition des Begriffs der Krise sein kann, wird konkret in zwei Bereichen angewendet, die sie seit der griechischen Antike charakterisieren: dem politisch-juristischen und dem medizinischen Bereich. Es ist offensichtlich, wie diese beiden Bereiche heute in der Biopolitik zusammenfallen: Jeder Konflikt im politischen Körper bringt eine Trennung in Teile mit sich, der zur Erhaltung seiner Gesundheit eine Entscheidung fordert, die einen gesunden Teil zulasten eines kranken bestimmt, einen politikfähigen und einen unfähigen Teil, einen lebenswürdigen und einen unwürdigen – bíos und zoé. Espositos affirmativer Biopolitik kommt das Verdienst zu, nicht auf das Dispositiv der Krise zurückzugreifen, um den Konflikt zu generieren und eine Politik des Lebens zu bestätigen. Meiner Meinung nach besteht hierin seine Originalität. Die Deaktivierung des ›Dispositivs der Krise‹ ist direkt mit der Deaktivierung des ›Dis16  |  It. Orig.: »Che un unico progetto attraversi senza soluzione di continuità l’intera estensione del vivente – che qualsiasi vivente debba essere pensato nell’unità della vita – significa che nessuna parte di essa può essere distrutta a favore di un’altra: ogni vita è forma di vita e ogni forma va riferita alla vita. Questo non è né il contenuto né il senso ultimo della biopolitica. Ma almeno il suo presupposto.«

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positivs der Person‹ verbunden, ein Problem, dem sich Esposito in Terza persona widmet (vgl. Esposito 2007). Die Person ist ein anfänglich juristisches Dispositiv, das auf das römische Recht zurückgeht, aber mit der Zeit zu einer statischen Brücke im abendländischen Rechtssystem geworden ist, die eine Seite im Bezug auf die andere trennt und diskriminiert. Bei den Römern trennte dieses Dispositiv persona und homo und unterschied diese in hierarchischem Sinne; der Status des homo konnte dort bis hin zu dem des Gegenstands reichen (wofür der Sklave ein Beispiel ist). In der Moderne kehrt das Dispositiv zurück mit der kartesischen Unterscheidung zwischen Denken und Körper, oder zwischen rational und irrational, eine Unterscheidung, welche die Konstitution der Subjektivität begründet. Im biopolitischen Zeitalter wird direkt im Lebenden zwischen Menschlichen und Animalischen unterschieden, sowohl innerhalb des Einzelindividuums als auch der Bevölkerung. Es ist offensichtlich, dass das Dispositiv der Person über sehr lange Zeit wirksam ist und in der Geschichte verschiedene Formen angenommen hat, eingeschlossen die der Subjektivität in ihrer Dialektik von Subjektivierung/ Unterwerfung. Heute kehrt dieses Dispositiv im großen Stil zurück als Antwort auf die Vernichtung, die es während des Nazismus erfahren musste: In der Tat werden der Person die von den Totalitarismen verweigerten Rechte zugesprochen. Dennoch führt Esposito die extremen Folgen der Thanatopolitik genau auf das Dispositiv der Person zurück; diese Folgen rühren aus jenem Dispositiv, das im Lebenden die Trennung und Unterscheidung zwischen einem menschlichen Teil, der zum Träger von Rechten ›gewählt‹ wird, und einen verdammten Teil, der aus der Menschlichkeit ausgeschlossen und dem anderen unterworfen wird, voraussetzt: »[Das Dispositiv der Person] basiert auf der vorausgesetzten und stets wiederkehrenden Trennung von der Person als einer künstlichen Entität und dem Menschen als natürlichem Lebewesen, dem der Personenstatus zugesprochen werden kann oder eben auch nicht« (Esposito 2007: 13; Dt. d. Ü.).17 Das, was das Dispositiv der Person – wie auch das es ergänzende Dispositiv der Krise – im Grunde nicht voraussetzt und was es sogar negiert, ist die ursprüngliche Einheit des Lebens. Das immunitäre Dispositiv der Person zu deaktivieren, bedeutet also nicht, dem Lebenden seine elementarsten Rechte vorzuenthalten und so einer sehr blinden und nicht unterscheidenden Gewalt auszusetzen, sondern – wie in Bíos (vgl. Esposito 2004b) verfochten – dem Leben und der Gemeinschaft den Ursprung der juristischen Norm zurückzuerstatten: der Dimension, die Esposito in Terza persona als impersonal bezeichnet (vgl. Eposito 2007). Wie es für das Impolitische in Bezug auf das Politische gilt, so ist das Impersonale nicht die Negation der der Person zugesprochenen Rechte, sondern seine Wiederverortung in einem ursprünglicherem Bereich als der vom Dispositiv der Person und von jedem rein immunitären Dispositiv vorausgesetzte Bereich. Letzterer lässt nämlich 17  |  It. Orig.: »[Il dispositivo della persona] si basa sulla separazione presupposta, e continuamente ricorrente, tra persona come entità artificiale e uomo come essere naturale cui può convenire o meno uno statuto personale.«

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die vitale Potenz der Gemeinschaft nicht durchdringen. Auf diese Weise in die Immanenzebene des Lebens eingeschrieben, entsteht die Norm nicht und wird ausgehend von etwas Tranzendentalen angewendet, das als solches immer eine Seite bestimmt und von einer anderen trennt: »Das Leben ist die Tangente, die Kräftelinie, entlang derer sich die Immanenz in sich selbst zurückzieht und jedwede Form der Transzendenz, jedwede Grenzenlosigkeit (ulteriorità, Anm. d. Ü.) aufhebt, im Hinblick auf die lebende Materie als solche. Diese verweist weder auf ein rationales Subjekt noch auf ein nacktes materielles Substrat. Wenn man es in seiner impersonalen und singulären Dimension versteht, ist es aber vor allem das, was die hierarchische Teilung in diese beiden Entitäten innerhalb des teilenden Dispositivs der Person nicht erlaubt – und dem es, im Grunde zuwiderspricht.« (Esposito 2007: 179; Dt. d. Ü.)18

Jede der Kategorien von Espositos affirmativer Biopolitik findet am Ende im Leben ihren eigenen Ursprung: die Gemeinschaft, die Politik, das Impersonale. Aber nicht nur das. Sie alle verlaufen auf der gleichen Immanenzebene. Es bleibt noch ein letzter Punkt zu klären. Wie aus dem biopolitischen Verständnis von Negri und Hardt klar hervorgeht – welche, um den Konflikt einzuführen, die Trennung von Biomacht und Biopolitik voraussetzen müssen –, ist das Denken oder das Dispositiv der Krise funktional für die Produktion des Konflikts. Die Unterwerfung des Lebens kann sich in Subjektivierung verkehren, weil das Leben – als unterworfenes, ausgebeutetes, unterdrücktes, negiertes – auf diese Art und Weise zur Dimension des Konflikts und somit der Politik Zugang erlangt. Muss eine mögliche Politik des Lebens somit notwendigerweise das gleiche Dispositiv der Krise durchqueren, das die Politik über das Leben verordnet hat? Ist ein Konflikt denn wirklich unvorstellbar, der eine Spaltung in Teile nicht voraussetzt, eine Spaltung, welche die Auswahl eines Teiles und die Verdammung des anderen nach sich zieht? Sicher, es handelt sich darum, einen Konflikt zu denken, der – wie Esposito vorschlägt – keine Krise und keine Trennung voraussetzt, und wo somit die Aufspaltung in Teile nicht die Bedingung für eine politische Entscheidungsmöglichkeit darstellt. Kurz, ein Konflikt des Lebens und nicht über das Leben. Es handelt sich im Wesentlichen darum, die Immanenz des Lebens und den politischen Konflikt zusammen zu denken. Dies ist eines der Probleme, das Esposito in Pensiero vivente (vgl. Esposito 2010) ausmacht, um seine Genealogie der italienischen Philosophie zu entwerfen. Esposito stellt heraus, dass die 18  |  It. Orig.: »La vita è la tangente, la linea di forza, lungo la quale l’immanenza si ripiega su se stessa elidendo qualsiasi forma di trascendenza, qualsiasi ulteriorità rispetto all’esser tale della sostanza vivente. Essa non rimanda né a un soggetto razionale né a un nudo sostrato materiale. Ma soprattutto, se intesa nella sua dimensione impersonale e singolare, è ciò che non consente – che contraddice in radice – la divisione gerarchica tra queste due entità entro il dispositivo separante della persona.«

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italienische Philosophie, bis hin zu ihren aktuellsten wichtigen Vertretern, sich letztlich entweder für die Immanenz oder für den Konflikt entscheidet19. Sie hat, jedesmal mit unterschiedlichen Kategorien, die Auswirkungen des Dispositivs der Krise herausgearbeitet, aber sie hat nie seine Voraussetzung zur Diskussion gestellt: Ohne Krise – oder ohne Trennung und Aufspaltung in Teile – ist der Konflikt nicht möglich. Die Schwierigkeit, Immanenz und Konflikt zusammenzuhalten, geht in Wirklichkeit genau auf Machiavelli zurück, der als Erster die Schlüssigkeit dieser Beziehung begriffen und vor ihrer innereren Widersprüchlichkeit gewarnt hat: »Und genau hier eröffnet Machiavelli einen ganz neuen Sinnhorizont für die politische Philosophie – durch die Ausarbeitung einer neuartigen Theorie des Konflikts, der nicht als Gegensatz oder Residuum, sondern als Ordnungsform [verstanden wird, d. Ü.]. [Machiavellis spezifischer Beitrag] behandelt jene problematische und bisweilen auch widersprüchliche Beziehung zwischen Antagonismus und Immanenz, die wir in verschiedenen Formen auch in anderen Phasen des italienischen Denkens finden. Das Problem, was er stellt, besteht in dem Umstand, dass die Immanenzebene von ihrer konfliktuellen Verfassung her zugleich zugelassen und bedroht wird. […] Für beide [Machiavelli und Spinoza] ist die Macht nicht von der Potenz trennbar, da die Politik dazu neigt, mit der Ontologie zusammenzufallen, aber ohne sich jemals ganz mit dieser zu identifizieren. Hieraus rührt das Problem, das weder der eine noch der andere Philosoph vollkommen beherrschen können. Es gibt immer einen Punkt, an dem, sei es sowohl für Spinoza als auch für Machiavelli, die antagonistische Logik sich potentiell an der Immanenzebene reibt, in die sie eingeschrieben ist.« (Esposito 2010: 55f.; Dt. d. Ü.) 20 19  |  »Wenn Tronti, angesichts der Unvereinbarkeit von Immanenz und Konflikt, den Konflikt wählt und die Immanenz verliert, so wählt Negri im Gegensatz dazu die Immanenz und opfert die politische Form des Konflikts zugunsten des gesellschaftlichen Seins. Geteilt werden sie, auch in der gemeinsamen Ablehnung des juristischen Formalismus, von der Definition selbst der Ontologie, die Negri als vollkommen immanent versteht, während sie Tronti immer weiter in eine transzendente Richtung schiebt« (Esposito 2010: 222; Dt. d. Ü.). 20  |  It. Orig.: »È qui, precisamente – nell’elaborazione di un’inedita teoria del conflitto, non come contrario o residuo, ma come forma dell’ordine – che Machiavelli apre un orizzonte di senso del tutto nuovo al pensiero politico. [L’apporto specifico di Machiavelli] tratta di quel rapporto problematico, e per certi versi anche antinomico, tra antagonismo e immanenza che ritroveremo, diversamente modulato, anche in altre fasi del pensiero italiano. Il problema che esso pone sta nel fatto che il piano d’immanenza è, nello stesso tempo, consentito e minato dalla sua costituzione conflittuale. […] Per entrambi [Machiavelli e Spinoza] il potere non è separabile dalla potenza in un orizzonte in cui la politica tende a coincidere con l’ontologia. Ma senza mai arrivare a identificarsi del tutto con essa. Da qui il problema che né l’uno né l’altro pensatore riescono perfettamente a dominare. C’è sempre un punto oltre il quale, sia per Spinoza che per Machiavelli, la logica dell’antagonismo entra in potenziale attrito con il piano d’immanenza in cui pure è inscritta.«

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Die von Esposito gelieferte Lösung des Problems sollte uns auch hier schon bekannt sein: Die einzige Politik, die in der Lage ist, Immanenz und Konflikt zusammenführen, ist eine affirmative Biopolitik, d.h. eine Politik, deren Ursprung im Leben liegt. Seit seinen Überlegungen zum Impolitischen hat Esposito, stets in Anlehnung an Machiavelli, die Politik dank des Konflikts bestimmt und sie so vom modernen Politischen unterschieden, welches nur existiert, um den Konflikt in der Ordnung der politischen Repräsentanz zu neutralisieren. Wenn das konfliktuelle Wesen der communitas mehrmals betont wird 21, so macht Esposito dennoch mit Immunitas (vgl. Esposito 2004a), und insbesondere mit Bíos (vgl. Esposito 2004b), diesmal auf Nietzsches Spuren, den letzten und entscheidenden Schritt, um jede Kategorie seines Denkens auf die Konflikthaftigkeit zurückzuführen – und so schließlich Leben und Konflikt zu bestimmen: »Wenn der Kampf im Inneren des Einzelkörpers an sich unendlich ist, wenn die Körper sich also nicht dem Prinzip des Kampfes entziehen können, weil der Kampf die Form des Lebens selbst ist, wie kann sich dann jemals die Ordnung verwirklichen, welche das Überleben der Untertanen bei der Neutralisierung des Konflikts konditioniert? Das, was das moderne politische Verständnis zur Unwirksamkeit verdammt, ist genau diese Trennung von Leben und Konflikt – die Idee, das Leben durch die Abschaffung des Konflikts zu bewahren.« (Esposito 2004b: 87. Dt. d. Ü. ) 22

Konflikt und Immanenz finden also ihren ontologischen Verbindungspunkt im Leben, demselben Punkt, der sie mit der Politik und der communitas verbindet ebenso wie diese unter sich: Übrigens, das Leben ist eins. Ich komme zum Abschluss auf eine grundlegende, bereits vorher angedeutete Frage zurück: Ist ein dem Leben immanenter Konflikt denkbar? D.h. ein Konflikt, der nicht ausschließlich vom Dispositiv der Krise ausgelöst wird, welches das Leben in Teile spaltet und deshalb die Immanenzebene ausschließt? Es handelt sich um einen Konflikt, der weder auf die Neutralisierung des Politischen der Moderne oder auf die Überwindung der dialektischen Synthese zurückgeführt werden kann noch unter jene binären Formeln subsumiert werden kann, die einen großen Teil der Philosophie und der Politik des 20. Jahrhunderts charakterisiert haben: weder unter Carl Schmitts soziologisch-kriegerisches 21  |  »Ein solcher Konflikt ist dennoch immer eine horizontale Beziehung, welche die Menschen an eine Konfliktdimension bindet« (Esposito 2004b: 59; Dt. d. Ü.). 22  |  It. Orig.: »[S]e la battaglia all’interno del singolo corpo è di per sé infinita, se dunque i corpi non possono sottrarsi al principio della lotta perché la lotta è la forma medesima della vita, come potrà mai realizzarsi quell’ordine che condiziona la sopravvivenza dei sudditi alla neutralizzazione del conflitto? Ciò che condanna la concezione politica moderna all’ineffettualità è proprio questa scissione tra vita e conflitto – l’idea di conservare la vita attraverso l’abolizione del conflitto.«

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Freund/Feind-Kriterium noch unter die verschiedenen antagonistischen Auffassungen von Politik, und schließlich auch nicht unter die Foucault’schen Dispositive von Unterwerfung/Subjektivierung und Macht/Gegenmacht. Solch binäre und dualisitische Formeln führen letztlich nur dazu, dass das Leben einerseits vom Tod abhängt oder andererseits von der Unterordnung. Anstatt den Konflikt als ein Dispositiv der Trennung und der selektiven Diskrimination zu konzipieren, das sterben lassen muss, um leben zu machen, muss eine affirmative Biopolitik den Konflikt vielmehr als den Lebenssaft begreifen, der den politischen Körper am Leben erhält. Sie muss den Konflikt als etwas verstehen, das die Politik in die Immanenzebene des Lebens einschreibt. Wie kann also ein Konflikt gedacht werden, der dem Leben Form verleiht, ohne dieses zu unterwerfen; ein Konflikt, der, anstatt die eine Seite gegen die andere auszuspielen, vielmehr ihr miteinander verschränktes, allen gemeinsames Sein (essere in comune; Anm. d. Ü.) offenlegt und potenziert? Und wenn der Konflikt (con-flitto, Anm. d. Ü.) vielmehr auf die Art und Weise gedacht würde, wie Esposito die com-munitas interpretiert hat – vom Standpunkt des munus aus und nicht von dem des cum – und wenn man dann den Schwerpunkt anstatt auf cum auf fligo legte? Das lateinische Verb fligere stammt aus dem Griechischen und bedeutet: komprimieren, zusammendrücken, zerdrücken, drücken. Weist ein solches Zusammengedrückt-, Gepresst-, Zerdrückt-, Komprimiertwerden auf eine Immanenzebene hin? Fällt das Leben also genau auf einer konfliktiven Immanenzebene mit der Politik zusammen? Sind es daher vielleicht das Aufeinandertreffen und der Kampf – in einem Wort: der Konflikt –, die bíos und zoé – Politik und Leben – auf der gleichen Ebene zusammen- und festhalten, anstatt sie zu trennen? Aus dem Italienischen von Sieglinde Borvitz

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Der Ursprung des Konflikts

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Vom Impolitischen zum ›Impersonalen‹ Im Dialog mit Roberto Esposito Enrica Lisciani-Petrini Das, was am menschlichen Sein heilig ist, ist keineswegs die Person, sondern das Impersonale […]. Dies bekräftigt meine fast organische Abscheu gegenüber allen Reden zur außerordentlichen Würde der menschlichen Person. (S imone W eil ; Dt. d. Ü.)

Z um E instieg Wenn wir einen kurzen Rundblick auf die zeitgenössische Kunstszene werfen, stellen wir schnell einen Registerwechsel hinsichtlich der Konzeption und der Fertigung der Werke fest. Dies kann uns weder gleichgültig bleiben noch gleichmütig lassen. Was wollen uns wohl die Wortfetzen aus dem kurzen Theaterstück Not I von Samuel Beckett sagen, die von einer »Stimme« ausgehen, deren »ganzer Körper verschwunden und die nur noch Mund … Lippen … und Wangen [ist]« (Beckett 2002: 312; Dt. d. Ü.)? Oder eben jene Farbwirbel oder die an geronnenes Blut erinnernden Farbgüsse, die uns auf einigen Bildern von Francis Bacon Fetzen eines aufgeschlitzten Körpers mit voller Kraft entgegen zu schleudern scheinen? Oder nicht zuletzt diese derart gedehnte und überzogene Frauenstimme aus der Sequenza III für Frauenstimme von Luciano Berio (in der unerreichbaren Version von Cathy Berberian), sodass sie letzten Endes mit ihren fluktuierenden Tönen an Tierlaute oder an Magnetstreifenbänder erinnert? Die Antwort lautet: In diesen Werken, die aus einer Vielzahl von möglichen Beispielen ausgewählt wurden, wird das Auf brechen des traditionellen Subjekts und seiner identitären Körpergrenzen wirklichkeitsnah dargestellt; ein Bruch, den das gesamte 20. Jahrhundert versucht hatte, in Worte zu fassen. Auch wenn dieser Bruch bereits mehrfach vollzogen wurde, so erweist sich jedoch die Beantwortung der brisanten Fragen weit weniger einfach, die sich aus eben jenem Bruch ergeben und welche die Dimension des Lebens, des bíos, wieder in den Vordergrund treten lassen. Dies betrifft aber vor allem – als letzter richtungsweisender

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Impuls – die Identifizierung und die Infragestellung des ursprünglichen Dispositivs, das dem Auf kommen des Subjektbegriffs selbst zugrunde liegt und das in der Kategorie der ›Person‹ wiederzufinden ist. Zu genau diesen Kernpunkten haben einige zeitgenössische Philosophen zu arbeiten begonnen, so einerseits Michel Foucault im Hinblick auf die Biopolitik und andererseits Simone Weil, aber auch Blanchot, Merleau-Ponty und Deleuze zur kritischen Problematisierung des Personenbegriffs. Entlang dieser beiden thematischen Achsen ist auch die aktuelle Forschung von Roberto Esposito klar zu verorten. Mittels einer bestimmten theoretischen Strategie gelingt es Esposito, die beiden Ideenstränge zu verbinden: Auf der einen Seite widmet er sich mit Blick auf die Vergangenheit einer historischen und genealogischen Erkundung, die bis zum römischen Recht zurückgeht. Auf der anderen Seite richtet er den Blick in die Zukunft und auf den durch die Zerstörung des Dispositivs der Person resultierenden tiefgreifenden Wandel bis hin zu einem anderen Verständnis der Biopolitik. Aus zwei Gründen ist es jedoch zunächst notwendig, an die zeitgenössische Philosophie zu erinnern, auf die sich Esposito bezieht. Zum einen, um Espositos Verdienst bei der Analyse und Vertiefung dieses thematischen Geflechts nachvollziehen zu können. Letzteres erscheint heute ja aktueller denn je – es reicht, sich die beständige Beschwörung der ›Person‹ vor Augen zu halten, die in allen Bereichen zu vernehmen ist: von der Politik bis hin zur Ethik, von der Rechtsprechung bis hin zur Philosophie und der Religion, insbesondere was die persönlichen, das Leben1 betreffenden Fragen angeht (vgl. Nussbaum 2002; Rodotà 2007a). Zum anderen erlaubt ein Blick auf das aktuelle philosophische Umfeld, die Bedeutung seines Denkens zu erkennen, das eine effiziente theoretische Stütze liefert und es so ermöglicht, in einen konstruktiven Dialog zu treten. In der zeitgenössischen Philosophie vereinigen sich und konkurrieren einige der grundlegenden Entwicklungsstränge der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts – von Nietzsche und Heidegger zu Derrida, von Kojève und Bataille zu Foucault, von Weber und Schmitt zu Weil, Canetti und Arendt – um nur einige der Autoren zu nennen, mit denen sich Esposito auseinandersetzt. Er verknüpft die Ansätze innerhalb eines neuen Möglichkeitsraums des Denkens und lanciert sie so, dass alternative Kategorien geschaffen werden, mit denen das Reale, die Welt und die Polis, in der wir leben, neu gedacht werden können: Nicht nur nach dem Ende der großen philosophischen Systeme und somit nach dem Ende einer jeden Möglichkeit, universelle, einheitliche oder identitäre Synthesen zu entwerfen – von denen die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auf besondere Art und Weise gekennzeichnet war.2 Aber vor allem angesichts der gewaltigen Veränderungen, die von der 1 | Auch die von Roberto Esposito kuratierte Ausgabe der Zeitschrift Filosofia politica (3/2007) widmet sich mit Beiträgen von Stefano Rodotà (2007b), Emanuele Stolfi (2007), Enrica Lisciani-Petrini (2007), Adalgiso Amendola (2007) der Thematik der Person. 2  |  Es scheint fast überflüssig daran zu erinnern, dass dieser radikale Bruch mit der Vergangenheit seinen ersten Ausdruck bei Nietzsche findet, der seiner berühmten, bereits vom Titel

Vom Impolitischen zum ›Impersonalen‹

Wissenschaft ausgehen und die nach wie vor auf unsere gesamte Lebenswirklichkeit ausstrahlen, indem sie den Menschen bis ins Kleinste vereinnahmen. Bei Espositos Arbeit handelt es sich also offensichtlich um einen weitgreifenden Rundumschlag. Zumindest ab Categorie dell’impolitico (vgl. Esposito 1988) hat sein Denken nicht zufällig eine gestaffelte Entwicklung durchlaufen, bei der sich nach und nach auch Wendungen und Abweichungen abzeichnen, die sich Esposito selbst vermutlich erst mit der Zeit aufgetan (vgl. Campbell 2008) und ihn langsam, aber fast unausweichlich, zu jenem Endpunkt hingeleitet haben: der ›Philosophie des Impersonalen‹. Ohne diesen facettenreichen Weg zusammenfassen zu wollen oder zu können, scheint es dennoch angebracht, sich zunächst eine rasche Übersicht zu verschaffen und dabei genau von dem Aspekt auszugehen, den Esposito in der Folge überwindet: dem ›Impolitischen‹. Auch weil dies im Umkehrschluss zeigt, warum er eine bestimmte Phase der Philosophie des 20. Jahrhunderts aufnimmt, aber dann auch darüber hinausgeht und so einen echten Bruch zwischen zwei Denktraditionen markiert: Während die eine Linie auf gewisse Weise noch an eine Dimension der Transzendenz gekoppelt ist, siedelt sich die andere entschlossen auf der Immanenzebene an.

D as I mpolitische Kommen wir also zu Categorie dell’impolitico (vgl. Esposito 1988). In diesem Text nimmt der von mir bereits erwähnte Kernpunkt – den wir der Einfachheit halber und aus Gründen der Kürze als ein Phänomen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etikettieren wollen – seine klarsten und zugleich problematischsten Formen an. Von Bedeutung ist hierbei schon der Begriff des Impolitischen zur Bezeichnung der fraglichen Sache. Dabei umfasst er nicht etwas, das konkret oder direkt politisch ist – und spielt folglich, wie Esposito zu Recht betont, nicht auf etwas Antipolitisches oder etwas Apolitisches an. Vielmehr verweist das Impolitische auf den radikalen Wandel, den das Denken selbst nach dem Ende der jahrhundertealten geschichtlich-politischen Repräsentation der Welt durchlaufen musste. Eine Darstellung, die die Welt einerseits einbindet und einengt, andererseits aber auch versichert und bestätigt bzw. diese an einer sie begründenden Ordnung der Transzendenz ausrichtet; und zwar von dem Moment an, da die Welt das Ergebnis ihrer Erscheinung (der ›Offenbarung‹ oder der ›Enthüllung‹, um mit Hegel zu sprechen) des Einen in der Vielzahl ist, d. h. des Seins in der weltlichen pólis, in der religiösen Gemeinschaft der ecclesìa oder anders gesagt, in der ›universellen Gemeinschaft‹. Die Veränderung des Denkens, der wir nun beiwohnen und die das Ende der traditionellen Sicht markiert, besteht also in der Notwendigkeit, das Gegenteil dieser Darstellung denken zu müssen, indem es die Welt und das her bedeutenden Schrift Goetzen Daemmerung (Nietzsche 1889) nicht zufällig den Zusatz verpasst Wie man mit dem Hammer philosophiert.

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Sein – das ›Dasein‹ – ohne Fundament betrachtet: ganz nach Heidegger, der mit seinem Denken das ganze 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat.3 In Categorie dell’impolitico tritt der betreffende Punkt sofort klar zutage: Das Impolitische bedeutet, sich von der Logik der vorgängigen Annahme zu verabschieden (nämlich von dem Einen, von dem wir denken, dass es der Vielheit vorausgeht) und die Immanenz (das Politische, die weltliche Polis) als etwas zu denken, das, gerade weil es über kein Fundament verfügt, eine ›Leere‹ oder ein ›Außen‹ in sich trägt. Aber die Immanenz wird von diesem Außen, das ja nicht in einem ›Jenseits‹ angesiedelt ist und folglich im herkömmlichen Begriffssinn nicht transzendent ist, weder umschlossen noch begrenzt. Es handelt sich also vielmehr um ein Außen, um eine Leere – um eben jenes nichtige Fundament –, welche die innere Grenze der Immanenz selbst darstellt. Diese Leere ist der Rand, der die Immanenz bestimmt. Sie ist die Grenze, die die Immanenz unterbricht. Sie ist das ›Nein‹, welches die Immanenz bei ihrer Bewegung hin zu jener Leere, von der sie doch ausgenommen ist, erfahrbar werden lässt. Und dennoch scheint – dies muss in Bezug auf diesen ersten Teil des von Esposito zurückgelegten Weges eingeräumt werden – die Logik der vorgängigen Annahme gleichwohl versteckt bewahrt worden zu sein, selbst wenn Esposito sie kritisiert und bis in ihre Grundfesten dekonstruiert. Diese Logik tritt erneut und genau in eben jenem ›Nein‹ zutage, in der Leere, die das Einzelne begrenzt, in jenem ›undarstellbaren‹ Negativum, das das Endliche selbst überschreitet – aus der von Heidegger eröffneten Sicht und der von ihm besprochenen ›ontologischen Differenz‹. Vermutlich ist es genau das Bewusstsein dieses ungelösten und implizit mitschwingenden metaphysischen Restes, das der nächsten Wende von Espositos Denken zugrunde liegt.

3 | Dieser Denkansatz kommt im Zuge der Destruktion der traditionellen Verbindung von Fundament, Grund und Substanz auf und nimmt (dank der von Nietzsche geschlagenen Bresche) bei Heidegger seinen Anfang. Er kennzeichnet eine Ära, in der man, da man sich nunmehr bewusst ist, das Sein der Dinge nicht erfassen zu können, Ansätze des neoplatonischen Schelling’schen Denkens wiederaufnimmt. Insofern hat die Philosophie eher versucht, die Unsagbarkeit (die unhintergehbare Latenz) des Wesens des Realen zu denken. Diese Denkschule, die in Frankreich von Philosophen wie Lévinas und Derrida vertreten wird (nicht zufällig Autoren mit jüdischen Wurzeln), bildet auch in Italien von den 1970er bis zu den 1990er Jahren den gemeinsamen Referenzrahmen für viele Arbeiten – man denke, um nur zwei Namen zu nennen, an die Arbeiten von Massimo Cacciari und Vincenzo Vitiello. In diesem Bezugsrahmen ist auch das Denken des Impolitischen zu verorten. Siehe hierzu die kürzlich in der Zeitschrift Il Centauro erschienene Anthologie La crisi del politico, herausgegeben von Dario Gentili (2007), die es ermöglicht, die Entwicklungen in jenem Zeitraum nachzuvollziehen.

Vom Impolitischen zum ›Impersonalen‹

C ommunitas Diese ersten und komplexen theoretischen Erläuterungen erklären also den Übergang in die nächste Phase von Espositos Denken: die Philosophie der Communitas. Ins Feld geführt wird damit auch der Titel des ersten Bandes jener aufeinander folgenden Schriften, die heute als zusammengehörige Trilogie gehandelt werden4, auch wenn sich gerade hier, wie wir gleich sehen werden, eine klare Diskontinuität abzuzeichnen beginnt. Nachdem Esposito seine Überlegungen zum Impolitischen abgeschlossen hat, stellt er sich mit Communitas (vgl. Esposito 2005) zur Aufgabe, die Gemeinschaft entsprechend jener neuen Perspektive zu überdenken. Dies erfolgt also nicht mehr im Sinne der Ordnung eines vollständigen Ganzen (tutto-pieno; Anm. d. Ü.), die von der Annahme zusammengehalten wird, zu einem allumfassenden, einheitlichen Fundament (Uno-Fondamento; Anm. d. Ü.) zu gehören: die ›Gemeinschaft‹ der klassischen politischen Tradition, die von Hegel gut systematisiert wurde und die mit Adorno und Bloch von zwei weiteren (nicht zufällig in der Tradition Hegels stehenden) Philosophen nostalgisch weiter verfolgt wird, selbst wenn sich beide des nunmehr gebrochenen Wesens der klassischen ›Gemeinschaft‹ bewusst sind. Umgekehrt kann die Gemeinschaft jetzt nur als ein Netz von Vielen betrachtet und gedacht werden, die wiederum genau dadurch zusammenhalten und in Beziehung zueinander gebracht werden, dass sie ›nichts gemein‹ haben. Das heißt, es eint sie höchstens das Bewusstsein, einer undarstellbaren Dimension anzugehören5, die der Tod, das radikalste ›Nein‹ darstellt und die jedwede Vorstellung eines gemeinsamen und angeeigneten Fundaments von Grund auf ausschließt. Esposito befindet sich erneut auf der Spur von Heideggers Denken, das durch die Lektüre von Bataille, Blanchot und Nancy ebenso beeinflusst wurde wie durch die Überlegungen zur ›entwerkten Gemeinschaft‹: Die Gemeinschaft gründet nicht mehr auf den objektiven Herrschaftsbeziehungen des Hobbesianischen Staates oder auf den tätigen Handelsgesetzen des liberal-kapitalistischen Staates, sondern auf dem extremen Bewusstsein, lediglich die Sterblichkeit gemein zu haben. Dies ist der einzige und wahre munus – in der doppelten und vermischten Bedeutung von ›Bindung‹ und ›Gabe‹, eines willkürlich auferlegten Gesetzes, ohne Verdienst und ohne Gegenleistung –, den die Menschen untereinander austauschen können. Die Gemeinschaft erscheint daher nun als ein äußerlicher Faktor, als etwas, das jeden mit der Alterität konfrontiert und ihn also enteignet, ihn außer sich geraten lässt. Eine Sicht, die folglich eine Resemantisierung aller tradierten Konzepte erfor4 | Ich beziehe mich selbstverständlich auf die drei nacheinander bei Einaudi erschienenen Bände: Communitas. Origine e destino della comunità (vgl. Esposito 2005); Immunitas. Protezione e negazione della vita (vgl. Esposito 2004a); Bíos. Biopolitica e filosofia (vgl. Esposito 2004b). 5  |  Aus dem gleichen Zeitraum stammen auch Espositos luzide Überlegungen zum ›Undarstellbaren‹ bei Arendt (vgl. Esposito 1987, 1997)

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dert, ausgehend von denen des Körpers und des Subjekts, die dem kodifizierten, rational-individuellen Bereich entzogen und sozusagen von allen Seiten geöffnet werden, um so den Zustand der ›gegenseitigen Ansteckung‹ zu zeigen, in dem wir alle leben. In Bezug auf genau diesen Kernpunkt beginnt sich eine neue Veränderung von Espositos Denken abzuzeichnen. Dabei überwindet er zugleich die Kehrseite seines Denkens, der implizit noch etwas Metaphysisches anhaftet, das seinerseits in Espositos bis hierhin nachgezeichnetem Ansatz fortbestand. Dieser Ansatz liegt begründet in der Abweichung oder in der Transzendenz bzw. Differenz eines ›Nein‹, das sich in einem beständigen aporetischen Gegenruck mit der gegebenen positiven Effekthaftigkeit äußert.

I mmunitas Ist diese Resemantisierung erst einmal angestoßen, so ist es in der Tat offensichtlich, dass diese auch den Menschen selbst affiziert – diesseits der humanitas des Humanismus. Nietzsche erkannte dies als Erster und später Heidegger in seinem Brief über den Humanismus (vgl. Heidegger 1954). Beiden Autoren zufolge muss die in der kanonischen Definition des Menschen als animale rationale enthaltene (und verdrängte) animalitas überdacht werden, auch im Zuge der parallelen, immer brisanteren wissenschaftlichen Entdeckungen. Diese sind darauf ausgerichtet, sich zum Wesen des Menschen zu befragen und die Dispositive zu problematisieren, die dessen grundlegendste, nämlich die körperlich-biologische Dimension kennzeichnen. Anders gesagt: Wenn der Diskurs zur communitas radikalere Formen annimmt, so wie Esposito es an diesem Punkt zu tun gezwungen ist, wird man sich gewahr, dass nur die Immunität das ursprüngliche Dispositiv sein kann, das der gegenseitigen Ansteckung zugrunde liegt (oder dieser entgegenwirkt). Eine gegenseitige Ansteckung, die notwendigerweise aus dem Aufeinandertreffen vieler Körper rührt und die einer innerlich nur durch den Tod verbundenen Gemeinschaft innewohnt. Beziehungsweise handelt es sich um jenen immunisierenden und schützenden Prozess, den jeder Körper (sei es ein natürlicher oder ein politischer wie der ›souveräne Staatskörper‹) benötigt, um sich gegen die Auflösung zu schützen, die ihm angesichts seiner direkten Beziehung zum Tod droht. Hier an dieser Wendung seines in Immunitas entwickelten Denkens werden nicht zufällig Nietzsche und Canguilhem, Foucault und Deleuze (beide Schüler Canghuilhems) – und nicht mehr Heidegger, Bataille und Nancy – die wichtigsten Autoren, mit denen sich Esposito auseinandersetzt: diejenigen also, die sozusagen das Negative betonen, das ›Nein‹ auf der Ebene des Lebens, als einen inneren Mechanismus des Lebens selbst, und nicht mehr als ein Außen oder eine Leere, vom dem das Leben abhängt und in dem es sich auflöst, wenn es vergeht. An diesem Punkt vollzieht Esposito eine Wende, die ihn dazu führt, auf der Ebene einer sich selbst in sich differenzierenden Immanenz zu arbeiten. Die Immunität erscheint nun als deren Negativ, das die (gemeinschaftliche)

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Immanenz beständig in sich selbst hervorbringt.6 Zuvor jedoch müssen wir, so wie auch Foucault, verstehen, an welchem historisch-politischen Zeitpunkt dieses aporetische Chiasma von Gemeinschaft und Immunität klar zutage tritt, d.h. wann der Überschuss an Immunität das doppelte Spannungsverhältnis von Ansteckung und Immunisierung sichtbar macht, dem sich keine Gemeinschaft entziehen kann. Kurzum: Die horizontale ontologische Analyse der Immanenz muss mit einer vertikalen historischen Analyse einhergehen, die ihrerseits darauf ausgerichtet ist, den konkreten historischen Zeitpunkt zu identifizieren, an dem die ›energetische Immanenz‹ als ein Bereich in den Vordergrund rückt, auf den jedes Diskurswissen über den Menschen zurückgeführt werden kann. Die Immanenz tritt hier von ihrer immunbiologischen Seite auf den Plan bzw. als ein Bereich, der vollkommen schützenden und restriktiven Verfahren unterworfenen ist. Dieser historische Zeitpunkt ist das 17. und 18. Jahrhundert. Entlang dieser Fluchtlinie vertieft Immunitas die Analyse derjenigen immunitären Dispositive, die in den letzten vier Jahrhunderten sowohl das Wissen als auch die Politik bestimmt haben: So auch den modernen Begriff des ›Subjekts‹ als ›Individuum‹ oder ›rationales Bewusstsein‹, der gegen jedwede (körperliche, ethnische, kulturelle) Ansteckung, die die identitäre Struktur unrettbar gefährden könnte, vollkommen immunisiert war. Aber gerade weil dieser Subjektbegriff absolut unangreif bar ist, enthüllt er jenen Schutz des Lebens, der sich in Wirklichkeit in sein Gegenteil, in die ›Negation des Lebens‹ selbst verkehrt. Hierfür steht das Hobbesianische Denken mit seiner Erfindung des ›Staatskörpers mit einer spezifisch immunitären Ausprägung‹. Dies reicht bis hin zur nazistischen Politik als einem tödlichen Gerinnsel an immunitären Dispositiven (mit autoimmunitärem und daher selbstzerstörerischem Effekt). Wie wir sogleich im nächsten Kapitel sehen werden, widmet ihr Esposito entgegen der kanonischen These zum Totalitarismus erhellende Seiten. Wenn auch in abweichender Form, so nehmen diese Dispositive doch etwas vorweg bzw. eröffnen sie uns zumindest einen Blickwinkel, der es uns erlaubt, die – in vieler Hinsicht auch autoimmunitären – Schutzmechanismen zu betrachten, die noch vor Kurzem die Bühne der globalisierten Weltpolitik heftig erschütterten. Ich meine einerseits den Terrorismus und andererseits die sogenannten ›vorbeugenden Kriege‹ 7. Wie bereits erwähnt, nötigt uns genau all das, den Blick umzukehren, d.h. die vom rational-geistigen Subjektbegriff verdrängte – und somit immunisierte – körperliche und sogar organisch-natürliche Dimension in den Blick zu nehmen, die der geistigen Dimension dennoch immer versteckt innewohnt. Dies zwingt uns, unsere Aufmerksamkeit auf jene fleischliche 6  |  Hier wird unter anderem der Unterschied von Espositos Diskurs zur ›Immunität‹ von dem Derridas verständlich, wie Campell klar herausstellt (vgl. Campbell 2008). 7 | Seit dem Bruch mit dem ehemaligen kategorialen Rahmen gibt es eine Vielzahl von Büchern, die sich den theoretischen und politischen Dringlichkeiten in den Zeiten der Globalisierung widmen. Eine stringente und präzise Problemanalyse findet sich bei Carlo Galli (2001, 2002).

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Beziehungsebene zu lenken, die das ›einheitliche Netz der Differenz zwischen den Körpern‹ darstellt und die vom Leben selbst in seiner biologischen Schicht gebildet wird. Wie man hört, beginnen hier die ersten biopolitischen Töne durchzuklingen. Nicht zufällig trägt in Immunitas ein ganzes Kapitel den Titel Biopolitik. Hier zeichnen sich die Umrisse von Bíos. Biopolitica e filosofia (vgl. Esposito 2004b) ab. Die Voraussetzungen dazu hat Esposito schon geschaffen.

B íos Nicht zufällig erscheint Bíos. Biopolitica e filosofia (vgl. Esposito 2004b) nur zwei Jahre nach Immunitas (vgl. Esposito 2004a) und zeugt so von der inneren Verbindung der beiden Werke. Dass Bíos zum Bezugspunkt einer umfassenden zeitgenössischen sowohl in Italien als auch im Ausland geführten Debatte wird, ist vielsagend. Dieser Text enthält zwei grundlegende Ergebnisse. Zunächst stabilisiert er die mit Immunitas eingeführte Immanenzlinie und den endgültigen Abschied von der beliebigen Form der vorgängigen ontologischen Annahme. Absolut offensichtlich wird dies auch durch die Autoren, auf die sich Esposito nun bei seiner Arbeit bezieht: Spinoza – der voll und ganz in diesen theoretischen Rahmen passt, da er entschieden mit jeder Transzendenz bricht – und Nietzsche (seinerseits ein großer Leser Spinozas), gefolgt von den bereits genannten Autoren Canguilhem, Foucault, Deleuze und Simondon. Vor allem aber – und gerade deshalb – widmet sich Bíos mit größerer Beharrlichkeit einem grundlegenden Aspekt der theoretischen Forschung (die auch mit den seit Darwin gemachten wissenschaftlichen Entdeckungen ihren Ausgang nimmt), die ihrerseits nunmehr seit fast zwei Jahrhunderten sich nicht nur zur Verfasstheit der Menschheit, zum ›Wesen des Menschen‹ und zu den ›Formen des Lebens‹ selbst befragt, sondern zudem dazu führt, dass an einem gewissen Punkt das Leben – nämlich das bíos – in seinen verschiedenen und diversifizierten Ausprägungsschwellen die Aufmerksamkeit der Wissenschaften wie auch der Politik übermächtig auf sich zieht und fast völlig besetzt. Seit dem 18. Jahrhundert ist das Leben so intensiv Forschungen und Kontrollen unterzogen worden wie nie zuvor. Dies mündete gar in die Schaffung von Verfahren, die seinen Erhalt, aber auch seine Manipulierung zum Ziel haben. Ein Aspekt, der, wie man ja weiß, seinen theoretischen Höhepunkt in den sogenannten ›energetischen‹ Überlegungen Nietzsches findet und in den verschiedenen Autoren des 20. Jahrhunderts nachhallt bis hin zu Simondon und Deleuze sowie den ihnen nachfolgenden Autoren. Aber das wirklich Faszinierende und zugleich Beunruhigende an Espositos Buch Bíos ist, dass er dort, wie auch schon mit Immunitas, etwas offen legt, das bisher zumeist in den Schatten oder an die Ränder der kulturellen Debatten verbannt wurde: und zwar, dass die notwendige biologische Ausrichtung bei der Erforschung des Menschen seinen beachtlichsten und größten Fortschritt bei der Forschung und Umsetzung in der nazistischen Biopolitik erfahren hatte. Auch wenn die nazistische

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Biopolitik das extreme Gegenteil darstellt, da sie die todbringende Richtung der Thanatopolitik einschlug, so verändert Espositos Text vollkommen die Sicht auf diese erschütternde und abweichende Erfahrung des 20. Jahrhunderts, den Nazismus, und lässt ihn einen gewissen befremdenden Sprung nach vorn machen. Denn obschon man den Nazismus einfach unter der Kategorie ›Totalitarismus‹ verschlagworten kann – gemäß der scharfsinnigen, paradigmatischen Diagnose von Hannah Arendt (eine, wie wir sahen, Esposito sehr vertraute Autorin)8, die ihn etwas zu voreilig mit dem Kommunismus gleichsetzt (der seinerseits, trotz seiner revolutionären Kraft, einem noch traditionellen Blick auf die Wirklichkeit und die Geschichte verhaftet bleibt) –, erscheint der Nazismus nun hingegen als das erste große kulturell-politische Vorhaben, das sich direkt und in einer zuvor nie gekannten Art und Weise mit dem Leben, dem bíos, beschäftigt. Vor allem aber – und das ist besonders wichtig – leitet der Nazismus so die aktuellen massiven Strategien der Weltpolitik zum Schutz, zum Erhalt und zur Governance des Lebens ein. Kurzum, so Esposito, wie sehr uns dieser Umstand auch erschüttert und stört, der Nazismus hinterlässt uns ein Vermächtnis, welches wir nur schwer umgehen können: nämlich, dass nunmehr alle wirklichen Fragen und Probleme wie auch alle künftigen Entscheidungen bis in den Bereich des Lebens vorstoßen oder dieses berücksichtigen müssen. Das, was heute auf dem Spiel steht, ist daher, jenes Vermächtnis wieder aufzunehmen, den unerhörten Mut zu haben, sich mit genau jener schrecklichen Todesmaschine auseinanderzusetzen, um bis in seine biopolitische Blackbox vorzudringen – aber auch um deren pervers autoimmunitäre und somit todbringende Tragweite in eine ›affirmative Biopolitik umzuwandeln‹9. Genau das macht Esposito mit seiner dichten Abfolge von Analysen und Gegenüberstellungen, deren Endergebnis sein mitreißender – wenn auch, wie ich noch zeigen werde, sehr problematischer – Vorschlag für eine ›Philosophie des Lebens‹ darstellt. Letztere basiert in besonderem Maße auf dem revidierten Begriff der ›Norm‹ im Sinne Canghuilhems: nicht als universell, aber als etwas, das sich dauerhaft in einer Form des Lebens ausmachen und so jedes Mal ein Individuum entstehen lässt10. Man sollte hier unter ›Individuum‹ nicht mehr 8  |  Siehe Fußnote 6. Ich beziehe mich hier natürlich auf den bereits zum Klassiker avancierten Text von Hannah Arendt: The Origins of the Totalitarianism (1951). 9 | Espositos Ansichten zu diesen Themen finden verschiedene Anknüpfungspunkte mit Peter Sloterdijk (2003). 10 | Um die Linie zu erweitern und zu vervollständigen, entlang der sich dieser originelle theoretische Rahmen abzeichnet, mag es vielleicht von Interesse sein, daran zu erinnern, dass Bergson der Erste war, der die Notwendigkeit betonte, den Apparat an konzeptuellen Kategorien zu erneuern und die tradierte Beschreibung der Phänomene durch die »starren und abstrakten Universalschemen« abzuschaffen, zugunsten von individuellen, »auf die Sachen zugeschnittenen Formen«, die der auf den menschlichen Körper zugeschnittenen Kleidung ähneln. Wenn Canguilhem von ›Norm‹ spricht, so bezieht er sich, wie auch später dann Deleuze, in genau diesem Sinne auf Bergson.

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das bestimmte Epiphänomen einer allgemeinen, schon definierten Art verstehen, sondern etwas Einzigartiges, das in sich genormt zur Welt kommt: der ›Block‹ einer vollkommen ›trans-individuellen Welt‹ – um es mit Deleuze und Simondon zu sagen, an denen sich die letzten Seiten des Buches inspirieren. Dieses Verständnis hat recht wenig mit dem ›menschlichen, allzu menschlichen‹ traditionellen Subjekt zu tun. Vielmehr gewinnt jetzt der Begriff des ›Fleisches‹ im Sinne Merleau-Pontys besonderes Gewicht11. Das Fleisch wird verstanden als eine Art ursprüngliche biologische und vor-individuelle Masse, in der sich der Körper ausweitet und ausprägt. Wie bereits die Malerei von Francis Bacon klar zeigt (von der wir ja nicht zufällig ausgegangen sind), wird hier der Übergang von Mensch und Tier, um noch einmal mit Deleuze zu sprechen, ununterscheidbar.

D as I mpersonale Wenn dies der durchaus extreme Weg ist, den Bíos zurücklegt – und vor dessen Hintergrund die vorangegangenen Bücher aus heutiger Sicht wie Bausteine oder funktionelle Teile erscheinen –, versteht man nun, wie alles auf eine ›Philosophie des Impersonalen‹ hinausläuft. Genau betrachtet, zielt Espositos umfassende biopolitische Wende – die von Immunitas eingeleitet wurde, aber wofür sich bereits auf den letzten Seiten von Communitas die ersten, unmerklichen Andeutungen finden lassen – nicht nur und nicht so sehr darauf ab, zu sehen, wie die Politik, d.h. das Wissen und die Institutionen, jedes Mal das Leben und die Dimension des menschlichen Körpers reglementiert. Um noch tiefer vorzustoßen und um zudem – und gerade deswegen – mit dem konzeptuellen, klassischen Begriff des Menschlichen (der humanitas) zu brechen, möchte Esposito vielmehr eben jene biologische Schicht tiefgreifend erkunden, die von jeher Teil des Menschen ist. Dies ist die wirkliche Tragweite von Espositos Arbeiten. Über das PhilosophischPolitische hinaus, steht auch das Theoretische auf dem Spiel. Es handelt sich kurz gesagt darum, wirklich von Grund auf, vollständig und, wie Hannah Arendt es nennt, ohne Vorbehalte, nicht nur und nicht so sehr die Art und Weise neu zu denken, wie die Politik den Menschen und das Leben denkt und regiert (normiert), sondern zu fragen: Was ist der Mensch? Wer oder was sind wir wirklich? Was macht uns als Menschen aus? All dies sind Fragen, die weit über oder jenseits des politischen Denkens angesiedelt sind – auch wenn sie zweifelsohne und ganz offensichtlich aus einer politischen Notwendigkeit heraus erwachsen und sich in diesem Bereich niederschlagen. Bíos bzw. der biopolitische Diskurs eröffnet nicht nur den Weg für Terza persona (vgl. Esposito 2007b), für die ›Philosophie des Im11 | Es ist zudem kein Zufall, dass Merleau-Pontys Thema des ›Fleisches‹ in den letzten Jahren in Italien und Frankreich besondere (wenn auch bisweilen von miteinander widerstreitenden Seiten) Aufmerksamkeit zuteilwird (vgl. z.B. Franck 1981; Henry 2000; LiscianiPetrini 2002; Carbone/Levin 2003).

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personalen‹, sondern bildet gar ihren unterschwellig fortdauernden basso continuo. Den Beweis dafür erbringt Terza persona, dessen ganzer erster Teil einen ausdrücklich biopolitischen Ansatz verfolgt und den folgenden neuralgischen Teil zum Impersonalen vorbereitet. In Terza persona wird zunächst die Maschine der Humanwissenschaften analysiert, d.h. es wird untersucht, wie sich bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine entschiedene kategoriale Verschiebung innerhalb der theoretischen Diskurse über den Menschen herausbildet, von der Anthropologie über die Soziologie bis hin zur Sprachwissenschaft. Diese Verschiebung führt zu einer immer größeren Aufmerksamkeit für das biologisch-animalische Wesen des Menschen, »das in klarem Gegensatz zu den Kategorien des persönlichen Subjekts steht«12 (Esposito 2007b: 43ff.; Dt. d. Ü.). Also zu Kategorien, die insbesondere seit der römischen Antike die tragenden Pfeiler unserer ganzen Tradition sind und sich in der Moderne besonders zuspitzen. Diese so unerwartet verschiedenen Diskurse, die die kulturelle Szene mit der Kraft eines zerstörerischen theoretischen Hammers erschüttern, zeigen umgekehrt, wie die in der Vergangenheit aufgestellten, sehr kodifizierten und jahrhundertelang als unumstößlich angesehenen Theorien in Wirklichkeit immer die biologisch-organische Dimension des Menschen verschleiert haben. Sie zeigen zudem, wie das menschliche Wesen innere Schwellen beinhaltet, die es in die Nähe zum Tierhaften rücken und die ihrerseits durch sehr präzise Verfahren zugunsten einer rationalen, willensstarken und somit verantwortlichen ›Schicht‹ des Menschen ausgeschlossen und beseitigt wurden. Kurz gesagt, zugunsten dessen, was schon immer als ›die Person‹ bezeichnet wird. Das wichtige Ergebnis von Espositos Analyse ist, dass die (bereits in den vorhergehenden Arbeiten angestoßene) Dekonstruktion des modernen Subjektbegriffs derart radikalisiert wird, bis dass ihre Schockwelle – und hier liegt der neuralgische Punkt – zu seinem performativen Dispositiv, dem letzten und grundlegenden, dem weitesten und dem stärksten, vordringt: nämlich der Person. Diese Dekonstruktion zeigt mit absoluter Klarheit, dass der Personenbegriff den konzeptuellen und sprachlichen Bezugsrahmen – deshalb ist er performativ – für das gesamte Wissen und alle kulturellen Strategien bildet, von der römischen Antike (als Erbe der griechischen) bis heute, selbst mit all jenen geschichtlichen und theoretischen Diskontinuitäten, die sich nach und nach herausbildet haben. Sie zeigt auch, dass dieser Bezugsrahmen das eigentlich zu Verändernde ist – nicht mehr und nicht so sehr das Subjekt und die dazugehörigen Subjektivierungsprozesse –, wenn man zu einem Denken und eventuell zu einem wirklich neuen Begriffsapparat gelangen möchte. Die Idee der ›Person‹ bildet eine konzeptuelle Maschine, die so kraftvoll und zugleich so flexibel ist, dass sie sich an die vielfältigen und sogar widersprüchlichen geschichtlich-kulturellen Notwendigkeiten anzupassen vermag und so über lange Zeit tonangebend war. Aber stellt sie deshalb genau das dar, was eliminiert werden muss? Der nicht zufällig in der Moderne aufkommende Subjektbegriff ist durch einen hohen kon12  |  It. Orig.: »[D]ecisamente in contrasto con le categorie del soggetto personale«.

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zeptuellen Abstraktionsgrad gekennzeichnet oder, um es so zu sagen, von einer Unnatürlichkeit, die das Subjekt selbst ganz künstlich werden lässt. Daher wird auch die körperliche Dimension davon aufgesogen und ebenso abstrahiert: zu einer reinen, quantifizierbaren und messbaren Hülle. Der Personenbegriff hingegen »gehört der materiellen Dimension des lebenden Individuums an«13 (Esposito 2007b: 7; Dt. d. Ü.). Er ist, wie es im klassischen Vokabular heißt, ein Synolon: die Einheit von Seele (oder Geist) und Körper. Der Personenbegriff bewahrt und schützt also die körperliche Schicht des Menschen, auch wenn »in einem gewissen spirituellen oder moralischen Übermaß, das ihn zu weit mehr macht als zur biologischen Schicht des Subjekts«14 (Esposito 2007b: 88; Dt. d. Ü.) und spricht der Person so »die vollkommene Beherrschung ihres animalischen Wesens«15 (Esposito 2007b: 109; Dt. d. Ü.) zu. Es ist genau diese in sich amphibische Struktur, die den Körper und die geistige Innerlichkeit geschickt miteinander verwebt und die seit jeher den Personenbegriff zum semantischen Träger (oder Kommunikator) par excellence macht, der von der Antike bis heute unverwüstlich und unbestritten alle kategorialen Rahmen transversal durchzieht, von den reaktionärsten oder konservativsten bis zu den revolutionärsten und innovativsten. Um bei der jüngsten Geschichte zu bleiben: vom Personalismus über den Marxismus bis zur Phänomenologie, vom kapitalistischen Liberalismus zum fortgeschrittensten Sozialismus. Wenn man den Menschen in seiner Ganzheit verteidigen möchte, wie es so schön heißt, beruft man sich schon immer und in jedem Fall auf den Begriff der ›menschlichen Person‹. Und zwar, weil dieser Begriff eben jene physisch-körperliche Dimension zu bewahren und zu schützen scheint, die sonst von der künstlichen, abstrakten und ganz auf dem Vernunftprinzip gründenden Idee des Menschen als ›Subjekt‹ oder ›Rechtssubjekt‹ ausgeschlossen wird. Indem er eine komplett andere Position einnimmt, bricht Esposito mit dieser einzigartigen Übereinstimmung der verschiedenen Theorieapparate im Personenbegriff bzw. geht er darüber hinaus. Zunächst einmal zeigt er, dass die gewaltige konzeptuelle Maschine, die der Personenbegriff in Wirklichkeit ist, das nicht unschuldige Produkt einer konkreten semantisch-kulturellen Operation ist, welche die physisch-körperliche Dimension zweifach verschleiert – anstatt diese zu schützen und zu bestätigen. Das Körperliche wird nicht nur in seiner nackten, biologischen Dimension verschleiert, wie jeder rationalistische Apparat (seit Platon) im Menschen die rationale Sphäre (die Seele) drastisch von der körperlichen, animalischen, vegetativen, gegenständlichen Sphäre trennt. Es wird auch ein zweites Mal und zudem geschickter verschleiert, weil das Körperliche, wie schon gesagt, offensichtlich bewahrt und als mit dem Geistigen verbunden scheint – gemäß dem Prinzip: Die Person ist die Einheit von Seele und Körper. In Wirklich13  |  It.Orig.: »[A]derisce alla situazione materiale dell’individuo vivente«. 14  |  It.Orig.: »[I]n una sorta di eccedenza, di carattere spirituale o morale, che ne fa qualcosa di più dello strato biologico del soggetto«. 15  |  It. Orig.: »[P]iena padronanza sulla natura animale«.

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keit (und mit Absicht verschwiegen) wird diese Einheit aber drastisch ausgeschlossen, da das Körperliche der Person nur bewahrt wird, wenn es in der Sphäre der geistigen und einzigartigen Individualität aufgeht, die jede Person ausmacht. Kurzum: Person heißt ›geformte Materie‹ (individuum de ratione materiae) im aristotelisch-thomistischen Sinn. Hieraus schlussfolgere ich: Anstatt ein Dispositiv zu sein, das den Bereich des Menschlichen hin zum biologischen Leben erweitert, ist die Person genau das Dispositiv, das das Menschliche beschränkt, indem es dieses dem biologischen Leben entzieht und es davon ausschließt (vgl. Lisciani-Petrini 2007, 2008). An diesem Punkt wechselt Espositos Diskurs notwendigerweise das Register und geht über die Biopolitik hinaus. Letztere – das wird nun deutlich – wollte zeigen, dass den Begriffen ›Subjekt‹ und ›Person‹ die materielle Dimension des Menschlichen vollkommen abgeht. Ihr Ziel war es, die beiden Begriffe sozusagen als theoretisch und politisch ungenügend zu demaskieren. Dies erlaubt Esposito auf eine andere Diskursebene zu wechseln, die zum einen historisch-linguistisch und zum anderen theoretisch ist. Mit einem Längsblick, der die gesamte Geschichte unserer Tradition aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, zeigt Esposito in der Tat zunächst, dass der Personenbegriff – bezeichnen wir ihn nun als ›demaskierte Maske‹ – von der römischen Antike an bis zum heutigen Tag der performative Teil aller kulturellen Strategien ist. Der Personenbegriff ist demzufolge der Träger einer ganzen Semantik, oder anders gesagt, einer Syntax und einer Logik, die auf den Kategorien von ›Ich‹ und ›Du‹ (oder ›etwas anderes‹) basieren, die ihrerseits der ›ersten‹ und ›zweiten‹ Person im Singular und Plural entsprechen (wo wohlgemerkt die dritte Person im Singular oder Plural, ›er‹ bzw. ›sie‹, lediglich das Analogon der zweiten Person im Singular oder Plural, ›du‹ bzw. ›ihr‹, darstellt – also auch in die Logik der ›ersten‹ und ›zweiten‹ Person fällt). Alle Sprachspiele ereignen sich innerhalb dieses konkreten logisch-kategoriellen Rahmens, innerhalb des Paradigmas der Person als besonderem und einzigartigem Einzelindividuum; auch wenn man von ›Alterität‹ oder ›dem Anderen‹ spricht – der dies aber nur ist, wenn er in Wirklichkeit als (mehr oder weniger verborgene oder unaussprechliche) Figur eines unerreichbaren ›Du‹ erkennbar ist (so zum Beispiel bei Lévinas, Jankélévitch oder Buber). Aber die wichtigste theoretische Passage ist die folgende: Nachdem nämlich die Grenze der Person nun aufgebrochen worden ist, ist Espositos nächster Schritt der Versuch, die ›Nicht-Person‹ zu denken. Beziehungsweise erweist sich all das, was sich außerhalb der Person befindet (weil es von diesem Paradigma ausgeschlossen ist), in Wirklichkeit als zur Person zugehörig, als etwas, das an sie gebunden ist, das ihr wie eine zweite Haut immer anhaftet. Dies verändert vollkommen unsere vorherige Sichtweise, da es nun darum geht, den Menschen als Person und zugleich als Nicht-Person neu zu denken. Aus dieser neuen konzeptuellen Wende entspringt zunächst die logisch-sprachliche Untersuchung einer Kategorie, die das Regime der Person sprengt. Hierfür kommt uns Benveniste auf den Seiten von Terza persona mit seiner Arbeit zur schwierigen, da flüchtigen Kategorie der ›dritten Person‹ entgegen: Es ist das ›es‹, das sich jedwedem kon-

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zeptuellen Zugriff und »dem dialogischen Gesprächsregime«16 (Esposito 2007b: 19; Dt. d. Ü.) entzieht, da es vielmehr »und auf viel radikalere Art und Weise eine Nicht-Person«17 (Esposito 2007b: 129f.; Dt. d. Ü.) benennt. Aus all dem entwickelt sich dann der markanteste Aspekt des Buchs: der Versuch, den Menschen als solchen neu zu denken. Nicht mehr innerhalb der menschlichen, ›allzu menschlichen‹ Kategorie der Person, sondern als ›Ereignis der Welt‹ (Nicht-Person), das dadurch, dass es sich ereignet, ganze Realitätsebenen transversal durchdringt: Menschen, Tiere, Pflanzen, Gegenstände – um das Deleuze’sche Vokabular zu verwenden. Espositos Buch schließt nicht zufällig mit Deleuze, nachdem es mit anderen ›Autoren des Impersonalen‹, so insbesondere Blanchot und Weil, Zwiesprache gehalten hat. Es handelt sich darum, sich des ›schwierigsten Denkens‹, so Nietzsche, anzunehmen und dieses zu kultivieren. Wenn wir diese Perspektive einnehmen, so wird tatsächlich jeder traditionelle Bezugspunkt, jede Idee des ›Ich‹, des bewussten Subjekts, des inneren Denkens, der menschlichen Empfindung oder Wahrnehmung und sogar des Affekts und des Gefühls von Grund auf entkräftet. Jedes dieser Elemente oder Aspekte wird als ein ›Block‹ oder als ein ›Einschnitt‹ in der Immanenzebene betrachtet, der seinerseits mitnichten vom Menschen gebildet wird (wie es zum Beispiel der orthodoxe phänomenologische Ansatz will). Vielmehr ist es die Immanenz selbst, die den Menschen überkommt und ihn einbezieht, als ein Ereignis, das verschiedene Wirklichkeitsebenen umfasst und durchdringt (eingeschlossen das, was wir ›Mensch‹ nennen). Dies bedeutet das Ende jeder Vorstellung des Menschen als Subjekt, als Epizentrum und als Fundament einer geistigen (da aus seiner angeblichen Innerlichkeit resultierenden) Verfasstheit der ihm äußeren Wirklichkeit. Und umgekehrt die Öffnung zur Vorstellung hin, dass der Mensch in der ihn umgebenden Wirklichkeit in ein Beziehungsgeflecht hineingeboren ist (»innestato«; Anm. d. Ü.) – wie MerleauPonty es treffend formuliert. Dort ist es nicht schwierig, sondern ganz und gar unmöglich, zwischen dem Menschlichem und Subjektivem auf der einen Seite sowie dem Materiell-Animalischen und dem Objektiven auf der anderen Seite zu unterscheiden. Um diese Behauptung nicht bloß abstrakte Worte bleiben zu lassen, reicht es daran zu denken, was wirklich passiert, wenn der Tod eintritt: Dort, an jenem Punkt der Welt, stirbt nicht nur der ›verkörperte Geist‹ oder die ›Person‹, sondern es ereignet sich eine Katastrophe. Ein Riss öffnet sich, der den gesamten Wirklichkeitsblock verschlingt. Letzterer wurde seinerseits erschaffen von eben jenem Subjekt und der Raum-Zeit-Relation, die sich um ihn herum strukturiert hatte und wo sich verschiedene Gegenstände, Menschen, Teile der Natur, Lebewesen, organische und anorganische Entitäten und nicht zuletzt wir selbst befanden. Dieses ›man‹, all dieses ›Impersonale‹, mit dem die ›Person‹ verflochten war, stirbt und verschwindet auf ewig. Umgekehrt zeigt dies das ganze Außen der Person, mit dem sie untrennbar verbunden ist bzw. war. Wenn also, 16 | It. Orig.: »[R]egime dialogico dell’interlocuzione«. 17  |  It. Orig.: »[E] più radicalmente, una non persona«.

Vom Impolitischen zum ›Impersonalen‹

um noch einmal mit Deleuze zu sprechen, das Genie einer Philosophie sich zunächst an der neuen Verteilung misst, die diese den Lebewesen und Konzepten auferlegt, und an seiner Fähigkeit, dort, wo es niemals eine Grenze gab, diese zu ziehen und zu überschreiten18 – dann ist es diese ›Philosophie des Impersonalen‹, die in vieler Hinsicht von Autoren wie Weil, Blanchot und Deleuze begründet, aber von Esposito mit neuen und originellen theoretisch-politischen Ansätzen neu lanciert wurde, die uns den Weg zu einer anderen Philosophie aufzeigt, zu einer anderen generellen Methode, den Menschen außerhalb des Personenbegriffs zu denken: nämlich durch das ›Außen‹ der Person. Diese Art und Weise, den Menschen zu betrachten und zu denken, kann unter anderem – wie es Esposito selbst, wenn auch nur kurz, betont – im Bereich der Kunst außerordentliche Anregungen finden: von der Musik bis zur Malerei, von der Literatur bis zum Kino. Es handelt sich um etwas, das, wie Weil klar erkannt hat, letzten Endes auch ein absolutes Neudenken des Rechtsbegriffs ebenso wie des juristischen Kategorieapparates implizieren müsste. Jahrhundertelang auf die menschliche Person fixiert, müssten beide im Gegenzug nun jenes Impersonale berücksichtigen, das sie bis dahin vernachlässigt und verdrängt haben. Etwas, das mit einer weiter gefassten Gerechtigkeit zu tun haben müsste, das nicht nur und nicht so sehr die Menschenrechte schützt, sondern die Richtigkeit der Beziehungen zwischen all denen und all dem, die Teil der bzw. einer ganzen Welt sind (Menschen, Tiere, Organisches, Anorganisches usw.).

Z um A bschluss Wie man sieht, ist dieser gewaltige und komplexe Denkvorschlag zweifelsohne faszinierend, aber gleichzeitig auch beunruhigend. Weder kann man noch sollte man die Probleme, die er aufwirft, ausblenden. Denn aus der ganzen, hier nachgezeichneten Entwicklung von Espositos Denken eröffnet sich ein komplexes Szenario an Problemstellungen und Fragen. Fragen, die wir uns erst noch stellen müssen und von solch enormer Tragweite sind, dass sie selbst die Anfänge dieser ebenso weitgefassten wie auch dichten theoretischen Ellipse betreffen. In der Tat wirft bereits der Ausgangspunkt dieses Aufsatzes, der ja eine der tragenden Säulen von Espositos gesamten Denken betrifft, eine Reihe von Fragen auf: die Annahme zum Beispiel, dass jedwedes einheitliche und identitäre Fundament verloren gegangen ist. Daher ist die an diesem Punkt zu stellende Frage: Wie kann die Rückkehr zu dem gedacht werden, was sich ›impersonale Schicht‹ nennt – und als Entstehungsort der Menschen oder der Ereignisse bzw. der dynamischen und absolut affirmativen Dimension des Vorindividuellen verstanden wird – ohne in die ungewollte Form eines neuen vereinigenden und belebenden Fundaments zurückzufallen? Kurz: Wie kann all das gedacht werden, ohne in eine Art Meta18  |  Dies erklärt Deleuze über die Stoiker in Logique du sens (vgl. Deleuze 1969).

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physik, sei sie auch materiell und immanentistisch, zurückzufallen? Oder anders und von einem anderen problematischen Blickwinkel aus gefragt: Wenn jedwede Sicht der Dinge, mit Nietzsche gesprochen, ein Märchen und demzufolge eine Lüge ist, die wir uns jedes Mal von Neuem erzählen, kann dieser ganze Diskurs denn etwas anderes sein als ein weiteres, von der Philosophie selbst erschaffenes Märchen oder eine Lüge? Könnte es sich nicht vielmehr um ein gewisses kulturelles Spiel oder ein bestimmtes Wissen handeln, dessen Macht wir ganz im Foucault’schen Sinne unterstehen und das uns heute zwangsläufig zu diesen Problemen, diesen Themen, diesen Schlussfolgerungen und Überzeugungen bringt? Aber betrachten wir vor allem die explizit politische Ebene und stellen wir das Problem vom Register der energetischen Immanenz aus. Wenn die Vielheiten nur von einem biologischen, transindividuellen und impersonalen Umstand zusammengehalten werden (jenseits der Kultur, der spezifischen Ideen und Ideale), birgt dies – anstatt uns zu einer reicheren und komplexeren Form zu führen – nicht die Gefahr, die an diese Schicht gekoppelten Antriebskräfte zu entfesseln (wie dies übrigens in Teilen auch schon vor unseren Augen geschieht)? Kurz: Wie kann all das normiert werden, d.h. wie kann es in einen für alle gültigen Regelapparat überführt werden? Man muss sich sogar noch mehr fragen: Ist es dem Menschen – als nacktem Ereignis bzw. als dem ›man‹ des Ereignisses Ausgeliefertem – in diesem Rahmen überhaupt noch erlaubt, das von ihm gelebte Werden zu normieren? Und weil diese Aufgabe in jedem Fall erledigt werden muss, bleibt zudem zu fragen, wer sich ihr wohl annehmen wird. Besteht nicht die Gefahr, in eben jene archaischen Gesellschaftsformen zurückzufallen, denen Begriffe wie Bewusstsein und selbst entscheidendes Individuum fremd sind? In geschlossene Gesellschaften also, die auf einer außerindividuellen Ordnung gründen, wo vielleicht Priester oder ähnliche Figuren die Macht innehaben und wo sich niemand gegen die oktroyierten Dynamiken auflehnen kann, da diese nämlich als Ereignisse des ›Real-Impersonalen‹19 deklariert werden? Dies sind nur einige der wichtigen Fragen, die diese stimulierenden, aber beunruhigenden Überlegungen in uns aufwerfen – im Dialog mit Roberto Esposito. Aus dem Italienischen von Sieglinde Borvitz

19  |  Eine wichtige Analyse zum archaischen, vorbewussten und vorindividuellen Bewusstsein wurde vom Psychologen Julian Jaynes mit The origin of consciousness in the breakdown of the bicameral mind (vgl. Jaynes 1976) vorgelegt. Indem er auch mit alten Quellen (wie der Illias oder der Odyssee) arbeitet, zeigt er, wie eine solche Anthropologie zwangsläufig zu autoritären, klar hierarchischen Regimen führt.

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Das Schwindelgefühl des Lebens Roberto Espositos Terza persona Alberto Moreiras »Wie man eine Verschwörung aufdeckt. Und es kann ja sein, daß das Außerfleischliche, meine damit nicht die Seele, daß das, was außerfleischlich ist, ohne die Seele zu sein, von der ich ja nicht weiß, ob es sie gibt, von der ich aber erwarte, daß es sie gibt, daß diese jahrtausendealte Vermutung jahrtausendealte Wahrheit ist; es kann durchaus sein, daß das Außerfleischliche, nämlich das ohne die Zellen, das ist, woraus alles existiert, und nicht umgekehrt und nicht nur eines aus dem andern.« (B ernhard 2003: 7)

G lückseligkeit gegen U nterordnung In der Zeit der Rekonstruktion der Ideologie der Person nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden zuerst die Existenz, dann die Sprache und schließlich die Kultur mit unterschiedlichem Grad hegemonialen Erfolgs als fundamentale Felder der Forschung und des Denkens. Zuerst kam der Existentialismus, dann die linguistische Wende und später die kulturelle Wende, die eine Geschichte oder Zeitschiene des Nachdenkens modulierten oder begründeten, welche rückblickend mehr oder weniger auf die Geisteswissenschaften beschränkt geblieben zu sein scheint. Es ist schwer festzustellen, ob die technopolitische Wende mit ihrer tiefgreifenden Auswirkung auf den Begriff der Person in erster Linie ein Ereignis in der Geistesgeschichte darstellt, oder ob sie vielmehr als Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte angesehen werden sollte. Die zunehmende gegenwärtige Dominanz technowissenschaftlicher Protokolle – sogar auf dem Gebiet ökonomischer Entwicklung – stellt die meisten von der Moderne vererbten Auffassungen auf der Anwendungs- und Wahrnehmungsebene in Frage. Wir haben Grund zur Annahme, dass die Technowissenschaften gewaltige Sprünge im Laufe einer oder zweier Generationen machen werden, und dass die politischen Auswirkungen der zugesicherten Entwicklungen in beispielsweise der Neurophysiologie, der

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Pharmaökonomie oder der Genetik – von den Informationswissenschaften ganz zu schweigen – eine Vielzahl der Bedingungen sozialer Interaktion verändern werden. Tatsächlich besteht gerade aus dem Grund, dass wir bereits zumindest in einigen Gesellschaften an der Schwelle zu potentiell revolutionärer Veränderung stehen, der dringende Bedarf an kritischen und konstruktiven Überlegungen im Hinblick auf die verschiedenen Konsequenzen der technopolitischen Wende. Diese scheint über die Bedingungen hinauszugehen, unter denen die Bindung an die Existenz in den 1950ern, an die Sprache in den Sechzigern und Siebzigern, oder an die Kultur in den Achtzigern und Neunzigern, eine politische war. Giorgio Agambens Aufsatz Absolute Immanenz aus dem Jahr 1996 war programmatisch. Seine Bedeutung liegt nicht in seinem Fokus auf das Technopolitische. Vielmehr richtet Agamben seinen Blick auf das, was das Technopolitische zu bedrohen scheint, und dies macht wohl den Kern seiner Überlegungen in Die kommende Gemeinschaft aus: nämlich das, was er ›Leben‹ im Sinne eines ›nackten Lebens‹ nennt, ein Konzept, das erstmals in den Arbeiten Walter Benjamins auftaucht. Die Gegenüberstellung von ›nacktem Leben‹ und technopolitischem Einsatz, oder vielmehr noch der fundamentale Angriff, wie wir ihn durch technowissenschaftliche Protokolle und deren politische Auswirkungen erfahren mussten – kurz: die BioMacht – soll einer genealogischen Analyse auf Grundlage einer neuen Begrifflichkeit unterzogen werden. Dies ist Agambens Programm aus dem Jahr 1996: »Im gedanklichen Erbe sowohl [Michel] Foucaults als auch [Gilles] Deleuzes muss das Konzept von ›Leben‹ das Subjekt der künftigen Philosophie begründen. Zuerst müssen Foucaults letzte Überlegungen über die Bio-Macht, welche so obskur erscheinen, gemeinsam mit Deleuzes abschließenden Reflexionen gelesen werden, die so gelassen erscheinen, über ›ein Leben[…] verstanden im Sinne einer absoluten Immanenz und Glückseligkeit‹, […] für Foucault die ›andere Art, sich dem Konzept des Lebens anzunähern‹ und für Deleuze ein Leben, das nicht erneut Transzendenz hervorbringt. Wir müssen folglich die Matrix der Entsubjektivierung selbst in jedem Aspekt erkennen, der die Zuordnung einer Subjektivität ermöglicht; wir müssen des Elements gewahr werden, welches die Subjektivierung der Bio-Macht im Paradigma einer möglichen Glückseligkeit darstellt.« (Agamben 1999:238)

Dieses Programm zu verwirklichen, stellt eine Aufgabe dar, die an zwei primären Polen betrieben wird: dem Zusammenspiel aus ›Subjektivität‹ und ›Entsubjektivierung‹ und dem Zusammenspiel aus ›Glückseligkeit‹ und ›Unterwerfung‹. Was die Zielsetzung anbelangt, ist es – da ein Programm für eine künftige Philosophie eine Teleologie beinhalten muss – wahrscheinlich einfacher, die Bedeutung zu verstehen, die hierbei der Glückseligkeit angesichts ihrer gängigen Assoziation mit Zufriedenheit zukommt, als sich einer Entsubjektivierungspraxis anzunehmen. Sollten Dinge im Unklaren liegen, so ist es zweifelsohne Aufgabe der künftigen Philosophie zu ihrer Klärung beizutragen. Bei Agamben finden sich diesbezüglich eine Vielzahl von Ansätzen. Ich möchte an dieser Stelle einige von

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ihnen zusammenfassen, da sie für eine angemessene Darstellung der Implikationen von Espositos Terza persona relevant sind. Den Großteil von Agambens Aufsatz macht eine feierliche Analyse von Deleuzes letzter Abhandlung Immanenz: Ein Leben aus. Die Idee eines Homo tantum, von Deleuze auf Grundlage einer Textstelle aus Charles Dickens Unser gemeinsamer Freund verstanden oder ausgedrückt, erscheint entscheidend. Dies verweist in Deleuzes Formulierung auf ein Leben, also auf einen Punkt, an dem das Leben des Individuums einem unpersönlichen und doch einmaligen Leben gewichen ist, das ein reines, von den Zufällen des inneren und äußeren Lebens – also von der Subjektivität und Objektivität dessen, was auf Seligkeit hinausläuft befreites – Ereignis in den Vordergrund rückt: Glückseligkeit oder eine Ecceity 1, die Qualität also, präsent zu sein. Statt Individualisierung bedeutet dies nun vielmehr Singularisierung, d. h. ein Leben reiner Immanenz, neutral, jenseits von Gut und Böse, da lediglich das Subjekt, welches dies inmitten der Dinge verkörperte, es gut oder böse machte (vgl. Deleuze 2006: 385). Der Homo tantum bezeichnet ein Leben im Sinne eines Lebens unabhängig der Aporien der Subjektwerdung und sogar des Bewusstseins. Der Homo tantum ist der Ort einer transzendentalen Ebene, die als reine ›Immanenzebene‹ definiert ist (vgl. Deleuze 2006: 385). Laut Agamben schreitet Deleuze mit der Idee einer reinen Immanenzebene irreversibel über die Tradition des Bewusstseins in der modernen Philosophie hinaus, ein Schritt, dessen Radikalität weiter reicht als alles, was Edmund Husserl, Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Lévinas oder Jacques Derrida erreicht haben (vgl. Agamben 1999: 225). Tatsächlich, so Agamben, werden die letztgenannten Denker, insofern sie Philosophen der Immanenz sind, nach wie vor »Transzendenz im Immanenten« denken wollen, so dass »die Immanenz selbst das Transzendente überallhin auswerfen muss« (Deleuze und Guattari zitiert nach Agamben 1999: 227, Dt. d. Ü.). Jedoch reicht Deleuzes Gedanke weiter als die »notwendigen Illusionen« seiner Kollegen hin zum »extremsten Gedanken« eines »Prinzips virtueller Unbestimmtheit, innerhalb derer das Vegetative und das Animalische, das Innere und das Äußere und sogar das Organische und das Anorganische dadurch, dass sie einander durchfließen, nicht unterschieden werden können.« (Agamben 1999: 239, Dt. d. Ü.)

Dies ist Deleuzes Triumph und zwar insofern, als dass »heutzutage gesegnetes Leben auf dem gleichen Boden wie der biologische Körper des Westens liegt« (Agamben 1999: 239, Dt. d. Ü.). Wie es Agamben recht enigmatisch darlegt, wird uns der Homo tantum eine Art analytischen Hebel bieten, um eine geeignete Gegenbewegung zur technopolitischen Subjektivierung einzuleiten. Ein Leben 1  |  »Ecceity« bezeichnet die Qualität des Anwesendseins (lat. »ecce« = »siehe da!«; Anm. d. Ü.).

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ist eine Matrix unbegrenzter Entsubjektivierung und daher fundamentaler Widerstand gegen die Bio-Macht (vgl. Agamben 1999: 233). In seinen Überlegungen über ›ein Leben‹ begrüßt Agamben Deleuzes Identifizierung ›ohne Überrest‹ von Verlangen und Dasein und somit dem Grundsatz einer neuen und summierenden Lebensphilosophie entsprechend der gegenwärtigen Epoche (vgl. Agamben 1999: 236). Deleuzes transzendentaler Empirismus hat die Immanenzebene auf Grundlage eines il y a aufgedeckt, das weniger als ein Hintergrundflüstern ist: Es ist das Nicht-Reduzierbare, das was vor dem Sein und dem Nichts in Kraft ist, also reine unbedingte Tatsache. Man stelle sich eine Wunde vor. Die Wunde existiert vor einem selbst. Eine Wunde wird später in einem Zustand verkörpert, in gelebter Erfahrung, sie wird erzählt, sie wird gefühlt; sie kann sogar zu einer Quelle der Transzendenz werden. Aber die Wunde ist noch vor der Handlung immer bereits eine Singularität im virtuellen Feld der Immanenz. Für Deleuze »verleihen Ereignisse oder Singularitäten der Ebene ihre volle Virtualität, genauso wie die Immanenzebene virtuellen Ereignissen ihre volle Realität verleiht. Das als nicht verwirklicht (unbestimmt) angesehene Ereignis lässt nichts vermissen. Es genügt, das Ereignis in Bezug zu seinen Begleiterscheinungen zu setzen: ein transzendentales Feld, eine Immanenzebene, ein Leben, einige Singularitäten.« (Deleuze: 2006: 388f., Dt. d. Ü.)

Wir sind nun in der Lage, Agambens Programm einer Philosophie der Zukunft ein wenig besser zu verstehen: Aufgrund der Tatsache, dass uns die moderne Auffassung von Subjektivität an diesen Punkt geführt hat, müssen wir uns vor der Möglichkeit einer Wiedereinführung transzendentaler Subjektivität hüten, die der Möglichkeit der ›notwendigen Illusion‹ zugrunde liegt. Wenn Leben die Matrix unbestimmter Entsubjektivierung darstellt, so müssen wir den Vorrang eines – im Sinne von unbestimmten – Lebens vor irgendeinem konkreten Leben aufrecht erhalten. Es besteht die Gefahr, dass Glückseligkeit, Macht, Verlangen – selbst von einem postsubjektiven Standpunkt aus theoretisiert – erneut zu transzendentalen Illusionen werden. Glückseligkeit und Unterordnung liegen auf derselben Immanenzebene. Der politische Kampf besteht darin, die reaktive Seite durch die aktive Seite der Macht überwinden zu lassen – das Virtuelle durch das Tatsächliche. Wir müssen Glückseligkeit durch Unterordnung ausspielen. Doch ist dies ausreichend? Oder anders: Ist es nicht bereits zuviel? Wie kann uns Glückseligkeit jenseits der Aporien einer technopolitischen Lebensweise führen?

Das Schwindelgefühl des Lebens: Roberto Espositos Terza persona

D ie Z one der N icht-U nterscheidung »Die Person, so könnte man sagen, ist das im Körper, was mehr als der Körper ist« (Esposito 2007: 15, Dt. d. Ü.)2, was auch bedeutet, dass der Körper stets weniger und etwas anderes ist als die Person. Entspricht der Homo tantum der Aufgabe einer neuen Zerschlagung des Personenbegriffs? Falls ja, ist Zerschlagung das, was wir brauchen? Esposito behauptet, dass das, was heutzutage unter dem Begriff ›Person‹ verstanden wird, seit dem Römischen Recht »absolutes ontotheologisches Primat« (Esposito 2007: 5, Dt. d. Ü.) genießt, und dass sogar die heutige Jurisprudenz aus der Person die Grundlage für die Möglichkeit des Rechtssubjekts macht (und umgekehrt) (vgl. Esposito 2007: 5). Die Kategorie der Person vereint Mann/Frau und Bürger, Seele und Körper, Gesetz und Leben. Und dennoch erleben wir – heute mehr denn je und dem ideologischen Primat der Kategorie zum Trotz – einen zunehmenden Unterschied zwischen Form und Existenz, Subjektivität und Körper, Leben und Gesetz. Espositos grundlegende These lautet: Die anhaltende Disjunktion zwischen dem Leben und den gegenwärtigen Umständen – also der eigentliche biopolitische Bruch – vollzieht sich nicht trotz der permanenten Reaffirmation der demokratischen – da allumfassenden – Ideologie der Person, sondern vielmehr aufgrund selbiger. Es handelt sich um einen theoretischen Kreis mit einer langen Geschichte. Selbst wenn diese Geschichte diesem vorangeht, richtete das Römische Recht eine wirksame systematische Trennung ein zwischen der Person als artifizieller Wesenheit und Mann/Frau als natürlichen Wesen, denen der Status der Person mehr oder weniger zugestanden werden konnte. Dies bedeutete das Vorhandensein einer Zone der Nichtunterscheidung, die aus vielen menschlichen Wesen etwas Geringeres als Personen machte, das heißt Wesen, die – obwohl menschlich – dennoch irgendwo zwischen Person und Ding verortet waren: Der Sklave ist lediglich der Extrempunkt sozialer Abstufung und möglicherweise nicht einmal der extremste. Eine teilweise Verdinglichung des Menschlichen, selbst wenn es um die Unterscheidung zwischen dem richtigen Menschlichen und seinem inneren Gefallensein in Dinglichkeit oder Tierhaftigkeit geht, ist seit jeher eine Konstante in der langen Geschichte der Ontotheologie. Durch die westliche Zeitgeschichte und verschiedene historische Epochen hindurch bis in unsere Gegenwart wurde das Menschliche unterschiedlich definiert, gerühmt oder verdammt, gemäß seiner Beziehung zu dem Ding, welches ihm innewohnt und das es schon immer für Aneignung und Beherrschung anfällig gemacht hat – auch wenn es gleichzeitig die Bedingungen für die Möglichkeit seiner Freiheit und Autonomie geschaffen hat. Auch wenn eine Person genau genommen kein Ding ist, hat es zu keinem Zeitpunkt eine Definition der Person ohne Einbezug des essentiellen

2  |  Übersetzer und Herausgeberin sind für alle Übersetzungen von Roberto Espositos Terza Persona. Politica della vita e filosofia dell’impersonale ins Deutsche verantwortlich.

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und irreduziblen Vorhandenseins des nicht-personalen Aspekts in der Person gegeben, welches folglich stets die Person kontaminiert. »Am Grunde dieser Konvergenz liegt Aristoteles’ Definition des Menschen als rationales Wesen […]. Die biopolitische Verkörperlichung der Person und die spirituelle Personalisierung des Körpers sind Teil desselben theoretischen Zirkels« (Esposito 2007: 16).

Hinsichtlich unserer jüngsten Vergangenheit besteht ein Unterschied im systematischen Umgang mit der differentiellen Verknüpfung von Person und Körper, etwa zwischen der liberalen Auffassung, welche Verfügungsgewalt über den Körper der Person, die ihn bewohnt, zuschreibt, und der nationalsozialistischen Auffassung, welche selbige der staatlichen Souveränität zuweist. Jedoch, so Esposito, beruhe selbst diese Heterogenität auf einem gemeinsamen Merkmal: einer produktionistischen Auffassung von Leben, die den Körper zu einem Besitzobjekt erklärt. Die heutige Bioethik stellt in ihrer Unterscheidung zwischen Voll-, Semi-, Nicht- und Anti-Person (vgl. Esposito 2007: 17) immer noch eine Abbildung der altrömischen Dissoziation von persona und homo dar, was letztendlich ein Theoretisieren der technopolitischen Umstände von Macht über Leben und Tod und allem Dazwischenliegenden ist. Angesichts der technowissenschaftlichen Entwicklung bedürfen wir alternativer Verstehensweisen des Menschlichen, ja, gar alternativer Verstehensweisen des Lebens selbst. Und dennoch erklärt Esposito, dass »die Logik der Person nicht den gesamten gegenwärtigen Horizont« (Esposito 2007: 18, Dt. d. Ü.) einnehme. Es gibt einen Gedanken des ›Impersonalen‹,3 der sich der Philosophie entzieht und der sich in der Literatur, der Malerei, der Musik, dem Film und sogar in der Wissenschaft wiederfindet: »Das Impersonale […] ist die bewegliche Grenze oder der kritische Rand, der die Semantik der Person von ihrem natürlichen Separationseffekt trennt« (Esposito 2007: 19). Der Gedanke des Impersonalen ist nicht eine Philosophie der Anti-Person: Er liegt anderswo. Das Prinzip einer ›dritten Person‹ wurde durch Émile Benvenistes Abhandlung über Personalpronomen vorgestellt. Benvenistes Ansicht nach beinhaltet die ›dritte Person‹ keinerlei personale Konnotationen, sondern verweist auf eine andere Sprachebene, welche in der Lage ist, die dialogische Subjektivität zu umgehen und einen Raum der Singularität, sogar pluraler Singularität, zu erreichen. Diesen Raum zu erforschen, die Möglichkeit zu untersuchen, dass die ›dritte Person‹ (oder das Impersonale) in der Lage sein könnte, das ontotheologische Primat der Person zunichte zu machen (auf anderen Wegen als dem thanatopolitischen) und somit die Grundlage für ein Denken außerhalb des theoretischen Zirkels produktivistischen Lebens zu schaffen, ist 3  |  Im Folgenden wird immer dann ›impersonal‹ statt ›unpersönlich‹ verwendet, wenn der Begriff im Sinne von Esposito verwendet wird. Zur Bedeutung von ›impersonal‹ verweise ich auf die Einleitung sowie auf den Aufsatz von Dario Gentili in diesem Band. (Anm. der Herausgeberin).

Das Schwindelgefühl des Lebens: Roberto Espositos Terza persona

das Ziel Espositos Terza Persona. Meine Absicht liegt im Folgenden weniger im Zusammenfassen seiner verschiedenen Kapitel als in der Untersuchung einiger als relevant hervorstechender Analysen. Den Abschluss bilden Verweise auf Giorgio Agambens Das Offene.

