Als Stoiker leben: Was wir wissen und üben müssen 3806244987, 9783806244984


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Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1. Vorbemerkungen
Teil I: Die Grundlagen
2. Die Grundlagen der stoischen Philosophie – drei kurze Rundflüge
2.1 Erster Rundflug: die Stoiker im historischen Kontext
2.2 Ein zweiter Rundflug: Was behaupten die Stoiker eigentlich?
2.3 Ein dritter Rundflug: das stoische Bildungsprogramm
Teil II: Die Tugenden im Fokus
3. Die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes
3.1 Was wir wissen müssen
3.2 Was wir üben müssen
4. Die Tugend der Gerechtigkeit
4.1 Was wir wissen müssen
4.2 Was wir üben müssen
5. Die Tugend der Weisheit
5.1 Was wir wissen müssen
5.2 Was wir üben müssen
Teil III: Als Stoiker im Alltag leben
6. Wie Stoiker das Leben meistern
6.1 Die stoische Berufswahl: ein Leben für die Gerechtigkeit
6.2 Der soziale Nahbereich: stoische Liebe und Trauer
6.3 Der Umgang mit herausfordernden Menschen
6.4 Falsche Ziele: sozialer Status und Luxus
6.5 Die eigene Vergänglichkeit: Älterwerden, Tod und Euthanasie
Teil IV: Was wir von den Stoikern lernen können
7. Der Stoizismus im 21. Jahrhundert
7.1 Der neue Stoizismus und seine gegenwärtige Attraktivität
7.2 Stoiker werden – Was habe ich davon?
7.3 Als Stoiker leben: einige Bemerkungen zur Weiterbildung
Anmerkungen
Zeittafel
Quellenkunde und Literaturnachweise
Rückcover
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Als Stoiker leben: Was wir wissen und üben müssen
 3806244987, 9783806244984

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Dr. Markus Rüther ist Permanent Researcher am Forschungszentrum Jülich und lehrt als Privatdozent am philosophischen Seminar der Universität Bonn. Von ihm sind bisher mehr als 50 Beiträge in internationalen Zeitschriften erschienen. Zudem ist er Heraus­ geber der Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie. 2016 erhielt er den Jahrespreis für Philosophie und Ethik von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

EINE ANLEITUNG ZUM GUTEN LEBEN

MARKUS RUTHER

ALS STOIKER LEBEN

… nichts weniger will die Stoische Philosophie ihren Anhängern bieten. Ihr Versprechen heißt: Nichts und niemand kann einen Stoiker aus der Ruhe bringen – weder berufliche oder private Schicksalsschläge noch körperliche Schmerzen, ja noch nicht einmal der eigene Tod. Um ein solches „gutes Leben“ führen zu können, muss man natürlich theoretisch wissen, worauf es ankommt – ebenso wichtig ist es aber, das philoso­ phische Wissen im Alltag umsetzen zu können. Markus Rüther kombiniert in dieser Einführung beide Aspekte: Er erläutert die theoretischen Bau­ steine der Stoa und bietet An­leitung zu praktischen Übungen.

WAS WIR WISSEN UND UBEN MUSSEN

MARKUS RUTHER

ALS STOIKER LEBEN WAS WIR WISSEN UND UBEN MUSSEN

Unter dem Schlagwort „Modern Stoicism“ erlebt der altehrwürdige Stoizismus gegenwärtig eine Renais­ sance. Als Quelle hilfreicher Übungen zur Selbstoptimierung scheint er einen Nerv des Zeitgeistes zu treffen. Dabei ist dieses philosophische System weit mehr als ein Selbstverbesserungs­ programm. Markus Rüther führt alle Interessier­ ten in fachkundiger und zugleich unterhaltsamer Weise in die Philoso­ phie der Stoa ein und stellt dar, was wir von den Stoikern heute noch lernen können.

ISBN 978-3-8062-4498-4

€ 28,00 [D] € 28,80 [A]

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Bildnachweis: Paulaparaula/Shutterstock Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Markus Rüther

Als Stoiker leben

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg. © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Donata Schäfer, Baar Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Europe Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4498-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4516-5 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4517-2

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Inhalt

Vorwort 1. Vorbemerkungen 

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Teil I: Die Grundlagen 2. Die Grundlagen der stoischen Philosophie – drei kurze Rundflüge  2.1 Erster Rundflug: die Stoiker im historischen Kontext  2.2 Ein zweiter Rundflug: Was behaupten die Stoiker eigentlich?  2.3 Ein dritter Rundflug: das stoische Bildungsprogramm 

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Teil II: Die Tugenden im Fokus 3. Die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes 3.1 Was wir wissen müssen 3.2 Was wir üben müssen

4. Die Tugend der Gerechtigkeit  4.1 Was wir wissen müssen 4.2 Was wir üben müssen

5. Die Tugend der Weisheit 5.1 Was wir wissen müssen  5.2 Was wir üben müssen 

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Teil III: Als Stoiker im Alltag leben 6. Wie Stoiker das Leben meistern 6.1 Die stoische Berufswahl: ein Leben für die Gerechtigkeit 6.2 Der soziale Nahbereich: stoische Liebe und Trauer  6.3 Der Umgang mit herausfordernden Menschen 6.4 Falsche Ziele: sozialer Status und Luxus  6.5 Die eigene Vergänglichkeit: Älterwerden, Tod und Euthanasie

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Teil IV: Was wir von den Stoikern lernen können 7. Der Stoizismus im 21. Jahrhundert

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7.1 Der neue Stoizismus und seine gegenwärtige Attraktivität  7.2 Stoiker werden – Was habe ich davon? 7.3 Als Stoiker leben: einige Bemerkungen zur Weiterbildung 

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Anmerkungen

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Zeittafel

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Quellenkunde und Literaturnachweise

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Vorwort Die Philosophie der Stoa erlebt gegenwärtig eine kleine Renaissance. Das liegt unter anderem daran, dass sie Anknüpfungspunkte für den gegenwärtigen Zeitgeist bietet. Der Stoizismus trifft einen Nerv, der ihn für Viele zu einer sehr attraktiven Lebensweise macht. Diese Wiederentdeckung findet jedoch vor allem entweder in der akademischen Philosophie oder in der Populärphilosophie statt. Beides hat seine Berechtigung, aber auch Nachteile: Die akademische Beschäftigung mit dem Stoizismus liefert wertvolle exegetische und systematische Erkenntnisse, findet aber häufig im Elfenbeinturm statt und ist für Außenstehende kaum nachzuvollziehen. Die Populärphilosophie hingegen ist kurzweilig und meisten gut verständlich, jedoch in einigen Fällen sachlich problematisch. Mit diesem Buch versuche ich einen Mittelweg zwischen diesen beiden Polen, der bisher kaum beschritten wurde. Das Ziel besteht darin, den interessierten Laien in fachkundiger und zugleich unterhaltsamer Weise in die Philosophie der Stoa einzuführen und meine Ansicht darüber darzustellen, was wir von den Stoikern heute noch lernen können. »Fachkundig« bedeutet in diesem Fall zu versuchen, die üblichen wissenschaftlichen Standards (z. B. Quellen- und Begriffsnachweise) einzuhalten, womit das Buch aber nicht den Anspruch erhebt, ein Fachbuch zu sein. Natürlich führe ich Argumente für die eigene Meinung an, aber diese werden nicht, wie in einem Buch für Fachexperten, bis an die Grenze der zu leistenden Begründbarkeit ausgereizt. Sie werden vielmehr nur so weit getrieben, wie es gerade nötig ist, um meine Ansicht zu verstehen und als (hoffentlich) halbwegs plausibel anerkennen zu können. »Unterhaltsam« meint, dass dieses Buch einem größeren Publikum zugänglich sein soll. Das bedeutet, dass die Argumentationsführung des Buches anders als in einem Fachbuch ist. Zum Beispiel werden eine Reihe von Anekdoten über die Stoiker angeführt und alltägliche Beispiele herangezogen, um dem Leser einen lebhaften Eindruck von der Philosophie und ihren Vertretern zu geben. Dennoch verstehe ich dieses Buch nicht als Beitrag zur Populärphilosophie. Mein Eindruck ist