D er S chat ten des I mpersonalen Wie verfolgt man eine Politik der dritten Person? Die dritte Person ist nicht einfach eine weitere Person, sondern vielmehr ein anderes Sinnsystem. Für Esposito, ebenso wie für Agamben, gelten Foucault und Deleuze auch als Schlüsselfiguren in der philosophischen Tradition, die sich gegen dialogische Modelle und zugunsten einer neuen theoretischen Betrachtung des Sächlichen aussprechen. Das Sächliche ist nicht »ein anderes, das sich den ersten beiden anfügt, sondern das, welches weder das eine noch das andere ist, das, welches sich jeder durch die Sprache der Person gestifteten oder vorausgesetzten Dichotomie entzieht« (Esposito 2007: 21, Dt. d. Ü.). Esposito zufolge ist es Foucault und Deleuze gelungen, das Unpersönliche nicht nur in eine Kraft umzuformen, die in der Lage ist, das Dispositiv der Person zu zerstören – oder zu »dekonstruieren« (Esposito 2007: 22) – sondern zudem in »die Form – oder eher den Inhalt – einer Praxis, die das Dasein verändert« (Esposito 2007: 22). Esposito nennt, ›das Leben‹ die Gestalt der dritten Person bei Foucault und Deleuze. »Für Foucault ist Leben […] jener biologische Teil, der niemals mit Subjektivität koinzidiert, weil letztere stets durch einen Prozess der Unterwerfung und Subjektivierung eingefangen wird und der Raum ist, der von der Macht belagert ist, ohne je von ihr besetzt zu werden, weshalb immer wieder neue Formen von Widerstand generiert werden« (Esposito 2007: 23, Dt. d. Ü.).

Wenn Foucaults Begriff des ›Widerstandes‹ – des Widerstands des Lebens gegen die Subjektivierung im unablässigen Druck auf das ›Äußere‹ – die unsichere Grundlage einer ›affirmativen Biopolitik‹ gegen zeitgenössische Macht bzw. Wissen (jedoch selbstverständlich nicht gegen die Wissenschaft als solche) werden kann, so hält Esposito die ›dritte Person‹ für den Schauplatz einer neuen politischen Praxis gegen bedrohliche Technopolitik, also eine affirmative und postsubjektive Technopolitik. Und Deleuzes Idee des ›Wesen-Werdens‹ »eröffnet den Gedanken des Unpersönlichen« nicht nur hin zu einer »Befreiung von der grundlegenden Prohibition unserer Zeit«, sondern auch zur »immerzu verheißenen, doch nie wirklich erfahrenen Wiedervereinigung von Form und Kraft, Modus und Substanz, bíos und zoé« (Esposito 2007: 24, Dt. d. Ü.), also zu einer erneuten Eindeutigkeit des Seins, in der, wie bei Agamben, Verlangen und Sein oder Sein und Denken deckungsgleich sind. Folglich sieht sich Esposito hinsichtlich einer künftigen Philosophie in der Tradition Deleuzes und Foucaults, die nun deutlich

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als Daseinsveränderung, als angewandte Politik der ›dritten Person‹ – die gleichzeitig eine affirmierende Politik des Impersonalen ist – umrissen ist. Hierbei geht es um ein Durchbrechen des theoretischen Zirkels der Person und ihrer originären Trennung oder Abspaltung vom Menschlichen gemäß einer Aufteilung in rational und triebhaft, Person und Sache, Subjekt und Objekt, Geist und Körper, Substanz und Modus und sogar Denken und Sein. Foucault und Deleuze sind nicht die einzigen Begleiter Espositos in diesem Streben nach Glückseligkeit. Doch was immer auf der Suche nach einer positiven Biopolitik unklar bleiben mag, muss man im Kontext der genealogischen Analyse lesen. Espositos erstes Kapitel postuliert ihren Anfang in der ›paradigmatischen Wende‹ mit ihrer Beeinträchtigung oder Infizierung der politischen Theologie des 19. Jahrhunderts durch die Biologie, insbesondere durch das Werk Xavier Bichats. Die zwei für unsere Betrachtungen relevantesten Beiträge Bichats können zum einen in der polemologischen Auffassung von Leben als Menge der dem Tod entgegenwirkenden Funktionen zusammengefasst werden: Das Maß für das Leben ist […] generell die Differenz zwischen der Kraft externer Mächte und dem internen Widerstand. Der Exzess des Ersteren bedeutet eine Schwäche des Lebens; die Vorherrschaft des Letzteren ist ein Indiz von dessen Stärke (Bichat, zit. n. Esposito 2007: 26, Dt. d. Ü.).

Zum anderen führt Bichat das Konzept zweier Leben oder eines Doppellebens ein, aufgeteilt in organisches Leben (vegetative Funktionen) und animalisches Leben (welches den Bezug zur Außenwelt steuert). Der Tod ist der Feind, dessen letztendlicher Sieg in der Überwindung des organischen Lebens besteht. Wie Esposito zeigt, hatte Bichats Arbeit im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte einen bedeutenden Einfluss auf die Auffassung der Beziehungen zwischen dem lebenden Subjekt und den Bedingungen für politische Praxis, und hat dazu beigetragen, dass sich Bio- und Technopolitik erhoben haben gegen die Grundgedanken der modernen politischen Theologie, inklusive moderner Demokratie. Tatsächlich haben die Grundvoraussetzungen letztgenannter, wie etwa der ›soziale Vertrag‹ zwischen Subjekten mit einem rationalen Willen und der Fähigkeit zum eigenständigen Handeln, einen zumindest vorübergehenden Einbruch auf der ideologischen Ebene erlitten, eben durch die sich ergebende Reduzierung im Konzept der Person: »Getrennt zwischen ›innerem‹ und ›äußerem‹, vegetativem und organischem Leben, ist Leben durch eine fremde Macht durchkreuzt, welche Instinkte, Emotionen, Begehren so bestimmt, dass diese nicht auf ein einziges Element zurückgeführt werden können. Es ist als würde ein Nicht-Mensch – etwas, was anders und der animalischen Natur selbst vorgängig ist – in den Menschen eingepfropft sein […] Ab diesem Moment wird die Funktion des Politischen – jetzt unabwendbar Biopolitik – nicht die Definition der Beziehungen zwischen Menschen sein, sondern vielmehr die Festlegung des genauen Punktes der Grenze

Das Schwindelgefühl des Lebens: Roberto Espositos Terza persona zwischen dem, was menschlich ist und dem, was innerhalb des Humanen selbst anders ist als menschlich« (Esposito 2007: 30, Dt. d. Ü.)

Die Biopolitik muss also in ihrem modernen Ansatz mit der Minderung der Person und des ontotheologischen Primats beginnen. Arthur Schopenhauer und Auguste Comte zählen zu den gedanklichen Vorreitern, die Bichats Meinung hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Auffassung des Politischen ernst nehmen. Es kann keinen Übergang vom Naturstaat zum Zivilstaat geben, solange der Mensch von seinem organischen Leben gelenkt wird. Aufgabe des Staates ist nicht länger das Hervorbringen von Freiheit, sondern vielmehr das Reich des Todes vom Inneren ins Äußere zu verlegen. Indem Comtes ›Biokratie‹ demos durch bíos ersetzt, rückt sie das Leben eines Organismus individueller oder kollektiver Natur in den Mittelpunkt der Politik, das nicht länger an Repräsentanz festhalten muss. Es geht hierbei ausschließlich um Selbsterhaltung. Es wird Aufgabe der Anthropologie, der Linguistik und schließlich des Rassendiskurses sein, die Konsequenzen zu beurteilen. Die Kraft des Lebens muss durch das Befolgen der Gesetze der organischen Evolution gestärkt werden, die nicht dem ›kategorischen Imperativ‹ gehorchen, sondern einer gänzlich anderen Logik folgen. Die Humanwissenschaften haben ihren Untersuchungsgegenstand von der Geschichte in die Natur verlegt (vgl. Esposito 2007: 45), was die Biopolitik auf eine Thanatopolitik zusteuern lässt, die durch die absolute Übermacht der ethnischen Gegebenheit definiert wird. Die Vermenschlichung des überlegenen Tieres stellt lediglich die Kehrseite der Animalisierung des unterlegenen Menschen dar (vgl. Esposito 2007: 65). Die jeweilige Gegensätzlichkeit von bíos und zoé hat ihre größte Ausdehnung im besonderen ›Humanismus‹ der nationalsozialistischen Anthropozoologie: »In keinem anderen Fall [.] werden bíos und zoé, nämlich Form des Lebens und formloses Leben, mit einer derartigen Distanz voneinander getrennt. Diese Distanz ist irreparabel, da sie sich über die direkte oder indirekte Beziehung zum Tod konstituiert: einerseits handelt es sich also um ein Leben, das so lebendig ist, dass es sich selbst als unsterblich deklarieren kann; andererseits um ein Leben, welches nicht länger als solches, sondern vielmehr als ›Existenz ohne Leben‹ bezeichnet werden kann […], da es von Anfang an durch den Tod kontaminiert und pervertiert ist.« (Esposito 2007: 71, Dt. d. Ü.).

Dadurch wurde der Mensch – reduziert auf seine Stellung in einem Vermächtnis aus Blut, Rasse, Spezies – zu lediglich dem, was nach der Zerschlagung der Person, welche die Französische Revolution tendenziell mit dem Bürger bedeutungsgleich gemacht hatte, übrig blieb. Die Maske war abgeschafft worden (vgl. Esposito 2007: 73). Die Erklärung der Menschenrechte von 1948 stellte den Versuch ihrer Rekonstruktion dar. Lag der Schwerpunkt der Erklärung von 1789 noch auf dem Gedanken der Bürgerrechte, wurden nun als Folge der radikalen Depersonalisierung nationalsozialistischer Thanatopolitik Würde und Wert der menschlichen

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Person verteidigt und ins Zentrum der rechtlichen und philosophischen Rekonstruierung der demokratischen Nachkriegskultur gerückt. Doch damit wurden zwangsläufig auch wieder die alten Dualismen – Maske und Gesicht, Abbild und Substanz, Fiktion und Realität (vgl. Esposito 2007: 92) – zurück ins Leben und in die Vorstellung von Leben gerufen. Eine Folge davon, die Person zum Subjekt von Rechten – Menschenrechten – zu ernennen, ist die Restituierung der Trennlinie zwischen Recht und Nicht-Person. Jedoch ist die Nicht-Person stets die andere Seite der Person und grundlegende Voraussetzung für selbige. Mit anderen Worten: Es existiert keine Person ohne die Nicht-Person, ebenso wenig wie eine Maske als solche ohne die Implikation der Gegenpräsenz eines Gesichtes erkannt werden kann, da keine Erscheinung ohne eine sie begründende Präsenz existieren kann und keine Fiktion – obschon lediglich imaginär – ohne eine ihr gegenübergestellte Realität im Hintergrund existiert. Schon Hannah Arendt hatte in ihrem Buch über den Totalitarismus einen grundlegenden Aspekt der aporetischen Struktur erkannt, welche die normative Gültigkeit der Menschenrechte in eine Kluft zu stoßen droht: »Das Recht erkennt nur diejenigen an, die durch eine ihnen gegebene Kategorie Zugang finden – Bürger, Untertanen, sogar Sklaven, insofern als sie Teil des politischen Gemeinwesens sind« (Esposito 2007: 87, Dt. d. Ü.). Doch diejenigen, die von der kategorialen Struktur ausgeschlossen sind – von der Struktur des Dazugehörens auf irgendeiner Ebene – können Zugang zum Recht nur dadurch erhalten, dass sie es brechen. Die Unterteilung in das nackte Menschliche und die Person als Rechtssubjekt ist immer noch wirksam. Diese beiden Elemente begegnen einander laut Esposito nur »in Form ihrer Unterscheidung« (Esposito 2007: 91). Espositos kurze Analyse der Hobbes’schen Inversion objektiver Rechte in eine subjektivistische Auffassung des Rechts ist bestimmend. Grundsätzlich scheint es, dass sobald das Individuum jenseits jedweder Unterschiede hinsichtlich seines sozialen Status als Träger eines rationalen Willens und gänzlich Herr seiner selbst und seines Besitzes gilt, die altrömische Unterscheidung zwischen Mensch und Person ihre Grundlage verlöre. Die Französische Revolution mit ihrem Gleichheitsprinzip hätte die altrömische Unterordnung des Subjekts gegenüber dem Recht begraben. Doch genau in diesem Moment tritt eine neue interne Unterscheidung in Erscheinung, welche die Kluft zwischen dem Individuum als politischem Subjekt und seinem undifferenzierten Menschsein auf einer anderen Ebene abbildet. Hobbes Idee einer ›künstlichen Person‹ im Sinne einer Person des Stellvertreters oder des Souveräns lässt bereits die Ausmaße dieser nicht verminderbaren Kluft in der politischen Struktur der Moderne erkennen. Der Souverän ist »der einzige Handlungsträger der Personalisierung, insofern als dass sich vor seiner Einsetzung niemand im eigentlichen Sinne als Person – weder natürliche noch künstliche – definieren kann, da im Naturzustand jeder mit seinem eigenen Leben und folglich auch Sterben übereinstimmt – d. h. die Transzendenz, die die notwendige Bedingung für eine Persönlichkeit darstellt, existiert noch nicht« (Esposito 2007: 104f., Dt. d. Ü.).

Das Schwindelgefühl des Lebens: Roberto Espositos Terza persona »Doch in dem Moment, in dem der Souverän als Handlungsträger der Personalisierung in Erscheinung tritt, entsteht auch seine Bedeutung für die universelle Depersonalisierung. Der ›soziale Vertrag‹, welcher den Akteur des Vertrags als Person bestimmt, stellt gleichzeitig seine Depersonalisierung dar. Souveränität zeichnet den Körper der natürlichen Person, indem sie »die Person zu dem macht, was keinen Körper mehr hat, und den Körper zu dem, was nicht mehr länger Person sein kann« (Esposito 2007: 107, Dt. d. Ü.).

Im Sinne von Sigmund Freuds Definition der Melancholie lässt sich sagen, dass der Schatten der Nicht-Person stets auf die Person gefallen ist. Das Dispositiv der Person folgt tatsächlich einem Paradigma der Melancholie, da sich die Person nie vollständig aus ihrer Schattenseite herauslösen kann, was ihren permanenten Ausnahmezustand ausmacht. Die unbegrenzten Auswirkungen dieses Phänomens auf die gegenwärtige Lebensweise bleiben weiterhin Untersuchungsgegenstand kritischer Analysen. Nazismus ist nicht länger unser unmittelbarer Feind in dem Sinne, als dass er uns nicht akut bedroht. Vielmehr reift heutzutage ein liberaler Tod heran, zwar noch als Nachhall des Römischen Rechts, aber unermesslich mächtig dank gegenwärtiger Technowissenschaft, durch ihren Anspruch auf das organische Leben und ihren zunehmenden Eingriff in menschliche Relationalität, wozu auch die Beziehung des Menschen zu den Tieren und zu seinem eigenen Körper zählt – dem Körper verstanden als etwas, was man ist, anstelle von etwas, was man hat. Esposito verweist auf Sachverhalte der Biotechnologie, immaterielle Güter und Patente hinsichtlich des pflanzlichen und animalischen Lebens. Diese Einsatzorte erweisen sich aus der Perspektive des Dispositivs der Person als gegenwärtige Einsatzorte der radikalen Struktur der Trennung im Kern selbst des Lebendigen, das sich als unfähig erwiesen hat, der fortschreitenden Verdinglichung des Lebens (vgl. Esposito 2007: 117) Einhalt zu gebieten. Die zeitgenössische Bioethik (Peter Singer und Hugo Engelhardt sind harter Kritik ausgesetzt) zögert nicht, auf der Animalisierung von Schwellenzonen des Menschlichen unter der Doppelbehauptung zu bestehen, dass »nicht jedes menschliche Wesen anstreben kann, als Person gezählt zu werden, und nicht jede Person […] ein menschliches Wesen [ist]« (Esposito 2007: 119, Dt. d. Ü.). Doch selbstverständlich sind dies nur Einzelbeispiele eines politischen Makroprozesses der Entmündigung, den die Ideologie der Person nicht nur nicht unterbindet, sondern gar begünstigt. In einer weiteren paradoxen Wendung ist es gerade die Behauptung, die Person sei Herr ihrer selbst und ihres Besitzes, die nicht nur so vielen unserer Mitmenschen ihre grundsätzliche Mündigkeit vorenthält (Singer nennt u. a. die Nicht-Personen, Quasi-Personen, Halb-Personen, Nicht-mehr-Personen und Anti-Personen), sondern die sogar fortwährend diejenigen von uns zu zerstören droht, die ansonsten sicher sind oder sich in den besten Momenten in ihrer personalen Verfassung für sicher halten. Espositos zentrale Behauptung, dass sich nämlich das gegenwärtige Dilemma nicht trotz, sondern vielmehr wegen der erdrückenden ideologischen Dominanz des Dispositivs der Person entwickelt hat, hat im Wesentlichen eines zur Folge: das Erfordernis einer

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Ausarbeitung eines alternativen Verständnisses, ohne welches kein ideologisches Bemühen erfolgreich sein kann. Der theoretische Zirkel muss durchbrochen werden.

G egen die S ubjek tivierung Der Denker Esposito führt als erste radikale Verfechterin einer Philosophie des Unpersönlichen selbstverständlich Simone Weil an, deren Werk sich bereits in den 1930ern gegen die personalistische Ideologie erhob, die von vielen Angehörigen der europäischen liberalen (und katholischen) Intelligenzija als Alternative zum Faschismus vorgeschlagen wurde. Simone Weil zufolge hängt die Person vom Kollektiv ab und Recht beruht auf Macht. So gesehen sind Weils Ansicht nach sowohl die Kategorie der Person als auch das Konzept von Rechten komplementäre Faktoren einer – von Esposito sogenannten – ›immunitären Verschiebung‹, deren Ziel der Schutz von Privilegien gegenüber den Ausgeschlossenen ist. Weil untersucht den Gedanken der Person aus der Perspektive des davon Ausgeschlossenen, ebenso wie sie auf die Rechte aus der Perspektive dessen schaut, was von den Rechten enteignet wird. Anders ausgedrückt ist das Recht so konzipiert, dass es die ›Person‹ vor der ›Nicht-Person‹ schützen soll, welche stets aus Sicht des Rechts zur ›Nicht-Person‹ ernannt wurde. So gestaltet sich die Verschiebung. Es kann kein allgemeines Recht der Person geben, da Recht immer Kennzeichen eines kommunitären Privilegs gegenüber dem Äußeren ist. Dementsprechend stellt für Weil die Kategorie der Person eine Kategorie der Unterordnung und Teilung dar, die durch einen radikalen Appell an das Unpersönliche bekämpft werden muss: »Was heilig ist, weit davon entfernt die Person zu sein, ist das, was im Menschen unpersönlich ist. Alles was im Menschen unpersönlich ist, ist heilig, und nur das«. (Weil, zit. n. Esposito 2007: 124).4 Der Übergang zum Impersonalen ist auch Weils Forderung an die Politik. Es ist ein Übergang zu einem Ort jenseits des ›Ich‹ und des ›Wir‹ und damit ein Übergang zur dritten Person, ins Namenlose oder Anonyme. Die tiefgreifende republikanische Frage ist tatsächlich pronominaler Natur. Sollen politische Gerechtigkeit und Freiheit durch die Bildung eines ›wir‹ oder durch den Übergang zum unpersönlichen ›sie‹ erzielt werden? Falls meine Freiheit die Freiheit aller darstellt, sollen diese alle durch die erste Person Plural oder die dritte Person Plural begriffen werden? Geht es bei politischer Freiheit um die Gemeinschaft oder um die Menge? Genau um die Zeit, in der sich Weil mit diesen Gedanken auseinandersetzte, verbrachte sie während des Bürgerkriegs einige Monate in Aragon nahe der Front. 4 | Esposito bezieht sich auf Simone Weils Aufsatz »La personne et le sacré« (vgl. Weil 1957), in: Ecrits de Londres et dernière lettre, Paris 1957, (vgl. Esposito 2004: 36ff.), (Anmerkung der Herausgeberin).

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Wäre sie in der Lage gewesen, auf die andere oder antirepublikanische Seite jenseits der Schützengräben zu blicken, hätte sie möglicherweise einige Frauen mit auf blauen Hemden gestickten ›Y‹s gesehen, die Angehörige der von Pilar Primo de Rivera gegründeten, spanischen, falangistischen Frauenorganisation Sección Femenina waren. Bei Paul Preston heißt es: »The symbol of the Sección Femenina was the letter Y, and its principal decoration was a medal forged in the form of a Y, in gold, silver, or red enamel according to the degree of heroism or sacrifice being rewarded. The Y was the first letter of the name of Isabel of Castille, as written in the fifteenth century, and also the first letter of the word yugo (yoke) which was part of the Falangist emblem of the yoke and arrows. With specific connotations of a glorious imperial past and more generalized ones of servitude, as well as of unity, it was a significant choice of symbol.« (Preston 1999: 129)

Man stelle sich also vor, man sei eine Frau, habe sich aber in einer Liebeserklärung der Phalanx als Person untergeordnet. Die Entscheidung für die Phalanx beruht auf persönlicher Freiheit, jedoch ist diese Freiheit in erster Linie eine imperiale, da sie an einen Pfad der Herrschaft über andere, der Nicht-Phalangisten, bindet; zudem handelt es sich auch um imperiale Freiheit in dem Sinne, als dass man sich seinem eigenen Beherrschtwerden, seiner eigenen Dienstbarkeit verpflichtet. Man entscheidet sich für eine Kollektivität, die einen nicht aus den Augen lässt. Es war die Pflicht der Angehörigen der Sección Femenina, dem Mann zu dienen, den Männern des Vaterlands, jenen Faschisten, die man liebte. Liefert uns Pilar Primo de Rivera – und mit ihr all ihre Mitstreiter, die das Y-Symbol erdacht haben, um die freiwillige Teilnahme spanischer Frauen an der Nationalbewegung zu versinnbildlichen – die Bedingungen für die Möglichkeit jedweder politischer Unterordnung? Wie wird man – im politischen Sinne – eine Person? Die Gemeinschaft des ›Wir‹ ist stets das ›Y‹ auf jemandes eigener Schulter. Der Übergang zum Impersonalen ist die Ablehnung des ›Y‹. Die unheimliche Entscheidung für den Frieden aller, den Frieden der dritten Person Plural, ist eine Entscheidung, die abseits von und sogar entgegen politischer Unterordnung bzw. Subjektivierung getroffen werden muss. Es ist eine treibende Entscheidung, da sie sich jeder Ausrichtung verweigert, die außerhalb ihrer selbst, ihrer eigenen Geste, liegt. Sie enthält kein Kalkül, keine Teleologie, kein Programm. Sie ist selten – seltener als das Hervortreten des Subjekts selbst, was jedes Mal geschieht, wenn eine freie Entscheidung für die Gemeinschaft vorliegt. Sie liegt außerhalb jedes Moralismus (da sie nie auf persönlichen Vorteil abzielt). Es ist an der Zeit, das Impersonale wieder zum Mittelpunkt des Politischen zu machen. Allenthalben begegnet man Definitionen des Politischen, die politische Unterordnung als Zielgedanken voraussetzen. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich politische Unterordnung in jedem politischen Prozess vollzieht. Jedoch tritt politische Unterordnung stets als Funktion der Herrschaftsgeschichte auf. Der Übergang

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zum Impersonalen stellt den Versuch dar, eine Politik der kontrakommunitaristischen Geschichte des Sächlichen hervorzubringen. In seinem dritten und letzten Kapitel knüpft Esposito an eine Reihe von Denkern an, die sich an dieser Aufgabe versucht haben. Ich konzentriere mich im Folgenden auf seinen Kommentar zu Emmanuel Lévinas und Maurice Blanchot und lasse die Anmerkungen zu Vladimir Jankélévitch und Alexandre Kojève sowie die umfangreiche Betrachtung der Überlegungen Foucaults und Deleuzes, welche Esposito in diesem Kapitel präsentiert, außer Acht.

G egengemeinschaf t Benvenistes Abhandlung über die dritte Person ist insofern von zentraler Bedeutung, als dass er Esposito zufolge die grammatikalischen Grundlagen für die Möglichkeit der Entwicklung einer nachhaltigen Überlegung bezüglich des Nicht-Subjekts als einzig (logisch) möglicher Überlegung bezüglich der Alterität liefert: »Trotz aller Rhetorik über die Exzesse des Anderen, kann [die Alterität] nur in der Gegenüberstellung zwischen beiden Konzepten und stets in Beziehung zum Ich verstanden werden. Es ist die andere Seite und dessen Schatten« (Esposito 2007: 129, Dt. d. Ü.).

Selbst im Falle einer Depersonalisierung des Du durch das ihm gegenübergestellte Ich blickt letzteres seiner eigenen Depersonalisierung entgegen, sobald die Positionen vertauscht sind: Das Du reagiert stets. Die dritte Person entfernt sich von der Beziehung zwischen ›subjektiver Person‹ und ›nicht-subjektiver Person‹, indem sie die Möglichkeit einer Nicht-Person einräumt: »Die ›dritte Person‹ ist keine Person; es handelt sich vielmehr um die verbale Form, welche die Funktion hat, die Nicht-Person zum Ausdruck zu bringen« (Benveniste, zit. n. Esposito 2007: 131, Dt. d. Ü.). Die dritte Person – jenseits des Ich und des Du – verweist stets auf das Nichtvorhandensein des Subjekts, auch wenn sie gleichzeitig auf potenzielle Subjekte referieren kann. Sie ist konstitutiv impersonal und kann gerade deswegen im Plural stehen: »Nur die ›dritte Person‹ als Nicht-Person lässt einen wahren Plural zu« (Benveniste, zit. n. Esposito 2007: 132, Dt. d. Ü.). Von diesem Standpunkt aus betrachtet bietet sich eine Interpretation der Überlegungen Lévinas’ an, nicht als Denker der ›dritten Person‹, sondern als Denker, der sich nicht dazu überwinden konnte, seine eigene Radikalität darzustellen. Für gewöhnlich halten wir Lévinas’ face-to-face für das klassische Beispiel seiner philosophischen oder antiphilosophischen Position. Espositos Interpretation zeigt sehr genau die grundsätzliche Unmöglichkeit der Naht der zweiten Person in Lévinas’ Gedankengang – eine Tatsache, die Lévinas selbstverständlich erkannt hatte und gleichzeitig unbehandelt ließ.

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Esposito bemerkt, dass das Problem der ›dritten Person‹ für Lévinas sowohl »der theoretische Abgrund als auch der Punkt einer inneren Krise« (Esposito 2007: 146, Dt. d. Ü.) seiner Überlegung ist. Jedoch versteht Lévinas die Ursprünglichkeit des Antlitzes als Abdruck eines Bedeutungsfeldes, das jedwede Binärbeziehung durchtrennt: »Das Jenseits, aus dem das Antlitz hervortritt, ist die dritte Person« (Levinas, zit. n. Esposito 2007: 146, Dt. d. Ü.). Dieses Jenseits, welches bei Lévinas für ein ›jenseits oder anders als Sein‹5 steht, bedeutet daher auch ›jenseits der Transzendenz‹ oder ›neben der Transzendenz‹. Dies jedoch ist das Hauptproblem. Indem sie die ›dritte Person‹ als das Jenseits oder das Anderswo des Antlitzes identifiziert, lässt Lévinas’ Überlegung eine Undenkbarkeit zu, deren Schlüsselposition an der Grenze der Denkweise des zwanzigsten Jahrhunderts nur zu ihrer Dringlichkeit beiträgt. Es ist das Problem, zwar nicht des Impersonalen selbst, wohl aber seines Transfers in die Politik: Der Punkt oder die Grenze, von dem/der an Politik nicht länger als in eine dialogische Struktur eingefasst betrachtet werden sollte, ist auch der Punkt, an dem die Politik auf ihr allzu menschliches Gesicht zugunsten einer Dimension verzichtet. Eine Politik, die in der Lage ist, vom Jenseits und Abseits der dritten Person und ihrer unbegrenzten Mehrzahl das zu beeinflussen, was Blanchot mangels einer geeigneteren Bezeichnung das Sächliche nennt. Ebenso wie Sprache »dort gesprochen wird, wo Gemeinsamkeit zwischen den Teilen einer Beziehung fehlt« (Lévinas, zit. n. Esposito 2007: 147, Dt. d. Ü.), gliedert sich eine kontrakommunitaristische Politik nicht länger in Aspekte wie Freundschaft oder Feindschaft – beides Aspekte der zwischenmenschlichen Beziehung. Die Biopolitik gerät in der gescheiterten Dialogik der Subjekt/Objekt-Beziehung an ihre Grenzen: Es handelt sich um die tendenzielle Anwendung von Techniken auf das Leben (und damit eine Technopolitik, jedoch nicht die einzig denkbare), mit dem Zweck einer Verwaltung des Lebens, in der das Leben an die Stelle des Objekts tritt. Die Praxis der Biopolitik, welche stets dem ›Dispositiv der Person‹ nachempfunden ist, ist eine Praxis des Herrensubjekts über und gegen das es konstituierende Objekt, welches dadurch, dass es das Subjekt konstituiert, die Rolle eines internen Gesprächspartners einnimmt. Wenn der Zweck der Biopolitik darin besteht, das Leben – im Sinne des vegetativen wie auch animalischen Lebens – mit dem Subjekt in Einklang zu bringen, sollte es offensichtlich sein, dass keine positive oder affirmative Biopolitik genügt (jede Form von Biopolitik ist affirmativ, selbst die nationalsozialistische Thanatopolitik ist nichts anderes, als die dunkle Seite einer wesentlichen Affirmation, was Esposito u. U. nicht einzuräumen bereit wäre). Eine radikale Politik der dritten Person, folglich jenseits oder abseits der Person, also auch antibiopolitisch, hat ihren Anfang in dem von Lévinas dargestellten Problem, seinem theoretischen Vortex und dem Punkt der 5  |  Das Englische »beyond being« im Originaltext bezieht sich auf das zweite grundlegende Buch von Lévinas Jenseits des Seins oder anders als Sein (Lévinas 1996), (Anm. der Herausgeberin).

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inneren Krise, welche wir an dieser Stelle nur unter Verwendung der von Esposito gegebenen Anhaltspunkte erläutern können. Wenn das Andere über grundlegende Vorrangigkeit verfügen sollte, können das Ich und das Du nicht zueinanderfinden – das Antlitz taucht aus einem Raum radikaler Trennung auf, anderenfalls würde das Du nur zu einem anderen Aspekt des Ich werden. Das Andere ist nicht lediglich eine Falte in einem kommunitaristischen Kontinuum, sondern das auffälligste Kennzeichen eines grundlegenden Mangels an Gemeinschaft und demzufolge das Auftun6 einer radikalen Disymmetrie. Wenn das Subjekt in der Lévinas’schen Überlegung enteignet wird, so geschieht dies, da der Bedarf des Anderen aus einem für die Gemeinschaft unzureichenden Raum heraus Druck ausübt. Die Erfahrung des Du (hier nicht als das Du gemäß geläufiger linguistischer Konvention, sondern als das auf ›uns‹ in Form eines Antlitzes Zukommende radikal zu verstehen) ist in diesem Fall gleichzeitig die Erfahrung dessen, was nie auf ein Du reduzierbar ist: eine Erfahrung der ›dritten Person‹ oder dessen, was Lévinas ›Illeität‹ nennt. Das, was das Jenseits oder Anderswo des Antlitzes des Anderen ist, sinnlich zu erfahren, heißt gleichzeitig, mit der ›dritten Person‹ in Berührung zu kommen. Jedoch schwindet die ›dritte Person‹ und scheint nur in Form ihres Nichtvorhandenseins aufzutreten. In Lévinas’ frühen Werken kennzeichnet sie eine negative Erfahrung, die auf Gott als das Unerreichbare bezogen werden könnte. Doch heißt es später bei Lévinas: »Die Nähe wird gestört und entwickelt sich zum Problem, sobald das Dritte hinzukommt« (Lévinas, zit. n. Esposito 2007: 149, Dt. d. Ü.). Das Dritte stellt ein Problem dar: Zurückweichen macht die Nähe zunichte und Nähe ist nicht länger ausreichend. Von Lévinas’ Kritikern wird häufig übergangen, dass gestörte Nähe und nicht der moralische Bezug der Schauplatz der Politik ist, was bedeutet, dass Politik den Raum beschreibt, der sich in der und durch die Unmöglichkeit einer Gemeinschaft auftut, im Riss des unmittelbaren ethischen Bezugs. Durch eben diese Spannung zwischen Nähe und ihrem Zerreißen (gleichzeitig der Rausch der Nähe) oder durch den Widerstand gegen diese Spannung (wenn das Subjekt Geisel des Anderen bleibt) erscheint Gerechtigkeit als Horizont des Politischen infolge des Scheiterns des moralischen Bezugs. Sie etabliert sich als geschlossen oder als einziger Horizont. Dies gestaltet die Politik als unvereinbaren Widerspruch zwischen der unermesslichen moralischen Verantwortung für das einzigartige Andere, was der Universalität des Rechts drastische Grenzen setzt, und dem ebenso unermesslichen Bedarf nach Gerechtigkeit, was eine Einschränkung moralischer Verantwortung bedeutet. Politik stellt für Lévinas das instabile Bezugsfeld dar, das kraft des theoretischen Vortex geschaffen wurde, welcher Gerechtigkeit als ein der Störung der Nähe entspringendes Bedürfnis und Ethik als ein Bedürfnis, welches durch das Antlitz des Anderen auferlegt wird, gleichermaßen bedingungslos macht. Esposito nennt dies einen 6 | ›Auftun‹ im doppelten Sinne eines ›opening to/of‹, also eines ›Sich-einer-radikalen-Disymmetrie-Öffnens‹ und eines ›Öffnens einer radikalen Disymmetrie‹ (Anm. d. Ü.).

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Konflikt zwischen »Befangenheit und Gleichheit«, der, wie er behauptet, »die Sprache der Person […] zur Form des Impersonalen« (Esposito 2007: 152, Dt. d. Ü.) umkehrt. Das Hinzukommen des Impersonalen bleibt ein Problem, da dadurch das Subjekt aufgelöst wird: Nicht einmal als Geisel kann es eine Quelle der Handlungsmacht bleiben. Diesbezüglich hat Lévinas nur wenige Anhaltspunkte gegeben. Esposito zufolge war es Blanchot, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Lévinas’schen Aspekt der Krise in das Verstehen des Sächlichen auszuführen, »der Feindschaft, oder zumindest dem Unverständnis, der gesamten philosophischen Tradition zum Trotz« (Esposito 2007: 156s., Dt. d. Ü.). Blanchot erwähnt eine ›Beziehung der dritten Art‹, in der gerade das Verhängnis jeder Dialektik, jeder Dialogik, liegt, da die Beziehung, die Reziprozität unterbricht und somit die Nicht-Beziehung eröffnet. Das Sächliche ist eine nicht-persönliche Alterität, für die Blanchot die Bezeichnung ›impersonal‹ als unzureichend ablehnt (da ›impersonal‹ grammatikalisch immer noch den Gedanken der Person impliziert). Blanchot sucht nach einem Bruch des semantischen Feldes, der es jenem nicht gestattet, sich gemäß der üblichen Kategorien von Wesen und Nichts, Vorhandensein und Nichtvorhandensein, intern und extern neu zu gestalten. Die dritte Beschaffenheit ist die Beschaffenheit, die in keine Beschaffenheit einfließt. Das Sächliche ist damit ein Wort zu viel, was Esposito mit Lévinas’ Konzept des il y a verbindet, wie es in De l’évasion und De l’existence à l’existant entwickelt wurde. Jedoch stellt für Blanchot das Sächliche in erster Linie nicht einen Ort existentiellen Schreckens dar; als unvermeidbarer und vorbestimmter Ort der Existenz handelt es sich vielmehr um die »extreme Möglichkeit« des Gedankens (Esposito 2007: 159, Dt. d. Ü.). Was wäre wohl seine politische Manifestation? Eine Politik des Sächlichen ist eine Politik der ›dritten Person‹ im bereits aufgeführten Sinne: eine unpersönliche Politik des singulären Plurals, eine kontrakommunitaristische Politik des sie. Espositos Behauptung zufolge konnten nur Foucault und Deleuze Blanchots Vorhaben weiterentwickeln. Dies entsprach auch der Überzeugung Giorgio Agambens. Wie oben erläutert besteht für Agamben die aktive Kategorie im Programm einer künftigen Philosophie in der Kategorie des Lebens. Esposito verbindet die Entwicklung der Kategorie des Lebens in den späteren Überlegungen Foucaults und Deleuzes mit dem elementaren Nietzscheanismus beider Philosophen – mit ihrer Schwerpunktsetzung auf dem Konzept der ›Kraft‹, welche in Zusammenhang mit einem irreduziblen und unzähmbaren Äußeren gebracht wird, das allerdings – aufgrund seiner radikalen Univozität – ebenso unser intimstes Inneres ist. »Was macht uns aus – jenseits unserer oder noch vor unseren Personen –, ohne dass wir je davon Besitz ergriffen? Was, wenn nicht das Leben selbst, durchkreuzt und bedient uns bis zum Punkt, an dem es sein eigenes Innerstes nach außen kehrt?« (Esposito 2007: 168, Dt. d. Ü.).

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Macht, ebenfalls durch das Leben gegeben – soweit, dass sie sich gegen den Menschen richtet –, gibt sich nicht mit der Person als Rechtssubjekt zufrieden, sondern muss notwendigerweise die Grenzen der Person, also den Tod, überschreiten, bis sie das Leben selbst erfasst. Das Leben als Macht sperrt sich selbst ein, aber gleichzeitig übersteigt das Leben sich selbst als Kraft jenseits der Macht. Darin besteht für Esposito die Möglichkeit einer »affirmativen Biopolitik« (Esposito 2007: 170, Dt. d. Ü.), die er mit der Möglichkeit einer jenseits der Person liegenden, »singulären und impersonalen« (Esposito 2007: 171, Dt. d. Ü.) Gemeinschaft gleichsetzt. »Das Leben selbst […] legt den Begriff fest, mit dem die Ganzheit der Theorie des Impersonalen zusammengefasst und auf eine noch unbestimmte aber gerade daher mit unausgedrückter Potentialität angefüllte Ausgestaltung projiziert zu werden scheint« (Esposito 2007: 179, Dt. d. Ü.).

Eine Politik des Sächlichen wird bei Esposito durch das Konzept eines ›impersonalen‹ Lebens – ja, gar einer Biopolitik des ›impersonalen‹ Lebens – ausgedrückt, das zwangsläufig durch das Anzapfen seiner unausgedrückten Potentialität nicht nur jenseits »des gesamten gedanklichen Apparats der modernen politischen Philosophie« (Esposito 2007: 179, Dt. d. Ü.), sondern hin zu einer neuen ›impersonalen‹ und singulären Gemeinschaft führen muss: einer Gemeinschaft der Glückseligkeit, womit letzten Endes die Glückseligkeit des Tieres gemeint ist, das Ziel des Deleuze’schen ›gehörenden Tieres‹ (animal belonging, Anm. d. Ü.), welches auf den letzten Seiten von Espositos Buch volle Anerkennung erhält. Obschon ich Espositos dekonstruktive Analyse des Dispositivs der Person beipflichte, habe ich bereits meinen Einwänden in Form eines Vorbehalts gegenüber der Möglichkeit einer ›affirmativen‹ Biopolitik Ausdruck verliehen, welche letztendlich die metaphysische Trennung zwischen homo und persona, also auch zwischen Person und Tier aufheben soll. Agambens Das Offene teilt widerspruchslos viele von Espositos Erkenntnissen und erhöht die Debatte auf ein differenzierteres Verständnis des politischen Auftrags zumindest auf theoretischer Ebene.

D ie S chwelle der K ritik Oberflächlich betrachtet bemüht sich Agambens Das Offene um eine Versöhnung »des Menschen mit seiner ›tierischen Wesensart‹« (Agamben 2003: 13). Sein Ausgangspunkt wurde ebenfalls von Esposito behandelt: Es handelt sich um Kojèves anregende Überlegungen bezüglich der »Gestalt, die Mensch und Natur in einer posthistorischen Welt annähmen, wenn der langmütige Prozess der Arbeit und Negierung, durch den das Tier der Gattung Homo sapiens Mensch wurde, seinen Abschluss fände« (Agamben 2004: 6, Dt. d. Ü.). Wenn der Abbau der Tierhaftigkeit des Menschen als Versinnbildlichung des humanistischen Vorhabens bis hi-

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nunter zum hegelianischen System verstanden werden kann, so gilt für Agamben in seiner Erläuterung oder Rezension Kojèves: »Vielleicht ist es der Körper des anthropophoren Tieres (der Körper des Dieners) jener uneingelöste Rest, den der Idealismus dem Denken überläßt, und vielleicht koinzidieren die Aporien der heutigen Philosophie mit den Aporien dieses Körpers, der irreduzibel gespannt und geteilt ist zwischen Animalität und Humanität.« (Agamben 2003: 22).

Der Körper des Sklaven – Homo tantum. Man könnte das Vorhaben von Das Offene deuten als die Problematik der Versöhnung des Homo tantum mit der ›Physiologie des gesegneten Lebens‹, die ein erhobener Körper – der posthistorische Körper – verordnen wollen würde. Es handelt sich daher um eine Problematik der Glückseligkeit, welche – bei Agamben ausdrücklich – eschatologischer Horizont und somit die Ausrichtung einer unpersönlichen Politik des Was-auch-immer bleibt. Wir sind zurück an der Schwelle der Kritik, die der Lévinas’schen nicht ganz unähnlich ist. War Lévinas’ Meinung nach die Schwelle durch die unvereinbare Unbedingtheit des Verlangens nach Gerechtigkeit oder Gleichheit durch die ›dritte Person‹ und dem Verlangen nach grundlegendem Vorrang, nach Befangenheit durch das jeweilige Andere festgelegt, so bezeichnet die Schwelle bei Agamben auch eine politische Schwelle, also eine Schwelle, durch die eine Politik bestimmt wird. Es handelt sich um die gestörte Trennung zwischen Tier und Mensch: Sie ist ebenfalls eine Störung in der Nähe, die für die westliche Metaphysik scheinbar irreduzibel ist, welche die technopolitische Wende allerdings bedenkenlos abtun mag. Agamben definiert die ›anthropologische Maschine‹ des Humanismus u. a. auf Grundlage Picos und Linnés als einen ›ironischen Apparat‹, der die menschliche Natur eben als ein Nichtvorhandensein zu betrachten habe (vgl. Agamben 2003: 39). Gefangen in einem nicht enden wollenden Spiel spiegelnden Verkennens und Projektion richtet der Mensch letztendlich eine ›Zone der Unbestimmtheit‹ ein: »[D]iese Zone [ist] wie jeder Ausnahmeraum völlig leer, und das wahrhaft Humane, das sich hier ereignen sollte, ist lediglich der Ort einer ständigen erneuerten Entscheidung, in der die Zäsuren und ihre Zusammenfügung stets von neuem verortet und verschoben werden. Was auf diese Weise erreicht werden sollte, ist jedenfalls weder ein tierisches noch ein menschliches Leben, sondern bloß ein von sich selbst abgetrenntes und ausgeschlossenes Leben – bloß ein nacktes Leben« (Agamben 2003: S. 48).

Ziel einer der Gegenwart angemessenen politischen Praxis wäre auf seiner positiven Seite das Fördern von Glückseligkeit, auf seiner negativen oder kritischen Seite hingegen die Zerstörung des Ausnahmeraums, also das Zerlegen des Apparats für die Produktion von ›nacktem Leben‹. Dabei handelt es sich immer noch um eine foucault’sche oder deleuz’sche – also letzten Endes Nietzscheanische – Poli-

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tik des Lebens, welche einer Aufteilung der Kraft in aktive und reaktive Elemente um ersterer willen bedarf. Die aktive Kraft der Glückseligkeit steht der reaktiven Kraft des Irrtums gegenüber, nicht in der Art, in der die Wahrheit der Falschheit gegenüber steht – da Wahrheit nur als die andere Seite des Irrtums und somit immer noch auf der Seite der reaktiven Kraft erscheinen kann –, sondern vielmehr als etwas Tieferes oder Höheres: als eine benjaminische oder in jedem Fall nichtnietzscheanische Eschatologie. Schon an früherer Stelle in seinem Buch schreibt Agamben: »Und womöglich hängt selbst die lichtvollste Sphäre der Beziehungen mit dem Göttlichen in irgendeiner Weise von jener Sphäre – der dunkelsten – ab, die uns vom Tier trennt« (Agamben 2003: 26). Die zweite Hälfte des Buches Das Offene widmet sich fast gänzlich einer einseitigen Analyse von Martin Heideggers Seminar Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit aus den Jahren 1929-30. In seinem bereits besprochenen Aufsatz aus dem Jahr 1996 hatte Agamben Heidegger einen Platz im Zentrum der geistigen Genealogie eingeräumt, die an ihrem einen Ende (dem Ende der Transzendenz) Immanuel Kant und Edmund Husserl, an ihrem anderen Ende (dem der Immanenz) Baruch Spinoza und Friedrich Nietzsche umfasst und die zu einer Opposition von Lévinas und Derrida auf der einen und von Deleuze und Foucault auf der anderen Seite führte. Heideggers Entwürfe seien Agamben zufolge die ersten Gebilde des neuen postbewussten und postsubjektiven, impersonalen und nicht-individuellen transzendenten Raumes, den Deleuzes Gedankengut seinem Jahrhundert hinterlässt (vgl. Agamben 1999: 225, 239). Die Rückbesinnung auf Heidegger verfolgt die Entstehung einer politischen Philosophie des Impersonalen zurück. Doch steht wirklich fest, dass der durch Foucault und Deleuze auf der Seite der Immanenz abgesteckte Pfad Lévinas und Derrida als Epigonen ontotheologischen Denkens und somit als Mitverantwortliche für die Aufstellung oder Fortsetzung des Apparats des ›nackten Lebens‹ ausklammert? Wenn Agambens Genealogie funktionieren soll – und ganz offensichtlich lässt Esposito dies glaubwürdig erscheinen – müssten wir Lévinas und Derrida als Philosophen der Macht des Lebens gegenüber dem Leben ansehen, als reaktive Denker, die außerstande sind, die Sphäre des Sächlichen zu erreichen. Doch es gibt nichts, das fragwürdiger wäre, wie ich (ebenso wie Esposito) im Hinblick auf Lévinas aufzuzeigen versucht habe. Die zentrale Bedeutung von Agambens Lektüre von Martin Heideggers Seminar aus den Jahren 1929-30 liegt in Agambens Verknüpfung von Heideggers Begriff des Lebens und der Deleuze’schen Glückseligkeit (die gegen Ende des Buches Das Offene mit Benjamins Bild einer versöhnten Natur, einer »geretteten Nacht« (vgl. Agamben 2003: 91) verschmilzt mit Heideggers Langeweile als Grundstimmung. Mehr als eine flüchtige Darstellung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, allerdings scheint es Agamben durch Heidegger zu gelingen, Espositos Kritik der Ideologie der Person und sein Vorhaben einer Politik des Impersonalen auf fruchtbaren anwendungsorientierten Boden fallen zu lassen. Agamben setzt die Auffassung von Leben in Sein und Zeit, welche das WeltEndlichkeit-Einsamkeit-Seminar zu erklären versucht, in direkten Bezug zu gegen-

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wärtigen biologischen und zoologischen Arbeiten: Hans Driesch, Karl von Baer, Johannes Mueller und Jakob von Uexküll werden genannt (vgl. Agamben 2003: 59). Die grundlegende Erkenntnis Heideggers – bereits in Sein und Zeit – ist, dass »die Ontologie des Lebens […] sich auf dem Wege einer privativen Interpretation [vollzieht]« (Heidegger, zit. nach Agamben 2003: 58), wobei entziehend im Sinne einer Subtraktion und Reduktion auf nackte Greif barkeit zu verstehen ist. Die Auffassung eines traditionell weitergegebenen Lebens ist daher gänzlich anthropozentrisch. Das Seminar aus den Jahren 1929-30 führt zurück zur Kluft und zu der eigentümlichen Nähe zwischen Dasein und Tieren gegenüber einer Sphäre, in der animalitas buchstäblich fremd wird und als das erscheint, »was am Schwersten zu denken ist« und humanitas ebenfalls »als etwas Unbegreif bares und Abwesendes« erscheint, »schwebend zwischen einem ›Nicht-bleiben-Können‹ und einem ›Den-Platz-nicht-aufgeben-Können‹« (Agamben 2003: 59). Nehmen wir an, dass »das Tier seinem Wesen nach in einer Umgebung sich benimmt, aber nie in einer Welt« (Heidegger zit. n. Agamben 2003: 60) verhält, so ist dies Heidegger zufolge so, da Tiere und Menschen einen unterschiedlichen Bezug zum Offenen haben. Tiere sind ›offen in einer Nicht-Entbergung‹, d. h. sie werden von dem gefangen genommen, was sie herbeiruft.7 Angenommen die Offenheit der Menschen gegenüber der Welt ist in erster Linie eine Offenheit gegenüber dem Wahrheitskonflikt, also dem Konflikt zwischen Verbergung und Entbergung, so folgt daraus, dass »die Offenheit der menschlichen Welt […] nur mittels einer auf das Nicht-Offene der Tierwelt gewirkte Handlung verwirklicht werden kann« (Agamben 2003: 71). Langeweile ist der Ort dieser Handlung, was Langeweile, die Verlassenheit in Leere, sogleich zum wesentlichen erkennbaren Bindemittel in der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier macht. Anders ausgedrückt ist Langeweile der Schlüssel zum Verstehen des Unterschiedes zwischen Umgebung und Welt. »Das Dasein ist, indem es sich langweilt, an etwas ausgeliefert, das sich ihm versagt, genau wie das Tier in seiner Benommenheit in etwas Nicht-Offenbartes hinausgesetzt ist. […] Beide sind [Tier und Mensch] in ihrem eigensten Gestus auf eine Schließung hin offen, gänzlich einem sich Versagenden ausgeliefert.« (Agamben 2003: 74).

7 | Nach Heideggers Terminologie würde diese These lauten: »das Wesen des Tieres ist vom Enthemmenden eingenommen« (Heidegger zit. n. Agamben 2003: 60), »Offensein in der Benommenheit ist wesenhafte Habe des Tieres […] ein Haben des Enthemmenden« (Heidegger zit. n. Agamben 2003: 64). So etwa die Erklärung der »Weltarmut« des Tieres ausgehend von der Etymologie von Benommenheit und deren Verwandtschaft mit den Begriffen benommen, eingenommen, Benehmen (Heidegger zit. n. Agamben 2003: 60). (Anmerkung der Herausgeberin)

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Die lethe (Verbergung) ist Grundbestandteil der Entbergung der aletheia als Wahrheit. Der Übergang von Umgebung zu Welt unterbricht das Gefangensein (die Benommenheit) des Tieres, woraus sich sogleich auch folgendes ergibt: »Das Offene – ›Frei-vom-Sein‹ – bezeichnet nichts radikal anderes als das Weder-offennoch-geschlossen der animalischen Umwelt: Es ist die Erscheinung eines Nicht-Offenbarten als solchen, die Aufhebung und das Begreifen des Die-Lerche-nicht-das-Offene-Sehens« (Agamben 2003: 77).

Dies lässt in einer Struktur wechselseitiger Zugehörigkeit die Zäsur zwischen Tieren und Menschen entstehen: Der Wahrheitskonflikt, das ursprüngliche und fortwährende Ringen zwischen Verbergung und Entbergung, entwickelt sich nun zum ursprünglichen und fortwährenden Ringen zwischen Umgebung und Welt, zwischen Tieren und Menschen. Und »das Dasein ist einfach ein Tier, das gelernt hat, sich zu langweilen, das aus der eigenen Benommenheit in die eigene Benommenheit erwacht ist« (Agamben 2003: 79). Dieses Erwachen (ein Erwachen in eine Geschlossenheit) stellt das Sich-Erheben des Menschen dar, was den Menschen nicht nur zum Ergebnis, sondern zur endlosen Inszenierung des Erwachens macht, was wiederum gleichzeitig – wie in der Langeweile oder im Ringen um die Wahrheit – die endlose Aufschiebung des Erwachens ist. Dies ist tatsächlich der Beginn der Politik, selbst der Politik für ein technopolitisches Zeitalter: Politik als Erwachen, Politik als die Verfolgung eines Weges der Unverborgenheit entgegen dem grundlegenden Verschluss des Möglichen: »Das ontologische Paradigma der Wahrheit als Konflikt zwischen Verborgenheit und Unverborgenheit ist bei Heidegger unmittelbar und ursprünglich ein politisches Paradigma. Nur weil sich der Mensch wesentlich in der Öffnung auf eine Schließung hin ereignet, sind so etwas wie eine pólis und eine Politik möglich.« (Agamben 2003: 82f.)

Aber die Möglichkeit einer Politik allein bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie gut ist. Heidegger selbst betrieb, was er für eine gute Politik hinsichtlich der Rekonstitution der Gemeinschaft entlang der Erschaffung eines Wir hielt. Einige Jahre lang war er der Ansicht, eine Personalisierung der politischen Möglichkeiten der Wahrheit sei nicht nur denkbar, sondern tatsächlich historisch bestimmt, bezogen auf die eigentlichen Möglichkeiten des deutschen Volkes. Gleichzeitig – und sogar während er blind oder durch seine eigene Hingenommenheit benommen war8 – warnte er vor einem erneuten Schritt des Bösen, welchen er mit

8  |  Der von Moreiras referierte Text Agambens bezieht sich auf Heideggers Anverwandlung der Thesen eines Schülers von Uexküll aus dessen Bienenexperiment als anschauliches Beispiel die Benommenheit des Tieres resultiert. Diese habe mit dem »triebhaften Hin-zu« des Tieres gegenüber der Umgebung, d. h. mit der Hingenommenheit in der »Getriebenheit« zu

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dem Schicksal des gesamten Westens unter metaphysischen Aspekten verband: die Rückkehr des Nichtauf brechens unter der Herrschaft der Technologie. Das Erkennen einer neuen Begriffsbildung des Politischen, die es völlig abhängig vom Kampf des Menschen gegen die Tierhaftigkeit macht, oder anders ausgedrückt: Wenn wir von Heideggers Perspektive aus sehen können, dass Politik stets bereits Biopolitik darstellt, dann scheinen sich zwei Wege für uns zu öffnen. Einer davon ist das Wiedereinfangen des Menschlichen durch seine eigenen Vortäuschungen: Der Mensch, der das Tier hinter sich gelassen hat, der Mensch, der sein eigenes Erwachen vollständig in eine Ideologie der endlosen Weltinszenierung (einer zunehmend technischen Welt), einer unaufhörlichen Lebensführung (eines technisch verwalteten Lebens), personalisiert und verdinglicht, ist gleichzeitig der Mensch, welcher mit den Worten Agambens »das Nicht-Offene in jedem Bereich zu öffnen und zu sichern sucht und sich somit selbst seiner eigenen Offenheit verschließt, seine humanitas vergisst und das Sein zu seinem gezielten Enthemmer macht. Die völlige Menschwerdung des Tieres geht mit der völligen Tierwerdung des Menschen einher« (Agamben 2003: 86).

Dies ist das biopolitische Vorhaben, welches heutzutage von der liberalen Menschheit mit ihrer völligen Abhängigkeit von der Technologie schonungslos verfolgt wird. Es ist somit auch zwangsläufig eine unpersönliche Politik der Weltinszenierung als Weltherrschaft. Bei dieser Möglichkeit droht die Weltennacht – und es handelt sich nicht um die gerettete Nacht. Man kann von einer Nacht reden, da es die Rückkehr der Unerschlossenheit der Nacht im Zeichen des radikalen (technopolitischen) Entwachens ist. Soll darin eine Einigung zwischen Menschen und Tieren erzielt werden, dann nur zu dem Preis einer ausgiebigen Ausweitung des Depersonalisierungsapparats in Richtung Unterordnung. Es wird keine Möglichkeit geben, das Vorzeichen der vorherrschenden Kraft in eine aktive Kraft der Wiedergutmachung umzukehren. Kein Versuch, das Vorzeichen der Biopolitik in eine Affirmation der lethe als Herz des Lebendigen umzukehren, kann über humanitäre Ideologie hinausgehen, welche – wie Esposito in seiner Dekonstruktion der Person gezeigt hat – nicht das Hindernis, sondern vielmehr einer der Gründe für das derzeitige Vorherrschen der Biopolitik und die Festigung des Apparats des ›nackten Lebens‹ ist, über das angeblich politische Leben hinaus, bis in die technokapitalistische Gestaltung des postgenomischen Lebens und die totale Kontrolle des Organischen (dies ist die Kehrseite der Versprechen der Nanotechnologie). Deshalb benötigt man etwas anderes. Und dieses etwas könnte der zweite Weg sein, der sich nach Heidegger auftut. Agamben äußert sich dazu folgendermaßen: »[D]er Mensch […] eignet sich seine eigene Verborgenheit, seine eigene Animalität an, die nicht versteckt bleibt und nicht das Objekt von Beherrtun. So Heidegger: »Gerade die Hingenommenheit vom Futter verwehrt dem Tier, sich dem Futter gegenüberzustellen (Heidegger zit. n. Agamben 2003: 61) (Anm. der Herausgeberin).

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schung wird, sondern als solche gedacht wird, als reine Verlassenheit.« (Agamben 2003: 88) Diese reine Verlassenheit der Gefangennahme zu erdenken und auf dieser Grundlage eine geeignete Politik auszuarbeiten, ist möglicherweise nicht im Sinne einer Besitzergreifung zu verstehen. Wenn der Mensch von seiner eigenen Verborgenheit Besitz ergreift, bedeutet das, dass er sich selbst als Subjekt wiederherstellt, sogar als persönliches Subjekt (da es keine andere Art gibt). Resubjektivierung stellt die Grenze einer affirmativen Biopolitik dar, was der Grund dafür sein mag, dass Esposito sein Buch mit einem Aufruf zur Gestaltung einer persona vivente beendet: »nicht losgelöst vom oder verwurzelt im Leben, sondern sich mit ihm deckend als untrennbare Verbindung, ein ›Synolon‹ von Form und Kraft, außen und innen, bíos und zoé« (Esposito 2007: 183f). Ist dies nicht übersteigerte Glückseligkeit? Hat der Homo tantum nicht auf gefährliche Weise die Grenze zwischen der endlosen Inszenierung des Erwachens und dem endlosen Aufschub des Erwachens erneut in das thematische Entwachen einer Eindeutigkeit im Sein hinein überschritten? Kann die persona vivente irgendetwas bewirken, außer bestenfalls sich selbst als ideologisches Banner anzubieten, um die entsetzlichsten Übergriffe auf austauschbares menschliches Leben abzuwenden? Warum sollte man das Sein als Kraft definieren? Kraft ist Kraft. Eine Politik des Impersonalen, das über zwischenmenschliche Beziehungen hinaus in das Animalische und das Organische reichen kann, und wachsam genug ist, sich die Kraft der Technopolitik zunutze zu machen und sich zu weigern, eins mit ihr zu werden, ist weder zwangsläufig noch prinzipiell eine Politik der Verbindung und Einigung, noch muss sie es sein. Wenn es eins gibt, das Politik nicht erreichen kann, dann, ›unterpolitisch‹ zu sein. Rechtfertigt die Beachtung des Impersonalen eine Politik des Lebens? Wird das ›Leben‹ in seiner Affirmation als Horizont der künftigen Philosophie nicht lediglich eine weitere transzendentale Illusion? Die historische Gefangennahme des Menschen ist eine nicht-zellbasierte Verschwörung, wie es Thomas Bernhard im Epigraph dieses Aufsatzes ausdrückt. Warum sollte es sich mit der Gefangennahme der Tiere anders verhalten? An diesem Punkt maximal gestörter Nähe sollte sich eine der Technowissenschaft angemessene Technopolitik diese Frage stellen.

Aus dem Englischen übersetzt von Martin Henrich Mit Kommentaren und Ergänzungen von Vittoria Borsò

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E pistemologie : W issen und L eben — oder die verpasste F r age nach dem B íos 1 Der letzte Text, dem Foucault Ende 1984 die Imprimatur gab, war der Aufsatz, der in der Georges Canguilhem gewidmeten Nummer Revue de métaphysique et de morale (Januar-März 1985) als leicht modifizierte Version der Einleitung zur amerikanischen Fassung von Le Normal et le Pathologique (1978) erschien. Die Bedeutung von Canguilhem, liege – im Unterschied zur Wissenschaftsgeschichte, die ihren Gegenstand in einem idealen raumzeitlichen Gefüge konstruiere (vgl. Foucault 1994: 771) – in der Perspektive des Epistemologen,2 der der Diskontinuität des Wissens nachgeht (vgl. Foucault 1994: 772)3 und darin »einen insgeheim [latenten, Anm. d. Vf.], geordneten Gang« (Foucault 1994a: 952) aufzeigt, eine der Umsetzung der unterschiedlichen wissenschaftlichen Aktivitäten interne Normativität. Normativität wird eben materiell performiert, produziert. Bei dieser heute kaum noch beeindruckenden These zeige Canguilhem die Paradoxalität der sciences de la vie, die von Xavier Bichat bis Claude Bernard eine Physiopathologie konstruieren, welche das Pathologische vor dem Hintergrund einer angenommenen Normalität definiert, aber die Norm vom Pathologischen her bestimmt. Indem er bei der Biologie ansetzt sucht der Epistemologe Indikatoren für das Le1  |  Vgl. hierzu die Besprechung der biopolitischen Paradigmen in der Einleitung in diesem Band. 2  |  »Für Georges Canguilhem ist dies kein Problem der Profession, sondern des Gesichtspunktes« (Foucault 1994a: 952). 3  |  »Die Geschichte der Diskontinuitäten steht nicht ein für alle Mal fest: Sie ist von sich aus ›impermanent‹, sie ist diskontinuierlich, d. h., sie ist immer wieder von neuem zu schreiben« (Foucault 1994a: 952).

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bende, aber auch für die kritische Frage, inwieweit die Biowissenschaften bei den beobachteten Prozessen (Iteration, Mutation, Transkription, Übersetzung) die Frage des Wertes, und damit biopolitische Fragen reflektieren. Hier eröffnet sich der Weg für eine notwendige Kooperation von biosciences und Kulturwissenschaften, die mit den Biowissenschaften das Vokabular für die obengenannten Prozesse teilen. Allerdings verfügen sie nicht über den ›Vorteil‹ der Biologie: Denn der Biologe gehört – anders als der Philosoph – dem Gegenstand seiner Wissenschaft an, nämlich dem Lebenden. Canguilhem folgert, dass sich deshalb in dessen Erkenntnistätigkeit auch die Natur des Lebenden manifestiert – so Foucault. Wenn es die Phänomenologie war, die im Gelebten den originären Sinn jeder Erkenntnis suchte, so lässt sich mit der Biologie fragen, ob die Suche nicht anderswo beginnen müsste, nämlich auf der Seite des Lebenden selbst. Genau deshalb setzen Canguilhems Fragen an der Biologie und der Medizin, also den sciences de la vie an, womit er zu dem wissenschaftlichen Paradigma gehört, das durch die disziplinären Oppositionen der 60er Jahre (Freudianer vs. Nicht-Freudianer etc.) hindurchgeht und einer Philosophie der Erfahrung des Sinns des Subjektes jene des Wissens, der Rationalität und des Konzeptes gegenüberstellt – Ersteres mit Bergson, Sartre und Merleau-Ponty, Zweiteres mit Comte, Cavaillès, Bachelard, Koyré und Canguilhem (vgl. Foucault 1994: 764). Anstatt Antworten auf die Frage des Sinns anhand der Erfahrung zu geben, wie bei der Phänomenologie, reibt sich die Epistemologie am biologischen Wissen und setzt sich mit einer Geschichte der Wissenschaft, die vom materiellen Gegenstand selbst, nämlich dem Lebenden, befragt werden kann und muss, auseinander (vgl. Foucault 1994: 769). Die Besonderheit dieses Gegenstands, so Canguilhems zentrales Verdienst aus Foucaults Sicht, sei die alea, das Unvorhergesehene, nämlich die Kontingenz, die im politischen und medizinischen Rahmen als das Risiko gilt, das es als Krankheit, Mangel oder Monstrosität präventiv auszuschließen gilt, die aber epistemologisch das Lebende als Potentialität ausmacht. Hier ist auch der Einsatz des Ästhetischen zu sehen, wie in der Einleitung zu diesem Band hervorgehoben wurde. Was ergibt sich aus der Kontingenz des Lebens für die Epistemologie des Lebens und was schlussfolgert Foucault daraus? Letztendlich ist das, was von der wissenschaftlich kontrollierten Normalität abweichen kann, das Leben selbst, das an sich ›fehleranfällig‹ ist. Tatsächlich durchziehen die Anomalien die gesamte Biologie. Sie induzieren Mutationen und Evolutionsprozesse. Dies erklärt auch die Relevanz, die Canguilhem der alten Frage des Normalen und des Pathologischen zuschrieb, indem er aber auch die Rolle umkehrte. Foucault macht auf diese Weise darauf aufmerksam, dass Canguilhem das Leben als bloßen Gegenstand des Wissens durch das Wissen vitaler Prozesse des Lebens selbst ersetzen möchte und deshalb statt Konzepte über das Leben, Konzepte im Leben sucht. Ohne es weiter zu nennen, stößt hier Foucault zu den autopoietischen Implikationen biologischer Erkenntnis als Organisation und Verkörperung des Lebendigen vor, das seit der biologischen Systemtheorie von Maturana und Varela (1987) mit der Umwelt im Informationsaustausch steht. In der Forderung Cangu-

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ilhems von einem ›Konzept im Leben‹ identifiziert Foucault folglich den Informationsmodus des Lebendigen, das aus seiner Umwelt Informationen zieht und umgekehrt seine Umwelt strukturiert. Unter diesen Bedingungen können biowissenschaftliche Konzepte eine Weise der Affirmation und nicht des Tötens von Leben sein. Gewiss, so räumt Foucault ein, hat die Prozessualität des ›Lebens in Konzepten‹ nur eine relative Mobilität, aber sie kommt nicht zur Immobilität, wie wenn es zum bloßen Gegenstand des Wissens reduziert wird.4 Es gibt also nicht das Leben als originären Sinn auf der einen Seite – für das etwa eine Disziplin, sei sie Bio- oder Literaturwissenschaft die Hoheit hätte – und die Mortifizierung des Lebens durch Konzepte auf der anderen Seite, sondern vielmehr ein situiertes Wissen, das vom materiellen Kontext über das Lebende in-formiert wird, Form bekommt. Wenn das Lebende durch das Unvorhersehbare beschrieben wird, so wird es nie bei sich selbst ankommen, sondern zugleich stets die Potenz des Möglichen in sich enthalten, was in Bezug auf eine angenommene Norm ›Fehleranfälligkeit‹ bedeutet. Die Kontingenz heißt also Potenz und Fehler zugleich und zwar in beiden Dimensionen: Einmal in Bezug auf die Ontologie des Lebenden als Potenz (oder als ›Fehler‹); zum anderen auf der Ebene von Konzepten, in die sich die Weise einschreibt, in der das Leben selbst dem Unvorhergesehenen geantwortet hat – auch dies in doppeltem Sinne, je nach Perspektive: als Potenz zur Innovation im Wissen; oder als Fehler in Bezug auf normative Wissensschemata. Die weiteren Überlegungen Foucaults betreffen lediglich die Analyse der WahrFalsch-Spiele der Epistemologie, nicht aber die ontologische Dimension der Kontingenz. Diese wird Roberto Esposito in den Vordergrund stellen, wie sich später zeigen wird. Zu betonen bleibt jedenfalls das Ereignis, das aus der ontologischen Kontingenz des Lebenden hervorgehen kann, in dessen Bereich die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Lebenden möglicherweise privilegiert ist, was aber auch epistemologische Innovationsschübe zustande bringen kann. Letzteres hat Hans-Jörg Rheinberger mit dem Begriff der ›epistemischen Dinge‹ erfasst, wo4  |  Hier die vollständige Passage: »Das heißt um den Begriff, insoweit er eine der Weisen der Information ist, die jedes Lebewesen in seiner Umwelt entnimmt und durch die es umgekehrt seine Umwelt strukturiert. Dass der Mensch in einer begrifflich strukturierten Umwelt lebt, beweist nicht, dass er sich durch irgendein Vergessen vom Leben abgekehrt hätte oder dass ein historisches Drama ihn davon getrennt hätte, sondern nur, dass er auf eine bestimmte Weise lebt, dass er zu seiner Umwelt ein Verhältnis hat, das keinen festgelegten Blickwinkel aufweist, dass er auf einem unbegrenzten oder nicht scharf abgegrenzten Territorium beweglich ist, dass er sich fortbewegen muss, um Informationen zu sammeln, dass er Dinge gegeneinander zu bewegen hat, um sie nutzbar zu machen. Begriffe bilden ist eine Weise zu leben und nicht, das Leben zu töten; es ist eine Weise, in völliger Mobilität zu leben und nicht, das Leben zu immobilisieren; es bedeutet unter den Milliarden von Lebewesen, die ihre Umwelt formieren und sich von ihr formieren lassen, eine Innovation, die man bewerten kann wie man will, als winzig oder beträchtlich: ein besonderer Typ von Information« (Foucault 1994a: 956).

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mit er diejenigen Wissensobjekte meint, die in den materiellen Bedingungen von Experimentalsystemen das Unvorhersehbare, oder das was man noch nicht weiß, paradoxerweise einschließen (vgl. Rheinberger 2001: 25)5. Zunächst gehen wir aber weiter auf Foucault und auf seine Rezeption ein, um dann den Einsatzort der Fragen von Esposito präziser zu bestimmen. Gerade weil das Lebende das Konzept ›informiert‹, muss der Fehler – so Foucault – als die Wurzel dessen eingeschätzt werden, was das menschliche Denken und seine Geschichte ausmacht (vgl. Foucault 1994: 774f.). Canguilhem habe also nicht eine erneute Antwort auf die Frage der Erkenntnis des Lebens über die Erkenntnis der Wahrheit und das erkennende Subjekt gegeben, sondern diese Frage verschoben: nämlich statt nach dem Sinn des Lebens aufgrund der Wahrheit der Welt zu fragen, die Frage des Lebens in den ›Fehlern‹ des Lebenden verwurzelt. Die Kontingenz des Lebenden kommt im Spiel des Wahren und Falschen und in der historischen Bedingtheit des Wissens zur Sprache (vgl. Ewald/Waldenfels 1991). Wenn also die Phänomenologie mit der Einführung des Körpers, der Sexualität, des Todes und der wahrgenommenen Welt doch das cogito aus ihrem Zentrum nicht verbannen konnte und wenn auch die Spezifizität der Biowissenschaften dessen gründende Wirkung nicht ausschalten konnten, so habe Canguilhem der Philosophie des Sinns, des Subjektes und des Gelebten eine Philosophie des Fehlers gegenübergestellt und sich der ›Konzeption im Leben‹ auf einer anderen Art angenähert (vgl. Foucault 1994: 776). Eine derartige Pointe im späten Foucault, nämlich die mit Canguilhem betonte Formulierung einer kritischen, aber affirmativen Produktion von (kontingentem) situiertem Wissen des Lebendigen, ist kohärent mit den Fluchtlinien, die auch in seinem Projekt einer Biopolitik nicht zu übersehen sind. In seinen Vorlesungen am Collège de France aus dem Jahr 1979-1980, also ein Jahr nach den Vorlesungen zu Liberalismus und Neoliberalismus, die mit dem Titel Naissance de la biopolitique (2004) herausgegeben wurden und lediglich als Einführung in die Biopolitik dienen sollten, wollte sich Foucault erneut der Biopolitik zuwenden. Aber auch hier bleibt die Biopolitik ein Projekt. In diesen Vorlesungen, die 2012 mit dem Titel Du Gouvernement des vivants bei Gallimard/ Seuil erschienen sind, bleiben die Lebenden das Ziel und der Gegenstand einer Technik des Regierens, die diesmal den rituellen Charakter der Produktion von Wahrheit ins Zentrum stellt. In der Vorlesung vom 9. Januar 1980 definiert Foucault die Produktion von Wahrheit als einen Akt, wodurch sich die Wahrheit als Ensemble der möglichen verbalen und nicht verbalen Praktiken manifestiert, durch die man das hervorbringt, was man als wahr betrachtet, und zwar als Opposition zum und zugleich Eindämmung vom Falschen, Verborgenen, Unsagbaren, Unvorhersehbaren, dem Vergessen (vgl. Foucault 2012: 8). Diese Technik, 5  |  Die von mir betreute Dissertation von Thomas Krämer analysiert, wie durch die Untersuchung von Experimentalsystemen bis hin zu Plattformen die Produktion von Projektwissen als Spannung zwischen Kontingenz und Disposition erfasst werden kann.

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die das oben genannte Spiel von Wahr und Falsch unter Kontrolle bringt und das Unvorhersehbare am Lebenden unsichtbar macht, wird in diesen Vorlesungen genealogisch untersucht und mit dem Begriff aléthurgie 6 definiert. Was ins Zentrum der Analyse gerät, ist das Verhältnis des Subjektes zur Manifestation der Wahrheit, das in der Vorlesung vom 30. Januar 1980 anhand von König Ödipus und später im Kontext der ersten Jahre des Christentums besprochen wird. Die Dekonstruktion der liturgischen Rituale, die das Leben des Subjekts ins Zentrum des Wahrheitsregimes einfangen, ist nur vor dem Hintergrund der Einsicht in die ›Fehleranfälligkeit‹ des Lebens und des Erkennens von Lebens möglich. Die Kontingenz des Wissens wird Foucault in diesen Vorlesungen auch zu einer Praktik der Freiheit inspirieren. Denn gerade das Wissen um die Nicht-Notwendigkeit der sich manifestierenden Wahrheit – also nicht nur die Aufhebung aller Sicherheiten, sondern die Einsicht der Nicht-Notwendigkeit der Evidenz und damit der Macht des Wissens – befähigt zur Praktik der Freiheit, die Foucault in diesem Buch die Anarchäologie nennt (vgl. Foucault 2012: 76f.).7 Foucault findet hier zwar im Namen der Lebenden einen Ausweg aus der Abhängigkeit von Wissen und Macht, verliert aber das Leben selbst aus den Augen. Le gouvernement des vivants steht insofern im Kontext des biopolitischen Projektes, als die Techniken des Regierens auf das individuelle Leben bezogen sind. Allerdings spricht Foucault in diesen Vorlesungen für die vivants und wirbt um die Einsicht, dass Subjekte nicht für die Manifestation der Wahrheit zur Verfügung stehen sollen. Es ist der Weg, über den in der Spätmoderne, insbesondere bei Giorgio Agamben, ›Freiheit‹ verstanden wird. Auch Terza Persona (2007) von Roberto Esposito mag eine Antwort auf die Weise sein, wie Foucault die Ästhetik der Existenz als individuelle Rettung (in der Klassik) oder Konversion (epistrophè) konzipiert, und auf die Paradigmen, die darauf basierend folgten, um diese in eine epistemologische Richtung zu verschieben, die in der gesamten Trilogie (Communitas, Immunitas, Bíos) vorbereitet und bearbeitet wird. Das Foucault’sche Paradigma der ›Ästhetik der Existenz‹ führt weg von der Epistemologie des Lebens. ›Ästhetik der Existenz‹ leitet sich bekanntlich von den Praktiken der Antike und des frühen Christentums ab, die das

6 | Das von Foucault gebildete Konzept von aléthurgie ist eine Zusammensetzung aus Wahrheit (alêtheia) und ergon (Arbeit, Produktionsakt, analog zu »métallurgie«, »sidérurgie« etc., vgl. Foucault 2004: 8). 7 | Es ist die Reformulierung des Anarchie-Begehrens in Angedenken des Historischen Werdens allen Wissens. Diese Form von Freiheit scheint auch Agamben in L’aperto anzustreben. Die zentrale These ist nämlich die unbewiesene Grundlage der abendländischen Differenzierungs-Matrix, durch die seit Aristoteles zwischen dem (mit Sprache und Vernunft versehenen) Menschenleben und dem nutritiven Tier-Leben unterschieden wird (vgl. Agamben 2002: 43f.).

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exercitium, die Übung8 und die Techniken in den Vordergrund stellten, welche die Subjekte zur Gelassenheit befähigten. Es ist das Disce gaudere Senecas, nämlich die Fähigkeit zu Genießen, ohne die mondäne voluptas suchen zu müssen. Damit hatte Foucault den Weg zu neuen Paradigmen jenseits der Souveränität geöffnet – etwa der Biosozietät und der Gouvernementalität.9 In diese Richtung geht das beatitudo-Konzept von Deleuze, das für Agamben mit Bezug auf die berühmte Bartleby-Formel »I would prefer not to« die Freiheit als Verzichtsgeste gegenüber der Politik impliziert. Die Verzichtsgeste ist für Agamben die Ermöglichungsbedingung des (Heidegger’schen) Ereignisses (vgl. Agamben 1999: 203) im Sinne der Erfahrung, die auf das Subjekt zukommt und der Kindheit oder der poetischen Sprache anvertraut ist (vgl. Agamben 1979). Hier findet sich auch der Übergang vom kontemplativen Leben zur Immanenz von Ereignissen im Leben (vgl. Agamben 2010: 134), verstanden als Raum der reinen Potenzialität. Hier ist jede Kategorie »schwach«, jede Lebensform »nackt«, – im Sinne von nicht beschrieben oder zu Ende beschrieben – 10 und hier geht Agamben mit der Zeichentheorie von Deleuze konform, nämlich im Sinne von dem, was im Geschlossenen für das Offene zeichenhaft ist (vgl. Badiou 1998: 32). Aus einer Verbindung von der Benjamin’schen Kritik der Geschichte aus Sicht der Erfahrung und der Sensibilität für die Potentialität des Ereignisses resultiert für Agamben auch die messianische Öffnung für das noch nicht Gewesene der Geschichte. Aber die Bedingung für den hier geöffneten Raum ist nicht nur die Destitution der Macht bzw. die Geste des Verzichtes und damit nicht nur eine Bipolarität von Leben und Politik, sondern auch eine von Leben und Wissen. Denn Agamben setzt zwei Modi der Erfahrung und zwei unterschiedliche Lebensformen gegenüber, nämlich eine, die mit der Potenzialität des Ereignisses die Opposition von proprium/improprium außer Kraft setzt und die andere, die diese Opposition als Grundlage für die Erfahrung von Evidenz präsupponiert und die Potentialität des Ereignisses ausschließt, sozusagen ex-propriert.11 Immanenz wäre also eine Rückübersetzung der Potenzialität jenseits der Dialektik von proprium/improprium. Eine solche Rückübersetzung muss das Gebiet der Repräsentation verlassen, um experimentelle Erfahrung, transzendentaler Empirismus oder Wissenschaft vom Sinnlichen zu werden (vgl. Deleuze 1992: 84). Agambens mit Deleuze vollzogene Zerschlagung der separatistischen Maschine, die Eigentliches und Uneigentliches voneinander trennt, gibt erst dieser politischen Maschine einen Sinn und macht die Immanenz des Lebens von des8  |  Mit einer anthropotechnische Wendung sieht Peter Sloterdijk in der Tätigkeit des Übens (ἀσκεῖν) »die immunitäre Verfassung des Menschenwesens« (Sloterdijk 2009: 14ff.), das die biologische und soziokulturelle Perfektionierung anstrebt. 9  |  Ich verweise auf die Einleitung in diesem Band. 10  |  Diese offene Lebens-Form meint natürlich das Gegenteil des homo sacer (vgl. Agamben 1995). 11  |  Zur ausführlichen Darstellung dieser Argumentation vgl. auch Campbell (2011).

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sen Destitution abhängig. Denn damit menschliches Leben die perfekte Zeit der Erfahrung erreichen kann und sich nacktes Leben jenseits politischer Lebensformen ereignen kann, müssen juristisch-faktuale Bedingungen aufs Spiel gesetzt oder inoperabel gemacht werden. Die Glückseligkeit liege in der Aktualisierung eines Seins, das der Potenzialität zurückgegeben wurde (vgl. Agamben 2005: 97101). Die Aktualität ist paradoxal und kann nur im negativen Modus beschrieben werden, nämlich als ein Deaktivieren des Funktionalwerdens des Lebens. Die Analyse sozialer Bedingungen dieser negativen Anthropologie kann lediglich das – staatsfeindliche – Verkennen der Aktualität als Faktualität aufzeigen. In Die Kommende Gemeinschaft (2003) macht sich Agamben die (notwendige) Kritik von Jean-Luc Nancy und Jacques Rancière in Bezug auf den – etwa Sartre charakterisierenden – marxistischen Glauben an jene Form von Potenzialität des Menschen zu Eigen, der durch die Arbeit zur eigenen Essenz kommt oder durch die Aktion eine perfekte Humanität entwickelt. Im Gegensatz dazu sollte sich das Politische im Modus unendlicher Potenzialität deklinieren zu einem Laboratorium von Potenzialität werden und die Frage umfassen, wie die Potenzialität des Seins maximal aktualisiert werden kann. Das Sein der Politik soll mit dem autonomen Sein des Lebens koinzidieren. Darüber hinaus wird in Benjamin’scher Tradition die Erfahrung gegen die Erkenntnis ausgespielt und Letztere abgewertet. Der Einsatzort von Agambens Philosophie des Lebens verbleibt in der Philosophie der Erfahrung, die die epistemologische Irritation biologischer bzw. biowissenschaftlicher ›Konzepte im Leben‹ schlichtweg außer Acht lässt und Leben als eine lediglich im Modus der Deaktivierung nicht letale Ontologie, oder gar Ontotheologie mit allen Manifestationen affektiver Intensität konzipiert, die etwa bei Deleuze dem Werden eigen ist. Deleuzes’ Verschiebung der Lebensphilosophie in die Immanenz (1998) ist auch für Roberto Esposito ein unverzichtbarer Schritt, um aus der biopolitischen Gefangennahme der Individuationsprozesse herauszukommen (vgl. Foucault 1994b). In Bíos münden seine Überlegungen in die Bearbeitung des Deleuze’schen Begriffs der hecceité 12, welches Leben als reine Immanenz jenseits von Gut und Bösen erfassen will, als homo tantum jenseits des Individuums, als Artikulation einer Singularität des Lebens, für dessen Verkörperung Esposito auf das von Hannah Arendt mit einem Heidegger’schen Akzent markierte Ereignis der Geburt zurückgreift.13 Hecceité wäre die Singularität eines nicht individualisierten Neugeborenen, eine Singularität des Lachens, der Gesten. Darauf basierend, betont Terza persona die Potenzialität der Person, als offene, noch nicht ›gewordene‹ Person – ein Moment, das Esposito auch in Nietzsches Begriff des Übermenschen sehen wird. 12  |  Vgl. die Einleitung in diesen Band. 13 | Hannah Arendt hatte damit zwischen dem Existierenden und dem Lebenden unterschieden und dadurch versucht, Letzteren als maximale Entfernung des bíos vom zoé zu konzipieren.

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Der Weg von Espositos Philosophie zu diesem Zugriff und darauf auf bauend zum Begriff des Impersonalen in Terza Persona verschiebt aber die Konstellation der hecceité und biegt die Immanenz zu einer in Espositos Philosophie seit dem ›Impolitischen‹ (vgl. Esposito 1988) wiederkehrenden Operation der Subtraktion von Transzendenz, die, wie Laura Bazzicalupo in ihrer Besprechung des Impersonalen hervorhebt, die Immanenz deterritorialisiert.14 Diese Operation trägt schon in Communitas (1998a) ihre Früchte. Hier bearbeitet Esposito die Bipolarität von proprium und improprium, Eigenem und Fremdem (im Sinne von Zugehörigem und Eigentlichem bzw. deren Negation) nicht zugunsten von dessen Auflösung als Potenz, und auch nicht durch eine Ontologisierung des Gemeinsamen wie im französischen Kommunitarismus von Blanchot und Nancy, sondern durch eine etymologische Verschiebung des Begriffs von Gemeinschaft. Statt der – auf Heidegger zurückgehenden – Ontologisierung der im Präfix cum implizierten Relationalität des Seins, findet Espositos etymologische Analyse im munus eine andere Genealogie (vgl. Esposito 1998a: X-XIII), die die Gemeinschaft auf die Pflicht zur Gabe, damit auf das Gegenteil des Rechts auf das Eigene zurückführt. Der von allen geteilte munus verneint das Proprium als Zugehörigkeit sowie als ein Recht des Einzelnen auf Besitz, worauf aber die Rechtssprechung seit dem Römischen Recht beruht. Was vereint, ist nicht das Haben, sondern das Sollen. Dieses donoda-dare, diese Pflicht zur Gabe wurde indes in der politischen Philosophie und im Recht, das den Besitz schützt, als eine zu tilgende Schuld verstanden, vor der man sich schützen muss. Virtuell ist der munus deshalb schon ein Mangel (vgl. Esposito 1998a: XIII). Die ausschließenden, d. h. exproprierenden Politiken der Immunität sind hier ebenso angelegt, wie auch die juristisch-politischen Implikationen, die Esposito im Kontext des Immunitätsbegriffs beschreibt. Zu Beginn von Immunitas geht deshalb auch er von Benjamins Analyse der intrinsischen Verbindung von Rechtssetzung bzw. Rechtserhaltung und Gewalt aus und radikalisiert diese insofern, als er zeigt, dass die juristische Definition des bíos, des qualitativen Lebens, basierend auf dem Schutz des Eigenen15, all das im Körperlichen und Biologischen zur wertlosen und auszuschließenden Biomaterie deklariert, was das Eigene gefährdet (vgl. Esposito 2002: 47). Individuelles Leben wird als ›privat‹ geschützt, als das, was nicht gemeinsam ist, weshalb es Immunität benötigt. Es ist diese Angst, die zum Fundamentalismus der Immunität seit der von Hobbes eingeleiteten modernen Politik, führt. Für das separatistische Selbstverständnis moderner Gesellschaften heißt Immunität Abwehr und Schutz gegen Angriffe von außen. Diese greift politisch in das individuelle Leben ein und kreiert eine künstliche Leere um das Individuum. Die militärische Semantik des 14  |  Laura Bazzicalupo zufolge faltet Esposito die Immanenz und unterzieht sie einer Subtraktion, die auf Deleuze’sche Weise deterritorialisierend ist (vgl. Bazzicalupo 2008: 6, dt. d. Vf). 15 | Später wiederholt sich dies bei der Dekonstruktion des Essentialismus der Person (vgl. Esposito 2007).

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medizinischen Vokabulars und die medizinische Metaphorik in der politischen Philosophie seit dem späten 18. Jahrhunderts zeigen die historisch fortschreitenden Verflechtungen von Gewalt und Immunisierungspraktiken, die Esposito genealogisch rekonstruiert (vgl. Esposito 2002: 189). Mit dem Zuwachs der Schutztechnologien im globalen Maßstab wird der Bedarf an Schutz produziert, sodass die Welt schließlich riskiert, sich zu Tode zu schützen. Die Schutztechniken in der Spätmoderne gefährden das Überleben der Systeme, denn der Imperativ der Sicherheit erzeugt das Risiko, »das er abzuwehren beabsichtigt« (Esposito 2002: 197). Es ist nicht verwunderlich, dass bei der aktuellen Brisanz des Begehrens nach Zugehörigkeit seitens Asylsuchenden und Migranten und zugleich der Abwehr derjenigen, die ihr eigenes ›Eigentum‹ davor schützen wollen, die Philosophie Espositos zur Grundlage aktueller Studien geworden ist.16 Diese Dispositive durchbricht Esposito mit einem Immunitätsbegriff, in dem die Transzendenz des Schutzes des Eigenen subtrahiert wird, d. h. dem Schutz des Eigenen die absolute Geltung genommen wird. Nicht das Ausschließen des Außen, sondern die Öffnung nach außen durch die Pflicht zur Gabe, die Öffnung zur Osmose17 zum anderen ist der Ausgangspunkt einer nicht letalen Immunität. Die Alterierung des Eigenen sichert den Weg zur Politik des Lebens, die nicht zur autoimmunen Eskalierung des Schutzes pervertiert, wie dies durch die Biologisierung der Politik im Naziregime erfolgte. In Bíos rekonstruiert Eposito die epistemologische Transformation der Biopolitik von den Anfängen in den 60er Jahren mit J. von Uexküll, Edgar Morin und Jean Starobinski (vgl. Esposito 2004: 8ff.) bis hin zu Foucault18 und fragt sich, ob Foucaults Ambivalenz zwischen Souveränität und Biopolitik bzw. Gouvernementalität, die insbesondere in Il faut défendre la société markiert ist, nicht die Symptomatik des Scheiterns der Techniken des Selbst ist, denn in der Geschichte des 20. Jahrhunderts mussten die damit hervorgebrachten Kategorien der Subjektivierung, Immanenz und Produktion vor dem politischen Zugriff der Individualisierung und Kollektivierung kapitulieren (vgl. Esposito 2004: 28f.). Das Widerstandskonzept von Foucault zeigte in dieser Geschichte oft eine Ohnmacht, die Esposito zur Diagnose führt, die Spaltung zwischen der absoluten Macht über das Leben einerseits und der absoluten Macht des Lebens andererseits samt ihrer Exzesse (Souveränität und Vitalismus) zeigten Foucaults Unfähigkeit, das Verhältnis von Politik und Leben zu lösen (vgl. Esposito 2004: 38). Dies sei, so Esposito, darauf zu führen, dass trotz der von Foucault analysierten Komplexität von historisch-institutionellen, ökonomischen, sozialen und produktiven Artikulationen 16 | Ich beziehe mich z. B. auf die Roberto Esposito gewidmete Sondernummer der Zeitschrift Angelaki und auf den Beitrag von Devisch (2013). 17  |  Esposito spricht vom ›Filter‹, dessen Metaphorik im Italienischen nicht die Selektionsfunktion, sondern eben die Fähigkeit zum Durchlassen meint. 18  |  Esposito verweist hier auf die Analyse dieses Paradigmas in der italienischen politischen Philosophie, etwa von A. Cutro (2004, zit. n. Esposito 2004: 12).

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der epistemologische Status des Lebens ungeklärt bleibt: Gibt es ursprünglich ein nacktes Leben, oder ist dieses eine Lebensform, die das Leben jenseits dessen führt, was es ist? (vgl. Esposito 2004: 39).19 Die epistemologische Frage hatte Esposito in Immunitas in Auseinandersetzung mit dem biologisch-medizinischen Begriff der Immunität vorbereitet; die epistemologische Frage hatte hier die entscheidende Wende in der Philosophie des Lebens herbeigeführt. Immunitätskonzepte, die sich auf geschlossene Organismen beziehen und Schutz als Ausschluss von Gefahren von außen verstehen, halten das Leben biopolitisch gefangen und fördern die Entwicklung letaler Technologien in der Politik wie in der Medizin sowie ihre Kollaboration in einer Weise, dass sie die thanatologische Funktion von Dispositiven im Agamben’schen Sinne übernehmen.20 Esposito findet bei Georges Canguilhem und Donna Haraway, die als Biologin Seminare von Georges Canguilhem in Paris besucht hatte, den Weg zu einem anderen Konzept von Immunität, nämlich jenseits der oben beschriebenen thanatologischen Extreme.21 Mit Bezug auf Canguilhem und Donna Haraway verschiebt Esposito den biologischen und gemeinschaftlichen Begriff von Schutz: Anders als das politische Gesetz ist die biologische Norm keine Vorschrift. In der Biomaterialität ist die Norm vielmehr der Materie eingeschrieben, an der sie sich ausübt, so hatte Canguilhem die angenommene Vorgängigkeit der Norm gegenüber des Abnormalen umgekehrt: »Die Norm des Lebens eines Organismus ist vom Organismus selbst gegeben, sie ist in seiner Existenz enthalten« (Canghuilhem 1997, zit. n. Esposito 2004: 200). Es ist also mit Canguilhems Dekonstruktion der transzendentalen Voraus-Setzung der Norm, dass Esposito zu einer Verschiebung des Denkens kommt. Espositos Reformulierung heißt: Die Norm lebendiger Organismen ist die Tendenz zur permanenten Selbstdekonstruktion, oder anders gesagt, der normalste Organismus ist derjenige der am häufigsten seine Normen übertreten und transformieren kann. Die Norm des Lebendigen ist also die Transformationsfähigkeit, nämlich die Fähigkeit, sich selbst zu alterieren. Das »Außen im Inneren« ist die Bedingung von Lebenskraft. Esposito konkretisiert hier materiell-biologisch, nämlich in Auseinandersetzung mit den Biowissenschaften das philosophisch formulierte, einflussreiche Konzept Foucaults und Deleuzes des »Denkens des Außen« (Foucault 1994c).22 Die Konsequenzen sind bemerkenswert: Anders als das Gesetz siedelt das biologische Leben die Norm, auf die es sich bezieht, nicht im Grenzbereich der Trennung, sondern am Berührungspunkt zwischen Lebendem und Leben an, wo Varianz 19  |  Zur Relevanz der epistemologischen Frage über das Verhältnis von ›Wahrheit‹ und ›Leben‹ im Denken Espositos verweise ich auf Bazzicalupo (2008: 57, 64). 20  |  Siehe auch die Studie von Timothy Campbell (2011). 21  |  Es ist das letzte Kapitel von Immunitas mit dem Titel »Implantat« (vgl. Esposito 2002: 203-248). 22  |  Zum Begriff des »Außen des Inneren« verweise ich auch auf die Einleitung in diesem Band.

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lebenserhaltend sein kann. Am Ende von Bíos gelingt es Esposito, den Bereich der letalen Biomacht zu verlassen, die mit der Übernahme von Benjamins Analyse der rechtseinsetzenden und rechtserhaltenden Gewalt den Schutz des Lebens als Aufopferung des Lebendigen beschrieben und das Leben dem Gesetz der politischen und juristischen Ordnung unterstellt hatte. So kann er auch die Frage nach Biomacht beantworten, die er anfangs gestellt hatte. ›Biomacht‹ ist zuallererst die Macht des Lebens, die erst nachträglich zu einer der Macht der Politik unterstellten Lebensform wird. Aber gibt es eine Politik des Lebens, die sich gegen die Gefangennahme durch die politischen oder epistemologischen Systeme wehren kann? In Immunitas betont Esposito, dass alle Dispositive des Wissens eine eindämmende Schutzfunktion gegenüber der Potenz des Lebens haben, die sich anderenfalls unbegrenzt entfalten und wachsen würde. Hier ist auch die Vermittlung zwischen der Potenz des Lebens und der Politik des Lebens zu sehen. Denn, ist nicht die Politik des Lebens, sich selbst vor der eigenen übermäßigen Vitalität zu schützen? Diese immanente Beziehung zwischen Politik, Wissen und Technik des Lebens formuliert Esposito als ›Konzept im Leben‹. Hatte Espositos Diagnose über das Dilemma von Souveränität und Biopolitik im Denken Foucaults das Problem einer Äußerlichkeit der Politik gegenüber dem Leben gezeigt, so ist die hier formulierte Immanenz von Politik und Epistemologie im Leben der Weg jenseits der negativen Biopolitik. Nun sind Mediationen denkbar, die Agambens Hoffnung, auf die primordiale Untrennbarkeit von biós und zoé zurückzugehen, als eine phantasmagorische originäre Einheit ohne Mediationen zur Politik erscheinen lassen. Insbesondere mit den Biowissenschaften können wir diese Basis jenseits der Dispositiv-Kritik differenzierter kommunizieren.

E spositos Trilogie: Auswege aus dem D ilemma zwischen Vitalismus und Dasein — Für eine P olitik des L ebens nach 1945 In Bíos geht Esposito folgerichtig auf den Nietzscheanischen Einsatz einer Philosophie des Lebens ein. Zweierlei erlaubt der Rückgriff auf Nietzsches »Willen zur Macht«: einmal die Ablehnung moderner Biopolitik, nämlich der juristischen Grundlage des politischen Denkens und der Rolle der Politik zur Sicherstellung des Lebens; zum anderen die implizite These des ›Willens zur Macht‹, nämlich die Tatsache, dass das Leben schon immer zuallererst politisch ist (vgl. Esposito 2004: 82). Das Leben als Potenz, wie sie über Nietzsche in die Moderne eingegangen ist, nämlich als vitaler Impuls, den Nietzsche als Ausgang aus der gescheiterten politischen Mediation zwischen Macht und Leben vorschlägt (vgl. Esposito 2004: XIV) pervertiert sich im 19. und 20. Jahrhundert und wird zu einer Biologisierung der Politik (vgl. Esposito 2004: XVI). Von Nietzsches Vitalitätsbegriff gewinnt Esposito den Weg zur Konzeption des innovativen Moments einer Politik des Lebens, nämlich als Frage nach der dem Leben immanenten Politik, die im

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Vitalitätsimpuls des an Schopenhauer inspirierten Willens zur Macht impliziert ist. Bei Nietzsche hat aber die Politik des Vitalismus kein anderes Ziel als die Aufrechterhaltung und Steigerung der Expansion des Lebens und dies steht in Konflikt mit der Politik über das Leben (vgl. Esposito 2004: XIV) – Letzteres bezüglich des von Nietzsche kritisierten immunitären Entgleisens. Auch Nietzsche kommt also nicht aus dem Dilemma einer bipolaren Beziehung von Politik und Leben. Denn die »ursprüngliche Politik« des Lebens als Wille zur Macht ist zwar der Entzug der Souveränität, der aber zugleich gegenüber der Tendenz, das Leben politisch zu dressieren ohnmächtig ist, weil es einer dem Leben externen Politik obliegt, den Überschuss des Lebens durch die Macht über das Leben einzudämmen. Die Natur der Expansion ist zwar lebensinhärent und zugleich konstitutiv politisch, aber »Vitalisierung der Politik […] und Politisierung des Lebens tendieren dazu, sich in einer semantischen Umarmung zu überlagern« (Esposito 2004: 172).23 Es geht also darum, mit Nietzsche über das ungelöste Problem hinaus zu kommen, nämlich über die Ambivalenz der Macht des Lebens und ihre eigene Tendenz zur Transformation in Macht über das Leben. Zwar bietet Nietzsches Ausgangspunkt auch den Einsatz für eine Politik des Lebens an, weil auch für Nietzsche nicht Lebensformen, sondern der Entzug der Formen es erlaubt, jene innovative Potenz eines aus der Komplexität und Artikulationen gedachten Lebens zu finden (Esposito 2004: 172). Doch können Nietzsche und später Bataille die Mediation zwischen der Expansion des Lebens und dessen Eindämmung durch die Politik nicht konfigurieren. Der Überschuss, die nicht nutzbare Akkumulation und die Verausgabung sind funktionslos oder unproduktiv, wie sie Georges Batailles im Essay »La notion de dépense« von 1933 – dem ihm zufolge »dunkelsten« Jahr – bearbeitet (vgl. Bataille 2011). Im letzten Kapitel von Communitas hatte Roberto Esposito in Bataille eine jener Fluchtlinien ausgemacht, die den Umbruch zu einem affirmativen Denken vorbereiten, die jedoch bei Bataille selbst lediglich zu einer Positivierung der Negativität des Todes führt – so Espositos differenzierte Lektüre der Kontinuität des Todes und Diskontinuität des Lebens und damit auch der Diskontinuität von Ursprung und Vollendung in Bataille.24 Die Negativität als Mechanismus des Lebens selbst, als Einbringen eines Bruchs in die Unbestimmtheit und Kontinuität des Todes gründet die Position Batailles seit L’érotisme. Während aber Bataille immer noch von Normativitätsdenken ausging und Exzesse des Erotischen nur als Begehren der Überschreitung formulieren konnte und weiterhin eine Transzendenz des Normativen positivierte, nimmt Esposito die Position des Exzesses als biologische Wesensart des Lebens an, die nicht die Negation der anderen Richtung des Lebens, nämlich die Eindämmung des Exzesses als Immunisierung der Ansteckung implizieren muss. Die identitäre Struktur des Partikulären und die Immunisierung der Partikularisierung muss sich öffnen, wie das Offene sich zum Partikulären hin schlie23  |  Vgl. auch Dario Gentili und Salvo Vaccaro (2013: 11). 24  |  Zur Analyse von Parallelen und Differenzen zu Heidegger (vgl. Esposito 1998a).

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ßen muss. Dies ist die Politik des Lebens: Es ist die Weise, in der das Seiende lebt (vgl. Esposito 2004: 172).25 Mehr also als nur eine Frage, wie man die durch die Politik erfolgte Gefangennahme des Lebens rückgängig macht oder destituiert – wie bei Agamben –, ist Espositos Konsequenz aus dieser Interpretation der Biomacht als Macht des Lebens die Entscheidung, den Ort des Denkens des Lebens weder in der Macht noch im Widerstand gegen sie oder in der Pluralisierung der Regierungstechniken durch die neuen Technologien mit den sich quer zur Biopolitik stellenden intersubjektiven Verhandlungen von Biosozietäten zu verlegen, sondern in dem Nicht-Regelbaren, dem Überschüssigen des Lebens selbst, als einer Macht, die sich nicht organisieren lässt. Der Ausgangspunkt muss also die Potenzialität des Lebens selbst sein. Es ist ein Wille zur Potenz, die sich nicht in der Fixierung einer (politisch zu entscheidenden) Form ausschöpft, sondern sich der Erfahrung selbst des Möglichen öffnet, das in Nietzsches dionysischen Moment enthalten ist. Dieses Moment wird von Esposito übernommen und zugleich verschoben. Das Dionysische ist das Leben in dessen absoluter oder ausschweifender Form, eine Form, die von Vorgaben losgelöst und an das eigene originäre Fließen hingegeben ist 26 (vgl. Esposito 2004: 91). Zu fragen ist indes, inwieweit man im Dionysischen das (nicht) originäre Moment des Lebens sehen könnte, die Spur oder die Präfiguration des gemeinen munus in all dessen semantischer Ambivalenz: als Entzug der eigenen Grenzen und damit als Öffnung zum anderen, als ansteckende und insofern auch destruktive Potenz. Die Macht des Lebens ist also Öffnung und Gewalt zugleich, mögliche Implosion von Subjekten-in-Beziehung, Beziehung ohne Subjekt (Esposito 2004: 92). Was aber von Nietzsche als innovative Potenz des Lebens festzuhalten ist, ist das expansive Moment des Lebens, das Esposito dann mit dem Akzent auf die Beziehung in Spinozischem Sinne interpretiert, also als ein von anderen kommendes und sich zu anderen bewegendes Prinzip, und erst dieses könnte auch den Ansatz zu einem neuen Denken des Politischen ermöglichen. An diesem neuen Denken ist die Transformation des Konzeptes von Immunität und von communitas maßgeblich beteiligt. In Communitas hatte die Resemantisierung aller tradierten Konzepte, ausgehend von denen des Körpers und des Subjekts, den kodifizierten, rational-individuellen Bereich entgrenzt und von allen Seiten geöffnet, um so den Zustand der ›gegenseitigen Ansteckung‹ zu zeigen. Das expansive Moment des Lebens, das auch eine Politik des Lebens denkbar macht, verkörpert sich als Forderung nach dem munus, der Pflicht zur Gabe. Denn ›Bindung‹ und ›Gabe‹ wären das einzige 25 | Vanessa Lemm missversteht Espositos These, das Leben sei an sich politisch, weil sie sie im Sinne einer Ursprünglichkeit des Politischen deutet. Dagegen will sie Nietzsches These der Ursprünglichkeit von Kultur setzen. (Vgl. Lemm 2013: 27ff). 26  |  Esposito spielt mit der phonologischen Opposition von ›assoluto‹ e ›dissoluto‹, weshalb ausschweifende Form auch als ›dekonstituierte‹ oder ›aufgelöste‹ Form verstanden werden kann.

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auferlegte Gesetz ohne Kalkül, d. h. ohne Verdienst und ohne Gegenleistung. Deshalb betont Esposito, dass die Wiedereinsetzung des munus eine Unterbrechung der thanatologischen Wende der Politik herbeiführen könnte. Auch hier treffen wir auf die Operation der Verschiebung, weg vom Metaphysischen hin zu einem Konzept von Gemeinschaft, das das Biologische nicht absondern muss. Wie das Biologische geht auch dieses Gemeinschaftskonzept vom Zustand der gegenseitigen Ansteckung und somit auch von der Notwendigkeit des Konflikts zwischen Öffnung und Schließung aus; ein Konflikt, der so viel Immunität zulässt, wie er Lebenskräfte erbringt. Der Konflikt zwischen der Öffnung durch die Gabe und der Schließung durch die Immunität ist insofern eine Quelle von Lebenskraft, weil es die alten Kategorien der Identität, wie Subjekt und Gesellschaft in eine fundierende Operation der Alterierung des Selbst führt. Die Figuration des Übermenschen, die Nietzsches Ersatz der Ordnung der Politik durch die Politik der Steigerung des Willens zur Macht möglich machte, bekommt an dieser Stelle in Espositos Lektüre eine bemerkenswerte Wendung. Esposito sieht im Übermenschen den Impuls Nietzsches zu einer Präzisierung der Ontologie des Lebens und eine Nähe zur Semantik von munus – als paradoxale Freundschaft mit dem Feind – im Lichte der Homophonie von hospes und hostis präzisiert. Dem Begriff des Übermenschen eigen ist die Betonung der Transformationskraft des Menschen: Der Text Nietzsches erinnert daran, dass der Mensch noch nicht, nicht mehr und niemals der ist, der er zu sein glaubt (vgl. Esposito 2004: 112).27 Deshalb ist das Sein des Menschen, so Esposito, jenseits und diesseits der ›Identität mit sich selbst‹. Der Übermensch drückt die ontologische Alterierung des Selbst, die Alterierung der in der Identitätsphilosophie des Abendlandes angenommenen Zugehörigkeit zu sich selbst aus, die die humanistische Tradition dem Menschen eignete und gegen die der Übermensch antritt. Genau die Inkompatibilität zwischen der Norm der Menschen und dem transzendierenden Vitalitätsimpuls ist auch ein Hauptmoment der ontologischen Lektüre des Nihilismus durch Heidegger28 – darauf gehen wir abschließend ein. Vor dem Hintergrund der Frage, wie eine Politik des Lebens nach dem Nazismus denkbar wäre, führt in Bíos die Resemantisierung der Grundbegriffe abendländischer Philosophie – wie bei Nietzsche und Heidegger (Brief über den Humanismus) sowie Agamben (Das Offene) – schließlich zur Befragung der ka27  |  So diese wichtige Passage von Bíos: »Er (der Übermensch, Anm. d. Verf.) steht wörtlich außerhalb seiner selbst, in einem Raum, der nicht mehr der Raum des Menschen-an-sich ist – oder dies auch nie war. Es ist also nicht wichtig, zu wissen wo – oder was er werden kann. Denn das, was ihn auszeichnet, ist gerade das Werden, das Durchschreiten, das Überwinden des eigenen tópos. Nicht dass sein Leben keine Form hat – keine ›Form des Lebens‹ ist. Aber es handelt sich hier um eine Form, die selbst in ständigem Wandel begriffen ist hin zu einer neuen Form. Sie ist von einer Alterität durchkreuzt, von der sie zugleich unterteilt und multipliziert wird.« (Esposito 2004: 112, dt. d. Vf.). 28  |  Vgl. auch Sloterdijk (2010: 43f.).

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nonischen Definition des Menschen als animale rationale. Anhand des Überdenkens der animalitas des Menschen müssen, so auch Esposito, die Dispositive problematisiert werden, die dessen grundlegendste, nämlich körperlich-biologische Dimension kennzeichnen. Statt das Biologische als nacktes Leben abzusondern, geht es um eine Politik der Gemeinschaft, die vom Biologischen her gedacht wird. Die Methode muss sein: Dekonstruktion der biopolitischen Immunisierungsdispositive bzw. das Zeigen des Ineinandergreifens von Politik und Medizin in der thanatologischen Strategie des Ausschaltens von Konflikten zwischen dem munus und der Immunität, was Kriege zwischen sich wechselseitig ausschließenden Einheiten sowie biologisch und politisch autoimmunitäre und selbstzerstörische Konsequenzen nach sich zieht. Die Verschiebung von Gemeinschaft zum munus bekommt erst hier den vollständigen, intendierten Effekt. Wechselseitige ›Ansteckung‹ als Nullpunkt der Gemeinschaft impliziert auch eine grundlegende Öffnung der Subjektivität, die sich enteignen, alterieren lassen muss, ebenso wie sich dies umgekehrt – so Espositos counter-kommunitaristische Position29, dass das Gemeine sich im Kampf mit der Subjektivität alterieren und zum Singulären hin öffnen lassen muss – in der Kritik von Blanchots und Nancys Kommunitarismus offenbart. Das ›Nein‹ wird in Immunitas zum Mechanismus des Lebens selbst, zu einer Falte in der Immanenz des Lebens.30 Am Ende von Immunitas kommt Esposito zur Formulierung dieser Lösung über eine bemerkenswerte Lektüre Heideggers, geleitet von der Grundfrage nach der Artikulation des Verhältnisses von Leben und Politik. Wenn Hannah Arendt angesichts ihrer Diagnose der zunehmenden Depolitisierung des Politischen dennoch über die Kategorie des Lebens nicht tief genug reflektiert hat (vgl. Esposito 2002: 164), so gehe Heidegger in den »dunkelsten« Momenten seines persönlichen und philosophischen Lebens sehr weit. Nicht nur mit der Kritik des Humanismus im Jahre 1946,31 sondern schon früher in seinen (epistemologischen) Reflexionen über den Hiatus zwischen ›faktischem‹ Leben und den Konzepten, die es objektivieren. Insbesondere in Heideggers aufmerksamer Lektüre von Artistoteles’ Substanz-Begriff und in den Reflexionen darüber, dass der Ansatz des Denkens über das Leben nicht die Philosophie, sondern das Leben selbst sein muss – will man nicht, dass diese Kategorien von außen her auf das Leben einfallen32 – findet Esposito jene Frage wieder, die dann Bíos zugrunde liegt. Heidegger habe dennoch Probleme, mit den zeitgenössischen Medizinern, Biologen und Psychiatern wie Driesch, Ungerer, Roux und Uexküll zu kommu29  |  Siehe auch Moreiras in diesem Band. 30  |  In ihrem Beitrag in diesem Band betont Lisciani-Petrini Nietzsche, Canghuilhem sowie Foucault und Deleuze als Inspirationsquelle. 31  |  Vgl. auch Sloterdijk (2001) und Esposito (2012: 165). 32 | Esposito verweist auf Heideggers Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die pohänomenologische Forschung (1983) in der italienischen Übersetzung von E. Mazzarella (1990: 120, zit. n. Esposito 2012: 166).

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nizieren. Trotz des Austauschs mit ihnen und der Tatsache, dass sich diese der Philosophie öffnen wollten, hegte er eine fundamentale Skepsis gegenüber der Biologie. In der Polemik Heideggers sieht Esposito eine implizite Umkehrung der in der nazistischen Biopolitik vorherrschenden Dominanz vom biologischem Vitalismus zum Nachteil einer »bloßen« Existenz, denn für Heidegger gilt die ontische Überlegenheit des Daseins gegenüber jeder Definition von Leben. Biologisch definiertes Leben ist mangelhaft gegenüber einem Dasein als der einzige Modus des Offenen in der Welt, im Wohnen der Welt (vgl. Esposito 2002: 168f.). Erst Canguilhem wird tatsächlich über das epistemologische Rüstzeug verfügen, das die Polarisierung zwischen ›faktischem‹ Leben und objektivierenden Konzepten vom Leben zu überwinden vermag. Gegen die Objektivierung des Lebens und gegen die thanatologische Dynamik eines absoluten Vitalismus, der ›Existenzen ohne Leben‹ das Recht auf Leben abspricht, schlägt Canguilhem die nur scheinbar tautologische Thesis »das Denken des Lebenden muss vom Lebenden Selbst die Idee des Lebens erhalten« (Esposito 2002: 208) vor.

O ntologie und P olitik des L ebens : D ie ästhe tisch - politische D imension des I mpersonalen Esposito betont in Pensiero vivente, dass der Horizont der italienischen politischen Philosophie schon seit Machiavellis Betrachtung der Alltagsbedingungen des Souverän und Vicos Scienza Nuova das Lebende ist. Auch er hat nun das Lebende im Blick, wenn er in Terza Persona (2007) eine Art Antwort auf die Techniken des Selbst gibt und diese in eine ontologische Richtung verschiebt. Eine mächtige Verkörperung des Individuums muss er zunächst differenziert dekonstruieren, nämlich den Personenbegriff und den verführerischen Reichtum von dessen moralischer, juristischer und politischer Metaphorik. Die Person ist eine separatistische Maschine im Sinne des Agamben’schen Dispositivs, die schon im römischen Recht eine Einheit aus getrennten und hierarchisch angeordneten ›Unterpersonen‹ suggeriert.33 Die Kritik muss heftig ausfallen, steht doch dieses Dispositiv im Zentrum einer neuen Menschenrechtsdebatte nach der Katastrophe der Shoah und spielt sie zudem eine zentrale Rolle auch in der Präambel der Charta zu den Grundrechten der Europäischen Union vom 18.12.2000, wo im ersten der 54 Artikel der Charta der Personenbegriff die Schwelle der Dignität des

33  |  »Zwischen seinen extremen Polen gezerrt – bis hin zur Einschließung dessen, was als res (Ding) deklariert ist, wie die Sklaven – dient sie dazu, die Menschengattung in eine unendliche Serie von Typologien zu trennen, welche unterschiedliche Status haben, wie die der filii in potestate, der uxores in matrimonio, der mulieres in manu etc. wobei auf dem Weg dieses Begriffs sich immer neue Teilungen ergeben« (Esposito 2013: 10, dt. d. Vf.).

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Menschen definiert.34 Person gilt dabei als Synonym von Individuum. Gemeint sind alle Individuen, Männer und Frauen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aber auch Kinder und alte Menschen, einschließlich der Behinderten und der ›nicht menschlichen Entitäten‹ (etwa Institutionen als juristische Personen). Alle werden erfasst; der Umbrella-Begriff schließt alle Hierarchien ein; zugleich bestätigt und verfestigt er aber diese. In anderen Worten, das Dispositiv der Person ist für Ausschlussphänomene verantwortlich und produziert erst die Spaltung zwischen nómos und bíos, also zwischen Gesetz und Leben. In Due. La macchina della teologia politica e il posto del pensiero (vgl. Esposito 2013), wird die genealogische Analyse der Person ausgehend vom römischen Recht weiter geführt. Die Aporie des menschenfreundlichen Begriffs von Person wird schon im Werk des römischen Juristen Gaius sichtbar,35 der in einer für seinen historischen Kontext überaus demokratischen Weise erstmals den Personenstatus auch für Sklaven einführt, obwohl sie den Wert von Dingen haben, über die man verfügt und die verkauft werden können. Sklaven werden nach dem Gesetz als persona servilis mit erfasst, womit die zwei entgegengesetzten Kategorien von homines (liberi und servi) juristisch separiert, aber in der Person mit eingeschlossen werden (vgl. Esposito 2013: 98). Die Bipolaritäten sind vielfältig. Unter dem Umbrella-Konzept wird die Stratifizierung der Werte eindeutig festgelegt und binäres Denken gefördert. Deshalb ist Persona ein juristisches Dispositiv und ein semantischer Operator, dessen Macht darin liegt, einige von der Würde der voll anerkannten Person auszuschließen und als Person minderen Grades unter die Macht der vollen Person (liberi) zu stellen.36 Überdies wird das Leben schon im römischen Recht der Theologie und Ökonomie untergeordnet und mit einer potenziell zerstörerischen Semantik ausgestattet. Wie sehr das (amphibiologische) juristische Dispositiv der Person ökonomische Kriterien erfüllt (vgl. Esposito 2013: 99), sieht man, so Esposito weiter, an der alleinigen Macht des Gläubigers über das Leben des Schuldners (vgl. Esposito 2013: 102), eine Macht, die schon den dramatischen Kern von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig ausmacht. In Terza Persona ermöglicht erst die auf den ersten 100 Seiten erfolgte Dekonstruktion37 die Subtraktion der metaphysischen Reste des Individuums. Erst nach dieser Dekonstruktion kann die Frage nach dem Leben und dessen Verhältnis zur Politik im Leben selbst angesetzt werden. Die einsetzende Operation ist eine 34  |  Art. 20 der europäischen Grundrechte akzentuiert die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. 35 | Liberti vs. Sklaven, Sklaven vs. liberti, Kinder von Sklaven, die erst nach dem dritten oder vierten Verkauf das Recht erhalten, liberti zu werden, Kinder, die dieses Recht verlieren etc. 36  |  Als juristisches Dispositiv ermöglicht die Person also eine paradoxale Handlung, nämlich die Inklusion der Unterschiedenen oder gar Exkludierten (vgl. Esposito 2013: 98). 37 | Zur detaillierten Besprechung verweise ich auf den Aufsatz von Moreiras in diesem Band.

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Verschiebung, die schon in Bíos zu Heideggers Ereignis und zu Deleuzes hecceité geführt hatte, um dann mit Rückgriff auf den Begriff des »Fleisches der Welt« von Merleau-Ponty diesen Konzepten ›Wurzeln‹ im Leben zu verleihen. Überdies impliziert die Metapher des Fleisches die Entgrenzung von Körpergrenzen und Lebensformen, denn ›Fleisch‹ entzieht sich einer Schließung innerhalb seiner Grenzen und ist diesen gegenüber überschüssig (vgl. Esposito 2004: 173). Fleisch ist sodann die Spur des Lebendigen, nämlich von dem, was nicht in Formen restlos fassbar ist und es dennoch ermöglicht, die ›Urstiftung‹, also den Übergang von einer biologisch konzipierten Ontologie des Lebens, die mit Heidegger nicht denkbar war – kannte doch das bíos keine Weise des Seins – zu einer spatio-temporalen, d. h. historischen Dimension zu vollziehen (Esposito 2004: 175). Auch hier gelingt es Esposito, durch eine begriffliche Verschiebung das Konzept von ›Fleisch‹ aus der Dialektik von Verinnerlichung (durch eine mit christlichen Resonanzen verbundene spirituelle Metaphorik) und Entkörperung herauszuführen – auf die Gefahr der Entkörperung hatten Derrida und Nancy bereits hingewiesen (Esposito 2004: 78). Diese Verschiebung erfolgt in das Außen – so Espositos Hinweis auf Merleau-Ponty, für den das Fleisch auf keinen Fall eine Interiorisierung des Körperlichen impliziert, sondern vielmehr seine Exteriorisierung in den anderen Körper oder besser in das, was noch nicht Körper ist.38 Mit dieser Betonung der topologischen Dynamik des Fleisches bringt Esposito Alterierungsprozesse ins Spiel, die die Immanenz mit einer Nuance von Deleuze’schem Nomadismus deterritorialisierten (vgl. Bazzicalupo 2008: 66). Mit Bezug auf Deleuzes Studie zu Francis Bacon in Logique des sensations (1981) hebt Esposito nicht nur die unpolitische Qualität von Fleisch, sondern auch die Tatsache hervor, dass die etwa in Francis Bacon stattfindende Ausstellung des deformierten Fleisches ein alle ansprechender Schrei des Lebens gegen den Tod, die Verurteilung des Todes aus Sicht des Lebens sei (vgl. Esposito 2004: 195). Wie kann aber der Übergang vom unpolitischen Status des Fleisches zur Politik des Lebens erfolgen? Dieser Frage ist das letzte Kapitel von Bíos gewidmet, das mit der auch von Etienne Balibar reflektierten, etymologischen Gemeinsamkeit von Geburt und Nation beginnt (natio/nascor) – ein Nationsbegriff, der mit Bezug auf Freuds Moses-Interpretation in Moses und die monotheistische Religion erneut auf die Alterierung hinweist. Die Geburt eines ägyptischen Moses als Schöpfer des israelischen Volks kehrt die ausschließend-einschließende Bewegung der Identität um: Der Neugeborene ist in eine irreduzible Differenz hinein geworfen (vgl. Esposito 2004: 193). Deshalb hat die Geburt eine innovative Potenz (so auch Gilbert Simondon), die transindividual und vorindividual – damit ethisch und politisch – ist. Das Heidegger’sche Ereignis bekommt durch diese Schritte eine »biologische Rauheit« (grana biologica, Anm. d. Verf.), ereignet sich in der vitalen Faktizität, trennt den vitalen Funken 38 | »Das Fleisch verweist keineswegs auf eine Verinnerlichungsbewegung des Körpers, sondern wenn überhaupt auf seine Veräußerlichung in einem anderen Körper oder sogar in das, was nicht Körper ist« (Esposito 2002: 179, dt. d. Vf.).

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von der Person ab (vgl. Esposito 2004: 212), ist aber umso mehr Partikularität, die gegenüber allen Instanzen, nämlich dem sozialen Subjekt moi, oder der Subjektivität von je transzendent ist. Diese Partikularität könnte die Tonalität der Stimme sein, eine Differenz, die nicht im Besitz des Individuums ist, und auch nicht mit der Person koinzidiert. Diese Momente greift Esposito mit Bezug auf die von Simone Weil zugunsten einer irreduziblen Sakralität der Person selbst durchgeführten Kritik der politischen Unterordnung der Person zum Persönlichkeitskult auf, wenn er das Impersonale vorschlägt.39 Anstelle des individualisierten Lebens als personales Subjekt, betont Esposito die hecceité, die Singularität eines nicht individualisierten Neugeborenen, eine Singularität des Lachens, der Gesten, in der auch Deleuze die Erfüllung der absoluten Immanenz »eines Lebens« (und nicht des Lebens) sieht. Espositos Suche nach einem politischen Denken, das vom Leben selbst und nicht vom Recht oder von der politischen Philosophie stammt, die von außen her das Leben reguliert und gefangen nimmt, ist eine Forderung, die sich an exponierten Stellen mehrerer Studien und auch im ersten Kapitel von Dieci Tesi sulla Filosofia (2011) artikuliert und schließlich im Begriff des Impersonalen mündet. Gesucht wird eine Methode, die das Leben affirmiert und zugleich dessen absolute Setzung, d. h. dessen Fundamentalismus dekonstruiert. Espositos Methode antwortet auf die Frage: Wie kann eine Negation affirmiert werden, ohne daraus eine neue Positivität zu machen?40 Diese Methode kombiniert deshalb die Affirmation des Lebens mit der Dekonstruktion von dessen Essentialismus. Die Figur, die diese Operation erlaubt, ist der munus, aber schon im Impolitico, am Beginn von Espositos Philosophie, erkennen wir einen Denkweg, der zu seiner letzten, vielfach kritisierten Kategorie führen wird: dem Impersonalen.41 Der Weg vom Impolitischen, als intendierter Auseinandersetzung mit Kategorien des Politischen von Carl Schmitt zu einer der Ontologie des Lebens immanenten Politik des Impersonalen wird in diesem Band von Enrica Lisciani-Petrini und Dario Gentili rekonstruiert. Wir wollen zum Schluss fragen, wie das Impersonale operiert und warum diese Operation nicht so »unterpolitisch« ist, wie Alberto Moreiras in diesem Band postuliert. In beiden Begriffen bedeutet das Präfix Im weder eine einfache Negation des Politischen, noch ein äußeres Prinzip, wie z. B. der Ausnahmezustand für Carl Schmitt, oder das apolitische Vakuum einer postulierten »Gleichheit der Indiffe-

39  |  Der Bezug auf Simone Weil ermöglicht es Esposito, das Sakrale in der Person jenseits der Verbindung zwischen Politik und Persönlichkeit zu retten (vgl. Bazzicalupo 2008: 64). 40  |  »Wie kann eine Negation affirmiert werden, ohne dass sie in eine neue Positivität übergeht?« (Esposito 2011: 11, dt. d. Vf.). 41  |  Neben den Aufsätzen von Dario Gentili und Lisciani-Petrini in diesem Band verweise ich auch auf Campbell (2008).

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renz« des Ästhetischen wie etwa bei Jacques Rancière42; und es meint auch nicht eine Phase vor dem Ereignis des Politischen wie etwa der Begriff pre-évenential für Alain Badiou. Schließlich meint das Im auch nicht die Kehrseite des Politischen, etwa das von der Polis Ausgeschlossene, noch einen Außenraum, wie etwa Kunst oder Ästhetik als subjektive, dissidente Instanz, also ein Außenraum, der das Politische inoperabel macht, wie die perfekte Zeit der absoluten Immanenz von Agamben. In ähnlicher Weise ließe sich das Impersonale buchstabieren. Es meint nicht das Gegenteil von Persönlichem, was im Begriff ›unpersönlich‹ erklingt, das nach den Poetiken des Realismus des 19. Jahrhundert ein unbeteiligtes, distanziertes Verhältnis zu den Ereignissen – und zu dem Leben – erwarten lässt. Zwar wird in der heutigen Grammatik die dritte Person Singular als eine Morphologie des Unpersönlichen (lat. impersonalis) im Sinne jener Verben definiert, die allgemeineres ausdrücken, und deshalb ›impersonal‹ oder ›unpersönlich‹ genannt werden, weil sie ein expletives es und kein Subjekt haben. Gemeint sind Formen wie es regnet welche, weil sie nicht transitiv ein personalisiertes Subjekt ausschließen. In diese Richtung gehen auch die Erklärungen von Esposito, wenn er betont, dass mit dem Impersonalen nicht die Annihilierung der Person intendiert ist, sondern vielmehr ein Bruch mit der dualistischen Maschine der Person. Wir haben es also auch hier mit der Dekonstruktion des Dispositivs der Person zu tun, und dies bedeutet nicht ihre Verabschiedung, sondern ihre Alterierung, ihre Transformation. Das Impersonale umfasst die Person und ihre im Begriff eingeschriebene Negation (vgl. auch Bazzicalupo 2008: 64). Die Affirmation impliziert also auch die Subtraktion von deren Essentialismus oder Fundamentalismus. Deshalb ist das Impersonale auch die Zurückweisung einer Dominanz der Person – auch der grammatischen Person – gegenüber dem Leben und zugleich die Betonung der Grenzen des philosophischen und linguistischen Universums (vgl. Bazzicalupo 2008: 62). Nach der Dekonstruktion der Person als einer Maske, hinter der die Metaphysik des Individuums steht, bezeichnet das Impersonale die Leere im Zentrum, auf deren Basis die Verschiebungsoperation stattfinden kann, nämlich hin zur dritten Person, d. h. jenseits der Territorialisierung von Ich und Du, einschließlich der dialogischen Umkehrung zugunsten einer Ursprünglichkeit des Du. Zwar ist die Metaphorik des Dritten durchaus ambivalent und deshalb problematisch, weil sie im Sinne eines objektiven, juristisch autorisierten Dritten verstanden werden

42  |  So Rancière im Zusammenhang mit der Ästhetik von Gustave Flaubert: »Seine Ablehnung sogar hinsichtlich einer Mitteilungsfunktion der Literatur ist als das Zeugnis einer demokratischen Gleichheit zu verstehen. Er [Flaubert] ist demokratisch, sagen seine Gegner, wegen seiner grundsätzlichen Entscheidung, zu beschreiben statt zu belehren. Diese in-differente Gleichheit ist die Folge eines poetischen Grundsatzes: Die Gleichheit aller Subjekte entspricht der Negation jedweder Beziehung der Notwendigkeit zwischen determinierter Form und determiniertem Inhalt« (Rancière 2000: 16f., dt. d. Vf.).

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kann,43 doch bezieht sich Esposito auf die morphologische Charakterisierung von Émile Benveniste im obigen Sinne. Weil sich die ›dritte Person‹ jenseits der IchDu-Polarität (oder des Ich-Du-Dialogs) befindet, stellt sie den Kern der Immanenz des Impersonalen dar (vgl. Bazzicalupo 2008: 64). Die dritte Person ist irreduzibel, markiert sozusagen die Position des Lebens an sich. Diese Komplexität des Impersonalen begründet auch meine Übersetzungsentscheidung gegen die in den bisherigen Publikationen in deutscher Sprache verwendete Version des ›Unpersönlichen‹ Nur das Präfix in betont diese zugleich dekonstruktive und verschiebende Operation. Denn anders als das un, das das Gegenteil meint, impliziert in das Insistieren in etwas, was mit Person gemeint ist, aber zugleich deessentialisiert ist und auf das singuläre Ereignis der hecceité, des partikulären Lebens reduziert werden muss. Das Impersonale ist die Person ohne die politische Idolatrie des Personalismus. Es ist eine Insistenz im Lacan’schen Sinne (vgl. Lacan 1966), nämlich durch das Halten eines dislozierenden Spiegels vor den politischen Begriff der Person. Durch die Entdifferenzierung der Person wird auch die ursprüngliche Einheit des Lebenden restituiert, und es ist die mit dem Impersonalen mögliche persona singularis-pluralis, die im politischen Handeln zum munus, zur Pflicht zur Gabe, fähig ist. Die Operationen der ›Entleerung‹ des essentialistischen Kerns der Begriffe hat einiges gemeinsam mit der Heidegger’schen Operation des Zurücksetzens als Weg der Verwindung der Metaphysik. Die von Heidegger im Brief über den Humanismus gesuchte Bewegung ist nicht die der Überwindung oder der Transzendierung, sondern des Zurückgehens zur Armut der Essenz dieser Begriffe. Der Weg, um den Essentialismus des mit der Person veredelten Individuums zu annullieren, setzt auch die Operationen zurück, die das Leben zerstören, und es ist auch der Weg, eine Negation zu affirmieren, ohne eine neue Metaphysik zu gründen. Dies war auch der Weg, mit dem Heidegger den Nihilismus dekonstruiert hat, damit sich die Lebendigkeit der ›Welt‹ ereignen kann. Esposito versteht den Wert des Lebens als Wille zur Macht und damit als jene Potenzialität, die indes erst dann hervorkommt, wenn man das Denken bis zur Armut der Politik zurücksetzt, bis zum leeren Platz im Herzen der Politik. Dieser leere Platz darf nicht verwechselt werden mit der produktiven Abwesenheit eines sich entziehenden Seins, und umgekehrt auch nicht mit der destruktiven Macht des Nihilismus als Weg der europäischen Geschichte. Jean-Luc Nancy warnt etwa vor einer solchen Verwechselung, wenn er von der Überwindung des Christentums spricht. Nancy bezieht sich auf die Entbergung, die durch diese Operation möglich ist, nämlich das Offenlegen des leeren Platzes im Herzen des Christentums, eine Leere, die zugleich das Öffnen der Welt ermöglicht.44 43  |  Vgl. zur Kritik des Dritten als den Konflikt schlichtende und die Nähe des Antlitzes zerstörende Instanz Borsò (2012a). 44  |  Die Analyse von Nancy führt zu einer Art A-Theologie, was nichts mit dem Atheismus zu tun hat, sondern vielmehr eine ›schwache‹, de-essentialisierte Form von Glauben meint.

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Genau dieses Zurücksetzen durch die Leere im Zentrum der Begriffe ist die Operation, die Esposito durchführt, um den ontologischen Horizont des Lebens ans Licht zu bringen – so bespricht er in Dieci Tesi seine eigene Methode: Es sind »Operationen von Subtraktion, also Abzug, und zugleich Suche nach etwas, das auf den ontologischen Horizont hinweist, der als solcher darin begraben ist« (Esposito 2011: 15, dt. d. Vf.). Diese Operationen dekonstruieren die internen Aporien der Konzepte, wie etwa die automatische Produktion von ›Nicht-Personen‹ durch den Personenbegriff, sie entleeren dessen Essentialismus, suchen aber nach Spuren einer ontologischen Substanz, die in diesen Konzepten begraben ist, so auch Heideggers ›Bewegung des Entbergens‹. Das Präfix In des Impolitico und Impersonale meint also nicht das Gegenteil von Politischem und Person, sondern ihre Dekonstruktion und Verschiebung im Angedenken von dessen ontologischen Horizont. Diese Verschiebung ist eine Bewegung der Alterisierung, die das Wiedereinsetzen des munus herbeiführt und den Blickwinkel auf die Grenzräume verschiebt, dort von wo das Außen im Inneren aufscheint. Es ist »der perspektivische Raum, der sich an der liminalen Linie befindet, der ihn von dem trennt, was er nicht sein kann« (Esposito 2011: 11, dt. d. Vf.) Die immanente Alterität ist die Spur des Seins, das Esposito – dem epistemologischen Modus von Canguilhem folgend – als biologisch-materielle Spur denkt. Eben diese Alterität bedarf neben der Affirmation der Immanenz des Lebens auch der Subtraktion essentialistischer Kerne politischer Interpretationen, wie auf der einen Seite das kommunitaristische Gemeinsame und auf der anderen Seite das separatistische Subjekt oder die sich mit Immunität schließende Gesellschaft. So ist ›die Pflicht zur Gabe‹ eine Dekonstruktion in beiden Richtungen. Der munus entessentialisiert Gesellschaft und Subjekt und führt beide zu ihrer eigenen Alterierung, und genau in dieser Operation drücke sich die Spur des sich entfaltenden und zugleich schützenden Lebens selbst aus. Esposito verbindet zwei Paradigmen, die sich in der Regel wechselseitig exkludieren: Dekonstruktion auf der einen Seite und biokulturelle Netzwerke auf der anderen Seite. Die Immanenz der Interaktion wird bejaht, aber die jeweiligen Semantiken stets dekonstruiert, so dass sie nicht Essentialismen heimfallen. Dieses Verfahren begründet die Kategorie des Impersonalen, mit der die Thanatopolitik des Gesellschaftlichen arre-

So plädiert er für eine Kreation ex-nihilo, was ebenso wenig mit dem Nihilismus zu tun hat, denn während der Nihilismus aus dem Nichts ein Prinzip macht, heißt für Nancy Kreation ex-nihilo das Zurücksetzen aller Prinzipien, einschließlich des Nichts: »Schöpfung bedeutet, das Nichts von aller Prinzipienhaftigkeit zu entleeren« (Nancy 2005: 22, dt. d. Vf.). Diese Methode, die wir auch bei Esposito beobachtet haben, basiert auf der Operation der Subtraktion und des Entzugs von Sinn, um den ›Sinn des Sinnes‹ wieder zu öffnen (vgl. Nancy 2005: 182).

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tiert oder umgangen werden soll.45 Ausgehend von der Kritik von Simone Weil an der Kopplung des Guten mit der Idolatrie der Person als zoon politicós, bezweckt das Impersonale die Blockierung des unmerklichen Übergangs von ich zu einem sozialen wir, was auch eine Transformation der Beziehung der persönlichen Nähe zu einer der Ferne im gesellschaftlichen Leben bedeutet. Die Leere des Impersonale schafft Fluchtlinien aus dem Gefangensein des Lebens im Personendispositiv und schafft Raum, damit sich das evento impersonale des bíos als Lebenskraft und Kraftfeld ereignen kann.46 Für die Konturierung des Impersonalen ist deshalb auch Emmanuel Lévinas unverzichtbar, dessen ›Antlitz‹ in Terza Persona eine zentrale Rolle spielt, nämlich als das Jenseits der Personalpronomina, die Subjekte in definierte Positionen lokalisieren.47 Das Impersonale impliziert die sensorische Nähe des Antlitzes sowie die Bereitschaft zur Ansprache des Anderen durch Affekte – beides auch für die ethische Beziehung zum Anderen grundlegend, wie Emmanuel Levinas in Autrement qu’être (1974, 1988) (Anders als Sein geschieht), seinem Hauptwerk nach Totalité et Infini (1961), postulierte. Sensibilität steht hier für ›Sinn als Geste‹, als Energie des Sagens, bevor die Geste zur dauerhaften Handlung wird. Lévinas’ Beispiel des Hungers als Affekt und Geste verdeutlicht einmal mehr die Operation, die Esposito mit dem Impersonalen durchführt. Hunger ist zugleich der Person immanent, ohne jedoch in ihrem ›Besitz‹ zu sein. Auch für Levinas hat deshalb Subjektivität keine Koinzidenz mit sich selbst; es handelt sich um eine Subjektivität, die jede Identität eludiert. Das Hauptmoment des dritten Kapitels von Anders als Sein geschieht betreffend Sensibilität und Nähe ist tatsächlich die Alterierung des Selbst durch den Affekt, der von einem nicht in die Gegenwart einzuholenden oder zu entschleiernden Anderen herrührt und das ermöglicht, was in Levinas’ Terminologie die ›Anarchie‹ von dessen Spuren bedeutet. Eine derartige Ethik der Alterierung ist auch eine Form von Ästhetik,48 und dies scheint auch Roberto Esposito zu postulieren, wenn er an exponierten Stellen seiner Studien auf die Anregungen durch ästhetische Prozesse verweist. Das Impersonale wie das Impolitische bedürfen Prozessen der Unterbrechung der Kohärenz von Repräsentation, damit sie nicht, wie in der Politik, zu einer Repräsentanz der Ordnung wird (vgl. Esposito 2011: 3, 24-25). Es sind die weiter oben 45  |  Die Kontinuität dieses Projektes erkennt man an nachstehender Aussage in Categorie dell’Impolitico: Die Thanatopolitik stellte juristische Dispositive als Pharmaka gegen die unendlichen Opferpyramiden sicher, an deren Füßen sich auch und gerade in der euroamerikanischen Geschichte Millionen von Tote angesammelt haben (vgl. Esposito 1998b: 169). 46  |  In Anlehnung an Deleuze und Foucault sind diese Kraftfelder nicht in der Position der ersten oder zweiten Person, sondern in der impersonalen, dritten Person zu finden. 47 | Zur Bedeutung des Antlitzes für das Impersonale verweise ich auch auf den Aufsatz von Moreiras in diesem Band. 48  |  Ich verweise auch auf die Beschreibung in der Einleitung (»Ästhetische Mediationen« und »Leben, das Mediale und die Technik aus Sicht des Ästhetischen«).

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vorgestellten Strategien des Entzugs eines essentialistischen und überdeterminierenden Zentrums – etwa Unterbrechung, Risse, Subtraktion – und der Verschiebung notwendig, damit dem Ereignis des Lebendigen stattgegeben werden kann. Angesichts dieser auch von Jacques Rancière für eine Politik des Ästhetischen als einschlägig genannten, avantgardistischen Verfahren (vgl. Rancière 2000) wundert es nicht, dass Esposito in Dieci Tesi auf die Enciclopedia Acefalica und auf die in der Zeitschrift Acéphale (1936 – 1939) erschienenen Texte von Georges Bataille sowie den anderen ›unorthodoxen‹ Surrealisten hinweist. Die Methode des Acéphale besteht in der Tat im Aufzeigen der Leere im Zentrum des Mythos des Rationalismus (vgl. Esposito 2011: 14). Die Lücke in der Ordnung wird sichtbar, die produziert und zugleich verdeckt, unsichtbar gemacht wird, aber auch die Spur des Überschusses am Leben wird erfahrbar, das – gleichsam parasitär49 – die Konfiguration der Ordnung begleitet. Wenn also das Lebendige in epistemologischen Konfigurationen verschwindet, die das Leben objektivieren, so wird es doch im Ästhetischen durch Intensitäten erfahrbar, die Raum für die Spuren des Überschusses vom Lebenden zulassen. Das Potenzial dieser Dimension hat Analogien mit dem, was Foucault im Zusammenhang mit dem Archiv der Infamen Menschen (2001) oder auch in Bezug auf die Anormalen (2003) beschreibt. Es sind immer wieder bestimmte Intensitäten, die den Leser während der Sichtung des Materials aus Berichten von Internierung, Strafpsychiatrie oder Gerichtsgutachten bei bestimmten Textpassagen physisch berühren.50

E spositos »P ost-H eideggerianische « O ntologie Heideggers Nähe von ›Welt‹ und Kunstwerk ist ein unverzichtbarer Impuls für eine Ästhetik des Ereignisses.51 Aber auch in »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹« (1943) sind Impulse in Richtung einer Ereignisästhetik erkennbar. Denn bestimmte Konstellationen von Subjekt und Repräsentationsästhetiken sind Dispositive des zerstörerischen Gangs in der Geschichte des Abendlandes, so Heidegger in seinem Nihilismus-Aufsatz. Das metaphysische Subjekt de cogito transformiert die sich ereignende Präsenz des Seins in eine Repräsentation, die eher eine Repräsentanz im Sinne einer Adäquanz zu Wertesystemen und Standards ist, und reduziert dabei die Welt zu Objekten des Wissens. Und auch was das Recht betrifft, 49  |  Michel Serres beschreibt mit dieser Metapher das Auftreten von ›Störungen‹ der Transparenz der Kommunikation als Symptom der Präsenz eines Operators im Zusammenhang von Natur und Kultur, ein Operator bei allen Weisen der Beziehung, seien diese biologischer, physikalischer oder sozialer Art (vgl. Serres 1980). 50  |  Bei einem Internierungsregister des 18. Jahrhunderts weist Foucault auf zwei Eintragungen hin, die »mehr Fasern in [ihm] aufgerüttelt haben als das, was man gewöhnlich Literatur nennt.« (Foucault 2001: 9). 51  |  Vgl. hierzu die Einleitung in dem vorliegenden Band.

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wird aus Gerechtigkeit eine »justificatio« (Heidegger 1977: 244), eine politische und wissenschaftliche Legitimation des Willens zur Beherrschung der Welt und der ihr dienenden Sicherheitsdispositive. Die Ontologie – des Lebens, würden wir mit Esposito ergänzen – bedarf anderer Repräsentations- und Subjektbegriffe, deren Geste die Aufmerksamkeit gegenüber dem Ereignis des sich Entbergens vom Sein ist. »Repräsentation« kann nur eine Ästhetik des Ereignisses sein. Nur das Subjekt, das durch das ständige Selbstüberwinden die Alterierung des eigenen Willens zur Macht zulässt, vollzieht keinen Übergriff auf das Sein in dessen autonomer Lebendigkeit und lässt so Raum für das Ereignis der Lebendigkeit alles Seienden zu. Die Erfahrung der Vitalität des Seins ist eine Kraft, die das Subjekt von außen inspiriert, sodass sich ›Welt‹ im ›Kunstwerk‹ entbergen kann.52 In Bíos wird Heidegger als der größte Denker des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Die Ontologie Heideggers, nämlich die ontologische Differenz zwischen dem Seienden, dem politische und historische Formen zugeschrieben werden, und dem sich dem Zugriff entziehenden, sich entbergenden Sein, von dem Heidegger gerade durch seine Metaphysik-Kritik nicht abgerückt ist, ist für die Ontologie einer Politik des Lebens fundierend. Als eine der wenigen Stellen zeigt sich Leben als Qualität des Seins in Heideggers Besprechung des Nihilismus, bei der er den Unterschied zwischen einer Politik der sich entfaltenden Potenzialität des Lebens als Willen zur Macht und dem nihilistischen, d. h. destruktiven Gang der europäischen Geschichte betont. Der Nihilismus sei nicht nur eine Denkfigur des 19. Jahrhunderts, sondern bestimme die abendländische Geschichte. Destruktiv sei dabei die Tatsache, dass das kartesianische Subjekt und die rein rational-wissenschaftlich bestimmte Sicht der Welt die metaphysischen Instanzen eines säkularisierten Gottes dargestellt haben. Weil der Wille zur Macht zur Politik der Macht und nicht des Lebens wurde – so betont auch Esposito – entstand der thanatologische und autoimmunitäre Kurzschluss in der abendländischen Geschichte. Diese Geschichte, in der Menschenleben ein Kollateralschaden darstellt, hat die Erde in eine verbrannte Wüste verwandelt. Die todbringende Politik über das Leben hat sich an (lebensexternen) Werten orientiert, nämlich Religion, Politik und Wissenschaft, die in Fortsetzung der Metaphysik absolut gesetzt wurden und es nicht gestattet haben, dass sich die Lebendigkeit des Seins an sich ereignet: »Das Wertdenken der Metaphysik des Willens zur Macht ist in einem äußersten Sinne tödlich, weil es überhaupt das Sein selbst nicht in den Aufgang und d. h. in die Lebendigkeit seines Wesens kommen läßt. Das Denken nach Werten läßt im Vorhinein das Sein selbst nicht dahin gelangen, in seiner Wahrheit zu wesen« (Heidegger 1977: 263). All diese Entitäten haben den Platz Gottes eingenommen. Das kartesianische Cogito, das starke Subjekt und die Objektivierung von Welt haben das Sein zu Objekten reduziert, die vor das ego cogito gestellt werden, damit der Mensch seinen 52  |  Ich verweise auf meine Analyse (Borsò 2012).

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Willen zur Macht gegen die Welt konsolidiert. Zwar distanziert sich Esposito auch in Bíos von Heidegger insofern, als Heidegger den Begriff des Lebens, weil zu biologisch, ablehnt und sich für Dasein entscheidet, doch ist die Konfiguration des Offenen und der Seinsdifferenz gegenüber dem Seienden für das Denken einer Politik des Lebens als Potenzialität unverzichtbar. Wie sich das Sein Objektivationen des Seienden entzieht, so entzieht sich Leben den objektivierenden Konzepten, um aber ästhetisch oder auch als biowissenschaftliches ›epistemisches Objekt‹ aufzuscheinen. Es ist die Weise, in der auf Heideggers Spuren heute die Ontologie des Lebens konfiguriert werden kann. Ebenso wie die Heidegger-Lektüre ist in Bíos auch die Auseinandersetzung mit Nietzsche bemerkenswert. Obwohl Nietzsches aristokratische Unterscheidung zwischen dem starken und dem schwachen Leben mit entsprechender Negation des Letzteren einen Übergang zur thanatologischen Politik der Nazis bereiten könnte, dekonstruiert der Übermensch in der Analyse von Esposito das immunitäre Paradigma selbst und wendet es in dessen Gegenteil. Die Alterierung des Menschen durch das Paradigma des Tiers hat zwar Resonanzen mit deterministischen und aggressiven Tendenzen des Sozialdarwinismus. Doch ist in Nietzsche mehr als nur das Durchsetzungsmodell des Darwinistischen struggle for existence zu finden. Denn der Überlebenskampf ist bei Nietzsche (und Foucault) mit dem eigenen körperlichen Tod verbunden und hat deshalb keine konstitutive Rolle für die Steigerung eines Machtverhältnisses. Krankheit und Gesundheit, Wachstum oder Abstieg des Lebens sind auch bei Nietzsche nicht voneinander zu trennen. Diese Ununterscheidbarkeit oder wechselseitige Abhängigkeit, die wir schon im Zusammenhang mit der Umkehrung von Norm und Pathologie bei Canguilhem besprochen haben, ist eine Offenheit zum Leben, die sich auch in Nietzsches »Animalisierung des Menschen« (Esposito 2004: 112) wiederfindet. Dieser Prozess ist nicht etwas Archaisch-Vergangenes. Vielmehr sollte er als das Zeichen der Übersetzung eines Posthumanen – so könnte man riskieren – Übermenschen verstanden werden, vermerkt Esposito (Esposito 2004: 113). Die Animalisierung ist die Alterierung des Menschen, der fähig ist, die eigene Spezies nicht mehr in humanistischen, oder anthropologischen, sondern anthropotechnischen und biotechnologischen Begriffen zu denken (vgl. Esposito 2004: 113).

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Genealogie: von der ›Menschenwerdung‹ zur ›Tierwerdung‹

Biopolitik und Zoopolitik Salvo Vaccaro »Am Anfang geht das Leben weiter.« A ntonin A rtaud

Das Verhältnis von Politik und Leben reicht bis zu den Ursprüngen einer jeden menschlichen Gemeinschaft zurück, die sich in ihrem Inneren ein Minimum an stabiler Organisation gibt. In diesem Sinne gibt es in Bezug auf die funktionelle Äquivalenz seit jeher eine Art ›Biopolitik‹ oder ›Zoopolitik‹, ganz gleich, was eine bestimmte Gemeinschaft innerhalb eines spezifischen historischen Kontexts unter Politik und Leben verstanden haben möge. In der Tat kann man Politik als einen spezifischen Einschnitt in die Natürlichkeit der Ordnung der Dinge und der Welt begreifen, wobei diesem eine Legitimität beikommt (oder auch nicht), welche außer in Momenten radikaler Umbrüche nicht grundsätzlich hinterfragbar ist. Unter dem Begriff ›Leben‹ lässt sich hingegen ein Naturzustand verstehen, dessen Mysterium mit seiner Nennung als solcher koinzidiert, mit dem Enigma seiner Emergenz und mit dem tragischen Schicksal seines unabwendbaren Endes: das Intervall eines ›Existierenden‹ in einem tiefdunklen Ozean, in welchem das Nicht-Sein souverän herrscht. Das Verhältnis von Politik und Leben, welches den Rahmen für die Befragung von dessen Konsistenz bildet, ist indes gewissermaßen zweitrangig im Vergleich zu jener Grundlage des Denkens, die wir unter dem Begriff ›Ontologie‹ resümieren können, verstanden als Spekulation, dass eine ursprüngliche und archetypische Beziehung zwischen dem Lebenden und der Welt, zwischen einem wie auch immer gearteten Lebenden und der Welt als dessen vitalem Element besteht. Die Philosophie allerdings beschränkt sich nicht darauf, dieses Verhältnis zu reflektieren. Vielmehr erlegt sie es auf, setzt es als Grundstein ihrer erbaulichen Konstruktion und geht soweit, es als Gegebenheit und nicht als Spekulation darzustellen. Auf diese Weise verschleiert die Ontologie mittels einer Maßnahme der Entbergung, die die Wahrheit einer vorgestellten Tatsache enthüllt, die konstruierende wie auch erbauliche Pragmatik, während sie in Wirklichkeit das Verhältnis von Lebendem und Welt in-Form-setzt. Dabei räumt sie dem spekulativen Denken gegenüber jeder anderen In-Form-Setzung das Primat (im ontologischen Sinne) ein.

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Parallel dazu gehört es zu den spezifischen Zielen einer jeden Politik, die vom Leben anzunehmenden Formen festzulegen. In diesem Sinne offenbart die geo-historische Kontingenz, innerhalb derer sich eine gegebene Lebensform abzeichnet, jene dem Leben formgebende Dynamik oder, besser gesagt, das Spannungsfeld seiner In-Form-Setzung sowie die Obsession seiner Kontrolle, seiner Dressage, seiner Domestizierung. Kurzum: Die Macht des Lebens tendiert stets dazu, sich als Macht über das Leben zu deklinieren. Dabei ist die Natur dieser Macht zutiefst politisch. »Die Vitalisierung der Politik und die Politisierung des Lebens tendieren dazu, sich in einem einzigen semantischen Geflecht zu überblenden.« (Esposito 2004: 172; Dt. d. Ü.) Ohne Zweifel lässt sich von Aristoteles bis Hobbes ein nicht unbedeutender doppelter Übergang vom antiken zum modernen Denken verzeichnen. Erstens: die Konsumption der Natur als Identität zwischen Denken und Welt, innerhalb derer sich der Bruch zwischen der athenischen Politik des fünften Jahrhunderts v. Chr. und der typischen monarchischen Tradition immer noch vor dem Hintergrund der Natur positioniert. Zweitens: die Hegemonie der Politik, die im Sinne eines performativen Artefakts den »Durchbruch der Natürlichkeit der Art im Inneren der politischen Künstlichkeit eines Machtverhältnisses« (Foucault 2004: 42) neu interpretiert und die Beziehung zwischen Lebendem und Welt im Zeichen der prometheischen Geste des Menschen wiederherstellt. Die Innovation der Moderne findet in diesem Übergang ihre emblematische Chiffre: die Dialektik des Vergessens und der auf die Vergangenheit angewandten Tabula rasa, die das gleiche Primat des Logos, der die eigenen Wurzeln in die Zeitvergessenheit versenkt, unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt. Die konstante und permanente Annullierung, mittels derer die Moderne die Tradition belastet, ist, so Adorno auf den Spuren von Nietzsche, die Transformation des Identischen. Anders gesagt: Es wandeln sich wohlgemerkt die Lebensformen, aber die Ontologie, verstanden als Werk des Denkens, hört nicht auf, ihr spezifisches Verhältnis zur Welt, deren konkrete und reale Gestaltung die Politik vornimmt, in-Form-zu-setzen, und zwar indem sie das Leben in ihrem Inneren einfängt. An dieser Schnittstelle markiert das Analyseschema der Biopolitik, welches Foucault auf der Schwelle zwischen souveräner Macht und gouvernamentalen Formationen im liberalen Zeitalter ins Spiel bringt, eine politische Ökonomie der Moderne, innerhalb derer es gilt, das Leben gemäß einer Affirmation von Werten zu kanalisieren und auszurichten, durch welche die Unterwerfung des Lebens im Sinne von Opportunität, Chancen und Biografien angestrebt wird. Gleichzeitig dezentriert sich somit der Anspruch einer oppressiven und repressiven Herrschaft, die das Leben lediglich als Grenze der Ausbreitung der souveränen Macht versteht. Bekanntlich ergibt sich die Emergenz eines solchen Schemas spätestens mit Foucault, der die Absicht verfolgt, die kategoriale Zentralität der juristischpolitischen Instanz der mittelalterlichen und später protomodernen Souveränität zu demontieren. Dabei macht er in der Verwaltung des Lebens mittels neuer Formen politischer Macht das Zeichen eines neuen Verhältnisses von Politik und

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Leben aus: das souveräne Sonderrecht der Antike, »sterben zu machen oder leben zu lassen wurde abgelöst von einer Macht, Leben zu machen und in den Tod zu stoßen« (Foucault 1977: 165)1. Dieses veränderte Zeichen beeinträchtigt die Bedeutung der Souveränität allerdings nicht: auch bei Hobbes führte die Todesangst zur Unterwerfung unter den Souverän, welcher das Leben, sei es durch dessen gewaltsame oder institutionelle Aneignung, garantierte. Der Lebenswille präzisierte sich so als Rest angesichts der Hypothek einer tödlichen Umarmung, eingedenk der gewaltsamen Eroberung von Territorien und insbesondere von Menschen. Diese Eroberung begründete die Errichtung des modernen Staates und die Zivilisation der guten Manieren. Die von Foucault vorgenommene Umkehrung der Zeichen befreit das Leben aus seiner Restfunktion, indem sie das Verhältnis von Politik und Leben im Modus der Minorität beschreibt: Das Leben wird Leben gelassen, ohne die Erpressung des Todes zu erleiden, welcher zur äußersten Bedrohung oder zur Grenze des Zugriffs der Macht verbannt wird. Dabei steht die Erpressung des Todes nun nicht mehr im Zeichen der Abschöpfung, sondern höchstens der Investition. Insgesamt handelt es sich um jene Strategie, die Foucault ›Gouvernementalität‹ nennt: eine rationale Regierungslogik. Der Übergang der Machtübergabe vom Absolutismus zum Liberalismus entwirft, auch wegen der sich sukzedierenden Eliten an der Macht, einen in funktioneller und disziplinärer Hinsicht engen Zusammenhang zwischen Wissen und Macht. Das Heraustreten des Wissens aus den arcana imperii bedeutet dabei eine Verstreuung von Kompetenzen, die zum Zwecke des progressiven Anwachsens der Regierungstechniken aufgewertet werden, nämlich im Sinne der »sorgfältige(n) Verwaltung der Körper und der rechnerischen Planung des Lebens« (Foucault 1977: 167)2 . Dies fördert gleichzeitig eine Reihe von Fragestellungen zutage, die eine Antwort im Sinne von Projektion und Erprobung der ars governandi (›Kunst des Regierens‹) nahelegen. Die Geburt der Wissensdisziplinen wird deshalb zu einem Knoten, der sich im Herzen der Technologien der Bio-Macht und im Herzen der Deklination des modernen Logos einpflanzt: »Die Grammatik des Wortes ›wissen‹ ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte ›können‹, ›imstande sein‹. Aber auch eng verwandt der des Wortes ›verstehen‹. (Eine Technik ›beherrschen‹.)« (Wittgenstein 2011: 100) Die Wert-Setzung des Lebens wird folglich zu einer strategischen Achse der liberalen Regierungspolitiken, die just in jener modernen Ära, für die Foucault mit Sorgfalt die technologischen Innovationen hervorhebt, mit den imperialistischen Abenteuern in den Kolonien koexistieren, welche in der später so genann1 | Vgl. auch die Vorlesung vom 17. März 1976 (Foucault 1999: 276-305). Siehe hierzu das Echo der »souveränen Macht« in Esposito (2007: 18), dem zufolge, die die persona bestimmende Maschine die letztgültige Differenz markiert zwischen dem, was leben soll und dem, was rechtmäßig in den Tod gestoßen werden kann. 2 | »Die Besetzung und Bewertung des lebenden Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte waren unentbehrliche Voraussetzungen.« (Foucault 1977: 168)

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ten Dritten Welt zu Biopolitiken des Genozids führen. So lässt sich die »Schizophrenie« des Liberalismus erklären, die gleichzeitig und paradoxerweise sowohl eine affirmative Biopolitik des Lebens als auch eine Thanatopolitik hervorbringt, welche Agamben – allerdings nur am Ende eines langwierigen Prozesses im 20. Jahrhundert – auf das Paradigma des Konzentrationslagers als deren Stigma zurückführt. Bezüglich Foucaults Unterscheidung zwischen Individuum und Bevölkerung, aber auch über Foucault hinaus, sind zwei weitere, doppelte Trennungen am Werk: Die erste, welche auf das römische Recht und auf Descartes zurückgeht, betrifft die Zäsur zwischen Person und Körper, welche die politische Biologie zu vereinen sucht, indem sie der »biologischen Natur des Körpers die Person aufdrückt« und schließlich beide vernichtet. Die zweite, zeitgenössische Trennung, die die Menschheit durch »eine doppelte biologische Falte im Inneren eines jeden Lebenden gespalten sieht: die eine vegetativer und unbewusster und die andere zerebraler und relationaler Natur«. Im Ergebnis führt dies dazu, die Freiheit der Leidenschaften und des Willens der rigiden Prä-Determination des »biologischen Faktums mit seinen in der Gesamtkonfiguration präexistierenden und unverrückbaren zwei Trennungen« anzuvertrauen. (Esposito 2007: 9, 10, 16 und Esposito 2004, I: 6f., 32f.; Dt. d. Ü.) Daraus ergibt sich jene Art der Betrachtung des Tierischen, die eine Hierarchie innerhalb des Lebenden erzeugt, auch hinsichtlich der Uniformität des Todes. Je nachdem welches Leben auf dem Spiel steht, ist dieser dennoch frei und zugleich gefangen. Auch hier schreibt sich das Spiel des Lebens in das aufklärerische Kalkül ein, das schon in der Dialektik der französischen Aufklärung erkennbar wird. »Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt – ›es ist ja bloß ein Tier‹-, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das ›nur ein Tier‹ immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten. In der repressiven Gesellschaft ist der Begriff des Menschen selber die Parodie der Ebenbildlichkeit.« (Adorno 1975a: S. 133f.) 3

In letzter Instanz ist die Biopolitik eine Bioökonomie, also eine Ökonomie des Lebens und dessen In-Wert-Setzung vor dem Hintergrund eines heteronomen Jochs. Das »Faktum des Lebens« wird lieber in das Kalkül der Dyade Macht/Wis3  |  Siehe hierzu die gegensätzliche Position Espositos, der in seinem bezeichnenderweise Thanatopolitik genannten vierten Kapitel den Eifer der Nationalsozialisten bezüglich der Unversehrtheit der Tiere zulasten der Juden in den Konzentrationslagern aufzeigt. Obgleich es sich immer um Zootechnik (Tierhaltung) handelt, so ist diese ausschließlich menschlich. (Vgl. Esposito 2004: 139)

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sen übernommen, die die Handlungen des Lebewesens in integrative, unternehmerische Techniken verwandelt: »Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« (Foucault 1977: 171) Das, was unter diesem Blickwinkel erzählt wird, ist nicht etwa die Natur des gefangen genommenen Lebens, sondern die Epistemologie des politischen Wissens der Moderne samt der Vereinnahmung des Lebens. Der von Foucault mittels des biopolitischen Analyseschemas benannte Bruch unterstreicht eine, wenn auch nur graduelle, Zäsur in Bezug auf die der liberalen Ära vorausgehenden Formen der Souveränität, insbesondere wenn man diese Formen innerhalb des Rahmens der klassischen Politischen Philosophie liest. Andererseits fügt dieser Bruch den Untersuchungen des ursprünglichen Verhältnisses von Politik und Leben wenig hinzu, seien diese Untersuchungen nun genealogischer oder dekonstruktiver Art. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn man eine kritische Forschung anstrebt, die sich dem Riss und der Fluchtlinie zuwendet, einem Konzept von Leben also, das nicht mehr der Politik unterworfen ist, sondern die eigene Autonomie konstruiert, ohne sich in eine vorgegebene Form einkapseln zu lassen: »Nicht das Leben im Dienste der Politik, sondern die Politik in der Form des Lebens an sich denken […], damit sich hervortut, was dem Blick aufgrund der Umklammerung durch sein Gegenteil bisher verborgen blieb.« (Esposito 2004: XVI; Dt. d. Ü.) So betrachtet, kann sich die Antwort auf die Frage »Welches Leben?«, die sich im ambiguen Begriffspaar zoé/bíos spiegelt, entlang eines zoopolitischen Weges artikulieren, an dessen Horizont die Desubstantivierung des Lebens mittels einer Neuformulierung der zoé als ein Konzept steht, das das Lebende zu definieren vermag. Im Wesentlichen heißt dies auf der einen Seite, das Werden des Lebenden, welches sich nicht in ein einheitliches Bedeutungsgeflecht einschließen lässt, wiederherzustellen. Vom Aristotelischen Vermächtnis ausgehend, das zoé und bíos in Einklang bringt, geht es ferner darum, den Gleichklang zwischen der zoé als dem Lebenden – das vom menschlichen Blick nicht assimiliert und in seiner Animalität nicht domestiziert werden kann – und der Karawanserei des Zoos zu entzweien und zu entkoppeln. Dieser Zoo spiegelt als Sinnbild des menschlichen Umgangs mit dem Animalischen die eigene Bestialität. Auf der anderen Seite zielt die Dekonstruktion des Verhältnisses von Politik und Animalität darauf ab, die ontologische Chiffre des als hierarchisch überlegene Stufe in der Domestizierung des Seins verstandenen Humanen zu umgehen, um eine wilde und unbestimmte4 Lebens-Form zu restituieren. Diese Lebensform solle zum Fluchtraum für ein objektiviertes Leben werden, das sich in Richtung Tier-Werden bewegt, in Richtung eines keimenden Lebens (Deleuze), das an eine im buchstäblichen Sinne verstandene, nicht tödliche Verbindung mit der Politik anknüpft.

4  |  Unbestimmtes oder formloses Leben ist m. E. geeigneter als »nacktes Leben«; Anmerk. des Autors.

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In Aristoteles’ Politik sucht man vergeblich nach einer semantischen Differenz zwischen zoé und bíos, nach einer pragmatischen Verortung, die auf eine signifikante Unterscheidung dieser zwei Begriffe zurückführt oder nach einer Divergenz, die nicht bloß lexikalisch, sondern überhaupt eine vage Adjektivierung wäre. Zoé lässt sich nicht vollständig auf die menschliche Animalität reduzieren, wenn gilt, dass bíos einen Qualitätssprung markiert, infolge dessen sich, wie später bei Heidegger, das dem Sein eigene Gerüst errichten ließe. Gegebenenfalls kann nur eine Strategie der bei Aristoteles nicht auffindbaren Akzentuierung der qualitativen Differenz die Politik mit jener souveränen Geste ausstatten, durch die eine gegebene Form in einer noch »wilden« Gemeinschaft errichtet wird, welche es zu Wohlstand und Glück, d.h. zum politisch unterworfenen »guten Leben« (eu zen) zu führen gilt. Anders ausgedrückt, die Dyade ist Gegebenheit – Form, welche die westliche Metaphysik begleitet und kritisches Denken erfordert, ist nicht auf Aristoteles und seine erste, duale Artikulation des Lebens zurückzuführen. Tatsächlich führt dann erst die Moderne, besonders im Zeichen von Descartes, diese Aufspaltung im Denken ein und dezentriert die Politizität des Lebens von der Position, die das Humane besaß, um die Vernunft zur den Menschen begründenden primären Grundlage zu erheben. Indem Descartes die mehr oder weniger originäre Erzählung des Lebens an die aufkommenden Geisteswissenschaften und dann an die Anatomie, Medizin oder Biologie, anstatt an die Theologie oder Kosmologie delegiert, und indem er theoretisch die Möglichkeit begründet, dass das Wissen darauf hinzielt, »dem Leben das Geheimnisvolle zu entreißen« (Foucault 2008: 11; Dt. d. Ü.), indem er aber gleichzeitig mit der disziplinarischen Anordnung über einen Türöffner für die Umgehung des Lebens verfügt, setzt er die Aristotelische Zoopolitik vollkommen außer Kraft. Dabei verändert er das animal rationale, das im Lateinischen aus dem klassischen zoon logon echon die ens cogitans machte, womit unter anderem eine Verwechslung zwischen dem kontemplativen Nous (Geist) und dem nicht auf ihn zurückführbaren Logos (Vernunft) einhergeht. Auf diese Weise befördert die Moderne jenen Prozess der Entpolitisierung, den Habermas als eine der konstitutiven Aporien darstellt. Und zwar dadurch, dass das Verhältnis zwischen Leben und Welt auf den reduzierten und beklemmenden Zusammenhang der Ich-Welt zurückgedrängt wird. Diesem zufolge trägt das Individuum (selbst in seiner universellen Postulierung) die Last, den Sinn seines In-der-Welt-Seins erkennen zu müssen, ohne diesen weder von einer theologischen Dimension (typisches Erbe der christlichen Epoche) zu befreien, noch ihn auf eine kollektive, geteilte und gemeinschaftliche Ebene überführen zu können. Angesichts des Verschwindens des Gemeinschaftlichen und einer mittlerweile von der Sozialität der menschlichen Beziehungen und der Vitalität der Existenz abgespaltenen Politik – wobei die Existenz selbst in einer physischen und einer organischen Körperlichkeit gespalten ist – bewaffnet sich das Individuum konsequenterweise mit Worten und Gedanken, um die beklemmende Angst vor der Einsamkeit abzuwehren. Der Körper selbst wird wiederum gemäß den hier-

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archisierten Funktionen, denen die Organe zum Zwecke des Überlebens und der Reproduktion gehorchen müssen, zertrümmert und dekomponiert. Jene Funktionen werden aber nicht ausgehend von den zuständigen Organen analysiert, sondern ausgehend von einer taxonomischen Ordnung, die nach einer synthetischen Verallgemeinerung des Lebens strebt, wie sie sich in der Biologie als Disziplin konfiguriert. Die sich vom biologischen Mechanizistischen unterscheidende Einheit des Lebens manifestiert sich nur als enigmatische Repräsentation, welche sich aus Zerteilung und Rekomposition ergibt, wie sie die Medizin und Biologie als rationale Disziplinen zu erzielen wissen. Weil die Identität des Seins in den Bedingungen des entkörperten Denkens versinkt, ist »das Leben an den Grenzen des Seins das, was ihm äußerlich ist und sich dennoch in ihm manifestiert«. (Foucault 1967: 296; Dt. d. Ü.) Vor diesem Hintergrund ist die Zäsur zwischen Klassik und Moderne unbestritten. Die ›Irreführung‹ (Derrida) der Dimension des Lebendigen, die schon bei Aristoteles zwischen dem rein politischen Projekt des eu zen und einem Ethos des dem Politischen äußerlichen Gemeinwesens (sun zen) oszilliert, dehnt die eigene Wirkung von Wissen/Macht auf die Substantivierung einer beweglichen Dynamik aus, welche sich nunmehr im Begriff ›Leben‹ herauskristallisiert. Als Subjekt und tragende bzw. fundierende Substanz setzt sich das Leben an historisch variablen Orten fest, welche nur noch mittels differenzierter Analyseschemata wahrnehmbar sind und die fortwährend die souveräne Position eines Ausstrahlungszentrums einnehmen, verstanden im Sinne einer einheitlichen Ursprungsquelle, aus der heraus sich eigene Lebenszeichen weiter vererben. Nur mit dem Eintreten konzeptueller Innovationen, die die Erforschung des Lebenden einem polymorphen Netz molekularer Prozesse anvertrauen, welche im Rahmen diverser evolutiver Grammatiken beschrieben werden können, kann es der Befragung des Lebenden gelingen, jener substantiellen Gefangenschaft zu entkommen, auf die Nietzsche hingewiesen hat: »[A]ls eine solche unlebendige und doch unheimlich regsame Begriffs-und Worte-Fabrik habe ich vielleicht noch das Recht, von mir zu sagen cogito, ergo sum, nicht aber vivo, ergo cogito. Das leere »Sein«, nicht das volle und grüne »Leben« ist mir gewährleistet; meine ursprüngliche Erfindung verbürgt mir nur, daß ich ein denkendes, nicht daß ich ein lebendiges Wesen, daß ich kein animal, sondern höchstens ein cogital bin. Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Kultur daraus schaffen!« (Nietzsche 1934: 90) 5 5  |  Ansonsten schließt Derrida die von Nietzsche eröffnete Umkehrung: respiro, ergo sum (ich atme, also bin ich), womit das dem Menschen Eigene und dessen Affinität zum Faktum des Lebens gemeint ist. »More precisely: the living being: not Life, the Being or Essence or Substance of something like life, but the living being, the presently living being, not the substance Life that remains life, but the attribute »living« to qualify or determine the present, the now, a now that is supposedly essentially living, presently living, now as living.« (Derrida 2009b: 218)

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Die von Nietzsche mit Bezug auf Descartes konstatierte Unterscheidung bestätigt ein westliches Klischee: die hierarchische Überlegenheit des Menschen als singuläres Kollektiv gegenüber dem Tier. Der Kartesianische Zweifel richtet sich folglich insofern an Aristoteles, als dass die für den Menschen typische Verantwortlichkeit ins Zentrum rückt, nämlich dessen Fähigkeit, auch antworten und nicht nur zu reagieren sowie dessen Vermögen, verifizieren und negieren zu können – und zwar im Sinne einer bewussten und willensstarken Entscheidung, die nicht von der rigiden und starren Determination durch den Instinkt diktiert wird. Dennoch ist dieses Gefühl der Überlegenheit, wie Nietzsche sarkastisch erörtert, nichts anderes als die Manifestierung eines ›dominanten Instinktes‹ und der Animalisierung eines dem Menschen eigenen politischen Wesenszugs sowie der Wille zur Macht und die »spirituelle Aneignung« (die ›Funktion der Verdauung‹), die darauf zielt, »zu regieren […], vorzusorgen […] und vorherzubestimmen« (Nietzsche 1984: 4548). Diese hierarchische Trennung von Mensch und Tier nährt sich von dem ethischen Anspruch, d.h. von der Autopositionierung des Menschen als »ein Tier, dem es erlaubt sei, Versprechen zu geben, […] ein regelrechtes Problem des Menschen« (Nietzsche 1984: 45-48). Dennoch betrifft diese Trennung nicht die Unterscheidung der Spezies, sondern lediglich den menschlichen, allzu menschlichen Zug, andere zu dominieren und sie zu unterwerfen, indem man ihnen eine niedrigere Rangstufe zuschreibt und sich selbst zum ›souveränen Individuum‹ erhebt, verstanden als ›Wertemaßstab‹ aller lebendigen sowie leblosen Dinge, ein Individuum, das kraft dieser moralischen Auto-Transzendierung in der Lage ist, sich dem anderen Menschen überlegen zu fühlen und folglich diesem als unterlegenem animalisierten Anderen überlegen zu sein. (Vgl. Nietzsche 1984: 45-48; Dt. d. Ü.) Derrida stellt gerade das Eigene des Menschen, jene spezifische Verantwortlichkeit, die dem Tier fehlen soll, in Frage, indem er stattdessen den Verdacht äußert, die linguistische Fähigkeit zu antworten (statt lediglich zu reagieren), sei für den Menschen nicht stets verfügbar, da der Mensch im Rahmen unserer jüdisch-christlichen Kultur benannt wird, also einen Namen erhält. Er selber kann stattdessen nur jemanden benennen, nachdem er in seiner himmlischen, göttlichen Humanität scheitert, im Moment des Sündenfalls: Das ist jener fatale Moment, in dem Adam und Eva sich selbst verlieren (vgl. Derrida 2006: 57f.; vgl. auch Mailard 2008). Die Wiederholung der hierarchischen Nennung, Paradigma der göttlichen Schöpfung, verwirklicht sich in der Namensgebung von Tieren: ein Vermächtnis von Freiheit und Neugierde, mittels dessen Gott die Autoritätsinstanz spielt und einen für ihn infinitesimalen, für den Menschen jedoch erheblichen Teil dieser Autorität delegiert, infolgedessen sich der Mensch hartnäckig an dieses imperiale Vermögen klammert. Die Selbst-Positionierung des Ich in cogito, ergo sum ist folglich eine »Selbstreferenz als Bedingung des Denkens, als das Denken selbst; und ebendies ist das Eigene des Menschen, dessen das Tier beraubt wäre« (Derrida 2010: 143). Die menschliche Objektivierung des Ich sei ein Kind des unzweifelhaften Logozentrismus’, aber gilt dies auch für die Tiere im Allgemeinen, fragt sich Derrida? Und

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was, wenn sie einen anderen Objektivierungsprozess der eigenen, einzigartigen Identitäten verfolgten? Die westliche Philosophie ist dieser Forschungsperspektive ausgewichen, hat in Anschluss an Kant die Überlegenheit der Spezies ohne weitere Auslegungen entlang einer Evolutionslinie der Art früher/später, vorher/ nachher vorausgesetzt und so einen aufsteigenden Progressismus herauf beschworen, der typisch für die Aufklärung ist und der eine qualitative Differenz ins Feld führt, welche Darwin radikal in Frage stellt. Kant durchschneidet den aristotelischen Zusammenhang zwischen Animalität und Sozialität, indem er diese letztgenannte ausschließlich dem Menschen zuschreibt, wobei Animalität die umgekehrte Übertragung des Hobbes’schen Modells des bellum omnium contra omnes bedeutet, innerhalb dessen es nun die wilde Bestie ist, die zum Akteur einer zivil organisierten, d.h. gezähmten, unmöglichen Gesellschaft wird. Die Logik ist dieselbe, wenn auch umgedreht: Bei Hobbes ist das Unmögliche menschlich, aber seit dem tierischen Modell des homo homini lupus sagbar; bei Kant hingegen ist das Unmögliche tierisch, aber seit dem menschlichen Modell einer Überlegenheitsoptik gegenüber der Animalität sagbar. »Die Sozialisierung der menschlichen Kultur geht Hand in Hand mit dieser Schwächung, mit der Domestizierung des gezähmten Tiers, sie ist nichts anderes als das Vieh-Werden des Tiers (devenir-bétail de la bête). Die Zähmung, Bändigung, Domestizierung des »zahmen Viehs« ist die Sozialisation des Menschen. Als Individuum wäre auch der Mensch, wie das wilde Tier (bête sauvage), bereit, mit seinen Nachbarn Krieg zu führen, um seine unbedingte Freiheit zu bekräftigen. Es gibt also keine Sozialisation, keine politische Konstituierung, keine Politik ohne Prinzip der Domestizierung des wilden Tiers (animal sauvage). Die Idee einer Tierpolitik (politique du animal), die behauptete, daß sie mit dieser Macht, dem Tier (bête), dem Vieh-Werden des Tiers zu befehlen, brechen würde, wäre absurd und widersprüchlich. Die Politik setzt das Vieh (bétail) voraus.« (Derrida 2010: S. 145) 6

Allerdings konfiguriert der Rahmen, innerhalb dessen Derrida seine Kritik der von Descartes gestützten und von Nietzsche kritisierten Entwertung des Lebens ansiedelt, eine Dekonstruktion der menschlichen Ontologie, welche ihren Ursprung im Blick des Menschen auf das Tierische hat. Die enge, nicht nur lexikalische Verwandtschaft zwischen zoé und der Konzentration der Animalität durch den Menschen, nämlich der Zoo, führt auf nicht banale Weise dazu, die Behandlung des Tierischen durch den Menschen in Erwägung zu ziehen, die auf eine nicht bloß analoge Befragung hinsichtlich der Behandlung des Menschen als Tier zielt. Schon Adorno hat die zoologischen Gärten als Allegorien der universellen 6  |  »In den Märchen der Nationen kehrt die Verwandlung von Menschen in Tiere als Strafe wieder. In einen Tierleib gebannt zu sein, gilt als Verdammnis. […] Auch der Glaube an die Seelenwanderung in den ältesten Kulturen erkennt die Tiergestalt als Strafe und Qual. […] Jedes Tier erinnert an ein abgründiges Unglück, das in der Urzeit sich ereignet hat.« (Horkheimer/Adorno 1969: S. 264)

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Flut stigmatisiert. Das Errichten einer Art Arche Noah in jeder Stadt bot dem Bürgertum den fiktiven Eindruck einer Hoffnung auf Heil, während gerade diese, in der imperialistischen und kolonialen Epoche entstehenden Gärten »[…] die Freiheit der Kreatur umso vollkommener [verneinen], je unsichtbarer sie die Schranken halten, an deren Anblick die Sehnsucht ins Weite sich entzünden könnte. […] Je reiner die Zivilisation die Natur erhält und transplantiert, umso unerbittlicher wird diese beherrscht.« (Adorno 1975a: S. 149)7

Sich Adorno anschließend und über ihn hinaus, geht Derrida parallel den zwei Institutionen zoologischer Garten und Psychiatrie im postrevolutionären Europa des 19. Jahrhunderts nach und bringt einige Gemeinsamkeiten ans Licht: einen spezifischen, »autoptischen, objektivierenden sowie devitalisierenden Blick« (Derrida 2009a: 369; Dt. d. Ü.)8, der aus der theoretisch-theatralen Inszenierung hervorgeht, die danach strebt, die Neugierde, im Sinne von Wissensgier, von tiefgründiger Beobachtung oder der Lust, zu prüfen und sich zu informieren, zu befriedigen. Der Zoo ist somit nicht nur ein Dispositiv für Gefangennahme und Gefangenschaft, durch die das Leben jener Subjekte, die interniert sind, eine radikal andere Gestalt annimmt oder objektiviert wird durch wissenschaftlichen Zugriff und unnatürliche, artifizielle Reproduktionspraktiken. Der Zoo ist folglich auch das Emblem eines Umgangs, der jegliche Form von Freiheit durch Maßnahmen der Einschließung degradiert – eine Pflege und Sorge, die sogar internalisiert wird. Auf diese Weise ergibt sich ein überkreuzter Zusammenhang zwischen der Behandlung des Tierischen und der Sorge für den Menschen, so dass die Sorge für das Tier von der Behandlung des Menschen nicht unterscheidbar ist: Das Tier wird menschlich behandelt, aber der Mensch wird wie ein Tier behandelt. Giorgio Agamben hat diese anthropologische Maschine wie folgt definiert: »Insofern in ihr die Erzeugung des Humanen mittels der Opposition Mensch/Tier, human/ inhuman auf dem Spiel steht, funktioniert die anthropologische Maschine notwendigerweise mittels einer Ausschließung (die immer auch ein Einfangen ist) und einer Einschließung (die immer schon eine Ausschließung ist).« (Agamben 2003: S. 46f.) 9

Auch Peter Sloterdjik hat den von Foucault als der Moderne zugehörig typisierten Begriff Dressage zu deklinieren versucht. Foucault selber hatte sich damit befasst, 7  |  Vgl. auch Morris (1970); Bancel u.a. (2002). 8 | »Die Gewalthandlungen des Menschen den Tieren gegenüber sind nichts anderes als Tyrannei-Übungen sich selbst gegenüber.« (Millet/Petitier, 2009: 68; Dt. d. Ü.), vgl. auch Burgat (2006). 9  |  »Die Unterdrückung der Tiere hat immer als Modell für jegliche Form von Unterdrückung gedient und die Bestialisierung (bestialisation) des Unterdrückten dient als Alibi für dessen Vernichtung.« (De Biasi 2009: 58; Dt. d. Ü.)