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Vorwort

vielmehr, dass eine weitreichende Trivialisierung der stoischen Thesen und Positionen zwar kurzweilig zu konsumieren wäre, aber die Gefahr bestünde, diese am Ende falsch darzustellen. Ich versuche daher, dem Leser den Einstieg in die Philosophie der Stoiker so leicht wie möglich zu machen, ohne jedoch ein gewisses argumentatives Niveau zu unterschreiten. Eine weitere Sache möchte ich nicht unerwähnt lassen: In diesem Buch wird das generische Maskulinum verwendet. Mit dieser bewussten Entscheidung ist keineswegs eine politische Meinungsbekundung verbunden. Sie ist vielmehr der Lesbarkeit des Textes geschuldet, die – vielleicht auch anders als bei einem reinen Fachbuch – aus meiner Sicht noch mehr in den Vordergrund rücken sollte. An der Entstehung dieses Buches haben viele Menschen auf die eine oder andere Weise mitgeholfen. Manche saßen in meinen philosophischen Seminaren an der Universität Bonn oder als Zuhörer in meinen Vorträgen. Andere wiederum haben Teile oder gleich das gesamte Manuskript des Buches gelesen und kritisch kommentiert. Mit einigen habe ich jenseits des akademischen Austausches diskutieren dürfen. Explizit hervorheben möchte ich Tim Niereisel, der mir bei der Sichtung und Übersetzung der Originalquellen sowie beim Aufsuchen von brauchbaren Quellensammlungen und modernen Werkausgaben eine große Hilfe war. Bei Laura Summa möchte ich mich für ihre Hinweise zur fremdsprachigen Terminologie und für die Prüfung derselben bedanken. Ulrich Steckmann bin ich zu Dank verpflichtet, weil er mir geholfen hat, meine Überlegungen in einer Sprache zu formulieren, die auch anderen Menschen als mir selbst zugänglich ist. Er hat mich darüber hinaus auf zahlreiche inhaltliche Fallstricke hingewiesen, denen ich im finalen Buch hoffentlich entgangen bin. Besonderer Dank gilt zudem den Lektoren des wbg-Verlages, insbesondere Susanne Fischer, Donata Schäfer und Anne-Marie Stöhr. Durch die vielen Kommentare und hilfreichen Anregungen ist es gelungen, aus dem Manuskript ein Buch zu formen.

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Vorwort

Danken möchte ich auch meiner Familie und insbesondere meiner Frau Christina für ihre Geduld und ihr Verständnis. Wenn jemand ein Buch über eine Lebensweise wie den Stoizismus schreibt – und die eigenen Überlegungen versucht, in die Tat umzusetzen –, kann das für die nächsten Menschen sehr anstrengend sein. Jülich, im Juni 2022

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1. Vorbemerkungen »›Ich lese ja nur darüber‹, antworte Conrad, ›aber ich wollte, es gäbe heute jemanden, zu dem man gehen könnte, so wie die Schüler zu Epiktet gegangen sind. Heutzutage denken die Leute von den Stoikern – als, verstehen Sie, als wären das Leute, die ihre Zähne zusammenbeißen und Schmerzen und Leiden ertragen. Aber das stimmt überhaupt nicht. Sie sind eigentlich so, sie sind so heiter und zuversichtlich angesichts von all dem, was man ihnen an Knüppeln zwischen die Beine werfen mag. Wenn man zu einem Stoiker sagt: ›Hör zu, du machst, was ich dir sage, oder ich bringe dich um‹, blickt er einem ins Auge und sagt: ›Du tust, was du tun musst, und ich werde tun, was ich tun muss – und wann habe ich dir im Übrigen jemals gesagt, ich sei unsterblich.‹« (Tom Wolfe, Ein ganzer Kerl, S. 969f.)

Dieses Buch möchte einlösen, was Conrad Hensley fordert. Es möchte ein Ort sein, an dem man etwas darüber erfährt, wie man als Stoiker leben kann oder besser: wie man ein Leben führt, welches an der Philosophie der Stoa orientiert ist. Die Stoa war eine philosophische Schule im Zeitalter der Antike. Zentral für die Stoa war, dass ihre Vertreter die Philosophie nicht als reine Reflexionstätigkeit verstanden, die hauptsächlich der Befriedigung von theoretischer Neugier dienen sollte. Vielmehr musste sie einen praktischen Nutzen für den Anwender haben: »Die Stoiker sagten, die Weisheit sei das wissenschaftliche Wissen um Göttliches und Menschliches und die Philosophie sei die Ausübung von Kunst im Bereich des Nützlichen« (Aëtius 1. Prooemium 2, zitiert nach: LS 26A, auch in: SVF 2.35). Das »Nützliche«, von dem Aëtius redet, ist hierbei ein Wissen darüber, wie wir ein gutes Leben führen können, was für die Stoiker bedeutet: den eigenen Charakter in bestmöglicher Weise zu formen. Die Philosophie ist für sie damit ein Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung, wie man heute sagen würde. In diesem Buch werden vor allem die Ideen der römischen

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1. Vorbemerkungen

Stoiker vorgestellt, namentlich Seneca, Musonius Rufus, Epiktet und Marc Aurel. Deren ›Schätze‹ gilt es im Folgenden zu heben und anwendbar zu machen. Ich selbst habe die Philosophie der Stoa während eines Großteils meines eigenen philosophischen Lebens ignoriert. Das liegt zum einen wohl daran, dass ich die Philosophie lange vornehmlich als eine akademische Angelegenheit angesehen habe, die dazu da ist, philosophische Rätsel zu lösen – etwa theoretische Rätsel, die mit Evergreens wie der Frage nach der Existenz objektiver Werte oder dem Sinn des Lebens zu tun haben, oder praktische Rätsel, die sich im Rahmen unserer neuen technologischen Möglichkeiten stellen, zum Beispiel im Dunstkreis der Medizin oder der ethischen Debatte um künstliche Intelligenz. Diese und weitere Rätsel zu lösen ist eine lohnenswerte Herausforderung (so denke ich auch noch heute). Es ist aber eine Herausforderung, zu der man bei den Stoikern nichts oder kaum etwas findet, was nicht andernorts besser formuliert wurde (so dachte ich jedenfalls damals). Die Ansichten der Stoiker blieben mir daher weitgehend verborgen. Zum anderen habe ich nicht aktiv nach einem ethischen Kompass dafür gesucht, was das Leben zu einem guten und lebenswerten Leben macht. Darauf geben die Stoiker eine ausführliche und, wie ich mittlerweile finde, sehr attraktive Antwort. Damals hat mich aber diese Antwort nicht interessiert, weil ich die dazugehörige Frage nicht gestellt habe. Wenn ich überhaupt eine Sichtweise hatte, kann man sie vielleicht am ehesten als einen Mix beschreiben, der im Wesentlichen die Lebensweise Vieler widerspiegelt: nämlich den Wunsch, ein Leben zu führen, welches Freude und eine hohe Lebenszufriedenheit beinhaltet, zum Beispiel, weil es reich an sozialen Beziehungen ist, viele schöne und besondere Erlebnisse enthält, ein gewisses soziales Ansehen und eine mehr oder weniger annehmbare monetäre Grundabsicherung aufweist. Meine Auseinandersetzung mit der stoischen Philosophie ist eher einem Zufall geschuldet. Ich bekam den Roman A Man in a Full (dt. Ein ganzer Kerl) von Tom Wolfe in die Finger. Darin eignet sich eine der Hauptfiguren, Conrad Hensley, die Lehre der Stoa an. Die Umstände, in denen er das tut, sind recht unkonventionell: Hensley