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die Säkularisierung der Pastoralmacht zu skizzieren, welche im christlichen Zeitalter ihren ideologischen Höhepunkt erreicht. Wenn die Pastoralmacht ein ausgezeichnetes Bild des von Hobbes unter dem Gesichtspunkt der Souveränität ausgearbeiteten Gesellschaftsvertrags repräsentiert, insofern als der Hirte Sorge für die Schicksale aller und des Einzelnen trägt (»omnes et singulatim«) und die Herde innerhalb eines umzäunten Feldes führt, verwandelt sich die Sorge in der Moderne in Disziplin, soll heißen: in jene Unternehmung, die sich des einzelnen Individuums annimmt, um es körperlich so lange zu drillen, bis sein Verstand die erteilten Unterweisungen, welche zum freiwilligen Gehorsam führen, mit Leichtigkeit und spontan, gleichsam einer zweiten Natur, verinnerlichen möge. Ist die Seele erst mal eingefangen, wird sie zum Gefängnis für den Körper, da es der Körper ist, der durch eine Rüstung minuziöser und genauster Übungen eine Domestizierung erfährt, wobei diese Übungen eine komplexe Praxis bedecken, die den Körper gefügig machen. Dieser Spur folgend, definiert Sloterdijk den ›Menschenpark‹ als jenes umzäunte Feld, als den durch das Denken des Seins strukturierten sozialen Raum, innerhalb dessen jede Form von Macht- und Autoritätsübung das primäre Ziel ist, nämlich die Domestizierung des Seins. Der bürgerliche Humanismus verfeinert und zieht jene zoopolitische Aufgabe in die Länge, die Platon bereits für eine unverdächtigere Epoche ausgemacht hatte: die Verwaltung des menschlichen Parks durch einen teilenden und trennenden Schnitt, der die Politik charakterisiert Gewalt und Akkulturation sind das doppelte Register, durch welches die Domestizierung des Seins voranschreitet. »Zum Credo des Humanismus gehört die Überzeugung, daß Menschen Tiere unter ›Einfluß‹ sind und daß es deswegen unerlässlich sei, ihnen die richtige Art von Beeinflussungen zukommen zu lassen.« (Sloterdijk 1999: S. 17). Dabei reicht es, die entsprechenden Medien auszumachen, auszuwählen und zu produzieren, und gegebenenfalls die Schlichtheit des Platonischen Modells anzuführen, das, gemäß einem dem Klassenkampf vorauseilenden zoologischen Kampf, zwischen züchtenden Tieren und gezüchteten Tieren unterscheidet. Gleichermaßen begreifen Moderne und Postmoderne die Lektion von Nietzsche, wonach der Mensch »des Menschen bestes Haustier« (Nietzsche 1957: 138)10 ist. Andererseits sehen sie in dieser Lektion eine Bewegung hin zu einer nominalistischen Selbst-Identifizierung, während Nietzsche seinen Zarathustra gegen Priester und Lehrer jeglichen Schlags wettern ließ und laut Sloterdijk »eher mit einer Zucht ohne Züchter, also einer subjektlosen biokulturellen Drift zu rechnen wäre« (Sloterdijk 1999: 42). Letztendlich ist der Pastor des Seins, sei es Gott oder der theologisch legitimierte Souverän, nicht mehr der Eine, sondern einer, keiner, hunderttausend, d.h. das Sein selber, Aufseher und Bewachter zugleich. Um es auf den Punkt zu bringen: Mikrobiopolitik. 10  |  »In dieser vom Schein befreiten Welt, in der die Menschen nach Verlust der Reflexion wieder zu den klügsten Tieren wurden, die den Rest des Universums unterjochen, wenn sie sich nicht gerade selbst zerreißen, gilt aufs Tier zu achten nicht mehr bloß als sentimental, sondern als Verrat am Fortschritt.« (Horkheimer/Adorno 1969: 270)

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Derrida fasst das pragmatische Konzept der Domestizierung, der Züchtung, Dressur und Bändigung – kurzum: die Erziehung – im Verhältnis von Animalität und Welt zusammen und begreift Animalität als das Element des Lebenden, das es zwecks seiner beliebigen Verfügbarkeit zu ergreifen gilt. Anders ausgedrückt, wird das Tier zur Warnlampe der ontologischen Beschlagnahmung des Menschlichen, die das westliche Denken, welches das Lebende mittels der Verarmung seiner Beziehung zur Welt negiert (so versteht Heidegger die Animalität des Lebenden), aktualisiert, um ausschließlich dem schon repräsentierten, menschlichen Leben die Potenzialität zu übertragen, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen. Die Welt ist ihrerseits vorbestimmt, sich schicksalhaft und fatalistisch vom Sein, das Körper und Geist leitet, einfangen zu lassen. Die menschliche Spezies glaubt so, sich vom vorhergehenden Stadium emanzipieren zu können, indem der Mensch dem Tier-Sein und dem Verbleiben in diesem Stadium entgeht: Nur so ist die Entwicklungskette des Verhältnisses von Sein und Welt zu erklären, welche Heidegger den nicht-animierten Dingen in Gänze abspricht, den Tieren aber in einer depotenzierten und verarmten Weise einräumt, um sie lediglich jenem Teil der Menschheit zu garantieren, die sich über die Animalität erhebt. Die Domestizierung ist die Chiffre der politischen Ontotheologie der Souveränität, der Herrschaft: »Sovereignty equals arkhé, arkhé equals logos, the logos that creates, that causes to come or advene, and that creates the living being, the life of the living (zoé), the evangelic logos, which basically repeats genesis and speaks of an origin of the world created by the sovereign, God, by an all-powerful fiat, which is, let’s say, zoological, the fiat of a logos producing zoé, a zoé that is light, appearing, phos, photology for mankind. (Derrida 2009b: 417)11

Diese Verkettung ist natürlicherweise politisch, d.h. Aristoteles zufolge naturgemäß politisch. Damit zeigt dieser an, dass die Verbindung zwischen Menschheit und Welt ein eigens politisches Sein definiert, dessen Essenz zoopolitisch ist, womit das Leben im Inneren eines in der Dimension der Immanenz erfolgten, politischen Einschnittes eingerichtet wird. Dabei wird das Lebende durch die Simulation seiner spezifischen Ontologie dem Politischen unterworfen. Die häusliche Unterwerfung ist die verschleierte und irregeleitete Spur der durch die westliche Metaphysik verfassten Narration, innerhalb derer Eigentum und Aneignung stets synonym sind und das Eigene des Menschen dem Aneignungsdispositiv stets angepasst ist. Dieses Dispositiv ist naturgemäß politisch, insofern als es die Narben der ursprünglichen Gewalt, der archaischen bzw. archäologischen Abhängigkeit des Lebenden, dem per Zufall ein Leben zuteil wird, vergisst.

11  |  Vgl. auch Odello (2005) und Amato (2008).

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Und so liest Derrida, mit Bezugnahme auf Benjamin, Heidegger: »For the legein or the logos as gathering, as Sammlung or Versammlung, which Heidegger holds to be more originary than logos as reason or logic, is already a development of force and violence. Gathering is never, says Heidegger, a simple putting together, a simple accumulation, it is what retains in a mutual belonging (Zusammengehörigkeit) without allowing itself to disperse. And in this retention, logos already has the violent character of a predominance or, as it is translated [into French], a predominance, a Durchwalten of physis. Physis is that Gewalt, that deployment of force, which does not dissolve into the void of an absence of contrasts or contraries (in eine leere Gegensatzlosigkeit), but maintain what is thus »durchwaltet«, traversed, shot through by the development of sovereignty, or of forces, in the highest acuity of its tension (its tension itself extreme, one might say sovereign, »in der höchsten Schärfe seiner Spannung«). So the logos is itself, however one interprets it, as gathering, Sammlung or, later as logic, reason or understanding – the logos is already, always, of the order of power, force, or even violence, of the order of that Gewalt that is so difficult to translate (force, violence, potency, power, authority: often legitimate political power, force of order: walten is to reign, to dominate, to command, to exercise a power that is often political: sovereignty, the exercise of sovereignty, is of the order of walten and Gewalt).« (Derrida 2009b: 425f.)

Daher kann sich eine zoopolitische Differenz nicht aus der ontologischen Versöhnung zwischen Mensch und Tier ergeben, indem man etwa das Tier vermenschlicht und den Menschen animalisiert, also durch einen Counter-Chiasmus. Vielmehr geht es darum, die Aufhebung des double bind zu verwirklichen, um der Starrheit der Instinkte, mit denen der Mensch das Tier etikettiert hat, zu entkommen, und mit der er (der Mensch), als Kriterium für eine politische und moralische Überlegenheit, das Tier auf die Unfähigkeit zur Verantwortlichkeit festgeschrieben hat, obwohl doch das Tier, man könnte sagen zu seinem »ethischen« Vorteil, niemals oder nur ausnahmsweise innerhalb der eigenen Spezies tötet und den Anderen zu objektivieren versucht. Auch ist das Tier kein Sklave aus Feigheit, wie Derrida unterstreicht, wenn er Plutarco zitiert und die gemeinsame Linie von Etienne de La Boétie, Rousseau, Pierre Clastres und Adorno aufgreift: »Cowardice never led a lion to become enslaved to another lion, or a horse to another horse, as it does human beings, who readily welcome the condition which is named after cowardice. » (Derrida 2009b : 45)12 Darüber hinaus geht es darum, jener menschlichen Willkür zu entkommen, die dazu tendiert, die »Zugehörig12 | »Im animalischen Leben findet sich daher nichts, was ein Verhältnis von Herr und Untergebenem einführte, nichts, was auf der einen Seite Autonomie und auf der anderen Abhängigkeit begründen könnte. Die Tiere haben, da sie sich gegenseitig auffressen, freilich ungleiche Kräfte, aber nie herrscht zwischen ihnen etwas anderes als dieser quantitative Unterschied. Der Löwe ist nicht der König der Tiere: er ist nur eine im bewegten Wasser höher schlagende Welle, die die schwächeren unter sich begräbt.« (Bataille 1997: 20)

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keit des Menschen zum Reich des Tierischen zu negieren« (Roudinesco 2009: 75; Dt. d. Ü.)13, und die gleichzeitig als höchste Hybris eines gewaltig schöpferischen Willens theologisch durchdekliniert wird – eine Hybris, die in der durch die Sprache gegebene Lebensform ihre ursprüngliche Matrix findet (vgl. Grondin 2007: 32-39)14. Nicht nur steht von Melville bis Sartre und von Scheler bis wiederum Adorno (vgl. Derrida 2003: 11) das Vermögen, Nein sagen zu können, auf dem Spiel, oder etwa eine zu leichtfertig nur dem Menschen, und nicht dem Lebenden an sich zugewiesene Fähigkeit. Auf dem Spiel steht insbesondere die Suche nach der Dimension des Unbekannten, der Leere, der Subtraktion, der Minorität zwischen Mensch und Tier, die »den Apparat der Gefangennahme, verstanden als Potenz der Aneignung« (Deleuze-Guattari 1987: 639; Dt. d. Ü.)15, jeglichen Sinns enthebt. Es ist die Deleuzianische Fluchtlinie, die da ansetzt, wo Benjamin stehen geblieben war: bei der Gewalt, verstanden als Schicksal der menschlichen Spezies. Ist es möglich, der Ontozoologie der Macht zu entkommen? Diese ist auch die Fragestellung von Roberto Esposito, der bei der Zusammenführung der beiden Kategorien Biopolitik und Immunisierung eine solche Frage in Abrede zu stellen scheint. Das immunitäre Paradigma verbindet »bíos und nomos, Leben und Macht« auf engste Weise und stellt sie in eine wechselseitige Beziehung der Verbindung und Erhaltung, der zufolge es unmöglich wird, einen Denk-Raum der Politik ohne Macht, die dem objektivierten Leben äußerlich wäre, ausfindig zu machen. Ebenso unmöglich wird es, eine Lebensform aufzufinden, die ihrerseits außerhalb »von Machtbeziehungen steht. So gesehen ist die Politik nach Esposito nichts anderes als die Möglichkeit bzw. das Werkzeug, welches das Leben am Leben erhält«. Paradoxerweise ist es ausgerechnet Nietzsche, der der Politik und dem Leben mit seinem a-biologischen Vitalismus eine entscheidende Wendung verleiht, und zwar indem er beides als »originäre Modalität, wonach das Lebende ist oder das Sein lebt« (Esposito 2004: 41-42, 82; Dt. d. Ü.), zusammen13 | »Vom Selbst wäre nicht als dem ontologischen Grunde zu reden, sondern einzig allenfalls theologisch, im Namen der Gottesebenbildlichkeit.« (Adorno 1975a: 204) 14  |  »Nicht eine einfache Wieder-Tiermachung des nunmehr vermenschlichten Menschen, sondern eine Art Mensch-Sein, die sich nicht mehr durch ihre Fremdheit der eigenen tierhaften Herkunft gegenüber definiert.« (Esposito 2007: 140; Dt. d. Ü.) 15  |  Deleuze folgend lädt Agamben dazu ein, über die Grammatik der Macht nachzudenken, die nicht nur die aktive Dimension eines Tunkönnens enthält, sondern auch eine ebenso passive, die sich aufteilt in ein Nichttunkönnen und ein Unterlassenkönnen: »Impotenz bedeutet hier nicht nur Mangel an Potenz, Nichttunkönnen, sondern auch und vor allem unterlassen können, die eigene Potenz nicht ausüben können. […] Der Mensch ist das im Modus der Potenz existierende Lebewesen, das genauso gut, wie es etwas kann, auch sein Gegenteil vermag. […] Derjenige, der von dem getrennt wird, was er kann, kann dennoch Widerstand leisten, hat noch die Möglichkeit zu unterlassen. Derjenige der von seiner Impotenz getrennt wird, verliert hingegen vor allem die Fähigkeit zum Widerstand.« (Agamben 2010: 78ff.)

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führt. Beide Verknüpfungen allerdings sind dem Werden des Willens zur Macht zuzuschreiben, keineswegs im banalen oder irreführenden Sinne einer gewaltsamen Aneignung, sondern vielmehr im Sinne einer Potenzierung der Möglichkeiten, denen das Leben im Werden begegnet, oder besser gesagt: auf der einen Seite durch die maßlose Erweiterung der eigenen Potentialitäten, also durch das Heraustreten aus den Grenzen, innerhalb derer das Leben eingeengt, objektiviert und substantiviert wird, auf der anderen Seite durch das Ablegen des domestizierenden Einflusses von Kultur und Erziehung (vgl. Nietzsche 1992: Aphorismen 681 und 684). Dies führt zur These von Georges Canguilhem, dem zufolge »das Lebende die objektiven Parameter des Lebens stets übersteigt« (Esposito 2004: 208; Dt. d. Ü.), und zwar im Sinne einer »dynamischen Potentialität der Grenzüberschreitungen« (Canguilhem 1998: 90; Dt. d. Ü.). Diese Bewegung bezeichnet Deleuze als Tier-Werden, das in einem keineswegs symbolischen, metaphorischen, allegorischen, sondern überaus realen Diagramm eine Reihe von anti-ontologischen Übergängen, im Sinne der westlichen Begriffsdefinition, verkettet, die gegebenenfalls eine Zoopolitik des Multiplen, des Molekularen, des Minoritären, des Virtuellen eröffnen. »Tier werden heißt genau, die Bewegung vollführen, die Fluchtlinien in ihrer ganzen Posivität trassieren, eine Schwelle überschreiten, vordringen zu einem Kontinuum aus Intensitäten, die nur noch für sich selber Geltung haben, eine Welt aus reinen Intensitäten finden, wo alle Formen sich auflösen, alle Bedeutungen, Signifikanten und Signifikate, um lediglich ungeformte Materie, deterritorialisierte Ströme, asiginifikante Zeichen übrig zu lassen.« (Deleuze/Guattari 1976: 20)

Die theoretische Voraussetzung, oder besser die radikale Herausforderung, um diesseits einer wissenschaftlichen, ethischen, religiösen oder philosophischen Validierung die Desubstantivierung des Lebens in seiner ontologischen Vollkommenheit denken zu können, besteht nun darin, den Akt des Denkens und der Materialität in eine Dimension absoluter Immanenz einzuschreiben, welche im Zeichen des Multiplen und der Differenz die Unendlichkeit der möglichen und virtuellen Kombinationen erzählt. Eine »›Dimension des Lebens‹, eine »Dimension der Natur […] natürlich und immanent« (Deleuze/Guattari 1987: 369 und 387; Dt. d. Ü.)16, innerhalb derer das Lebende fließen kann. Es handelt sich um eine Dimension, in der sich tangentiale Punkte von Dichte auftun, deren Stabilität sich aus der Kontingenz des Multiplen beziehungsweise der pluralen Kräfte ergibt, die sich Schritt für Schritt, gemäß prekären, gleichwohl existenten Alli16  |  »Kein Menschenleben, das offen und frei zu den Objekten sich verhält, reicht aus, zu vollbringen, was im Geist eines jeden Menschen als Potential vorhanden ist; es und der Tod klaffen auseinander. […] Je mehr das Bewußtsein der Tierheit sich entwindet und sich zum Festen und in seinen Formen Dauernden wird, desto mehr verstockt es sich gegen alles, was ihm die eigene Ewigkeit suspekt macht.« (Adorno 1975b: 362; kursiv d. Vf.)

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anzen, verketten und wieder trennen. Eine mit diesem philosophischen Ansatz kohärente zoopolitische Sichtweise beschränkt sich nicht darauf, das politische Moment der pluralen Dimension des Lebenden unterzuordnen. Vielmehr konfiguriert sie »einen Bruch mit den zentralen, bereits errichteten oder sich in der Konstituierung befindenden Institutionen« (Deleuze/Guattari 1987: 358; Dt. d. Ü.)17. Außerdem wird sie in erster Linie die politische Organisierung des Lebenden unauflöslich an die tief greifende Entmachtung der Idee von dem Einen und der Einheit binden, mittels derer sich die Politik repräsentiert. Die Autonomie des Multiplen unterscheidet sich vom Pluralismus, welcher für die zeitgenössischen liberalen Gesellschaften typisch ist, da sie nicht auf eine Einheit reduzierbar ist. Genau dies impliziert die absolute Freiheit der Dimension des Lebenden, sich im Sinne einer horizontalen Wechselseitigkeit der kontingenten Formen zu verknüpfen, ohne einen Status der Dinge zu errichten, mit dem sich einige Allianzen zu Lasten jener von niedrigerem Rang verdichten und hierarchisieren ließen. Das Verbinden und Lösen gesellschaftlicher Bindungen wird so zur mobilen Dynamik der Kräfteverhältnisse innerhalb eines Kontextes von Bündnissen, der jegliche gegebene gesellschaftliche Lebensform und erst recht jegliche staatliche Organisation im Politischen übersteigt. Schließlich deterritorialisiert eine zoopolitische Sichtweise die eigenen Punkte der Überstürzung, weil sie in eine unendliche Reihe von zugleich präzisen und partiellen Heterotopien gerät, welche gleichermaßen reale und prekäre Nicht-Orte sind, an denen sich das Lebende aufzuhalten versucht, indem es Räume der Koexistenz konstruiert, von denen jeder einzelne anders als jeder andere ist, ohne dass dies in das Sein einer politischen Resolution der linguistischen Aporie münden würde, eine Resolution, die die Aporie als einen zu eliminierenden grammatischen Effekt behandelt. »Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird […] weil sie im voraus die ›Syntax‹ zerstören, und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die Wörter und Sachen […] ›zusammenhalten‹ läßt.« (Foucault 1971: 20)18

Aus dem Italienischen von Aurora Rodonò

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Die Biopolitik der Geste in den mittelalterlichen Klosterregeln Daniel Blanga Gubbay

Im Mittelalter ist die Bedeutung der Gestik fest in der Theologie verwurzelt und untrennbar mit der spezifischen christlichen Auffassung des Körpers verbunden, die diesem eine doppelte Bedeutung zuspricht: Er ist zwar der Ort der Sünde, jedoch ist er zugleich auch Träger der Geste der Barmherzigkeit, die den Weg zum Seelenheil eröffnet. Der Stellenwert des Körpers ist also unauflösbar mit dem Moment der Erbsünde verbunden, weil er dadurch eine Materialität und die Neigung zur sinnlichen Versuchung erworben hat. Daraus hat sich für ihn die Notwendigkeit ergeben, diese ewig durch Gesten abbüßen zu müssen. Für die christliche Tradition wird der Körper also zu einem notwendigen Übel, der – da er den Keim der Erbsünde in sich trägt – sich selbst und seine Gesten zur Erlösung zwingt. Eine der ersten mittelalterlichen Abhandlungen zum Thema der Geste hat Ambrosius Mediolanensis mit seinem De Virginibus geliefert, einem Traktat, in dem der Bischof von Mailand die Züge eines ersten Verhaltenskodex für die Novizen der neu entstandenen kirchlichen Hierarchie entwirft. Hier spiegelt die Figur der Jungfrau nicht nur alle Tugenden wider, sondern auch die Vollkommenheit der Gesten, die er folgendermaßen beschreibt: »Nichts Finsteres (war) in ihren Augen, nichts Unverschämtes in ihren Worten, nichts Rücksichtsloses in ihrem Verhalten: keine zu weichliche Haltung, kein zu schlaffer Gang, keine zu leichtfertige Stimme, so dass schon das Äußere ihres Körpers ein Spiegelbild ihres Geistes, ein Abbild ihrer Rechtschaffenheit war.« (Ambrosius 2009: 217)

Im Unterschied zur Darstellung von anderen Heiligen und gar Christus selbst ist diejenige der Heiligen Jungfrau durch körperliche Unbeweglichkeit gekennzeichnet, welche Maria über jede Leidenschaft zu erheben scheint: Die Figur der Mutter Jesu handelt nicht, sie tut nichts, sondern sie erscheint vor den Augen des Gläubigen als reine Ausstellung. Ambrosius beschreibt diese statische Herrlichkeit als Vollkommenheit der Gesten, die zum Beweis der Enthaltung von jeder irdischen Leidenschaft wird.

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In der frühchristlichen Epoche gilt also die Ruhe des Körpers als oberstes Ziel, nach dem die Gestik streben soll. Dieser statische Charakter ist auch in der byzantinischen Darstellung des Kaisers zu beobachten, der sowohl in dem Glanz der Mosaiken als auch anlässlich des Zeremoniells einen kontrollierten und unbeweglichen Körper ausstellen muss, welcher mit der Agitiertheit der Untertanen markant kontrastieren soll. Obwohl die Gesten in diesen ersten Beobachtungen des frühen Mittelalters das Produkt eines von Leidenschaften erregten Geistes zu sein scheinen, wendet sich die aufkommende christliche Lehre in der Folge von der Auffassung der Unbeweglichkeit als einem Weg zum Seelenheil ab, um hingegen einen pars construens der Gestik angesichts der Erziehung des Körpers zu entwerfen: Der Diskurs über die Geste nimmt also zur gleichen Zeit eine moralische und politische Färbung an, nach der der moderne Mensch – dessen Prototyp sich zu dieser Zeit in der Figur des Mönchs herauskristallisiert – scheint, immer mehr gestikulieren zu müssen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Etappen und die Modalitäten zu analysieren, nach welchen sich die Gestik im christlichen Bereich zum Erziehungsmittel entwickelt hat, und zwar von der Geburt des Begriffs der Geste bis hin zu seiner biopolitischen Interpretation, die zuerst im klösterlichen Bereich vollkommen angewendet worden zu sein scheint.

E ine dialek tische B e wegung In seinen Überlegungen zur Gestik im Mittelalter schreibt Jean-Claude Schmitt den Gesten die Fähigkeit zu, einen engen Dialog zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Körpers abzubilden: »Der Mensch wird darin definiert als die Verbindung eines Körpers mit einer Seele, und eben diese Verbindung stellt den anthropomorphen Maßstab einer allgemeinen Auffassung von gesellschaftlicher Ordnung und Einrichtung der Welt dar, die voll und ganz auf einer Dialektik von Innen und Außen beruht. Die Gesten bilden auf ihre Weise diese Dialektik im Körper des Menschen wie auf der Bühne der Gesellschaft ab, oder besser: Sie verkörpern sie. Die geheimen Bewegungen der im Innern der Person verborgenen Seele werden durch sie nach außen kenntlich gemacht. Sind sie erst einmal durchgeformt, dann können sie ihrerseits auf die Seele zurückwirken, sie zähmen und zu Gott erheben.« (Schmitt 1992: 19-20)

Seiner Auffassung nach ergebe sich das Verhältnis von ›Innen‹ und ›Außen‹ durch eine osmotische Aktivität zwischen Subjekt und Gestik, die erstmals im Mittelalter in beide Richtungen zu verlaufen scheint: Gemäß der traditionellen lateinischen Auffassung unterstreichen die Gesten – von innen nach außen – in erster Linie ihre Rolle als Bote der Seele:

Die Biopolitik der Geste in den mittelalterlichen Klosterregeln »Denn Worte machen nur auf den Eindruck, der durch das Band derselben Sprache mit dem Redenden verbunden ist, […]. Der Vortrag, der die Regung des Gemüts zur Schau trägt, spricht sie alle an. Denn aller Menschen Herzen werden von denselben Regungen bewegt, und an denselben Zeichen, die sie bei ihnen selbst bezeichnen, erkennen sie sie auch bei den anderen.« (Cicero 1976: 587)

Dies schrieb Cicero in De Oratore, wo er ausführt, wie die Seele für die Steuerung der Bewegungen der actio zuständig war. Die mittelalterliche Geste bewahrt also diese erste direkte Verbindung zwischen der Seele und der Bewegung des Körpers, obgleich sich ihre Rolle nun von der lateinischen Auffassung entfernt, da sie nicht mehr wie innerhalb der klassischen Rhetorik argumentieren oder überzeugen, sondern nun die Wahrheit und die Güte des Subjekts beweisen muss. Die Gesten geben den Mitmenschen Auskunft über das Wesen der Seele, ohne die Möglichkeit zur Lüge: Aus diesem Grund bezieht sich Hugo von Sankt Viktor später in seinen Schriften mit den Termini indicium (Indiz) und signum (Zeichen) auf sie.

G estus/gesta Jedoch scheint die Geste nun erstmals auch ein Mittel zur Erziehung zu werden, was durch eine Bewegung von außen nach innen erfolgt: Die Geste berichtet also nicht nur vom Wesen der Seele, sondern sie lässt sich auch formen, so dass auf diese Art und Weise auch Einfluss auf die Seele und das Wesen genommen werden kann. In seinem Werk De lingua latina weist Varro darauf hin, dass der Terminus gestus vom Verb gerere stamme, dessen buchstäbliche Bedeutung »übernehmen« den ausgeprägten äußerlichen Ursprung der Geste in Bezug auf den Körper betone: »Man kann nämlich etwas hervorbringen (facere), ohne es auszuführen (agere), so, wie der Poet ein dramatisches Werk hervorbringt, aber es nicht ausführt (›agere‹ im Sinne von ›eine Rolle spielen, einen Part geben‹): Im Gegensatz dazu führt der Akteur das Stück aus, bringt es aber nicht hervor. Dementsprechend wird das Drama vom Dichter hervorgebracht (fit), aber nicht ausgeführt (agitur); vom Akteur wird es ausgeführt, aber nicht hervorgebracht. Der ›imperator‹ hingegen (das mit der höchsten Macht ausgestattete Amt), für den man den Ausdruck ›res gerere‹ gebraucht (etwas erfüllen, im Sinne von › auf sichnehmen, die ganze Verantwortung tragen‹), sellt darin weder etwas her noch führt er es aus, sondern ›gerit‹, das heißt, er trägt es, nimmt es auf sich (sustinet).« (Varro in Agamben 2001: 59)

Varro schreibt der Übernahme von Gesten Wirkungen zu – ganz so, als ob sie ein Heilmittel wären, das sich im Körper verbreitet und dessen Wesen verändert – oder den Zustand des Ertragens, in dem sich der Körper scheinbar einer un-

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unterbrochenen und von ihm nicht mehr steuerbaren Modellierung unterwerfen müsse. In den Prototypen der mittelalterlichen Literatur lässt sich eine Struktur dieser Auffassung der Gestik finden und zwar in Form eines externen Überfalls, der zum Verlust der Körperbeherrschung führt. Das interessanteste und am meisten verbreitete Beispiel stellt die Entwicklung der Chansons des gestes dar, welche, obwohl sie von Heldentaten tapferer Menschen erzählen, bereits durch die Gattungsbezeichnung den passiven Aspekt der menschlichen Gestik unterstreichen. Die traditionellen gesta – ein Wort, das gestus ersetzt – sollen den Held nicht mehr als handlungstreibende Kraft, sondern als res gestae bezeichnen wobei die Passivform des lateinischen Verbs, auf denjenigen hinweist, auf den das Geschehnis wirkt. Als der Mönch Guibert von Nogent in den Jahren 1104-1108 das Gesta Dei per Francos – oder Gottes Taten durch die Franken – verfasst, betrachtet er Gott als Hauptdarsteller und zugleich den Körper der Franken als Mittel eines externen Willens, gemäß einer Auffassung, die den Willen des Einzelnen auf ein Mindestmaß herabsetzt und diesen als einen trägen, von einer höheren Macht gesteuerten Körper schildert. Parallel dazu fungieren die Besessenen – entsprechend der militärischen Terminologie als obsessus bzw. belagert bezeichnet – ähnlich den Rittern als Instrumente einer Erzählung, die das Böse als Hauptakteur ausweist und die Menschen der Beherrschung ihres eigenen Willens und der eigenen Gestik beraubt: Der Mensch ist besessen und entbehrt jeder Möglichkeit bzw. jeder Kontrolle über sich selbst; er muss also eine Schlacht gegen fremde Gestik schlagen, welche bedingungslos durch seine Krämpfe bezeugt wird. Indem Giraldus Cambrensis die Geschichte der Besessenen von Poitiers erzählt, beschreibt er, wie der Teufel, nachdem er in den Körper eingedrungen ist, sich stetig bewege und so die krampfartigen Bewegungen seines Opfers verursacht. In Giraldus’ Beschreibung wird die Geste nicht mehr nur aus der Ferne von einer höheren Macht produziert. Sie ist vielmehr die direkte Folge einer externen Wesenheit, die über den Körper gewaltig hereinbricht und dessen Seele angreift; die Geste ist nicht mehr nur ein Indiz, sondern sie ist das Mittel, mit dem externe Kräfte die Seele des Christen entweder erheben oder verderben. Durch die Festigung der Beziehung zwischen Seele und Gestik wird Letztere ab dem elften Jahrhundert sowohl im religiösen als auch im Laienkontext zu einem grundlegenden Erziehungsinstrument für die Seele. Neben den höfischen Zyklen etabliert sie sich innerhalb der Bildungsliteratur, worauf die neu entstehenden klösterlichen und höfischen Gemeinschaften Bezug nehmen. Die höfischen Traktate – besser bekannt als Fürstenspiegel – und die klösterlichen Regeln stellen zwei parallele Beispiele einer neuen Auslegung der Geste dar: Auf der einen Seite die Formung der höfischen Gesten der Adelsherren, konkrete individuelle Gesten mit einem sozialen Zweck; auf der anderen Seite stehen die Klosterregeln und die Annahme, dass durch die kollektive Dimension der Geste ein Heilsweg möglich sei.

Die Biopolitik der Geste in den mittelalterlichen Klosterregeln

D ie K ollek tivität und der B lick Im Unterschied zur damaligen phantastischen Literatur stellt sich in den Klosterregeln und in den ersten Anstandstraktaten des Mittelalters heraus, dass nicht mehr die Gottheit, sondern eine Form der Kollektivität auf den Körper übergreift bzw. die Beherrschung des Körpers übernimmt. Obwohl sie auch eine Art der Enteignung des individuellen Willens vom eigenen Körper hervorhebt, wird diese hier nicht mehr als Besitz, sondern als ein freiwilliger und bedingungsloser Akt des Beitritts zu einer Bezugsgruppe beschrieben: Der Körper des Mönchs und derjenige des Ritters gehören jetzt den jeweiligen Gruppen an und werden zu Werkzeugen eines kollektiven Willens. Benedikt beschreibt das Verfahren dieser Enteignung sehr ausführlich: Innerhalb der später nach ihm benannten Klosterregel legt er den Akzent auf das Moment des Ordensbeitritts und beschreibt, wie der Novize auf jede individuelle Geste verzichten muss, um komplett in der Regel und den von der Gruppe disziplinierten Bewegungen aufzugehen. Das Ablegen des Ordensgelübdes ist laut Benedikt der Sinn der letzten freien Geste, die der Novize vollzieht. Er gibt ein schriftliches Versprechen, das er unterzeichnet und selbst auf den Altar legt: »Quippe qui ex illo die nec proprii corporis protestatem se habiturum scit« 1 (Benedictus 2001: 208). Durch diese Formel entäußert sich der Novize der eigenen Gestik und überantwortet das Wesen seiner Gestik dem Äußeren. Die Figur des Novizen bekleidet innerhalb von Benedikts Werk und der Klosterliteratur eine grundlegende Funktion bei Überlegungen zur gestischen Erziehung: Im Alter von circa achtzehn Jahren muss der Novize – im Unterschied zu den Oblaten, also Kindern, die nach der Geburt den Klöstern übergeben werden – eine bewusste Wahl treffen, da er eine vom Orden als nicht mehr als geeignet betrachtete Gestik in das Kloster einführt. Neben den kollektiven Vorschriften ergibt sich die Notwendigkeit einer kontrollierenden Figur, die vom Novizenmeister verkörpert wird, welcher die Novizen über die in unterschiedlichen Situationen des Tages zu übernehmenden Gewohnheiten und Verhaltensweisen unterrichtet. Die Präsenz dieses ersten externen Blickes scheint die klösterliche Methodologie in eine vertikale Kontrollform einzuführen. Dennoch wird von Beginn an in den klösterlichen Anweisungen der horizontale Charakter einer wechselseitigen Kontrolle innerhalb des Klosters betont. Der Klosterkreuzgang und das höfische Bankett werden die Orte der Selbstenteignung schlechthin – gemäß einer Dynamik, in der sich die Geste immer deutlicher als Gesta der Gruppe über den Körper des Individuums kristallisiert. Im Liber de modo bene vivendi, einem fälschlicherweise Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Brief, steht:

1  |  »Von diesem Tag an hat er nicht einmal das Verfügungsrecht über seinen eigenen Leib« (Benedictus 2001: 209).

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Daniel Blanga Gubbay »Es ist die Seele, die sich in der Geste des Körpers offenbart. Die Geste ist das Zeichen der Vernunft. In der Geste des Körpers, meine liebe Schwester, offenbart sich die Seele. Somit, möge dein Gang keinen Eindruck von Leichtigkeit erwecken; möge er nicht die Blicke der Anderen beleidigen; stelle er sich nicht zur Schau und werde er nicht ein Grund dafür, dass die Anderen dich verleumden.« (Unbekannter Autor 1962-2004, Dt. d. Ü.)

Dieser Passus verweist auf die plastische Dimension der Gestik: Sie ruft bewegende Bilder ins Leben und realisiert ein Schauspiel, das stets dem Blick der Ordensbrüder ausgesetzt ist, welche es auf seine moralische Korrektheit hin beurteilen.

D as I ndividuum und die D isziplin In den klösterlichen Anweisungen vermag die gegenwärtige Kontrolle die Macht dieses kollektiven Blickes auf die Geste zu überbieten und nährt so unsere Hypothese, die, in Anlehnung an Michel Foucaults moderne Definition, als biopolitisch bezeichnet werden kann. »Ad quid venisti?«2 – Der Text richtet sich an eine junge Nonne und wird Bernhard de Clairvaux zugeschrieben. Er handelt nämlich erstmals von der Frage des Blicks auf einen einsamen Körper und entzieht der Geste auf diese Weise völlig einen rein sprachlichen oder sozialen Anspruch. Zugleich befreit er sie von jeglicher Art der Überwachung durch den Blick der Gruppe. Auf die Frage einer Novizin, ob auch angesichts von absoluter Einsamkeit ein kontrolliertes Verhalten zu bewahren sei, antwortet ihr der Autor dieses Briefes mit der Vermutung, dass ein Engel ständig über unsere Gesten wache, um das Wesen unserer Seele zu prüfen und darüber vor Gott Zeugnis abzulegen. Laut dem Autor des Briefs handelt es sich nicht darum, Gott über etwas Unveränderliches zu informieren, worüber dieser schon Bescheid wisse: Die bewusst gesteuerte Geste verfüge hingegen stets über die Macht, das Wesen der Seele in Gottes Augen zu verändern, zu erheben oder zu verderben. Wenn in diesen Worten einerseits zum Ausdruck kommt, dass die klösterliche Geste einem unsichtbaren göttlichen und potenziell ewigen Blick – mit den gleichen Eigenschaften wie der panoptische Blick – unterworfen ist, so ist es andererseits gar noch interessanter zu beobachten, wie das Wesen der Geste selbst in diesem Schreiben hervorgehoben wird. Diese ist nunmehr unabhängig von einem externen Urteil, da sie die Seele bestimmt: Jetzt muss also das Individuum – unabhängig von der Gegenwart der Ordensbrüder – seine Gesten überwachen, nicht weil sie die Mitmenschen beleidigen könnten, sondern damit sie die eigene Seele nicht korrumpieren. In diesem Übergang vom Blick des Meisters zu einem wechselseitigen Blick und vom Blick des Engels zu einer Form der Selbstkontrolle wohnen wir dem Übergang von einer Typologie der äußerlichen Unterwerfung zu einer Dynamik 2  |  »Wozu bist du gekommen?« dt.d.Ü.

Die Biopolitik der Geste in den mittelalterlichen Klosterregeln

der Subjektivierung bei: Der Zwang macht allmählich Platz für die Disziplin, die nicht mehr als Zwang, sondern als Überwachung der eigenen Gesten durch das Individuum selbst verstanden wird. Im 12. Jahrhundert taucht dieser Begriff zum ersten Mal in den klösterlichen Traktaten auf: Hugo von Sankt Viktor schreibt im Jahr 1140 De istitutione novitiorum, ein 21 Kapitel umfassendes Werk, das den Novizen den Weg zum ewigen Seelenheil durch regulierte Körperbewegungen des Körpers weisen soll. In Hugos Ausführungen bezieht sich das Wort disciplina nicht mehr auf eine äußerliche Kontrolldynamik. Vielmehr gibt es Auskunft darüber, dass der Zustand der tugendhaften Seele dank einer geziemten Gestik erreicht wurde. Indem Hugo von Sankt Viktor diesen biopolitischen Gedankengang abschließt, der ja im Körper den grundlegenden Ort für die Erziehung der Seele sieht, beschreibt er die Gestik als eine ewige Arbeit innerer Formung. Indem er die Modalitäten dieser Formung des Selbst umreißt, vergleicht er so die Beziehung von Geste und Seele mit der Arbeit eines Schmiedes, welcher das Eisen erwärmt und schmiedet, um der Materie eine neue dauerhafte Form zu verleihen. Genau durch diese Überlegungen von Hugo von Sankt Viktor entsteht ein erster Kern der Idee des Individuums in der klösterlichen Literatur: Obwohl die kollektiven liturgischen Gesten einer einheitlichen Bewegung unterworfen werden, was zur Wahrnehmung der Gemeinschaft als einem einzigen Körper führt, unterstreicht Hugo, wie die neue Körperdisziplin – obwohl für alle gleichermaßen gültig – den spezifischen Bedürfnissen jedes Einzelnen angepasst werden soll, so wie auch jede Eisenlegierung einer anderen Bearbeitung bedarf. Wenn diese Überlegungen hier den individuellen Charakter der Geste betonen, so geschieht dies nicht wegen der Abwesenheit von externen gesta, sondern weil die Geste vollständig und tief verinnerlicht wird. Der Körper des Individuums ist nicht mehr einfach Gegenstand einer externen Manipulation, sondern er wird nun von innen heraus auf tausenderlei unterschiedliche Arten modelliert, um vollständig in einer einzigen Bezugsgruppe aufzugehen. Die Präsenz der klösterlichen Gruppe geht über den allein kontrollierenden Blick hinaus, sie wird zum Bezugsbild im Subjektivierungsprozess. Der Einzelne richtet sich vernunftgesteuert an der Gruppe aus, jedes seiner Organe wirkt bei diesem Prozess an der Formung der Seele und der Verwirklichung des Gemeinwohls mit. Abschließend vergleicht Hugo von Sankt Viktor den Körper mit den Miniaturbildnissen der gerade aufkommenden Nationalmonarchien bzw. mit einem vernunftgesteuerten Reich. Nachdem der Körper den Weg der Unterwerfung durchlaufen hat, wird dieser für Hugo zu einem Staat, in dem alle an einem moralischen Vorhaben mitwirken, ein Bild, das zum ersten Mal die Biologie mit der Ethik und der Politik verbindet. De istitutione novitiorum betont die Notwendigkeit eines Modells der Regierung des Körpers durch die monarchische Räson und hebt schließlich die Figur des Königs hervor, den Hugo als Vorbild der höchsten Selbstbeherrschung be-

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zeichnet. Der König verkörpert die Vernunft, welche die Gesten steuert, weil er selbst das perfekte Beispiel der Gestik war und auch weiterhin sein muss. Aus dem Italienischen von Chiara Pomi

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Ästhetische Mediationen

Hispanische Vitalität? Über die Message — so es denn eine gab — des Romans Tiempo de Silencio von Luis Martín-Santos Hans Ulrich Gumbrecht

Tiempo de Silencio1, der einzige Roman, den Luis Martín-Santos während seines kurzen Lebens jemals fertigstellte und veröffentlichte, ist dem kultivierten westlichen Leser heutzutage nicht bekannt, und bei einem Buch, das 1964 veröffentlicht wurde, dürfte sich an diesem Zustand auch nichts mehr ändern. Die wenigen Leser des Werkes jedoch – unabhängig davon, ob sie den Roman denn nun mochten oder sich von ihm provoziert fühlten – zweifeln nicht daran, dass Tiempo de Silencio zu einer sehr kleinen Gruppe von Romanen gehört (wir mögen sogar von einem Subgenre sprechen), die durch bekanntere Texte wie James Joyces Ulysses, Marcel Prousts A la recherche du temps perdu oder Robert Musils Mann ohne Eigenschaften geprägt ist, also zu einer Gruppe von Texten gehört, die in mancherlei Weise die Literatur des 20. Jahrhunderts bestimmt hat. All diese Texte beschwören die Alltagswelt einer europäischen Nation in einem spezifischen historischen Moment und richten ihren Blick ferner auf eine spezifische Stadt; ihr Tempo ist eher das eines Epos denn einer einnehmenden, Neugier hervorrufenden Erzählung; sie beschreiben und erschaffen ihre verschiedenen Welten aus einer Vielzahl von Perspektiven, die nicht immer zusammenpassen; und jeder von ihnen scheint von einem bestimmten philosophischen Hintergrund inspiriert zu sein, der latent unter der Textoberfläche vorhanden ist. Luis Martín-Santos evoziert in seinem Roman Tiempo de Silencio die alltägliche Welt des Madrid der 1940er Jahre, als Spanien – ein früherer Alliierter der Achsenmächte, ein Alliierter jedoch, der sich geweigert hatte, am Weltkrieg teilzunehmen – international isoliert war und im Land die Talsohle materiellen und intellektuellen Mangels erreicht war. Die Philosophie, welche die verschiedenen Welten und Perspektiven des Romans zusammenbrachte (ohne jedoch ihre Distanzen auszugleichen), war dieselbe Phi1 | Alle hier verwendeten Zitate, sofern nicht anders gekennzeichnet, entstammen der deutschen Übersetzung von Eugen Helmlé (vgl. Martín-Santos 1991).

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losophie, auf die der Autor in seinem Berufsleben als Psychiater baute. Nämlich die Philosophie der ›existenzialistischen Psychotherapie‹, sprich, einer Philosophie, für die um 1950 der Name Ludwig Binswanger stand und welche letztlich sowohl auf der frühen deutschen Phänomenologie als auch auf dem Werk Martin Heideggers fußte (hier besonders auf seinem wohl bekanntesten Werk Sein und Zeit). Ein wahrlich brillanter, posthum veröffentlichter Essay Luis Martín-Santos’ ist El plus sexual del hombre, el amor y el erotismo (vgl. Martín-Santos 2004), der genau wie sein gesamtes medizinisches Werk, das im Umfang um einiges größer ist als seine literarischen Schriften, noch seine intellektuelle Rezeption zu finden hat. Seit der Roman 1962, zwei Jahre bevor Martín-Santos bei einem Autounfall im Alter von 40 Jahren starb, erschienen ist, haben wohlmeinende Leser versucht, seine politische Message zu identifizieren (Message war ein Modewort der 1960er Jahre, aber die Art des Anliegens, auf die es sich bezog, hat das Wort überlebt, wenn auch nur eben so). Sie haben versucht, Hinweise auf die politische Gesinnung des Autors zu finden, umso mehr als Martín-Santos durch Phasen schwerwiegender Unstimmigkeiten mit den Institutionen des spanischen Staates gegangen war (welcher zu jener Zeit von Militärdiktator Francisco Franco kontrolliert wurde), vor allem aber wegen seiner Aktivitäten in der geheim operierenden Sozialistischen Partei. Fast überraschenderweise sind all diese Bemühungen ins Leere gelaufen, da der Roman an Francos Staat und seinen Sozialrealitäten schlicht nicht viel deutliche und damit greif bare Kritik übt. Wie auch bei Joyces Ulysses, Prousts Recherche und Musils Mann ohne Eigenschaften war soziale, ideologische oder politische Kritik kein Anliegen, das Martín-Santos bekümmerte. Dem Leser fallen vielmehr die Charaktere, Objekte und Institutionen auf, die für das Spanien Mitte des 20. Jahrhunderts typisch sind und wie sie im Roman in Erscheinung treten. Und dies nicht nur durch ihre überwältigende Komplexität, sondern auch durch ihre verwirrende Aura einer quasi-sakralen Präsenz. Doch die Bemühungen, Spuren eines politischen Bekenntnisses im Text zu finden, haben unter seinen akademischen Lesern niemals nachgelassen. In jüngerer Zeit ist der Vorschlag einer feministischen Lesart gemacht worden, und wenn dieser auch dem generellen Fehlschluss anheim fällt, dass ein wichtiger Roman in einem politischen Bekenntnis verankert sein muss, so ist er doch nicht ohne Wert. Vor allem eine Protagonistin (ihr Name »Encarnación«, oder kurz »Encarna«, wird nur einige wenige Male erwähnt) bricht auf recht dramatische Weise die Zwänge des sozialen Umfeldes, in dem sie lebt. Verachtet und häufig auch misshandelt von ihrem Ehemann, der ein Kleinkrimineller in seinem suburbanen Slum ist, muss sie mit ansehen, wie ihre Tochter bei einem Abtreibungsversuch verblutet. Das Kind, das sie trug, war wahrscheinlich das Kind von Encarnas Mann (also des Vaters des Mädchens). Die Karriere und das Leben des jungen Arztes Pedro, der gleichermaßen einer der Hauptcharaktere des Romans ist und welchen der Vater und Hauptverantwortliche für den Tod des Mädchens überredet hatte, zu versuchen, sie zu einem Zeitpunkt zu retten, als die Blutung schon weit fortge-

Hispanische Vitalität? Über die Message des Tiempo de Silencio von Luis Martín-Santos

schritten war, scheint dieser grauenhafte Vorfall verdammt zu haben. Nachdem er sich für mehrere Tage versteckt hatte, wird Pedro von der Polizei verhaftet und mehreren Verhören ausgesetzt, die ihn von seiner persönlichen Verantwortung überzeugen. Doch obwohl Encarna ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt, ergreift sie plötzlich die Initiative, geht auf ein Polizeirevier, denunziert ihren Ehemann und bekundet Pedros Unschuld. Unzweifelhaft wird sie damit zu der einen positiven Heldin des Romans. Doch was eine feministische Lesart dieser bewegenden Episode unmöglich macht, ist das psychologische Profil, das der Autor ihr gegeben hat. Mit fast brutaler Direktheit, die nicht über einen gleichzeitigen Anflug von Zärtlichkeit hinwegtäuscht, lässt Martín-Santos keinen Zweifel daran, dass sich Encarnas Existenz auf einer rein emotional-intuitiven Ebene abspielt, ähnlich der eines Tieres (an einer Stelle vergleicht er ihr Trauern um ihre Tochter mit dem rhythmischen Geräusch einer Maschine). Encarna überlebt gerade so von Tag zu Tag, und ihr fehlen eindeutig alle mentalen Voraussetzungen, die sie zu moralisch verantwortlichen Handlungen befähigen würden. Deshalb kann also Floritas Mutter, wenn sie auch fast ebenso viel Mitgefühl wie ihre Tochter verdient, nicht die heroische Protagonistin sein, die eine feministische Lesart und die Konstatierung einer feministischen Message des Romans voraussetzen würden. Und doch enthält das Buch einen kurzen Abschnitt (unübersehbar und eindrucksvoll für den Leser, aber kaum jemals von wissenschaftlichen Analysen erwähnt), der indirekt die Bedeutung eben jenes Charakters hervorhebt. Bevor wir uns aber auf diese Seiten konzentrieren, sollten die wenigen – und auf den ersten Blick trügerisch oberflächlichen – Kommentare Martín-Santos’ zur sozialen Funktion seines Romans zu seiner Zeit erwähnt werden. Als eine US-amerikanische akademische Kritikerin ihn fragte, welche Absichten er mit seinem Schreiben verfolge, untergrub der leicht ironische Ton des zweiten Teils seiner Antwort all die mögliche politische Ernsthaftigkeit, an welche man zu seiner Zeit so gewöhnt war: »Die spanische Realität zu verändern (und mich auch zu amüsieren)« (Winecoff Díaz 1968: 237; dt. d. JW2). Auf Nachfrage brachte Martín-Santos jedoch einen viel interessanteren, wahrhaft überraschenden Anspruch vor: Q: Wie verstehen Sie die Funktion des Romanschriftstellers in der Gesellschaft? A: Seine Funktion ist desakralisierend-sakrogenetisch. Desakralisierend – er zerstört mittels einer scharfsinnigen Kritik am Ungerechten. Sakrogenetisch – gleichzeitig hilft er beim Aufbau der neuen Mythen, die die Heiligen Schriften von morgen sein werden. (Winecoff Díaz 1968; dt. d. JW)

Wenn die »desakralisierende Funktion« auch keiner weiteren Ausführung oder Erklärung bedarf, so gehörte die Vorstellung, die »Heiligen Schriften von mor2  |  Alle im weiteren Verlauf des Textes mit dem Kürzel ›JW‹ gekennzeichneten Zitate wurden von Jenny Wirth ins Deutsche übersetzt.

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gen« zu schreiben, d.h. die Schaffung – oder zumindest die Andeutung der Schaffung – einer neuen Mythologie und ihres Rituals, sicherlich nicht zum Repertoire poetologischer Motive, die zu jener Zeit bei spanischen Autoren verbreitet waren. Auf andere Weise, aber gleichsam exzentrisch war Martín-Santos’ Ansicht, die er wie nebensächlich in seinem Kommentar zu einer internationalen Tagung von Autoren in Madrid zum Thema Realismus ausdrückte, dass das neue liberale politische Klima in Zentraleuropa, das sich seit dem Ende des Weltkrieges durchgesetzt hatte, eine »devitalisierende Wirkung« auf das intellektuelle Leben habe, wogegen die Unterdrückung und die daraus resultierende existenzielle Bedrohung, »kastriert zu werden«, unter der spanische Autoren arbeiteten, ein Beitrag zur wachsenden Reife der »iberischen Intelligenzija« sei: »[…] es ist der Fall, dass der Schriftsteller heutzutage nur über eine einzige Waffe verfügt, um eine unerträgliche Realität zu verändern: das Schreiben eines Roman, der geschickt genug ist, um durch die Zensur zu kommen und real genug, um den Leser politisch zu beschäftigen. Man darf nicht vergessen, dass der spanische Schriftsteller unter seinem Panzer des Mannes der schönen Worte normalerweise ein politisches Tier verbirgt, das kurz davor steht, endgültig kastriert zu werden […]. Der Schlag, den die jungen spanischen Schriftsteller erlitten haben, wird ein Vorbote der Veränderung sein, nicht als einzige Ursache, sondern wechselseitig mit den beschleunigten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwandlungen der Zeit und mit der fortschreitenden Reifung der iberischen Intelligenzija. Diese Veränderung wird aufgrund des Aufkommens einer neuen Schriftstellergeneration eintreten, deren technisches und ästhetisches Können auf der Höhe ihrer europäischen (Amts-)Kollegen angelangt ist, auch wenn ihre beabsichtigte Richtung weiterhin – in absehbarer Zukunft – eine andere sein wird.« (MartínSantos 1963; dt. d. JW).

Drei Aspekte dieser Bemerkungen sind ausschlaggebend für ein Verständnis der zentralen Passage des Romans, zu der wir nun kommen werden: die Idee, der Roman habe das Potenzial, Mythologien zu erschaffen (sakrogenetische Funktion); die häufigen Anspielungen auf die ›Vitalität‹ (und ihr Gegenteil) als ein spezifischer, unerwarteter Wertehorizont, der nicht oder nur marginal in die Dimension des ›Politischen‹ gehört; und die Bezeichnung aller positiven Elemente und Perspektiven als ›iberisch‹ oder ›hispanisch‹, die in unserer Gegenwart, die dazu neigt, regionale Unterschiede und Inkompatibilität mit dem größeren ›spanischen‹ Kontext hervorzuheben, irritierend wirken mag. Mehrere Kennzeichen setzen diese Passage vom Erzählstrom von Tiempo de Silencio ab. Von einem generischen Standpunkt aus und als Beschreibung eines Gemäldes von Francisco Goya ist sie der einzige Teil des Romans, welcher der Tradition der Ekphrasis zuzuschreiben ist. Während sie sich gelegentlich auf vorhergehende und folgende Szenen bezieht, d. h. auf ein Gespräch zwischen Pedro und der Mutter seines wohlhabenden Freundes Matías und vor allem auf eine Parodie José Ortega y Gassets als Philosoph der High Society Madrids, als er in-

Hispanische Vitalität? Über die Message des Tiempo de Silencio von Luis Martín-Santos

folge einer Einladung von Matías’ Mutter einen Vortrag hält – so ist der Text doch isoliert von ihnen durch das folgende, französische und kursiv gesetzte Zitat aus einem Kunstkatalog, welches das betreffende Goya-Gemälde identifiziert: »Scène de sorcellerie: Le Grand Bouc – 1789 – (H.-0,43; L-0,30). Madrid, Musée Lázaro« (Martín-Santos 1991: 171). Zudem ist die Passage exakt in der Mitte des Romans angesiedelt, eine Technik, die in der Tradition des realistischen Romans angewendet wurde, um die Bedeutung gewisser Textsegmente für das Verständnis des Gesamtwerks hervorzuheben.3 Ebenso wie durch das Katalogzitat belegt, beschwört auch Goyas kleines Gemälde eine Hexerei-Szene herauf. Dies ist auch die Bedeutung des Titels Hexensabbat 4. Jenes wird von einem phallischen Symbol in Gestalt eines Ziegenbocks dominiert, der wie ein Mensch sitzt und mit seinen erhobenen Vorderläufen wirkt, als würde er gestikulieren. Er wird von neun alt und verbraucht wirkenden weiblichen Figuren umringt, die dem Tier drei ausgemergelte Kinder entgegenhalten. So plötzlich wie die Textreferenz schlägt auch die Sprache des Romans um. Durch eine Anzahl von konvergierenden rhetorischen Mitteln ruft sie das Gefühl hervor, als sei der Text in Verzückung geschrieben, ein Gefühl, das wir mit Beschwörungsdiskursen und Zauberei assoziieren können, zumal sie mit dem Inhalt des Bildes übereinstimmen, das der Text beschreibt. Unabhängig davon, ob dieser Eindruck textueller Verzückung beabsichtigt oder ein Resultat spontaner stilistischer Beschleunigung war, haben die folgenden viereinhalb Seiten eine verblüffende semantische Komplexität und eine seltene literarische Schönheit aufzuweisen. Eines der durchgängigen Merkmale ist die Unbestimmtheit von Bedeutung und Referenzpunkt, zu der verschiedene rhetorische Stilmittel beitragen und die manchmal in einer Reihe von verschiedenen aufeinander folgenden Aspekten hervortritt, die in einer dominierenden Auswahl enden. Dieser Abschnitt beginnt wie folgt: »[…] der große Ziegenbock, der Sündenbock, der gut entwickelte spanische Gemsbock. Der Sühnebock. Nein! Der große Bock im Glanz seines Ruhms, in der Allmacht seiner Herrschaft, im Genuß der zentripetalen Anbetung. Bei der das Horn nicht ein unheilverkündendes Horn ist, sondern das Zeichen der glorreichen Herrschaft des Phallus. Wo zwei Hörner zu besitzen nichts anderes bedeutet als die Verdoppelung der Potenz.« (Martín-Santos 1991: 171)

Trotz Sequenzen wie dieser, in der alterierende Perspektiven und Bedeutungen zu einer letztlichen Aufklärung führen, bleibt die zu bestimmende Interpretation 3 | Der bekannteste Fall dürfte die gescheiterte Klumpfuß-Operation sein (vgl. Flaubert 2007: 244ff.), die im Mittelpunkt von Gustave Flauberts Madame Bovary steht. Hierdurch wird der Titelheldin die existenzielle Spannung klar zwischen romantischen Tagträumen und der Realität, mit einem mittelmäßigen Mann verheiratet zu sein (vgl. Flaubert 2007: 254ff.). 4 | Es handelt sich hierbei um den deutschen Titel des angesprochenen Gemäldes von Francisco Goya (vgl. Gassier/Wilson/Lachenal 1994: 188).

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immer im Schwebezustand, weil Elemente anderer Sprachen, andere kulturelle Dimensionen und Konnotationen den gesamten Text über einfließen. Beginnend mit den französischen Wörtern, die sich auf eine Kunstsammlung in Madrid beziehen, scheint der Text zwischen katalanisch und französisch zu oszillieren, und der Autor ist sehr produktiv in Bezug auf französische Wortspiele: Wanderkaste, Bauernkaste, Kaste der sieben Kinder, Kaste aller Slumviertel aller Hafenstädte und Kaste der Pariser Strichmädchen mit den schwarzen Augen, die nicht – immer noch nicht, wie dumm – das rollende R so aussprechen können, wie es sich gehört (vgl. Martín-Santos 2005: 174f.). Wenn es auch möglich ist, einzelne Wörter durch punktuelle philologische Kommentare zu erklären (der Neologismus troturantes zum Beispiel bezieht sich auf den französischen Ausspruch faire le trottoir – ›sich prostituieren‹), so ist es doch unmöglich, ähnliche Sätze auf einen klaren und unzweideutigen Inhalt festzulegen, wie dies zum Beispiel auch in James Joyces Finnegan’s Wake der Fall ist. Zu dem französischen kulturellen und lexikalischen Horizont sowie zu den häufigen Anspielungen auf islamisch angehauchte andalusische Rituale kommen permanente Vergleiche zwischen dem Ziegenbock und dem Elefanten in der hinduistischen Mythologie, die eine Öffnung hin zur nicht-westlichen Welt und Vorstellungswelt darstellen. Später in dieser Ekphrasis, die sich in eine Beschwörung wandelt, erscheint eine deutsche Volkstradition (bekannt aus Goethes Faust), welche die Hexerei mit einem bestimmten Landstrich im Nordosten dieses Landes in Verbindung stellt: »Das alles kennst du, Bock, hast es mit großem Ernst erforscht und empfiehlst uns deshalb als Therapie und radikales Gegenmittel, uns dem großen, nährenden Germanien, dem Harzhessen der Hexen und Böcke, phänomenologisch einzuverleiben« (Martín-Santos 1991: 175).

Auf der Satzebene verwandeln sich Martín-Santos’ zahlreiche ekphrastische Beschreibungen wieder und wieder in Ausrufe oder Fragen, die sich an die gottähnliche Gestalt des Ziegenbocks richten und somit zu Gesten einer Magie werden, die in ihrem ursprünglichen Kontext und aus ihrer Herkunft heraus bestimmt ist, abwesende Gegenstände und Personen dinglich zu vergegenwärtigen. Nicht durch Zufall, mit genau dieser Form und potenziellen Funktion, stoßen wir auf Worte, die uns bekannt sind aus dem Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein aus Jakob und Wilhelm Grimms Sammlung von Volksmärchen: »Und von dort aus betrachtet es [der Bock, Anm. d. Ü.] uns periskopisch, um uns besser zu faszinieren. Doch warum ist sein Auge so wach? Damit es uns besser sehen kann! Warum ist sein Horn so hoch aufgerichtet? Damit es uns besser aufspießen kann! Während das forschende Auge schaut, liegen abortierte Körper neu belebbar am Boden.« (Martín-Santos 1991: 173)

Hispanische Vitalität? Über die Message des Tiempo de Silencio von Luis Martín-Santos

Durch die Intensität schaffende, gleichzeitige Verschachtelung so vieler Stile und Bedeutungshorizonte ebenso wie von Kultur und Religion scheinen jedes Wort, jeder Satz und jeder Abschnitt in dieser Textklammer alleine zu stehen und können nur unter einem ironischen Vorzeichen gelesen werden. Um es anders zu formulieren: Kein einziges Wort, kein Satz oder Abschnitt ist hier eindeutig ernsthaft oder eindeutig verspielt. Prinzipiell lässt sich diese Regel der Oszillation auch auf den Moment im Text anwenden, in dem die Frage nach der in der Figur des Ziegenbocks und in seinen Gestikulationen inhärenten ›Wahrheit‹ aufkommt: »Welche Wahrheit sagt er mit dem unbeweglichen Ernst seines geöffneten Auges? Die Frauen eilen herbei; es sind die Frauen, die herbeieilen, um der Wahrheit zu lauschen. Genau jene, die die Wahrheit völlig gleichgültig läßt.« (Martín-Santos 1991: 172)

Für mich stellt der dritte Satz dieser Sequenz einen Bruch der durchgängigen Ironie dar. Es hätte sich natürlicher gelesen, wenn nach dem zweiten Satz eine Bemerkung zu finden gewesen wäre, die festhält, dass diese Frauen den Ziegenbock als Quelle der Wahrheit anbeten. Aber der Text besteht darauf, dass sie dies überhaupt nicht bekümmert. Gerade dadurch zeigt er sie in ihrer kläglichen Wirklichkeit. Denn sie sind Encarnas Schwestern, der Mutter des Mädchens, das während eines Abtreibungsversuches stirbt. Also ebenjener Encarna, die aus einem emotionalen Impuls heraus ihren Mann denunziert und Pedros Existenz rettet. Sie ist keines klaren Gedankens oder keiner Selbstreflexion fähig. Sie kann keine moralisch verantwortliche Handelnde sein. Die ›Wahrheit‹ ist dann also, dass der Ziegenbock diesen Frauen und ihren ausgemergelten Kindern Kraft und Leben gibt, also denen, die am meisten bedrückt und verlassen sind. Aber die Realität dieses Effekts setzt nicht voraus noch verlangt er, dass sie sich dessen, was ihnen widerfährt, bewusst sind: »Dort, mit wachem Auge die weibliche Masse betrachtend, die in Auparishtaka-Haltung auf seinem Schoße ruht und deren lebende Fehlgeburten in einer ehrlichen, inständigen Bitte die mögliche Revitalisierung durch die Berührung mit dem auszudrücken scheinen (zweifellos die Inkarnation des Ruchlosen oder einfach nur die große, erhabene Möglichkeit des Nachtmenschen), der sich darin gefällt, die linke Klaue wohlwollend auf den noch nicht erkalteten, schon abgemagerten, nicht ausreichend ernährten Körper der Rachitis schachocorum der reduplizierenden mauvaises couches zu legen, deren mumifizierte Überreste in gleichmäßigen Abständen an einem biegsamen Schaft hängen.« (Martín-Santos 1991: 171f.)

Der semantische Horizont der ›Wiederbelebung‹ und ›Vitalität‹ ist durch die gesamte ekphrastische Textklammer präsent. Nach einer kurzen Aussetzung der Ironie kommt sie wieder in ironischer Manier zum Tragen, dank eines Motivs, das ausnahmsweise mit der folgenden Szene verbunden ist, d.h. der Szene der Ortega y Gasset-Parodie, in der er hochtrabende Reden schwingt. In dieser Szene

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wird der Philosoph einen Apfel verwenden, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer wieder und wieder auf die banale Tatsache zu lenken, dass das, was sie von diesem Apfel, den er in Händen hält, sehen (oder nicht sehen), selbstverständlich von ihrer jeweiligen Perspektive abhängt. Als eine thematische Erwartung, als Vorspiel und durch Assoziation scheint dies bereits – in der Form einer Orange – in der Beschreibung des Goya-Bildes vorhanden zu sein. Die sich in einen Apfel verwandelnde Orange erlaubt eine ganze Anzahl an komischen Konkretisierungen des Konzepts ›Vitalität‹, so zum Beispiel: »Während die nächtliche Sonne Vitamine und Eledonen nutzlos macht, wird die abgelutschte Apfelsinenschale das kontinuierliche Wachsen elefantiasischer Genies möglich machen.« (MartínSantos 1991: 173) Auch über den Romantext hinaus bekommen wir den Eindruck, dass Luis Martín-Santos sein Spiel mit der Vitalität als Ursprung oder Kern einer neuen Mythologie sehr ernst nahm. Seine Kritik des neuen, offeneren politischen Klimas in Zentraleuropa, die er im Namen der in Madrid zusammengekommenen Literaten ausspricht, beschreibt dessen für das kulturelle Leben »devitalisierende« Wirkung, während seine Hoffnung auf eine lebhafte Reaktion unter der »iberischen Intelligenzija« auf der Erwartung basiert, dass diese auf die »Angst, für ein Leben lang kastriert zu werden« reagieren werde. Dieses Potenzial der Vitalität scheint für ihn (ob wir es nun heutzutage mögen oder nicht) ein spezifisch »spanisches«, »hispanisches« oder »iberisches« Phänomen gewesen zu sein. Nahezu ikonenhaft in Goyas kleinem Bild verdichtet, ist dieses »spanische«, »hispanische« oder »iberische« Potenzial der Vitalität deutlich das, was Martín-Santos als eine mögliche Assoziation innerhalb der ›sakrogenetischen‹ Dimension des Romans anbieten will. Sollten weitere Belege für diese Beobachtung notwendig sein, wären diese in den Entwürfen für seinen zweiten Roman, Tiempo de Destrucción (Zeiten der Zerstörung) zu finden, in denen der Begriff »Hexensabbat« sogar noch zentraler ist als in Tiempo de Silencio. Anders als in anderen literarischen Experimenten mit der ›sakrogenetischen‹ Funktion jedoch, so zum Beispiel anders als D. H. Lawrences Verwertung der aztekischen Mythologie in The Plumed Serpent (1926), vermeidet Martín-Santos die Gefahr eines Overload an metaphysischer Ernsthaftigkeit, eine Gefahr, die aus einem generellen Skeptizismus gegenüber neuen religiösen Ansätzen in unserer intellektuellen Welt resultiert. Er tut dies dank der durchgängigen Verspieltheit und Ironie dieser Textenklave, auf die wir uns hier konzentriert haben. Niemand könnte diese Sprache mit der theologischen Standardsprache verwechseln. Hier ist nicht der Ort darüber zu diskutieren, ob die Annahme einer Konvergenz zwischen ›Vitalität‹ und ›iberischer Identität‹ begründet ist oder zumindest war. Im größeren Erzählzusammenhang von Tiempo de Silencio (wie auch in Martín-Santos gesamtem – literarischen und psychiatrischen – Werk) ist die ›Vitalität‹ das Gegenteil und Gegenmittel zu lähmender Depression, Schwäche und Stille (hieraus der Titel seines ersten Romans), die sich nach seiner Auffassung in Spanien und vielleicht über die gesamte Welt in der Mitte des 20. Jahr-

Hispanische Vitalität? Über die Message des Tiempo de Silencio von Luis Martín-Santos

hunderts ausgebreitet hatte. Tiempo de Silencio endet mit einer Herauf beschwörung dieser Atmosphäre. Dank der emotional-intuierten Intervention Encarnas wird der junge Arzt Pedro aus dem Gefängnis entlassen. Und doch stellt sich die Episode der gescheiterten Abtreibung als ernsthafter Rückschlag für eine vielversprechende, möglicherweise herausragende akademische Karriere heraus. Er verliert seine Anstellung in Madrid und findet sich damit ab, nach einer beruflichen Existenz in der Provinz Ausschau zu halten, wie ihm geraten wird. Dann ersticht Cartucho, ein junger Krimineller und Liebhaber Floritas, des Opfers der fehlgeschlagenen Abtreibung, in einem Akt reinster Rache Pedros Freundin und wahrscheinlich zukünftige Frau. In einem eindrucksvollen abschließenden Bewusstseinsstrom, der sich entwickelt, als Pedro Madrid in einem Zug nach Westen verlässt, stellt er mit einer gewissen Hoffnungslosigkeit fest, dass sich die Verzweiflung ob des gewaltsamen Todes seiner Freundin nicht einstellen will: »Wir Unglücklichen, die wir uns nicht der Ekstase hingeben! […] Aber ich, warum bin ich nicht verzweifelter? Warum lasse ich mich kastrieren?« (Martín-Santos 1991: 320) Er ist Teil und auch Inkarnation einer Zeit, in der sich Zerstörung still vollzieht: »[…] heute leben wir […] in einer Zeit, in der die Dinge nicht viel Lärm machen. Die Bombe tötet nicht mit Lärm, sondern mit Alphastrahlen, die (an sich) geräuschlos sind, oder mit Deutronenstrahlen oder mit Gammastrahlen oder mit kosmischen Strahlen, die alle viel geräuschloser sind als ein Schlag mit einem Knüppel. Sie kastrieren auch, wie etwa die Röntgenstrahlen. Aber ich, wozu eigentlich? Wir leben in einer Zeit der Stille.« (MartínSantos 1991: 321)

Vom Zug aus sieht Pedro das Kloster bzw. den Palast El Escorial, der im späten 16. Jahrhundert unter Felipe II. errichtet wurde, als Spanien auf dem Höhepunkt seiner Weltmachtstellung und am Rande der Dekadenz war. Das Gebäude ist dem Heiligen Lorenzo geweiht, dem Nationalheiligen, einem Märtyrer, der über einem Feuer zu Tode gebraten wurde. In Pedros Gedankengang wird San Lorenzo zum Symbol der Schwäche, Opferhaltung und Stille aus der, wie der Roman konstatiert, nur die Vitalität, Vitalität als spezifisch hispanische Ressource, die Nation erlösen kann: »Die Sonne scheint weiterhin ins Abteil, und dort hebt sich die Masse des Klosters ab. Es hat immer noch seine fünf nach oben gerichteten Türme, und es ist unerschütterlich. Es bewegt sich nicht. Seine Steine werden angestrahlt von der Sonne oder erdrückt vom Schnee, und es ist unerschütterlich. Da ist es, plattgedrückt, verkümmert, wie ein Abbild jenes Rosts, auf dem, wie erzählt wird, der heilige Laurentius unserer Sünden viviseziert wurde, jener heilige Laurentius, den du kennst, jener heilige Laurentius, der ich bin, jener Laurentius, Laurentius, der auf dem Rost ruft: Nun dreht mich endlich um, auf dieser Seite bin ich schon geröstet, wie die Sardinen, Laurentius, wie kleine, armselige, bescheidene Sardinen, ich bin schon geröstet, die Sonne röstet, sie röstet, dörrt aus, der heilige Lauren-

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Hans Ulrich Gumbrecht tius war ein ganzer Kerl, er hat nicht geschrien, er war still, als ihn heidnische Torquemadas rösteten, er war still und sagte nur – die Geschichte erzählt nur, was er gesagt hat –: Dreh mich um, denn auf dieser Seite bin ich schon geröstet.« (Martín-Santos 1991: 324f.)

Aus dem Englischen von Michael Heinze

L iter atur Flaubert, Gustave (2007): Madame Bovary, München: Piper. Gassier, Pierre/Wilson, Juliet/Lachenal/François (1994): Goya. Leben und Werk, Köln: Benedikt Taschen Verlag. Lawrence, David Herbert (1999): The Plumed Serpent, Ware: Wordsworth. Martín-Santos, Luis (1963): »Noticia del coloquio sobre realismo y realidad en la literatura contemporánea«, in: El mundo español (12), Paris: Unesco. Martín-Santos, Luis (1991): Schweigen über Madrid, Frankfurt a.M.: Eichborn. Martín-Santos, Luis (2004): »El plus sexual del hombre, el amor y el erotismo«, in: José Lázaro (Hg.), Luis Martín-Santos. El análisis existencial. Ensayos, Madrid: Triacastela, S. 107-116. Martín-Santos, Luis (2005): Tiempo de Silencio, Madrid: Edición de Alfonso Rey. Winecoff Díaz, Janet (1968): »Luis Martín-Santos and the Contemporary Spanish Novel«, in: Hispania (51), S. 232-238.

Mikropolitik des Schreibens Zur Biopoetik von William Blake Roger Lüdeke

S ouver änität The Book of Urizen gilt zu Recht als »Blakes Theogonie« (Malinowski 2002: 317). Obwohl sich bereits in früheren Prophezeiungen wie America und Europe verschiedene Hinweise auf zentrale Figuren der späteren Werke finden, werden die genealogischen Filiationen von Blakes mytho-kosmischer Ordnung konsequent erst in diesem Stück expliziert. Hier wird deutlich, wie Blake einen eigenständigen »Mytho-Kosmos« durch synkretistische Überlagerung und Neudeutung traditioneller, hauptsächlich biblischer Referenztexte (Gen, 1-3; Ex, 19-20, Dtn, 5 und Off b) konstituiert (vgl. Malinowski 2002: 317). »Earth was not: nor globes of attraction/The will of the Immortal expanded/Or contracted his all flexible senses/Death was not, but eternal life sprung.« (Blake 2001: 71)

Im ersten Teil des Urizen schildert Blake, wie sich der gleichnamige Titelheld aus dieser ganzheitlichen Weltordnung der Eternals abspaltet und sich als absolutistischer Herrschergott etabliert. Daher wurde Blakes Urizen auch immer wieder als Parodie der biblischen Genesis gelesen: »[who] question[s] Biblical authority by calling into question the status of divine revelation as derived from writings descended from the Mosaic period. These illuminated books engage directly with a highly politicized debate about the role of religion« (Worrall 1995b: 20; vgl. ähnlich McGann 1986, Rothenberg 1993, Behrendt 1998). Aber diese Deutung greift zu kurz. Urizen ist nicht allein biblischer Schöpfergott, Vertreter der institutionalisierten anglikanischen Staatskirche und Repräsentant des herrschenden Erkenntnismodells des Empirismus und der Aufklärung (vgl. Malinowski 2002: 321). All diese Bezüge wie auch die durch sie verkörperten epistemologischen und moralischen Normensysteme sind auf eine weitaus grundlegendere Funktion ausgerichtet, die Urizen in diesem wie auch in anderen Texten Blakes vertritt. Vor allem anderen nämlich ist Urizen – wiederum in deutlicher Anlehnung an

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das Modell des Propheten Mose – der erste Gesetzgeber.1 In Blakes poetischem Mytho-Kosmos bildet er den Ursprung des Politischen und des Rechts: »Lo! I unfold my darkness: and on/This rock, place with strong hand the Book/Of eternal brass, written in my solitude. Laws of peace, of love, of unity:/Of pity, compassion, forgiveness./Let each chuse one habitation:/His ancient infinite mansion:/One command, one joy, one desire,/One curse, one weight, one measure/One King, one God, one Law.« (Blake 2001: 72)

Vor diesem Hintergrund lässt sich Urizens Lösung aus dem Geltungsbereich der Eternals und seine damit einhergehende Gesetzgebung im engeren politisch-juridischen Sinne als Akt der Souveränität beschreiben. Seine Abspaltung ist nicht nur »Ausdruck seines Wunsches nach Solidität, Autorität und Macht« (Malinowski 2002: 320), sondern sie setzt auch jene ursprüngliche Differenz zwischen Recht und Gewalt erst in Kraft, welche die nicht kausal und nicht zeitlich zu fassende Voraussetzung der Legitimität der hierauf basierenden politisch-religiösen Ordnung bildet.2 In eins damit instituiert Urizens souveräne Setzung die Existenz eines tödlichen Lebens und bannt diese zugleich: »And his world teemd vast enormities/Frightning; faithless; fawning/Portions of life; similitudes/Of a foot, or a hand, or a head/Or a heart, or an eye, they swam mischevous/Dread terros! delighting in blood […] He in darkness clos’d, view’d all his race/And his soul sicken’d! he curs’d/Both sons & daughters; for he saw/That no flesh nor spirit could keep/His iron laws one moment. For he saw that life liv’d upon death/The Ox in the slaugher house moans/The Dog at the wintry door/And he wept, & he called it Pity/And his teares flowed down on the winds.« (Blake 2001: 81)

1  |  »In Blake’s poem, the legislating word has completely usurped the world-creating word; or rather, as with so many events in Blake’s poetry, the two are superimposed on one another so that the creation of any world other than a politicized and legislated one becomes inconceivable.« (Esterhammer 1999: 120). 2  |  Vgl. bereits Mitchell 1978, 129: »The primeval priest’s assumption of power can be seen as occuring before, after, or at the same time as his expulsion by the Eternals. Urizen’s assumption of power over his world can be seen as a consequence of the Eternals’s behavior as much as a cause of it. […] If this seems too great a paradox to contemplate, we should only remind ourselves that the second chapter of the poem will imply that the primal crime is the promulgation of law, not the violation of it.« Ähnlich auch Essick, der Urizens Abspaltung als »autotelic self-separation of the demiurge from his fellow ›Eternals‹« beschreibt: »This event immediatedly constitutes, and is constituted by, difference as the fundamental ontological category« (Essick 1989: 149).

Mikropolitik des Schreibens. Zur Biopoetik von William Blake

Blakes Genealogie der Souveränität kann symptomatisch gelesen werden. Das Ende des 18. Jahrhunderts ist auf der Ebene der politischen Theoriebildung gekennzeichnet von der programmatischen Ablösung religiös-transzendenter Gesellschaftsmodelle durch politische Ordnungsformen, deren Legitimation nun verstärkt im innerweltlichen Lebenskontext des Menschen begründet wird. Blakes Zeitgenossen, Thomas Paine und Edmund Burke etwa, entthronen Hobbes’ Leviathan als mortal God durch Konzepte des mortal man. Die Folge aber ist, dass dadurch ein »leerer Ort« entsteht, an dem »keine Verbindung zwischen der Macht, dem Gesetz und dem Wissen und keine Aussage über ihre Grundlage möglich« ist (Lefort 1999: 53). Zwar rekonstruieren Paine oder Burke den mortal God im Zeichen einer Metaphysik der Endlichkeit neu in den konstitutiven Grenzen der sterblichen Natur des Menschen, aber gerade deswegen wird das politische Subjekt auch hier in einer äquivalenten Grenzposition definiert: im Schwellenbereich zwischen seiner animalisch-kreatürlichen Beschaffenheit, seiner begrenzten Sinneswahrnehmung, seiner Begehrensstruktur und vor allem seiner Sterblichkeit sowie all jenen Merkmalen, die ihn vom Tier unterscheiden und ihn deswegen zur gesellschaftlichen Ordnung prädestinieren.3 Wenn Paine die »rights of the living« gegenüber Burke aus der sterblichen »nature of man« (Paine 1995: 94) heraus begründet, dann verlässt er nicht nur das Referenzsystem der königlichen Souveränität göttlichen Ursprungs, sondern erklärt das »natürliche nackte Leben als solches […] zum unmittelbaren Träger der Souveränität« (Agamben 2002: 137). 3 | Im Anschluss an Jacques Derrida zeigt bekanntlich insbesondere Giorgio Agamben, wie die für die politisch-juridische Instituierung konstitutive Indifferenzzone zwischen Recht und Willkür, zwischen Recht und Gewalt auch auf der Ebene der politisch-gesellschaftlichen Subjekte ihre Wirksamkeit entfaltet. Wo Derrida zufolge die politische Leitdifferenz zwischen Recht und Willkür auf den gesellschaftsstiftenden Akt dieser Entgegensetzung selbst nicht anwendbar ist, insofern Rechtssetzung und Rechtssatzung einander wechselseitig voraussetzen, da folgert Agamben, dass die immer prekären Selbstlegitimationen politisch-rechtlicher Ordnungen Modelle eines gesellschaftlichen Individuums erzeugen, dessen Körperlichkeit sich – komplementär zur objektiv instituierten Indifferenzzone zwischen Recht und Gewalt – an der Schwelle zwischen tierischer und menschlicher Existenz, zwischen biologischer und kulturell qualifizierter Lebensform ansiedelt: »Man kann sogar sagen, dass die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist.« (Agamben 2002: 16) Agambens Ansatz bietet also nicht weniger als eine institutionalitätstheoretische Begründung für Foucaults Beobachtung einer biologischen Modernitätsschwelle, die sich in machttechnisch, historisch und gesellschaftlich je unterschiedlich beschaffenen Verfügungansprüchen an den menschlichen Körper manifestiert. Der Indifferenzbereich des menschlichen Körpers bildet den »Kreuzungspunkt zwischen dem juridischinstitutionellen Modell und dem biopolitischen Modell der Macht«, den Agamben mit einer Formulierung aus Walter Benjamins Kritik der Gewalt (2003: 59) als politisches Konzept des bloßen Lebens bezeichnet.

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Roger Lüdeke »Those who have quitted the world, and those who have not yet arrived at it, are as remote from each other as the utmost stretch of mortal imagination can conceive. What possible obligation, then, can exist between them – what rule or principle can be laid down that of two nonentities, the one out of existence and the other not in, and who never can meet in this world, the one should control the other to the end of time?« (Paine 1995: 92)

Bei Paine speisen sich die transzendentalen Vorstellungsinhalte politischer Selbstbestimmung aus den empirischen Gehalten einer »mortal imagination« (vgl. Paine 1995: 93), in deren Folge der Untertan aufgrund des einfachen Tatbestands seiner sterblichen Existenz zum Bürger wird. Auch für Burke bildet die Auffassung der menschlichen Sterblichkeit, trotz fundamentaler Unterschiede des politischen Programms, die alles entscheidende Grundlage. Gegen das in Henry St. John Lord Bolingbrokes The Idea of a Patriot King vorgetragene Beharren auf einer »natural progression of reason, who is to lead the way, and to guide our steps« (Bolingbroke 1752: 74) entwirft Burke unter der Annahme einer zutiefst korrumpierten Natur des Menschen – »The great Error of our Nature is, not to know where to stop, not be satisfied with any reasonable Acquirement« (Burke 1998: 8) – eine historisch und empirisch gesättigte Depravationsgeschichte der menschlichen Zivilisation: »blotted and confounded by Tumults, Rebellions, Massacres, Assassinations, Proscriptions, and a Series of Horror« (Burke 1998: 15).4 Nicht erst in seinen späteren Schriften bezieht Burke aus diesem Schreckensszenario die Begründung für die Notwendigkeit rigider gesellschaftlicher Organisationsformen. In The Book of Urizen gelingt Blake im Rahmen einer Erzählung von den Ursprüngen politischer Macht die ästhetisch vermittelte Erfahrung dieses bloßen Lebens, das den zentralen Bezugspunkt der politischen Legitimationsbildung darstellt. Deren Grundlage bildet einerseits eine zunehmend auch (typo-)graphisch gesteuerte Physiologie der fiktionalen Illusionsbildung, die es im Modus ästhetischer Rezeption erlaubt, die radikale körperliche Bedingtheit der menschlichen Wirklichkeitserfahrung auszustellen. Darüber hinaus aber wird die ästhetische Erfahrung körperbedingter Endlichkeit in Urizen wesentlich auch an die materiell-empirische Produktionsebene von Blakes Schreibpraxis geknüpft (vgl. den zweiten Abschnitt der folgenden Studie). Hierbei zeigt sich, dass Blakes Schreiben sich in einer Zwischenzone ansiedelt, die dem politisch konstitutiven Indifferenzbereich zwischen physiologischer und menschlicher Existenz, zwischen biologischer und kulturell qualifizierter Lebensform strukturell ver4  |  Ihren Anlass findet Burkes erste längere Schrift Vindication of Natural Society von 1756 in der Erscheinung von Bolingbrokes Works, die 1754 posthum von David Mallet herausgegeben worden waren. Vgl. auch die Beobachtungen von Walter D. Love zu Burkes Remotivierung der konventionalisierten Metaphern des body politic oder body corporate, die darauf ziele, »to make them live for his audiences by embellishing them with what we might call biological imagery, the imagery of living bodies« (Love 1965: 185).

Mikropolitik des Schreibens. Zur Biopoetik von William Blake

wandt ist. Infolge ihrer ornamental-autographen Eigenschaften inszeniert Blakes Schreiben den Schwellenbereich zwischen dem nicht-kodifizierbaren Strich als körperlicher Signatur eines biologisch-physiologischen Lebens einerseits und dem sprachlichen oder piktoralen Zeichen als symbolisch kodifizierter Ausdruck eines kulturell qualifizierten Lebens andererseits. So macht Blakes Biopoetik den gestischen Übergangsbereich zwischen unkontrollierter Bewegung (Zuckung) und kodifizierter Bewegung (Symbolhandlung) sichtbar, in dem beide Aspekte voneinander ununterscheidbar werden und ineinander übergehen. Dennoch lässt sich Blakes medienästhetische Praxis von der Instrumentalisierung der Differenzfigur des bloßen Lebens innerhalb der politischen Begründungsdiskurse und gesellschaftlichen Körperpraktiken unterscheiden. Die ästhetische Differenz von Blakes Schreibkunst liegt darin begründet, dass die diskursive Unverfügbarkeit dieses Zwischenbereichs dort nicht als Anlass zu gesellschaftsimmanenten Ordnungsmodellen und Phantasmen sozialer Kontrolle verstanden, sondern zum biopoetischen Bezugspunkt einer ästhetischen Produktivität, eines permanenten Sinn- und Formenüberschusses wird. Dies genauer zu beschreiben erfordert zunächst jedoch, die diskursiven Regeln der »wiederholbaren Materialität« 5 von Blakes Schreib- und Zeichenakten zu berücksichtigen. Diese erschließen sich über eine Rekonstruktion des zeitgenössischen Schriftdiskurses: am geschichtlichen Korpus der Schreiblehrfibeln und ihrer Paratexte, in denen Schreiben als historisch bestimmte Körperpraxis beschreibbar wird (vgl. Abschnitt 3 dieses Beitrags). Dort zeigt sich, dass der Diskurs des Menschen als Leerstelle der politischen Genealogien des 18. Jahrhunderts 5 | Der Begriff stammt aus Foucaults Archäologie des Wissens und bezeichnet dort ein prinzipielles Spannungsmoment von Diskursen, die singulär materialisierte Äußerungen in wiederholbare, mit sich selbst identische Aussagen zu transformieren haben (vgl. etwa Foucault 1981: 152). Das Konzept erweist sich in Blakes Drucktechnik des Relief Printings (Strichätzung) besonders angemessen, da dieses charakteristischerweise zwischen der singulären Signatur der Handschrift und ihrer typographischen Reproduktion oszilliert. Den gängigen Rekonstruktionsversuchen zufolge hat Blake die Textpassagen seiner illuminierten Drucke mit einer Feder und seitenverkehrt, von rechts nach links (sowie vermutlich von unten nach oben), auf eine Kupferplatte geschrieben; die Bildelemente werden in der Regel mit einem feinen Pinsel aufgetragen. Als Schreib-, Mal- und Zeichenmittel dient ein säureresistenter Decklack, der bei Radierungen gewöhnlich für die Stufenätzung verwendet wurde (vgl. Dörrbecker 2005: 46). Die Lackfarbe schützt ausgewählte Flächen der Druckplatte vor der verdünnten Nitratsäurelösung, der die Platte nach vollendeter Zeichen- und Schreibarbeit ausgesetzt wird. Diese Flächen bilden dann das reliefierte Hochdruckklischee, dem Blakes Verfahren seinen Namen verdankt. Durch die Verwendung der säureresistenten Lackfarbe ist dafür gesorgt, dass der Inskriptionswiderstand bei der Herstellung der Druckplatten dem beim normalen Zeichen- und Schreibakt entspricht. Blakes Zeitgenossen wie auch Forschern unserer Tage zufolge hat Blake in der Spiegelschrifttechnik eine Virtuosität erzielt, die der eines Leonardo da Vinci vermutlich in nichts nachstand.

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nicht allein auf der Ebene der sprachlich-symbolischen Vermittlung zur Kompensation der performativen Selbstwidersprüche politischer Instituierungsakte dient, sondern auch auf der Ebene des körperlichen Vollzugs und der materiellen Eigendichte graphisch-graphemischer Performanzen seine Wirkung erzielt. Hierauf weisen die zentralen Begründungsdefizite im historischen Schriftdiskurs des 18. Jahrhunderts hin. Immer aufs Neue situiert sich dieser an der prekären Schwelle zu einer skripturalen Singularität, die mit den rekurrenten Schlüsselbegriffen einer individuellen Artfulness, Boldness und Freedom des handschriftlichen Selbstausdrucks umschrieben wird. Ähnlich wie Blakes Drucktechnik zielen die genannten Begriffe und die hierauf gegründeten Diskurspraktiken und Körpertechniken zunächst darauf, das allographische Prinzip einer Wiederholung mit sich selbst identischer Zeichen zu überbieten – setzt die dabei angestrebte Singularität der Inskriptionen doch voraus, dass die Muster der kodifizierten Schriftelemente in diesen zwar einerseits weiterhin erkennbar sind, ihr konkreter Vollzug aber andererseits jenen ornamentalen Überschuss erzeugt, der die Muster selbst eigenständig und individuell modifiziert. Dieser iterative Aspekt der skripturalen Performanzen erzeugt die paradoxen Konzepte einer singulären Wiederholung und einmaligen Reproduktion, die sich in den Schriftdiskursen des 18. Jahrhunderts historisch je unterschiedlich als Medium der gesellschaftlichen Bildung des Subjekts artikulieren. Für den Schriftdiskurs des späten 18. Jahrhunderts wird diese Indifferenz- und Unverfügbarkeitszone des Schreibens in dem Maße zur paradigmatischen Ermöglichungsform eines assujetissement (im Sinne von Unterordnung und Subjektwerdung), in dem die Körperlichkeit des Schreibakts selbst vermehrt ins Zentrum des Interesses rückt. Im Zuge einer wachsenden Aufmerksamkeit für die feinmotorischen Prozesse des Schreibens kommt es dabei im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einer stetigen Verfeinerung des körperlichen Trainings, das es erlaubt, die Unbestimmtheitsstellen des Schreibens im Hinblick auf gesellschaftliche Regulationsinteressen zu operationalisieren. In ihren minutiösen Überlegungen und Anweisungen zur Schreib- und Handhaltung wie auch zur Körperbewegung verwirklichen die entsprechenden Lehrbücher eine komplexe ›Mikrophysik der Macht‹, in der sich eine zunehmende »Zusammenschaltung von Körper und Geste« (Foucault 1989: 195) vollzieht. Insofern sich das so bestimmte Schreibsubjekt mit seinen skripturalen Äußerungen in einem diskurskonstitutiven Unverfügbarkeitsbereich situiert, bietet es den Anlass für die regulativen Phantasmen eines intrikaten Disziplinartheaters. Darin zeigt sich die semantische Produktivität der körperbezogenen Indifferenzzone skripturaler Äußerungen für einen Schriftdiskurs, der den Signifikationsregeln des Menschen gehorcht. Dieser diskurshistorischen Rekonstruktion entgegen steht Blakes Diktum »The Eternal Body of Man is The IMAGINATION« (Blake 2001: 273) sowie eine entsprechende Kunst des Schreibens, die darauf zielt, den transzendenten Hintergrund eines Holy Life zur Anschauung zu bringen – die imaginäre Dynamis eines Eternal Body of Man, die den Horizont der endlich-transzendentalen Vorstel-

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lungsinhalte menschlicher Selbstrepräsentation konstitutiv übersteigt (vgl. folgende Unterkapitel dieses Beitrags: Körperpolitik und The Eternal Body of Man is The IMAGINATION). So arbeitet Blakes Strichätzung gegen die Diskursregeln einer skripturalen Mikropolitik, die die Legitimation ihrer Signifikationsregeln im Unverfügbarkeitsbereich des Menschen und seines Körpers sucht und findet. Immer aufs Neue provoziert Blake durch seine Schreibkunst imaginäre Bilder eines politisierten Körpers, um anstelle herrschaftssichernder Mystifikation den Latenzbereich der Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, zwischen Physiologischem und Symbolischem dadurch beobachtbar und ästhetisch erfahrbar zu machen, dass er die Spannungsverhältnisse von Körperspur und Zeichenhandlung als Ort für die potenzierte Sinnerfahrung eines in seiner Sterblichkeit begriffenen Selbst mobilisiert. Womöglich ist es diese biopoetisch verwirklichte Imagination eines Unbeobachtbaren, dem Blakes Poesie die »souveräne Gewalt der Religion« verdankt, die ihr Georges Bataille einmal so emphatisch zugeschrieben hat (vgl. Bataille 1987: 77).