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1. Vorbemerkungen

­ efindet sich in einer Notlage. Er wurde als Lagerarbeiter entlassen und b ist mittellos. Als er noch dazu in eine Schlägerei um sein abgeschlepptes Auto verwickelt wird, findet er sich im Gefängnis wieder. Er kann also ein wenig Beistand und Beratung gut gebrauchen. Zufällig erreicht ihn ein Paket mit den gesammelten Schriften der römischen Stoiker, unter anderem Marc Aurel, Epiktet und Musonius Rufus. Als er sich in die Lektüre vertieft, bemerkt er zu seinem eigenen Erstaunen (und auch des Lesers), dass sich mit zunehmender Dauer seine Sichtweise auf das eigene Leben und seine Situation im Gefängnis grundlegend verändert. Viele Dinge, die ihm früher wichtig waren, verlieren an Bedeutung. Andere Dinge treten in den Vordergrund. Freiheit, Gesundheit, Geld, Freunde oder sozialer Status? Den Stoikern folgend hält Hensley diese Dinge mittlerweile für einen Luxus, den er präferiert, der aber nicht notwendig für ihn ist. Es geht ihm nicht mehr ausschließlich darum, etwas zu besitzen, sondern darum, eine bestimmte Person mit einem bestimmten Charakter zu werden. Er spürt, dass dieser Fokus auf das eigene Selbst ihm eine eigenartige Seelenruhe gibt. Die eigene »Selbstformung« liegt ja ausschließlich in seiner Hand. Niemand im Gefängnis kann ihn davon abhalten, dass er sich mutig und selbstbeherrscht den widrigen Umständen stellt, und ebenso kann ihn niemand daran hindern, anderen Menschen mit Wohlwollen und Freundlichkeit zu begegnen. Es mag zwar Situationen geben, in denen es nicht einfach ist, sich nach diesen Grundsätzen zu richten, prinzipiell ist es aber seine Entscheidung, ob er seinen Grundsätzen folgt oder nicht. Hensley empfindet sich in dieser Hinsicht als selbstbestimmt, frei und selbstgenügsam – und zwar in viel größerem Ausmaß als vor der Auseinandersetzung mit den Stoikern. Die Figur des Conrad Hensley und seine stoische Sichtweise auf das eigene Leben faszinierten mich. Doch sie irritierten mich auch. Ich wollte mehr wissen, stöberte durch die Bücherregale und las die Originale, die ich zuletzt während der Studienzeit in Händen gehalten hatte, damals mit wenig Anziehungskraft auf mich. Anschließend widmete ich mich den beeindruckenden Büchern von Pierre Hadot über Marc Aurel und die antike Lebenskunstphilosophie. Hinzu kamen einige meistens gute, aber manchmal auch weniger gute Bücher aus der Szene des Mo-

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1. Vorbemerkungen

dern Stoicism, einer Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die stoische Philosophie für das 21. Jahrhundert fruchtbar zu machen. Ebenso besuchte ich Treffen von Stoiker-Gruppen, in denen alltägliche Lebensprobleme und deren stoische Lösung praxisnah diskutiert wurden. Was ich in all dem erfuhr, war überraschend. Spätestens seit dem Roman von Wolfe wusste ich, dass Stoiker eine hohe Widerstandskraft gegenüber inneren und äußeren Gefahren besaßen und sich durch Unerschütterlichkeit und Gelassenheit auszeichneten. Allerdings dachte ich stets, dass der Preis dafür denkbar hoch wäre. Waren Stoiker nicht emotionslose Vulkanier à la Mr. Spock, den man aus der Serie Star Trek kennt? Das traf keineswegs zu. Ich las, dass Stoiker nicht freudlos waren, sondern sogar daran arbeiteten, die eigene Lebensfreude zu kultivieren. Als besonders sinnerfüllend erachteten Seneca und Musonius Rufus etwa die Freude darüber, an der eigenen Persönlichkeit feilen zu können und stetig Fortschritte zu machen (vgl. Seneca, Über das glückliche Leben, IV.4 und Musonius Rufus, Lehrgespräche, 17.2). Eine solche Freude hat für die Stoiker sogar einen eigenen Namen, nämlich chara (vgl. auch S. 45). Ebenso wenig sahen die Stoiker das Leben als Mühsal, das zu ertragen war, sondern als ein Fest, für das man dankbar sein konnte. Epiktet verwendet die Festmetapher mehr als einmal, um deutlich zu machen, dass unsere Zeit auf dieser Erde nur vergleichsweise kurz ist und wir wertschätzen sollen, die Möglichkeit zu diesem »Aufenthalt« erhalten zu haben (vgl. Epiktet, Unterredungen, I.12, II.14 und IV.1). Aber waren die Stoiker nicht passiv und resignierend angesichts der kleinen Rolle, die wir im Spiel des Lebens zu spielen haben? Auch dafür fand ich keine Belege (vgl. auch S. 109). Im Gegenteil: Das Bild eines grimmigen Stoikers, der alles erträgt und sich nicht um die Angelegenheiten der Welt schert, schien geradezu absurd, wenn man sich die tatsächlichen Leben der Stoiker anschaut. Marc Aurel war ein römischer Kaiser, der nicht als gebrochener Eremit im eigenen Palast lebte, sondern jemand, der sich daran versuchte, in mehreren ›Außeneinsätzen‹ das Leben seiner römischen Zeitgenossen zu verbessern. Seneca saß nicht resignierend auf dem eigenen Hosenboden, sondern schrieb sich als Literat sprichwörtlich die Finger wund und war bekanntermaßen zudem Privatlehrer von Kaiser Nero. ­Epiktet eröffnete

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1. Vorbemerkungen

eine eigene stoische Schule, die zu den bedeutendsten Philosophieschulen der damaligen Zeit aufstieg. Die Stoiker verhielten sich also alles andere als passiv, sondern involvierten sich in die Probleme ihrer Zeit und ihres Umfeldes. Zwar mögen sie bei der eigenen Projektwahl hier und da auf das falsche Pferd gesetzt haben und wenig erfolgreich gewesen sein, zum Beispiel Seneca, aber resignierend und schicksalsergeben schienen sie mir nicht zu sein. Besonders beeindruckend fand ich noch etwas anderes. Die Stoiker besaßen augenscheinlich eine sehr feinsinnige Beobachtungsgabe, wenn es um die menschliche Psyche ging. Man konnte ihnen nichts vormachen. Sie hatten bereits vor 2000 Jahren geahnt, welche Motive, Ängste und Ärgernisse uns heute umtreiben, nämlich die gleichen wie damals. Es ging um kleine Dinge wie die Angst davor, einen Fehler zu machen oder nicht anerkannt zu werden. Manchmal auch um den eigenen Ärger über ruhmsüchtige Familienmitglieder, falsche Freunde und ausbeuterische Arbeitgeber. Oder um große Dinge wie das Leid, welches man erfährt, wenn man einen geliebten Menschen verliert oder sich bewusst wird, dass man aus diesem Leben nicht mehr lebend herauskommen wird. In scharfsinniger und lakonisch sezierender Art und Weise schienen die Stoiker einem das eigene Innenleben auf dem Tablett zu präsentieren. Mehr noch, sie blieben nicht nur bei der Diagnose stehen, sondern präsentierten auch Lösungen, wie mit diesen Schwierigkeiten umzugehen ist. Ich hatte den Eindruck, dass viele Gedanken und Ansätze der modernen Psychotherapie und des Coachings ihren Ursprung bei den Stoikern hatten. Das wurde auch zum Teil erwähnt, etwa bei den Begründern der kognitiven Verhaltenstherapie wie Aaron Beck. Jedoch kam es mir trotzdem nicht so vor, als ob die stoischen Gedanken zum Thema die Aufmerksamkeit bekämen, die ihnen eigentlich zusteht. Diese zweifelhaften Missdeutungen und ungerechtfertigten Aussparungen hätten für einen akademisch arbeitenden Philosophen genug Antrieb sein können, ein Buch über das Leben als Stoiker zu schreiben. Ein Buch darüber, wie es ›wirklich‹ ist! Allerdings ist das nicht meine wahre Motivation. Es geht mir nicht um ein Zurechtrücken von falschen Auffassungen. Ich schreibe das Buch vielmehr –

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1. Vorbemerkungen

ganz im stoischen Geiste – mit der Hoffnung, dadurch anderen Menschen zu helfen, insbesondere denjenigen, die nach einem kohärenten ethischen Kompass suchen. Wie kann ich gemäß der Stoa mein Leben führen? Was ist den Stoikern zufolge wirklich wichtig und was nicht? Und wenn das geklärt ist: Wie kann ich diese Sichtweise in das eigene Leben integrieren? Diese Fragen kann man sich stellen, weil man das Gefühl hat, die eigene Sichtweise sei irgendwie defekt. Man kann ihnen ebenfalls nachgehen, weil man bisher keinen für sich überzeugenden Lebensweg gefunden hat. Man kann aber auch einfach neugierig sein oder die eigene Sichtweise mit der stoischen vergleichen wollen. Um ein Stoiker zu werden, braucht man zwei Dinge: Zeit und Übung. Damit ist der Stoizismus allerdings nicht alleine. Das Gleiche gilt für andere Lebensweisen. Wer etwa Buddhist werden will, muss einige Zeit dafür verwenden, sich in Meditation zu üben, und wer Christ werden will, für den werden Gottesdienst und Gebet eine Rolle spielen. Ein bloßes Bekenntnis reicht nicht aus! Damit eine neue Ansicht in die eigene Persönlichkeit einsickert, muss man Gewohnheiten und Rituale ausbilden und diese möglichst konsequent befolgen. Das riecht nach Schweiß und harter Arbeit. Im Vergleich ist der Aufwand, den man als Stoiker betreiben muss, jedoch gering. Sowohl die Meditation als auch das Gebet können physisch anstrengend sein und sind zum Teil recht zeitintensiv. Viele stoische Übungen lassen sich demgegenüber ›zwischendurch‹ einbauen, etwa – wie Seneca es beschreibt – wenn wir im Bett liegen und auf den Schlaf warten (vgl. Seneca, Über den Zorn, III.36.1). Andererseits: Auch die wenig aufwendigen Dinge verlangen ein gewisses Maß an Disziplin. Auf eine plötzliche Eingebung zu hoffen, also auf ein Erlebnis, bei dem alle Einsichten der stoischen Lehre mit einem Schlag zu Tage treten und zudem im eigenen Leben praktisch wirksam werden, ist für die Stoiker keine sehr aussichtsreiche Option. Ihnen zufolge müssen wir die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit selbst in die Hand nehmen, nämlich durch stetige Übung und Anwendung des Gelernten. Nun soll dieses Buch allerdings kein reines Übungsbuch im klassischen Sinne sein. Das Ziel besteht nicht darin, ein Curriculum vorzuschlagen, das tägliche Übungen enthält, die dann mehr oder weniger

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1. Vorbemerkungen

konsequent in die Praxis umgesetzt werden. Natürlich: Wer schon in das Inhaltsverzeichnis geschaut hat, wird bemerkt haben, dass es einen Übungsteil gibt. Es gibt aber auch einen sehr ausführlichen Teil zur philosophischen Theorie der Stoa. Das liegt nicht daran, dass ich eine Vorliebe für den theoretischen Teil der stoischen Philosophie habe (die qua meiner Profession sicherlich besteht). Es liegt vielmehr daran, dass bei der Stoa, wie wir noch sehen werden, theoretische Einsicht und praktische Umsetzung zwei Seiten einer Medaille sind. Ein gutes Leben besteht für die Stoiker immer darin, das Richtige und Gute in der jeweiligen Situation vor Augen zu haben, und dafür braucht man Übung. Man muss allerdings auch wissen, warum etwas in einer Situation richtig und gut ist. Mit anderen Worten: Man muss es begründen können, und das geht nur im Rahmen einer philosophischen Theorie. Ein Buch mit dem Titel »Als Stoiker leben« muss daher beides sein. Es muss theoretische Einsicht und praktische Übung miteinander verbinden. Entsprechend ist es unumgänglich, dass neben einem Übungsteil auch ein ausführlicher Teil zur Theorie der Stoa berücksichtigt wird. Einige meiner akademischen Kollegen werden vermutlich neugierig sein, wie ich den Stoizismus interpretiere, welche Quellen ich verwende und wie ich die systematische Überzeugungskraft dieser oder jener These einschätze. Diese Menschen muss ich leider (größtenteils) enttäuschen. Dieses Buch ist keine akademische Abhandlung oder ein Fachbuch zur Stoa. Es ist vorwiegend für Menschen geschrieben, die nach einer kohärenten ethischen Sichtweise suchen und sich die Frage stellen, wie sie leben sollen. Wenn ein Stoiker ein Buch schreiben würde, um diesen Menschen zu erklären, wie sie seiner Meinung nach ihr Leben führen könnten – was würde es beinhalten? Die folgenden Seiten sind meine Antwort auf diese Frage. Ähnlich wie ein Musikstück erschließt sich meine Antwort erst im zeitlichen Verlauf. Wer versteht schon ein Musikstück, bei dem alle Töne gleichzeitig gespielt werden? Ich werde daher meinen Vorschlag für eine stoische Lebensweise Stück für Stück entwickeln und so darstellen, dass er für den Leser klar und verständlich wird. Und wie jedes gute Musikstück hat auch dieses Buch viele Facetten. Es ist in vielen

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1. Vorbemerkungen

Teilen heiter und unterhaltsam, in manchen Teilen aber auch fordernd, komplex und vielschichtig. Einiges ist gut und schnell verdaulich, anderes – zum Beispiel die theoretischen Teile des Buches – muss man erst »sacken lassen« und braucht Zeit. Diese Erfahrungen von subjektiv gefühlten »Höhen und Tiefen« kann ich dem Leser nicht ersparen. Manche Themen der Stoiker sind komplex, sodass eine Vereinfachung zwar theoretisch möglich wäre, aber praktisch der Sache nicht gerecht würde. Wenn man allerdings bereit ist, sich darauf einzulassen, wird der Gewinn – so viel möchte ich versprechen – groß sein. Um mein Verständnis der stoischen Lebensweise darzulegen, habe ich das Buch in vier Teile aufgeteilt: In einem ersten, einführenden Teil werde ich einen Überblick über die Philosophie der Stoa geben. Darin wird deutlich werden, was die Stoiker unter Philosophie verstanden (nämlich etwas anderes, als wir es heute tun), wer eigentlich zu dieser Philosophengruppe gehörte (nämlich eine ganze Reihe griechischer und römischer Persönlichkeiten) und worin ihre Kernansichten bestanden (nämlich in einigen ziemlich herausfordernden Thesen). Im zweiten Teil dieses Buches wird das hybride Bildungsprogramm der Stoiker näher vorgestellt. Was heißt es, eine vernünftige, gerechte, mutige und selbstbeherrschte Person zu sein? Worin begründen sich diese Ansichten in der stoischen Theorie und wie können wir daran arbeiten, ein solches Ideal praktisch umzusetzen? Diese Fragen werden beantwortet, indem ich in den jeweiligen Kapiteln der Reihe nach die verschiedenen Charaktereigenschaften, oder wie die Stoiker es nennen: Tugenden, genauer erläutere und sowohl die Theorie dahinter als auch die zugehörigen Übungen für den Alltag darstelle. Im dritten Teil wird das stoische Bildungsprogramm weiter konkretisiert und auf die Herausforderungen des täglichen Lebens bezogen. Welchen Beruf würde ein Stoiker wählen? Wie geht er bei der Partnerwahl vor? Wie behandelt er seine Verwandten, Freunde, aber auch solche, die ihm wenig wohlgesonnen sind? Was raten Stoiker bei persönlichem Misserfolg und Scheitern? Was empfiehlt ein Stoiker angesichts des Leids, welches man erfährt, wenn man einen geliebten Menschen verliert? Wie geht er mit der eigenen Vergänglichkeit und dem eigenen Tod um?