Todesbilder Verglichen mit den früheren Prophezeiungen, insbesondere America. A Prophecy (1793) und Europe. A Prophecy (1794), ist der Einsatz von Ornamentalformen in Urizen deutlich begrenzter. Gleichwohl ist festzuhalten, dass durch den spärlichen Einsatz von Ornamentalformen deren Signifikanz maßgeblich gesteigert ist, was zu einer weiteren Differenzierung ihres semantischen Funktionspotentials führt. Ein erstes Beispiel hierfür bietet bereits die druckgraphisch markierte Zwischenstellung des Erzählers im Spannungsfeld der transzendenten Herrschaftsansprüche der sogenannten Eternals einerseits und der weltimmanenten Herrschaftsansprüche des Urizen andererseits. Die Schreibinstanz demonstriert ihre Schwellenposition zwischen Urizen und den Eternals dabei durch eine komplexe Linienführung, die in vielfältigen Windungen und variierender Linienstärke das letzte Wort der ersten Strophe (»Solitary«), das den einsamen Urizen bezeichnet, mit dem ersten Wort der zweiten Strophe, den »Eternals«, verbindet (Blake 1794: 2; Abb. 1). Statt nur als Kopist der »swift winged words« (Blake 1794: 2) zu fungieren, die ihm die Ewigen diktieren, signalisiert der Schreiber in dieser Zwischenzone ein Höchstmaß an Autonomie und Individualität. Die ornamentale Graphie überbietet die konventionalisierten Differenzen des piktoralen und typographischen Zeichensystems durch eine dem Textsinne nach ewige Erfahrung, jenseits der sprachlich oder bildlich kodierten Differenzwahrnehmung von Zeichen, die sich graphisch jedoch deren äußerster Partikularisierung verdankt.

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Abbildung 1

An zentraler Stelle im Handlungsverlauf des Urizen wird diese ornamentale Skriptur des »Preludium« wieder aufgegriffen (Blake 1794: 20; Abb. 2). Das Blatt zeigt Los, den Ewigen Propheten, in Begleitung zweier Eternals.6 Alle drei Figuren profilieren sich in klarer Umrisskontur vor einem dunkelblauen bis schwarzen Hintergrund. Die rechte Hand von Los ist auf eine Wolken- oder Felsmasse gestützt, mit seiner linken Hand zeichnet er eine unbestimmte weiße Linie auf einen dunklen Grund, der oben leicht konvex gewölbt ist. Die Abspaltung Urizens aus dem Reich der Eternals geschah in auffälliger Unsichtbarkeit, jenseits der Wahrnehmbarkeitsschwelle, im Ununterschiedenen: Ausdruck einer »dark 6  |  Es ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob die Figur links von Los tatsächlich Urizen darstellt. Die Ähnlichkeit zu anderen Darstellungen spricht jedoch für diese Lesart.

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power hid« (Blake 2001: 70), einer »activity unknown« (Blake 2001: 70); »Unseen, unknown!« (Blake 2001: 71). Im Unterschied hierzu wird der von Los vollzogene Schöpfungsakt, der Urizens Abspaltung auf Dauer stellt, auch in anderen Abbildungen immer wieder als sichtbare Trennung und Spaltung des Bildraums in Szene gesetzt.7 Auch auf dem vorliegenden Blatt wird der Schöpfungsakt von Los im Sinne einer solchen Teilung verbildlicht, allerdings wird diese hier zusätzlich an eine Geste der Einschreibung geknüpft.8 Abbildung 2

7  |  Vgl. insbesondere Blake (1794: 9) und Blake (1794: 17); bei Blake (1794: 13) handelt es sich dagegen vermutlich nicht um Los, sondern um eine weibliche Figur. 8 | Auf die »lotrechte Mittelachse der Kompositionen«, die Blake zumeist erzielt, »indem er eine Figur über dieser Achse postierte, wobei dann die verbleibenden seitlichen Vertikalstreifen auf die Mitte als das formale wie inhaltliche Bildzentrum bezogen erscheinen, sich ihr unterordnen und die Wirkung der Mittelpartie steigern«, verweist Dörrbecker (1992: 61).

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Was aber wird hier geschrieben oder gezeichnet? Der Text spricht davon, »the Eternal Prophet was divided/Before the death-image of Urizen« (Blake 2001: 78). Damit ist folgende Lesart des Bildes nahegelegt: Mit dem »death-image« des Urizen kann sowohl im Sinne eines genitivus subiectivus die sterbliche Existenz des Urizen als auch (im Sinne eines genitivius obiectivus) die Tödlichkeit des Lebens im Allgemeinen gemeint sein, die durch Urizens Abspaltung aus dem Geltungsbereich der Eternals resultiert. Der Text legt es ferner nahe, dass die konvex gebogene Form, die Los als Beschreibfläche dient, entweder einen Teil des Schädels von Urizen darstellt oder den »globe of life blood trembling« (Blake 2001: 78), aus der schließlich »A female form trembling and pale« entsteht: »the first female form now separate« (Blake 2001: 78), durch deren Entstehung Los’ Schöpfungsakt zu einem Ende gelangt. Entsprechend der Handlungslogik von Blakes Prophecy vollendet Los mit seinen Strichen demnach das noch ungeformte »death-image« Urizens. In seiner Stellung als Vollender von Urizens Spaltung ist die Figur des Los graphisch aufs Deutlichste markiert. Der bildkompositorische Vektor seines schreibenden Arms zeigt, welchen Anteil daran dem hier gezeigten Inskriptionsakt zugewiesen wird. Die Vertikale seines Schreibarms akzentuiert nicht nur die Grenze zwischen den beiden Vertretern der Eternals zur Rechten und Linken von Los9, sondern stellt auch die Verbindung her zu der spaltenförmigen Textanordnung im oberen Teil der Seite, in deren rebenartiger Verzierung diese Kompositionslinie ihren Abschluss findet. Blickt man näher auf den Text, der durch den Spaltenwechsel getrennt wird, so ist dort zu lesen, wie in einer zweistufigen medialen Staffelung die durch Urizen hervorgerufene Spaltung der Ewigkeit in Los’ Visionen für die Eternals sichtbar wird: »And now seen, now obscur’d to the eyes/Of Eternals, the visions remote//Of the dark separation appear’d.« (Blake 2001: 78) Der Spaltenwechsel imitiert die hier beschriebene Teilung in ganz verschiedener Hinsicht. Zum einen dadurch, dass die kolumnenartige Anordnung des Textes zur Folge hat, dass der beschriebene Akt der Wahrnehmung von seinem Gegenstand gesondert wird: »the visions remote//Of the dark separation«; zum anderen dadurch, dass diese typographische Trennung der Strophen wiederum die anaphorische Korrespondenz zu dem unmittelbar vorhergehenden Zeilenwechsel betont: »the eyes/Of Eternals, the visions remote«. Der Strophensprung trennt die Wahrnehmungsform (visions) von ihrem Gegenstand (separation); der Zeilensprung markiert die Trennung von Wahrnehmungsmedium (eyes) und Wahrnehmungssubjekt (Eternals). Diese graphischen Verfahren imitieren mithin auf der typographischen Fläche des Bildraums, wovon im Text die Rede ist. Denn wie so oft bei Blake ist mit der »lotrechte[n] Mittelachse der Komposition« auch an dieser Stelle »für den Betrachter […] die Aufforderung verbunden, das Links mit dem Rechts zu vergleichen« (Dörrbecker 9 | Zwischen Urizen und den Eternals, wenn man die Figur mit Urizen gleichsetzt. In der vorliegenden Fassung wird die teilende Funktion von Los’ Schreibarm zusätzlich dadurch betont, dass die Augen der Figur zu seiner Rechten nach rechts, die zu seiner Linken nach links aus dem Bildfeld weisen.

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1992: 62). Der diskontinuierliche Blick des Lesers vollzieht somit selbst die Spaltung des einheitlichen Raums der Ewigkeit auf der zweidimensionalen Fläche der Seite. Wenn man sich den typographisch gelenkten Rezeptionsvorgang in dieser Weise vergegenwärtigt, so lässt sich sagen, dass die Blicke des Rezipienten zunächst die geschilderte Vision der Trennung im Rahmen des Leseakts durch die Trennung der Vision von ihrem Gegenstand nachvollziehen und sodann – nach rückblickender Wahrnehmung der anaphorischen Rekurrenz – erneut eine perzeptive Trennung realisieren, die nun die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmungsmedium betrifft. In dieser Betonung der physiologischen Bedingungen der ästhetischen Illusionsbildung, die aus einem gelenkten Hin und Her zwischen graphischer und sprachlicher Wahrnehmung resultiert, eignet sich der Leser den oszillierenden Blick der Eternals an, durch den diese zur Vorstellung der gefallenen Welt gelangen: »now seen now obscurd to the eyes/Of Eternals, the visions remote/Of the dark separation appear’d/As glasses discover Worlds/In the endless Abyss of Space. So the expanding eyes of Immortals/Beheld the dark visions of Los.« (Blake 2001: 78)10

Aus diesem Zusammenspiel von Text und Bild entsteht ein medial hoch vermittelter, perspektivisch gebrochener Wahrnehmungsraum, in dem sich für den Leser das Todesbild des Urizen konstituiert. Aber auch hier findet sich eine der für Blake so typischen Unentschiedenheiten. Sie resultiert hier aus dem ambivalenten Status der gezeigten Inskriptionsgeste von Los: Denn offensichtlich ist ja gar nicht ausgemacht, ob die Schreib- und Zeichengeste von Los tatsächlich das Ende oder nicht vielmehr den Beginn seiner Arbeit am »death-image« des Urizen darstellt. Einerseits könnte Los’ Inskription kurz davorstehen, das Bild zu vollenden, indem sie die letzten weißen Reste des Blattes mit einer dunkleren Farbe füllt, andererseits ist aber auch vorstellbar, dass der helle Strich einen ersten Strich bildet, den Auftakt zu einer Schreib- oder Zeichenbewegung also, die zu einer systematischen Auslöschung des gesamten Bildes führen würde. Auch hier ist die ästhetische Illusionsbildung durch eine oszillierende Dynamik gekennzeichnet. Sie kippt zwischen der antizipierten Auslöschung des menschlichen Todesbildes und seiner kurz bevorstehenden Vollendung. In Weiterführung einer zentralen Beobachtung Dörrbeckers ließe sich hier also von einer »entzogenen Epiphanie« sprechen (vgl. Dörrbecker 1992: 65). Dadurch befindet sich der Leser in einer für Blakes Bild- und Schriftkunst konstitutiven Zwischenposition, im Schwellenbereich zwischen der möglichen Rückkehr in den differenzlosen Raum der Ewigkeit, in den unmarked space einer weißen Fläche einerseits und der endgültigen Durchsetzung von Urizens Herrschaftsraum und dem von ihm instituierten Todesbild der menschlichen Existenz 10  |  Zu Blakes Auffassung der optischen Medientechniken von Mikroskop und Teleskop als exemplarischer Ausdruck der Begrenztheit menschlicher Erfahrung vgl. Gleckner (1965: 5).

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andererseits. Zwischen diesen beiden Vorstellungsmöglichkeiten klafft eine weitere Lücke, die den Leser im Rezeptionsakt erneut auf die physischen Grenzen der menschlichen Wahrnehmung verweist: auf die Unmöglichkeit nämlich, das »death-image« als differenzlose Leere und als ausdifferenzierte Fülle zugleich wahrzunehmen. Diese Unbestimmtheitsstelle des menschlichen Wahrnehmungssubjekts zwischen erfüllter symbolischer Handlung einerseits und einer in Leere und radikale Unsichtbarkeit verwiesenen physiologischen Wahrnehmung andererseits bildet den Differenzpunkt ästhetischer Vorstellungskraft, durch den der Leser hier auf die konstitutive Unbeobachtbarkeit seiner innerweltlichen Beobachtungen verwiesen ist. Ausgehend von der paradoxievermeidenden Variante einer Beobachtung des Unbeobachtbaren, der möglichen Einheit von Immanenz und Transzendenz innerhalb der Ununterschiedenheit eines unmarked space, überführt Blakes Schriftbildraum diese Erfahrung in die Unbeobachtbarkeit innerweltlicher Perzeption und akzentuiert damit die unwiderruf bare Trennung zwischen der innerweltlichen Wahrnehmung des Differenten und dem außerweltlichem Einheitsversprechen. Genau hierin zeigt sich die menschliche Einbildungskraft als Mittlerinstanz, die ausgehend von der transzendentalen Erfahrung der Grenzen der Vorstellungsinhalte auf den transzendenten Bezugspunkt eines letztlich unverfügbaren Sinn- und Formenüberschusses bezogen bleibt.

S chreibschule »How justly Bold, when in some Master’s Hand,/The Pen at once joins Freedom with Command !/With Softness strong, with Ornaments not vain;/Loose with Proportion, and with Neatness plain;/Not swell’d, yet full, compleat in ev’ry Part; And Artful most, when not affecting Art.« (Bickham 1968: o.S).

Vorgetragen im Versmaß von Popes Essay on Man, bilden die Schlüsselbegriffe der Artfulness, Boldness, Freedom und des Ornaments hier Paraphrasen einer im handschriftlichen Medium angestrebten Einzigartigkeit. Sie markieren den Überschuss gegenüber dem allographischen Prinzip einer Wiederholung mit sich selbst identischer Zeichen (Disjunktivität) bzw. deren endlicher Differenziertheit gegenüber anderen Zeichen. Die im Schreiben angestrebte Singularität setzt voraus, dass in den Inskriptionen die Muster der kodifizierten Repräsentationselemente erkennbar sind, deren Vollzug dann jenen ornamentalen Überschuss erzeugt, der die Muster selbst modifiziert. In Aneignung des höfischen Verhaltensideals der sprezzatura bzw. désinvolture wird das Ornamentale bis weit ins 18. Jahrhundert auch im bürgerlich geprägten Kontext als Natürlichkeit und ease jenseits des Effekthascherisch-Affektierten thematisiert. Gleichwohl beginnt das ingenium der eigentümlichen Geste im Zuge wachsender sozialer Ausdifferenzierung seine Verankerung im allgemeinen Geltungsanspruch eines historisch und gesellschaftlich verbürgten iudicium zunehmend einzubüßen. Jenseits der me-

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chanischen ars hat das Schreiben spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts auch auf dieser materiellen Ebene vermehrt mit der »(noch nicht kodifizierte[n]) und in diesem Sinne ›unaussprechliche[n]‹ Individualität« (Frank 1977: 48) des Schreibers zu rechnen. Deren Bezugspunkt kann per definitionem nicht mehr die Übereinstimmung des Geschriebenen mit den tradierten Vorgaben und Mustern der allgemeinen Ratio sein. Was und wie geschrieben werden soll, bemisst sich nicht mehr nach objektiv verbürgten Konnotationen sozialer oder nationaler Eigenheiten, sondern nach der Individualität des Autors in seiner differentiellen Position als Subjekt und Objekt eines geschichtlich gewordenen und gesellschaftlich konventionalisierten Aufschreibesystems. Hieran zeigt sich die unendliche Aufgabe des Schriftdiskurses am Übergang zum 19. Jahrhundert als Suche nach dem nie vollständig erreichten Geheimnis des skripturalen Selbstausdrucks. Schon Snell hatte klare Regeln aufgestellt hinsichtlich der Breite und Höhe der Buchstaben sowie ihrer Abstände zueinander (vgl. Snell 1712: o.S.). Dabei erscheint das Schriftsystem als relationales Gesamtgefüge, innerhalb dessen sich jeder Buchstabe in Differenz- oder Ableitungsbeziehungen zu anderen Buchstaben bestimmen lässt. Das in Europa so intensiv rezipierte wie imitierte Lehrwerk von John Jenkins The Art of Writing Reduced to a Plain and Easy System on a Plan Entirely New, das 1791 in Boston erschien, setzt diese Bemühungen fort (vgl. Jenkins 1791). Jenkins reduziert das Alphabet erstmals konsequent auf distinkte Bestandteile (und genau hierin werden ihm die europäischen Schreibmeister des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts wie z.B. Heinrich Stephani oder Marc Henri L. Mülhauser folgen).11 Jenkins unterscheidet sechs Grundzüge: »the direct l«, »the inverted l«, »the curved l«, »the j«, »the o«, »the stem«, aus denen sich alle gegebenen Buchstaben ableiten lassen sollen. Der folgende Lehrdialog veranschaulicht das Prinzip von Jenkins’ Methode am Beispiel des »direct l«: »Ques. Are there any other letters contained in the direct l? Ans. The t, the little i, and the u, are but the lower part of the l; the b is also formed of the l by carrying the hair stroke up to the line, and adding a small swell« (Jenkins 1791: 18). Jenkins’ »six principal strokes« bilden nichts weniger als eine Art romantische ›Urschrift‹. Ähnlich wie die ›Ausdruckssubstanz‹ im Sinne Hjelmslevs bilden Jenkins’ ›Grundzüge‹ den vorstrukturierten Hintergrund aller möglichen skripturalen 11 | Zu Stephani vgl. Kittler (1985: insb. 44ff.). Auch das in England besonders erfolgreiche Schreiblehrsystem des Genfer Schulinspektors Marc Henri L. Mülhauser (engl. Übersetzung von 1842: A Manual of Writing founded on Mulhauser’s Method of Teaching Writing and Adopted to English Use. London) basiert auf einer Komponentenanalyse des Alphabets. Es wurde 1842 vom English Committee of the Council on Education für Charity Schools als verbindliches System empfohlen: »The letters were formed by command with the teacher calling out letter elements and the students simultaneously writing them down on the page: the letters mysteriously appeared out of the assembled elements. This was known as ›handwriting drill‹. The pen was even picked up and dipped into ink by the whole class on shouted commands or the beat of a classroom metronome« (Clayton 1999: 13).

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Formbildungen: »twentyfive of the small letters, and several of the capitals, are made by the different combinations of these principal strokes, with but a little variation or addition« (Jenkins 1791: 5). Dabei entpuppt sich das ›direkte l‹ unvermutet als besonders privilegierter Archetypus, denn es enthält Jenkins zufolge nicht nur den Großteil der übrigen sechs Strichtypen (mit Ausnahme des j und des o). Mehr noch: Die für diesen Grundzug kennzeichnende Doppelbewegung, »which requires both the pressure and rise of the pen« (Jenkins 1791: 6), bildet die ursprüngliche Basisopposition, auf der dann tatsächlich alle übrigen graphematischen Unterscheidungen des Alphabets im Sinne eines differentiell-relationalen Systems beruhen. Im Sinne einer Ur-Inskription ermöglicht das »direct l« auf Wahrnehmungsebene somit jene »Abgrenzung einer Untermenge des Feldes« 12 von der strukturalistisch geprägte Theorien der Graphie noch unserer Tage sprechen: »Auf semiotischer Ebene lässt sich sagen, dass sie eine Trennung innerhalb einer Substanz einführt. Diese Operation der Abgrenzung erzeugt eine Opposition und somit ein elementares System.«13 Zwar enthält die Inskription des »direct l«, wie dann auch die weiteren von Jenkins entwickelten Grundzüge, noch keinen »genauen Sinn hinsichtlich der Felder, die sie gegenüberstellt«14 . Dennoch bildet sie die konstitutive »Bedingung der Lesbarkeit. Dem Kontinuum, das zuvor als undifferenziert wahrgenommen wurde und folglich als unfähig einen Sinn zu übermitteln, ist durch die erste Entgegensetzung die Möglichkeit von Bedeutung zugeschrieben«15 . Der einmal gezogene Strich bildet auf der weißen Fläche des Blattes somit eine erste Zäsur, die einen vorgängigen Verweisungszusammenhang von aktualisierbaren Möglichkeiten markiert und die Möglichkeit für die weitere Handhabung von Unterscheidungen, Selektionen und Kombinationen eröffnet. Darin besteht – unabhängig von ihrem autographen Status, nämlich als dessen Möglichkeitsbedingung – die fundamentale Funktion von Jenkins’ Grundzug als ›Markierung der Semiotizität‹. Die dadurch eröffnete Möglichkeit ist es, die Jenkins mit seinem »direct l« im Blick hat: »when a knowledge of this stroke acquired, they have learned the turn of all the other letters in the alphabet, as they are all turned alike.« (Jenkins 1791: 7) Im fortlaufend trainierten Übergang von Grundzug zu Buchstabenrealisierung und durch den anschließenden rückwirkenden Korrekturvergleich des Geschriebenen mit dem Muster der entsprechenden Grundzüge (die ihre gesicherte Gestalt aber immer erst durch die Antizipation einer möglichen Buchstabenform erhalten), bildet Jenkins’ Schreibsystem 12  |  »ségrégation d’un sous-ensemble du champ« (Groupe μ 1992: 95). 13  |  »Au plan sémiotique, nous dirons qu’elle instaure une partition dans une substance. Cette opération de délimitation crée une opposition, et donc un système élémentaire.« (Groupe M 1992: 95) 14  |  »sens précis aux espaces qu’elle oppose« (Groupe μ 1992: 95). 15 | »condition de lisibilité. Le continuum, d’abord perçu comme indifférencié et donc inapte à véhiculer le sens, se voit, par l’opposition première, attribuer une potentialité de sens« (Groupe μ 1992: 95).

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somit eine Indifferenzzone aus, die sich nur imaginativ füllen lässt – eine Leerstelle, die dazu auffordert, die Signifikanten in ihrer materiellen Eigentümlichkeit durch Vorstellungsakte auf deren ideale Zeichenwerte hochzurechnen: »for as the pen must follow the mind of a writer, a just idea of the best formed characters ought to be well impressed on the mind, that they may be instantly ready to drop from the pen when called for« (Jenkins 1791: 2). Als Folge graphisch-perzeptiver Akte vollzieht sich Schreiben damit im imaginär zu vergegenwärtigenden Übergang zwischen der noch nicht vollständig geleisteten Formbildung einerseits und dem nicht mehr vollständig gegenwärtigen Formenrepertoire andererseits. So wird Schreiben in der komplexen Figur einer vorgängigen Nachträglichkeit gedacht: als rückwirkende Antizipation eines Geschriebenen, in der die prinzipielle Ununterscheidbarkeit zwischen dem Schreiben und dem, was dadurch getan wird, dass geschrieben wird, durch den Einsatz von Vorstellungen in der Schwebe gehalten wird. Auf die analytische Reduktion der Buchstaben, ihre »different dissections and arrangements« (Jenkins 1791: IX), folgen mit unabweisbarer Notwendigkeit die entsprechenden Übungen zu ihrer Wiedervereinigung, dies allerdings, wie Kittler in ähnlichem Zusammenhang schreibt, »nicht in bloßer Montage oder Kombinatorik, sondern nach einer Ästhetik, die ihre ›Verbindung zu einem wirklichen Ganzen‹ garantiert« (Kittler 1985: 101).16 An der Stelle einer zunehmenden technischen Partikularisierung der einzelnen Schriftzüge erscheint eine entmaterialisierte Urschrift, in der die Eigentümlichkeit der Schriftzeichen in der totalisierenden Schau des ganzen Schriftbilds aufgeht. Dieses Konzept einer »organisch kohärenten Handschrift«, ist, wie Kittler für den deutschen Bereich festhält, »nicht durch graphematische Differentialität« (Kittler 1985: 101), sondern durch eine imaginär zu konstituierende Totalität gekennzeichnet, die die Differenz von gestalteter Struktur und strukturierter Gestalt durch Vorstellungen überbrückt, ganz so, als wäre Schrift ein graphematisches Halluzinogen (Kittler 1985: 105). Für den Schriftdiskurs des späten 18. Jahrhunderts wird diese Indifferenz- und Unverfügbarkeitszone des Schreibens in dem Maße zur paradigmatischen Ermöglichungsform eines assujetissement, in dem die Körperlichkeit des Schreibakts selbst vermehrt ins Zentrum des Interesses rückt. Im Übergangsbereich von wiederholbarem Zeichen und nicht-kodifizierbarer Spur gewinnt die Differenz zwischen einer beliebigen Körperbewegung (einem bloßen Zucken etwa) und einer (womöglich identischen) Körperbewegung im Sinne einer Zeichenhandlung an Aufmerksamkeit, jener Moment also, in dem es etwas anderes, vom körperlichen Akt der Inskription zu Unterscheidendes gibt, das dadurch getan wird, dass eine Inskription vollzogen wird (vgl. Danto 1984: 304). Im Zuge einer wachsenden Aufmerksamkeit für die feinmotorischen Prozesse des Schreibens kommt es dabei im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einer stetigen 16 | Heinrich Stephanis 1815 erschienene Ausführliche Beschreibung der genetischen Schreibmethode für Volksschulen zitierend, die eine vergleichbare Schreiblehrmethode vorschlägt wie die von Jenkins.

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Verfeinerung des körperlichen Trainings, das es erlaubt, die Unbestimmtheitsstelle zwischen unwillkürlichem Körperausdruck und willensgesteuerter Zeichenproduktion, zwischen basaler Bewegung und kultureller Symbolhandlung neu in den Kategorien von normal/anormal zu fassen und so gerade auch im Hinblick auf gesellschaftliche Regulationsinteressen zu operationalisieren. Spätestens seit dem beginnenden 17. Jahrhundert hatten die in den Lehrbüchern versammelten Schreibproben moralische und religiöse dicta zum Gegenstand. Schon bei Snell ist die »steady Hand« auch im normativen Sinne der Bedeutung mit einem »Constant Course« des Schreibers verbunden. Und auch Bickham setzt auf disziplinierte Gesten als Korrektiv eines ungeregelten Irrens der Sinne: »The noblest Ornament of Human-kind;/Virtue’s our Safeguard, & our guiding Star,/That stirs up Reason, when our Senses err.« (Bickham 1968: o.S.) Die Regellosigkeit des Sinnlichen, wie es sich für Bickham auf exemplarische Weise im selbstzweckhaften Ornament zeigt, bietet die Grundlage, um den course of writing als zentralen Anreiz einer körperlichen Disziplinierung des Schreibenden zu legitimieren: »Virtue and Arts are attained by/frequent Practice & Perseverance.« (Bickham 1968: o.S.) Immer wieder wird die mit dem Schreiben verbundene Vorstellung der Körperbeherrschung auf die in den Inhalten der Schreibproben anzutreffende Metaphorik der Spur, des Gleitens und des Gehens bezogen. Schreiben wird Ausdruck moralischer Integrität, weil seine Einübung eine grundständige Körperdisziplinierung garantiert: »Beauty, like Ice, our Footing does betray:/Who can tread sure on the smooth flipp’ry Way?/Pleas’d with the Passage we slide swiftly on,/And see the Dangers which we cannot shun.« (Bickham 1968: o.S.) Diese Normalisierungstendenz beginnt sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu verschärfen, womöglich auch, weil Schrift hier im Hinblick auf die ökonomische Selbstverwirklichung und normative Selbstbestimmung des prosperierenden Bürgertums eine wachsende Schlüsselfunktion einzunehmen beginnt. Mit der Schreibfeder verteidigt ein emanzipiertes Bürgertum seinen Geltungsanspruch gegenüber den überkommenen Referenzsystemen von Schwert und Szepter: »Ye British Youths, our Age’s Hope & Care;/You whom the next may polish, or impair;/Learn by the Pen those Talents to insure,/That fix ev’n Fortunes, & from Want secure;/You with a dash in time may drain a Mine;/And deal the Fate of Empires in a Line.« (Bickham 1968: o.S.) So kommt es im Zuge einer wachsenden Aufmerksamkeit für die feinmotorischen Prozesse des Schreibens zu einer stetigen Verfeinerung des körperlichen Trainings, das es erlaubt, die Unbestimmtheitsstelle zwischen Zuckung und Zeichen, zwischen basaler Bewegung und kultureller Symbolhandlung neu, nämlich nicht mehr gemäß der Leitunterscheidung sinnlich/geistig, sittlich/unsittlich, sondern in den Kategorien von normal/anormal zu diskursivieren: »the achievement of a beautiful hand was no longer represented as a passive process of mental imitation. Instead it was regarded as an active process in which […] the body [was] disciplined.« (Thornton 1996: 47) Insbesondere Jenkins’ einflussreiche Fibel, darauf weisen nicht zuletzt deren begeisterte Subskribenten eigens hin, erstreckt sich von der »position of the body

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and limbs in writing« bis hin zu der »action of the muscles, and the circulation of blood« (Jenkins 1791: I). In ihren minutiösen Überlegungen zur Schreib- und Handhaltung wie auch zur dabei vollzogenen Körperbewegung verwirklichen Lehrbücher wie das von Jenkins eine komplexe ›Mikrophysik der Macht‹: »Let the pupil be seated in a proper position for writing, resting wholly on his left arm, with the left side to the table, holding the pen in his left hand, near the top, between the ends of the thumb and fore and middle fingers, with the scoop or hollow of the pen directly toward the breast. The pen will then be in a proper position to be received in to the right hand. Then, 2. In taking the pen into his right hand, let him first put the ball of his middle finger directly on the right side of the pen at the upper part of the scoop; then lay his forefinger on the back of the pen so as to touch the midldle finger, bending the joints a little, gently. Lastly, let him bend the joint of his thumb outward, raising the end as high as the first joint of the middle finger – taking care to hide the greater part of the ball under the pen. Thus let the pen be held, lightly and easily, without the least griping of the pen or contracting of the fingers. 4. Let him turn his hand well over to the left, so that the pen may rang over the right shoulder near the neck, in this position resting the hand on the inside of the wrist and the ends of the third and fourth fingers; taking care to keep the elbow within an inch or two of the body. The pen being held thus, both parts of the nib will bear equally on the paper. The pupil may now remain in this situation for three or four minutes; the teacher, in the mean time, reminding him to notice every particular respecting the position of his body, his arms, his fingers, and pen. 5. Let him turn his hand over to the right so far, that only the right side of the nib will touch the paper. This to be done on purpose to make him see and know that it is a wrong position. As the learner is very apt to get a habit of writing in his awkward manner, it will be important plainly to show him, that if the pen be held thus, it will occasion unevenness and spattering, and render it much more difficult to learn to write than if the pen be held properly. 6. Let him lay down his pen; and then, being told, let him take the pen into the left hand, and go through the same exercise again, as above directed. This should be done two or three times a-day, five or six minutes at a time, for several days, until by proper attention, he becomes fully acquainted with the proper manner of taking and holding the pen.« (Jenkins 1791: 32)17

In dem Maße, wie sich die schriftliche Individuation nicht mehr auf die gesellschaftlich und historisch verbürgten Urteilsformen eines allgemeinen iudicium beziehen kann, müssen diese – zu den Voraussetzungen einer Metaphysik der menschlichen Endlichkeit – in den körperlichen Bedingungen des Schreibakts selbst gefunden werden. Insofern das singuläre Subjekt der Schrift sich aber infolge der skizzierten Unverfügbarkeitsbereiche im Spannungsfeld von kodifizierter Allgemeinheit 17 | Bis hinein in die Organisation der einzelnen Unterrichtsstufen bietet das Schreiben bei Jenkins »die Möglichkeit einer detaillierten Kontrolle und pünktlichen Intervention (einer differenzierenden, korrigierenden strafenden, ausschaltenden Intervention) in jedem Moment der Zeit; die Möglichkeit des Beurteilens und damit des Einsatzes der Individuen je nach dem Niveau, das sie auf ihren Laufbahnen erreicht haben.« (Foucault 1977: 206). Vgl. Jenkins (1791: 34ff.).

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und individueller Einzigartigkeit situiert, bietet es den Anlass für die regulativen Phantasmen eines umfassenden Disziplinartheaters. Darin zeigt sich die diskursivpraktische Produktivität der Indifferenzzone eines als Körperpraxis begriffenen Schreibens: Sie wird zum Umschlagplatz eines mikropolitischen Imaginären, auf dem die gesellschaftspolitischen Regulationsversuche als disziplinierende Körperpraktiken an einem ›souverän‹ gedachten Subjekt der Endlichkeit wirksam werden.

K örperpolitik Das Titelblatt des Urizen zeigt den Titelhelden in der Mitte des unteren Teils der Seite [Abb. 3]. Von unten durch die Falz des aufgeschlagenen Buchs, von oben durch den Zwischenraum der beiden Grabsteine bzw. Gesetzestafeln begrenzt, zieht sich eine Vertikalachse durch seine Gestalt, die ihn, verstärkt durch die Senkrechte seines weißen Barts und die durch seine ausgestreckten Arme markierte Waagerechte, symmetrisch innerhalb des Zentrums des Bildraums platziert.18 Die Körperfigur selbst wird dadurch aus natürlich-mimetischen Zusammenhängen gelöst und hinsichtlich ihrer integralen Gestalt in einen zeichenähnlichen Formenbestand aufgebrochen. So korrespondieren etwa die Knie Urizens und der untere sichtbare Beinbereich aufs Deutlichste mit der Gestalt der Grabplatten bzw. Gesetzestafeln im Hintergrund. Nicht zuletzt über solche formal-signifikativen Äquivalenzbeziehungen wird die Zugehörigkeit des Urizen zu den auch auf der Textebene eng miteinander verknüpften Bereichen von Gesetzesschrift und Sterblichkeit signalisiert. Betrachtet man weitere Darstellungen der Urizen-Figur, bestätigen sich diese Beobachtungen: Nahezu alle Abbildungen zeigen den Titelhelden in hochgradig komplexen, teils verdrehten, teils verzerrten Körperhaltungen, aber auch hier weist die Darstellung durchweg die genannte Schematisierung auf. Auf Blatt 23 kauert Urizen umgeben von einem nur rudimentär angedeuteten Hintergrund aus Grau- und Schwarzflächen (die womöglich eine Felsformation oder den Eingang zu einer Höhle darstellen). Seine Arme sind senkrecht auf den Boden gestützt; das rechte Knie ist aufgestellt, das linke ruht auf dem Boden. Die breite weiße Fläche seines auf den Boden reichenden Barts trennt den rechten Arm und das rechte Bein ihres linken Gegenparts. Die Gesamtheit von Urizens Pose scheint durch diese symmetrische Anordnung in ihre einzelnen formalen Bestandteile aufgelöst. Die schematisierten Darstellungen des Urizen lassen sich also zunächst werten als deutliches Indiz für die mit seiner Figur verbundene Repressions- und Restriktionsideologie des »One command, one joy, one desire,/One curse, one weight, one measure/One King, one God, one Law.« (Blake 2001: 72) Berücksichtigt man die mit seiner Figur einhergehenden normativen Referenzordnungen von Religion, Rationalismus oder sozio-politischer Herrschaft, ist hierdurch eine je unterschiedlich moti18  |  Zu solchen »Symmetrie- und Vektorenachse[n]« vgl. Dörrbecker (1992: 94ff.).

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vierte Ausgrenzung und Instrumentalisierung des Körperlichen aufgerufen: im offiziell theologischen Geltungsbereich die Abwertung der leiblichen gegenüber der spirituellen Erfahrungsdimension, im epistemologischen Zusammenhang die Hegemonie einer Philosophy of the Five Senses, deren Erkenntnisanspruch auf einer regelgeleiteten Aus-Wertung von Sinneseindrücken basiert.19 Gleiches gilt für das Körperbild einer klassizistisch geprägten Ästhetik, die statt »to exhibit the minute discriminations, which distinguish one object of the same species from another […] will consider nature in the abstract, and represent in every one of his figures the character of its species« (Reynolds 1981: 50).20 Abbbildung 3

19 | Vgl. bündig Makdisi (2003: 261): »with the logic of Bacon, Newton, and Locke, the ›Philosophy of the Five Senses‹ taken to its ultimate extreme, the organized body’s finite organic perception becomes a solely material process, one in which the body’s regulated organs allow access to the five senses that they themselves define, senses according to which life can be perceived, defined, and understood.« Vgl. ähnlich Mellor (1974: 43f.). 20  |  Martin Kemp (Kemp 1975) nimmt an, dass inbesondere Reynolds dritter »Discourse« gegen eine zu enge Orientierung des an der Royal Academy lehrenden Anatoms John Hunter gerichtet sei.

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Barbara Stafford hat in einer so gründlichen wie materialreichen Studie gezeigt, inwiefern die bildlichen Darstellungen des menschlichen Körpers im 18. Jahrhundert dabei immer wieder mit den Erkenntnisansprüchen insbesondere des medizinischen und biologischen Diskurses konkurrieren: »Witness the graphic surgery performed upon ancients and moderns alike by Anton Raphael Mengs (1728-1779) or […] by [Jacques Louis] David. In their paintings chaotic physiological experience was dissected, dismembered, discomposed. Multiple or compound events, as in the latter’s Brutus (Paris, Musée du Louvre, 1789), were metrically divided, separated, and violently broken into their component numerical parts. Male and female actors seemed flesh numerals ostentatiously isolated in a compartmentalized arrangement. Sectioning forced the viewer’s eye to lurch across the canvas. [….] Forms were flayed and vested of superfluous ornament. Individuals were pared to écorchés by a ruthless peeling. Thus pithed and cored, they were made congruent to an undeceptive ideal nakedness, or to a profound sincerity.« (Stafford 1993: 17f.)

Saree Makdisi wiederum hat aufgewiesen, inwieweit eine solche Standardisierung des Individuums in der ihm eigentümlichen Leiblichkeit, auch abseits der politischen Linientreue der Mitglieder der Londoner Royal Academy, für das Projekt einer revolutionären Mobilisierung der Massen konstitutiv war, das den radikalen Reformkräften vorschwebte, denen Blake weitaus näher stand. Auch Makdisi verbindet seine Überlegung mit einer an die Untersuchungen Michel Foucaults anschließenden These zur Körperpolitik des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Demzufolge formiert sich in den politischen Diskursen im Umfeld der Französischen Revolution eine Biopolitik, in der sich die souveräne Macht über Leben und Tod in eine »Lebensmacht« ausdifferenziert, die »das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen« definiert, »um es zu steigern und zu vervielfältigen, um im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren.« (Foucault 1977: 269) Historische Belege für diesen Befund sieht Makdisi in verschiedenen zeitgenössischen Reformbestrebungen hinsichtlich der Kontrolle der Geburten- und Sterblichkeitsrate und des Gesundheitsniveaus, hinsichtlich der Steigerung der ökonomischen Produktivität und militärischen Schlagkraft mittels Standardisierung der Arbeitsabläufe und Ausdifferenzierung der militärischen wie schulischen Disziplinierungsformen. Die nähere Untersuchung des historischen Schriftdiskurses konnte diese Beobachtungen in einem Geltungsbereich bestätigen, der an der ästhetischen wie auch technischen Beschaffenheit von Blakes Werken ausgerichtet blieb, und die daraus resultierenden wahrnehmungs-, denk- und technikgeschichtlichen Bedingungen der Subjektivierung des 18. Jahrhunderts so gegenstandsnah konkretisieren. Der allgemeine Schluss, den Makdisi für eine Analyse der Blake’schen Körperdarstellungen zieht, scheint somit zunächst auch für die hier verfolgte Fragestellung entscheidend:

Mikropolitik des Schreibens. Zur Biopoetik von William Blake »Blake’s seemingly arcane tinkerings with organs and body parts must be elaborated in terms of a much broader set of social and cultural discussions of organ-ization [sic!] that were taking place all around him as he crafted the illuminated books, and particularly in – and between – the newly developing discourses of politics and economics.« (Makdisi 2003: 85)

Tatsächlich erkennt Blake in den herrschenden normativen Referenzordnungen, insbesondere des Politischen und des Religiösen, eine Tendenz, die körperliche Dimension des Menschen auszugrenzen, zu regulieren und zu disziplinieren. Für eine Zuordnung der Urizen-Figur zu der hier beschriebenen Irrlehre der sacred codes sprechen neben der schematischen Kodifizierung seiner Körpergestalt auch die verschiedenen Indizien der Gefangenschaft und Repression, die Ketten und Gitter, die mit seiner Darstellung immer wieder verbunden sind. Das dritte Blatt zeigt ihn erneut in auffällig gestauchter Haltung, seine Arme liegen in Ketten. Die hinter seinem Kopf zu sehenden Lichtstrahlen rufen in ironischer Weise die klassische Gloriole auf. Auch hier kennzeichnet die schematische Reduktion der Darstellungsmittel Urizen aufs Deutlichste als Repräsentant einer Herrschaftsordnung, die ihre Wirksamkeit im Geltungsrahmen eines assujetissement entfaltet, das sich einer komplexen Disziplinierungstechnik verdankt.21 Die Bildunterschrift zur entsprechenden Darstellung in Blakes Large Book of Designs22 unterstützt eine solche Kontextualisierung: »Frozen doors to mock the World: while they within torments uplock.«23 Gleichwohl bilden Blakes Körperdarstellungen mehr als ein ›emblem of transgression‹, das Tristanne J. Connolly zufolge einer Manifestation des menschlichen Körpers hinsichtlich dessen natürlich-kreatürlicher Aspekte zu ihrem Recht verhilft. Blakes Körper trotzen den hegemonialen Beherrschungs- und Disziplinierungspraktiken nicht einfach dadurch, dass sie die ihr zugrunde lie21 | Vgl Blake (1794: 27), das eine hockende Figur mit horizontalen Armen zeigt, deren Hände herunterhängen. Die Arme liegen auf einer steinähnlichen Oberfläche. Zu seiner Seite finden sich feste netzartige gebundene Seile, eines umfasst die rechte Schulter, möglicherweise handelt es sich dabei um das »Web dark & cold«, »stretch’d/From the sorrows of Urizens soul/[…]/And all calld it The Net of Religion« (Blake 2001: 82). Blake (1794: 6) zeigt eine ähnliche Szene der Gefangenschaft, allerdings ohne dass die Figur hier eindeutig mit Urizen zu identifizieren wäre. 22 | Large Book of Designs, copy A (British Museum, London. Accession nos. 1856.2.9. 418-24). 23  |  Nur eine einzige Darstellung, Blake (1794: 24), zeigt Urizen in Bewegung (nach rechts); allerdings ist die Statik dieser Bewegung zum einen dadurch betont, dass der nach rechts, also in Laufrichtung weisende Arm, durch die streng nach oben weisende Hand wieder ›arretiert‹ wird. Zum anderen trägt hier die rote Kugelform samt dem schroffen Lichtstrahlenkranz zur Stasis der Darstellung bei, insofern die rote Kreisform zusammen mit dem im Profil gezeigten Dreieck der Beine ein hochgradig geometrisiertes Formenpaar bildet.

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genden Ein- und Ausgrenzungsstrategien aufheben oder dadurch, dass sie – so die Zielrichtung von Makdisis postmarxistisch geprägter Deutung – emphatisch die konstitutiv überschüssige Vitalität eines »joyous life of ›the prolific« (Makdisi 2003: 266) jenseits der sozialökonomisch bedingten Zwänge von Tauschlogik und Arbeitsteilung beschwören. Denn schließlich ist gegen eine solche einseitige Auffassung stets Blakes fundamental religiös verankerte Körperskepsis im Blick zu behalten. Deutliche Spuren dieser Hassliebe finden sich in Blakes knapper Anmerkung zu Berkeleys Siris – »The Natural Body is an Obstruction to the Soul or Spiritual Body« (Blake 2001: 664)24 – und deutlicher noch in der folgenden Passage aus A Vision of The Last Judgment: »This world of Imagination is the World of Eternity it is the Divine bosom into which we shall all go after the death of the Vegetated body This World ›of Imagination‹ is Infinite & Eternal whereas the world of Generation or Vegetation is Finite & [for a small moment] Temporal There Exist in that Eternal World the Permanent Realities of Every Thing which we see are reflected in this Vegetable Glass of Nature All Things are comprehended in their Eternal Forms in the Divine body of the Saviour the True Vine of Eternity The Human Imagination who appeard to Me as Coming to Judgment. among his Saints & throwing off the Temporal that the Eternal might be Establishd. around him were seen the Images of Existences according to [their aggregate Imaginations] a certain order suited to my Imaginative Eye […].« (Blake 2001: 555)

Offensichtlich nimmt die Imagination auch in Blakes Körperkonzept die entscheidende Stelle der Vermittlung ein.25 Damit ist der anzunehmende Komplexitätsgrad der in Blakes Texten eingenommenen Beobachtungshaltung deutlich gesteigert. Es geht nun weniger darum, in ihnen eine emphatische Feier des »joyous 24  |  »But in respect of a perfect spirit, there is nothing hard or impenetrable: there is no resistance to the deity. Nor hath he any Body: Nor is the supreme being united to the world, as the soul of an animal is to its body, which necessarily implieth defect, both as an instrument and as a constant weight and impediment. Imagination or the Divine Body in Every Man« (Blake 2001: 663). 25  |  Vgl. im Ansatz bereits Eaves (1982: 65): »The human form always seems to have artistic correspondences for Blake, as in one of the Proverbs of Hell: ›The head Sublime, the heart Pathos, the genitals Beauty, the hands & feet Proportion‹ (E37). ›Physiognomy‹ as an esthetic term takes the face as a metaphor of the human form – the embodied imagination. The physiognomy of the work is the face of the work, as it were, the form of the artist’s imagination in it. This is the imaginative form that the narrator of The Marriage of Heaven and Hell says he intends to reveal ›by printing in the infernal method, by corrosives, […] melting apparent surfaces away, and displaying the infinite which was hid‹ (Blake 2001: 38). When revealed, the hidden infinte will have a human form – the form of the imagination itself, which is Jesus.«

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life« zu beobachten, als vielmehr zu beschreiben, inwieweit darin sichtbar wird, wie sich im Rahmen einer Dynamik der ›einschließenden Ausschließung‹ nacktes Leben und Politik wechselseitig konstituieren – kurz: wie in Blakes Körperrepräsentationen die »ursprüngliche Figur des in Bann genommenen Lebens« erscheint und sich »das Gedächtnis der ursprünglichen Ausschließung [bewahrt], mittels deren sich die politische Dimension konstituiert hat.« (Agamben 2002: 93) Zwischen der Ausgrenzung des Körperlichen im religiös-spirituellen, erkenntnistheoretischen und gesellschaftsregulativen Geltungsbereich einerseits und seiner normalisierenden Eingrenzung als vermeintlich natürlich gegebener Referenzpunkt der menschlichen Welt- und Selbsterfahrung andererseits steht bei Blake eine zutiefst religiös verankerte ›Imagination des ewigen Körpers‹. Diese kommentarwürdige Formulierung kann sich auf das zentrale Diktum aus Blakes Laocoon berufen, in dem es so lapidar wie schlagend heißt: »The Eternal Body of Man is The IMAGINATION […] It manifests itself in his Works of Art« (Blake 2001: 273).26 Das Konzept einer Imagination des ewigen Körpers erlaubt es Blake, die politischen Bezugsgrößen von Leben und Körper konsequent in ihrer reinen Potentialität, als energetische Materialität, zu denken, und genau dies begründet die unhintergehbare Souveränität von Blakes ästhetisch vermittelter Körperpolitik: »But the following Contraries to these are True 1. Man has no Body distinct from his Soul for that calld Body is a portion of Soul discernd by the five Senses. the chief inlets of Soul in this age. 2. Energy is the only life and is from the Body and Reason is the bound or outward circumference of Energy. 3. Energy is Eternal Delight.« (Blake 2001: 34) 27

The E ternal B ody of M an is The IMAGINATION Inwieweit das Darstellungsziel einer ästhetischen ›Verkörperung‹ dieser energetisch verstandenen Potentialität auch den Körper-Repräsentationen des Urizen eingeschrieben bleibt, kann die Betrachtung des achtundzwanzigsten Blattes des Urizen verdeutlichen, das wiederum eine Rückenansicht des Titelhelden präsentiert und zeigt, wie dieser sich vollständig umhüllt von einem faltenreichen Umhang, auf einem Grund aus Steinen oder Wolken, vom Betrachter entfernt. Die 26  |  Vgl. auch Blakes Anmerkungen zu Berkeley’s Siris: »Imagination or the Human Eternal Body in Every Man« (Blake 2001: 663); »All Forms are Perfect in the Poets Mind. but these are not Abstracted nor Compounded from Nature but are from Imagination« (Blake 2001: 648); ähnlich auch in All Religions: »the body or outward form of Man is derived from the Poetic Genius« (Blake 2001: 1). Eaves (1982: 35) schreibt hierzu: »As the imagination in the engraved Laocoon is the ›Eternal Body of Man‹, so the ›Poetic Genius‹ in All Religions are One is the ›true Man‹.« (Blake 2001: 2). 27  |  Zum Begriff der Energy vgl. Paley (1970: 9) und Mellor (1974: 44).

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Arme sind erhoben, die Finger gespreizt [Abb. 4]. Bekanntlich hat Blake für seine Relief-Drucke die Platten zumeist auf beiden Seiten benutzt. Abbildung 4

»Most illuminated plates were etched on both sides. That Blake used both sides of his plates can be inferred from the presence of platemaker’s marks, which were stamped into the verso of the sheets, visible in impressions from Experience, Urizen, Europe, and elsewhere. The versos of the Innocence plates, for example, were used for Experience; the versos of the Marriage plates were used for Urizen; the versos of America were used for Europe. The plates that are recto/verso can be identified by shared measurements.« (Viscomi 1997)

Die Tiefdrucktechnik schließt eine entsprechende Doppelverwendung der Platten aus, da sich die bei Entwurf, Ausführung und Druck entstehenden Kratzspuren auf dem Druck selbst störend abzeichnen würden. Beim Hochdruck der Strichätzung ist dieser Nachteil infolge der höher gelegenen druckenden Teile nicht

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gegeben. Allerdings zeigen sich entsprechende Produktionsspuren dann als feine Weißlinien in den Druckpartien der Reliefdrucke.28 Blatt 28 bietet einen Sonderfall dieser wohl auch aus ökonomischen Gründen eingesetzten Technik. Denn hier hat Blake nicht nur die Rückseite einer Platte von Marriage verwendet, sondern auf dieser war wiederum bereits ein alter Entwurf von The Approach of Doom (1788) ausgeführt. Doom bildet ebenfalls einen Reliefdruck, womöglich eine erste Erprobung der von Blake entwickelten Technik, der eine Tuschezeichnung seines früh verstorbenen Bruders als Vorlage zugrunde gelegen haben könnte. Bei der Herstellung von Marriage hat Blake die für Doom verwendete Platte zunächst geviertelt und darauf die Entwürfe der Seiten 12, 13, 20 und 27 festgehalten. Auf den Rückseiten von Marriage wiederum entstanden die Blätter 5, 14, 16 sowie das vorliegende Blatt 28 von Urizen. Blatt 5 von Urizen entspricht dem unteren rechten Viertel von Doom, das als einziges die Darstellung einer Figurengruppe enthält, die gebannt auf den Eintritt des Jüngsten Gerichts wartet. Die restlichen Abschnitte aus Doom bestehen aus Weißlinien, die wie im Holzschnitt aus den Zwischenräumen zwischen den druckenden Teilen resultieren. Blatt 14 basiert auf dem unteren linken Viertel von Doom, Blatt 16 auf dem oberen rechten Viertel, Blatt 28 auf dem oberen linken Viertel. Nur auf den beiden zuletzt genannten Blättern sind noch deutliche Spuren der früheren Weißlineatur sichtbar. Hieraus also erklären sich die weiterhin sichtbaren Weißlinien in Kontur und Faltenwurf der Urizen-Figur auf Blatt 28. Sie sind sichtbar, weil sie nicht vollständig von der Matrize entfernt wurden29: »Ergebnis dieser Verknüpfung und wechselseitigen Durchdringung von Liniengebilden unterschiedlicher Machart ist es […], dass ein Konturstrich als schwarz druckender Steg ansetzt und dann unmerklich in eine Weißlinie zwischen zwei Stegen oder Plateaus des Plattenreliefs überführt wird, die Positiv- also in die Negativform umschlägt.« (Dörrbecker 1992: 336)

28 | »It is important to note that Blake did not erase the intaglio line system but simply drew over it, using it as a patterned ground, knowing that the white lines of the previous design would not interfere with the bold relief outline and that alterations could be made if necessary when coloring the impression. And it is equally important to note that he did erase the incised lines in the area he used for text, a decision probably more practical than aesthetic, since the text was written with a pen, which requires a smoother ground than the brush used for the illustration. Removing the underlying line system makes it easier to write with a pen and easier for the small letters to be read. Blake did not try to erase the entire design, but only those areas required by his new page design. The erasure was presumably done by burnishing the incised lines and then possibly hammering up that area from the back (a technique called repousage) – assuming its verso was not to be used« (Viscomi 1997). 29  |  Informationen hierzu verdanke ich den freundlichen brieflichen Hinweisen von Joseph Viscomi und Daniel De Simone.

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Das von Dörrbecker für America Beobachtete entfaltet seine Wirkung auch auf dem vorliegenden Blatt des Urizen. Infolge dieser Darstellungstechnik nämlich tritt die singulär gestaltete Struktur der Linien in ein deutliches Wechselspiel mit den Weißlinien, die immer wieder selbst in den Vordergrund treten und dem Betrachter so eine endgültige Illusionsbildung der strukturierten Gestalt des Urizen unmöglich machen. Dabei erklären sich die schraffierten Konturlinien von Urizens Faltenwurf womöglich auch als ironisches Zitat der Darstellungstechnik der traditionellen Reproduktionsgraphik. Blake überbietet die illusionsstiftende Funktion der traditionellen Darstellungstechnik, indem er in ironischer Weise deren medientechnische Wahrnehmungsbedingungen exponiert. Hieraus resultiert ein Darstellungseffekt, der »wie das Negativ der aus der kommerziellen Reproduktionsgraphik geläufigen Musterungen erscheint«, aber nicht zur »Kenntlichmachung der Schichtung bildparalleler Tiefenpläne«, sondern »lediglich zur Kennzeichnung verschiedener Texturen« (Dörrbecker 1992: 332). Dies hat zur Folge, dass sich Urizen dem Betrachter nicht nur auf der Ebene des Dargestellten, durch seinen Abtritt, sondern ebenso auf der Ebene der Darstellung nachdrücklich entzieht. Denn auf der Ebene der Darstellung ist dadurch verhindert, dass sich die druckgraphisch fixierten Einzelmomente der Inskription restlos ins Kontinuum einer im Akt der Rezeption jeweils erzielten Simultangestalt überführen ließen. Dadurch wird die Gestaltwahrnehmung der Figur zum flüchtigen Effekt in einem dynamischen Gefüge aus »energetischen Materialitäten« (Deleuze/Guattari 1997: 508), sie eröffnet einen Spielraum, in welchem technisches Medium und symbolische Zeichen beständig neue Anschauungsformen bilden, konfigurieren, austauschen und defigurieren. Im Namen einer ›Imagination des ewigen Körpers‹ wird noch der Leib der politischen Schlüsselfigur des Urizen als ästhetischer Kristallisationskeim für mögliche neue Strukturbildungen begriffen: ein aus einem transzendenten Möglichkeitsfeld je neu zu aktualisierendes Fragment, das über seine einmalige Aktualisierung im Rahmen der Illusionsbildung hinausgehend einen energetischen Überschuss erzeugt, der beständig zu neuer Aktualisierung drängt, um neue Formen und Strukturen zu generieren und bestehende aufzulösen (vgl. medientheoretisch perspektiviert Doetsch 2004: 47f.). Ist der Körper von Blakes erstem Gesetzgeber schon auf der Ebene des Dargestellten nicht eindeutig im transzendenten oder irdischen Grund von Wolken oder Steinen zu bannen, so changiert er auch auf der Ebene der Darstellung zwischen dem transzendenten Möglichkeitpotenzial einer unterschiedslosen Ewigkeit und den innerweltlichperzeptiven Grenzen je neuer Formenfixierungen.30 Auf dem achten Blatt des 30  |  Anne K. Mellor spricht von einem grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen Blakes »poetic attacks upon the limitations of a closed intellectual or social systems« (Mellor 1974: 64) einerseits und den bildkompositorischen Darstellungsprinzipien der »rigid symmetry, limited configurations, and strictly tectonic compositions« (Mellor 1974: 93) andererseits. Daraus ergibt sich Mellor zufolge ein zentrales Formproblem: »How can Energy,

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Book of Urizen ist das Resultat jenes Schreibakts zu sehen, den das Titelblatt in Szene setzt [Abb. 5]: »[the Eternals] saw his pale visage/Emerge from the darkness; his hand/[…] unclasping/The Book of brass« (Blake 2001: 72). Abbildung 5

Gewöhnlich wird die hier gezeigte Doppelseite aus Urizens Gesetzesschrift, ihr amorphes Schriftbild und das darin vorherrschende Formenchaos als Veranschaulichung des Verlusts der von ihm instituierten Herrschaftsordnung interpretiert. Das auf der Titelseite gezeigte Buch, aus dem Urizen mit geschlossenen which is potentially infinite and divine be preserved within a bounded form or an intellectual system without being perverted into a repressive will-to-power?« (Mellor 1974: 100; zu den von Mellor verwendeten Beschreibungskategorien vgl. Wölfflin [1991, insb.: 27-29]). Wie die vorliegenden Analysen gezeigt haben, gelangt Blake jedoch nicht erst in seinen späteren Werken (nach Mellor besonders: Vala, or The Four Zoas und Jerusalem) zu einer »reconciliation of form and infinity, of reason and Energy« (Mellor 1974: 101), sondern bereits in jenem Werk, das nach Mellor auf exemplarische Weise das »negative concept of Energy« im Sinne eines »agent of repressive jealousy« verkörpert (Mellor 1974: 87).

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Augen abzuschreiben scheint, mag, etwa infolge der Ähnlichkeit der darin enthaltenen Schriftzeichen mit dem Wurzelwerk der umgebenden Bäume und Pflanzen, die natürliche Seinsordnung und das ursprüngliche Gesetz Gottes repräsentieren. Das auf dem achten Blatt gezeigte Buch wäre dann als ausgestelltes Scheitern daran zu lesen, die verborgene Naturordnung dieses Buches und das darin verborgene göttliche Gesetz zu reproduzieren, das auf der Titelseite noch zu Urizens Füßen liegt. Die Bildunterschrift zur entsprechenden Darstellung in Blakes Large Book of Designs lautet schlicht »The Book of My Remembrance«: »Is its ›secret‹«, so Erdman, »that memory cannot decipher nature’s hierglyphs shown sometimes as riot of colors (D) or muddy shapes (F) – as, in effect, chaos?« (Erdman 1992: 187). Tatsächlich ist Urizens Gesetzesschrift das Resultat einer Reproduktions- und Kopiertätigkeit, dennoch erlauben es nicht nur seine auf dem Titelblatt noch geschlossenen Augen, ihn gleichermaßen im Paradigma einer poetry of vision zu situieren, deren Hervorbringungen sich nicht auf den defizitären Geltungsbereich einer lediglich reproduzierenden Erinnerungskraft beschränken lassen. Die Freiheitsgrade von Urizen zwischen einer poetry of vision und der im Erinnerungsvermögen verankerten Schreibpraxis einer poetry of memory zeigen sich nun in genau dem Maße, wie er sowohl an der Replikation der hieroglyphischen Symbolordnung des Empirisch-Naturalen als auch an der Aktualisierung der darin verborgenen transzendenten Referenzordnung eines göttlichen Gesetzes versagt – denn: »Fraglos gibt es Gesetze des Naturrechts, aber diese prächtige, verderbte Vernunft hat alles verdorben.« (Pascal 1963: 148) Und: »Die Eins, dem Unendlichen hinzugefügt, vermehrt es um nichts, nicht mehr als ein Fuß einen unendlichen Maßstab; das Endliche vernichtet sich in Gegenwart des Unendlichen, es wird ein reines Nichts. So unser Geist vor Gott, so unsere Gerechtigkeit vor der göttlichen Gerechtigkeit.« (Pascal 1963: 120) Berücksichtigt man den durch Urizens Schreibakt so nachdrücklich hergestellten Bezug zur fiktiven Schreibszene von Blakes Relief Printing, dann entpuppt sich die Figur des schreibenden Urizen in dieser Schwellenposition zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen den Geltungsansprüchen einer poetry of vision und einer poetry of memory, als nachgerade repräsentative Mittlerfigur der Blake’schen Schreibkunst. Die amorphen Chiffren von Urizens »Book/Of eternal brass« (Blake 2001: 72) reflektieren in nuce das souveräne Strukturprinzip von Blakes illuminierten Drucken, ihre überdeterminierte Unbestimmtheit. Jeder Versuch, die gezeigten Formbildungen von Urizens Gesetzesschrift zu reproduzieren und zu dechiffrieren, muss versagen; und doch mobilisieren die darin festgehaltenen Inskriptionen in ihrem ausgestellten Scheitern einen imaginären Spielraum, in dem neue Anschauungsformen entstehen, die einen energetischen Überschuss erzeugen, der beständig zu neuer Aktualisierung drängt. So wird die Gesetzesschrift des Urizen im Rahmen von Blakes Schreibszene umgeschrieben zur ästhetisch souveränen Erfahrung eines prinzipiellen Auch-anders-möglich-seins. Wie gesehen, bildet Urizens Gesetz des »One King, one God, one Law« nicht einfach das Gegenmodell zur Zone des Nichtrechtlichen und der hierfür kennzeichnenden

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Tödlichkeit des menschlichen Lebens, sondern Blakes prophetischer Rekonstruktion zufolge ist dieser Geltungsbereich von vornherein als Ausnahme und Schwelle markiert, die gleichursprünglich mit jeder Form von Gesetzgebung entstehen, die sich auf keinen transzendenten Bezugshorizont zu beziehen vermag. Das aus Urizens Abspaltung vom differenzlosen Raum der Ewigkeit resultierende Gesetz instituiert die nackte Existenz eines tödlichen Lebens und bannt sie zugleich. So wie Urizens Gesetz die Differenzlosigkeit der Ewigkeit und das ›heilige‹ Leben »von sich abtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschließenden Ausschließung die Beziehung zu ih[nen] aufrechterhält« (Agamben 2002: 18), so bleibt auch das sichtbare Resultat seiner Gesetzesschrift in konstitutiver Beziehung zu deren potenzieller Unlesbarkeit und Unsichtbarkeit markiert. Ihre spezifisch ästhetische Souveränität erhält die durch Urizen repräsentierte Schreibszene damit auf der Ebene ihrer druckgraphisch markierten Materialität, denn hier ist ihre spezifische Macht in einer dem Politischen äquivalenten Indifferenzzone verankert, jenem virtuellen Bereich zwischen Aussage und Äußerung, der sich auch der Geltungsanspruch der politischen Diskurssysteme verdankt. Unter den medientechnischen Bedingungen des Relief Printing fungiert Urizens Gesetzesschrift somit als Index eines monumentalen Wechselverhältnisses: Sie macht erfahrbar, dass jedes Gesetz darauf basiert, dass zu einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort ein bestimmtes Verfahren bzw. eine bestimmte Technik der Replikation angewendet wurde – und: dass dessen Geltungsanspruch auf einen Typ der Signifikation verweist, aus dem es abgeleitet wurde und aus dem es immer wieder abgeleitet werden kann (vgl. Wirth 2002: 50). In ihrer überdeterminierten Unbestimmtheit markiert Urizens Gesetzesschrift so den inneren Zusammenhang zwischen der performativen Dimension von Blakes Prophezeiungen und den spezifischen Strukturregeln ihrer Replikation. Erstere betreffen die iterative Struktur der Signifikation, der zufolge sich politische Sprechakte auf kein geltendes Muster einer ›rechtmäßigen‹ Aussage berufen können, insofern sie dieses allererst instituieren und genau deswegen das Nichtrechtliche (zum Beispiel die schiere Gewalt als Naturzustand) als das voraussetzen, womit sie in einem auf Dauer gestellten Ausnahmezustand potenziell verbunden bleiben. Aber auch auf der Ebene ihrer ›wiederholbaren Materialität‹ verkörpert die von Urizen paradigmatisch repräsentierte Blake’sche Schreibszene eine Ausgangsparadoxie der politischen Legitimationsstruktur. Sie besetzt die Übergangszone, in der sich die Einzigartigkeit der Äußerung als gleichursprünglich mit der diskursiven Praxis der Wiederholung von Aussage und deren normativen Geltungsansprüchen entpuppt: als in ihrer materiellen Erscheinung stets singulärer Akt, der sich prinzipiell jeder vergegenständlichenden Erschließung entzieht – und gerade deswegen zu regulativen Praktiken einer diskursiven Wiederholung anreizt, die (wie gesehen) nicht zuletzt auch den skripturalen Selbstausdruck des menschlichen Körpers als Ausprägung eines in seiner Endlichkeit politisch verfügbaren Lebens zu instrumentalisieren vermögen. Statt die Ereignishaftigkeit der Äußerung zu sistieren, um sie auf die Identität von stabilen Aussageformen

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und normalisierenden Äußerungspraktiken zu verpflichten, hält die durch Urizen demonstrierte Schreibszene den Zwischenzustand von bloßer Potenzialität und realisiertem Akt aufrecht, um so eine Erfahrung zu eröffnen, die deutlich macht, dass die »Verhaltensweisen und Formen menschlichen Lebens […] niemals von einer spezifischen biologischen Anlage vorgeschrieben oder durch irgendeine Notwendigkeit festgesetzt [sind], sondern […] wie sehr sie auch gewohnt, wiederholt und gesellschaftlich verpflichtend sind, doch immer den Charakter einer Möglichkeit [bewahren]« (Agamben 2001a: 13f.). In Urizen gelangt Blake also ausgehend von der Auseinandersetzung mit politischen Repräsentationsformen auf der Ebene ihrer inhaltlichen und performativen Struktur zu einem medientechnischen Modell von Gestisch-Skripturalem, das sich auf der Ebene der Performanz seines Schreibens ansiedelt. Während im performativen Rahmen von Blakes Dichtung die politische Ordnung des Sagbaren, die für die politischen Legitimationsdiskurse konstitutive Differenzierung zwischen Recht und Willkür, zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen göttlichem und weltlichem, zwischen transzendentalem und empirischem Geltungsbereich im Vordergrund stehen, gelangt Blake hier zu einer Form der poetischen ›Gestik‹, die sich auf die Aisthesis des Politischen zu beziehen vermag: auf jene »Aufteilung des Sinnlichen«, durch welche die Körper der politischen Subjekte in einer sozialen Gemeinschaft auf historisch bestimmte Weise gegeben sind (Rancière 2002: 38). So gelingt es Blake, Stellung zu beziehen gegen die Tatsache, dass die Ordnung des Lebens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert »einer Gewalt preisgegeben ist, die als anonyme und alltägliche umso wirksamer ist« (Agamben 2001b: 108). Blakes ›Schreibszene‹ modelliert eine Lebens-Form, »in der es niemals möglich ist, etwas wie ein bloßes Leben zu isolieren« (Agamben 2001a: 18) und »in dem die einzelnen Weisen, Akte und Verläufe […] niemals einfach Tatsachen sind, sondern immer und vor allem Lebensmöglichkeiten, immer und vor allem Potenz« (Agamben 2001a: 13f.).

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A bbildungen Abbildung 1: Im Zwischenreich, The First Book of Urizen, copy A, 1794 (Yale Center for British Art), pl. 2 (16,8 x 10,3 cm). Abbildung 2: Schreibszene, The First Book of Urizen, copy A, 1794 (Yale Center for British Art), pl. 20 (14,8 x 10,9 cm). Abbildung 3: Gesetzgeber, The First Book of Urizen, copy A, 1794 (Yale Center for British Art), pl. 1 (14.9 x 10,3 cm). Abbildung 4: Medienreflexion, The First Book of Urizen, copy A, 1794 (Yale Center for British Art), pl. 28 (15,5 x 10,4 cm). Abbildung 5: Urizen der Schreiber, The First Book of Urizen, copy A, 1794 (Yale Center for British Art), pl. 8 (14,9 x 10,5 cm).

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Lyrik oder Gymnastik? Die Schreibszene der Pisan Cantos von Ezra Pound Marie Schmidt

Folgende autopoetische Erklärung des inhaftierten Dichters Ezra Pound ist an die Zensurinstanz des Disciplinary Training Center (DTC) der US-Armee gerichtet.1 Sie enthält implizit die Bedenken, auf die sie reagiert: »The Cantos contain nothing in the nature of cypher or intended obscurity. […] The form of the poem and main progress is conditioned by its own inner shape, but the life of the D.T.C. passing OUTSIDE the scheme cannot but impinge, or break into the main flow« (Pound 1962: 17). Einen Gutteil ihres Charismas gewinnen die Pisan Cantos seit ihrer Rezeptionsgeschichte aus dem Wissen um ihre Entstehung in einem provisorisch eingerichteten Lager nahe dem Ort Metato nördlich von Pisa und der den Autor dort umgebende Szenerie militärischen Drills. Bevor Pound in dem den Offizieren zugeteilten Bereich des Lagers ein eigenes Zelt bekam, wo er die Pisan Cantos entwarf, war er knapp drei Wochen in einer Wind, Wetter, ständiger Beleuchtung und Überwachung ausgesetzten Todeszelle isoliert gewesen. Um aber die Frage nach der Auswirkung des DTC auf die dort entstandenen Cantos nicht, wie häufig geschehen, den Zwecken des Disziplinierungslagers entsprechend zu stellen und also zu überlegen, ob oder ob nicht Anzeichen von Reue und Buß1  |  Der amerikanische Schriftsteller Pound war wegen einer Serie von Reden, die er während des Zweiten Weltkriegs im italienischen Rundfunk gehalten hatte, in seiner Abwesenheit in Washington des Landesverrats angeklagt worden. Die Radioansprachen waren für Zuhörer, die mit seiner idiosynkratischen Diktion nicht vertraut waren, kaum verständlich ob ihres eher kryptischen Inhalts, dessen Anti-Semitismus und Parteinahme für Mussolinis Faschismus aber nichtsdestoweniger offenkundig waren. Pound war 1945, zwischen seiner Verhaftung durch italienische Partisanen in seinem Haus in Rapallo und seiner Überführung in die Vereinigten Staaten, sechs Monate lang im DTC inhaftiert, einem Lager, das der Verwahrung und Disziplinierung delinquenter Angehöriger der amerikanischen Armee diente. Pound war der einzige zivile Insasse. In der Haft arbeitete er an einer Übertragung klassischer Texte des Konfuzianismus ins Englische. Und er schrieb die dem epischen Langgedicht The Cantos angehörenden Cantos 74 bis 84, die unter dem Titel The Pisan Cantos veröffentlicht wurden.

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fertigkeit des Autors darin zu entdecken seien, soll hier gefragt werden, worin genau diese Auswirkung auf den Text als solchen besteht. Das heißt, besonders jene Sinnbildungen des Textes zu suchen, die auf die besondere Situativität des Handlungszusammenhangs verweisen, als welcher die Pisan Cantos begriffen werden können. Pounds ambivalenter Formulierung »cannot but impinge« (Pound 1962: 17) sei zu diesem Behufe die methodische Überlegung beigegeben, dass die technischen, institutionellen und politischen Besonderheiten der Schreib-Umgebung Disziplinierungslager hier gewiss »keine selbstevidente Rahmung der Szene« (Campe 1972: 760) des Schreibens darstellen, sondern dass die Auswirkung des Lagers in ein »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste« (Campe 1972: 760) eingreift, das mit Rüdiger Campe als ›Schreibszene‹ des Textes bezeichnet werden kann. Das »Unternehmen der Literatur« (Campe 1972: 760) selbst, so Campe, das heißt das wesentliche Moment ästhetischer Bedeutungsbildung, bestehe in diesem »problematische[n] Ensemble« (Campe 1972: 760). Gerade weil Pounds poetologische Pragmatik paradigmatischerweise mit dem Anteil der medialen, gestischen, sprachlichen und symbolischen Verfasstheit an der ästhetischen Produktion rechnet, kann man an den Pisan Cantos beobachten, wie die Auswirkung des Kontextes auf ihre Schreibszene eine ästhetische Erfahrung zeigt. Diese kann wiederum mit Hilfe jener Konstellation aufgeschlüsselt werden, die der Begriff des ›Ausnahmezustandes‹ bezeichnet. In Giorgio Agambens Theoretisierung der Ausnahme als der ›ursprünglichen‹ politischen Beziehung, verweist dieser Begriff auf eine Grenzfigur, durch die das Verhältnis normierter, kodifizierter, differenzierter Ordnungen zum Bereich des Außer- oder Nicht-Normierten, Nicht-Kodifizierten, Kontinuierlichen gezählt wird. Diese paradoxe Beziehung wird durch die Figur der ›einschließenden Ausschließung‹ strukturiert, die ein topologisches Verhältnis eines Innen zu einem Außen aufruft. Agamben sieht diese Figur in der topographisch verortbaren Marke des Lagers realisiert. Darin zeige sich paradigmatisch, wie eine souveräne, juridisch-politische Ordnung installierende, Leben qualifizierende Macht sich auf »nacktes« (nicht qualifiziertes) Leben beziehe, indem es »in der einschließenden Ausschließung der souveränen Ausnahme als Bezugsgröße dient« (Agamben 2002: 95). Nach Michel Foucault richten sich politische Techniken jenseits einer »biologischen Modernitätsschwelle«, die wesentlich durch das Anwachsen naturwissenschaftlichen Wissens bedingt ist, zentral auf diejenigen »Phänomene, die dem Leben der menschlichen Gattung eigen sind« (Foucault 1977: 137). In der Konsequenz dessen falle, so Agamben, das »nackte Leben«, jene Figur, die selbst erst durch die paradoxe Grenzbeziehung von Normiertem und Außer-Normiertem bestimmt wird, »immer mehr mit dem politischen Raum zusammen« (Agamben 2002:19). Die so umrissene Beziehung der ›Souveränität‹ zum ›Leben‹ ist in analoger Weise in Ezra Pounds Poetologie auszumachen. Denn diese insinuiert, wie zu zeigen sein wird, die Pragmatik des Schreibens selbst als souveräne Geste der Be-Zeichnung, die auf die Einrichtung einer politischen Ordnung verweist. Ihre Souveränität gründet in der Entsprechung der körperlichen Gesten

Lyrik oder Gymnastik? Die Schreibszene der Pisan Cantos von Ezra Pound

des Schreibens mit den Bewegungen der Natur. In der naturgemäßen Disziplinierung des Bezeichnenden als eines Schreibenden liegt die ursprüngliche Beziehung zum Körper, die die Politik dieser Ästhetik ausmacht. Eine Konsequenz der Auswirkung der Entstehung der Pisan Cantos im Disziplinierungslager besteht also darin, dass denkbar wird, die biopolitische Logik des souveränen Schreibens in Pounds Poetik parallel zu der von Agamben formulierten biopolitischen Logik der souveränen Ausnahme zu lesen. Am Horizont dieser Lektüre taucht eine eigentümliche Komplizenschaft dieses Schreibens mit der Ausnahmesituation auf, deren theoretische Entsprechung in der Bemerkung Agambens zu suchen ist: »An den beiden äußersten Grenzen der Ordnung stellen der Souverän und der homo sacer [die Figuration des nackten Lebens im ›Bann‹ der souveränen Ausnahme] zwei symmetrische Figuren dar« (Agamben 2002: 94). Im Lichte dieser Komplizenschaft oder Symmetrie sind bereits die zentralen Zeilen auf der ersten Seite des ersten der Pisan Cantos »rain also is of the process./ What you depart from is not the way« (Pound 2003: 3, V. 13f.)2 als eine Verortung in der Ausnahmebeziehung nachvollziehbar.3 Mit Hilfe der topologischen Figur der ›einschließenden Ausschließung‹ gelesen, verweisen die Begriffe process und the way, die konfuzianische Konzepte des Laufs des Lebens und der Natur aufnehmen, hier auf einen Bereich der Kontinuität. Dabei bildet die Formel What you depart from die Grenzfigur zu einem anderen Bereich, zu dem eine durch ein Personalpronomen in zweiter Person Singular bezeichnete Figur in einer Beziehung der Abweichung steht. Es gibt also einen Bereich des ›Innen‹, von dem abgewichen werden kann, und einen durch die negative Formulierung is not davon unterschiedenen Bereich des ›Außen‹4. Diese anfängliche Grenzfigur strukturiert bereits eine Topologie in den Pisan Cantos, innerhalb derer dem souveränen Akt eines naturhaften Schreibens gerade der Bereich des durch Abweichung unterschiedenen ›Außen‹ zu entsprechen scheint, der hier wiederum mit dem den Elementen ausgesetzten Bereich des Banns der souveränen Ausnahme übereinstimmt. 2 | Zitate aus dem publizierten Text der Pisan Cantos erfolgen aus der jüngsten kommentierten Ausgabe (Pound 2003) unter der Kennzeichnung »PC« mit Angabe der Nummer des Canto und der Zeile. 3 | Mein Argument besteht also zunächst nicht darin, dass sich der Autor Pound im historischen Lager des Disciplinary Training Center in einem Ausnahmezustand befunden habe, sondern dass die Topologie, die die Pisan Cantos einrichten oder kartographieren und in der sie die eigene Schreibszene verorten, von einer Struktur ist, die mit der genannten Anordnung der Ausnahmebeziehung vergleichbar ist. 4 | Dem in Yale aufbewahrten Manuskript (Ezra Pound, The Pisan Canto Manuscripts, Yale Collection of American Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University) ist die Variante What is left is not the way zu entnehmen. Die genannte Formulierung ersetzt hier »zurücklassen« durch »abweichen von«. Vgl. die Beschreibung der Manuskriptseite weiter unten.

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D as D isziplinierungsl ager als S chreibszene Besonders deutlich wird diese Situierung im Manuskript der Pisan Cantos. Dort zeigt sich das Verhältnis der topologischen Figur der genannten Zeilen zum Konzept der souveränen Be-Zeichnung sehr klar durch die räumliche Beziehung dieser beiden Komplexe auf einer Seite. Durch die Revision des Canto in einem späteren Typoskript und in der publizierten Fassung geht diese räumliche Nähe verloren. Am Beispiel dieses Abschnitts zeigt sich zudem, dass die Auswirkung des Disziplinierungslagers auf die Pisan Cantos insbesondere durch den Vergleich der Textzeugen ihrer Schreibszene nachvollziehbar ist, also durch den Vergleich der im DTC entstandenen Manuskripte und Typoskripte sowie des publizierten Texts. Das »nicht-stabile Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste« des Schreibens als »Szene« (Campe 1972: 760) der Bedeutungsproduktion wird gerade durch den diachronen Verweisungszusammenhang seiner verschiedenen synchronen Fassungen und deren je unterschiedliche materielle Eigenschaften beobachtbar. Indem man die Spuren verfolgt, welche die Materialität seiner verschiedenen Manifestationen am Text hinterlassen, lässt sich ausmachen, wie die Pisan Cantos mit dieser ihrer Schreibszene umgehen und an ihrer Inszenierung arbeiten. Dabei stellt sich zugleich heraus, dass eine bestimmte klischeehafte Vorstellung von der Schreibsituation in die Irre führt. Diese beriefe sich auf »value judgments about poetic immediacy that Pound subtly reinforced by suggesting he had composed on the spot poems that themselves had dramatized a spontaneous epiphany of terror, natural beauty, and compassion« (Bush 1996: 169). Der signifikanteste Bruch in der Entstehung der Pisan Cantos, der dem entgegensteht, wurde durch Ronald Bushs Untersuchung der Manuskripte erkannt und besteht in der Nachträglichkeit der Eröffnungssequenz des Canto 74, die zusammen mit Canto 84 als eine Art Rahmung zu den Pisan Cantos kam, als Pound die Sequenz bereits für abgeschlossen hielt.5

S chreibzeug , Te x t zeugen Die naheliegendste Frage hinsichtlich der Auswirkung des DTC auf den materiellen Code, sprich jene »variables at the most material (and apparently least ›sig5 | Bush bringt diese Ergänzung in Zusammenhang mit einem Brief, in dem Pounds Frau Dorothy vom Tod des Dichters J.P. Angold berichtete: »[…] as Pound wrote back on 8 October, he was heartbroken. Angold, he said, was the ›best granite‹ of his poetic generation. On 8 October Pound began an unforeseen Canto 84 with a cry of grief. […] Then sometime after the 17th he inserted the keynote of the third distinct stage of The Pisan Cantos text – a fitting counterpart to the Canto 84 he had just composed. Hard as it may be to believe, the famous opening elegy to Mussolini, which seems to give The Pisan Cantos so much of their characteristic tone, was an afterthought.« (Bush 1996: 198f.).

Lyrik oder Gymnastik? Die Schreibszene der Pisan Cantos von Ezra Pound

nifying‹ or significant) levels of the text: in the case of scripted text, the physical form of books and manuscripts (paper, ink, typefaces, layout)« (McGann 1991:12), ist aber zunächst die nach dem schieren Vorhandensein von Schreibzeug in der Haft. Das Motiv, durch das dieser Zusammenhang in den Pisan Cantos selbst auftritt, ist das der »benignity« des afroamerikanischen Soldaten »Mr. Edwards« (Pound 2003: 12, V. 317), der dem Schreiber aus einer Kiste einen Tisch baut: »this table ex packing box […] »It’ll get you offn th’ groun« (Pound 2003: 96, V. 67, und 97, V. 70). Gerade in der Erwähnung der Schreibunterlage überkreuzen sich hier, wie Richard Sieburth bemerkt, instrumentelle, sprachliche und moralische Motive: »The ground Mr Edwards supplies is at once ethical (the exemplification of charity), linguistic (the black vernacular), and material (the very table Pound writes on)« (Sieburth 2003: XXII). Zur Verfügung hatte Pound darüber hinaus zunächst Notizblöcke und Bleistift. Der Entwurf des Canto 74 beginnt in einem Notizbuch, welches um neunzig Grad gedreht ist, so dass die Linierung senkrecht zu den Zeilen der Schrift steht, »like so many prison bars« (Sieburth 2003: XXIII). Die Seiten im Querformat sind zweigeteilt, das Gedicht ist in je ein oder zwei Kolumnen notiert, deren Zeilen sehr viel kürzer sind, als die der veröffentlichten Fassung der Pisan Cantos. Die sehr unterschiedliche Artikuliertheit der Schriftzeichen und die vielfach aus der Horizontalen rutschenden Zeilenverläufe lassen auf die Geschwindigkeit der Schreibbewegung oder den »shape-shifting surface« (Sieburth 2003: XXIII) der Unterlage schließen. Die unterschiedliche Größe der Schrift und damit auch die Menge der Wörter je Zeile und Seite hängen allem Anschein nach mit der variierenden Strichbreite, das heißt der Abnutzung des Stifts zusammen. Als Pound später Zugang zu einer Schreibmaschine im Sanitätszelt des Lagers erhielt, wo er die Entwürfe abtippte, überarbeitete er den handschriftlichen Text. Sieburth zitiert den Bericht eines Krankenpflegers über das »constant clanging and banging« der von Pounds Zeigefinger bearbeiteten Schreibmaschine, begleitet von heftigem Fluchen über Tippfehler und einem hohem Summton, den Pound zum Klingeln der Glocke von sich gegeben habe, die das Ende der Zeile ankündigt (Sieburth 2003: XXVI). Im Zuge des Abtippens erfährt der Text Kürzungen und besonders die durch Zeilensprünge bedingte Prosodie des Gedichts wird stark überarbeitet. Die markierte Setzung der Wörter und Satzzeichen, »each vocable, each punctuation mark clearly zoned by two thumbs (or musical rests) on the space bar« (Sieburth 2003: XXVI), bewirkt eine graphische Rhythmisierung der Textseite. Abgesehen von den variierenden Merkmalen der Textoberfläche, erscheint der linguistische Code des Manuskripts im Vergleich zu späteren Fassungen verhältnismäßig geschlossen, was die irrige Idee von der Spontaneität der Komposition unterstützt hat. Folgende Erklärungen für diese Konsistenz sind in Betracht zu ziehen: Ronald Bush weist nach, dass die Pisan Cantos Passagen aus den bereits in den Monaten vor der Haft auf Italienisch verfassten Cantos 72 und 73 sowie aus Vorarbeiten zu zwei weiteren Cantos aufnehmen (vgl. Bush 1996). Zusammen mit Bildern des »life of the D.T.C. passing OUTSIDE the scheme« (Pound 1962: 17),

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Zitaten aus den Übertragungen konfuzianischer Texte, die er gleichzeitig unternahm, und Anklängen an zum Großteil aus dem Gedächtnis wiedergegebene Intertexte müsste Pound demnach dieses Material sozusagen fertig im Kopf gehabt und in größter Eile niedergeschrieben haben, da ihn noch die Panik vor dem Gedächtnisverlust umtrieb, den er in der Isolationshaft in der Observation Cell des Lagers zu erleiden geglaubt hatte. Der den Umständen geschuldete und für Pounds Arbeitsweise ungewöhnliche Mangel an Lektüre und Quellen beschränke Pound, so argumentiert auch Richard Sieburth, im Wesentlichen auf das textuelle Kapital seiner Erinnerung (Sieburth 2003: XXIV). Neben einer Bibel und einem Messbuch, einzelnen Ausgaben des Time-Magazins und einer Ausgabe des Pocket Book of Verse, die er im DTC gefunden hatte, gehören zu dem Material, das Pound zur Verfügung stand, eine von James Legge herausgegebene zweisprachige Ausgabe klassischer Texte des Konfuzianismus und ein chinesisch-englisches Lexikon, welche er bei seiner Verhaftung bei sich behalten konnte.

K onfuzianische K onzep te in den P isaner Te x ten Parallel zur Arbeit an den Pisan Cantos beschäftigte sich Pound mit der von Legge ausgehenden, aber deutlich abweichenden Übertragung der chinesischen Texte ins Englische. Diese bedient sich einer etymographischen Interpretation der chinesischen Schrift. Pound versuchte dabei, Ideogramme oder Syntagmen, die für seine poetologischen Strategien besonders wichtige konfuzianische Konzepte zu enthalten schienen, von Ambiguitäten zu befreien, die sich aus ihrem Kontext oder ihrer Konnotation ergeben mochten. So unterwarf er eine Reihe von Zeichen einer einheitlichen Leseweise, so dass sich seine Übertragung von üblichen Deutungen der chinesischen Texte wesentlich unterscheidet (vgl. Lan 2010: 328). Eine der markantesten Eigenschaften der Manuskripte der Pisan Cantos ist die Verschränkung des Gedichts mit Passagen besonders aus dem von Pound als The Great Digest übersetzten Ta Hio, die darin vorzufinden ist. Ronald Bush hat darüber hinaus gezeigt, dass noch die Typoskripte wesentlich mehr chinesische Ideogramme enthalten als jene, die schließlich im veröffentlichten Text übrig geblieben sind. Institutionelle, technische und finanzielle Schwierigkeiten der Publikation ließen sie verloren gehen (vgl. Bush 2003). In chinesischer Schrift dem Text beigegeben, verdeutlichen diese den konfuzianischen Texten entnommenen Zeichen, wo und wie die Konzepte, die sie nach Pounds Interpretation bezeichnen, im Zusammenhang mit den Pisan Cantos virulent werden. In den Manuskripten werden dabei einzelne Zeichen und Passagen häufig wiederholt. Die ersten Seiten des ersten Notizblocks sind von Notizen in chinesischer Schrift bedeckt. Die Seite, auf der schließlich die ersten Zeilen von Canto 74 notiert sind, nehmen ebenfalls großflächig chinesische Zeichen ein. Da, wie sich gezeigt hat, die Zeilen 1 bis 11 dieses Cantos nachträglich hinzugekommen sind, handelt es sich bei den ersten Zeilen um die Passage »The suave eyes, quiet, not scornful,/

Lyrik oder Gymnastik? Die Schreibszene der Pisan Cantos von Ezra Pound

rain also is of the process./What you depart from is not the way« (Pound 2003: 3, V. 12-14), welche die zuvor diskutierte topologische Figur enthält. Die erste Zeile umbricht in der Handschrift in zwei kürzere Zeilen (»The suave eyes/quiet not scornful«). Dem folgt durch horizontale Striche abgetrennt eine ausgestrichene Passage und die darauf folgenden Verse stehen innerhalb der linken Hälfte der zweigeteilten Seite zentral und sind folgendermaßen notiert: »The rain also is of the process you depart from what is left is not the way « (Pound 1945)

Daneben sind am linken Rand der Seite von oben nach unten die Schriftzeichen 言不必信 行不必果 惟義所在 (Pound 1945) skizziert. Legges Übersetzung dieser Stelle der »Works of Mencius« lautet: »[The great man] does not think before-hand of his words that they may be sincere, nor of his actions that they may be resolute; – he simply speaks and does what is right« (Bush 2003: 170). Bushs Untersuchung der Typoskripte der Pisan Cantos ergibt, dass darin diese Passage einem anderen Abschnitt zugeordnet ist: »not words whereto to be faithful/nor deeds that they be resolute/only that bird-hearted equity make timber/and lay hold of the earth« (Pound 2003: 4, V. 56-59). Dabei handelt es sich um Pounds etymographische Übertragung der Passage. Im Manuskript dagegen steht also durch die Anordnung auf der Seite die ambivalente Formulierung »What you depart from is not the way« in direkter Beziehung zu der Beschreibung eines souveränen Handelns, das wesentlich in der Souveränität eines Bezeichnungsaktes selber zu bestehen scheint: »he simply speaks and does what is right«. Dabei wird unterhalb der dort notierten Verse des Canto der untere Teil der linken Seitenhälfte von dem zentralen Ideogramm 果 eingenommen, das für resolute (mannhaft, entschlossen) steht und das neben dem Auftauchen des Zeichens in dem chinesischen Fragment am linken Rand nach rechts und unten fortsetzend wiederholt wird. 義 das Zeichen für »rightousness« (justice, meaning) notiert Pound zunächst in die Komponenten 羊 und 我 zerlegt und daneben noch einmal zusammengefügt. Auch das Ideogramm 所 (ein Partikel, das einen Relativsatz oder ein Passiv einleitet, aber auch für einen Ort stehen kann) wird in leichten graphischen Abweichungen wiederholt. Diese Wiederholungen geben dem Manuskript die charakteristische Anmutung von Schreibübungen. Gerade die Abweichungen zwischen den wiederholten Ausführungen der Zeichen verweisen dabei auf die Qualität der Schreibbewegung, die sie hervorgebracht haben. Diese ›gestische‹ Besonderheit des Manuskripttextes bestimmt im Übrigen eine Art ›auratische‹ Verbindung zu seiner Entstehung in der Haft.