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1. Vorbemerkungen

Im vierten und letzten Teil des Buches werde ich ein wenig über den Tellerrand hinausblicken und mich der Frage stellen, ob und was wir heute noch von der Stoa lernen können. Um meine Antwort schon einmal anzudeuten: Ja, ich glaube tatsächlich, dass der Stoizismus für viele Menschen etwas Gewinnbringendes bereithält. Was dieses »etwas« genau ist, werde ich ausgehend von einer kurzen Rezeptionsgeschichte darstellen, die zum einen die Verfallsgeschichte des Stoizismus bis zum frühen Mittelalter betrachtet und zum anderen auch die gegenwärtige Renaissance in den Blick nimmt. Der Stoizismus war, so meine ich, zu Unrecht lange vergessen. Insofern ist sein Wiedererstarken zu begrüßen. Gleichzeitig wird er gegenwärtig, insbesondere in der TechSzene des Silicon Valley, in einer Weise gedeutet, die es zu korrigieren gilt. Wenn das geschehen ist, können wir meiner Ansicht nach sehen, was wir – bei aller Vorsicht gegenüber der Quellenlage und der inhaltlichen Heterogenität der Autoren – ›wirklich‹ von der Stoa lernen können.

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Teil I: Die Grundlagen 2. Die Grundlagen der stoischen Philosophie – drei kurze Rundflüge Die Frage danach, wie man als Stoiker leben sollte, steht im Zentrum dieses Buches und wird Schritt für Schritt in den verschiedenen Kapiteln beantwortet. Bevor wir aber gleichsam in das tiefe Wasser der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung hineinspringen, ist es ratsam, sich zunächst mit Schwimmflügeln auszurüsten. Wir sollten also zunächst einige Grundlagen klären. Allerdings ist der Stoizismus auch in seinen Grundlagen kein selbsterklärendes philosophisches System von Einzelthesen. Viele seiner Ansichten und Überzeugungen hängen miteinander zusammen. Was die Stoiker mit Blick auf einen Bereich der Philosophie sagen, hat Konsequenzen für viele andere Bereiche, die man vielleicht nicht auf den ersten Blick damit in Zusammenhang bringen würde. Diese Verwobenheit ihrer Ansichten hat den Stoizismus bereits für Zeitgenossen wie Cicero schwierig gemacht: »Es ist doch wahrhaftig nicht meine Art, ohne weiteres gegen die Stoiker aufzutreten; nicht, als ob ich ihnen zustimmte, sondern ich werde nur durch eine gewisse Verlegenheit zurückgehalten; denn sie tragen vieles so vor, daß ich es kaum verstehen kann.« (Cicero, Das höchste Gut und das schlimmste Übel, IV.1)

Im Folgenden möchte ich dieser Herausforderung begegnen, indem ich dem Leser im Rahmen von drei kurzen Rundflügen zunächst einen

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Teil I: Die Grundlagen

groben Überblick über die zentralen Thesen und ihre Zusammenhänge verschaffe. Die Rundflüge sind vor allem für Leser hilfreich, die noch keine oder geringe Vorkenntnis zum Stoizismus haben, wenngleich auch der Stoizismus-Erfahrene hier und da etwas aus ihnen gewinnen können sollte – sei es, weil er sich wieder an die zentralen Elemente der Philosophie der Stoiker erinnert oder weil ihm neue Zusammenhänge von Thesen und Argumenten aufgeschlossen werden. In meiner Darstellung werde ich zunächst etwas weiter ausholen. Der erste Rundflug beginnt mit einer Offenlegung des stoischen Philosophieverständnisses, dem ideengeschichtlichen Kontext und einigen Details zu den wichtigsten Vertretern der Stoa. Im zweiten Rundflug geht es bereits ans Eingemachte der philosophischen Theorie mit einem Überblick über die zentralen Thesen, die für ein Verständnis der stoischen Philosophie unerlässlich sind und auf die im weiteren Verlauf des Buches immer wieder Bezug genommen wird. Der dritte Rundflug hat schließlich das Bildungsprogramm zum Gegenstand. Ich werde erläutern, wie sich die Stoiker das alltägliche Leben im Geiste ihrer zentralen Thesen vorstellen und was ihre Schüler dafür tun müssen. Um noch zwei methodische Warnungen anzubringen: Zum einen sollte man meine Darstellungen in diesem Kapitel nicht als Detailanalyse des Stoizismus lesen. Es handelt sich um Rundflüge, die in einer gewissen Höhe stattfinden, sodass nicht alle Feinheiten der Umgebung zu sehen sind. Der Vorteil besteht jedoch darin, dass man dadurch ein Gesamtbild erhält und viel besser erkennbar ist, wie die verschiedenen Bestandteile der Umgebung zusammengehören, als wenn man sich am Boden befände. Wenn man dann auf den Boden zurückgekehrt ist, kann man sich an die Detailerkundung machen und sich vielleicht denjenigen Elementen zuwenden, die man in den Rundflügen als besonders spannend empfunden hat (Die Detailerkundung ist darüber hinaus auch Bestandteil des zweiten und dritten Teils dieses Buches). Zum anderen sollte man nicht außer Acht lassen, dass auch Rundflüge, insbesondere, wenn sie intellektueller Natur sind, kein einfaches Unterfangen sind. Es sind keine Butterfahrten, sondern Bildungsausflüge. Das bedeutet, dass ich dem Leser an der einen oder anderen Stelle etwas mehr Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen abverlange.

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Einige Überlegungen werden vielleicht etwas gedankenschwerer daherkommen und auch der Fachjargon wird sich nicht immer vermeiden lassen. Und manche werden sich fragen: »Kann der Autor das nicht auch einfacher und unterhaltsamer formulieren?« Ja, prinzipiell ist das schon möglich. Meine eigenen Erfahrungen mit philosophischen Vereinfachungen sind jedoch: Wenn bestimmte Thesen zu vereinfacht dargestellt werden, sind sie zwar besonders eingängig, aber leider auch häufig falsch. Ich möchte daher um etwas Nachsicht bitten und den Leser ermutigen, den beschrittenen Weg zu Ende zu gehen. Es ist eben wie auf einem echten Rundflug. Manche Etappen sind unterhaltsam, wenig fordernd, und man kann sich zurücklehnen. Andere wiederum sind anstrengend, beschwerlich und verlangen Engagement und Durchhaltevermögen. Und nicht selten sind es gerade die fordernden Etappen, die einem im Gedächtnis bleiben und an die man sich am liebsten erinnert.

2.1 Erster Rundflug: die Stoiker im historischen Kontext Das Wissen, was der Stoizismus ist und wer zu dieser Strömung zählt, ist heute sicherlich kein Alltagswissen mehr. Wenn man ein wenig in seiner Umgebung herumfragt (und nicht zufällig ein professionell arbeitender Philosoph ist), dürften nicht viele etwas mit dem sperrig klingenden Ismus anfangen können. – Allenfalls kennt man noch den einen oder anderen Stoiker aus dem Lateinunterricht oder man erinnert sich an den Alltagsgebrauch von ›stoisch‹ und assoziiert damit eine gewisse Ungerührtheit oder Gefühlskälte.1 Im ersten Rundflug möchte ich etwas mehr Licht ins Dunkel bringen, indem ich den Leser damit vertraut mache, welches Kernanliegen die Stoiker verfolgten, wer eigentlich zu dieser Gruppe von Philosophen zu zählen ist und in welchem Kontext sie lebten. Hierbei können wir entdecken, dass die Stoiker eine besonders praktische Auffassung darüber hatten, was Philosophie eigentlich sein sollte, und dass sie damit in der Antike auch nicht alleine waren, sondern sich im Kontext einer gemeinsamen

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­ radition befanden – einer Tradition freilich, in der die Strömungen T miteinander konkurrierten.

Das Grundverständnis: Philosophie als Lebenskunst Kann die Philosophie uns dabei helfen, unser Leben besser zu machen? Das ist die zentrale Frage, die sich die antiken Stoiker gestellt haben. Und sie haben sie, wie man schon vermuten kann, positiv beantwortet. Ja, die Philosophie ist in der Lage, uns tatsächlich dabei zu helfen, unser Leben besser, vielleicht sogar zu einem bestmöglichen Leben zu machen. Allerdings tut die Philosophie das nicht, indem sie uns materiellen Besitz, Reichtum und Ansehen verspricht. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, unseren Charakter und unsere Persönlichkeit zu schulen und zu formen. Die Philosophie ist – so eine beliebte Metapher – ein Therapeutikum: Ebenso wie die Medizin den Körper heilt, hat die Philosophie den menschlichen Geist zum Gegenstand, und zwar in dem Sinne, dass sie diesen nicht nur kuriert, sondern ihn auch auf den richtigen Weg bringt (vgl. Cicero, Gespräche in Tusculum, III.6 und IV.23). Die Stoiker bezeichneten die Philosophie daher als eine Lebenskunst, eine ars vivendi (lat.) oder technē tou biou (griech.). Das bedeutet nach Seneca zum Beispiel: »[D]ie Seele gestaltet und formt sie [gemeint ist: die Philosophie, Ergänzung von mir, M.R.], das Leben ordnet sie, Handlungen lenkt sie, nötiges Tun und Lassen zeigt sie, sie sitzt am Steuer, und durch die Gefahren des Wogenschwalls lenkt sie den Kurs. Ohne sie kann niemand furchtlos leben, niemand sorgenfrei: Unzähliges geschieht zu jeder einzelnen Stunde, was Rat erfordert, den man sich bei ihr holen muß.« (Seneca, Briefe, 16.3)

Es mag für neuzeitliche Ohren erstaunlich klingen, dass die Philosophie eine Lebenskunst sein soll. Wer beispielsweise an der Universität »Philosophie« als Fach belegt, wird wenig darüber erfahren und darin geschult, wie er seinen Geist formt, sein Leben ordnet oder seine Angst besiegt. Nehmen wir etwa die theoretische Philosophie: In ihr geht es unter anderem darum, die theoretische Neugier über letzte Fragen zu befriedigen. Können wir Wissen über die Wirklichkeit erlangen? Und

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wenn ja, wo liegen die Grenzen? Haben wir einen freien Willen? Was ist es, das die Welt im Innersten zusammenhält? Was passiert nach dem Tod? Gibt es einen Gott? Diese Fragen sind Allzeitklassiker. Wer sie aber an einer Universität stellt, der wird in der Regel nicht erwarten, dass die Antwort die Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst. Es geht einfach darum, Antworten auf Fragen zu bekommen, die einen aus intellektueller Neugier interessieren. Kein Absolvent der Philosophie würde auf die Idee kommen, seinen Dozenten dafür verantwortlich machen, dass er trotz eines sehr guten Abschlusses noch immer unerträgliches Lampenfieber vor Vorträgen hat oder ihm die letzte Beziehung immer noch im Kopf herumspukt. Die praktische Philosophie, insbesondere mit ihren zahlreichen Gegenwartshemen in der angewandten Ethik, liegt, so könnte man meinen, vielleicht doch näher an der Lebenskunst als die theoretische Philosophie. Man denke etwa an die allgemeine Debatte um soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz oder die speziellen Debatten um Embryonenforschung, Organtransplantation und Sterbehilfe. In diesen Diskussionen sind wir in der Regel nicht bloß neugierig darauf, wie wir uns als Einzelner oder als Gesellschaft entscheiden können, sondern wir wollen wissen, wie wir uns tatsächlich verhalten sollen. Ist das schon Lebenskunst? Die Antwort lautet: Eigentlich nicht. Und das liegt wiederum am Motiv: In der praktischen Philosophie geht es durchaus um Lebensorientierung. Wir suchen in ihr nach Maßstäben für unser Handeln und vielleicht auch noch umfassender nach einer Vorstellung davon, wie wir selbst und die Gesellschaft unser Leben organisieren sollten. Gleichwohl tun wir das an der Universität nicht mit der Absicht, bessere Menschen heranzuziehen. Wer beispielsweise zur Ansicht gelangt, dass er mehr für den Klimaschutz tun sollte, aber in der Realität an seiner eigenen Willensschwäche scheitert, wird kaum seine philosophischen Lehrer dafür verantwortlich machen. Im philosophischen Seminar geht es nicht um Charakterbildung, sondern um Antworten auf drängende gesellschaftliche Fragen, so jedenfalls die gängige Ansicht. Um ein Missverständnis zu vermeiden: Ich möchte damit nicht behaupten, dass die Philosophie nicht im ­akademischen Sinne betrieben

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werden sollte (ich selbst arbeite nicht nur in der Philosophie der Lebenskunst, sondern auch als akademischer Philosoph!). Meines Erachtens stellen sowohl die Befriedigung der theoretischen Neugier als auch die Lösung von gesellschaftlichen Problemen Aufgaben dar, für die Philosophen gut ausgebildet sind und vielleicht sogar mehr Anerkennung verdienen, als ihnen gegenwärtig zukommt. Worum es mir geht, ist vielmehr, dass die Philosophie nicht nur in diesem Sinne betrieben werden kann. Es gibt ebenso ein Verständnis von Philosophie, das diese als ein Mittel sieht, um sich – wie man neumodisch sagt – als Person weiterzuentwickeln. Ein solches Verständnis findet sich bei den Stoikern, aber nicht nur bei ihnen. Tatsächlich war es sogar lange Zeit nicht einmal eine extravagante oder gar anrüchige Angelegenheit, die Philosophie als Lebenskunst zu begreifen, sondern der unhinterfragte Usus. Um das zu verstehen, müssen wir einen kleinen zeitlichen Sprung machen, nämlich in die geistesgeschichtliche Epoche der Antike.