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Marie Schmidt »The aura emerges in part from the material features of the text. The original sites of incarnation thus carry with them an aura placing the work in space and time, and constituting its authenticity as well as its contingency. Removing that aura removes the iconicity of the page, and thus important aspects of a text’s meaning.« (Bornstein 2001:7)

Die Ikonizität der Seiten auch der maschinengeschriebenen und publizierten Fassungen der Pisan Cantos erhält durch die Bearbeitungen der Anordnung des Textes auf der Seite ein Verhältnis zu einer bestimmten Situierung des Geschriebenen in Raum und Zeit aufrecht. So lassen sich die Spuren dieser ›auratischen‹ textuellen Gestik jeweils durch den Vergleich der Varianten des Textes nachvollziehen. Diese werden dabei zu Elementen eines Enactment des Ausnahmezustands, das so gesehen in der Interaktion der diachron und synchron zu lesenden topologischen Beziehungen der Ideogramme und Syntagmen auf den Seiten mit den durch Motive und Metaphern gegebenen topologischen Ordnungen bestehen.

D ie körperliche D isziplin des S chreibens Die Profilierung des Anteils der materiellen und gestischen Praxis des Schreibens an der ästhetischen Bedeutungsproduktion, ergibt sich auch theoretisch6 aus der Poetik Pounds selbst. Deren Strategien sind zwar widersprüchlich und weniger konsistent als einzelne ihrer programmatischen Texte nahelegen mögen. Es lässt sich aber doch ein zentrales Interesse ausmachen, das sich in Pounds poetischen und kritischen Äußerungen akkumuliert: »a process of increasing emphasis on the way the poems stage the dynamic process of making as their central concerns« (Stauder 2010: 29). Eine solche »Herstellung« bezieht sich nach Pounds programmatischem Willen und im Sinne seiner Parole make it new sehr wohl auch auf einen Eingriff in Wahrnehmung und Leben selbst. Allerdings immer, indem über den Umweg der von Pound aus den konfuzianischen Texten adaptierten Idee des right naming, hängt die Möglichkeit einer solchen Produktion von einem Akt der Bezeichnung ab. Wenn seine poetischen Texte also gemäß Stauder »den Prozess einer Herstellung inszenieren«, beziehen sie sich deshalb in einer Art autoreflexiven Wende immer auch auf die eigene Herstellung, auf die Herstellung des 6 | »Das würde bedeuten, daß die notwendige Dezentrierung nicht ein philosophischer oder wissenschaftlicher Akt als solcher sein kann, da es hier darum geht, durch den Zugang zu einem anderen, das gesprochene Wort mit der Schrift verbindenden System, die grundlegenden Kategorien der Sprache und der Grammatik der Episteme zu dislozieren. […] Es ist durchaus einsichtig, daß der Durchbruch von der Seite der Literatur und der Poetik sicherer und tiefdringender war. […] Pounds unabdingbar graphische Poetik brach, zusammen mit der Stephane Mallarmés, zum ersten Mal mit den Grundfesten der abendländischen Tradition. Erst in diesem Kontext wird die Faszination, die das chinesische Ideogramm auf Pound ausübte, in ihrer historischen Reichweite verständlich« (Derrida 1974: 166f.).

Lyrik oder Gymnastik? Die Schreibszene der Pisan Cantos von Ezra Pound

Zeichenzusammenhanges selbst zurück: »The object of poetry is to display the textual condition. Poetry is language that calls attention to itself, that takes its own textual activities as its ground subject« (McGann 1991: 10). Pounds Dichtung macht dabei insbesondere auf die eigene Sprache als geschriebene Sprache aufmerksam. In seiner besonderen Politik des Schreibens wird die Naturalisierung des Schreib-Aktes selbst zur Strategie, die Arbitrarität und Konventionalität des Verhältnisses von Zeichen und Bezeichnetem zu hintergehen und also »the word beyond formulated language« (Pound 1960: 88) als Element der poetischen Rede zugänglich machen zu wollen. Demgegenüber müssten, so ein gewichtiges Argument Pounds, die konventionalisierten Ausdrucksmöglichkeiten, die Syllogismen der Sprache hinter der Positivität der Erkenntnisse der Naturwissenschaften zurückbleiben. Ein an deren akkuratem Denken geschultes Bewusstsein verlange aber nach »analogous complexity and synthesis in expression« (Pound 1996: 111) und nach künstlerischen Formen, die der Pluralität der Erscheinungen ebenso zu entsprechen vermögen, wie den Untersuchungsmethoden der science of matter. Form entspricht in Pounds Ästhetik jenem Element, das je nach Kunstart von unterschiedlicher primärer Qualität sein mag, jedenfalls aber geeignet ist, dem Bewusstsein einen Gegenstand zu präsentieren, den Pound als »an intellectual and emotional complex« (Pound 1954: 4) bezeichnet. Der Kern der künstlerischen Tätigkeit liegt dabei in der direkten Übertragung dieses Gegenstandes in die Wahrnehmung, so dass es genau der mediale Moment selbst zu sein scheint, durch den die künstlerische Form in der Lage ist, die Abstraktheit der konventionalisierten Kommunikation zu hintergehen: »In a poem of this sort one is trying to record the precise instant when a thing outward and objective transforms itself, or darts into a thing inward and subjective« (Pound 1960: 89).7 Im Unterschied zur Rhetorik generiere Kunst geeignete Wahrnehmungsformen selbst (vgl. Pound 1960: 92). Die primäre Form 7  |  Großen Eindruck gemacht hat dieser Aspekt seines Briefwechsels mit Ezra Pound auf den späteren Medientheoretiker Marshall McLuhan. In einem Brief an Pound vom 12. Juni 1951 trifft McLuhan einen technischen Vergleich: »Also I’m interested in such analogies with modern poetry as that provided by the vacuum tube. The latter can tap a huge reservoir of electric energy, picking it up as a very weak impulse. Then it can shape it and amplify it to major intensity. Technique of allusion as you use it (situational analogies) seems comparable to this type of circuit« (McLuhan 1987: 224). In McLuhans Buch Understanding Media, das die bedeutungsgenerative Materialität der Kommunikation auf die Formel »the medium is the message« bringt, ähnelt die Beschreibung der Medialität der Sprache auch in ihrem Vokabular auffällig Pounds Zeichen-Konzept: »Words are a kind of information retrieval that can range over the total environment and experience at high speed. Words are complex systems of metaphors and symbols that translate experience into our uttered or outered senses. They are a technology of explicitness. By means of translation of immediate sense experience into vocal symbols the entire world can be evoked and retrieved at any instant« (McLuhan 1999: 57).

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der Dichtung beschreibt Pound in einer Reihe von Konzepten. Zunächst mit dem des Image, das er später in der Beschreibung des ›Ideogramms‹ verdeutlicht sieht, die er dem Essay The Chinese Written Character As A Medium for Poetry des amerikanischen Orientalisten Ernest Fenollosa entnimmt. Diese Form besteht in der super-position, der Schichtung konkreter Details, durch die sich in der Wahrnehmung ein komplexes Abstraktum zeige, etwa in einem von Pound häufig zitierten Beispiel der abstrakte Begriff rot aus den Bildern Rose – Kirsche – rostiges Eisen – Flamingo. Aus der Idee einer Interaktion von Details, die eine begriffliche Bedeutung vorstellt, ergibt sich schließlich auch das imagistische oder ideogrammatische Moment von Pounds Dichtung in englischer Sprache, die zugleich Passagen in verschiedenen anderen Sprachen in diese Schichtung einbezieht. Die super-position der Elemente, in der ein Komplex gegeben werden soll, realisiert sich in den Cantos nicht zuletzt in der Anordnung der Ideogramme, Wörter und Satzteile auf der Seite, durch die sich eine räumliche Einrichtung des Textes ergibt. In diesem Sinne ist davon zu sprechen, dass dem Raum zwischen den geschichteten Syntagmen ein wesentlicher Teil der Signifikation »beyond formulated language« (Pound 1960: 88) zukommt. Die rhythmische Einteilung der Seite mache die Dinge selbst, deren formale Bestandteile und ihre rhythmische Energie direkt erfahrbar (vgl. Stauder 2010: 29). Gerade deshalb lässt sich an der zuvor beschriebenen starken Rhythmisierung bei der Übertragung des handschriftlichen Entwurfs in das Typoskript ein wesentliches Moment der Bedeutungsproduktion beobachten. In den programmatischen Schriften zur Poetik des Imagismus, Vortizismus und der Ideogrammatik betont Pound zunehmend die dynamische Funktion jener ›primären Form‹ der poetischen Sprache, als einem »radiant node or cluster […] from which, and through which, ideas are constantly rushing« (Pound 1960:92). Das Bild sei statisch, so Pound, bevor man versuche, es zu schreiben. Bringe man ein statisches Bild in ein ideographisches Zeichen, werde sogleich das Fehlen der Bewegung spürbar: »The ideograph wants the moving image, the concrete thing plus its action« (Pound 1996: 88). In Fenollosas Essay über das chinesische Zeichen als Mittel der Dichtung zeigt sich, dass gerade durch diese Aktivität eine Art Unmittelbarkeit der Übertragung erreicht werden kann, weil die Übereinstimmung der Bewegungen die Natürlichkeit der Verbindung zwischen Ding und Schreibgeste ermöglicht, die schließlich die Sprache von der Konventionalität der Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant unabhängig machen soll. »But Chinese notation is something much more than arbitrary symbols. It is based upon a vivid shorthand picture of the operations of nature. In the algebraic figure and in the spoken word there is no natural connection between thing and sign: all depends upon sheer convention. But the Chinese method follows natural suggestion.« (Fenollosa/Pound 2008: 6)

Die Übertragung einer Wahrnehmung von einem thing outward zu einem thing inward wird demnach möglich durch die Bewegung der Schrift, indem sie die Bewegungen der Natur selbst vollzieht. Der künstlerische Akt, der die Form ins Sein

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ruft, bestünde hier also in einem Schreibakt, der den operations of nature gleichkommt. In diesem Konzept kommt der Medialität der Be-Zeichnung als einer materiellen Übung der zentrale Wert der Signifikation zu, wenn angenommen wird, dass eine natürliche Entsprechung der Bewegung des Schreibens und der Dynamik des bezeichneten Gegenstandes realisierbar ist.8 So verstanden könnte diese Technik geradezu jenen Mechanismus hintergehen, durch den »die Form eine Reduzierung von Potentialitäten und von Diversität des Lebens« bedeutet (Borsò 2010: 236). Schrift selbst nimmt dabei eine räumliche und körperliche Qualität an, durch die sich Schreiben der Zeichnung, mehr noch der Geste im Raum annähert. Hier entsteht nicht nur ein von lautschriftlicher Notation stark abstrahierendes Schriftkonzept, sondern es ereignet sich eben auch eine Verschiebung innerhalb des Begriffes von Schreiben, wenn man davon ausgeht, dass dieser durch das Verhältnis des Schreibens als Stil einer Signifikationspraxis zum Schreiben als physischer Übung bestimmt ist, wie Roland Barthes darlegt. So verweise dieser sowohl auf den materiellen Akt, auf eine physische, körperliche Geste des Schreibens. Gemäß der Etymologie sei die Schrift hier nur dessen substantielles Produkt; Barthes verweist an dieser Stelle darauf, dass man oft davon spreche, »die Person habe eine schöne Schrift«. Zugleich verweise das Schreiben andererseits abstrakt auch auf einen unauflösbaren Komplex von ästhetischen, linguistischen, gesellschaftlichen und metaphysischen Werten (vgl. Barthes 1973: 1555f.) Wenn nach Barthes einem Verhältnis zum Schreiben immer ein Verhältnis zum Körper entspricht, tritt in der am Konzept der Ideogrammatik orientierten Poetik Pounds durch die Nachahmung der Muster, Rhythmik und Gestik der Vorgänge der Natur die physische, körperliche Qualität des Schreibens besonders in den Vordergrund. Nach Maßgabe seiner poetologischen Konzepte verstanden, erweist sich Pounds Schreiben in Barthes’ Sinne als ein Schreiben, das die körperliche Dimension betont (vgl. Barthes 1973: 1535). 8  |  Der Lektüre der Cantos erschließt sich diese Entsprechung bei weitem nicht so intuitiv, wie Pound geglaubt haben mag. Eine Erklärung für die Opazität und Hermetik des Textes, dessen Lektüre ohne Kommentare und deren erhebliches Kontextwissen praktisch gar nicht zu leisten ist, läge in der Divergenz und Kontingenz der sich – jeweils der ihnen »eigenen« Dynamik entsprechend, allerdings mit von Rezipient zu Rezipient unterschiedlicher Verlässlichkeit – von einem »thing outward and objective« zu einem »thing inward and subjective« transformierenden Gegenstände. Diese Gegenstände sind: motivisch und metaphorisch gegebene Bilder; durch Passagen in verschiedenen Sprachen gegebene (Sprach-)Melodien und graphische Besonderheiten, samt deren kulturellen Kontexten; ebenfalls kulturelle Kontexte und historische Intertexte transportierende Zitate und Anspielungen; schließlich die Rhythmik des Textes selbst. Pound wies allerdings solche Einwände als Zeichen für Ignoranz und fehlende Sensibilität zurück: »All tosh about foreign languages making it difficult. The quotes are all either explained at once by repeat or they are definitely of the things indicated. If the reader don’t know what an elefant is, then the word is obscure.« (Pound 1971: 250f.)

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Im Hinblick auf die Schreibszene der Pisan Cantos ist im Lichte dieser die Körperlichkeit des Schreibens betreffenden Vorstellungen zu bemerken, dass sich das hastige Notieren der Cantos in den Notizbüchern und die Schreibübungen in chinesischen Zeichen den gymnastischen Übungen anzunähern scheinen, die Aufseher und Mitinsassen Pound während der Haft unternehmen sahen. Ein Angehöriger des medizinischen Personals des DTC berichtet: »He found an old broom handle that became a tennis racket, a billiard cue, a rapier, a baseball bat to hit small stones and a stick which he swung out smartly to match his long stride. His constitutionals wore a circular path in the compound grass.« (Sieburth 2003, XV) 9

Einen entsprechenden Zusammenhang hatte wohl auch der verantwortliche Offizier des Lagers im Auge, als er das inoffizielle Zugeständnis an Pound, eine Schreibmaschine nutzen zu dürfen, folgendermaßen begründete: »it was felt that Ezra, as a professional author needed his work to keep him healthy« (Carpenter 1988: 669). Gerade weil also der Anteil der physischen Bewegung des Schreibens an der Bedeutungsproduktion in Pounds Poetik stark im Vordergrund steht, müssen die Auswirkungen des Disziplinierungslagers dort signifikant werden, wo sie die Ausübung des Schreibens selbst, das heißt die schriftliche Verfassung des Textes betreffen. Die Inszenierung des Ausnahmezustandes im ideogrammatischen Schreiben, die die Erfahrung der Pisan Cantos kennzeichnet, stellt die konstitutive Beziehung beider Konstellationen zum Körper, in Agambens Begrifflichkeit zum ›nackten Leben‹ heraus. Die Symmetrie dieser Konstellationen zeigt sich allerdings erst, wenn man die politische Pragmatik von Pounds Schriftkonzept in Betracht zieht, in deren Konsequenz der körperliche Akt des Schreibens selbst Bezugspunkt und Grund souveräner Macht wäre. Die Pisan Cantos enthalten eine Reihe von Komplexen, die diese Idee präsentieren. Das sind all jene Begriffe und Motive, welche die organische Vorstellung einer ›guten Regierung‹ mit sich tragen. Nämlich einer Regierung, die sich legitimiert, indem sie den als ursprünglich angenommenen Zusammenhang zwischen präziser Be-Zeichnung, der Integrität des Subjekts und der Einrichtung von gerechter Herrschaft ausübt. Als beispielhafte Formulierung dieses Nexus kann im Kontext der Pisan Cantos jene zitiert werden, die der Übertragung des konfuzianischen Ta Hio entstammt, an der Pound im DTC arbeitete. Sie beschreibt, wie die »Männer des Altertums« Ordnung schaffen: »When things had been classified in organic categories, knowledge moved towards fulfilment; given the extreme knowledgeable points, the inarticulate thoughts were defined with precision [the sun’s lance to rest on the precise spot verbally]. Having attained this precise 9  |  Dieser Beschreibung nach wäre gar die Beobachtung gerechtfertigt, dass Pound durch seine Übungen ein O in den Boden des Lagers schrieb.

Lyrik oder Gymnastik? Die Schreibszene der Pisan Cantos von Ezra Pound verbal definition [aliter, this sincerity], they then stabilized their hearts, they disciplined themselves; having attained self-discipline, they set their own houses in order; having order in their own homes, they brought good government to their own states; and when their states were well governed, the empire was brought into equilibrium.« (Pound 1969: 20)

In der Disziplinierung des Menschen durch die den operations of nature entsprechende Praxis der Be-Zeichnung besteht hier die ethische und politische Validierung des künstlerischen Handelns. Im Zentrum der Beschreibung dieses Zusammenhangs steht dabei das Ideogramm sincerity (誠), das häufig in den Pisan Cantos wiederholt wird. Die ›Handlung der Natur‹, die es Pound zufolge nachahmt, ist die des Sonnenstrahls, der genau auf einem Punkt zu liegen kommt. Dieses Schriftzeichen vollzieht also in einer autotelischen Geste die Bewegung der präzisen Be-Zeichnung selbst. Als solches, die eigene Funktion erfüllendes Zeichen zeigt das Ideogramm nach Pounds Interpretation die Idee der ›Aufrichtigkeit‹ an, die moralische und politische Ordnung legitimiert. Pounds Antwort auf das in den historischen Avantgarden verhandelte »radikalste Niveau [der] Deregulierung des Gleichgewichts von Signifikant und Signifikat« (Gumbrecht 1998: 31) bestünde also in der Zurücknahme dieses Ungleichgewichts durch ein organizistisches Konzept des Verhältnisses der Zeichen zum Leben selbst. Erst wenn man ernst nimmt, dass der Vollzug dieser organischen Beziehung durch den Akt, der die präzise Form hervorruft (»to cause form to come into being«, Pound 1960: 92) hier mit der Legitimation politischer Beherrschung verbunden wird, werden die totalitären Züge dieser Ästhetik verständlich. An ihrem Horizont steht die autoritäre Ausübung einer kosmologischen Ordnung. Bemerkenswert bleibt, dass Pound den Souveränitätsanspruch der Kunst, deren Domäne ein solcher Bezeichnungs-Akt wäre, an die Forderung nach ihrer Autonomie gegenüber parteipolitischer Vereinnahmung bindet und weiter mit der naturwissenschaftlichen Positivität der Kunst argumentiert: »Art dealing, as science does, with things which subsist, which outlast any party or creed, which are here under capita, and will be here or would be here, under communism, fascio, or anything else.10 10  |  In einem Interview für The Paris Review fragt Donald Hall Ezra Pound 1962 nach einer Verbindung zwischen Literatur und Politik, die er einer Stelle in Pounds A.B.C of Reading entnimmt. Dort heißt es: »Writers as such have a definite social function exactly proportioned to their ability AS WRITERS. […] Good writers are those who keep the language efficient.« (Pound 1934: 32) Hall bemerkt: »You dissociate this function from party. Can a man of the wrong party use language efficiently? POUND: Yes. That’s the whole trouble! A gun is just as good, no matter who shoots it.« (Hall 1962: 41) An diesem waffentechnischen Bild zeigt sich, dass Pound zumindest nicht dem Irrtum unterliegt, den Marshall McLuhan die Schlafwandlermentalität derer nennt, die argumentieren würden: »Firearms are in themselves neither good nor bad; it is the way they are used that determines its value.« (McLuhan 1999: 11)

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Marie Schmidt Neither Lenin or anyone else having power to change one’s endocrine composition. If you like, art is a part of biology. Not a minion of social conventions or human arrangements. Art for art’s sake, no, art for propaganda, no, art is part of biology.« (Pound 1996: 112)

Innerhalb dieser Sätze findet dabei eine signifikante Verschiebung statt: Sind die »subsistenten Sachen« im ersten Satz noch Gegenstand der Kunst, scheint sich diese Kunst selbst durch den zweiten Satz geradezu in den Blutkreislauf zu verschieben, in die endocrine composition eines Subjektes, dessen Autonomie hier gleichzeitig von seiner biologischen Integrität gesichert ist. In Abgrenzung gegen Größen, die den Menschen davon abgesehen determinieren oder disziplinieren könnten, wird Kunst als Teil der Biologie zur souveränen Größe (aber nicht zur autonomen, wie Pounds strikte Ablehnung des l’art pour l’art zeigt: »Art for art’s sake, no« (Pound 1996: 112), wobei der Begriff hier zu changieren beginnt und nicht mehr eindeutig der Wissenschaft oder ihrem Gegenstand, dem menschlichen Körper zugeordnet werden kann.

D ie S ouver änität des S chreibens und die nack te S pr ache Wenn man in Anlehnung an Giorgio Agambens Paradigma formulieren kann, dass sich die souveräne Entscheidung in der Ausnahmebeziehung durch den Bann auf ›nacktes Leben‹ bezieht, dann wäre die symmetrische Beschreibung der Poundschen Politik der Schrift, dass sich darin die souveräne Ausübung von BeZeichnungen durch die Suspendierung von Mittelbarkeit auf natürliche Sprache bezieht. Es geht hier also, könnte man meinen, um das, was Walter Benjamin als das »sprachliche Wesen der Dinge« von der »Sprache des Menschen« unterscheidbar macht: »Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache. […] Dieser Satz ist untautologisch, denn er bedeutet: das, was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, ist seine Sprache […] Oder: die Sprache eines geistigen Wesens ist unmittelbar dasjenige, was an ihm mitteilbar ist. Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, in dem teilt es sich mit; das heißt: jede Sprache teilt sich selbst mit. Oder genauer: jede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das »Medium« der Mitteilung.« (Benjamin 1991: 142)

Eine ähnliche Erfahrung hat man im Anschluss an Pound mit der Politik formal avancierter Ästhetik gemacht, nämlich dass eine Ästhetik, die »Form« direkt auf »Leben« zurück bezieht genauso gut in den Händen jener funktioniert, die »das Recht auf Leben als Potentialität zur Sprache bringen« möchten (Borsò 2010: 239), wie in den Händen Pounds, der damit auf eine totalitäre Ordnung zielte. Diese Ambivalenz hat in der Pound-Rezeption eine anhaltende Verunsicherung bewirkt, die ideologiekritisch schwer einzuholen ist (vgl. Hartley 2006).

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Die Sprache des Menschen sei, so Benjamin, von dieser »Unmittelbarkeit« verschieden: »Die Sprache des Menschen spricht aber in Worten. Der Mensch teilt also sein eigenes geistiges Wesen (sofern es mitteilbar ist) mit, indem er alle anderen Dinge benennt« (Benjamin 1999: 143). Auch die benennende Sprache ist aber eine Sprache in dem Sinne, dass sich nicht nur durch sie, sondern vor allem in ihr etwas mitteilt, eine Sprache also, die sich selbst mitteilt. So wird die Spaltung erklärbar, durch die es die Einheit der Differenz selbst ist, die menschliche Sprache in Gang bringt. Entsprechend sind auch an anderer Stelle die Ermöglichungsbedingungen von Mitteilung als Einheit von Differenz gefasst worden. So zum Beispiel in der Unterscheidung von ›medium‹ und ›message‹, die in ›Medialität‹ aufgehoben ist. Oder in der Differenzierung zwischen dem körperlichen Akt und dem Stil der Signifikation, die im Schreiben aufgehoben ist. Oder in der Formulierung der »Bipolarität von Form und Leben im Sinne der gleichzeitigen Geltung der Unbestimmtheit, des Unzertrennlichen am Leben, und der Differenzierung durch intelligible Formen« (Borsò 2010: 239). Nach Agambens Aristoteles-Interpretation ist ›der Mensch‹ durch diese Spaltungen »das Lebewesen […], das in der Sprache das nackte Leben von sich abtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschließenden Ausschließung die Beziehung zu ihm aufrechterhält« (Agamben 2002: 18). Pounds Politik des souveränen Schreibens versucht nun genau diese Spaltung in der Sprache zu sistieren. Damit bezieht sich seine ›Politik‹ unmittelbar auf die ›nackte Sprache der Dinge‹ (wie die Politik der souveränen Ausnahme sich auf das ›nackte Leben‹ bezieht). Und so errichtet Pounds Schreiben in letzter Konsequenz einen permanenten Ausnahmezustand der Sprache. In Agambens Theorie muss das paradoxe Verhältnis der ›einschließenden Ausschließung‹, das die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand installiert, am paradigmatischen Ort dieses Zustandes unablässig ausgetragen werden. Dieser Ort (nach Agamben: das Lager) ist also »der Ort [der] absoluten Unmöglichkeit, zwischen Faktum und Recht, zwischen Norm und Anwendung, zwischen Ausnahme und Regel zu entscheiden, und es ist der Ort, wo dennoch unablässig darüber entschieden wird« (Agamben 2002: 182f.). Der Ausnahmezustand der Sprache wäre jener, in dem die ideale Ununterscheidbarkeit zwischen den operations of nature und den Zeichen bedeuten würde, dass die Einheit der Differenz zwischen Leben und Form, ohne die zumindest keine menschliche Mitteilung möglich wäre, unablässig und je aktuell durch die souveräne Bewegung der Be-Zeichnung vollzogen werden müsste.11 Weil dieser Vollzug hier ermöglicht 11 | In einem Interview für The Paris Review fragt Donald Hall Ezra Pound 1962 nach einer Verbindung zwischen Literatur und Politik, die er einer Stelle in Pounds A.B.C of Reading entnimmt. Dort heißt es: »Writers as such have a definite social function exactly proportioned to their ability AS WRITERS. […] Good writers are those who keep the language efficient.« (Pound 1934: 32) Hall bemerkt: »You dissociate this function from party. Can a man of the wrong party use language efficiently? POUND: Yes. That’s the whole trouble! A gun is just as good, no matter who shoots it.« (Hall 1962: 41) An diesem waffentechnischen

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wird, indem er in eine körperliche Schreib-Geste inkorporiert ist, fällt gewissermaßen natürliche Sprache und nacktes Leben in eins. Der Gestus, mit dem Pound bereits zu Beginn des Canto 74 seine Ausgesetztheit gegenüber den Elementen zu affirmieren scheint (»rain also is of the process«, Pound 2003: 3, V. 13; »the wind also is of the process«, Pound 2003: 3, V. 25), ist nur in Verbindung mit der Souveränität zu verstehen, die Pounds körperlicher Politik des Schreibens ihrer eigenen Logik nach zukommt. Durch diese Konstellation wird erst die radikale Konsequenz der Politik von Pounds Ästhetik klar, und darin besteht schließlich die ästhetische Erfahrung der Pisan Cantos: Im Schreiben selbst, das heißt bereits in den chinesischen Schreibübungen der Manuskripte liegt eine souveräne Ermächtigungsgeste, die den Auswirkungen der Verbannung ins Disziplinierungslager gegenübersteht. In Canto 76 findet sich diese Geste in nuce formuliert: »As a lone ant from a broken ant-hill/from the wreckage of Europe, ego scriptor« (Pound 2003: 36, V. 208 und V. 209).

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Paperbodies: Weibliche Biopoetik Valeria Cammarata »I undertake to exhibit nothing as it should be; I only try to exhibit some things as they have been or are, seen through such a medium as my own nature gave me.« G. T. E liot

»The reason firm, the temperate will, Endurance and foresight, strength and skill, A perfect woman, nobly planned, to warn, to comfort, and command.« W. Wordsworth

D ie E ntstehung der ästhe tischen A rt Evolutionismus und Ästhetik sind seit jeher eng miteinander verbunden gewesen. Schon zu Beginn der Verbreitung der Darwinschen Theorien, die in The Origin of Species und in vorausgehenden Werken in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dargelegt worden waren (vgl. Darwin 1859 und 1872), spaltete der evolutionäre Ansatz die viktorianische, öffentliche Meinung über das ästhetische Empfinden des Menschen im Vergleich zu dem natürlichen Empfinden der Tiere (und in den Augen einiger auch der Frauen1). 1 | Bis zu Darwins Ausführungen über die Partnerwahl bei Vögeln, in denen die Aktivität des Weibchens und damit seine aktive Rolle bei der sexuellen Selektion dargestellt wurden, war das Verhalten der Frau bzw. des Weibchens nicht nur als rein passiv angesehen worden, sondern die Partnerwahl auch als eine Art Jagdvorgang verstanden. Insbesondere angesichts des daraus resultierenden weiblichen Sinns für Ästhetik und der sexuellen Vorlieben traf Darwins These der weiblichen Auswahl in der bürgerlichen Gesellschaft auf Verachtung. Die Darwin’sche Hypothese ist auch von feministischen Kritikern ausführlich diskutiert worden.

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Die Kontroverse zwischen einem konservativen Standpunkt – der hauptsächlich von der naturalistischen Theologie und Kunstgeschichte vertreten wurde, die die Natur als perfekte Schöpfung Gottes betrachteten, dessen Höhepunkt der Mensch ist – und dem evolutionären Standpunkt – nach dem die Natur eher der Ort des Kampfes ums Überleben als ein nur für das menschliche Vergnügen gestaltetes Paradies ist – wird im konfliktreichen Verhältnis von Darwin und John Ruskin, dem wichtigsten Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler der viktorianischen Gesellschaft, deutlich. Zwischen 1870 und 1890 griff Ruskin Darwins Thesen in seinen Büchern und Vorträgen oft scharf an. In Ruskins Augen zeigte Darwin dadurch, dass er Schönheit und Ästhetik unter dem utilitaristischen Aspekt der individuellen Vermehrung und der Erhaltung der Art betrachtete, nicht nur sein geringes Kunstverständnis, sondern überdies seine Unfähigkeit, die Wahrheit und das Gute in der Schönheit zu entdecken. Ruskin zufolge geht es bei der Ästhetik nicht nur um die sinnliche Wahrnehmung, sondern um eine viel weiter gefasste Erfahrung, die gleichzeitig spirituell und moralisch ist und die ausgehend von der Beobachtung der Natur zur Kontemplation und zum Verständnis des Göttlichen führt. Daher schlug er vor, nicht den Begriff ›Ästhetik‹, der zu sehr mit der sinnlichen Wahrnehmung verbunden scheint, sondern für das, was wir beobachten und in dem wir eine höhere Wahrheit erkennen können, nach Aristoteles den Begriff theoria zu verwenden (vgl. Ruskin 1881). Andererseits versuchte Darwin seit seiner ersten Monographie über Rankenfußkrebse zu Beginn der 1850er Jahre, Aspekte wie Schönheit oder Farben auf natürliche Art und Weise zu erklären, indem er sie auf das evolutionäre Erbe von Tieren zurückführte. So argumentierte er z.B., dass die Farbe von Blüten, statt als göttliche Gabe, nur im Zusammenhang mit der evolutionären Anpassung zu verstehen ist – zu Zwecken der Fremdbestäubung sollen Insekten angelockt werden. Auf diese Weise trugen Darwin und andere Naturalisten2 zu einer materialistischen Die Verbindung, die Darwin zwischen Vogelweibchen und Frauen zog, scheint nicht nur die Argumente für weibliche Eitelkeit und Oberflächlichkeit zu untermauern, sondern auch zu bestätigen, dass der weibliche Mangel an rationalen Fähigkeiten natürlich gegeben statt kulturell geprägt ist. Doch wie Smith bemerkt: »Much truth inheres in this feminist critique of sexual selection. But in arguing that Darwin projects Victorian patriarchy onto the natural world, it fails to acknowledge that Darwin was spectacularly unsuccessful at convincing his contemporaries [...] that sexual selection really occurred« (Smith 2006: 115). 2  |  Vor allem Grant Allen, der den Evolutionismus erfolgreich in wissenschaftlichen Schriften und Romanen vertrat, scheint diese revolutionäre Überzeugung mit Darwin zu teilen. In seinem 1877 veröffentlichten Buch Physiological Aesthetics, in dem er Darwins Theorie zur Partnerwahl mit Spencers physiologischer Psychologie und mit Helmholtz’ Physiologie des Sehens und Hörens zusammenbringt, entwickelt er die Theorie, dass das ästhetische Empfinden eine von unseren tierischen Vorfahren stammende natürliche Veranlagung und somit nicht einzigartig für den Menschen ist.

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Ästhetik bei und machten Kunst und Schönheit – wie Ruskin befürchtet hatte – zu einer weiteren viktorianischen Ware, die produziert und konsumiert wurde. Dieser neue Ansatz von Darwin und Spencer stieß nicht nur im Bereich der Kunstgeschichte3, sondern auch in der Literaturwissenschaft eine Debatte an. So erarbeitete Hippolyte Taine in seiner History of English Literature (Taine 1872) eine Literaturtheorie, die auf den Prinzipien von Darwins Origin of Species basiert. Taines Ansicht zufolge kann Literatur wie jede andere Form des menschlichen Erlebens als biologische Interaktion zwischen einem Organismus und seinem Umfeld verstanden werden. Alle menschlichen Ausdrucksformen, auch die kulturellen, können mit Hilfe dreier dominanter Elemente erklärt werden: der Rasse, des Umfelds und der Zeit, d.h. der angeborenen und ererbten Veranlagungen in Bezug auf körperliche Eigenschaften und Unterschiede zwischen den Völkern4, den physischen und sozialen Umständen und dem Entwicklungsstand einer Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt. Taines Ansatz verortet also jedes literarische Werk in seiner spezifischen Umgebung und setzt somit trotz der ständigen Veränderung im Laufe der Zeit immer eine kennzeichnende systemische Integrität oder Identität voraus5. Zu diesem materialistischen Standpunkt nahm auch ein so einflussreicher Kritiker und Schriftsteller wie Henry James Stellung. Obwohl er Taines Prosa und seinen literarischen Stil schätzte, konnte er »the thoroughly unreligious cast of the author’s mind« (James 1984: 828) und den Ver3 | Darwins Studien zum menschlichen Verhalten führten zu weiteren ästhetischen Betrachtungen. Von großem Interesse sind diejenigen Aby Warburgs, der in The Expression of the Emotions in Man and Animals wertvolle Anregungen zur Analyse der Entwicklung von Gesichtsausdrücken bei Masolino und Masaccio fand. Von besonderer Bedeutung waren für Warburg die Beobachtungen Darwins über den Ausdruck von Schmerz und das damit verbundene Senken der Mundwinkel, das Zusammenziehen der Augenbrauen, das Schließen der Augenlider und der erhöhte Druck auf die Augäpfel, um die Augen vor einer übermäßigen Durchblutung zu schützen (vgl. Gombrich 1970). 4  |  Joseph Carroll, der seine Theorie über Evolution and Literary Theory auf Taines Ansatz gründet, muss sich der unangenehmen Frage nach der Rasse und den sich daraus ergebenden Problematiken stellen, so z.B. der der Vorherrschaft einer Rasse – und damit einer Kultur – über eine andere in Folge ihrer ›angeborenen‹ und ›ererbten‹ Veranlagungen. Den Vorwurf des Rassismus, der dem Evolutionismus oft gemacht wird, versucht Carroll zu umgehen, indem er ›Rasse‹ zu einem Konzept erklärt, dass sich nur auf die komplette Spezies Mensch anwenden lässt. Daher wären Unterschiede zwischen den Rassen für eine allgemeine Analyse relevant, aber für eine bestimmte literarische Untersuchung unwesentlich (Carroll 1995). 5 | Laut Carroll (1995) vertritt Taine somit einen historizistischen Standpunkt, da er die einzelnen literarischen Werke einer bestimmten Epoche auf eine gemeinsame Basis von Ideen und imaginativen Strukturen zurückführt. Darin unterscheidet sich seine Ansicht kaum von der Foucaults in L’archéologie du savoir und somit von dessen Konzept einer uniformen Anonymität aller Individuen, die in einem spezifischen Zeitraum sprechen (vgl. Foucault 1969).

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such, alle menschlichen Ausdrucksformen auf der Basis der Objektivität und der Endlichkeit wahrzunehmen, nicht ertragen. Es ist eindeutig, dass der evolutionistische Ansatz und die Geisteswissenschaften immer im Konflikt miteinander standen. Trotzdem zeichnet sich im Laufe der Zeit eine wachsende Übereinstimmung ab in Bezug auf die immer größere Bedeutung, die der »intellectual soil from which [a Dante, a Shakespeare, or a Goethe] spring« (Stephen 1874: 61) beigemessen wird. An einem derartigen Ansatz war für die Literaturwissenschaft vor allem die Erkenntnis der Mutation der Arten interessant, die zu einem neuen deskriptiven Realismus führte, der den ›Geodeterminismus‹6 berücksichtigt und somit nun auch den Kontext, in dem ein Schriftsteller lebt und schreibt (oder malt oder komponiert). Da Literatur als ein wichtiger Teil des Lebens angesehen wurde und somit auch denselben Naturgesetzen unterworfen war, reflektiert sie auch die bestimmten Lebensumstände einer Epoche. Diese Meinung wurde vor allem von den Literaturwissenschaftlern vertreten, die den europäischen Realismus um 1870 in die amerikanische Literaturdebatte einbrachten, da sie ihn als eine Möglichkeit verstanden, die soziale und kulturelle Entwicklung des Menschen angesichts der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung von einem materialistischen Standpunkt aus zu analysieren und zu kritisieren. Unter diesen neuen Gesichtspunkten wurden zum einen die Werke von Jane Austen und Charles Dickens gelesen, zum anderen aber auch die Howens. Dieser verkörperte im Amerika des 19. Jahrhunderts den materiellen Fortschritt der Wissenschaft, die zunehmenden individuellen Möglichkeiten und die Freiheit der Demokratie: »The theory of evolutionary progress served as an inclusive formula for linking and endorsing science, democracy and realism. Just as social and intellectual progress had resulted in democracy and the rise of science, so literary progress had produced realism, which embodied the ideals of democracy and the methodology of science« (Pizer 1962: 304).

B iopoe tik und B iopolitik heute Im 20. Jahrhundert lehnte der neue textbezogene poststrukturalistische Ansatz das Verständnis der kulturellen Ausdrucksformen des Menschen als ein Mittel der natürlichen Anpassung ab, wies Begriffe wie Einfluss und Evolution entschieden zurück (vgl. Foucault 1969) und versuchte von einem neuen historisch determinierten Standpunkt aus, das menschliche Leben und die Kultur zu analysieren. Die Dekonstruktion der Sprache und aller menschlichen Repräsentationsformen, die in den späten 1960er und in den 1970er Jahren durch Foucaults und Derridas 6  |  Der Einfluss der Vererbung und der Umgebung auf das Verhalten und auch auf das Wissen des Menschen spielte auch in Émile Zolas Schreiben und Denken eine entscheidende Rolle.

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philosophische Erklärungen an Beliebtheit gewann – sich aber auch schon bei Husserl, Heidegger und dem späten Wittgenstein findet –, verstand Phänomene des menschlichen Körpers, Geistes und der Kultur als strukturiert und nicht als gänzlich und dauerhaft naturgegeben: »In spite of its rhetoric, however, post-structuralism does not replace structuralism; poststructuralists still understand the phenomena of human bodies, minds, cultures, and theories to be structured. They may not be structured entirely ›naturally‹ and are certainly not structured entirely permanently, as was assumed at one time. They are, it is now said, constructed (and variously so) by the interface of our genetic inheritance with the environment into which we are born, that is, by the constantly changing interaction of individual needs, hegemonic cultures, and an unstable class of culturally empowered arbiters« (Spolsky 2000: 55).

Als Wilson zuerst Sociobiology (1975) und später On Human Nature (1978) veröffentlichte, stellte die Soziobiologie eine neue Möglichkeit dar, das Verhalten des Menschen (neben anderen Tieren) stärker denn je als Ausdruck der natürlichen Anpassung zu verstehen. In der Tat wies sie einen neuen Weg in der weitreichenden Debatte der 1970er Jahre über die menschliche Natur, in der zwei unterschiedliche Positionen vorherrschten: einerseits der theologische Standpunkt, der Menschen als »dark angels in animal bodies« (Wilson 1978: IX-X) verstand, und andererseits die skeptische Warte, deren Vertreter grundsätzlich an der Existenz der menschlichen Natur zweifelten und Kultur als »cumulative learned response to environment and historical contingency« (Wilson 1978: IX-X) betrachteten. In seinem naturalistischen Ansatz führte Wilson die menschliche Natur auf den Verstand und den Geist zurück, also auf ursprünglich biologische Muster eines Tieres, das »highly structured through evolution by natural selection« ist (Wilson 1978: IX-X). Die menschliche Natur muss daher als ein Komplex aus Vorlieben und Lerninteressen, normalerweise Instinkte genannt, verstanden werden. So gesehen sind alle menschlichen Ausdrucksformen, von rein materiellen Phänomenen bis zu den höchsten kulturellen und ideenreichsten Repräsentationen, natürliche – wenn auch weiterentwickelte – Instinkte. Die Möglichkeit, alle menschlichen Ausdrucksformen – auch die Literatur – vor dem Hintergrund ihres biologischen und nicht-kulturellen Ursprungs zu untersuchen, ließ Literatur- und Kunsttheoretiker wie Joseph Carroll ein neues ästhetisches Paradigma begründen, das auf diesem Wege zu einem wissenschaftlichen Paradigma avancierte. Carroll gründet seine neue Literaturtheorie auf dem Syllogismus, demzufolge »knowledge is a biological phenomenon, literature is a form of knowledge, and literature is thus itself a biological phenomenon« (Carroll 1995: 1)7 und definiert in 7 | Hier scheint der von T.H. Huxley in On a Physical Basis of Life dargelegte Syllogismus nachzuhallen: Wenn eine physische Basis des Lebens existiert, dann gibt es auch eine physische Basis des Wissens und der literarischen Figurationen (Huxley 1870).

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Evolution and Literary Theory vier biologische Konzepte, die sich gegen den Textualismus und die Unbestimmtheit des Poststrukturalismus wenden. Jene können zur Analyse aller Arten von Text, sowohl literarischer als sogar auch wissenschaftlicher Texte, herangezogen werden: das Verhältnis zwischen dem Organismus und der Umgebung, die angeborenen psychologischen Strukturen, die regulativen Prinzipien der Gesamttauglichkeit als letzte Ursache und die Repräsentation als eine Form der kognitiven Karte. Diese Konzepte erlauben Carroll, alle denkbaren literarischen Figurationen und literarisch dargestellten Gegenstände zu analysieren. Doch was sind diese von der Literatur ausgestellten Gegenstände? Carrolls Meinung nach verweist Literatur, genau wie Sprache, auf eine Welt, die nicht aus unbestimmten Wörtern besteht, sondern die auch Bäume, Fleisch und Knochen, Hormone, neurologische Strukturen usw. enthält (vgl. Carroll 1995: 92). Im Rahmen der ganz allgemeinen Absicht, das subjektive Empfinden des menschlichen Lebens zu repräsentieren8, kann die Literatur, wie kein anderes Wissensmedium, konkrete oder theoretische Objekte darstellen. Als Ausdruck einer Interaktion zwischen dem Organismus und der Umgebung bildet die Literatur in diesem System ein Kontinuum, dessen Extreme Realismus und Symbolismus sind: »Figurations at the realist end of the scale represent people, objects and actions as they appear to common observation and to the represented characters themselves. Figurations at the symbolic end of the scale use the dramatic elements to represent or embody the basic forces and the fundamental structural relations within the author’s own world-picture or cognitive order « (Carroll 1995: 131) 9.

Auf der Grundlage der Werke von Hippolyte Taine und Robert Browning findet Carroll in diesem komplexen System sogar den Raum, um die Dichotomie von subjektiver und objektiver Poesie zu belegen. Während die Erste darauf abzielt, externe Dinge, die für den Betrachter unmittelbar verständlich sind, zu reproduzieren, konzentriert sich die Letzte auf die Urelemente der Menschheit, die in der eigenen Seele zu finden sind. 8 | Carroll erklärt, wie die subjektive, literarisch vermittelte Erfahrung des menschlichen Lebens zu verstehen ist: »Any given literary text emerges out of the experience of an individual human being, and this experience is itself the product of an interaction between the genetic characteristics of a person and the characteristic of his or her environment, both social and non social« (Carroll 1995: 117). 9 | Später im Text erläutert Carroll den Begriff ›Symbolismus‹: »The term symbolism here used is intended to subsume the range of representation commonly called allegorical [...] Allegory usually signifies figurations in which character, setting, and action serve to illustrate a preconceived conceptual formula. Symbolism usually designates figurations in which conceptual implications arise from within the representation of people, places, objects, and events. Both correlate conceptual elements with the dramatic elements of figuration« (Carroll 1995: 132).

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In diesem naturalistischen Ansatz der Literaturwissenschaft stehen die figurativen Elemente mit den biologischen Elementen insofern in einem Zusammenhang, als die Figuren individuelle menschlichen Organismen sind, der Schauplatz die Umgebung ist, in der diese Organismen leben, und die Handlung erweiterte Situationen und Ereignisse der Zeit darstellt. So können alle großen Meisterwerke, zumindest die des westlichen Paradigmas, untersucht werden. Carrolls berühmteste Darwinistische Lektüre ist seine Analyse von Pride and Prejudice in Human Nature and Literary Meaning: a Theoretical Model Illustrated with a Critique of Pride and Prejudice (Gottschall/Wilson 2005). Die Umgebung wird in Carrolls Augen von Männern dominiert, die miteinander um sozioökonomische Eigenschaften wie Geld, Status und die Gunst der Frauen konkurrieren. Letztere sind individuelle menschliche Organismen, deren Interesse allein Eigenschaften wie Jugend und Schönheit gilt.10 Die Handlung ist gekennzeichnet durch die Spannung zwischen dem speziestypischen Merkmal – der Partnerwahl – und der sich von ihrem Umfeld unterscheidenden Hauptfigur. Der evolutionistische Ansatz der Literaturtheorie könnte ein guter Weg sein, die biologischen und kulturellen Streitfragen zu überbrücken, den lebendigen menschlichen Körper und seine Umgebung zusammenzubringen. Dennoch ist die Art und Weise, wie Carroll der Literaturtheorie und -wissenschaft jegliche politische Implikation abspricht, einseitig – er beschuldigt den Dekonstruktivismus, insbesondere die Hegemonie der Homosexualität, die er darin erkennt, sogar der Propaganda. Dies geschieht trotz all der zumeist von der Kulturwissenschaft unternommenen Versuche, das literarische Individuum – sei es eine Figur, der Autor, der Leser oder der Kritiker – sowohl sozial als auch natürlich auf eine materielle Umgebung zurückzuführen. Spolsky schreibt in Darwin and Derrida: Cognitive Literary Theory as a Species of Post-Structuralism: »What has taken some time to establish, then, is not the error of the claim that representational systems such as language provide no access to a real world, only the absoluteness of that claim and, further, the interpretations of that claim as comic or tragic« (Spolsky 2002: 51). Daraus ergibt sich, dass die Art und Weise, wie Menschen Wissen schaffen bzw. produzieren, als Ergebnis der »combined resources of body (including the mind/brain) and culture« (Spolsky 2002: 58) verstanden werden sollte. Diese Kombination ist aber mit einem apolitischen evolutionistischen Ansatz schwierig zu untersuchen. Die Art und Weise, auf die sich ein menschlicher und natürlicher Körper seiner sozialen und kulturellen Umwelt widersetzt, kann sich als viel materialistischer erweisen als es für einen poststrukturalistischen Ansatz vorstellbar ist. Andererseits können Widerstandsstrategien gegen eine dysfunktionale Umgebung menschliche Ausdrucksformen produzieren, die über das Ziel 10  |  Diese den weiblichen Figuren zugeschriebenen Interessen stehen für einen Rückschritt zur passiven Rolle der Frau im Paarungsverhalten, verglichen mit den Beobachtungen Darwins, die in Fußnote 1 dargestellt wurden.

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des puren Überlebens hinausgehen und ein literarisches Werk oder auch eine literarische Figur unsterblich werden lassen. Inwiefern ein Körper oder ein bíos (nach Agamben die Lebensweise eines Individuums oder einer Gruppe; vgl. Agamben 2002) der kulturellen Kontrolle unterworfen ist, lässt sich aus Foucaults Analysen folgern. In Histoire de la sexualité: La volonté de savoir identifiziert Michel Foucault das 17. Jahrhundert als das Zeitalter, in dem in den westlichen Ländern eine neue Machtordnung eingeführt wird, die ihrerseits durch den Eintritt des Lebens in das Feld der eindeutigen Kontrollwerkzeuge und -mechanismen charakterisiert wird (vgl. Foucault 1976). Durch die neue Form der Körperdisziplin veränderten verschiedene Formen der Macht das Leben der Individuen, die zu ihren Strukturen gehörten. Besonderes Interesse galt damals der Entwicklung von biopolitischen Systemen, die Foucault selbst als Disziplin der politischen Anatomie des menschlichen Körpers definierte. Dieses umfassende und tiefgreifende System der Kontrolle über den als Maschine verstandenen Körper wird mithilfe von Regeln angewandt, die sowohl die Dressur des Körpers als auch ihre Integration in die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen garantieren. Da der Körper, die Sexualität und vor allem der Diskurs darüber ein fundamentales Mittel zur Kommunikation, zum Verständnis und zur Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Anderen sind, waren sie die Hauptgegenstände der biopolitischen Kontrolle. Obwohl es bis zum 17. Jahrhundert noch erlaubt war, in der Alltagssprache und der anzüglichen Literatur auf den Körper und die Sexualität einzugehen, setzte schon damals eine rasche sexuelle Repression ein, die in der Viktorianischen Epoche ihren endgültigen Abschluss fand. Mit Beginn der angeordneten Körperkontrolle kam aber auch eine Vielzahl von Widerstandsstrategien auf, die im 19. Jahrhundert nicht nur offensichtlich, sondern auch vereinzelt und versteckt über den Körper sprachen und diesen beobachteten. Aber auch andere kulturelle Herangehensweisen als die Foucault’sche Biopolitik betrachteten den Körper als zentrales Element, indem sie die künstlerische Manipulation der Welt und des Körpers als Instrument der menschlichen Erfahrung, der Anerkennung und des Überlebens betrachteten, wie uns der evolutionistische Ansatz bereits gezeigt hat. Nicht nur die Ästhetik – seit ihrer Begründung durch Alexander Gottlieb Baumgarten die Wissenschaft der Erkenntnis durch die Sinne –, sondern auch neuere Untersuchungen zum Verhältnis von Kunst und Sinneswahrnehmung, wie die Kognitionswissenschaft und die Evolutionspsychologie, verstehen den Körper als ›universelle biologische Grundlage‹ sowohl für künstlerisches als auch für wissenschaftliches Wissen. Dieses Körperverständnis führt in der weiteren Konsequenz dazu, dass die Kunst »both as a practice and as an experience, belonging, as it were, to the hardware of human nature« (Turner 1999) gesehen wird. Disziplinen wie die Bio-Poetik, die Bioästhetik oder die Evolutionsästhetik haben daraus die Schlussfolgerung gezogen »that the relationship between bio-

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logical evolution and cultural evolution can now be seen in the context of a much larger process of evolutionary emergence« (Turner 1999). Kunst ist also nicht nur auf mannigfaltige Art und Weise eine funktionale oder dysfunktionale soziale Anpassung des Menschen, sondern kann auch als biologische Anpassung und als ein Merkmal der Evolution verstanden werden. Wie eingangs erläutert, wird dieser Standpunkt vom Darwinistischen Ansatz der Kunsttheorie, besonders der Literaturwissenschaft, vertreten. Dahinter steht der Versuch, die Literaturwissenschaft vom psychoanalytischen Ansatz, der die Betrachtung von Autoren und von Figuren geprägt hat, zu lösen; die evolutionäre Literaturwissenschaft »tr[ies] to make sense of cross-culturally persistent literary themes and plot variations, and to understand the amazing prominence of narrative in all human cultures« (Gottschall 2003: 261). Laut Ellen Dissanayake, der Autorin von Homo Aestheticus, kann auch die Soziobiologie dabei helfen, die Rolle der Kunst und der Literatur in der Evolution zu erklären. Dabei stehen drei verschiedene Aspekte im Fokus: erstens ästhetische Reize und Vorlieben (d.h. Darwins ursprüngliche Hypothese); zweitens bestimmte Motive in der Kunst, die zumeist die essentiellen Interessen des Menschen als lebendigen Organismus reflektieren und artikulieren (d.h. die Darstellung in der Biopoetik); drittens das Hervorbringen von Kunst als eine Möglichkeit, kognitive und körperliche Fähigkeiten zu trainieren, einschließlich des Problemlösens und des überlebenssichernden Verhaltens. Diese Eigenschaften der Kunst gelten auch für andere menschliche Handlungen. Doch Ellen Dissanayakes wichtigster Beitrag zur soziobiologischen Kunstbetrachtung ist folgende Feststellung: Es ist die grundlegende Einzigartigkeit der Kunst, die die menschliche Spezies auszeichnet, da sie die Dinge zu etwas Besonderem macht: »Artify, by shaping, embellishment and otherwise fashioning aspects of their world with the intention of making them more than ordinary« (Dissanayake 1992). Ein besonderes Ziel des Menschen sei, nicht nur das Überleben und die Fortpflanzung zu sichern, sondern sich auch von den anderen zu unterscheiden, während man sich der Umgebung bestmöglich anpasst. Die Mühe und die Aufmerksamkeit, die jeder Einzelne den Objekten, den Artefakten und dem eigenen Körper widmet, dienen dem als Mittel und geben ihm die Sicherheit, dass ein Teil von ihm über seinen Tod hinaus weiterbestehen wird.

R- e volutionäre Ä sthe tik (oder : E t was anders machen) Für die Diskussion des biopolitischen und bioästhetischen Ansatzes kann das literarische – und darstellende – Werk einer englischen Autorin und Naturphilosophin, die von 1623 bis 1673 lebte, von großer Bedeutung sein. Das Werk und das Leben Margaret Cavendishs geben ein interessantes Beispiel für die zu dieser Zeit einsetzende biopolitische Kontrolle über Körper und Geist und der Möglichkeiten, die sich einer Frau wie Cavendish boten, um sich der epistemischen und

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der physischen Gewalt zu widersetzen, indem sie auf zwei Schauplätzen kämpfte: in ihren künstlerischen Werken und in den Ausdrucksformen ihres Körpers. Das Ergebnis, ihre physischen oder materiellen Kunstprodukte, kann von der evolutionären Literaturtheorie als Anpassung an eine funktionale oder dysfunktionale Umgebung oder Gesellschaft verstanden werden, wodurch es gleichzeitig in bioästhetischer Hinsicht gewissermaßen unsterblich wird. Aus sich selbst mehr als das Gewöhnliche zu machen, war das Hauptziel von Margaret Cavendishs Kunst und Performances. Wie man sich vorstellen kann, lebten Frauen im 17. Jahrhundert nach streng definierten kulturellen und politischen Gesetzen, die bestimmten, was Frauen innerhalb und außerhalb des Hauses tun und nicht tun durften. Grundsätzlich mussten sie treue Ehefrauen und gute Mütter sein. Frauen der oberen Schichten sollten nur zum Zweck der Zerstreuung auch eine Reihe künstlerischer Fähigkeiten kultivieren. Kurzum, der Gegensatz zwischen männlich und weiblich (der im Zusammenhang mit dem Gegensätzen zwischen Körper und Geist, Natur und Kultur stand) war unumstößlich: Während der Mann sich mit geistigen Aufgaben wie Analysen, Erfindungen etc. beschäftigte, wurde das Weibliche zu einer dubiosen Kategorie, die an den Körper und an die Natur geknüpft war, die von den Männern studiert und gepriesen, aber vor allem wegen seiner intellektuellen Unterlegenheit erforscht und unterdrückt wurde. Frauen blieben die Wissenschaften, die philosophischen Studien und ganz allgemein die Vermehrung und der Austausch von Wissen verwehrt. Trotzdem wurden in der jüngeren feministischen Forschung einige frühneuzeitliche Beiträge zur neuen Wissenschaft von Frauen wiederentdeckt, die somit zur Definition des Wesens der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Beobachters beitrugen und denen dabei mehr als nur untergeordnete Tätigkeiten wie das Abschreiben von Manuskripten, Illustrieren und Übersetzen zuzuschreiben sind. Andere Frauen erlaubten es sich, die neue Wissenschaft zu studieren und auszuüben, und veröffentlichten Bücher über Naturphilosophie (Schiebinger 1989; Schiebinger 1993). Auch wenn all dies selbstverständlich scheint, so war es das nicht für Cavendish: Sie ist nie schwanger gewesen, beschäftigte sich aber eingehend mit wissenschaftlichen Studien (sogar mit den neuesten technologischen Erkenntnissen der Optik) und mit philosophischen Diskussionen. Sie verfasste die Observations upon Experimental Philosophy (Cavendish 2001a) und wurde nicht müde, sich mit offiziellen Thesen wie denen Robert Hookes auseinanderzusetzen. Außerdem trug sie im Anhang zu Observations: Descriptions of a New World Called the Blazing World zur vieldiskutierten Frage nach der Vielzahl der Welten bei. All diese Dinge machen aus ihr eine für ihre Zeit außergewöhnliche Frau. Als solche wurde sie auch von ihren Zeitgenossen wahrgenommen. So schrieb zum Beispiel der Tagebuchschreiber John Evelyn nach ihrem Besuch der Royal Society am 30. März 1667 in der Ballade I’ll tell thee Jo über sie:

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Dorothy Osbornes Reaktion auf Cavendishs Auftritt war typisch: »Let me ask you if you have seen a book of Poems newly come out, made by my lady Newcastle. For God’s sake if you meet with it send it me, they say it is ten times more extravagant than her dress. Sure, the poor woman is a little distracted, she could never be so ridiculous else as to venture at writing books— and in verse too. If I should not sleep this fortnight I should not come to that« (Osborne 1968: 53).

Und drei Jahrhunderte später stellte selbst eine so aufgeklärte Frau wie Virginia Woolf die Herzogin von Newcastle wie folgt dar: »Garish in her dress, eccentric in her habits, chaste in her conduct, coarse in her speech, she succeeded during her lifetime in drawing upon herself the ridicule of the great and the applause of the learned. But the last echoes of that clamour have now all died away; she lives only in the few splendid phrases that Lamb scattered upon her tomb; her poems, her plays, her philosophies, her orations, her discourses—all those folios and quartos in which, she protested, her real life was shrined—moulder in the gloom of public libraries, or are decanted into tiny thimbles which hold six drops of their profusion« (Woolf 1984: 69).

Vermutlich missversteht Woolf Cavendishs Bestreben, der patriarchalen Ordnung zu entfliehen, als Verlangen nach Ruhm, obwohl sich die zwei Frauen ähnlicher waren als Woolf annimmt oder anzunehmen scheint. Zweifellos litt Margaret Cavendish unter der Körperkontrolle der in Europa entstehenden biopolitischen Ökonomie, in deren Augen sie eine nutzlose Zelle war, nicht in der Lage, ihre Spezies zu vermehren. Aufgrund ihrer Anorexie und ihrer exzentrischen Kleidungsgewohnheiten fühlte sie sich im gesellschaftlichen Kontext, der ihr vorgeschrieben wurde, nicht wohl und interessierte sich zu sehr für männliche Geschäfte. Was auf jeden Fall in Betracht gezogen werden muss, ist die Tatsache, dass das Bild, das ihre Zeitgenossen von ihr hatten, gerade das Ziel ihrer Arbeit war, die sich an einer Strategie ausrichtete, die wir heute ›Bioästhetik‹ nennen könnten. Zu dieser Erkenntnis führt Cavendishs besonderes Verständnis ihrer eigenen Werke, die gleichzeitig physische Instrumente des Widerstands, stolze und großartige Surrogate ihres verschämten, kranken Körpers und Ersatz für physischen Nachwuchs (wie sie in Poems and Fancies andeutet) sind, ein Mittel, um aus ihrer Existenz etwas Besonderes zu machen. Auf all das bezieht sie sich, wenn sie die Produkte ihrer Feder als Paper Bodies, als papierne Körper, bezeichnet.

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Von diesem Standpunkt aus kann ihr Fall unter biopolitischen und biopoetischen Gesichtspunkten untersucht werden. Wie schon angedeutet, entkam Margaret Cavendish der Dressur in zweierlei Hinsicht: Sie ließ ihren Körper nicht von den kulturellen Vorgaben beherrschen und ihre Diskurse wichen radikal vom Erlaubten ab. Durch die ihnen inhärente Verwandlung des Selbst zielten sowohl ihre körperlichen als auch ihre literarischen Experimente auf eine Befreiung des Menschen und besonders der Frau ab, sowohl von den gesellschaftlichen und psychologischen Beschränkungen als gar auch von den Beschränkungen der zeitgenössischen Geschlechterrollen. Diese Transformation ist das Ergebnis einer Eigenschaft der Schriftstellerin, die man als schizophren bezeichnen könnte, insofern als sich das Verhalten ihres Körpers – sowohl zu Hause als auch in der Öffentlichkeit – und ihres Geistes voneinander unterscheiden. »By her own diagnosis her body is that of the melancholic immobilized by sleepness and agoraphobia, she is shy, while in society, because she judge her own body being untrusted, so that, for example, when dining with the philosopher Thomas Hobbes she staied dumb. Other times, besides, her body became ungovernable« (Bowerbank/Mendelson 1999: 12).

Von ihren Mitmenschen wurde sie aufgrund ihrer fahrigen Gestik und Redseligkeit gar als überreizt, extravagant oder gar verrückt abgetan. Tatsächlich aber eignete sich Cavendish diesen mangelhaften Körper subversiv an, einen Körper, den kulturelle Strategien nicht kontrollieren konnten, den sie aber studierte, um ihn zu kontrollieren, denn »although her body is barren and incapacitated, her mind is industrious and restless to live« (Bowerbank/Mendelson 1999: 14). Vor allem in A True Relation of Birth zeigt sich ihr lebenslanges Projekt, eine neue Version ihrer selbst zu entdecken und zu erfinden; eine Version, die ebenjene gesellschaftlichen Kategorien ablehnte, nach denen Männer- und Frauenkörper voneinander unterschieden und der weibliche Körper unterdrückt und abgewertet wurde. Im Zeichen dieses großen Projekts standen ihr Leben, ihre Gewohnheiten und ihr Werk. Durch ihre Selbstinszenierung – sie liebte es, ihre Kleidung und ihren Schmuck selbst zu kreieren – kommunizierte Margaret Cavendish nicht nur die Distanz und Verschiedenheit zwischen ihr und der Gesellschaft, der sie trotzdem angehörte, sondern auch die ihrer Heldinnen und anderer Figuren. Diese heben sich immer durch den Symbolismus ihrer majestätischen Kleidung ab – wie die Kaiserin in The Blazing World – oder ihre maskulinen Verhaltensweisen, welche die unumstößliche Genderpolarität zwischen männlich und weiblich in Frage stellen, wie die vielgesichtige Heldin in The Convent of Pleasure. Diese Distanz und Verschiedenheit kommunizierte Cavendish durch ihre Körpersprache bei ihrem Besuch der Royal Society. Wie man sich vorstellen kann, akzeptierte die Royal Society für gewöhnlich keine Frauen an ihrem Hof, und die Erlaubnis, Margaret – wenn auch nur für einen Tag – in der Society zu begrüßen, war weniger auf ihre wissenschaftlichen Werke und Betrachtungen als vielmehr

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auf den Einfluss ihres Mannes zurückzuführen. Ihr Besuch wurde schon vor der Erlaubnis ausgiebig diskutiert, da viele Mitglieder fürchteten, er könne ihren Ruf untergraben, vor allem, weil die Herzogin ohnehin schon als »mad Madge« (»verrückte Margaret«), bekannt war. Schließlich wurde sie in der Society akzeptiert, aber nur, um einigen Experimenten von wichtigen Mitgliedern der Society wie Robert Boyle beizuwohnen. Margaret wusste sehr gut, dass es ihr nicht gestattet sein würde, zu sprechen, daher kam kein Wort über ihre Lippen, stattdessen sprach ihr Körper: In ein majestätisches Gewand gehüllt – beim Ankleiden mussten mehrere Dienstmädchen behilflich sein – erzeugte sie große Verlegenheit beim wissenschaftlichen Publikum, das in ihr am Ende nur die lächerliche Verrückte sah. Ihr Verhalten wird jedoch verständlicher, wenn man ihr nur ein Jahr früher veröffentlichtes Buch liest. Ihr majestätisches Kleid glich dem der Kaiserin, der Heldin in The Blazing World, die anstelle ihres Ehemannes die Macht über ein ganzes Kaiserreich übernimmt, die bestehenden wissenschaftlichen Gesellschaften zerschlägt und »Schulen [errichtete] und […] mehrere Gesellschaften [gründete]« (Cavendish 2001b: 16). Ihr Kleid wird wie folgt beschrieben: »On her head she wore a cap of pearl, and a half-moon of diamond just before it; on the top of her crown came spreading over a broad carbuncle, cut in the form of the sun; her coat was of pearl, mixed with blue diamonds, and fringed with red ones; her buskins and sandals were of green diamonds: in her left hand she held a buckler, to signify the defence of her dominions; which buckler was made of that sort of diamond as has several different colours; and being cut and made of a white diamond, cut like the tail of a blazing star, which signify that she was ready to assault those that proved her enemies« (Cavendish 1994: 133).

Dadurch, dass die Kaiserin sich wie ein politisches, wissenschaftliches und religiöses Oberhaupt kleidet, lässt sie – und mit ihr Margaret Cavendish – die entgegengesetzten Pole der maskulinen wissenschaftlichen Intelligenz und der weiblichen religiösen Anbetung miteinander verschmelzen. Nach den von Carroll entwickelten Kategorien ist dieses Werk als eine symbolische Figuration einzuordnen, das dramatische Elemente nutzt, um das Weltbild der Autorin, die kognitive Ordnung, darzustellen. Problematisch an dieser Interpretation ist, dass sich diese Allegorie auf »the basic forces and the fundamental structural relations« (Carroll 1995: 132) innerhalb dieser Ordnung beziehen sollte. Um welche fundamentalen Strukturen könnte es sich handeln? Auf keinen Fall könnte man diese als natürliche Kräfte bezeichnen, die in einem natürlichen Umfeld wirken. Im Gegenteil, diese Allegorie scheint gerade als Umkehrung des status quo konstruiert zu sein, sie ist nicht von der Natur, sondern vom Menschen geschaffen und kann aufgrund dessen sogar von mehr oder weniger propagandistischer Literatur angegriffen und verändert werden. Eine weiteres Thema, das bei Cavendish im Mittelpunkt steht, ist das Verhältnis der Geschlechter und, wie bereits erwähnt, das Herausfordern der festen

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Kategorien. Diese Herausforderung, die sie sowohl physisch als auch literarisch vollzieht, findet sich in The Convent of Pleasure, wo die Heldin Lady Happy ihre weibliche Rolle ablehnt und ein weibliches Reich gründet, in dem es keinen Platz für Männer gibt. In dieser sicheren Umgebung erleben die einundzwanzig Frauen eine neue Freiheit, da sie die Relativität der Geschlechterrollen erkennen, die Heterosexualität durch Experimente schrittweise weiter verwerfen und eine neue Geschlechterpolitik einführen, »joining in the experimental pleasures of erotic friendship, cross-dressing, and role-playing, the category of woman does not stand as a single uncontested constant; its cultural meaning is explored, destabilized and challenged« (Bowerbank/Mendelson 1999: 20).

Das Gesamtwerk der Herzogin von Newcastle zeigt, dass das Schreiben für sie nicht nur eine Flucht aus den strengen gesellschaftlichen Regeln, die sie nicht akzeptierte, bedeutete, sondern auch ein Ausbruch aus ihrem eigenen Körper, einem abweisenden und unproduktiven Körper trotz ihres kreativen und produktiven Geistes, mit dem Willen, »restless to live, as Nature doth, in all Ages and in every Brain« (Sociable Letters: XC). Ihre Werke sind sowohl eine strategische Möglichkeit, ihren Körper, ihre Zunge und sich selbst zu kontrollieren, als auch der Weg, Einzigartigkeit und Unsterblichkeit zu erlangen, wie es ihre zentrale Absicht war. Auf diese materielle Art und Weise versuchte sie natürlich, sich ihrer Umgebung anzupassen oder sie sogar weiterzuentwickeln. Allerdings darf diese Umgebung nicht auf ein ökologisches Umfeld reduziert werden, in dem das Leben von Urtrieben und der Partnerwahl bestimmt wird. Auf jeden Fall kann gesagt werden, dass sie es in symbolischer Weise verstand, in dieser Umgebung zu überleben und mithilfe der Mittel, die ihr von der Natur gegeben waren – ihrem Geist und einem defekten Körper – Widerstand zu leisten, indem sie den Diskurs ihrer Gesellschaft subversiv verwendete. Carroll akzeptiert weder eine politische Dimension der Literatur noch der Literaturwissenschaft und nimmt somit eine Position ein, die eher zum objektiven Wissen oder zur ästhetischen Empfänglichkeit neigt. Doch wie soll diese radikale Ansicht auf der Suche nach einer naturwissenschaftlichen Begründung der Literatur anhand der Untersuchung einer Autorin wie Margaret Cavendish geschlichtet werden, wenn diese in ihrem poetischen oder vielmehr ästhetischen Werk versuchte, sowohl naturwissenschaftliches als auch revolutionäres Wissen zu erlangen und in keiner der beiden Disziplinen nach der Objektivität ihrer Position strebte? Aus dem Englischen von Elisabeth Schmalen

Paperbodies: Weibliche Biopoetik

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Leben, das Mediale und die Technik aus Sicht des Ästhetischen

Mediale Gouvernementalität Timo Skrandies Are you listening to What They Want You to hear … Or What You Want to hear? Live365.com VIP Membership – free your mind1

»D u bist N orwegen «? Der norwegische Schriftsteller Edvard Hoem schildert in seinen beiden autobiographischen Romanen Die Geschichte von Mutter und Vater (vgl. Hoem 2009) und Heimatland. Kindheit (Hoem 2009a) das ländliche, das mühevolle, strenge und religiös-pietistisch geprägte Leben der norwegischen Gesellschaft der 1920er bis 60er Jahre. Die Erfahrungen und Begebenheiten spielen sich hauptsächlich in einem bygd ab, also einer für Norwegen typischen, dorfähnlichen Ansiedlung mehrerer Bauernhöfe, in diesem Fall in der Nähe der westnorwegischen Stadt Molde. Und inmitten der Beschreibungen größerer Ereignisse und Entwicklungen stehen dann Beschreibungen wie diese: Der kleine Edvard soll, als Klassenprimus, auf einem Weihnachtsfest der Schule ein Gedicht vortragen, wird aber kurz zuvor aus Neid von einem Kameraden rüde geschlagen, so dass das große Ereignis auszufallen droht. Zwar klärt sich die Situation noch, doch es gab auch Eltern, »die brummten, da sehe man, wohin es führe, wenn aus einer Gruppe Kinder einzelne hervorgehoben und bevorzugt würden« (Hoem 2009a: 88). Dann, schon einige Jahre später, macht der jugendliche Edvard folgende Beobachtung: »Etwas Persönliches zu sagen, war undenkbar, und es war natürlich absehbar, wie lange man belanglose Neuigkeiten über den Hof austauschen konnte, wenn man die ganze Zeit aufpassen mußte, nichts zu sagen, was nicht alle im Dorf erfahren sollten. Da die Menschen nicht wagten, mit dem herauszurücken, was sie im Inneren bewegte, wurden sie nicht zu Individuen, sondern waren nur Gesichter.« (Hoem 2009a: 161)

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Solche Sätze vermitteln als literarisches Wissen Beschreibungen von und Einsichten über Strategien und Habitualisierungen kulturellen Daseins.2 Die zitierten Passagen betreffen die Relationierung bzw. das Spannungsverhältnis von Individuum und Gemeinschaft und sind mir vermutlich deshalb aufgefallen, weil sich die Frage nach dem kulturellen Vergesellschaftungs- bzw. Vergemeinschaftungsprozess für einen (wenngleich: temporären) Einwanderer nach Norwegen als besonders dringlich bzw. thematisch erweist.3 So rückten einige Eigenarten des sozialen Lebens und Verhaltens in Norwegen als Auffälligkeiten in meine/ unsere persönliche Wahrnehmung (im Sinne kultureller Differenzen zu dem aus Deutschland Gewohnten), die – jetzt theoretisch gefasst – im Feld biopolitischer bzw. gouvernementaler Handlungen und Argumentationen zur Regulierung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft liegen. Da war zum Beispiel die elterliche Enttäuschung, als wir (nachdem unsere Tochter in Trondheim zwei Monate in den Kindergarten ging) in einem Evaluationsgespräch mit einer Kindergärtnerin davon schwärmten, für wie weit entwickelt wir das musikalische Rhythmus-, Tanz- und Bewegungsgefühl unserer Tochter empfänden – und von der Erzieherin zu hören bekamen: Das stimme, das würde sich aber an die anderen Kindern schon wieder angleichen. Auch verwundert waren wir über die Position einer norwegischen Freundin, ihre Tochter (4 Jahre) werde angehalten, mit jedem Kind zu spielen, das mit ihr spielen wolle, ob die Tochter das nun möchte oder nicht; und dass Schwimmen als Leistungssport durchaus problematisch sei, da die Jugendlichen zu sehr mit sich selbst beschäftigt und beim Schwimmen viel zu isoliert von einer Gruppenerfahrung 2  |  Damit ist gemeint, Literatur nicht als bloße und stets nur nachträgliche Abschilderung des gesellschaftlich Gegebenen zu verstehen, sondern den Blick quasi herumzudrehen: Sie als Wissenskultur sui generis für voll zu nehmen und zu beobachten, welches Menschenbild, und hier, welches biopolitische und ökonomische Dispositiv auch unserer eigenen Zeitgenossenschaft sie uns erläutert, ohne lediglich motivlich abzubilden. Das »Verhältnis von (literarischen) Texten und Wissen [lässt sich] nicht auf Stoffe und Motive oder eine Serie von Prädikationen und Referenzakten reduzieren. Jeder literarische Text erscheint vielmehr als Teil von Wissensordnungen, sofern er die Grenzen von Sichtbarem und Unsichtbarem, Aussagbarem und Nicht-Aussagbarem fortsetzt, bestätigt, korrigiert oder verrückt. Literarische Texte und Wissensordnungen stehen in keiner vorhersehbaren und entschiedenen Relation zueinander, ihr Zusammenhang ergibt sich vielmehr in einem uneindeutigen Modus der Disparatheit. Literatur ist selbst eine spezifische Wissensform, [...] ist Gegenstand des Wissens, [...] ist ein Funktionselement des Wissens, [...] und Literatur wird schließlich durch eine Ordnung des Wissens produziert, dort etwa, wo ihre Sprache wie keine andere beauftragt scheint, das Uneingestandene zu sagen, das Geheimste zu formulieren, das Unsagbare ans Licht zu holen.« (Vogl 2004: 15f.) 3 | Die folgenden Schilderungen stammen aus eigener Erfahrung, da ich während eines Forschungsaufenthalt an der NTNU Trondheim von 2009 bis 2011 mit meiner Frau und unserer Tochter in Trondheim gelebt habe.

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seien. Auffällig sodann die regelmäßigen Zeitungsanzeigen des Gesundheitsministeriums im Winter 2009/10, die Auskunft darüber erteilten, wann es wieder wo wie viele nächste H1N1-Impfdosen geben würde – kurz darauf sah man in den abendlichen Fernsehnachrichten die langen Schlangen aus norwegischen Mitbürgern vor den medizinischen Zentren, die sich dort zur Impfung anstellten. Fragte man Bekannte oder Kollegen, warum sie nicht zögerten, sich impfen zu lassen (es gäbe ja gute Gründe für Bedenken), hieß es sinngemäß: Sicher werde die Regierung nichts Schlechtes empfehlen; außerdem sei es wichtig, andere (!) nicht anzustecken. In diesem Zusammenhang wurde in der Presse gelobt, dass die Regierung – geschehen etwa in der zweitgrößten norwegischen Stadt Bergen – fassadengroße Plakate aufhängen ließ, die unter Angabe von Telefonnummer, Mailadresse und Homepage darauf hinwiesen, wo weitere Infos zur Schweinegrippeimpfung zu finden seien. Die sich darauf beziehenden Leserbriefe der Trondheimer Regionalzeitung Adresseavisen forderten das ausdrücklich für die eigene Stadt auch (vgl. Adresseavisen 2009: 5).4 Unbestritten akzeptiert ist zudem die alltäglich mehrfach Anwendung findende sogenannte fødselsnummer – eine persönliche, mit dem Geburtsdatum verbundene Identifikations- und Registrierungsnummer, die 1964 von der Regierung eingeführt und seither von der Finanzbehörde Skattetaten verwaltet wird. Man benötigt sie für alle institutionellen bzw. administrativen Kontakte (Arztbehandlung, Bankgeschäfte, Kreditkarten, Telefonanschluss, Arbeitserlaubnis und -vertrag, Mietvertrag etc.). Ohne sie ist man ein Niemand, mit ihr aber kann man nahezu alles vereinbaren oder initiieren, was die Verwaltung oder Finanzierung des eigenen Lebens betrifft. Eine Debatte über Möglichkeiten und Gefahren digitaler Vernetzung der Behörden – die, vermittelt über die fødselsnummer, ein Kinderspiel wäre – und der biopolitischen und ökonomischen Interessen an einem gläsernen Bürger wird aber in Norwegen eben so wenig geführt, wie weitgehender Konsens über die Richtigkeit jener Praxis besteht, die Finanzverhältnisse aller in Norwegen Steuern zahlenden Einwohner einmal jährlich in Zeitungen bzw. im Internet zu veröffentlichen. Wenn man möchte kann man also durchaus (exakt) wissen, wie die persönlichen Steuer- bzw. Einkommensverhältnisse des Nachbarn, des Stürmerstars von Rosenborg Trondheim, der Kollegin im Büro nebenan oder einer x-beliebigen Person sind. Selbstverständlich: Diese kleine Reihe an Beispielen für die norwegische Affirmation von und Orientierung an ›Gemeinschaft‹ bzw. an ›pluraler Sozialität‹ (und nicht zuerst an den Bedürfnissen oder Rechten des ›Individuums‹ oder ›Einzelnen‹) ist rein subjektiv, meinen/unseren Lebensumständen und -kontexten in Trondheim geschuldet und ließe sich problemlos erweitern (in nahezu allen sozialen Situationen spricht man sich sofort mit dem Vertrauen bildenden »Du« an; hierarchisierendes Verhalten ist verpönt; auffällige individuelle Gestaltung durch Kleidung oder Frisur wird eher vermieden; akademische Grade oder Titel 4  |  27. November 2009, 5.

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werden nicht verwendet; Tango Argentino zu tanzen beispielsweise, wird nicht als szeneartiges Tun aufgefasst, sondern dafür wird ein Tangoklubb Trondheim gegründet; und so weiter). Alles ganz easy going also, so lässt es sich leben im Land mit der weltweit höchsten Lebensqualität (vgl. United Nations Development Programme 2009), aufgehoben im Schoß der Familie, der sozialen Gemeinschaft, des nachbarschaftlichen Netzwerkes (das einmal im Jahr zusammenkommt, um sich beim sogenannten dugnat der Pflege und Säuberung des gemeinsam bewohnten Areals anzunehmen) – gefeit gegen jeden allzu deutlichen oder konturierten Habitus von Individualität. Welche Machteffekte, Verhaltensweisen, Medien- und Wahrnehmungsdispositive führen dazu, dass die Subjekte einer Gesellschaft sich eher über ihre Gemeinschaftlichkeit oder – anders – eher über die Kraft der Individualität verstehen, entwerfen, anerkennen? Es ist klar, dass die Beantwortung einer solchen Frage das Programm einer spezifischen Philosophie des Sozialen bzw. Politischen erfordert (vgl. Bedorf 2003, 2010; Böckelmann/Morgenroth 2008). Um das etwas handlicher zu halten, nochmals der Griff zur norwegischen Literatur, um mit jener Beantwortung im Rahmen dieser ›subjektiven Exposition‹ wenigstens und vielleicht einen Schritt weiter zu kommen. In Aksel Sandemoses Roman Ein Flüchtling kreuzt seine Spur (Sandemose 1973) wird auf gespenstische Weise sichtbar, was die kulturelle Grundlage der oben skizzierten, eigenen und aktuellen Beobachtungen und Erfahrungen im norwegischen Leben sein könnte. Im Roman legt ein Ich-Erzähler Zeugnis über sein Leben ab. Ausgangs- und Motivationspunkt dieser Bekenntnisse ist der Umstand, dass der Protagonist als junger Mann einen anderen Mann getötet hat. In der Selbstbefragung, wie es dazu kommen konnte, entfaltet der Roman das Psychogramm eines Individuums und in eins – so die innere Logik der Argumentation – die Analyse einer sozialen Gemeinschaft im fiktiven Örtchen Jante, pars pro toto für die Gesellschaft, die mit ihren biopolitischen Disziplinarmaßnahmen am Individualkörper und den gouvernementalen Techniken des Verhaltensdesigns den Charakter des jungen Mannes schließlich so justiert hatte, dass er in jener Konfliktsituation seiner Jugendzeit mit tödlicher Gewalt reagierte. Das System der Sätze aber, welches das »Feld von Möglichkeiten« (Foucault 2005: 286) seiner Handlungen, seiner Subjektivität mithin, gouvernemental beherrschte und heimsuchte, vermag er irgendwann zu formulieren und nennt es loven – das Gesetz. Es ist das Janteloven, das ›Jantegesetz‹, und besteht aus folgenden Sätzen: »1. Du sollst nicht glauben, daß du etwas darstellst. 2. Du sollst nicht glauben, daß du ebensoviel bist wie wir. 3. Du sollst nicht glauben, daß du klüger bist als wir. 4. Du sollst dir nicht einbilden, daß du besser bist als wir. 5. Du sollst nicht glauben, daß du mehr weißt als wir. 6. Du sollst nicht glauben, daß du mehr bist als wir. 7. Du sollst nicht glauben, daß du zu etwas taugst. 8. Du sollst nicht über uns lachen. 9. Du sollst nicht glauben, daß sich je-

Mediale Gouvernementalität mand um dich kümmert. 10. Du sollst nicht glauben, daß du uns etwas beibringen kannst.« (Sandemose 1973: 82)

Zu verstehen ist das, so legt der Roman nahe, als Gesetz, als kulturelle Matrix und gouvernementale Maschine zur Produktion von Gemeinschaft als Stellgröße des Individuums. Eine hieran ansetzende Kulturreflexion könnte in mindestens zwei Richtungen fortfahren. Entweder man nimmt die zehn Sätze des Janteloven for real (vgl. Fußnote 2) und geht den Weg durch die vergangenen, erlebnisorientierten Absätze hindurch zurück. Dann ließen sich die Beispiele aus dem norwegischen Alltagsleben ausführlicher darstellen und ergänzen und daraufhin überprüfen, inwiefern in ihnen das Janteloven seine kulturelle Wirksamkeit schon entfaltet hat. Oder man versteht die sehr flexiblen Begründungswege, Argumentationswege, Handlungsmöglichkeiten (inklusive ihrer medialen, künstlerischen und literarischen Aussagen und Repräsentationen) des norwegischen Alltags insgesamt als diskursiven und dispositiv-medialen Prozess zur liberalen Abstimmung von Individuum (›Subjekt‹), Staat, Ökonomie und Gemeinschaft aufeinander, den man mit Foucault als ›Regierung‹ bzw. ›Gouvernementalität‹ bezeichnen kann. Für beide Wege bliebe zu beachten, dass es nicht um das »Problem der Souveränität« (Foucault 2003b: 200) geht, sondern um die Freilegung (oder etwas vorsichtiger formuliert: die Prolegomena einer Freilegung) der Praxis-Bedingungen des politischen bzw. gesellschaftlichen Handelns in medialer Hinsicht – wie man in den kommenden Abschnitten sehen wird, zeigt Foucaults Konzept der Gouvernementalität insofern es medientheoretisch weitergedacht wird, dass eine solche gesellschaftliche Praxis nicht ohne jenes »Imaginäre« auskommt, von dem Cornelius Castoriadis sagt, es »handelt sich dabei um die elementare und nicht weiter zurückführbare Fähigkeit, ein Bild hervorzurufen« (Castoriadis 1984: 218).

N achgestellte V orbemerkung Jeder Text hat eine Zeit, in der er geschrieben wird und eine andere Zeit, in der er publiziert wird (zumindest gilt diese zeitliche Fuge unter den Bedingungen einer Publikation im traditionellen Medium des Buches). Manchmal treten Ereignisse auf, die zwischen jenen beiden Zeiten liegen und die das ursprünglich Geschriebene für einen danach liegenden Zeitpunkt der Fertigstellung des Textes für den Druck in teils oder gänzlich anderem Licht erscheinen lassen. Es mag dann notwendig scheinen, den fertig geglaubten Text zu modifizieren: Man könnte den betroffenen Textteil tilgen, man könnte ihn auch stillschweigend, also unkommentiert umschreiben bzw. aktualisieren. Doch das hieße auch immer, das Anlass gebende Ereignis als solches nicht zur Geltung kommen zu lassen. Für alles, was in diesem ersten Abschnitt, in dem es um eine betont und bewusst persönliche Reflektion der eigenen gouvernementalen Lebenssituation in

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Norwegen ging, geschrieben steht (ursprünglich verfasst Anfang 2011), waren die Anschläge des 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya ein solches Ereignis. Man mag den leise ironischen oder zweifelnden Unterton der vergangenen Seiten bemerkt haben, der, indirekt auf die Vorzüge einer Stärkung individueller politisch-sozialer Freiheiten anspielend, eine skeptische Distanz gegenüber der in Norwegen weit verbreiteten Gemeinschaftlichkeitsorientiertheit einnimmt. Aber die Reaktionen der Norweger auf die Anschläge haben mir gezeigt, dass jene Ironie und Skepsis zu kurz gedacht war. Denn diese Gemeinschaftlichkeiten in Norwegen (wie sie durch meine alltagsorientierten Beispiele illustriert wurden) versuchen nicht, einen despotischen Sozialismus oder Kommunitarismus (etwa im Sinne des Janteloven) zu realisieren. Vielmehr: Wo in Deutschland schnell eine Debatte über die Verschärfung der Sicherheits- und Überwachungsbedingungen eingesetzt hätte, entscheiden die Norweger beispielsweise – fast möchte man sagen: ›jetzt erst recht‹ –, dass die Polizisten auch weiterhin weitestgehend unbewaffnet bleiben, es keine Gesetzesverschärfung und auch keinen Ausbau der Überwachung des öffentlichen Raumes geben soll. Wo in anderen Nationen gerne das Freund-Feind-Diastema gepflegt und nach einem stärker durchgreifenden Staat gerufen wird, hält Norwegens Regierungschef Jens Stoltenberg in einer Rede fest: »Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.« (Stoltenberg 2011) Diese Zusammenfassung fand in der Bevölkerung große Zustimmung – nicht zuletzt bei den seit dem Sommer 2011 zahlreich und überall im Land stattfindenden öffentlichen Trauermärschen, die auch als Demonstrationen für eine offene Gesellschaft im oben genannten Sinne gedacht waren und sind. Solche und andere (individuelle wie gemeinschaftliche) Reaktionen auf die Attentate sind unter anderem der Grund, warum diese Bemerkungen hier stehen (bevor der Text ab dem folgenden Absatz mit seinem eigentlichen Gedanken Fahrt aufnimmt). Zum einen werfen sie nicht nur die allgemeine Frage auf, ob die Ereignisse auf Utøya und der Prozess gegen Anders Breivik die norwegische Gemeinschaft nicht doch in ihrer gouvernementalen Subjektivität, wenn schon nicht akut erschüttert haben, so doch nachhaltig verändern werden. Zum anderen ist diese ›Nachgestellte Vorbemerkung‹ nicht zuletzt eine Effektdokumentation medialer Regierungsverhältnisse in eigener Sache im klassischen Spannungsverhältnis politischer Philosophie, dem von Individuum und Gemeinschaft. Und das in besonderer Weise: Jean-Luc Nancy stellt die Unterscheidung von Individuum und Gemeinschaft aus bestimmten (hier nicht auszuführenden) Gründen grundsätzlich in Frage und sieht in Modellen ihres Zusammendenkens als un-bedingte Entitäten – so könnte man für den vorliegenden Kontext übersetzen – vielmehr eine Form spezifischer Relationalität am Werk, die bereits Resultat gouvernementaler Effekte ist. Gleichwohl ist die gegenseitige Bedingtheit von Individuum (im Sinne eines »Sich«) und Gemeinschaft (im Sinne eines »Wir«) auch für Nancy nicht fraglich. Vielmehr pointiert es, dass nicht eines dem anderen vorausgeht oder sich eines vom anderen isolieren lasse:

Mediale Gouvernementalität »Das ›Sich‹, ›sich‹ im Allgemeinen, findet mit statt, bevor es für sich-selbst und/oder für den Anderen stattfindet. Diese ›Fürheit‹ des Selbst ist dem Selbst und dem Anderen vorgängig, vorgängig folglich auch der Unterscheidung eines Bewußtseins und seiner Welt. […] ›Wir‹ sagen zu wollen hat nichts Sentimentales, nichts Familiäres und auch nichts ›Kommunitaristisches‹ an sich. Hier fordert die Existenz, was ihr zukommt, oder ihre Bedingung: die Ko-Existenz.« (Nancy 2004: 72f.)

Der folgende Text stellt eine Fortschreibung dar und eine Sichtung. Eine Fortschreibung, insofern hier Überlegungen Michel Foucaults zur ›Biopolitik‹ und (insbesondere) zur Gouvernementalität in eine medienwissenschaftliche – oder genauer: medientheoretische und -ästhetische – Perspektive gerückt werden sollen. Und insofern Biopolitik jenes Moment von Gouvernementalität ist, das es ermöglicht, Körper zu ordnen, anzuordnen, umzuordnen, zu vermessen und ein Wissen über den und die Körper in ihrer Kollektivität und Individualität anzulegen und auszuwerten. Es geht hier darum, darüber nachzudenken, wie jene Körper mit den Möglichkeiten des Könnens, Wollens und Wissens ihrer subjektiven Handlungen und Erfahrungen verknüpft werden und inwiefern Medien Machtpraktiken bzw. -strategien für diese Verknüpfung sind. Eine Sichtung stellt dieser Text dar, weil mit der angekündigten Fortschreibung nicht unberührtes Diskurs-Neuland betreten wird. Vielmehr sind – mal mehr, mal weniger explizit – bereits einige Markierungen vorgenommen worden, die gesichtet und genutzt werden wollen. Das heißt auch, dass die Ausführungen jener in der Folge zu Wort kommenden anderen Autorinnen und Autoren hier nicht zur kritischen Absetzung benutzt und vergeudet, sondern als anderweitige Ansätze vielmehr für einige eigene programmatische Überlegungen willkommen geheißen und gewürdigt werden; für – hier unterstellte – gemeinsame Interessen an der Reflexion über das, was ich, wie im Titel annonciert, im Folgenden ›Mediale Gouvernementalität‹ nenne.

O rtsbestimmung — F oucaults S tudien zu G ouvernementalität und B iopolitik Die ›Regierung‹ – jene moderne, dezentrale und liberale Machttechnik und -taktik – ist das politische »Ge-Stell« (Heidegger) unserer Zeit. Eine souveräne Entscheidung, ob wir regiert werden (wollen) oder nicht, steht uns nicht zur Verfügung, allenfalls der Versuch, die Frage nach dem Wie des Regiert-Werdens zu beantworten. In den Gouvernementalitätsstudien Michel Foucaults aus den Vorlesungen vom Ende der 1970er Jahre, versucht er jene Punkte auszumachen, »welche die Definition dessen betreffen, was unter der Regierung des Staates verstanden wird und was wir […] die Regierung in ihrer politischen Form nennen« (Foucault 2006: 136). Damit ist für die eigene Gegenwart die Erörterung eines Problemho-

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rizontes begonnen, der sich anders, mit eigener »Intensität«, im 16. Jahrhundert schon einmal stellte und bei dem es um Fragen des »‚Wie-regiert-Werdens« geht, »durch wen, bis zu welchem Punkt, zu welchen Zwecken, durch welche Methoden«? (Foucault 2006: 136) So kann sichtbar und beschreibbar werden, wie mit der modernen Dezentralisierung von Macht neuartige Institutionen, Technologien, Taktiken und Handlungsweisen entstehen, die in ihrer binnendifferenzierten Gesamtheit als ›Regierung‹ bezeichnet werden können. Eine solche Gesamtheit als ›Regierung‹ anzusprechen, hat die Entscheidung zur Voraussetzung, darunter anderes und mehr zu verstehen, als etwa eine partei- und funktionärspolitische ›Koalition‹ in einem Parlament. ›Regierung‹ verweist demnach auf »zahlreiche und unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen.« (Lemke/ Krasmann/Bröckling 2000: 10)

Das Regieren regelt, ordnet, ermöglicht etwa unsere demokratischen Bindungen, es führt uns individuell dazu, über Sinn und Zweck der Schweinegrippeimpfung nachzudenken und zu diskutieren, im Zug nicht zu rauchen, eine spezifische Verantwortung für unsere Kinder zu übernehmen, für Themen mit Klärungsbedarf Öffentlichkeiten herzustellen, unser emotionales Begehren zu sozialisieren; es bringt uns dazu – um es mit Sloterdijk (und Rilke) zu sagen – mehr »zu üben« und vielleicht »unser Leben zu verändern« (vgl. Sloterdijk 2009), aber auch zu behaupten, wir hätten nun einen Urlaub nötig – und vieles mehr. Regierung nimmt heute also verschiedene Formen der Selbst- und Fremd-Führung an und ist damit auch zeitgenössisches Medium von Macht, das sowohl in individuellen als auch in kollektiven Zusammenhängen wirksam ist. Foucault hatte ›Macht‹ im Feld von Regierung entsprechend charakterisiert: »Sie ist ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können. Sie ist auf Handeln gerichtetes Handeln.« (Foucault 2005: 286)

Das Besondere von Gouvernementalität ist demnach, »freie« Subjekte (Foucault 2005: 287) zu adressieren, indem deren Verhalten und Handlungen in eine spezifische Spannung von Möglichkeit und Notwendigkeit versetzt wird. Doch wie gesagt, ›Regierung‹ ist ein Vermittlungsbegriff, der sich nicht nur auf Technologien des Selbst, auf die subjektive Regierung bzw. die Regierung der Subjekte bezieht, sondern auch – etwa hinsichtlich biopolitischer Maßnahmen des Staates – die

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gouvernementale Führung von Kollektiven (zum Beispiel der ›Bevölkerung‹) einschließt. In der vierten Sitzung seiner Vorlesungsreihe Sicherheit, Territorium, Bevölkerung vom 1. Februar 1978 – die Foucault laut eigener Aussage nachträglich lieber eine »Geschichte der ›Gouvernementalität‹« (Foucault 2006: 162) genannt hätte –, wendet sich Foucault explizit der historisch-politischen Entstehung und begrifflichen Bedeutung dessen zu, was er als »Gouvernementalität« bezeichnet.5 Nach der Auseinandersetzung mit Macchiavelli und der auf ihn folgenden anti-macchiavellistischen Literatur6 kommt Foucault hier schließlich an den Horizont der Moderne: Die zusammenhängenden demographischen, technisch-industriellen, monetären und landwirtschaftlichen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts sind verbunden mit der »Emergenz des Problems der Bevölkerung« (Foucault 2006: 156) und stoßen neue Reflexionen einer Wissenschaft vom Regieren an, einer Regierungskunst und der Neuausrichtung der Ökonomie auf etwas anderes als die Familie (Abstandnahme vom Konzept der oikonomia). »[Die Bevölkerung erscheint als] Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen, jedoch auch als Objekt in den Händen der Regierung. Gegenüber der Regierung ist sich die Bevölkerung bewußt, was sie will, und zugleich weiß sie nichts von dem, was man sie tun läßt. Das Interesse als Bewußtsein jedes einzelnen Individuums, das mit den übrigen die Bevölkerung bildet, und das Interesse als Interesse der Bevölkerung – ganz gleich, was die individuellen Interessen und Bestrebungen derer, aus denen sie sich zusammensetzt, sein mögen – sind die Zielscheibe und das Hauptinstrument der Regierung der Bevölkerungen.« (Foucault 2006: 158f.)

Mit Gouvernementalität will Foucault demnach dreierlei Qualitäten des Verhältnisses von Macht, Gemeinschaft und Individuum erfassen, von denen insbesondere die folgende für eine Analyse Medialer Gouvernementalität interessant ist: »Gouvernementalität« als die Praxis bzw. Ausübung einer »sehr komplexe[n] 5 | Dieses Vortragsmanuskript war – nach einem Erstabdruck 1978 in der italienischen Zeitschrift Aut-Aut, – bereits in der französischen (1994) und der deutschen (2003) Ausgabe der Dits et Écrits publiziert. Im Folgenden wird darauf verzichtet, den gedanklichen, theoretischen und publizistischen Kontext des Foucault’schen Konzepts der Gouvernementalität zu rekonstruieren bzw. zu entfalten (vgl. Foucault 2003, 2005, 2006, 2006a). Denn erstens ist das nicht Thema des vorliegenden Beitrags, zweitens gibt es dazu seit einiger Zeit aufschlussreiche Forschungsbeiträge – z.B. die »Situierung der Vorlesung« durch Michel Sennelart (vgl. Foucault 2006), sodann: vgl. Lemke 1997, 2007, 2008; Bröckling/Krasmann/ Lemke 2000; Krasmann/Volkmer 2007; Gertenbach 2008. 6  |  Foucault bespricht ausführlich und exemplarisch Guillaume de La Perrière. In Hinblick auf den sich nach und nach konturierenden modernen Begriff von ›Regierung‹ ist besonders das Verhältnis von »Menschen und Dingen« wichtig und interessant (vgl. Foucault 2006: 145ff.).

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Form der Macht«, die sich in ihrer Gesamtheit aus »den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken« bildet, welche als »Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive« hat (Foucault 2006: 162).7 Gouvernementalität als Machtform findet also nicht in einer zentralen, geheimen, verschwörerischen Kommandozentrale namens ›Staat‹ statt; und weder Staat noch Ökonomie sind Regulierungs-Institution bzw. -Instanz jenseits gesellschaftlicher Praxis bzw. dieser gegenüber gestellt. Im Gegenteil: Gouvernementalität als Machtform findet als vielfältiges Geflecht gesellschaftlicher Praxen von Fremd- und Selbst-Regierung statt (und der Staat ist lediglich die prägnanteste der auf das Kollektiv gerichteten Regierungstechniken). Als Herrschaftstechnologie ist Gouvernementalität ein biopolitisches Wissen über Kollektive und Individuen, als Selbsttechnologie (Technologien des Selbst) ist sie performative Rationalität, gemäß der Subjekte agieren, planen, wünschen, hoffen, die Möglichkeiten ihrer Handlungen auszuschöpfen oder auch nicht, kurz: sich als »freie« Subjekte entwerfen und verstehen (wollen) (vgl. Foucault 2005a: 210; 2005: 286f.; Lemke/ Krasmann/Bröckling 2000: 20f.). Während also Gouvernementalität, allgemein gesagt, die Form der gesellschaftlichen Gesamtheit von Politik bezeichnet, steht in ihr, spezifischer also, Regierung für die Formen, Weisen und Wege der Verknüpfung von Herrschafts- und Selbsttechnologien selbst. »I think that if one wants to analyze the genealogy of the subject in Western civilization, he has to take into account not only techniques of domination but also techniques of the self. Let’s say: he has to take into account the interaction between those two types of techniques – techniques of domination and techniques of the self. He has to take into account the points where the technologies of domination of individuals over one another have recourse to processes by which the individual acts upon himself. And conversely, he has to take into account the points where the techniques of the self are integrated into structures of coercion or domination. The contract point, where the individuals are driven by others is tied to the way they conduct themselves, is what we can call, I think, government. Governing people, in the broad meaning of the word, governing people is not a way to force people to do what the governor wants; it is always a versatile equilibrium, with complementarity and conflicts between techniques which assure coercion and processes through which the self is constructed or modified by himself.« (Foucault 1993: 203f.)

7  |  Zweitens kann ›Gouvernementalität‹ verstanden werden als abendländisch-historische Tendenz, die dazu geführt hat, dass sich ›Regierung‹ gegenüber Souveränität und Disziplin (als Verhältnisbestimmung zu dem, was heute Bevölkerung heißt) durchgesetzt hat. Drittens ist sie Ergebnis eines historiographischen Vorgangs: Der Gerechtigkeitsstaat im Mittelalter wird zum Verwaltungsstaat und »gouvernementalisiert« sich dann (Foucault 2006: 162f.).

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Hieran anschließend, hin zu einer möglichen Charakterisierung Medialer Gouvernementalität (genauer gesagt: einer Ortsbestimmung im Werk Foucaults, von wo aus Überlegungen zu Medialer Gouvernementalität angesetzt werden könnten), ist es sinnvoll, eine weitere begriffliche Differenzierung zu berücksichtigen. In »Subjekt und Macht« (vgl. Foucault 1982) stellt Foucault die Frage »Wie wird Macht ausgeübt?« (Foucault 2005: 281ff.) – durch die Beschäftigung mit der Frage nach dem Wie, mit der Frage danach, also »was da geschieht, wenn jemand, wie man sagt, Macht über andere ausübt«, will er die Möglichkeit einer »kritische[n] Erforschung des Themas Macht vorbereiten«, indem er gerade nicht nach dem substanzialisierenden »Was«, dem »Woher« oder »Warum« von Macht fragt, sondern nach der Praxis und Performativität gesellschaftlicher Beziehungen, genauer: der Beziehungen von Mensch zu Mensch, Mensch zu Ding und des Menschen zu sich selbst, zu seinen Fertigkeiten, seiner Seele, seinen Gedanken, seinem Verhalten, seinem Körper (Foucault 2005: 281). Zur Konturierung solcher Relationen als Machtbeziehungen, um die es Foucault bekanntermaßen vor allem geht und bei denen im Sinne des obigen Regierungsbegriffs ein »Ensemble wechselseitig induzierter und aufeinander reagierender Handlungen« im Spiel ist, grenzt er sie (heuristisch) gegen zwei andere »Beziehungsarten« (Foucault 2005: 282) ab. Da sind zum einen jene machtvollen Beziehungen, die der Mensch zu den Dingen unterhält; und Foucault nennt diese Form der Beziehung »objektive Fähigkeiten«. Denn die Macht, die wir über Dinge ausüben, »so dass man sie verändern, benutzen, verbrauchen oder zerstören kann«, ist eine, »die auf unmittelbar körperliche oder über Werkzeuge vermittelte Fertigkeiten verweist« (Foucault 2005: 281) – man könnte das, verstanden als basales anthropologisches und kulturelles Paradigma, auch ›Arbeit‹ nennen (vgl. Skrandies 2007, 2008). Zum zweiten – und dies ist nun der Ort des Foucault’schen Gouvernementalitätstheorems, an dem die Medien direkt und konzeptionell bedacht sind – unterscheidet Foucault von den Machtbeziehungen, was er die ›Kommunikationsbeziehungen‹ nennt. Diese übertragen »über eine Sprache, ein Zeichensystem oder ein anderes symbolisches Medium Information« (Foucault 2005: 282). Das ist also jener »Bereich« von Beziehungen »der Zeichen, der Kommunikation, der Reziprozität und Erzeugung von Sinn« (Foucault 2005: 282) – und »schon weil sie den Informationsstand der Partner verändern, induzieren sie Machteffekte. Machtbeziehungen wiederum laufen zu ganz erheblichen Teilen über die Erzeugung und den Austausch von Zeichen« (Foucault 2005: 283). Man sieht schon an diesen knappen Bemerkungen Foucaults, dass es ihm zwar um eine heuristische Trennung der drei Beziehungsformen geht, um die ihn interessierende Analyse des »Wie« der Macht voranbringen zu können. Zugleich aber zögert er nicht, auf das hybride Verhältnis der Beziehungsarten hinzuweisen (oft noch im selben Satz). Für weiterführende Überlegungen zum Verhältnis von Gouvernementalität und Medien scheint also eine parasitäre Strategie notwendig: Denn einerseits lässt sich zwar nutzen, dass Foucault eine recht genaue Standort-

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beschreibung der ›Kommunikationsbeziehungen‹ im Feld der Regierungs- und Macht-Analysen vorgenommen hat. Foucaults heuristische Trennung von ›objektiven Fähigkeiten‹, ›Machtbeziehungen‹ und ›Kommunikationsbeziehungen‹ ist hilfreich für eine je spezifischere Beantwortung der Frage, wie Macht ausgeübt wird. Zudem betont Foucault, dass es sich – bei aller Notwendigkeit analytischer Unterscheidung – »um drei Arten von Beziehungen [handelt], die in Wirklichkeit eng miteinander verschränkt sind, sich gegenseitig stützen und einander als Instrumente dienen.« (Foucault 2005: 282; vgl. dort auch die Fußnote zu Habermas) Andererseits jedoch hat Foucault keinen elaborierten Medien- bzw. Medialitätsbegriff (vgl. Schneider 2007: 121f.) – wie gesehen, beschränkt sich dieser bei ihm auf die Vorstellung der Informationsübertragung. Dieses komplexe Desiderat wäre also weiter auszuarbeiten – erstens die Medieninhalte als Angebote des Subjektmanagements; zweitens die inszenatorischen Strategien von Medien für die Sicherung des Funktionierens jener Regierungskunst der Bevölkerung; drittens ein Begriff von ›Medium‹ im Foucault’schen Sinne einer ›Regierungstechnologie des Selbst‹; viertens der interventionistische Charakter des Medialen als Eröffnungsbewegung des Politischen von Handlungsformen und Praxisfeldern (›Regierung‹ hebt allererst in dieser Eröffnungsbewegung an zu sein.).

»D u bist D eutschl and « — E xempl arische E röffnung der P roblematisierung M edialer G ouvernementalität Ab September 2005 ging die sowohl hochgelobte als auch stark kritisierte Werbekampagne Du bist Deutschland an die Öffentlichkeit: In der Kinowerbung, im Fernsehen, auf Großplakaten der Außenwerbung, ganzseitigen Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften und mit einer interaktiven Homepage im Internet – wir alle waren angesprochen, fast überall. Im statistischen Mittel hatte jeder Bundesbürger sechzehn Mal Kontakt mit der Kampagne und der Grad an öffentlicher Präsenz lässt sich wohl nur mit der Wir-sind-Papst-Euphorie und dem späteren fußballerischen Sommermärchen 2006 vergleichen. Auf Initiative Gerhard Schröders schlossen sich über zweihundert Verbände, Unternehmen, Prominente und Institutionen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften zusammen, drei Werbeagenturen wurden beauftragt, diese Kampagne des Social Marketing zu entwickeln. Die beteiligten Medienunternehmen verzichteten auf die Einnahmen, die sie sonst durch den Verkauf von Sendezeit oder Werbefläche erzielt hätten. Neben dem Internetauftritt und personengebundenen Spots mit Prominenten, bestand die Kampagne in den Printmedien aus »Du bist«-Apellen, bei denen als pars pro toto eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte für spezifische soziale, kulturelle, moralische oder auch ergologisch-wirtschaftliche Tugenden bzw. Werte einstand, die dem Leser durch einen kurzen Begleittext mittels direkter Anrede näher gebracht werden und subjektiv ansprechen sollten (du bist, du entschei-

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dest, du kannst, es hängt von dir ab etc.). Eine jener historischen Personen war – was läge näher? – Ludwig Erhard, steht sein Name doch für den wirtschaftlichen Aufschwung der jungen Bundesrepublik. Der folgende Text (»Du bist Ludwig Erhard«) war in der Werbeanzeige kombiniert mit dem Bild einer älteren, abgearbeiteten, gleichwohl stolzen Bäuerin, die einen übergroßen Kohlkopf auf dem Arm trägt: »Du glaubst, dass ein Wunder das Ergebnis harter Arbeit ist? Dann hast du etwas mit Ludwig Erhard gemeinsam. Sein erklärtes Ziel: ›Wohlstand für alle.’ Dafür hat er gekämpft und geschuftet. Auch du kannst dir dein Wunder erarbeiten. Ob du dein Ziel erreichst, entscheidest du. Nicht das Schicksal. Und die Entscheidung, ob du auf deinen Erfolg mit Champagner anstoßen oder lieber eine Zigarre rauchen willst, kann auch nur einer treffen: du. Du bist Deutschland.« (Vgl. Schmid 2006)

Der rhetorische Kern oder Kniff des Ganzen lag in der Verknüpfung des individuell angesprochenen Rezipienten mit den Aufgaben einer Gemeinschaft: Was Ludwig Erhard, August Thyssen oder Beate Uhse in den vergangenen Jahrzehnten für Deutschland getan haben, kannst »Du« mit ein wenig Eigeninitiative – trotz oder gerade wegen Hartz-IV auch heute (für Dich und die Gemeinschaft) schaffen und erarbeiten. Das sogenannte »Mission Statement« der Initiatoren von 2004 spricht diese Verbindung von adressiertem Einzelnen und Gemeinschaft direkt aus: »Wir wollen die Menschen in Deutschland für innovative Ideen und Erfindungen begeistern. Wir werden das Vertrauen des Einzelnen in seine Leistungsfähigkeit stärken, zu Veränderungen ermutigen und die Freude an Kreativität wecken. […] In einer von allen gesellschaftlichen Gruppen getragenen Kultur des Ideenreichtums gehen motivierte und hervorragend ausgebildete Menschen aktiv und gestaltend neue Wege. Deutschlands Potenziale werden optimal genutzt. Innovationen führen konsequent zu Investitionen, globalen Markterfolgen und neuen Arbeitsplätzen.« (Vgl. Partner für Innovation: Mission Statement 2004)

Diese Kampagne kann insofern als ein Beispiel für die gouvernementale Konstituierung eines diskursiven und (massen-)medialen Raums einer Politik der Gemeinschaft verstanden werden – adressiert wird das »Du« zwar als Teil einer Gemeinschaft (Deutschland als Projekt und als Bevölkerung), es kann (und muss) aber aufgrund der Heterogenität der Botschafter, der medialen Formen und der ästhetischen Gestaltung gleichwohl individuell entscheiden, wie es sich dazu verhält. Mit der medieninduzierten Fiktion von Gemeinschaft im Kontext der Kampagne, findet sich das zum Subjekt ernannte Individuum als eine Art Kleinunternehmer, als eine Ich-AG ganz besonderer Art wieder. Erstens ist es selbst nun für die eigene Lebensführung, Leistungsfähigkeit und Arbeitsmoral verantwortlich – und zugleich Objekt einer gouvernementalen Praxis der ›Aktivierung‹: Wie in einer Art überdimensionalen ›Selbsthilfegruppe‹ wird ihm die Gefahr des eige-

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nen Nichtstuns, der eigenen Passitivität oder Hilf- und Ratlosigkeit unterstellt und vorgeführt, die durch Aktivierung sodann zu überwinden möglich sei. »Aktivierung meint somit die Zuschreibung von Verantwortung auch unter Bedingungen, unter denen wir nach üblicher Betrachtung gerade nicht in der Lage sind, wirklich Verantwortung zu übernehmen. Aktiviert ist nicht nur der, der tatsächlich ›aktiv‹ und erfolgreich zu agieren versteht, sondern auch derjenige, der dabei scheitert, resigniert und sich dies nun zurechnen lassen muss.« (Kocyba 2004: 20f.) 8

Zweitens erfährt unser Individualunternehmer – angesichts der ubiquitären Verbindung von Arbeit und Eigenleistung in der Kampagne –, dass die Regierung von der mauen Stimmung und Arbeitsmoral der Bevölkerung und deren Auswirkungen auf die Ökonomie weiß. Das Subjekt hat ein »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007; vgl. auch: Bröckling/Krasmann/Lemke 2000; Reither 2008) in eigener Sache zu werden (und zu bleiben), wenn es sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen will, das von der Regierung angebotene »Empowerment« – also »Ziel, Mittel, Prozess und Ergebnis persönlicher wie sozialer Veränderung« (Bröckling 2004: 55) – als Chance des »Selbstmanagements« ausgeschlagen oder schlicht ›verschlafen‹ zu haben. Technischer ausgedrückt: Die Kampagne ist ein Ausdruck »[z]eitgenössische[r] Machtpraktiken, die im Wesentlichen durch mittelbare Formen der Anleitung und Führung [operieren]. Sie wirken weniger auf die Menschen und ihr Verhalten selbst ein als auf die Situationen und Kontexte, in denen Menschen handeln. Zwar können sie auch unterdrücken, zwingen, verbieten und verhindern, doch die Steuerungsmechanismen eröffnen vor allem ›Möglichkeitsfelder‹: Sie fördern bestimmte Verhaltensweisen und suchen andere unwahrscheinlicher zu machen. Sie mögen Erfahrungs- und Wirklichkeitsbereiche verhüllen oder verstellen, zunächst einmal produzieren sie jedoch selbst Wirklichkeit und präformieren Alltagsverstand wie wissenschaftliche Wahrheiten.« (Bröckling/ Krasmann/Lemke 2004a: 9f.)

Die massenhafte und öffentliche Zugänglichkeit der Medienkampagne korreliert mit dem Wissen des Subjekts um die eigene, regierte Arbeitsleistung. In der für das Beispiel der Kampagne angedeuteten Zusammenschau von Medienästhetik und Gouvernementalität erscheint das multimedial gesetzte »Du bist Deutschland« als ergologische Regierungstechnik. Die (Selbst-)Verantwortung für Arbeitsleistung und (Selbst-)Wertgefühl wird medial initiiert und inszeniert

8 | Vgl. auch Bröckling (2009) – worin die Lebens- und Handlungsformen und -rhythmen dieser Subjektivierungsform sehr konkret, anschaulich und überzeugend an zwei anderen Beispielen – der Ich-AG »Senfsalon« und den Flaschensammlern im öffentlichen Raum – entfaltet werden.

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und macht das Subjekt auf diese Weise zuallererst regierbar (durch Herrschaft und durch es selbst). Was sich hier im Exemplarischen abzeichnet, soll im folgenden Abschnitt mit Hilfe verschiedener Theorieangebote genauer ausformuliert werden: Dass Medien nicht nur Apparate sind, die politische, kulturelle, soziale, subjektive oder sonstige Realitäten nur einfach darstellen (Medienrealitäten), sondern in ihrer ihnen eigenen performativen Konstituierungsbewegung offene Wahrnehmungsund Erfahrungsorte gründen (Medialität), die in politischer bzw. gouvernementaler Hinsicht schon Orte der Regierung sind. Anders gesagt: Medialität ist eine Matrix politischer Realität und stellt insofern je schon ein Wie des Regierens zur Hervorbringung von Subjekten dar.

D as P olitische der M edialität — S ichtungen für eine Theorie M edialer G ouvernementalität Der exemplarische Durchgang des vorangegangenen Abschnitts mag gezeigt haben, dass Foucaults Gouvernementalitätskonzept und gegenwärtige, von dort aus weiter entwickelte Theoreme durchaus hilfreich sein können, um konkrete Medienanalysen durchzuführen. Das soll nun mit Blick auf mögliche medientheoretische Momente noch weitergeführt werden. Insbesondere das »Regieren seiner selbst« im Sinne eines Unternehmertums zeichnet sich in den aktuellen Analysen der »Generation Facebook« (Leistert/ Röhle 2011) als grundlegender Parameter ab: »Man kann mediale Konstellationen wie Facebook als Teil gouvernementaler Ordnungen verstehen, die Subjekte auf eine bestimmte Weise adressieren und damit bestimmte Anforderungen (re-)produzieren. Auf Facebook wird das Subjekt nicht durchgehend als stabil, kohärent und in sich ruhend angeschrieben. Es ist einer Vielzahl von gegenläufigen Prozessen der Fragmentierung und Integration unterworfen, die eng mit Verwertungsinteressen verbunden sind. Eingeübt werden Techniken der Selbstdarstellung, -bewertung und -kontrolle, die als zentrale Kriterien des beruflichen und gesellschaftlichen Erfolgs unter den Bedingungen des Postfordismus gelten.« (Leistert/Röhle 2011: 22) 9

Was das Motiv der Pastoralmacht betrifft, verdient die US-amerikanische, zuerst von HBO ausgestrahlte Fernsehserie In Treatment einen besonderen Hinweis. Im Mittelpunkt stehen der Psychotherapeut Paul Weston (Gabriel Byrne) und seine Patienten, die er zu therapeutischen Sitzungen trifft. Die Situierung des Geschehens ist auf die talking cure fokussiert, die Bildregie zeigt wenig Handlungsdra9  |  Aus dem oben zitierten Band (Leistert/Röhle 2011) sind hinsichtlich der Analyse Medialer Gouvernementalität die Aufsätze von Andrejevic (2011), Coté/Pybus (2011), Raunig (2011), Lovink (2011), Lummerding (2011) und insbesondere Wiedemann (2011) zu nennen.

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matik, meist wird mit Schuss/Gegenschuss gearbeitet – Therapie im Fernsehen: Den Fragen und Antworten lauschen, im Stillen mitreden, mitfühlen, Subjekt werden. Zum Zusammenhang von Psychotherapie, Medien und Biopolitik am Beispiel von In Treatment lohnt sich eine eigene Untersuchung. Und das gilt ebenso für zahlreiche andere Fälle. Man denke nur an die Doku-Soaps im Fernsehen über Häuslebauer, Auswanderer und Frauentauscher, an televisionelle Ehe- und Schuldenberatung und an die Super-Nanny, man denke an computerisierte Rollen- und Fantasy-Spiele, die Möglichkeiten der eigenen Profilbildung bei der Internetnutzung und die Spuren, die wir dabei hinterlassen; die Geschichte des Hörfunks als Massenmedium wäre ebenso zu beleuchten wie das Verständnis von Architektur als Corporate Design (BMW in Leipzig, VW-Phaeton in Dresden) oder die verführerischen Möglichkeiten der ›Personalisierung‹ zeitgenössischer Smartphones (allen voran das I-Phone) – und so weiter. Allerdings: Solche Überlegungen zur Medialen Gouvernementalität, die nicht nur exemplarisch vorgingen, sondern auch Modellanspruch für eine Theorie Medialer Gouvernementalität hegten, müssten selbstverständlich eine Arbeit am Medienbegriff selbst implizieren bzw. leisten. Die zuvor in der Auswahl angesprochenen Medienformen wären dann also nicht lediglich in ihrer gouvernementalen Kommunikationsbeziehung als Apparatur – Content – Subjekt zu analysieren und darzustellen. Darüber hinaus wäre herauszuarbeiten, dass solche Beziehungen materiale Verdichtungen darstellen, die jeweils bedingt sind durch ein ihnen vorausgehendes, sie als spezifische Sinn- und Sinnesgegebenheit zuallererst eröffnendes medienkulturelles Ensemble – mit Foucault gesprochen ist das ein »Dispositiv«, ein aus »heterogenen Elementen« geknüpftes »Netz« (Foucault 2003a: 392). Es besteht aus der Relationalität und Verbundhaftigkeit (Inter- und Transmedialität), die Medien kennzeichnen (und die sich lebensweltlich oft auf einen Privathaushalt beziehen), aus den medien-institutionellen Akteuren (»Mediatoren«; vgl. Thielmann/Schüttpelz/Gendolla 2010) ebenso wie den schlicht sozial beteiligten Akteuren, dem Diskursbouquet an Aussagen (Ankündigungen, Erfahrungsaustausch, Rezensionskulturen, wissenschaftliche Reflexionen etc.), und nicht zuletzt gehört hierzu auch eine »Ökonomie der Medien« (vgl. Adelmann/Hesse/Keilbach/Stauff/Thiele 2006; Winkler 2004; Baringhorst/Holler 2006; Treutler 2006). Um – eingedenk der Gouvernementalitätsstudien – diese Verhältnisse und begrifflichen Bezüge der Kommunikationsbeziehungen und ihrer möglichen Hintergründe nochmals etwas ausführlicher zu besprechen, seien im Folgenden fünf Punkte hervorgehoben und quasi medien-genealogisch perspektiviert. Erstens: Medien würden, so gesehen, nicht mehr zuerst als Institutionen oder primordiale Apparaturen verstanden werden, sondern als Effekte und Verdichtungen von zuvor offenen Möglichkeitsfeldern des Handelns (vgl. ähnlich Schneider 2007: 112ff.). Das lässt sich für großformatige medienhistorische Figurierungen zeigen, wie sie etwa Benedict Anderson am Beispiel des Zusammenhangs von entstehender Buchdrucktechnologie, Protestantismus und Nationenbildung

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nachgezeichnet hat (vgl. Anderson 1996), aber ebenso an spezifischen medialen Beziehungshandlungen, wie es etwa Ramón Reichert für das »Wissen« und die »Performativität« der Börse rekonstruiert und freigelegt hat (vgl. Reichert 2009; teilw. Flichy 1994). Zweitens: Diese Möglichkeitsfelder verfestigen sich zu erfahrbaren und wahrnehmbaren Handlungsformen und technologischen Praxen auf der Basis einer spezifischen Materialität. Diese Materialität ist nicht zuerst ein Umstand von Hardware oder Apparaten, sondern sie besteht aus sinnlicher Wahrnehmung, aus Handlungen und Aussagen von Akteuren, ihren Affekten, Emotionen und Empfindungen (vgl. Angerer 2007; Liessmann 2009; Grau/Keil 2005) und Erinnerungen (vgl. exemplarisch etwa: Großklaus 2004) sowie den daraus verdichteten ästhetischen Erfahrungen, politisch-gouvernementalen Verhaltensweisen und kommunikativen Beziehungen. Medien aus der Perspektive der Gouvernementalität zu betrachten, bedeutet dann, die Fluidität der normalerweise als festgelegte Positionen verstandenen traditionellen Dreiecksbeziehung aus Medien (Technik, Institutionen, Redakteure etc.), Nutzern (Rezipient, Zuschauer, Leser, Hörer, User) und Inhalten (Genres, Narrationen, Struktur des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags, Meldungen etc.) zu sehen. Insofern Mediale Gouvernementalität als spezifische Regierungs-Praxis, im Führen des Führens von »Kommunikationsbeziehungen« (Foucault) besteht, sind »Medienbeziehungen« jene losen Kopplungen, in denen durch Herrschafts- und Selbsttechnologien die Verknüpfungen und Positionen jener Dreiecksbeziehung immer wieder neu ausgehandelt werden. Drittens: Einmal als Materialitätseffekte wahrnehmbar und erfahrbar, also zu Wahrnehmungs- und Handlungsdispositiven verdichtet, unterliegen Medien anhaltenden Modifikationen und Regulationen durch die Mediennutzung, durch das Medienwissen der User und durch die Thematisierung der Medienerfahrungen und -praktiken. Insofern das Sprechen über Medienereignisse als wichtiger Bestandteil Medialer Gouvernementalität anzusehen ist, kann auf eine Formulierung von Markus Stauff zurückgegriffen werden. Dieser hat sich detailliert mit dem Medium Fernsehen auseinandergesetzt und sieht die gouvernementale Qualität von Medien dann gegeben, »wenn Medien gerade dadurch, dass sie problematisiert werden und somit zum Objekt von Sorge und Anleitung werden, zur Anleitung von Verhaltensweisen sowie zur Verschränkung von Fremdführung und Selbstführung beitragen« (Stauff 2005: 93; vgl. auch Stauff o. J.). Diese Selbsttechnologie der Problematisierung ist eingebettet in einen der zentralen Parameter Medialer Gouvernementalität – die Mediennutzung. Hierzu hat Irmela Schneider umfangreiche Studien vorgelegt (vgl. Schneider 2006, 2007, 2007a, 2007b, 2008) und ausgehend von Foucault (Pastoralmacht, Genealogie) gezeigt, dass Mediennutzung »eine Art und Weise des Regiert-Werdens« darstellt (Schneider 2006: 97) und die »Genealogie der Mediennutzung« als Beitrag zu einer »Genealogie moderner Subjektivierungsmodi« (Schneider 2007: 127) zu verstehen ist. So wird Mediennutzung beispielsweise

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Timo Skrandies »in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in den Blick genommen als eine Aktivität, die zur gesellschaftlichen Integration oder zur ›Vermassung‹ führt; Mediennutzung heißt, sich informieren und auch bilden, oder aber: von Information überflutet werden und sich ›berieseln‹ lassen. Die genealogischen Spuren für den Kulturoptimismus wie -pessimismus des 20. Jahrhunderts führen zurück in den Beginn der Diskurse über Verbreitungsmedien, in die Zeit um 1800« (Schneider 2007: 127).

Viertens: Mediennutzung etwa als Beziehungsart des Regiertwerdens aufzufassen, führt auch zu der Einsicht, dass Medien nicht nur diskursive Qualitäten haben und insofern inhaltliche, thematische, ästhetische In- oder Exklusionen regeln und regieren. Medien haben, wie oben angesprochen, auch dispositiven Charakter, der über die Eigenart einer die Sinne simulierenden oder verdoppelnden technischen Apparatur (wie man mit McLuhan oder auch Virilio annehmen könnte; vgl. kritisch dazu Tholen 2002) hinausgeht. Die Dispositivität von Medien besteht darin – jetzt nochmals mit Foucaults allgemeinem Begriff des Dispositivs gesprochen – »Ort eines doppelten Prozesses« (Foucault 2003a: 393) zu sein: Zum einen als Prozess einer »funktionalen Überdeterminiertheit« (Foucault 2003a: 393) – jeder »positive wie negative, gewollte oder ungewollte Effekt [tritt] mit allen anderen in Resonanz oder in Widerspruch und [verlangt] nach einer Wiederaufnahme, einer Wiederanpassung heterogener Elemente […], die hier und da entstehen« (Foucault 2003a: 393). Versteht man das als das, ›was Medien tun‹, besteht ihre Praxis sowohl in der Produktion sinnlicher Differenzen (Heterogenitäten), die Sinn ergeben, und zugleich in deren vorscheinendem Zusammenhalt zur Konturierungsmöglichkeit des Subjekts als eines Ichs der ›Einheit aus Vielfalt‹.10 Zum anderen als Prozess der »strategischen Ausfüllung« – damit ist angezeigt, dass Medien Wirkungen hervorbringen können, die emergent und deren 10  |  Am Beispiel des Fernsehens: »Für das Fernsehen drängt sich […] die These auf, dass gerade die penetrante Aufforderung, die nahezu alle gegenwärtigen medialen Neuerungen begleitet, die Mediennutzung ganz nach den ›eigenen Wünschen‹ zu gestalten, als subtile und machtvolle Form eines ›Führens der Führungen‹ verstanden werden muss. Entfalten nicht die verzweigten Medienangebote ein komplexes Feld, das die Selbstregierung des eigenen Lebens rational und selbstverantwortlich handhabbar macht? War die Diskursivierung des Selbst unter dem Vorzeichen der Sexualität noch weitgehend durch institutionalisierte Befragungen (Beichte, Gericht, Pädagogik etc.) und deutliche normative Vorgaben strukturiert, so werden die Maßstäbe, an denen sich Selbstregierung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausrichtet, sowie die Techniken, die dabei zum Einsatz kommen, zunehmend flexibler. Das Dispositiv Fernsehen stellt mit all seiner Heterogenität, mit seinen ständigen Modifikationen und insbesondere aufgrund der flexiblen Einbindung der Subjekte ein Feld dar, in dem den Individuen systematisch selbst die Aufgabe überantwortet wird, ihre Unterhaltung, ihre Information, ihre Bildung und mit diesen ihre ganz eigene Individualität zu optimieren.« (Stauff o. J.: 222) Für die Problematisierung dessen mit Blick auf das so genannte Web 2.0, vgl. aktuell etwa: Lanier (2010); Rieger (2010).

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Herkunft zu komplex sind, als dass sie vorherzusehen gewesen wären, und dass Medien zugleich »eine unmittelbare Neuverwendung dieser unwillkürlichen und negativen Auswirkungen in einer neuen Strategie« finden, »die gewissermaßen den leeren Raum ausfüllte oder das Negative in Positives verwandelte« (Foucault 2003a: 394)11. Zusammengefasst: Medien produzieren eine Zäsur im Anthropologischen, die nicht schlicht durch eine technikkritische Erläuterung (Entfremdung des Menschen durch Simulationstechniken oder Ähnliches) aufgehoben werden kann, sondern: »Die Frage nach dem Ort des Menschen kann nur gestellt werden als die Frage nach der Möglichkeit der Bedingungen technischer Kommunikation, in deren Namen ›wir‹ über Kommunikation kommunizieren. Jenseits des anthropologischen Zirkels wird sich so die Frage nach der Technik zu der nach ihrer medienhistorischen Un-Beständigkeit verschieben. Daß der Mensch nicht ganz im Menschen ist, […] bedeutet, daß die ›Zäsur‹ der Medien selbst ›unaufhebbar‹ bleibt.« (Tholen 2002: 18)

Möglich, dass die Foucault’sche Vorstellung des »Dispositivs« (und seiner Prozessualität) der »Zäsur der Medien« logo-tektonisch recht nahe kommt. Dann läge in der medialen Dispositivität der Kern gouvernementaler Medienpraxis sui generis (Praxis der Medien): Als Prozess eröffnet sie das sinnliche und intelligible Möglichkeitsfeld von Handlungen12 zur Selbstführung via Medientechnologien, -contents und Kommunikationsbeziehungen – was wiederum die Selbst-Differenzen des Subjekts im Sinne der Zäsur unaufhebbar macht. Fünftens: Um diesen Aspekt begrifflich noch einen Schritt weiter zu tragen: Der auch für die gouvernementale Perspektive entscheidende dispositive Charakter von Medien kann als Medialität zusammengefasst werden – insofern damit (mit Tholen und Benjamin) eine grundsätzliche »Mit-Teilbarkeit« gedacht ist: »Die permissive Durchlässigkeit oder Disponibilität der Medien, […] ist jenes seltsame Vermögen, vorgegebene Bedeutungshorizonte zu eröffnen, zu verschieben und zu unterbrechen. Die Medialität der Medien konstruiert den Horizont, in dem sie selbst nicht ›aufgehen‹ kann: Medien sind indifferent gegenüber dem, was sie speichern, übertragen und verarbeiten. Eben diese Gleichgültigkeit oder Indifferenz gegenüber dem Sinn der Botschaft ist vielleicht auch als In-Differenz lesbar, d.h. als Dazwischenkunft der uns teilenden und

11 |  Foucault spricht an dieser Stelle von der Einführung der strafrechtlichen »Einsperrung« im 19. Jahrhundert und den Wirkungen, die das auf die Bildung eines »delinquenten Milieus« hatte (Foucault 2003a: 39f.). 12  |  Vgl. nochmals, was Foucault allgemein zur Charakteristik von ›Macht‹ im Feld von Gouvernementalität festhielt (vgl. Foucault 2005: 286).

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Timo Skrandies dadurch verbindenden Medien, mithin als das, was uns vorausgeht bzw. den anthropologischen Fixpunkt dieses ›Uns‹ oder ›Wir‹ dezentriert.« (Tholen 2002: 8f.)13

Medialität wäre dann als Eröffnungsbewegung des Phänomenalen und Imaginären zu denken – und in dieser Eröffnungsbewegung findet auch Regierung als Mediale Gouvernementalität statt. Gleich, ob die kulturelle Matrix »Janteloven« oder »Du bist Deutschland« heißt.

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Mediale Gouvernementalität

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BioArt — Vom Labor-Objekt zum sozialen Subjekt Desiree Förster Mit dem Human Genome Project entwickelte sich eine neue Faszination für die Basis des Lebens und des Menschseins. Die Erkenntnis, dass das menschliche Genom gegenüber dem Genom anderer Lebewesen keine Besonderheiten aufweist, wirft Fragen danach auf, wie sich der Mensch im Vergleich zu seinem Anderen positionieren soll. Kategorien wie Mensch und Tier, Rasse und Geschlecht haben ihre stabilisierende Kraft verloren. Künstler wie Eduardo Kac, auf dessen GFP Bunny-Kunstprojekt sich der Titel dieses Textes bezieht, haben zu diesen Verunsicherungen Stellung bezogen, indem sie mit ihrer Kunst Inkorporationen von Anderssein entwerfen und Räume der Begegnung entwickeln (vgl. Becker 2003: 40). Im Folgenden möchte ich anhand zweier Künstlerbeispiele die Bedeutung der Bio-Kunst in ihrer Auseinandersetzung mit Biotechnologien und biopolitischen Fragestellungen skizzieren. ›BioArt‹, wie sie Künstler wie Eduardo Kac verstehen, vollzieht auf künstlerischer Ebene das, was Donna Haraway in ihrer Auseinandersetzung mit den Technowissenschaften als Konzept des Miteinanderhandelns entwickelt hat. Dieses Miteinanderhandeln schließt Differenzen als produktiv für Aushandlungsprozesse lebbarer Welten ein, an denen alle sozialen Akteure beteiligt sind. Differenz wird so nicht länger als etwas rein Trennendes begriffen, sondern vielmehr als verbindendes Element – im Eigenen ebenso vorfindlich wie im Anderen. Diese Differenz bilden die materiell-semiotischen Akteure ab; sie verkörpern die Überschreitung natürlich gedachter Grenzen durch die Biotechnologien und machen so die Implosion der Dichotomien sichtbar – eine Implosion, wie sie laut Haraway paradigmatisch für das technowissenschaftlich geprägte Zeitalter ist, in dem wir uns befinden. In den Laboren der Biotechnologiekonzerne werden Grenzen zwischen Arten, zwischen Leben und Tod, zwischen Organismus und Apparatur zu Arbeitshypothesen. Transgene Lebensformen und Klone sind heute Realität und verwirklichen, was immer schon latent vorhanden war – sich allerdings unserer Weltanschauung bislang entzogen hat: nämlich, dass die Trennlinie zwischen Natur und Kultur, Mensch und Nichtmensch permeabel ist. So werden ordnungsbildende Grenzziehungen in unserer technologisierten Zivilisation zunehmend als fiktionale Konstrukte entlarvt.

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Doch auch und gerade angesichts der offensichtlichen Grenzüberschreitungen in den Biotechnologielaboren, bleibt das Bedürfnis nach Sicherheit versprechenden Definitionen, die durch Ausgrenzung und Einschließung den Anschein von Eindeutigkeit und Zugehörigkeit vermitteln. Dieses Festhalten an Dualismen läuft Gefahr, ideologische Vorstellungen zu produzieren, die unsere Wahrnehmungsweisen und unser Zusammenleben in entscheidendem Maße prägen, und Differenzen im Sinne der Konstruktion eines Selbstbildes zu instrumentalisieren (vgl. Haraway 1989). Der daraus folgenden technowissenschaftlichen Vereinnahmung von Natur und Körpern setzt Haraway eine posthumanistische und transgressive Politik der Durchmischung entgegen, deren Helden Verkörperungen dieser Durchmischungen sind. Als Reaktion auf die Herausforderungen technologischer Transformationsprozesse – insbesondere in den Biowissenschaften – und die so virulent gewordenen Differenzen zentraler Dichotomien, konfrontiert sie das fraglich gewordene, einheitliche Subjekt mit der bastardisierten Hybridfigur, wie sie u. a. in den Biolaboren entsteht. Aus diesem Konzept ergeben sich auch eine neue Form des Zusammenlebens und ein Überdenken von Zugehörigkeit. Die von der Technowissenschaft und Biomedizin untersuchten und/oder hergestellten Objekte und Körper sind natürlich-technische Objekte oder materiell-semiotische Akteure, deren Grenzen nicht durch ihre ureigenen Merkmale oder unsere linguistischen Kategorien vordefiniert sind, sondern sich in sozialer Interaktion materialisieren. Durch ihr Dasein wird der Körper als eindeutiger Bezugspunkt ins Wanken gebracht. Denn Technologien sind keine reinen Einschreibeflächen, auch wenn Technoligien von einem Wissenschaftler, Apparaten, Technologien hergestellt sind. Sie bringen sich ständig (auch) selbst hervor, in einem Vorgang ständiger Auseinandersetzung mit sich, der Umgebung, den verwendeten Technologien und den Forschern. So sind es ebenjene epistemischen Dinge, die als OncoMouse und Cyborg innerhalb der Haraway’schen Theoriekonzeption als das widerspenstige Andere des angepassten Subjekts ins Spiel kommen, und sie sind es, die in den Kunstwerken der BioArtisten Hauptrollen einnehmen. Begreift man sie als Spiegel für die Existenzbedingungen sozialer Akteure innerhalb technowissenschaftlich geprägter Gesellschaften, lässt sich an ihnen ablesen, wie Subjekte innerhalb technobiopolitischer Machtstrukturen funktionalisiert werden. Denn epistemische Dinge werden dann funktionalisierbar, patentierbar und vermarktbar, wenn ihre Existenzweise als wandelbare beendet wird, sie eine definierte Gestalt erhalten und ihre Grenzen bestimmt werden. Im Mittelpunkt des GFP Bunny-Kunstprojektes von Kac, das er 2000 realisierte, stand das mittels Transgenese hergestellte Kaninchen Alba. Alba – eine Auftragsproduktion, die Kac an das französische Institut National de la Recherche Agronomique in Jouy-en-Josas bei Paris vergeben hatte – ist ein Produkt jener Technik, die in den Biolaboren routinemäßig eingesetzt wird. Dabei wird eine synthetische Mutation des Fluoreszenzgens EGFP in artfremde DNA überführt. Dieses spezielle Gen, das der Qualle Aequorea victoria entstammt, dient in der

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Laborpraxis für gewöhnlich als Marker, um später feststellen zu können, ob die gewünschte Synthese geglückt ist. Denn infolge dieses Gentransfers ist eine fluoriszierende Färbung des transgenen Tieres – bzw. bestimmter Körperteile – zu beobachten, wenn es von der richtigen Lichtquelle angestrahlt wird (blaues Licht bei einer maximalen Anregung von 488 nm). Kac macht in seinen Texten zu GFP Bunny deutlich, dass Alba selbst nur einen Teil des Kunstprojektes darstellte. Weiterhin sollte ein öffentlicher Dialog über sein Konzept initiiert werden und die soziale Integration des Kaninchens erfolgen. In meiner Darstellung des Kunstprojektes verbleibt leider nur die Möglichkeit, den Diskurs um Alba zu thematisieren, denn die soziale Integration des Kaninchens konnte nie eingelöst werden. Das fertige Produkt wurde nicht ausgeliefert, was zu einer zweijährigen Medienkampagne führte, von Kac unter dem Namen »Free Alba!« initiiert (vgl. Kac 2001-2002). Dieser Kampf wurde zum ideologischen Angelpunkt des Werks. Ich hingegen werde mich in diesem Text auf die Bedeutung konzentrieren, die ich in dem transgenen Kunstwerk für die Einschätzung und den Umgang mit Anderssein sehe. Kac schafft mit Alba einen Haraway’schen materiell-semiotischen Akteur: Hybride wie Alba – ob nun tatsächlich existent oder nicht – zeigen als Wesen des Zwischenbereichs zwischen Natur und Kultur die permanente Co-Produktion dieser beiden Bereiche an und verkörpern die Natur der Nicht-Natur. Dabei kann es eben nicht darum gehen, die Behauptung von Gentechnik-Befürwortern – Gentechnik tue nichts anderes, als das, was die Natur immer schon getan habe, nur eben schneller – zu legitimieren. Denn dies ist ein ideologischer Gebrauch von Naturkonzepten, mit denen die Künstlichkeit und Gemachtheit der Gentechnik verschleiert werden soll. So ist Kacs Wahl eines Kaninchens als Grundlage seines Projektes und die Thematisierung seiner menschlich geprägten Geschichte1, in der das Kaninchen als domestiziertes in seiner heutigen Form erst entstanden ist, als ironischer Kommentar zu den Naturalisierungsversuchen der Biotechnologien zu verstehen. Doch anzuerkennen, dass es keine unveränderliche Natur gibt, sondern dass alle vorkommenden Akteure in irgendeiner Weise an dem Herstellungsprozess von Natur beteiligt sind, bedeutet gerade nicht, dass der Mensch eine Sonderstellung innerhalb dieser Prozesse einnimmt. Nur durch die Aufgabe einer anthropozentrisch bestimmten Hierarchie können wir die nötige Verantwortung für die neuen Technologien und deren etwaige Folgen ernsthaft in den Blick nehmen. Kac will seine Kunst als Abbild einer Ästhetik dieser Verantwortung verstanden wissen: »Transgenic art is not about the crafting of genetic objets d’art, either inert or imbued with vitality. Such an approach would suggest a conflation of the operational sphere of life sciences with a traditional aesthetics that privileges formal concerns, material stability, 1 | »The human-rabbit association can be traced back to the biblical era […]« (vgl. Kac 2000).

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Desiree Förster and hermeneutical isolation. Integrating the lessons of dialogical philosophy and cognitive ethology, transgenic art must promote awareness of and respect for the spiritual (mental) life of the transgenic animal. The word ›aesthetics‹ in the context of transgenic art must be understood to mean that creation, socialization, and domestic integration are a single process. The question is not to make the bunny meet specific requirements or whims, but to enjoy her company as an individual (all bunnies are different), appreciated for her own intrinsic virtues, in dialogical interaction.« (Kac 2000)

Der tatsächliche Akt der Manipulation von Leben greift nicht nur lang geglaubte Grundsätze an, sondern ermöglicht auch in den Blick zu nehmen, wie mit Leben in anderen Zusammenhängen umgegangen wird – vor allem, wenn durch den Wegfall der menschlichen Sonderstellung die Zumutungen, denen wir andere Lebewesen aussetzen, auf uns zurückzufallen drohen. Wenn sich der Mensch zum Schutz seiner Würde nicht mehr auf sein Menschsein beziehen kann, weil dieses sich nicht länger über die Abgrenzung zu anderen Lebensformen definieren lässt, dann besteht auch kein Grund, weshalb der Mensch eine Sonderbehandlung erhalten sollte. Statt den Verlust dieser anthropozentrischen Kategorien zu fürchten, lädt Kac dazu ein, die Entgrenzung als Gewinn zu begrüßen, sie als Erweiterung unserer Familie der Säugetiere zu begreifen. Dazu müssen wir den nichtmenschlichen Akteuren einen sozialen Status zubilligen. Figuren wie Alba, die mit Kac als losgelöst aus den ihnen angestammten ökonomischen und medizinischen Prozessen betrachtet werden können, vergegenwärtigen als soziale Akteure das Verhältnis der Technowissenschaften zu gesellschaftlichen Prozessen. Privatisierung und Globalisierung, die wirkmächtigen Instrumente der Biowissenschaften, sind nur so lange denkbar, wie ihre Definitionsmacht über dasjenige, was als Natur gelten soll, unangetastet bleibt. Legt man jedoch offen, dass die Argumentationsstruktur der Legitimation biowissenschaftlicher Bedeutungsproduktionen auf überkommenen Konzepten beruht, die sie selbst ständig durchkreuzen, wird ein neuer Zugang zu den Technologien und den durch sie produzierten und manipulierten Körpern möglich. Daher ist es für das Kunstprojekt selbst nicht entscheidend, ob Alba je existiert hat. Denn Kacs Konzept ist das Entscheidende: Die Gentechnik wird durch sein Projekt in die Öffentlichkeit getragen, und Alba produziert als materiell-semiotischer Akteur ein ambivalentes Bedeutungsspektrum, das dem Mythos der Wissenschaft als bedeutungstragendes Wissen entgegensteht. Transgene Kunst soll so eine Umdeutung des biotechnologischen Zugriffs auf das Leben ermöglichen, indem der Einfluss des Menschen auf den transgenen Organismus hier keinem pragmatischen Nutzen geschuldet ist. Von humanen Zwecken losgelöst, könnten so transgene Lebensformen Bestandteil unseres sozialen Lebens werden, indem wir sie lieben und umsorgen wie jedes andere Tier (vgl. Kac 2000). Dadurch, dass Kac den technobiopolitischen Diskurs auffächert, stört er die vorgebliche Eindeutigkeit und Gewissheit naturwissenschaftlicher Wissensproduktion. Betrachtet man das eigene Selbst als dynamische Konstruktion, die aus Interaktion mit Anderen entsteht,

BioArt — Vom Labor-Objekt zum sozialen Subjekt

wird deutlich, dass Verantwortung für diesen Anderen zu übernehmen eine der Hauptaufgaben eines sozialen Akteurs darstellt. Alba als ein solcher sozialer Akteur fordert diese Verantwortung, fordert Zuwendung ein. Durch diese Erkenntnis, so erhofft es sich Kac, kann eine neue Form der Interaktion und Empathie entstehen. Die Frage ist, inwiefern GFP Bunny dieser neuen Aufgabe, die Kac der Kunst auferlegt, gerecht werden kann und ob das Projekt eine echte Bereicherung des Diskurses über die Konsequenzen hybrider Lebensformen darstellt. Das GFP Gen ist als ein Marker für Anderssein zu verstehen, aber auch für den menschlichen Zugriff und die In-Besitznahme des Tieres durch dessen Nutzbarmachung (vgl. Hayles 2003: 79). Durch das Ungültigwerden der Machtposition des Menschen gegenüber dem Tier kann er diesem in einem neuen Dialog begegnen (vgl. Kac 2000). Doch wie sieht die Verantwortung gegenüber dem transgenic other aus? Wie genau soll diese Begegnung, die Kac als Empfindungsfähigkeit der jeweiligen Akteure nicht mehr zu brauchen scheint, unter heutigen Bedingungen aussehen? Kacs Ausführungen bleiben hier zweideutig: Er bestätigt in seiner Argumentation gegen einen Anthropozentrismus selbst noch anthropozentrische Strukturen. Diese widersprüchliche Argumentationsstruktur zeigt sich auch dort, wo sich Kac auf Emmanuel Lévinas und dessen Konzeption von Ethik beruft. Kac übersieht, dass Lévinas selbst in seiner Konzeption moralischer Verantwortung den Schritt schuldig bleibt, das Tier zu berücksichtigen. In der Philosophie von Lévinas ist der Andere der vollständig Andere. Er verabschiedet sich nicht von einem Konzept der Subjektivität, sondern entwirft eine Subjektivität, »[…] die getroffen wird von einem anderen Menschen, ein Betroffenwerden, das die ›Freiheit überschreitet‹, da man sich ja zu keinem Zeitpunkt zu diesem Betroffenwerden entschieden habe« (Seubold 2001: 122). Das menschliche Subjekt als nicht in sich Geschlossenes kann so erst durch eine Relation zu einem Anderen als ein moralisches Subjekt entstehen. Diese Relation äußert sich in einem grundsätzlichen Verpflichtet-Sein diesem Anderen gegenüber. Die Andersheit des Anderen liegt in dessen Gesicht als Ort des Blicks. Doch der Andere ist nicht bloß passives Objekt unseres Blicks: Er blickt zurück, blickt uns an. In diesem Blick liegen die moralischen Ansprüche des Anderen an mich, wie »du sollst nicht töten« (vgl. Lévinas 2003: 59ff.). In der Begegnung mit dem Blick des Anderen und in der Übernahme der in dieser Begegnung liegenden Verantwortung für den Anderen, bleibt das NichtMenschliche außen vor. Das Tier hat bei Lévians kein Antlitz und erhält somit auch nicht den Status des Anderen, für den Verantwortung übernommen werden muss (vgl. Derrida 1998: 280). Jacques Derrida hat dieser hier ausgedrückten Vormachtstellung des Menschen den Entwurf einer posthumanistischen Konzeption von Verantwortung entgegengesetzt, in die er auch das Tier als das Andere des Anderen miteinbezieht. Diese Verantwortung gegenüber dem Tier darf eben nicht darauf beruhen, dass der Mensch darüber entscheidet, wie eine Begegnung

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mit dem Tier auszusehen hat, dass er in dem Glauben verbleibt, zu wissen, was für das Tier gut ist. Eine solche Haltung entmündigt das Tier zugunsten eines guten Gewissens des Menschen: »To ask what responsible actions will or should follow from the recognition of this posthuman, excessive responsibility to the animal is to ask for calculation, for an adequate response that can be done with, completed, then put aside, leaving the human with a ›good conscience‹ rather than with an ongoing responsibility. It is, in other words, in Derrida’s terms, a profoundly unethical or irresponsible response.« (Baker 2003: 33f.)

Eduardo Kac kommt mit GFP Bunny und seinem Verhältnis zu Alba nicht über diesen Status des good conscience hinaus. Statt wirklich interaktive Kommunikationsprozesse mit dem Anderen zu ermöglichen, fühlt sich Kac für die Erfüllung der Lebensbedürfnisse des Kaninchens verantwortlich. Er bevormundet es in dem Glauben, das Richtige für es zu wollen. Das Tier wird bei Kac eben nicht als individuelle Entität anerkannt, sondern als Abstraktion, als Ideal für das Andere des Menschen, über das dieser sich definieren kann. Kac versucht den wissenschaftlichen Diskurs des Tieres um den poetischen Diskurs zu erweitern, indem er Alba nicht als Objekt, sondern als Individuum begreift. Doch die Undurchdringlichkeit der anderen Seite der Grenze, die Anerkenntnis des Nicht-Wissen-Könnens dessen, was Alba sieht, denkt, fühlt, bleibt hinter Kacs Vatergefühlen zurück: »As I cradled her, she playfully tucked her head between my body and my left arm, finding at last a comfortable position to rest and enjoy my gentle strokes. She immediately awoke in me a strong and urgent sense of responsibility for her well-being.« (Kac 2000)

Als ihr Schöpfer fühlt sich Kac verantwortlich für sie. Doch indem er die Tatsache ihres Andersseins – nicht nur die als transgenes Lebewesen, sondern als Tier – unbedacht lässt, betont er den Prozess der Herrschaft des Menschen über Tier und Natur, trotz der guten Intention gegenüber Alba. Das Bild der traditionellen westlichen Kleinfamilie, in das sich das Kaninchen als vertrautes Haustier problemlos einbürgern lässt, bleibt komplett unhinterfragt. »Alba – the name given her by my wife, my daughter, and I – was lovable and affectionate and an absolute delight to play with« (Kac 2000). In dem Konzept des Zusammenlebens mit dem transgenen Tier bestätigen sich also alte Hierarchien. Das Tier, das Andere des Menschen, dem wir durch den Verlust der menschlichen Vormachtstellung auf gleicher Augenhöhe begegnen könnten, wird weiter durch das Verhältnis zum Menschen bestimmt, wird ihm angeglichen. Es stellt sich so dar, als läge der Sinn im Umgang mit dem Tier vor allem darin, dem Geheimnis der eigenen biologischen Existenz auf die Spur zu kommen:

BioArt — Vom Labor-Objekt zum sozialen Subjekt »Our daily coexistence and interaction with members of other species remind us of our uniqueness as humans. At the same time, it allows us to tap into dimensions of the human spirit that are often suppressed in daily life – such as communication without language – that reveal how close we really are to nonhumans.« (Kac 2000)

Offenbar geht es Kac doch nur um eine Rückversicherung des Menschen. Die Begegnung mit der nichtmenschlichen Alterität sagt für ihn etwas über sich selbst, über die Einmaligkeit des Menschen aus. Damit versäumt er die Konsequenzen aus der technowissenschaftlichen Neuverhandlung basaler Lebens- und Glaubensentwürfe zu ziehen, mit denen das Beharren auf einen einfachen Dualismus des Menschen und der Tiere nicht mehr übereinzubringen ist. Als weitere Vertreterin der ›BioArt‹ möchte ich nun Patricia Piccinini vorstellen. Piccinini, geboren 1965 in Sierra Leone, West-Afrika, übersiedelte mit ihrer Familie 1972 nach Australien, wo sie Wirtschaftsgeschichte und Malerei studierte. Als Künstlerin bedient sie sich einer Vielzahl von Medien und fertigt Gemälde, Skulpturen, Fotomontagen sowie Installationen an. Fasziniert von der Vermischung von Natur und Kultur, von Fusionen von traditionell gegensätzlich Gedachtem, fabuliert sie in ihren Arbeiten Figuren, deren Gemachtheit offensichtlich ist und die in ihrer Gesinnung gegenüber dem Menschen stets ambivalent bleiben. Fremd und monströs werden diese Kreaturen als Bestandteil einer alternativen Lebensrealität entworfen. Indem sie mögliche Welten als Folgen biotechnologischer Eingriffe in die Natur durch den Menschen entwirft, fordert sie neben einer Stellungnahme zu diesen alternativen oder zukünftigen Lebensformen auch zugleich eine Positionierung im Hinblick auf die Verwendungsweisen neuer Technologien ein. Wie bei Kac erhält auch bei Piccinini die Notwendigkeit einer an die Umstände technowissenschaftlicher Umbrüche angepassten Empathie eine zentrale Rolle innerhalb des Werks. Denn dort, wo in ihren Kunstwerken der Mensch mit der fabulierten Kreatur zusammentrifft, wird deutlich, dass sich hier das Fremde nicht einer anthropozentrisch geprägten Hierarchie unterordnet. In ihren Bildern und Installationen begegnet der Mensch seiner Schöpfung, mit der er, da sie sich seiner Kontrolle entzieht, neue Formen des Zusammenlebens erst verhandeln muss. Naturwissenschaft entscheidet darüber, was als Fakt und was als Fiktion zu gelten hat und legt so die Deutungsparameter von Wirklichkeit fest. Während die Biowissenschaften so Fakten fiktional herstellen, kehren Künstler wie Piccinini diesen Prozess um und entwerfen mögliche Welten, die als Konsequenzen aus den Biotechnologien entstehen könnten, entwickeln eigene Narrative und fügen sie dem Diskurs der Biotechnologien hinzu. Die Kreaturen, die Piccinini in ihrem Projekt Nature’s Little Helpers fabuliert hat, sind imaginierte Möglichkeiten, die sie als gewöhnliche Realität entwirft. In ihren digitalen Fotografien, Zeichnungen und Skulpturen lässt sie diese mit

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Menschen und anderen Tieren in unterschiedlichsten Situationen zusammentreffen und teilweise interagieren. Obwohl als Teil unserer Lebensrealität dargestellt, bleibt ihre Rolle innerhalb des sozialen Gefüges und vor allem ihr Verhältnis zum Menschen uneindeutig. Piccininis Skulpturen, Zeichnungen und Fotos der Serie bilden Kreaturen ab, deren Aufgabe es ist, jenen Tierarten Australiens, die vom Aussterben bedroht sind, zu assistieren. In den Fotografien folgen wir der Figur des Bodyguard (for the Golden Helmeted Honeyeater). Dieses Wesen ist nach Aussage Piccininis ihr Kommentar zu der Unmöglichkeit, eine simple technologische Lösung für Probleme wie das Aussterben einzelner Arten zu finden (vgl. Piccinini 2004a). Statt Lebensräume zum Schutz dieser Arten abzugrenzen, etwa durch Gründung von Nationalparks oder Zoos, stellt sie sich mit Hilfe ihrer Helper-Figuren durch Gentechnik hergestellte Lebensformen vor, die den bedrohten Tierarten in deren gewohnten Lebensraum zu überleben helfen, also dazu beitragen, innerhalb des bedrohten Lebensraums neue Lebensmöglichkeiten für diese Tiere zu realisieren. Die Figur des Surrogate – Protagonist der Skulpturen und Zeichnungen – bildet gar selbst einen solchen Lebensraum, indem sie, ähnlich wie ein Känguru, in ihrem Körper selbst schützende und scheinbar auch zur Aufzucht gedachte Mulden für den bedrohten Hairynosed Wombat bereithält. Hybridität erscheint hier in vielfältiger Weise: Einerseits in Form von Orten, an denen sie sich als Zusammenkommen unterschiedlicher Lebensformen realisiert, die dann auch in das Körperinnere verlagert werden, und andererseits angedeutet in der Gestalt der fabulierten Kreaturen selbst. Der Betrachter erfährt allerdings nichts über deren Herstellung, außer, dass sie mittels Gentechnik umgesetzt wurden. Sollten hier Gene von verschiedenen existierenden Lebensformen als Basis gedient haben, sind sie kaum mehr sichtbar. Doch gerade der Surrogate, mit seinen großen Augen, den menschlich anmutenden Ohren, dem Bauchnabel, erinnert verräterisch stark an den Menschen selbst. Als Surrogate könnte er auch als Stellvertreter für den Menschen zu interpretieren sein, für dessen Blindheit gegenüber der eigenen Hybridität, für die nicht übernommene Verantwortung dem Anderen gegenüber, für unser Eindringen und Durcheinanderbringen vorhandener Ökosysteme. Mit ihrer Einführung gentechnisch hergestellter Lebewesen in den Lebensraum des Menschen, zitiert Piccinini ein wesentliches Stück Geschichte des australischen Kontinents. In Australien wurden mehrfach gezielt neue Spezies in die Umwelt eingeführt, um diese in irgendeiner Weise zu optimieren. Doch diese mutwillige Herstellung hybrider Lebensräume durch Zusammenführen fremder Tierarten hatte oft ungeahnte Folgen, wie wir sie im Zuge der epidemischen Bevölkerung der Aga-Kröte seit ihrem Import 1935 verfolgen können. Es sind solche Beispiele für schlecht informierte Wissenschaftler – die aus gutem Willen handeln, aber eine Situation schaffen, die außer Kontrolle gerät –, die Piccinini zu ihren Kreaturen inspiriert haben. Statt allerdings als Konsequenz jegliche Einmischung des Menschen in nichtmenschliche Bereiche zu verurteilen, wertet sie diese als notwendige Durchmischung und als Teil eines speziesübergreifenden Aushandlungsprozesses.

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Piccinini zeichnet Australien als Inbegriff der Harraway’schen naturecultures als einen Ort, an dem Natur und Kultur untrennbar miteinander verwoben sind und in dem die sozialen Akteure – einheimische Tiere, Menschen und biotechnologisch hergestellte Lebensformen – eine chronische Unvorhersehbarkeit produzieren, die beständig droht, Etabliertes und Vertrautes aufzuheben. Mit ihren Darstellungen der Nature’s Little Helpers entwickelt sie ein Szenario, in dem der Mensch in der Auseinandersetzung mit diesen von ihm geschaffenen Kreaturen lernen kann: nämlich anderes, nichtmenschliches Leben nicht zu benutzen, zu kontrollieren und zu kolonialisieren, sondern es einfach sein zu lassen. An dieser Stelle kommt die Liebe als Wegweiser zu einem toleranten Miteinander ins Spiel, die Piccinini, trotz aller Skepsis, mit ihren Kreaturen zutiefst verbindet. Die Liebe dient insofern als übertragbares Konzept auf alle Momente der Begegnung mit Alterität, da in ihr ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen angestrebt wird und zugleich die Investition in den Anderen immer auch das Risiko birgt, nicht das zurückzuerhalten, was man sich erwünscht. Dieses Risiko muss auch in der Interaktion mit den uns begleitenden Lebensformen eingegangen werden – für jene, die wir erschaffen haben, wie für jene, die immer schon Teil unserer Gemeinschaft waren. Dazu ist es notwendig, dass der Mensch von seinem anthropozentrischen Herrschaftsdenken zurücktritt. Denn jegliche Form von einheitlich gedachter Subjektivität und rationalisierbarem sowie objektivierbarem Anderen steht Piccininis Konzept der Hinnahme von Differenz diametral gegenüber. In Nature’s Little Helpers, wo die Mehrdeutigkeit der Kreaturen jede affektive Ansprache stört, wird deutlich, dass Piccinini kein Interesse daran hat, ein eindeutiges Verhältnis zu ihren Lebensformen einzunehmen. In der Skulptur mit dem Titel The Embrace tritt diese Ambivalenz in Text und Bild zutage. Der Titel evoziert den Eindruck, dass hier ein Kontakt zwischen zwei Lebewesen stattfindet, dem für gewöhnlich eine positive Intention zugrunde liegt: eine Umarmung. Die Skulptur selbst wiederum ist zutiefst verstörend: Wir sehen eine modellierte Frauenskulptur, die die Arme seitlich ausstreckt, scheinbar um das Gleichgewicht zu bewahren, denn es wirkt so, als sei sie im Begriff, hintenüber zu fallen. In ihrem Gesicht sitzt jedoch (krallt sich, hält sich fest?) eine der imaginierten Kreaturen. Es ist unmöglich einzuschätzen, ob diese Umarmung als eine zärtliche Geste gemeint ist oder eher einem Angriff gleicht – vielleicht erkennt die Kreatur die Frau nicht einmal als ein anderes Lebewesen, sondern hält sich an ihr fest, wie sie es mit einem Baumstamm tun würde? In jedem Fall scheint die Frau mit diesem Kontakt nicht gerechnet zu haben, sie wird von der Begegnung aus dem Gleichgewicht gebracht. Die gentechnisch hergestellten Kreaturen Piccininis sind keine Schoßtiere des Menschen, sondern bleiben in ihrer Fremdheit unzugänglich und undurchsichtig, wecken Misstrauen und Neugier zugleich. Sie nehmen innerhalb der Natur-Kultur eine bestimmte Rolle ein, indem sie bedrohte Lebewesen schützen sollen – und zwar vermutlich auch gegen den Menschen, wenn dieser zu einer direkten Bedrohung für ihre Schützlinge werden würde. In dieser Funktion tre-

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ten sie zwischen uns und die bedrohten Arten, gleichen aus, was der Mensch in Ungleichgewicht gebracht hat. Piccinini verwebt so ihre Kunst mit der Geschichte Australiens in Bezug auf die Einführung neuer Arten in ein Ökosystem, menschliche und nicht-menschliche gleichermaßen. Zugleich interessiert sie der Aushandlungsprozess möglichen Zusammenlebens, der mit dieser Einführung beginnt. Denn wie auch der Import der Aga-Kröte gezeigt hat, gelingt es einigen Tierarten, sich in relativ kurzer Zeit an die Neuankömmlinge anzupassen. Mögliche Weisen dieser Aushandlung zeigt sie in den Interaktionen ihrer Kreaturen mit Kindern. In den Zeichnungen, die den Surrogate mit Baby Hector und der älteren Laura abbilden, sehen wir, dass vor allem die Beziehung zwischen Kindern und den neu erschaffenen Lebewesen als eine spielerische und emotionale zu funktionieren scheint. Interaktion und spielerischer Umgang miteinander ersetzt in Piccininis Weltentwurf die kühle Verobjektivierung und Vermessung, die den hybriden Lebensformen in den Laboren zukommen. »[…] Look at the infant Bodyguard sitting with baby Hector in their graphite drawing; these youngsters do not find each other strange; they are coeval, in shared time. They are full of the promise of reconciliation if their parents can learn to face the past in the present.« (Haraway 2007)

Das Motiv der Kinder transportiert eine Unbekümmertheit den fremden Kreaturen gegenüber, die noch keine Alterität kennt. Wo noch kein strukturiertes Subjektverständnis existiert, wird auch das Andere nicht als vom Ich Unterschiedenen erkannt, sondern auf die kindlichen Bedürfnisse bezogen wahrgenommen. Kinder sind in Piccininis Arbeiten symbolische Figuren, an denen sich, gerade weil sie sich noch nicht als stabile, souveräne Subjekte denken, die dem Leben ursprünglichen Vermischungen (und biopolitische Zugriffsmöglichkeiten) ablesen lassen: »Children embody a number of the key issues in my work. Obviously they directly express the idea of genetics - both natural and artificial - but beyond that they also imply the responsibilities that a creator has to their creations. The innocence and vulnerability of children is powerfully emotive and evokes empathy - their presence softens the hardness of some of the more difficult ideas. The children in my works are young enough to accept the strangeness and difference of my world without difficulty, and they hint at the speed at which the extraordinary becomes commonplace in contemporary society.« (Orgaz Fernandez/Piccinini 2007)

Die Infantilität, sowohl der Menschenkinder als auch der Kreaturen, evoziert das Gefühl mütterlicher Fürsorge. Mutterschaft als zentrales Motiv ihrer Arbeiten gleicht einer Einladung, uns auf diese befremdlichen Wesen einzulassen, sie als Bereicherung unseres Lebens zu betrachten. Die Zeichnung von Hector und dem Baby-Surrogate zeigt beide in trauter Umarmung lächelnd. Sie sind in zärtlicher Bedürftigkeit vereint, beide scheinen,

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zum Betrachter gewandt, den zärtlichen Blick einer Mutter in uns wachrufen zu wollen. Die Zeichnung von Laura und dem erwachsenen Surrogate wiederum bildet die gegenseitige Bezogenheit der beiden ab. Sie blicken sich an, Laura lächelt ihrem Gegenüber zu, sie wirken in ihre eigene Kommunikation des Spiels vertieft. Zugleich erinnert das Verhältnis des Surrogates zu dem Mädchen an jenes, das er zu seinen anderen Schützlingen unterhält: Während er sich mit Laura in ihr Ballspiel vertieft, dient er diesen zugleich als Brutstätte/Ruhestätte: In den in seinem Rücken befindlichen, höhlenartigen Mulden erkennen wir einen Wombat, und zu vermuten ist, dass in den Tiefen dieser Mulden noch weitere Mündel ruhen. Die Berührung, das Spielen, wie es zwischen dem Surrogate und den Kindern zur Basis der Interaktion wird, bildet die damit verbundene Leiblichkeit als Schnittpunkt der Begegnung mit dem Anderen ab. Leiblichkeit, die immer responsiv ist, setzt die rigorose Trennung zwischen dem Selbst und dem Anderen außer Kraft. Es ist dies, was Maurice Merleau-Ponty als Chiasmus bezeichnet hat: die unaufhörliche Überkreuzung von Fremdem und Eigenem in jeder Berührung, die nie vollkommen in eine rationale oder sprachliche Ordnung übersetzt werden kann (vgl. Merleau-Ponty 1994: 182). Die Begegnung und Berührung wird so zu einem Ausweg aus der politischen Herrschaft über den Körper und die ständige Einteilung des Lebens in lebbares und nichtlebbares Leben. Anerkannt als Teile der Gemeinschaft, treten die Menschen mit den hybriden Lebensformen in eine Form der »Intra-aktion« (vgl. Haraway 2008: 165), bei welcher der Status einer Art nicht als Artefakt, Maschine, Mensch, Organismus oder Landschaft vorbestimmt ist, sondern in dem das Selbst und der Andere im gemeinsamen Agieren erst entstehen. Doch die Beziehungen bleiben ambivalent. In Piccininis Entwurf eines alternativen Umgangs mit dem Auf brechen ordnungsstabilisierender Grenzen geht es nicht darum, sich eindeutig zu platzieren und Ausgrenzungen vorzunehmen, um eine vermeintliche Sicherheit herzustellen. An die nicht zu naturalisierende Fremdheit, die sich der Vermessung und Kontrolle durch den Menschen widersetzt, muss stattdessen eine konstante, korrelative Aufmerksamkeit treten. Es ist dies, was Haraway mit dem Zusammenleben als otherness-in-relation meint: »I believe that all ethical relating, within or between species, is knit from the silk-strong thread of ongoing alertness to otherness-in-relation.« (Haraway 2003: 50) Diese neue Form des Zusammenlebens, das auf gegenseitigem Respekt, Sorge um den Anderen und den gemeinsamen Lebensraum beruht, ist nur möglich, wenn die Angst vor dem Fremden, vor dem Verlust der Kontrolle und dem Bestehen auf eindeutige Grenzziehungen zwischen dem Ich und dem Anderen, dem Guten und dem Schlechten, der Natur und der Kultur zugunsten einer neuen Offenheit aufgegeben wird. Ein Zusammenleben, wie es der Surrogate selbst verkörpert: »The surrogate remains a creature that nourishes indigestion, that is, a kind of dyspepsia with regard to proper place and function that queer theory is really all about. The surrogate

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Desiree Förster is nothing if not the mutter/matter of gestation out of place, a necessary if not sufficient cut into the female-defining function called reproduction. To be out of place is often to be in danger and sometimes also to be free, in the open, not yet nailed by value and purpose.« (Haraway 2008: 292)

Der Surrogate ist queer, er ist der Inbegriff für die Untergrabung herkömmlicher Definitionen, indem er in einem gebärähnlichen Akt der Schutzgebung für den Hairynosed Wombat eine Zuflucht bildet, die der Funktion der Reproduktion selbst eine neue Bedeutung gibt. Als das Andere, das durch seine bloße Existenz traditionelle Rollenzuschreibungen in Frage stellt, ist er ein Gegenentwurf zu der Ausgrenzung des Anderen zugunsten der Bildung eines souveränen Staates/Subjekts, wie sie Agamben beschreibt. Obgleich der Surrogate jegliche biopolitische Norm zu sprengen scheint, neue Regeln der Mutterschaft und Fortpflanzung einführt, die nicht mehr biopolitischer Kontrolle unterliegen, erhält er in Piccininis Entwurf die Chance auf Integration und bietet diese zugleich für Andere, ohne dass Formen von Andersheit absorbiert werden müssen. Wie der Wombat in den Körpermulden des Surrogates, kann das Eigene im und durch das Fremde bestehen. In der Integration dieser materiell-semiotischen Akteure, die als hybride Lebensformen eine mögliche Auflösung bestehender Grenzen, bei gleichzeitiger Verwirklichung alternativer Lebensmöglichkeiten abbilden, liegt ein Schlüssel für die Gestaltung des Miteinanderlebens in technowissenschaftlichen Gemeinschaften: »With this kind of material-semiotic tool as companion, the past, present, and future are all very much knotted into one another, full of what we need for the work and play of habitat restoration, less deadly curiosity, materially entangled ethics and politics, and openness to alien and native kinds symbiogenetically linked.« (Haraway 2008: 292)

Es ist das Konzept eines neuen Zusammenlebens, in dem Differenzen und Ungewissheiten heterogene anthropozentrische Gewissheiten ersetzen. Piccininis Weltentwürfe ziehen eine Konsequenz aus Haraways machtanalytischer Entstehungsgeschichte biologisch-rassistischer Theorien in den Naturwissenschaften und zeigen ein Miteinander, das auf Hierarchien zu verzichten scheint und dabei auch etwaige, ambivalente Konsequenzen andeutet. Wenn Wissen immer ein situiertes ist und die vermeintliche Objektivität des Anthropozentrismus unter Einbezug von Subjekten und Körpern produziert wird, dann kann eine Konfrontation mit den Beschützer-Kreaturen durch deren Verweigerung einer Verobjektivierung dazu beitragen, alternative, Wissen generierende Erzählstrategien zu entwickeln und die Vormachtstellung des Menschen gegenüber dem Nichtmenschlichen als Phantom zu entlarven. Indem Eduardo Kac und Patricia Piccinini die biotechnologisch manipulierten Lebensformen als soziale Subjekte begreifen, rekurrieren sie darauf, dass an der Herstellung von Wissen und Realität unzählige soziale Akteure beteiligt

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sind, denen Rechnung getragen werden muss. Sie initiieren das, was Haraway mit einem speziesübergreifenden Diskurs bezeichnet hat, der die bisherige Repräsentationspolitik, wie sie auch in den Biotechnologien reproduziert wird, ablösen soll. Denn Repräsentation birgt immer die Gefahr von Ermächtigung seitens des Repräsentanten, die das Repräsentierte entmündigt. Wenn Kac und Piccinini dem Anderen ein Antlitz zuerkennen – ihn als Gegenüber entstehen lassen, das eine Interaktion einfordert –, wird das Sprechen über ihn der Kontrolle der Wissenschaft entzogen, wird dem Anderen eine Stimme gegeben. Doch wie genau könnte der Umgang mit dem Anderen, wie könnte eine hybride Lebensform mit hybriden Lebensformen gestaltet werden? Sowohl Haraway als auch Kac und Piccinini sehen einen wesentlichen Schritt in Richtung der Gestaltung einer solchen in der Anerkennung von Differenz – sowohl in dem Anderen als auch in uns selbst. Erkennt man Differenz an und bewertet diese als produktiv innerhalb eines gemeinsamen Aushandlungsprozesses von Lebenswelt, können auch die Biotechnologien als Tool zur Arbeit mit und an Differenzen positiv in diesen Prozess eingehen. Dazu muss, das habe ich in der Auseinandersetzung mit den Künstlern herausgestellt, der den Biotechnologien immanente Aufbruch dichotomer Grenzbereiche deutlich gemacht werden. Künstler wie Kac nutzen Ironie und Fake als Mittel der Kennzeichnung dieser den Biotechnologien eigenen Weise der Wissens- und Realitätserzeugung und versuchen, sie als neue Medien einer aufgeklärten Bevölkerung zuzuführen. Doch wie ich in meiner Kritik an Kac gezeigt habe, reichen diese Strategien zur Revision verinnerlichter Denk- und Wahrnehmungsweisen nicht aus, um Handlungsalternativen im Umgang mit dem Anderen, dem Nichtmenschlichen zu entwickeln. Denn in der Begegnung mit dem hybriden Anderen sind wir erstmals gezwungen, wesentliche Grundlagen unserer Selbst- und Weltkonstruktionen, wie sie sich seit Jahrhunderten etabliert haben, komplett zu revidieren. »The practice of regard and response has no preset limits, but giving up human exceptionalism has consequences that require one to know more at the end of the day than at the beginning and to cast oneself with some ways of life and not others in the never settled biopolitics of entangled species.« (Haraway 2008: 295)

Wenn wir bereit sind, das Wissen, dass in dem hybriden Anderen produziert wird, anzuerkennen, können unsere anthropozentrisch und humanistisch konstruierten Grenzziehungen zwischen Mensch und Nichtmensch, Leben und Tod, Selbst und Anderem nicht länger aufrecht erhalten werden. Die Konsequenz aus dieser Einsicht kann keine Etablierung des Anderen in überkommene Gesellschaftsstrukturen sein, wie es Kac vorgeschlagen hat. Als auf dem Papier kalkuliertes, nach Berechnungen modelliertes Tier bleibt Alba ein dem Menschen unterlegenes, kategoriales Objekt – und der Mensch wiederum bleibt kalkulierbares Gegenstück des Tiers. Obgleich Kac betont, dass Alba ein einzigartiges Individuum ist, eine Bereicherung des sozialen Lebens der Familie Kac, so gibt er

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doch vor, die Begegnung mit dem Anderen von dessen Geburt bis hin zu seiner sozialen Integration kalkulieren zu können. Nur wenn der Kernpunkt der technobiopolitischen Kontrolle über Körper überwunden und deutlich wird, dass sie darauf gründet, Lebensformen kalkulierbar werden zu lassen, können alle beteiligten sozialen Akteure ihren angemessenen Anteil an dem Gestaltungsprozess von Lebensrealität erhalten.

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Transfusionen des Humanen Zur visuellen Poetik des Blutes in Dexter und True Blood Dominik Maeder

F ernseh -Ü bertr agungen In seiner Reverse Television betitelten Videoinstallation aus dem Jahr 1982, die das Wiener Museum Moderner Kunst jüngst im Rahmen der Ausstellung Changing Channels. Kunst und Fernsehen 1963-1987 präsentierte, lässt Bill Viola die unsichtbare Kehrseite des Fernsehens sichtbar werden: Eine Serie von 42 unkommentierten Einstellungen von 30 Sekunden Länge zeigt auf einem Fernsehbildschirm Portraits von TV-Zuschauern in ihrem häuslichen Umfeld. Auf einem Stuhl, Sessel oder der Couch Platz nehmend, korrespondieren die starren, vis-à-vis der Kamera (und damit des Fernsehapparates) angeordneten Körper mit der Monotonie dieser Bewegtbilder, aus denen just jegliche Bewegung getilgt scheint. Doch dieses beinahe parodistisch anmutende Arrangement fokussiert gerade die Aktivität dieser Inaktivität, die körperliche Leistung, die mit der augenscheinlich passiven Rezeption verbunden ist, wechseln doch die Portraitierten in der Suche nach der optimalen Rezeptionshaltung beständig ihre Sitz- und Kopfhaltung, suchen nach bequemen Stützen für ihre Körper oder bewegen scheinbar unmotiviert ihre Hände, Arme, Füße und Beine. Inszeniert die Videodokumentation damit die nie vollends gelingende Selbstdisziplinierung der Körper als nicht bloß akzidentielles, sondern vielmehr konstitutives Element für das Funktionieren des Apparats, so zeigt sie zugleich ein Potenzial zur Aneignung an, das nicht nur in das Zentrum des Anliegens der Aktions- und Performance-Kunst, sondern auch in das der klassischen Kritik an der monolateralen Kommunikationsweise des Fernsehens zielt. Aus heutiger Sicht erinnern Bill Violas Bilder wohl nicht zufällig an eine ihrerseits wiederum klassisch zu nennende Darstellungspraxis des Fernsehens, die ihren parodistischen Höhepunkt mit der Comedyserie Married … with Children (FOX, 1987-1997; dt.: Eine schrecklich nette Familie) gefunden hat und die Inszenierung des Familienalltags aus der Sicht des Fernsehapparates bein-

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haltet.1 Kann die in die Ikonographie amerikanischer Populärkultur eingezogene Al Bundy-Pose dabei gerade als maskuline, über die Positionierung der Hände die Kontrolle der Fernbedienung mit der Behauptung männlicher Potenz analogisierende Stilisierung der freiwilligen Abrichtung auf den Apparat gesehen werden, so erfüllt diese Reverse Television-Einstellung die Funktion einer humoristischen und spiegelbildlichen Problematisierung der Habitualisierung des Fernsehkonsums im Kontext der Familie. Dass das Fernsehmöbel so gerade auch aufgrund televisueller Darstellungspraktiken »zum kulturellen Symbol des Familienlebens schlechthin« (Spigel 2001: 220) avancierte, verweist dabei auf die ›Gouvernementalität‹ des frühen Fernsehens, das heißt jene angeleiteten Aneignungs- und Habitualisierungspraktiken, die sich um die Handhabung des Apparates als Technik zur Herstellung einer Familie konzentrierten, die als Schaltachse zwischen den separaten Sphären des Öffentlichen und des Privaten konzipiert wurde (vgl. Stauff 2005: 242ff.). Die Praktiken, die zur Implementierung des Fernsehens in die Haushalte dienten, kreisen dabei vorrangig um die topologische Anordnung zumindest zweier Körper: dem leiblichen Körper des Zuschauers und dem materiellen Empfangs-Körper des Mediums (vgl. Spigel 2001: 218ff.). Wenn es dabei genau diese räumliche Verortung der Körper ist, derer sich die Inszenierungen von Bill Viola und Married … with Children gleichsam bedienen, so gründet sich der anachronistische Charakter sowohl des Kunstwerks als auch der TV-Serie2 gerade auf der gegenwärtigen Auflösung der starren Beziehung zwischen Zuschauer- und Medienkörper, welche mit der Transformation des Fernsehens zu einem Partialmedium im digitalen Medienverbund verknüpft ist (vgl. Spigel 2004: 6ff.). In Einzelclips und -ausschnitten auf multiplen Wiedergabegeräten abspiel- wie speicherbar, hat das Fernsehen seinen Körper verlassen, ohne – ein kurzer Blick in die TV-Geräte-Abteilung eines beliebigen Elektrofachhandels bestätigt dies – ihn vollständig aufgegeben zu haben. Als genuines Übertragungsmedium mit einem exklusiven Empfangskörper gestartet, der dann im Laufe der technischen Entwicklung von parasitären Subsystemen wie Videorekordern und Spielekonsolen gekapert wurde (vgl. Uricchio 2004: 172), ist das Fernsehen zu einer multimodalen Transmissionsform geworden, die sich von ihrem Körper emanzipiert hat.