Philosophieschulen und Bildungssystem in der Antike In der Antike war die Philosophie als Lebenskunst fester Bestandteil des Bildungssystems. Allerdings muss man sich das damalige Bildungssystem etwas anders vorstellen als das heutige. Es gab beispielsweise keine staatlichen Bildungsinstitutionen, die eine Grundversorgung für alle Bürger gewährleisteten oder Vorgaben für einen übergeordneten Bildungskanon machten. Bildung war, abgesehen von den städtischen Gymnasien der hellenistischen Zeit, vor allem eines: Privatsache. Man musste einen Hauslehrer anstellen, eine Privatschule besuchen oder anderweitige Angebote (z. B. öffentliche Reden und Vorlesungen) nutzen. Hinzu kam, dass die Bildung zur damaligen Zeit eine geringere Rolle für die soziale Stellung spielte. Ein Studium der Rhetorik scheint allenfalls für die athenische Demokratie und das republikanische Rom eine Karrierevoraussetzung gewesen zu sein. Einen Abschluss, der eine mehrjährige Ausbildung voraussetzt, brauchte man aber nicht. Wichtiger schien immer noch die eigene Herkunft und Abstammung zu sein. Vor diesem Hintergrund kann man den Bildungsbetrieb also vor allem als freien Dienstleistungssektor verstehen, der weder vorwiegend zur Verbreitung eines staatlichen Bildungsideals noch einer berufs24

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qualifizierenden Aufgabe diente. Wofür war Bildung dann gut? Eine Antwort lautet, dass der Wert der Bildung unter anderem darin bestand, die eigene Persönlichkeit zu formen und den Charakter zu schulen. Und das konnte man damals tun, indem man sich einen Zugriff auf philosophisches Wissen organisierte, zum Beispiel durch die Anstellung eines philosophischen Hauslehrers. Nicht umsonst wurden die Philosophen in der römischen Kaiserzeit als »Lehrer der Weisheit« oder als »Seelenführer« bezeichnet (lat. magister artis vitae; griech. hēgemōn; kathegētēs; kybernētēs). Die Bildungsoptionen, mit denen man in der Antike konfrontiert wurde, waren vielfältig. Wenn wir etwa einen imaginären Rundgang durch das antike Athen um 300 v. Chr. machen, können wir die verschiedenen Schulen entdecken, die damals anzutreffen waren. Beginnen wir den Rundgang auf der Agora, dem Marktplatz, dann sehen wir auf der nördlichen Seite die Stoa Poikile, eine Wandelhalle, von Säulen gehalten und durch Malereien dekoriert. Dort herumlaufend könnten wir vielleicht mit etwas Glück Zenon von Kition treffen, den Gründer der stoischen Schule, der gerade einen Vortrag über die stoische Gelassenheit hält und uns im Vorbeigehen nach unseren Ansichten über den Wert von Ruhm und Ansehen fragt. Wir antworten ihm und sind eine Weile in die Diskussion mit Zenon und einigen weiteren Hörern vertieft. Wenn wir uns irgendwann losreißen können, gehen wir weiter zum Dipylon-Stadttor und bewegen uns in Richtung Nordwesten. Wir gelangen zu den Gärten des Epikur. Es ist ein ruhiger Ort und die Atmosphäre ist weniger hektisch als auf dem athenischen Marktplatz, den die Stoiker für ihren Unterricht nutzen. Wir fühlen uns gleich wohl und uns wird Wein angeboten. Epikur eröffnet das Gespräch und sinniert zusammen mit uns über die Freuden der Freundschaft und die Vorteile eines privaten, unpolitischen Lebens. Wir setzen unsere Tour fort und wagen uns weiter nach Nordwesten vor. Wir treffen auf einen noch größeren Komplex mit eindrucksvollen und kunstvoll verzierten Gebäuden, die von einem gut gepflegten Park umschlossen sind – die Akademie. Sie wurde von Platon nach dem Tod des Sokrates im Jahre 387 v. Chr. gegründet und wird seitdem als Ort

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für philosophische Bildung genutzt. Es ist ein Ort, an dem ein reger Austausch stattfindet. Wir können dort nicht nur Platonisten beobachten. Man sagt uns etwa, Zenon sei gelegentlich hier anzutreffen. Allerdings müssen wir schon weiter. Wir versuchen, uns wieder den Weg zurück zur Stadtmitte zu bahnen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir unterwegs einen Kyniker treffen, etwa Krates, der uns irgendwo am Rand eines Weges sitzend in ein philosophisches Gespräch verwickelt. Zwar hatten sich die ersten Kyniker in der Nähe eines öffentlichen Übungsplatzes, des Gymnasiums von Kynosarges, getroffen, aber die späteren Vertreter dieser Lehre leben überall in Athen verstreut und predigen ein Leben in Armut als Pfad zum guten Leben. Haben wir uns an Krates vorbeiargumentiert, gelangen wir wieder zurück auf die Agora. Nun setzen wir unsere Route in Richtung Osten fort. Wenn wir eine Weile laufen, erreichen wir die Außenbezirke von Athen. Dort bemerken wir sofort die waldige Umgebung und einen Schrein, der Apollo gewidmet ist. In der unmittelbaren Nähe entdecken wir auch das Lyceum – der Ort, an dem die Peripatetiker lehren, die Schüler des Aristoteles. Um die Zeit dürfte etwa Theophrast dort Leiter sein, der uns vielleicht ein Gespräch über den maßvollen Umgang mit materiellen Gütern anbietet. Wir nehmen an. Es ist spät geworden. Allerdings sind wir noch lange nicht am Ende des Rundgangs angelangt. Wir könnten noch zu den Kyrenaikern, Skeptikern oder Megarikern weitergehen und uns bei ihnen Rat holen. Und auch die Theodorianer, Dialektiker oder Eudaimonisten würden sich über einen Besuch freuen. Nicht zu vergessen die Eretrianer, Annicerer und Moralisten. Und was ist mit den Wahrheitssuchern und Refutionisten? Diese könnten uns vielleicht ebenfalls etwas Wertvolles über die Persönlichkeitsbildung näherbringen. Und damit haben wir noch lange nicht das Ende der Möglichkeiten erreicht. Es gibt zahlreiche weitere Bildungsangebote im antiken Athen. Man hat gewissermaßen die Qual der Wahl. Aber welcher der möglichen Schulen sollte man sich nun anschließen? Eine nachvollziehbare Antwort könnte lauten, vor allem derjenigen, die die richtigen Antworten gibt. Tatsächlich haben die meisten Schulen miteinander interagiert und zu zeigen versucht, dass

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ihre Lehre der jeweils anderen überlegen ist. Die Stoiker haben teils erbitterte Grabenkämpfe mit den Epikureern und Skeptikern geführt. Das mag in gewissen Hinsichten auch produktiv gewesen sein, indem die Dialektik von Kritik und Verteidigung zu besser gerechtfertigten Ansichten geführt hat. Im Endeffekt bin ich aber wenig optimistisch, dass sich auf dem Papier aufzeigen lässt, dass eine bestimmte Schule nicht nur in einzelnen Aspekten, sondern im Gesamten auf dem Holzweg ist. Vielmehr führen aus meiner Sicht mehrere gleich gute Wege zum guten Leben (vgl. dazu auch meine Überlegungen auf S. 231). Sollte man sich der Lebensweise der Stoiker, der Epikureer oder der Kyniker – um einmal drei Schulen exemplarisch herauszugreifen – anschließen? Darauf scheint es mir keine allgemeingültige Antwort zu geben. Es ist eher eine Frage der eigenen Bedürfnisse und der Lebensumstände, in denen man sich befindet. Einige Menschen sind so gestrickt, dass ihnen die Gelassenheit der Stoiker zusagt, andere bevorzugen das freudvolle Leben der Epikureer, wiederum andere (aber erfahrungsgemäß wenige) mögen sich von der »Weltflucht« der Kyniker angezogen fühlen. Allerdings: Wie ich im letzten Teil des Buches noch ausführen werde, stehen gegenwärtig die Zeichen für die Stoiker wohl besonders günstig (vgl. S. 221). Diese empfehlen uns eine Lebensweise, die vielleicht nicht für alle, jedoch doch für Viele besonders attraktiv ist. Sie passt sowohl zur Bedürfnisstruktur heutiger Zeitgenossen als auch in die Lebensumstände, in denen sich viele Menschen gegenwärtig befinden.