1 | Prominent – aber teilweise abgeschwächt – eingesetzt wird dieses Darstellungsmittel darüber hinaus vor allem in weiteren Comedy-Formaten wie ALF (NBC, 1986-1990), The Simpsons (FOX, 1989-), The Cosby Show (NBC, 1984-1992) oder The Fresh Prince of Bel-Air (NBC, 1990-1996). 2 | Die Ausstellung Changing Channels basiert explizit auf einem historisierenden Gestus, der die zeitgenössischen künstlerischen Projekte, die sich auf das Fernsehen beziehen, dezidiert ausblendet, während Married … with Children seine Endlosschleifen durch die hinteren Reihen des deutschen TV-Programms vor allem auf den frühen Nachmittagssendeplätzen zieht, die traditionell der Versendung alten oder billig produzierten Materials dienen.

Transfusionen des Humanen

Das Fernsehen ist sicherlich tot (vgl. Münker 1999), aber die bloße Tätigkeit fernzusehen überlebt fraglos (vgl. Miller 2010: 175ff). Das televisuelle Medium gilt es daher als Überlebensform zu denken, die sich der verschiedenen Empfangskörper nur bedient, um sie rasch wieder zu verlassen, als Transmission, die sich von einem zum anderen Gefäß permanent umkehren, umwandeln und umgießen lässt: Fernsehen als Übertragbarkeit. Wenn die Fernsehfamilie dabei die Form darstellt, mit der das frühe Fernsehen sein eigenes Prozedieren als Mediendispositiv ästhetisch habitualisiert und immer auch problematisiert hat (vgl. Mikos 2004: 214f.), so möchte der vorliegende Beitrag anhand der Analyse zweier zeitgenössischer US-amerikanischer Drama-Serien danach fragen, welche ästhetischen Praktiken als Reflexionsfiguren auf die Funktionsweise des Fernsehens im digitalen Zeitalter verstanden werden können. Sowohl die Serienkillerserie Dexter (Showtime, seit 2006) als auch die Vampirserie True Blood (HBO, seit 2008) rekurrieren in ihren Darstellungspraktiken dabei maßgeblich auf das Blut als einer Substanz, die selbst nicht nur Gegenstand diverser medizinischer wie metaphorischer Übertragungstechniken ist, sondern der zugleich auf der bildästhetischen Ebene eine poetische Qualität verliehen wird, die es zur zentralen Denkfigur, das heißt zur sich selbst stilisierenden Visualisierung des televisuellen Prozedierens werden lässt (vgl. Adelmann/Stauff 2006). In der televisuellen Inszenierung des Blutes kongruieren dabei drei Bedeutungszonen, die Anja Lauper als historische Umwandlungen der Konzeptionierungen des Blutes skizziert und die selbst als drei Momente der Transfusion beschreibbar werden (vgl. Lauper 2005): Erstens die mythopoetische Übertragung der Gewalt in Schrift in Ovids Erzählung von Philomela, die, ihrer Zunge gewaltsam beraubt, purpurne Schriftzeichen in weißes Garn webt, um das Verbrechen kundzutun. Zweitens die theologische Übertragung des Göttlichen ins Irdische in der durch priesterliche Konsekration bewirkten Transsubstantion der Eucharistie sowie drittens die wissenspoetische Übertragung des Zirkulierenden ins Zählbare in der Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey, dessen paradigmatische Funktion für die politische Ökonomie des 18. Jahrhunderts gerade in der Konzeption einer optimierten Zirkulation konstanter Quantitäten zu verorten ist (vgl. Vogl 2008: 238). Die Analyse der beiden Serien konzentriert sich dementsprechend auf die Darstellung des Blutes als poetische Substanz, die nur im Modus der Übertragbarkeit zwischen Wissensformen, Körpern und Regulierungsinstanzen gegeben ist.

B lutspuren , B lutbilder : D exter »Tonight’s the night. And it’s going to happen again and again. Has to happen.« (Dexter I, 01) Es ist schwer, diese aus dem Off kommenden Worte zu Beginn der Pilotfolge der um den gleichnamigen Serienkiller kreisenden Serie Dexter nicht als Reflexion auf die narrative Struktur der Serie selbst zu beziehen. Die Ver-

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schränkung von Ereignis und Wiederholungszwang beschreibt dabei nicht nur sehr präzise die serielle Dimension, in der die Taten des Mörders mit der Performanz des televisuellen Produkts korrespondiert, sondern hebt durch den Umstand, dass gerade der Protagonist sie formuliert, die Allianz von Erzählakt und erzählter Welt durch die Fokalisierung hervor.3 Die Welt, die wir zu Gesicht bekommen, erscheint somit immer bereits als von einem subjektiven Begehren mediatisierte Welt. Noch der von tiefrotem Licht umgebene Mond, den die erste Einstellung zeigt, erweist sich hier als Spiegelung auf der Oberfläche einer schmalen Wasserpfütze. Gerade weil hier somit zwischen dem Akt der Darstellung und dem mörderischen Impuls kein Abstand besteht, schildert die Serie zunächst nicht das vergleichsweise harmlose Tagleben des bei der Mordkommission des Miami Police Departments als Blutspezialist angestellten Protagonisten, um es anschließend mit der geheimen Nachtseite zu konfrontieren, sondern setzt sogleich mit Letzterer ein. Bis zum ersten Mord vergehen kaum sechs Minuten Sendezeit. An der Mordszene ist dabei der narrative Aspekt auf eine gleichsam nachträgliche Legitimation – beim Ermordeten handelt es sich selbst um einen Kindermörder – beschränkt, sodass es sich hier gerade nicht um eine komplexe, kriminalistische Verdachts-, Beweis- und Überführungsstrategie handelt, sondern um den Akt des Tötens als Performanz, die wiederum den Zuschauer involviert: »Dexter stages his murders as performance art. He dresses the kill room as a narrative space, adorned with photographs and artifacts which tell the victims why they are there. The victims awake to find themselves naked and taped to a table, wrapped in plastic as Dexter confronts them with the evidence of their crimes. In this room, the audience is both witness and participant at once looking down on the space from above, seeing the artistry of the body laid in its wrappings, while at the same time being forced to look at Dexter

3  |  Es erscheint in dieser Perspektive wenig verwunderlich, dass die Romanreihe, welche die lose Vorlage für die Serie bietet, eben nicht mit dieser Reflexion bezüglich der narrativen Struktur beginnt (Lindsay 2004: 1f.). Dexter verkörpert dabei – nicht zuletzt in der Wahl des Handlungsortes Miami als Referenz auf das für die televisuelle Ikonographie der 80er-Jahre wegweisende Miami Vice (NBC, 1984-1990), mit dessen Oberflächenästhetik die Serie sich beharrlich auseinandersetzt (Peacock 2010: 54ff.) – das der narrativen Ökonomie von Krimiserien inhärente Begehren nach dem Mord und dessen Legitimierung. Rechtfertigt sich die Darstellung von Gewalt beispielsweise in CSI durch das polizeilich-forensische Ethos, so hängt der Komplexitätsgrad der Narration jedoch gerade von der Komplexität des Verbrechens ab. Der Serie ist ein Begehren nach dem perfekten Verbrechen somit auf der metanarrativen Ebene inhärent. Dexter verlagert nun dieses Begehren als traumatisch induzierten ›Trieb‹ in den Körper des Protagonisten selbst und fördert so über die Fokalisierung jene Ambivalenz hinsichtlich narrativer Erwartungen zutage, die dem Kriminalgenre inhärent sind: Je besser der Mord, desto besser der Krimi.

Transfusionen des Humanen from the victim’s point of view. The murder represents the culmination of the performance.« (Brown/Abbott 2010: 219)

Doch der Mord stellt nicht nur den Höhepunkt, sondern zugleich die Tilgung der Performanz dar, die ab diesem Zeitpunkt einerseits nicht wiederholbar wird und von der nur der kleine Blutstropfen bleiben wird, den Dexter als einziges Dokument seiner Taten seinen Opfern aus einem kleinen, chirurgisch anmutenden Schnitt in die Wange mit einer Pipette entnimmt, um ihn anschließend zwischen zwei Glasplättchen zu konservieren, welche er in einer versteckt auf bewahrten Schatulle archiviert. Doch darüber hinaus dient die minutiöse Präparierung der Mordszene durch eine umfassende Plastikfolienverkleidung gerade ihrer Verschleierung: Nach dem Mord zerteilt Dexter die Leichen in einem vergleichsweise unkontrollierten Akt, der zumeist nur indirekt von der Kamera eingefangen wird, und stopft alle körperlichen wie stofflichen Überreste der Tat in große Müllsäcke, die er anschließend im Meer versenkt. Wenn es sich hier also um einen primär visuell-performativen Akt handelt, der sich erzählt, nur um die Möglichkeit seiner Erzählbarkeit zu negieren, so korrespondiert Dexters Tätigkeit als Blutspezialist mit diesem Szenario genau insofern, als es sich in der kriminalistischen Rekonstruktion um eine visuelle Mordszene handelt, welche die Spuren ihrer Erzählbarkeit stets in sich trägt. Schon die erste Episode zeigt Dexter in einem museal anmutenden Raum, in dem auf weißem Grund rote Fäden von den auf der Wand sichtbaren Blutspritzern im Raum gespannt sind, die so als mutmaßliche Einstichstellen den Tathergang erzählbar werden lassen. Prägnant dabei scheint der Umstand, dass Dexter diese aus den Blutspuren geronnene Erzählung nicht nur sprachlich, sondern mimetisch in einem tänzerisch anmutenden Körpergestus wiedergibt. Wie bereits Michael Cuntz nahegelegt hat, kann Dexter somit als ein Chiasmus kriminologischer Phantasmatik bestimmt werden (vgl. Cuntz 2008): Als Blutspezialist der Mordkommission bearbeitet er das Blut hauptberuflich innerhalb einer Epistemologie des Zeichens. Die roten Tropfen, Spritzer und Flecken, mit denen er hantiert, verweisen indexikalisch stets auf ihr Ausgetretensein aus einem Körper und fungieren dementsprechend als Spuren der Gewalt, »they tell a story« (Dexter I;01). Das kriminologische Phantasma, welches unter anderem Serien wie CSI exzessiv konstituieren, basiert auf der Prämisse der Objektivier- und Lesbarkeit sämtlicher Spuren und Zeichen, die – mit den entsprechenden Techniken der Überwachung, Kontrolle, Analyse und Imagination – stets auf ihren Urheber rück- und somit in Evidenzproduktion überführbar sind (vgl. Hollendonner 2009). Zugleich partizipiert Dexter in seiner nebenberuflichen Existenz als Serienkiller – der dank der Erziehung durch seinen Stiefvater Harry nur Mörder umbringt – am Phantasma der Selbst-Kontrollierbarkeit und Löschbarkeit eben jener Spuren, die – da der Staat Florida weiterhin die Todesstrafe praktiziert – sein eigenes Überleben bedrohen. Dem Archiv der Lebensspuren entspricht die subjektive Allmacht der Vergessensproduktion.

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Das Blut steht mitten im Zentrum der Umwandlungen des Visuellen ins Narrative sowie des Narrativen ins Visuelle und damit auch im Kreuzungspunkt dieser beiden Komplementärphantasmen. Auf der visuellen Ebene führt die Serie das Blut – insbesondere als das mit Dexters Präsenz verbundene Gestaltungsmerkmal – als zugleich ästhetisches wie objektivierbares Element durch eine Reihe von in den Einstellungen präsenten Blutbildern vor. Jene wirken ihrerseits weniger wie Evidenzmaterial, sondern eher wie abstrakte Kunst – insbesondere im klinisch weißen Simulationsraum, in welchem Dexter mittels menschengleicher Puppen die Genese von Blutmustern nachstellt (Dexter II, 05) – oder eher wie Action Painting (vgl. Brown/Abbott 2010: 216f.). Der entscheidende narrative Kniff von Dexter als serial drama um einen serial killer besteht nun darin, die Konstitution dieses phantasmatischen Chiasmus’ im Rahmen des die erste Staffel durchziehenden psychotherapeutischen Narrativs zu beleuchten, das heißt die behauptete Les- wie Löschbarkeit der Zeichen mit jener Erinnerungsspur zu konfrontieren, der eine radikale Unlesbarkeit ebenso eignet wie eine basale NichtLöschbarkeit: dem Trauma. Dexters binär strukturierte Subjektposition – und mit ihr die durch die beständigen Voice-Overs mit ihm identifizierte extradiegetische Position der Kamera – erweist sich so als grundlegender Effekt dieses Traumas. Und nicht zuletzt funktioniert auch dieses psychoanalytische Narrativ zunächst über das Phantasma der Löschbarkeit der Spuren. Konfrontiert mit dem Fund einer sorgsam präparierten und wiederum beinahe artistisch exponierten Leiche, aus deren Überresten sämtliches Blut entfernt wurde, sodass nur noch das nackte, trockene Fleisch übrigbleibt, lässt den leicht verstört wirkenden Dexter eine Mordkunst sehen, die seinem eigenen Können ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen erscheint: »No blood. No sticky, hot, messy, awful blood. No blood at all. Why hadn’t I thought of that? No blood! What a beautiful idea. I’ve never seen such dry, clean, neat-looking dead flesh. Wonderful. […] No blood. I can’t think. I have to get out of here. […] But that bloodless body, this guy may have exceeded my own abilities.« (Dexter I, 01)

Im zweiten Schritt wird dann auch das Phantasma der Archivierbarkeit, diesmal von Dexters Erinnerungsspuren reaktualisiert, indem der gesuchte Serienkiller (›Ice Truck Killer‹) Dexter wiederholt persönlich mit Zeugnissen aus dessen Vergangenheit heimsucht, um dessen Trauma an die Oberfläche zu bringen. Dies geschieht schließlich in narrativer Ironie im Rahmen von Dexters Verfolgung eines Psychotherapeuten, der seine Patientinnen durch gezielte Fehlbehandlung und die Verweigerung von Anti-Depressiva zum Suizid treibt. Im Rahmen dieser »reverse psychology« (Dexter I, 08) setzt sich Dexter zur Verifizierung seiner These selbst auf die Couch des fraglichen Psychiaters, scheitert jedoch mit seinen im Alltagsleben perfekt antrainierten Camouflage-Strategien recht schnell und erzählt in ungekannter – und beinahe freimütig zu nennender Weise – von seiner Beziehung zu seinem Adoptivvater, seiner Mimikry-Existenz, die um das Ver-

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bergen und das hyperkontrollierte Ausagieren seines Geheimnisses, dem Drang zu morden, kreist. Hierbei werden die entscheidenden Szenen aus Dexters Vergangenheit jedoch lediglich visualisiert und nicht in die therapeutische Sprechsituation überführt. Wir sehen Dexter als kleines Kind inmitten einer riesigen Blutlache sitzend, »Mommy« schreiend. Dem therapeutischen Rat folgend und die Existenz seines »big bad wolf inside« (Dexter I, 08) akzeptierend, um so erstmals zur Erfahrung von Intimität befähigt zu werden, outet sich Dexter schließlich gegenüber dem Therapeuten als Serienkiller – und bringt ihn anschließend um. Auf der therapeutischen Ebene wiederholt sich damit das Szenario kontrollierter Unkontrolliertheit, das schon für die Gestaltung von Dexters kill room entscheidend war: Bildet dort die umhüllende Plastikmembran den Immunisierungsmechanismus gegen den Exzess des Tötens, so erscheint hier die therapeutische Szene als jener Schutzraum, der es Dexter erlaubt, in Bezug auf seine eigene, äußerlich sichtbare Lebensführung, von Sicherheitsmechanismen gerahmte Orte wie Situationen einzurichten, innerhalb derer das Kontrollphantasma ausgeblendet werden darf, wobei gerade das vom Mord gefolgte Coming Out die Kongruenz dieser inneren und äußeren Schutzräume markiert. Die eigentliche Therapie kann somit nicht auf der Ebene der Ökonomie der Gefühle ansetzen, sondern muss in Dexters Fall auf die Störung der Kontrolle über die Blutzirkulation abzielen, steht doch gerade das Blut auch in der visuellen Bildökonomie für die Quantifizierung der Emotionen (vgl. Brown/Abbott 2010: 215). Zu einem weiteren Verbrechensschauplatz gerufen, betritt Dexter in voller, wiederum klinisch weißer Schutzmontur ein Hotelzimmer, das die Bühne für einen kunstvoll arrangierten Exzess des ausgetretenen Blutes darstellt (Dexter I, 10). Während Dexter als intendierter Rezipient dieser Installation der Länge nach in die riesige Blutlache fällt, werden erneut die knappen visuellen Erinnerungsfetzen aus seiner Vergangenheit zwischengeschnitten. Signifikant ist hier, dass das Paradigma der Blutstropfen, -spritzer und -flecken vom Exzess des ausgetretenen Blutes abgelöst wird, das nicht mehr distinkt vom Untergrund geschieden werden kann, auf den es läuft, sondern als Prinzip der Farbgebung selbst den Stoff bildet, der gleichsam die erzählte Welt wie das Bild tränkt. Die crime scene wird so zum Schauplatz einer unkontrollierbaren, da traumatischen Erinnerungsarbeit, die Dexter schließlich nicht nur zu der Erkenntnis bringen wird, dass er selbst als Kind dem brutalen Mord an seiner Mutter beiwohnen musste, sondern dass in dieser Szene ein weiterer Zeuge anwesend war: Sein schließlich von ihm getrennt aufgewachsener älterer Bruder, der nun als Ice Truck Killer den besseren – weil mit der Materialität des Blutes arbeitenden – Psychotherapeuten gibt. Das Blut ist dabei strikt mit der Figur des Überfließens verbunden – so wie später noch einmal anhand der bathtub murders (Dexter IV, 01) gezeigt – und kann dementsprechend nicht mehr als objektivierbares Zeichen zum Gegenstand eines Wissens, sondern nur noch innerhalb einer Ökonomie zirkulierender Flüssigkeiten zum Gegenstand einer Handlung, einer therapeutischen Selbsttechnik werden. Mit Bernhard Waldenfels lässt sich dabei die narrative Strategie hinsichtlich

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der durch den Bruder performierten Therapie genauer fassen: Waldenfels unterscheidet etymologisch zwischen ›Iatrie‹ als »einer nachträglichen Heilkunst, die auf die Wiederherstellung einer Ordnung abzielt« (Waldenfels 2008: 113) und der ›Therapie‹ als »einer vorsorgenden Pflegekunst, die der Gewinnung, Erhaltung und Verfeinerung einer Ordnung dient« (Waldenfels 2008: 113). Der ältere Bruder, der zum Ende der Staffel Dexter dessen eigene Stiefschwester zum Töten darbietet, verfolgt in seiner Iatrie das Vorhaben, die familiäre, auf der durch biologische und psychisch-traumatische Genealogie gedoppelten Blutsverwandtschaft basierende Ordnung durch die Auslöschung des falschen Blutes der Adoptivfamilie zu reinstituieren. Die Hervorbringung des Blutes durch Dexter wäre dabei das notwendige visuelle Zeichen, das diesen Austausch der falschen, simulakrenhaften Ordnung gegen die wiederherzustellende Ordnung der Genealogie konsekrieren würde. Dass Dexter sich dagegen entscheidet und schließlich seinen Bruder tötet (Dexter I, 12), ist dann aber keine Zurückweisung des therapeutischen Narrativs an sich – das in der Serie noch verschiedentlich vorgeführt werden wird – sondern die Übernahme des Paradigmas der Therapie im Sinne Waldenfels’: In seinen bislang vier ausgestrahlten Staffeln erscheint Dexter demnach als der durch Normalisierung und Denormalisierung rhythmisierte Prozess, der auf die »Neufindung einer Ordnung« (Waldenfels 2008: 134), auf die integrierende Subjektivierung von Leben und Trauma gerichtet ist. Dexter ist in diesem Sinne die Figur eines Überlebens, das in seiner Konstitution noch die eigene Destitution zu vereinnahmen trachtet, indem es in der Form eines affektiven Selbstmanagements die hyperrationale und alexithyme Kontrolle chaotischer Impulse effektiv steuert. Gerade die Regulierung der Blutzirkulation steht als dezentrales Organisationsprinzip im Zentrum dieses Anliegens – das Blut fungiert hier weder im biologischen noch im psychisch-traumatischen Sinne als essentialistisches Band, sondern als umgießbare Substanz: Seinen Bruder wird Dexter just nach dessen Methodik in einem Kühlhaus kopfüber aufhängen und dann durch einen Schnitt quer durch die Halsschlagader umbringen, sodass das Opfer langsam ausblutet. Der in Plastik gehüllte Leichnam und die blutgefüllte Wanne fungieren dabei wiederum als – anonyme – Gabe an die Polizei, die Tage später auf den Schauplatz stößt. Was Dexter zu denken gibt, wäre somit nicht das Blut als Spur, die es zu verbergen oder zu verstecken gilt, sondern das Blut als de-essentialisierter, nichtsubstituierbarer Rest, als übertragbare Substanz, für die es keinen Empfänger mehr gibt. Zielt die ästhetische Strategie der Serie dabei auf die teils sublime, teils exponierte Sichtbarmachung des Blutes, so stellt sie damit einen Bildkörper her, der sich gerade aus diesen Resten gescheiterter Übertragungen zusammensetzt. In und mit Dexter/Dexter überlebt so das Simulakrum des televisuellen Familienvater-Typus im doppelten Wortsinn als vollends traumatisiertes Rest-Subjekt sowie als optimierte, nicht zu überführende Superheldenfigur (vgl. Dexter I, 12), der gerade das Überleben zur eigentlichen Lebenskunstform geworden ist.

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B lutarmut, B lutfe tisch : True B lood Das Überleben zu lernen ist für den Vampir obsolet geworden: Als Untoter verkörpert er per se das Überleben in seiner doppelten Dimension von Unsterblichkeit und optimiertem, besserem Leben. Die von Alan Ball auf der Basis der populären Sookie Stackhouse-Romanreihe (Harris 2008) entwickelte Serie True Blood (HBO, seit 2008) reinszeniert dabei die gesamte kulturhistorische Polyvalenz, die Clemens Ruthner den literarischen Vampirfiguren attestiert (vgl. Ruthner 2002: 1ff.)4: Nicht nur nimmt er die Mittelposition zwischen Leben und Tod ein, er ist zugleich auch Übertragungsphänomen, das sich durch den Biss viral ausbreitet und vermehrt, sozialer Paria und überdies mit (zumeist maskuliner) sexueller Potenz aufgeladen. »Als Signifika(n)t mit vager Referenz«, so Ruthner, »hält er im kulturellen Gedächtnis eine Leerstelle des Anderen, des Ir(r)-Rationalen frei, das jenseits kultureller Grenzen liegt – Leerstellen, die in verschiedenen Diskursen unterschiedlich besetzt werden können« (Ruthner 2002: 2). Das Originelle an True Blood besteht nunmehr darin, den Vampir von seinem Status als soziale Randfigur dezidiert lösen zu wollen. Durch die biotechnische Synthetisierung menschlichen Blutes – das in gut sortierten Getränkemärkten erhältliche, in Flaschen konsumierbare TruBlood – nicht mehr zum Morden gezwungen, um zu überleben, haben sich die Vampire geoutet (»to come out of the coffin« in Anlehnung an die Redewendung »to come out of the closet«) und kämpfen medienwirksam – der TV-Bildschirm mit der Repräsentantin der American Vampire League ist als Hintergrundbild omnipräsent – als durchaus heterogene Community um Anerkennung und Akzeptanz seitens der menschlichen Mehrheitsgesellschaft. Nicht nur diese hochironische Programmatik des Vampire Mainstreaming verweist dabei auf die genealogische Herkunft dieser Vampirkonzeption aus den Emanzipationsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch die signifikante lautbildliche Nähe zwischen der despektierlichen Vampirbezeichnung »fang« (dt.: ›Fangzahn‹) samt der dazugehörigen Bezeichnung »fangbanger« verweist auf den pejorativen Ausdruck »fag« (dt.: ›Schwuchtel‹). Durch die Wahl des Handlungsortes in der fiktiven Kleinstadt Bontemps in Louisiana und der Bürgerkriegserfahrung des Vampirprotagonisten Bill (konsequenterweise heißt die prominenteste homosexuelle Figur der Serie Lafayette) umfasst die Serie zudem thematische Resonanzen mit dem Kampf gegen die Rassentrennung sowie die Zurschaustellung sexistischer Maskulinität mittels der telepathischen Fähigkeiten der weiblichen, den Cheerleader-Look persiflierenden Heroin und Kellnerin Sookie, deren auditive Binnenperspektive auf die Bewusstseinsströme ihrer Gäste immer wieder narrativ eingenommen wird. All dies sind dabei keine hintergründigen plots, sondern vollkommen an der visuellen Oberfläche situierte Themenkomplexe, deren Narrative die Serie allenfalls in ironischer 4 | Eine theoretisch weniger anspruchsvolle, dafür aber materialreiche Darstellung der Geschichte des Vampirismus bietet Lecouteux (2001).

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Weise überkreuzt. Wenn so in Alan Balls Vorgängerwerk Six Feet Under (HBO, 2001-2005) die aus dem Bezug zur omnipräsenten Repression von Emotion und Kommunikation sich herleitenden Empowerment- und Aktivierungsprozesse immer stetig auf ihr Scheitern bezogen sind, so portraitiert True Blood eine beinahe vollends befreite Welt, welche ziemlich restlos von der Omnipräsenz polymorpher Begehren, orgiastischer – und dabei recht unerotisch inszenierter – Sexualität und der zum reinen Affekt gewordenen Sprache, vom deformierenden Werden durchzogen ist. Und in der Tat ist es auch diese Ästhetik der Oberflächen, deren Emblem der zentrale Handlungsort, die Bar Merlotte’s, das perfekte Simulakrum eines American Diner im sumpfigen Nirgendwo der Südstaatenprovinz, darstellt, in deren Kontext auch das Blut situiert werden muss. Wie schon im Vorspann, der in sehr raschem Wechsel Bilder von Sexualität, Unterdrückung, Gewalt, Tod, Natur und religiöser Erweckung zu einer abjekten Collage versammelt, so schiebt sich das Blut innerhalb der Serie stets wie eine dünne Membran, eine zweite, noch superfiziellere Oberfläche, wie ein Film in die Ebene der Bildgestaltung. Dexter oszilliert hinsichtlich der Darstellung des Blutes sehr stark zwischen der figurativen und figuralen Verwendung des Blutes, gibt es also sowohl bildäußerlich im Rahmen einer Repräsentation distinkter, materieller Tropfen, Muster und narrativer Spuren als auch bildimmanent in der Darstellung der Kräfte des Ausfließens und Auftragens zu denken (vgl. Deleuze 1995: 9ff). Dagegen schlägt sich die ästhetische Strategie von True Blood vornehmlich auf die Seite des Figuralen. Das Blut fungiert hier nicht als eine einem bestimmten Körper zugehörige Substanz, die sich quantifizieren und analysieren ließe, sondern als jenes »unbestimmte Organ« (Deleuze 1995: 34) einer permanenten Übertragung, welche die einzelnen Körper konstituiert, gerade indem es sie destituiert. Wie Georges Didi-Huberman argumentiert, ist es dabei genau dieser doppelte bildtheoretische Stellenwert des Blutes, der am Grunde der christlichen Bildauffassung wirkt und darauf hinausläuft, das Blut nicht bloß figurativ als nachträglich aufgetragene Schminke oder äußerlichen Schmuck zu bestimmen, sondern seine figurale Komponente, seine haptisch-stoffliche, in der Bildsubstanz wirkende Dimension zu betonen (vgl. Didi-Huberman 2005: 27) – das Bild also selbst in seiner Farblichkeit als blutend zu bestimmen (vgl. Didi-Huberman 2009: 13ff.). Wenn die ästhetische Strategie der Bestatterfamilienserie Six Feet Under sich aus der zentralen Operation der Blutsubstitution – also des im Rahmen der Leichenpräparierung vorgenommenen Austauschs des menschlichen Blutes gegen die beinahe farblose Einbalsamierungsflüssigkeit – herleitete und die Bilder selbst als blutleere, beinahe ebenso farblose und damit immer schon von der Sterblichkeit affizierte, anämische Präsentationen der liminalen Situation zwischen Leben und Tod konstituierte, so lässt sich True Blood dementsprechend als Form vampiresker Visualität charakterisieren: Die durch die Bilder gegebene Welt dieses leicht in die Zukunft transponierten Amerikas ist bereits gänzlich zum Objekt einer Transfusion geworden, in deren Rahmen die Vitalität der Farbe durch den

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dunkleren Teint und die dickliche Konsistenz des Vampirblutes ausgetauscht worden ist – eine Transfusion, die schon die zweite Episode der ersten Staffel durch den Blutaustausch zwischen Vampir Bill und Heroin Sookie narrativ nachvollzieht (True Blood I, 02). In seiner Polyvalenz verbindet das Blut innerhalb der Serie die divergenten narrativen Konstellationen und fungiert dementsprechend als der zentrale, nicht-figurative Knotenpunkt der Ästhetik von True Blood. Erstens substituiert das TruBlood hier als Produkt biotechnischer Forschung das menschliche Blut und schafft qua seiner Konsumierbarkeit die Möglichkeit einer Zugehörigkeit der Vampire zu den Menschen, zweitens fungiert das Vampirblut als in homöopathischen Dosen wirksames Universal-Heilmittel und stellt damit drittens eine neue, tröpfchenweise konsumierte und halluzinogen und potenzsteigernde, mit zunehmendem Alter des Vampirs intensiver wirkende Szenedroge (›V‹) dar – zu deren Gewinnung die Vampire gewaltsam zur Ader gelassen werden müssen. Viertens schließlich ist das vom Überlebenstrieb nunmehr abgekoppelte menschliche Blut der Sexualfetisch der Vampirgemeinschaft schlechthin. Das Blut ist hier somit stets in die Doppelbewegung von Ent- und Aneignung, zwischen Gemeinsamem und Eigenem eingebunden, immer die Grenzen der Körper überschreitend, die es durchfließt, die konstitutive Fremdheit im Eigenen, die permanent Objekt fetischistischer wie konsumistischer Wiederaneignung und Immunisierung wird. In der entschiedenen Verdichtung jeglicher Form von Marginalisierung zur Figur des Vampirs, folgt True Blood dabei nur vordergründig einem Emanzipationsnarrativ, das auf die Befreiung vampiresker Subjektivität zielen würde. Diese Emanzipation absorbiert die Serie vielmehr als narratives A priori und vermag daher an der Vampirfigur jene Prozesse darzustellen, die innerhalb dieses politischen Narrativs gar nicht aufhebbar sind. Denn als Untoter verkörpert der Vampir jenes Marginale, jenen Rest, der sich gar nicht zur anerkennbaren Subjektivität kondensieren ließe wie sie eine auf Inklusions- und Exklusionsmechanismen basierende politische Vergemeinschaftungsform erfordert. Als Gestalt eines Lebens, das sich gegen den Tod immunisiert, gerade indem es die Sterblichkeit zur Konstituente seiner Existenz macht, spiegelt der Vampir vielmehr die politischen Immunisierungsstrategien, die »sogar den Tod im Rahmen der Erfordernis der Reproduktion des Lebens« (Esposito 2004: 190) vereinnahmen. So betritt in der zweiten Staffel mit der Mänade Maryann eine Figur die Szene, welche das Kleinstadtidyll von Bontemps gerade durch die Evokation und Steuerung dionysischer Kräfte in ein orgiastisches Chaos stürzt, dessen Höhepunkt die kollektive Darbringung eines Menschenopfers für die vermeintliche Ankunft des beckettesken God Who Comes (True Blood II, 12) darstellt. Maryann verkörpert so die Verschränkung von postmodernen, auf der Freisetzung, Regulation und Lenkung affektiver Energien basierenden Machttechniken mit einer religiös-ekstatischen Vergemeinschaftungslogik, die sich über einen rituellen Ausschluss konstituiert. Innerhalb dieses Evokationsritus ist es dabei dann ein Menschenherz, welches als zentrales Organ zur Distribution des Blutes die Opfergabe darstellen soll.

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Wenn in Milles Plateaux die entscheidende Pointe hinsichtlich der Bestimmung des organlosen Körpers darin liegt, dass sich Deleuzes und Guattaris Begriffsengagement eigentlich gar nicht gegen die Organe richtet – insofern diese nicht als primäre Substanz, sondern als reterritorialisierende Effekte der Intensitätsströme konzipiert werden5 –, im Gegenteil aber vielmehr gegen die totalisierende Wirkung des Organismus als System der Steuerung, Verteilung und Koordinierung dieser Ströme, so ließe sich bezüglich True Blood damit auch behaupten, dass die Serie einerseits die freien, intensiven Ströme jenes Blutes vorführt, das erst im Akt der Überschreitung der Körperdistinktion Sichtbarkeit erlangt (und damit gar nicht anders als im Modus seiner Transfusionierbarkeit gedacht werden kann). Andererseits aber setzt die Serie ebenjene systemischen Zugriffe und Indienstnahmen in Szene setzt, welche die organlose, haptische Leiblichkeit des Blutes stets auf einen strukturierenden Organismus an Transaktionen und Transfusionen rückbeziehen. Das Blut ist damit der dezentrale Transistor, der das Menschliche zwischen dessen biotechnischer Abschaffung und biopolitischer Optimierung überträgt, das Sub- wie Suprahumane zum Gegenstand einer möglicherweise letalen, potentiell aber auch amourösen Transfusion macht. So ist True Blood vor allem auch eine Liebesgeschichte zwischen Vampir Bill und Telepathin Sookie – die ihrerseits bereits ein dem Fernsehen nicht unverwandtes Empfangsmedium von kognitiven Botschaften abgibt, die gar nicht als Sendungen deklariert sind –, in deren Rahmen vor allem die durch musikalische Leitmotivtechnik hergestellte Analogie zwischen der Blutspende und dem Liebesakt heraussticht. Die Liebe wäre hier damit angezeigt als jener Vergemeinschaftungsmodus, der gerade noch dem Nicht-Anerkennbaren ein Forum bieten würde, weil sich die Liebenden in einem Raum der reinen Übertragung situieren, in welchem die Distinktion zwischen Eigenem, Fremdem und Gemeinsamem hinfällig geworden ist. Die Art und Weise, wie True Blood das Leben als Modus einer reinen Übertragung denkt, die nur mehr sekundär an die konkreten Körperbehausungen gebunden ist und darin eine postfamiliäre Form der Gemeinschaft andeutet, ist vielleicht paradigmatisch für die Überlebensstrategien eines Fernsehens, das eigentlich längst schon nicht mehr unter uns weilt, aber in seiner derzeitigen Form vor allem eine durchaus erfolgreiche Kunst des Nicht-Sterben-Könnens zu entwickeln trachtet.

5  |  »Es wird uns langsam klar, daß der oK [organlose Körper] keineswegs das Gegenteil der Organe ist. Die Organe sind nicht seine Feinde. Der Feind ist der Organismus. Der oK widersetzt sich nicht den Organen, sondern jener Organisation der Organe, die man Organismus nennt.« (Deleuze/Guattari 1992: 218) Deleuze wiederholt eine ähnliche Formulierung in seinem Buch über Francis Bacon (vgl. Deleuze 1995: 32).

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Biopolitik, Körper und Lebensräume Ein feministischer Blick

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»Es war höchste Zeit, dass wir uns selbst darstellen. […] Wir waren viele, aber fast unsichtbar. Dass andere über uns sprechen, wollte ich nicht. Wir mussten etwas unternehmen, bevor es zu spät war.« (Ragusa 2008: 8; Dt. d. Ü.) Mit diesen Worten begründet die südafrikanische Fotografin Zanele Muholi ihre Entscheidung, dass sie beginnt, über sich und andere südafrikanische lesbische Frauen zu erzählen, indem sie das Objektiv, den Blick und das Wort eigenhändig auf sich selbst richtet. Warum? »Weil im Hinblick auf uns« – so Muholi – »eine objektive Lücke bestand, ein sichtbarer Mangel an Geschichten und Zeugnissen. All das machte mir Sorge. Jemand aus unserer Community musste die Verantwortung übernehmen, all dies zu dokumentieren, bevor es andere, Fremde tun und unsere Leben in Forschungsobjekte verwandeln und diese dann in Zahlen und statistischen Angaben zusammenfassen. Das passiert Minderheiten oft: Jemand kommt von außen, um ihnen zu erklären, wer sie sind. Ich wollte nicht, dass dies auch uns passiert.« (Ragusa 2008: 8, Dt. d. Ü.)

Muholis Bilder, die seit ihrer ersten Einzelausstellung Visual Sexuality: Only Half the Picture 2004 in der Johannesburg Art Gallery für Aufregung gesorgt haben, stellen Körper dar, welche die Normen, anhand derer afrikanische Frauen dargestellt und ausgestellt werden, offen herausfordern und in Frage stellen2 – Sinnbild solcher Darstellungen ist zweifelsohne das bekannte Beispiel von Saartjie »Sa1  |  Eine erste, italienische Version dieses Aufsatzes wurde in der von Davide Zoletto und Giovanni Leghissa kuratierten Sonderausgabe Altre Afriche der Zeitschrift Aut aut (339) veröffentlicht (vgl. Adamo 2008). 2 | Neben Muholis zwischen 2003 und 2006 entstandenen Bildern enthält der Ausstellungskatalog Only Half the Picture (vgl. Muholi 2006) einen Essay von Pumla Dineo Gqola sowie die Wiederaufnahme von Diskussionen und Debatten, die Muholis Werke in der Presse ausgelöst haben.

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rah« Baartman, die als sog. »Hottentottenvenus« zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa vorgezeigt wurde. So bildet Muholi in ihren Werken zum Beispiel lediglich einen Ausschnitt des Gesichts einer Frau ab, die einen benutzen, blutigen Tampon zwischen den Fingern hält und diesen, ganz so als ob er eine Zigarre wäre, zum Mund führt (Untitled 2006). Oder sie versucht, die Folgen einer Vergewaltigung zu verdeutlichen, indem sie die vor ihrem Geschlecht verschränkten Hände einer Frau und das von einer langen Narbe verunstaltete Bein fotografiert. Dieses Bild trägt den bedeutungsvollen Titel Aftermath und bezieht sich auf eine Gewalttat, die sich 2004 in der Provinz Gauteng ereignete. Oder sie thematisiert das, was sie ironisch durch den Titel als eine ID crisis (2003) angedeutet hatte, wenn sie eine Frau zeigt, die sich den Rumpf bandagiert, um die Brust zu verstecken. In Sistahs (2003) hat Muholi zudem die afrikanische ›Schwesterlichkeit‹ von Frauen festgehalten, die ihre Körper verschwörerisch beobachten, aber darüber hinaus auch Umarmungen, Küsse, Streicheleien und Intimitäten zwischen zwei oder drei weiblichen nackten Körpern zeigen, die durch ihre Gesichter und ihre unkonventionellen Formen von ihrer Einzigartigkeit zeugen. Außerdem kreierte sie auf verschiedenen Oberflächen Zeichnungen aus Menstrualblut (in der Serie Period), männlich anmutende Füße und Schuhe (wie sie 2003 in Not butch my legs are ironisch reflektiert) und die auf einer ockerfarbenen Oberfläche als Schatten stilisierte Liebe zwischen zwei Frauen (in der Reihe Closer to my heart, 2005). Es handelt sich also um Alltagspraktiken, die verbalisiert werden mussten, um so auf problematische Art und Weise die Möglichkeit einzufordern, Personen zu sein3. Dies erlaubt ferner, schlummernde, schweigende, vorher nicht artikulierte Erfahrungsschätze auszusprechen und einen Erfahrungsstil auszumachen, der im Sinne einer kreativen Praktik zur Poetik werden kann (vgl. de Certeau 1994: 40f.) Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine Beobachtungs- oder Dokumentationspraxis, welche objektiviert und auf den Diskurs einer »einheimischen Informantin«4 reduziert werden kann. Vielmehr sind es Darstellungen, welche die Grenzen ihrer eigenen Legitimität offen herausfordern, welche die Normen eines sichtbaren und darstellbaren Lebens zur Schau stellen und die daher dieselben Normen, welche diese Lebensformen definieren, und die Diskurse, welche diese Lebensformen reproduzieren möchten, selbst in Frage stellen. Es handelt sich um eine Praxis, die Theorien hervorbringt, weil sie sich durch ihren erfinderischen und kreativen Charakter selbst in den Blick nimmt, sich selbst aufs Spiel setzt, über sich selbst reflektiert und neu entwirft. In Muholis Werk sehe ich eine künstlerische Praxis, die über – ein von neuesten feministischen Interpretationen 3 | Ganz im Sinne de Certeaus, auch wenn dieser lediglich von dem Recht sprach, als Mensch gelten zu können (vgl. de Certeau 1994: 40f.). 4 | Ich beziehe mich hier auf die Kritik der Figur des einheimischen Informanten, die Gayatri Chakravorty Spivak in ihrer Kritik der postkolonialen Vernunft als roten Faden anbietet (vgl. Spivak 2012).

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zur Biopolitik beleuchtetes – Problem nachdenkt und dieses theoretisiert. Es geht hier nicht darum, sich für die eine oder die andere Position zu entscheiden, die Roberto Esposito zu Beginn von Bíos betont, wenn er von einer entweder radikal negativen oder einer euphorischen Vision der Biopolitik spricht (vgl. Esposito 2004: XII). Es geht vielmehr darum, diese Alternative aufzuheben, weil eine eindeutige Definition von Leben nicht das entscheidendste Ziel unserer Zeit ist, sondern eine Reflektion, die sich ausgehend von einer Prekarität des Lebens, die allen gemein ist, zu eben jenen changierenden Rahmenbedingungen befragen soll, die dem Leben Würde verleihen, die dessen Akzeptanz als solches ermöglichen oder hingegen verhindern. Auch wenn solche Überlegungen ihr ganzes Werk durchziehen, so stößt Judith Butler diese doch insbesondere mit ihrer Schrift Gefährdetes Leben (vgl. Butler 2005) an, die sie im Zuge der US-amerikanischen Reaktionen auf den 11. September 2001 verfasst hat. Butler diskutiert hier die bestehende Kluft zwischen dem Verlust von Menschenleben, wobei sie diejenigen, die universell anerkannt und medial als solche gehandelt werden, denen gegenüberstellt, die das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen. Gerade weil Letztere nicht als vollwertiges Leben gelten, könne man nicht um sie trauern und ihren Verlust auch nicht verarbeiten (dieses Thema greift sie später in Raster des Krieges auf, vgl. Butler 2010). Zugleich weigert sich Butler, diese Aspekte im Sinne von Agambens homo sacer und dessen ›nacktem Leben‹ auszulegen: Denn sich im Zustand des nackten Lebens zu befinden, heißt immerhin, der Macht ausgesetzt zu sein. Das nackte Leben ist somit nicht eben jener letzte und nicht bestimmbare Zustand, gerade weil die Macht ihm äußerlich ist und etwas ist, das außen vor bleibt (vgl. Butler/Spivak 2011). Laut Butler verweise Agambens Annahme eines nackten Lebens (und nicht eines ›bloßen Lebens‹ wie bei Benjamin) auf einen unbestimmten Zustand, der es als solcher gar nicht mehr möglich macht, den Sinnüberschuss zu sehen, in dessen Rahmen das Leben auf verschiedene Art und Weise enteignet wird. Man müsse die Multivalenz und die Taktiken der Macht viel komplexer denken, um die Formen des Widerstands, also die Fähigkeit zu handeln und aktiv zu werden, zu verstehen (vgl. Butler 2011). Zudem sollte man lernen, eben jene Art und Weise zu beschreiben, anhand derer Menschen – und insbesondere Frauen – die Fähigkeit abgesprochen wird, sich selbst als Leben zu verstehen. Wenn jedoch »[…] die Sprache, mit der wir jenes Elend beschreiben, abermals voraussetzt, daß ›Souveränität‹ und ›nacktes Leben‹ Schlüsselbegriffe dafür sind, dann berauben wir uns selbst des Wortschatzes, den wir brauchen, um die anderen Netzwerke der Macht zu erfassen, zu denen es gehört.« (Butler/Spivak 2011: 31)

Dies gilt ebenso, wenn man die verschiedenen Konfigurationen dieser Netzwerke der Macht in unterschiedlichen Rahmen und Kontexten verstehen will. Im Zuge dieser Überlegungen thematisiert Butler dann explizit die Frage, wie man sich eine gewaltfreie Ethik vorzustellen habe, die auf der Wahrnehmung einer Levi-

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nas’schen Prekarität des Lebens gründet, welche mit dem Leben des Anderen und mit dessen Antlitz beginne. Hierbei dürfe man sich jedoch nicht darauf beschränken, die unterschiedlichen Stufen der Humanisierung zur Kenntnis zu nehmen, anhand derer das menschliche Leben klassifiziert wird. Vielmehr müsse man der Gewalt direkt ins Auge sehen, die ein ganzer Machtapparat ausübt, wenn er sowohl das Leben als auch den Begriff des Lebens selbst ausbeutet und vernichtet, um seine eigene Macht zu stärken. Im Veröffentlichungsjahr von Gefährdetes Leben (vgl. Butler 2005) kommt Judith Butler mit Undoing Gender (vgl. Butler 2009) auf die Fragen der anhaltenden Gewaltausübung innerhalb der Genderpolitik und gegen sexuelle Minderheiten zurück und damit auf Aspekte, auf die sich Muholis Arbeit konzentriert. Das stetige Revidieren, das Konstruieren und Auseinandernehmen (als Äquivalent des undoing in Butlers Titel)5 der komplexen und ambivalenten Gender-Kategorie, welche Butler ja immer wieder diskutiert und neu verortet, ist zum Schlüssel geworden, um erneut zu erklären, wie jene Gewalt, die auf der Negation bestimmter Leben und Körper basiert, eine Verletzung jenes primären Verhältnisses darstellt, anhand dessen ein jeder Mensch als Körper in Verbindung zu anderen existiert. Eben jene Verletzlichkeit setzt den menschlichen Körper der Gewalt aus. Sie konstituiert zugleich aber auch jenen Ausgangspunkt, dank dessen sich ein jeder von uns dem jeweils anderen widmen und somit letzten Endes auch leben kann. Genau diese Dimension findet sich in Muholis Arbeiten wieder, da sie für die lesbischen Frauen in Südafrika Würde einfordert, so im Hinblick auf deren Leben, Körper und Darstellbarkeit. Zweifelsohne muss dabei kritisch hinterfragt werden, inwiefern Muholis Äußerungen auf ein kollektives Subjekt verweisen, das aufgrund der politischen Dringlichkeit als ein dem ›Anderen‹ beziehungsweise dem ›Fremden‹ entgegenzusetzendes ›Wir‹ artikuliert wird. Gleiches gilt für ihre Überlegungen zu Identitätsbildungen, die scheinbar nur anhand der Dichotomien Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Schweigen/Artikulation erfolgen. Muholis Kunst konfrontiert uns jedoch im Kern damit, dass sich gängige, alltägliche Gewaltpraktiken6 innerhalb bestimmter Definitionsrahmen herausbilden, die ferner bestimmen, welche Lebensformen legitim sind und welche nicht. Aber es handelt sich eben nicht nur um Geschlechterfragen, sondern auch um mehrere, sich überlagernde Rahmen. Einher damit geht zum Beispiel eine spezifische Definition dessen, was als afrikanisch gilt, und all dessen, was nicht in diese Kategorie fallen kann. In dem kurzen Dokumentarfilm Rape for Who I Am (2005) von Lovinska Kavuma – der die Reaktionen von vier Frauen zeigt, die nach ihrer Vergewaltigung (vergebens) aktiv Gerechtigkeit einfordern – berichtet eine Off-Stimme von der weit verbreiteten Überzeugung, dass nur weiße Frauen 5  |  Zur dieser Interpretation von Butlers Denken vgl. Plastina/Pasquino (2009). 6  |  So zum Beispiel die ›korrektive Vergewaltigung‹ lesbischer Frauen oder die unterschiedlichen, sehr konkreten Formen von Diskriminierung und Marginalisierung, denen diese Frauen ausgesetzt sind.

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lesbisch sein können, dass ein solches Verhalten von den Weißen komme, dass dies demzufolge ausschließlich eine weiße Praktik sei und somit nur von den Weißen übernommen werde. Kurzum, es könne unter schwarzen Afrikanerinnen also gar keine Lesben geben. Die in ihren Alltagsfiktionen gefangenen Menschen, denen Muholi das Wort erteilt, seien, so die Off-Stimme weiter, radikal entfremdet und unterschieden sich vollkommen von dem, was unter dem Begriff ›Afrika‹ verstanden werden soll. Gerade aus diesem Grund würden sie einzig auf ihre Sexualität reduziert, als nicht-afrikanisch stigmatisiert (»UnAfrican«, sagt Muholi) und daher korrigiert, mit allen Mitteln normalisiert. Schon seit Saartjie ›Sarah‹ Baartman – seit der Zeit des Kolonialismus und der Sklaverei – dienen die Bilder afrikanischer Frauen dazu, ebenjene Gegensätze zu bekräftigen, welche die Hierarchien von Macht und Gewalt begründen: männlich/weiblich, heterosexuell/homosexuell, weiß/schwarz, afrikanisch/nicht-afrikanisch. Auf diese Weise erfasst der Blick ebenjene problematischen Praktiken, welche die Gender-Dimension, ihre Normen und erfinderische Subversionen bilden, und mutiert zu einem brisanten Dispositiv im Agamben’schen Sinne (vgl. Agamben 2008), das uns den schmalen und skandalösen Grat zwischen dem Leben und der Negation des Lebens vor Augen führt. All dies lässt sich nicht mit Mbembes Begriff der ›negativen Interpretation‹ fassen, denn Letzterer stellt ja gerade eine ›einseitige‹ Dimension dar, welche die Erfahrung von Afrikanern und Afrikanerinnen verbindet, die nur als Subalternität und Widerstand verstanden werden kann und welche sich auf der problematischen Schwelle des Ergreifens des Wortes befindet (vgl. Mbembe 2005: 7). Es ist mehr. Bei alledem darf der historische Kontext nicht vergessen werden, so die Situation Südafrikas nach dem Apartheidsregime, nach der Einrichtung der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Wir sprechen hier von einem Land, dessen Bewohner in einem permanenten »Belagerungszustand« (vgl. Gqola 2006) leben und wo die als notwendiges Erziehungsmittel betrachteten Vergewaltigungen von (vor allem farbigen) Frauen deren einziges öffentliches Bild bestimmen. Im heutigen Südafrika, wo die Verfassung gleichgeschlechtliche Ehen ermöglicht, besteht ein besonderer Zusammenhang zwischen der ›Emanzipation‹, die in Form eines Empowerment vor allem in Bezug auf die Frauen herauf beschworen wird und die unvermeidlich mit der nationalen Verfassung verbunden ist, und der Einforderung dessen, was zu Afrika gehört, was per Definition afrikanisch ist und was zwangsläufig im Widerspruch zu dieser Gemeinschaft steht. Mbembe zufolge ist das, was ›afrikanisch‹ sei, mit einer ›phallischen‹ Herrschaft verknüpft, die ihrerseits mit einer »general economy of sexuality« (Mbembe 2001: 13) (und der Heterosexualität) eng und direkt verbunden sei. Dieser Kontrast bringt eine unmögliche Situation hervor, in der die afrikanische (oder die Stigmatisierung der nicht-afrikanischen) Komponente in jedem Fall vorherrscht. Dineo Gqola sprach diesbezüglich von opportunistischen Beziehungen, die sich zwischen der nationalen Dimension Südafrikas nach 1994 und ›Afrika‹ entwickelt und gefestigt haben. Diese Beziehungen scheinen eine

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kritischen Haltung nicht zu fördern, sondern müssen umso dringender streng hinterfragt werden, um die Naturalisierungsprozesse zur Negation von Differenz offenzulegen (vgl. Gqola 2001: 94-106). Über ihre Ausstellung Being von 2007 sagte Muholi, es handele sich um »an exploration of both our existence and our resistance as lesbians/women loving women, as black women living our intersecting identities in a country that claims equality for all within the LGBTI community, and beyond« (Muholi 2007). Muholis Arbeit war notwendig, denn die rhetorische Einheit der versöhnten ›Regenbogen-Nation‹ mit den Menschenrechten, auf deren Basis die südafrikanische Verfassung Schutz vor jedweder Art sexueller Diskriminierung garantiert, kollidiert mit eben jenen Konstruktionen, die Afrika und ›Nicht-Afrika‹ bestimmen, während sich die Alltagspraktiken allein in Form von Hass, Armut, Gewalt und Sensationshascherei artikulieren. Pumla Dineo Gqola zufolge ist der Umstand, dass in der südafrikanischen Gesellschaft und Politik ein kritisches Denken im Hinblick auf Gewalt fehlt, unter anderem der weit verbreiteten militaristischen Ideologie geschuldet. Dieser Militarismus rührt zweifelsohne aus der Gewalt der Sklaverei, des Kolonialismus, der Apartheid und derer unlösbaren Verbindungen: Er entsteht notwendigerweise als eine Reaktion darauf und reproduziert sie, zugleich aber verweist er weiterhin auf Disziplin, Ordnung und Hierarchien. Diese Begriffe bilden den normativen Hintergrund, vor welchem sich einerseits die Verherrlichung von Prozessen weiblichen Empowerments in der Öffentlichkeit gestaltet und andererseits ihren Ausschluss aus dem Bereich der Repräsentation und Darstellbarkeit von all dem, was nicht den Normen traditioneller »Weiblichkeit« entspricht und sie sogar in Frage stellt (vgl. Gqola 2007: 111-124). Muholi arbeitet also in einem Rahmen spezifischer und lokalisierter Komplexität, der Verbindungen herstellt, die unvorhergesehene Denkenräume eröffnen. Betrachtet man ihre Bilder, so denkt man zwangsläufig an die Arbeiten von David Goldblatt, mit welchen dieser über Jahrzehnte die Gewalt der Biopolitik des Apartheidregimes zur Schau gestellt hatte, indem er den Lebensalltag farbiger Menschen in Südafrika, ihre Alltagspraktiken und -erfindungen abbildet, so zum Beispiel die Pendler, die täglich einen Arbeitsweg von bis zu acht Stunden Busfahrt in Kauf nehmen müssen, um vom abgeschiedenen KwaNdebele nach Pretoria zu gelangen (vgl. Goldblatt/Goldblatt/Harris 1990).7 Zugleich ist kaum zu übersehen, dass Muholi auch jene Repräsentationspraktiken aktualisieren und aufs Spiel setzen wollte: Parodisch zitiert sie deren Reflektion über die paradoxe ›Erstarkung‹ der Visualität, um so all jenem, das in den Bildern versteckt geblieben war oder nur symbolisch ankündigt werden konnte, Ausdruck zu verleihen. Hierbei erweisen sich die Praktiken zur Problematisierung von Repräsentation, die ja bei dieser Art von Kunst erneut aufs Spiel gesetzt werden, als zahlreich und entscheidend. Wenngleich nicht die Einzige, so dürfte Zanele Muholi jedoch wahrscheinlich die provokativste Künstlerin sein, welche kritisch und kreativ zu7 | Diese Bilder von 1989 waren noch 2007 bei der Documenta 12 in Kassel zu sehen.

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gleich die Biopolitik der schwierigen ›afrikanischen‹ Polyphonie inszeniert, die Südafrika charakterisiert. So berichten beispielsweise im Dokumentarfilm Everything Must Come to Light (2002) von Mpumi Njinge drei lesbische Sangoma (traditionelle Heilerinnen bzw. Zauberinnen) aus Soweto über ihr Leben. Sie bringen sich mit der eigenen Stimme und dem eigenen Körper in den Film ein. Indem sie erzählen, wie ihnen ihre Vorfahren den Weg zur traditionellen Magie aufgezeigt haben und ihnen dabei suggerierten, dass dies nur möglich sei, wenn sie sich von ihren Ehemännern ab- und anderen Frauen in Liebe (Verwandtschaft und Anziehung) zuwendeten, entkräften sie ›afrikanische‹ Lebenspraktiken. Schon in dem bereits erwähnten Film Rape for Who I Am (2005) von Lovinsa Kavuma verflechten sich die Stimmen von lesbischen Frauen, die Einzelheiten aus ihrem ungemein komplexen Leben preisgeben, mit anderen, anonymen und gesichtslosen Off-Stimmen. Letztere geben allgemein geteilte, auf binäre Oppositionen reduzierte Normen wieder – Überzeugungen, die nicht nur davon ausgehen, dass Lesbischsein ein von den Weißen kopiertes Verhalten sei, sondern auch davon, dass sich diese Frauen trotz ihrer eindeutigen Physis als Männer verstünden oder eine sexuelle Identitätskrise durchlebten usw. (vgl. Kavuma 2005). Dies bildet den Hintergrund, vor dem von den (vergeblichen) Versuchen erzählt wird, Gerechtigkeit zu erlangen für eben jene ›gut gemeinten‹ Vergewaltigungen, die auch von Verwandten, Freunden und Nahestehenden verübt worden sind. Implizit weigern sich die Erzählerinnen allerdings, sich selbst einzig und allein als Opfer dieser Verbrechen zu definieren. Denn Gewalt zu verbalisieren, sie zur Schau zu stellen und zu inszenieren, um so ihre Naturalisierung zu verhindern, bedeutet nämlich noch längst nicht, die eigene Stimme selbst zur Gewalt avancieren zu lassen. Mit ihren jüngsten Bildern praktiziert Muholi zunehmend eine Art von – wie sie selbst es nennt – ›visuellem Aktivismus‹, der die Intimität, die Liebe, das Lachen und die Freude des Alltags zur Schau stellt, der die Einzigartigkeit dieser auf den Bildern festgehaltenen Leben bejaht, ihre Namen zu Titeln werden lässt und so einmal mehr deren skandalöse, sensationelle Darstellung einfordert.8 Auch wenn die Konstruktion eines ›Wir‹ bzw. eines kollektiven Selbst, über das Bilder Muholis aggressiv berichten zu scheinen, einen Zielpunkt darstellen mögen – nämlich das Einfordern des traditionellen politischen Raums und von Darstellbarkeit –, erklärt die Photographin klar und deutlich, dass ihre Arbeit ständig im Gange ist und dass sie sich ständig mit der Frage nach den verschiedenen Konstruktionsmodalitäten von Sexualität und Identität auseinandersetzt. Letztere entsprechen prekären und vor allem erlittenen ›Resultaten‹ eines Aushandlungsprozesses. Zugleich stellen sie aber auch einen neuen Ausgangspunkt für ihre eigene Dekonstruktion dar, so Muholi wortwörtlich, damit wir all jene Teile erkennen, die uns in unserer Ganzheit ausmachen (vgl. Muholi 2008). 8 | Neben der bereits angesprochenen Serie Being betrifft dies auch Faces and Phases (2006), Miss D’vine (2007) und La Rochelle (2008).

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All dies kann nur sehr schwer als ›afrikanische Praktik‹ etikettiert werden, auf die sich eine Theorie anwenden ließe. Diese Komplexität regt zum Nachdenken an. Mehr noch: Sie zwingt einen dazu, denn sie setzt nicht nur die Position, aus der sie spricht, radikal aufs Spiel, sondern ebenso die Position des Beobachters, der bestrebt ist, gerade jene Komplexität in sein Repräsentationsdispositiv zu integrieren. In der Auseinandersetzung mit solch einer Art von Kunst erkennt man schnell, dass man in einem disziplinären und disziplinierten Netz von Diskursen gefangen ist. Durch die Reproduktion von Normen reduziert dieses Dispositiv das Leben anderer Menschen und vor allem anderer Frauen – ihre Körper und Lebensräume – auf die Funktion von einheimischen Informanten. Hierbei kommen normativen Repräsentationen und Gender-Praktiken besondere Kraft und Bedeutung zu, handelt es sich doch dabei um eine Gewalt, die tendenziell als selbstverständlich betrachtet und stillschweigend in Kauf genommen wird. Es geht also in erster Linie um die zentrale Frage nach der Intelligibilität, nach der ›Sittlichkeit‹ – wie Judith Butler mit Hegel sagen würde – eines würdigen menschlichen Lebens und inwiefern dieses als solches darstellbar ist. Hierbei sollte nicht nur zur Kenntnis genommen werden, dass bestimmte Menschen, insbesondere bestimmte Afrikanerinnen, im Vergleich zu anderen wohl weit weniger diesen Normen von Würde zu entsprechen scheinen, sondern dass Lebensräume und Modalitäten eröffnet werden müssen, welche dieses Problem zu politischer Dringlichkeit erheben. Ferner gilt es, darüber nachzudenken, wie sich Ethik und Politik artikulieren, wenn – wie uns Butler mit Antigone zeigt – die Grenzen von Repräsentation und Darstellbarkeit erst einmal ausgestellt, zur Schau gestellt und aufgebrochen worden sind (vgl. Butler 2000: 2). Muholi ist sich nicht nur theoretisch bewusst, dass sie eben jene Grenzen auf bricht und ausstellt: Sie möchte auch Verantwortung dafür übernehmen. So drehte sie im Rahmen einer ihrer Ausstellungen im Jahr 2005 ein Video, welches den bedeutsamen Namen Enraged by a Picture trägt. Der Film zeigt die gewaltsamen und wütenden Reaktionen, welche die ausgestellten Photographien bei Besuchern, Journalisten sowie verschiedenen Kommentatoren ausgelöst haben und ebenso jedes Mal aufs Neue auslösen. Er präsentiert sensationelle Schlagzeilen, Besucherkommentare und Bemerkungen von Kuratoren: Einige zeigen sich empört, andere tadeln den Gebrauch von Nacktheit und wieder andere sehen in der Zurschaustellung dieser Körper und Leben einen Vorwand. Muholi selbst ist der Meinung, dass die Hautfarbe des Betrachters hierbei keinerlei Rolle spiele, da die Reaktionen immer die gleichen seien. Dass das hier zur Debatte gestellte Problem gerade jene Normen sind, die nicht nur die Arbeit des Photographen, sondern ebenso den generellen Kanon von Darstellbarkeit bestimmen, weiß die Künstlerin: Im Film bezieht sie dazu offen Stellung. Sie ist sich nicht nur bewusst, dass solche Arbeiten nur innerhalb eines akademischen und somit in gewisser Hinsicht geschützten Rahmens, einer Art Reservat, ausgestellt werden können, sondern ebenso, dass die von ihr abgebildeten Personen selbst in solch privilegier-

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ten Räumen nicht zugegen sein können, um mit ihr das Wort zu ergreifen. Muholi frage sich stets, welche Antwort sie wohl bekäme oder was passieren würde, wenn sie diese Bilder auf der Straße ausstellen dürfte, so ihr Kommentar (vgl. Muholi 2005). Und weiter: »Ich wollte zeigen, das Lesbischsein so viel mehr bedeutet, als sich auf den ersten Blick erschließen lässt, dass sich hinter diesem Blick unsere Leben, unsere Kämpfe verbergen und wir immer noch von Gewalt und Vorurteilen umgeben sind. Die dargestellten Personen sind nicht nur lesbisch, sondern sind auch mein Volk. Sie beschreiben mich als Mensch. Sie sind meine Freundinnen, die ich respektiere und bewundere. Ich verstehe, aus welchem Umfeld sie kommen. Sie symbolisieren unser Leben und unsere Gemeinschaft.« (Muholi 2005, Dt. d. Ü.)

Indem sie die Dinge aus weiblicher Sicht thematisieren, können diese Formen des ›Über-sich-selbst-Berichtens‹ nicht umhin, sich auch selbst zu befragen. So hat sich zum Beispiel nach dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika eine ganze Reihe von Diskursen herausgebildet, welche das problematische Schweigen von Frauen im Hinblick auf Gewalterfahrungen aufgreifen. Vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission haben Frauen oft geschwiegen. Sie haben durch ihr vielsagendes Schweigen auf ein ungelöstes Problem verwiesen9. Dabei verkörperte doch gerade jene Kommission die Möglichkeit und die Notwendigkeit von Aussprache. Denn als Form der Subjektivierung lässt das Sprechen ja genau diejenigen Teil des öffentlichen Diskurses werden, die vorher gewaltsam durch ein nekropolitisches Dispositiv10 davon ausgeschlossen worden waren. Die gesamte Problematik des Schweigen steht seit jeher im Mittelpunkt der international wohl bekanntesten Künstler Südafrikas: John Maxwell Coetzee und William Kentridge. Coetzee stellt das Schweigen paradoxerweise literarisch dar. Es zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk, für welches er im Jahr 2003 den Literaturnobelpreis erhielt: mal als Weigerung über die Figur Michael K. zu sprechen (so im Roman Life and Times of Michael K von 1983), mal als stockende Sprache des Mitprotagonisten Freitag in Foe aus dem Jahr 1986 bis hin zu Disgrace von 1999, wo eine vergewaltigte lesbische Frau ihre farbigen Peiniger nicht bei der Polizei anzeigt. Als bedeutsame Begleiterscheinungen im Fall von Disgrace erwiesen sich nicht nur, dass Coetzee des Rassismus beschuldigt wurde, sondern auch, dass er mit seinem Roman notwendige Überlegungen angestoßen hat, inwiefern solche Dinge literarisch dargestellt werden.11 Zu den berühmtesten 9  |  Zur Auseinandersetzung mit dem Thema vgl. auch Krog (1998) und Motsemme (2004). 10  |  Diese Lektüre ist besonders explizit in den Anmerkungen des Herausgebers bei Krog (1998: vi- viii). 11  |  Zur in Südafrika von Disgrace ausgelösten Debatte vgl. McDonald (2002). Die gesamte Ausgabe von Interventions widmet sich den von Disgrace ausgelösten Effekten und Debatten und ihren möglichen Lektüren.

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zeitgenössischen Künstlern gehört auch William Kentridge. Er setzt sich schon länger mit der Frage nach der Verschleierung von Gewalt und der damit verbundenen Verantwortung und Mittäterschaft auseinander. Auch seine künstlerische Technik reflektiert diese Thematik, denn er filmt, wie er Bleistiftzeichnungen erst zu Papier bringt und diese dann wieder ausradiert.12 Es scheint, als ob Zanele Muholi auf all dies schreiend antworten würde. Ihre Bilder bieten uns nicht nur Aktphotographien oder Szenen, die sich bis hin zur Schwelle von Pornographie bewegen. In diesem Zusammenhang erweist sich ihre 2003 begonnene Auseinandersetzung mit Themen wie Menstruation (vgl. Muholi 2008) oder Blut als besonders interessant. Durch die Behauptung, mittels des eigenen Körpers über sich selbst zu erzählen und diese Reduktion auf bloße Körperlichkeit in ein skandalöses Bild umkippen zu lassen, das diesen seinerseits in Leben verwandelt (die letzte Serie zeigt die Monatsblutungen der Künstlerin und ihrer Lebensgefährtin vom Monat April), scheint Muholi ihre Arbeiten theoretisch und intertextuell zu verorten und mit denen nicht weniger provokatorischer Künstler und Theoretiker zu verbinden: so zum Beispiel mit der Photographie Piss Christ (1987) von Andres Serrano, welche ein in Urin versenktes Kruzifix zeigt und sich bei Muholi als Blut auf dem weiblichen Körper verwirklicht (vgl. Hooks 1995: 213ff.13). Unterstützt wird diese Interpretation durch den Titel is’khati ihrer letzten Bildserie, ein Ausdruck, der ihre Bilder lokalisiert und auf die Zulu-Kultur verweist: Is’khati heißt Zeitraum oder wiederkehrender Anlass – darin schwingt aber auch die besondere Konnotation von Geheimnis und Unsagbarkeit mit (vgl. Muholi 2008). Insofern wäre es viel zu simpel, zu behaupten, dieses ausgestellte Menstrualblut verweise metonymisch auf das kollektive und generalisierte Bluten einer Nation und eines Kontinentes. Dass Muholi zugleich auf Spivaks Konzept der Subalternen ohne Sprache anspielt, wird durch die Frauenfigur nur zu deutlich. So verweist Spivak auf eine Frau, die sich während ihrer Monatsblutung umbringt – nicht nur um in den Augen der anderen eine Schwangerschaft als Tötungsgrund auszuschließen, sondern auch, dass einzig das aus ihrem Körper fließende Blut jenes schreiende, biopolitische Schweigen ihres ›Über-sich-Berichtens‹ sein kann. Dieses schwindelerregende Netz von Zusammenhängen setzt einen unaufhaltsamen Mechanismus in Gang, der zur Auseinandersetzung mit der Problematik der Reprä12 | Kentridge ist einer der ersten südafrikanischen Künstler, der nach dem Ende des Apartheidregimes und des Kulturembargos internationale Anerkennung erfährt (vgl. Christov-Bakargiev 1998; Cameron/Christov-Bakargiev/Coetzee 1999; Hooks 1998). Vgl. Kentridge/Christov-Bakargiev (2004) zu seiner ersten Einzelausstellung in Italien im Castello di Rivoli in Turin 27.03.-31.05.2004. Zu Kentridges Kernthema, nämlich der Frage nach Darstellbarkeit, danach, was gezeigt werden darf und was nicht, verwiese ich auf den Katalog der Ausstellung Black Box/Chambre Noire, die 2005 in der Deutschen Guggenheim in Berlin stattfand (vgl. Villaseñor 2005). 13  |  Muholi beleuchtet diese Verbindung in ihrem Artikel »Is’khathi. A Photo-biographical Project« (vgl. Muholi 2008).

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sentation, ihrer Komplexität, ihrem theoretischen Status und ihrer politischen Tragweite zwingt. Achille Mbembe warnt zu Recht davor, die derzeit typisch afrikanische Nekropolitik auf das Problem von Repräsentationen, Diskursen und der Identifizierung subalterner Widerstände zu reduzieren. Dies wäre, um mit einem von Muholis Ausstellungstiteln zu spielen, Only Half the Picture. Allerdings darf man die Tatsache nicht übersehen, dass diese ästhetischen Dispositive weiterhin provozieren, auch wenn sie nur wiederholt und zitiert werden: Sie wecken Unbehagen und beleuchten das Problem einer Politik des Lebens, die sich dagegen wehrt, sich in eine Politik des Todes zu verwandeln. Auf diese Art avanciert Kunst zur Widerstandspraktik. Nicht einmal als Zitat dieser Praktik verliert sie ihre Kraft. Die Kunst konstatiert nicht nur die Existenz eines biopolitischen Machtmechanismus, sie wird zu weit mehr. Zeigt man Muholis Bilder, so reproduziert man nicht nur ihre provozierende und empörende Wirkung. Man ändert zwangsläufig auch ihren Bedeutungsgehalt. Man markiert die Grenzen der Darstellung eben jener subjektiven Wirklichkeit, welche die südafrikanische Künstlerin in ihren Photographien inszeniert. Man wirkt ein auf die Wahrnehmung des Betrachters, auf die Grenzen, sich des Darstellbaren annehmen zu können. Wie uns Judith Butler lehrt, ist es nicht so sehr ausschlaggebend, einen prinzipiellen, abstrakten und theoretischen Gegenpol zu schaffen, welcher der der Biopolitik innewohnenden Gewalt gegenübersteht. Viel entscheidender ist es, diese zu zitieren, zu parodieren, zu wiederholen und nachzuahmen. Denn diese erneute Inszenierung ruft die Gewalt als ein doppelbödiges Phänomen hervor, so dass die Normen, die das Subjekt als untergeordnet und der Gewalt unterstellt begreifen, auch zur Bühne werden, auf der man mittels Wiederholung und Re-Semantisierung Verschiebungen herbeiführt. Dies ermöglicht, Forderungen zu stellen und Alternativen zu denken. Aus dem Italienischen von Chiara Pomi

L iter atur Adamo, Sergia (2008): »Non-Africa: pratiche (e teorie) delle rappresentazioni al femminile«, in: Aut aut (339), S. 208-223. Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv? Zürich: Diaphanes. Butler, Judith (2000): Antigone’s Claim. Kinship between Life and Death, New York: Columbia University Press. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2010): Raster des Krieges, Frankfurt am Main: Campus. Butler, Judith/Spivak, Gayatri Chakravorty (2007): Who Sings the Nation State, Calcutta: Seagull.

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Butler, Judith/Spivak, Gayatri Chakravorty (2011): Sprache, Politik, Zugehörigkeit, Zürich: diaphanes. Cameron, Dan/Christov-Bakargiev, Carolyn/Coetzee, John Maxwell (1999): William Kentridge, New York: Phaidon. Christov-Bakargiev, Carolyn (1998): William Kentridge, Brüssel: Société des expositions du Palais des beaux-arts de Bruxelles. De Certeau, Michel (1994): La prise de parole et autres écrits politiques, Paris: Seuil. Esposito, Roberto (2004): Bíos. Biopolitica e filosofia, Turin: Einaudi. Goldblatt, David/Goldblatt, Brenda/ Harris, Alex (1990): The Transported of Kwandebele: A South African Odyssey, New York: Aperture. Gqola, Pumla Dineo (2001): »Defining People: Analysing Power, Language and Representation in Metaphors of the New South Africa«, in: Transformation: Critical Perspectives on Southern Africa (47), S. 94-106. Gqola, Pumla Dineo (2006): »Bleeding in the Streets of South Africa«, in: Mail & Guardian online, 14.03.2006. Gqola, Pumla Dineo (2007): »How the Cult of Femininity and Violent Masculinities Supports Endemic Gender Based Violence in Contemporary South Africa«, in: African Identities (5), S. 111-124. Hooks, Bell (1995): Art on My Mind: Visual Politics, New York: The New Press. Hooks, Bell (1998): »Breaking Down the Walls: South African Artists. William Kentridge«, in: Interview, 01.09.1998. Judith Butler (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt, M.: Suhrkamp. Kentridge, William/Christov-Bakargiev, Carolyn (2004): William Kentridge, Mailand: Skira. Krog, Antjie (1998): Country of My Skull, London: Jonathan Cape. Mbembe, Achille (2001): On The Postcolony, Berkeley/Los Angeles: University of California Press. McDonald, Peter D. (2002): »Disgrace Effects«, in: Interventions (4), S. 321-330. Motsemme, Nthabiseng (2004): »The Mute Always Speak: on Women’s Silences at the Truth and Reconciliation Commission«, in: Current Sociology (52), S. 909-932. Muholi, Zanele (2006): Only Half the Picture, Kapstadt: Michael Stevenson/STE. Muholi, Zanele (2007): Being, unter: http://www.stevenson.info/exhibitions/ muholi/being.htm [Stand 12.12.2012]. Muholi, Zanele (2008): »Is’khathi. A Photo-biographical Project«, in: darkmatter (3), 02.05.2008, unter: http://www.darkmatter101.org/site/2008/05/02/iskhathiimages-from-a-photgraphic-project/ [Stand 12.12.2012] Muholi, Zanele (2005): Enraged by a picture, unter: http://www.imdb.com/title/ tt1162000/ [Stand: 12.12.2012]. Plastina, Sandra/Pasquino, Monica (2009) (Hg.): Fare e disfare. Otto saggi a partire da Judith Butler, Mailand: Mimesis.

Biopolitik, Körper und Lebensräume: Ein feministischer Blick

Ragusa, Stefania (2008): »Lesbiche stuprate per il loro bene«, in: Alias. Beilage zu Il manifesto, 31.05.2008. Spivak, Gayatri Chakravorty (2012): Kritik der postkolonialen Vernunft. Hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart, Stuttgart: Kohlhammer. Villaseñor, Maria-Christina (Hg.) (2005): William Kentridge. Black Box/Chambre noire, Ostfildern: Hatje Cantz.

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Autorinnen und Autoren Sergia Adamo (Prof. Dr. phil.) lehrt Literaturtheorie und Vergleichende Literatur an der Universität Triest. Forschungsschwerpunkte: Interkulturalität, Reiseliteratur, Übersetzungsgeschichte, Migrationsliteratur, Feministische Theorie. Publikationen (Auswahl): Dislocazioni, mediazioni, migrazioni. Per uno sguardo interculturale alla letteratura (Hg., 2003), Between literature and Law. On voice and voicelessness (Mithg., 2007), Culture planetarie? Prospettive e limiti della teoria e della critica culturale (Hg., 2007), La pratica e la grammatica. Letteratura e teorie culturali (2009), Judith Bulter. Violenza e non-violenza (Hg., 2009, Themenheft 344 der Zeitschrift Aut Aut). Daniel Blanga Gubbay (Dr. phil.) forscht am Graduiertenkolleg »Materialität und Produktion« der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, philosophische Anthropologie, Biopolitik, Kulturwissenschaften, Gesture studies, Potenz der Materie, Bildtheorie. Publikationen (Auswahl): »Anatomia della distanza« (in: Itinera, Rivista di Filosofia Estetica dell’Università degli Studi di Milano 2009, S. 1-13), »Human Gesture between Power and Action« (in: Paragrana, Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 2010/ 19, S. 213-220), »Exposure as Imprisonment. Jail of the shape and power of the matter« (in: Purlieu Journal 2010, S. 9-15). Vittoria Borsò (Prof. Dr. phil.) lehrt romanistische Literatur-und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Stellvertretende Sprecherin des DFG Graduiertenkollegs »Materialität und Produktion Forschungsschwerpunkte: Biopolitik, Bio-Poetik und Epistemologie des Lebens, Ästhetik von Visualität und Schrift, Iberian Postcolonialities, Literatur und Kultur Mexikos. Publikationen (Auswahl): Topografia dell’estraneo. Confini e passaggi (Mithg., 2006), Transkulturation. Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt (Mithg., 2007), Das andere denken, schreiben, sehen. Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft (2008), Benjamin - Agamben. Politics, Messianism und Kabbalah (Mithg., 2010), Die Macht des Populären. Politik und populäre Kultur im 20. Jahrhundert (Mithg., 2010), México: migraciones culturales – topografías transatlánticas. Acercamiento a las culturas desde el movimiento (Mithg., 2012), Die Kunst, das

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Wissen und Leben — Wissen für das Leben

Leben zu »bewirtschaften«. Bíos zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik (Mithg., 2013). Zahlreiche Aufsätze zu Literatur-, Kultur- und Medientheorie sowie zu den Literaturen Europas (Frankreich, Italien, Spanien) und Lateinamerikas. Valeria Cammarata (Dr. phil) ist wissenschaftliche Angestellte am Institut für Kulturwissenschaften. Sie lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft in Agrigento (Universität Palermo) und Literaturtheorie an der Universität Palermo. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Dispositive des Sehens, Literatur und bildende Künste, Gender Studies. Publikationen (Auswahl): La finestra del testo. Letteratura e dispositivi della visione tra Settecento e Novecento (2009), Donne al microscopio (2013); Breve storia femminile dello sguardo (2014). Roberto Esposito (Prof. Dr. phil.) ist Vizedirektor des Italienischen Instituts für Geisteswissenschaften (»Sum«) in Neapel und Florenz, wo er Theoretische Philosophie lehrt und den Promotionsstudiengang Philosophie leitet. Er ist Mitglied des Internationalen Wissenschaftlichen Vorstands des »Collège international de Philosophie« in Paris und Gründungsmitglied des Centro per la Ricerca sul Lessico Politico Europeo mit Sitz in Bologna. Er ist Kodirektor der Zeitschrift Filosofia Politica. Forschungsschwerpunkte: Dekonstruktion der modernen philosophisch-politischen Kategorien, Das Impolitische und die Politik, Communitas/ Immunitas, Biopolitik, Philosophie des Impersonalen, Italian Theory. Publikationen (Auswahl): Categorie dell’impolitico (1999), Immunitas. Schutz und Negation des Lebens (2004), Bíos. Biopolitica e filosofia (2004), Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft (2005), Terza persona. Politica della vita e filosofia dell’impersonale (2007), Termini della politica. Comunità, immunità, biopolitica (2008), Pensiero vivente. Origine e attualità della filosofia italiana (2010), Person und menschliches Leben (2010), Dieci pensieri sulla politica (2011). Desiree Förster (M.A.) ist als Programmassistentin im Bereich Literatur, Wissenschaft, Gesellschaft am Haus der Kulturen der Welt, Berlin tätig. In ihrer Promotion untersucht sie künstlerische Praxen, die an der Schnittstelle von Wissen und Leben entstehen. Forschungsschwerpunkte: Biokunst, Visuelle Kultur, Gouvernementalität, Akteur-NetzwerkTheorie, Phänomenologie, Artistic Research, Spannungsfelder zwischen Wissen – Ästhetik – Ethik. Publikationen (Auswahl): »Die Immersion des Bildes. Notizen zum VJing als eine hybride Bildpraxis« (in: D. Förster/R. Görling/L. Handel/A. Olbrisch (Hg.): Im Kontinuum der Bilder. VJing als Medienkunst im interdisziplinären Diskurs, Frankfurt a. M., Berlin u.a.: Lang 2011, S.13-17). Dario Gentili (Dr. phil.) war Post-Doc Stipendiat am »Istituto Italiano di Scienze Umane« (SUM) und DAAD Post-Doc-Stipendiat am Walter Benjamin Archiv in Berlin. Gegenwärtig ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Moral Philosophie an der »Roma Tre« Universität und Forschungsstipendiat am SUM.

Autorinnen und Autoren

Forschungsschwerpunkte: Moral Philosophie, Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Germanistik, Italienische Politische Philosophie, Marxismus, Politische Theologie (Messianismus), Architektur, Stadttheorie, Ursprung und Natur der moderne Metropole, Biopolitik, Neoliberale Gouvernementalität, Theorie der Krise. Publikationen (Auswahl): Il tempo della storia. Le tesi ‘sul concetto di storia’ di Walter Benjamin (Neapel 2002); La crisi del politico. Antologia de »Il Centauro«(Hrsg., Neapel 2007); Topografie politiche. Spazio urbano, cittadinanza, confini in Walter Benjamin e Jacques Derrida (Macerata 2009); Il messianismo ebraico (Hrsg. mit Ilana Bahbout, Tamara Tagliacozzo, Florenz 2009); Soglie. Per una nuova teoria dello spazio (Hrsg. mit Mauro Ponzi, Mailand 2012); Pensare con Jean-Luc Nancy (Hrsg. mit Claudia Dovolich, Mailand, Udine 2012); Italian Theory. Dall‘operaismo alla biopolitica (Bologna 2012). Hans Ulrich Gumbrecht (Prof. Dr. Dr. h.c.) lehrt Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Stanford/USA und ist zudem ständiger Gastprofessor für Vergleichende Literatur an der Universität Montréal sowie assoziierter Professor an der »École des Hautes Etudes en Sciences Sociales« am Collège de France und an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Darüber hinaus ist er Fellow der American Academy of Arts & Sciences. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur des Mittelalters, spanische, französische, deutsche und italienische Literatur ab der Renaissance, argentinische und brasilianische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte des westlichen Denkens und der Geisteswissenschaften. Publikationen (Auswahl): Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten (2003), Diesseits der Hermeneutik (2004), Lob des Sports (2005), Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte (2006), Unsere breite Gegenwart (2010), Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur (2011), Präsenz (2012). Nach 1945, Latenz als Ursprung der Gegenwart (2012). Enrica Lisciani-Petrini (Prof. Dr. phil.) lehrt Theoretische Philosophie an der Universität Salerno und ist Mitglied des Dozentenkollegiums des Promotionsstudiengangs Philosophie am »Istituto Italiano di Scienze Umane« in Neapel. Forschungsschwerpunkte: Philosophie des 19. und 20. Jh.s (insb. Heidegger, Bergson, Jankélévitch, Merleau-Ponty, Deleuze), Politische Philosophie, Psychologie und Anthropologie, Kunstphilosophie. Publikationen (Auswahl): Il suono incrinato. Musica e filosofia nel primo Novecento (2001), La passione del mondo. Saggio su Merleau-Ponty (2002), Risonanze. Ascolto Corpo Mondo (2007), »Verso il soggetto impersonale« (in: Filosofia Politica 2012/1, S. 39-50.), Charis. Essai sur Janklvitch (2013) Zusammenarbeit mit Zeitschriften (Auswahl): Il Pensiero, Filosofia Politica, Chiasmi International, Paideutika.

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Wissen und Leben — Wissen für das Leben

Roger Lüdeke (Prof. Dr. phil.) lehrt Neuere Englische Literatur  an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs »Materialität und Produktion«. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie (u.a. Soziabilität von Literatur, politische Ästhetiken, Konzepte von Weltliteratur, Schriftbildlichkeit und Popularität), literaturwissenschaftliche Methodik. Historische Untersuchungsgebiete: Theater der Frühen Neuzeit und der Gegenwart, Poetik der Romantik, Mystik/Post-Mystik und die Literatur der Moderne. Publikationen (Auswahl): Wiederlesen. Revisionspraxis und Autorschaft bei Henry James (2002), Theater im Auf bruch: Das europäische Drama der Frühen Neuzeit (Mithg., 2008), Kommunikation im Populären. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen (Hg., 2011), Zur Schreibkunst von William Blake. Ästhetische Souveränität und politische Imagination (2013). Dominik Maeder (M.A.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt »Die Fernsehserie als Reflexion und Projektion des Wandels« an der Universität Siegen. Er promoviert über »Televisuelle Gouvernementalität in TV-Serien und Reality-Shows«. Forschungsinteressen: Medientheorie, Fernsehwissenschaft, Serienforschung, Gouvernementalitätsstudien. Publikationen (Auswahl): »›Better living through death.‹ Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit am Beispiel von Six Feet Under.« In: R. Innerhofer/K. Rothe/K. Harrasser (Hg.): Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse. Bielefeld: transcript (2011), S. 152-170, »Transmodalität transmedialer Expansion. Die TVSerie zwischen Fernsehen und Online-Medien. In: ders./Daniela Wentz (Hg.): Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, 1/2013: »Der Medienwandel der Serie«, S. 105-126. Alberto Moreiras (Prof. Dr. phil.) ist Chairman des »Department of Hispanic Studies« an der Texas A&M University Forschungsschwerpunkte: Lateinamerikanische Literatur und Kultur, Philosophie der Moderne, Ästhetik, Politische Philosophie, Iberoamerican Postcolonialities. Publikationen (Auswahl): Pensar en/la postdictadura (2001), The Exhaustion of Difference. The Politics of Latin American Cultural Studies (2001), Línea de sombra. El no sujeto de lo político (2006), Third Space: Literary Mourning in Latin America (2008), Encyclopedia of Postcolonial Studies (Mithg., 2013). Marie Schmidt (M.A.) forscht aktuell als Fulbright-Stipendiatin für sechs Monate in New York und promoviert zu Ezra Pounds Pisan Cantos. Darüber hinaus arbeitet sie als Publizistin u.a. für das Feuilleton von Die Zeit. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Moderne, Theorien der Ästhetik, Intermedialität.

Autorinnen und Autoren

Timo Skrandies (Prof. Dr. phil.) ist Professor für Bildwissenschaft und Medienästhetik am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Professor II an der NTNU Trondheim (Norwegen). Mitglied des DFGGraduiertenkollegs »Materialität und Produktion«. Forschungsschwerpunkte: Kunst im Anthropozän, Ästhetik und Globalisierung, Arbeit, Materialität und Produktion, Medialität, Walter Benjamin, Tanz. Publikationen (Auswahl): Echtzeit – Text – Archiv – Simulation. Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft (2003). Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz (Mithg. 2009), Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik (Mithg. 2009). Zahlreiche Artikel zu Rahmen, Interface und Immersion, zu Zäsur als Denkbewegung, zur medialen Gouvernementalität, zur Ästhetik der Globalisierung. Salvo Vaccaro (Prof. Dr. phil.) lehrt politische Philosophie an der Universität Palermo. Forschungsschwerpunkte: Französischer Poststrukturalismus, kritische Theorie, Studien zur Governance, Gouvernementalität und Biopolitik. Publikationen (Auswahl): Globalizzazione e diritti umani (2004), Biopolitica e disciplina (2005), Lo sguardo di Foucault (Mithg., 2007), Governance e democrazia (Mithg., 2009), Il governo di sé, il governo degli altri (Mithg. 2011), Pensare altrimenti. Anarchismo e filosofia radicale del Novecento (2011), L’onda araba. I documenti delle rivolte (2012), La vie au-de là de la biopolitique, »La rose de personne«n (2013). José Luis Villacañas (Prof. Dr. phil.) lehrt Geschichte der Philosophie an der Universität Complutense in Madrid. Forschungsschwerpunkte: Lateinamerikanisches Denken, Geschichte der Beziehungen zwischen dem Spanischem und Deutschem Denken, Kant und der deutsche Idealismus, Max Weber und sein Erbe, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck. Publikationen (Auswahl): Poder y Conflicto, Ensayo sobre Carl Schmitt (2008), Kant en España (2005), ¿Qué imperio: un ensayo polémico sobre el imperio hispánico? (2008), La mano del que cuenta (2011), Deificatio imperial y religión de salvación. Una perspectiva weberiana sobre el problema de la teología política (2013).

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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Dezember 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Kai-Uwe Hemken Exposition / Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung Mai 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Februar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Hermann Parzinger, Stefan Aue, Günter Stock (Hg.) ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen November 2014, 544 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2450-2

Johannes Springer, Thomas Dören (Hg.) Draußen Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart März 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1639-2

Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (Hg.) Tanz erben Pina lädt ein Mai 2014, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2771-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Hermann Blume, Elisabeth Großegger, Andrea Sommer-Mathis, Michael Rössner (Hg.) Inszenierung und Gedächtnis Soziokulturelle und ästhetische Praxis September 2014, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2320-8

Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten Januar 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2330-7

Alexander Fleischmann, Doris Guth (Hg.) Kunst – Theorie – Aktivismus Emanzipatorische Perspektiven auf Ungleichheit und Diskriminierung Mai 2015, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2620-9

Christian Hißnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hg.) Zwischen Serie und Werk Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort« November 2014, 412 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2459-5

Gerald Kapfhammer, Friederike Wille (Hg.) »Grenzgänger« Mittelalterliche Jenseitsreisen in Text und Bild Februar 2015, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-888-9

Vincent Kaufmann, Ulrich Schmid, Dieter Thomä (Hg.) Das öffentliche Ich Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext August 2014, 226 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb. , 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2409-0

Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert Oktober 2014, 278 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2215-7

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5

Michael Niehaus, Wim Peeters (Hg.) Rat geben Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns Januar 2014, 328 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2359-8

Brigitte Obermayr Datumskunst Zeiterfahrung zwischen Fiktion und Geschichte Dezember 2015, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 17,80 €, ISBN 978-3-89942-921-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften ­– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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