Die Stoiker: von Zenon bis Marc Aurel Die Geschichte der Stoa und ihrer Vertreter lässt sich auf wenigen Seiten verhandeln. Das liegt vor allem an einem Umstand: Wir wissen nicht allzu viel von ihnen, denn die Quellenlage ist denkbar dünn. Es gibt nur sehr wenige direkte Überlieferungen der Primärschriften, genauer gesagt haben wir nur diejenigen, die von der jüngeren, römischen Stoa stammen, nämlich von Seneca, Musonius Rufus, Epiktet und Marc Aurel. Die älteren Vertreter der Stoa, etwa aus der griechischen Antike, sind uns lediglich indirekt bekannt, also anhand von Zitaten, Paraphrasen oder Zusammenfassungen anderer Autoren. In27

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direkte Quellen findet man etwa bei Alexander von Aphrodisias, Diogenes Laertius, Cicero, Galen, Johannes Stobaeus, Plutarch, Simplikios von Kilikien oder Origenes. Gerade die indirekten Überlieferungen sind kritisch zu sehen. Sie sind nicht nur weniger verlässlich, weil einige Autoren den Überlegungen der Stoikern nicht gerade wohlgesonnen gegenüberstanden (z. B. Plutarch), sondern auch, weil die Überlieferungen häufig statt aus den Originalquellen aus Sammlungen und Überblickswerken übernommen wurden – es war einfach ziemlich unpraktisch, die Papyri der Originalquellen, die zudem kein Inhaltsverzeichnis oder Register hatten, hin- und herzurollen, sodass man der Einfachheit halber auf Sekundärquellen zurückgriff, die bereits überblicksartige Zusammenstellungen enthielten. Angesichts dieser Quellenlage ist es keine leichte Aufgabe, sich den Autoren der Stoa zu nähern. Versuchen wir, mit aller gebotenen Vorsicht das Bekannte zusammenzufassen. Sicher ist, dass die Geschichte der Stoa mit einem Unglück beginnt, nämlich mit einem Schiffsunglück. Zenon von Kition (ca. 333–261 v. Chr.) wird gemeinhin als erster Stoiker bezeichnet. Er war Sohn eines Händlers, der ihm von seinen Reisen Bücher mitbrachte, unter anderem einige von griechischen Philosophen. Diese erregten Zenons Aufmerksamkeit, und wie es der Zufall (oder das stoische Schicksal) so wollte, erlitt Zenon eines Tages Schiffbruch und fand sich in Athen wieder, dem Mekka der Philosophie. Er fragte dort einen Buchhändler, wo er Männer wie Sokrates finden könne, also solche, die ihn in der Lebenskunst unterrichten würden. Der Mann zeigte auf den vorbeilaufenden Krates, den kynischen Philosophen. Und so wurde Zenon zunächst ein Kyniker. Wie bereits oben angedeutet, war die Lebensweise der Kyniker herausfordernd. Sie lebten auf der Straße von der Hand in den Mund und besaßen lediglich eine einzige Sache, nämlich ein Gewand, welches als »kynischer Mantel« bekannt war. Warum sollte man so leben? Diogenes von Sinope, ein weiterer bekannter Kyniker, antwortete darauf, dass jeglicher Besitz ein Streben nach Mehr in uns auslöst, was letztendlich zur geistigen Unruhe führt und damit dem Charakter schadet: »Die Sklaven […] dienen ihren Herren und die Nichtsnutze ihren Begierden« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VI.66). Und damit

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wir nicht zu Sklaven unserer Begierden werden, sollten wir uns lieber darauf trainieren, sie gar nicht erst zu haben, und zwar durch ein bedürfnisarmes Leben auf der Straße. Man kann sich leicht vorstellen, dass nur wenige Menschen das Durchhaltevermögen und den Mut aufbrachten, wie ein Kyniker zu leben. Das schien auch Zenon so gegangen zu sein, denn er wandte sich irgendwann von Krates ab und besuchte weitere Schulen. Unter anderem ist bekannt, dass er sich an der platonischen Akademie unterrichten ließ und dort insbesondere mit Polemon, dem damaligen Oberhaupt der Schule, zusammentraf. Dieser warf ihm vor, die Akademie nur als intellektueller »Spion« zu besuchen, um sich damit auf die eigene Schulgründung vorzubereiten. Und das tat Zenon dann auch. Um 300 v. Chr. gründete er seine eigene Schule, die schnell einen großen Zulauf hatte. Seine Anhänger wurden zunächst Zenonier genannt. Da sie aber kein eigenes Gebäude hatten, sondern sich in der Wandelhalle trafen, der Stoa Poikile, wurden sie bald als Stoiker b ­ ezeichnet. Die Geschichte der stoischen Philosophie nahm ihren Lauf. Nach Zenons Tod übernahmen Kleanthes (331–232 v. Chr.) und Chrysipp (282–206 v. Chr.) die Schule, der jeder auf seine Weise den eigenen Stempel aufdrückte. Von Kleanthes ist nur wenig bekannt, außer dass er vier Bücher über Heraklit schrieb und sich für die Naturphilosophie interessierte. Von ihm ist als einzigem unter den frühen Stoikern jedoch ein kurzes Textfragment überliefert, die Hymne an Zeus, die unter anderem bei Epiktet zitiert wird (vgl. dazu auch S. 95); Chrysipp ist bekannt für seine logischen Überlegungen und die Systematisierung der Lehre. Unsere Versuche, die Überzeugungen der älteren Stoa zu rekonstruieren, beruhen zumeist auf einer Auslegung seiner Textfragmente, die sich in den Herculaneum-Papyri oder den indirekten Überlieferungen (z. B. bei Diogenes Laertius) finden. Nach dem Tod von Chrysipp gab es häufig wechselnde Oberhäupter, darunter auch Panaitios von Rhodos, der weniger durch seine intellektuelle Innovationskraft bekannt wurde als durch seinen Expansionsdrang. Panaitios brachte den Stoizismus unter die Leute. Folgenreich ist insbesondere seine Reise nach Rom um 140 v. Chr., auf der er sich mit Scipio Africanus und anderen römischen Adeligen anfreundete

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und so ganz nebenbei den Stoizismus über die Landesgrenzen hinweg nach Rom exportierte. Panaitios wird daher auch als Begründer des römischen Stoizismus bezeichnet. Diese Variante des Stoizismus ist es, die im Weiteren im Zentrum des Buches stehen wird. Das liegt vor allem an zwei Dingen: Zum einen wissen wir viel mehr über die römischen Stoiker, insbesondere über Seneca, Musonios Rufus, Epiktet und Marc Aurel, als über die griechischen Vertreter. Zum anderen scheinen sich die vier römischen Stoiker stilistisch und inhaltlich gut zu ergänzen, sodass sie für eine Darstellung besonders attraktiv sind. Seneca ist Literat und Stilist. Seine Texte führen auf gekonnte Weise in die Kernthesen des Stoizismus ein und geben allgemeine Ratschläge für die Herausforderungen des Alltags. Musonius Rufus schreibt weniger kunstvoll, dafür aber sehr viel konkreter. Er erläutert etwa einen Kanon von Regeln, wie man als Stoiker seinen Alltag zu organisieren hat. Epiktet besitzt demgegenüber eine besonders ausgeprägte analytische Kraft. In seinen Anwendungsfeldern weniger konkret, jedoch im Stil sezierend und differenziert, lotet er aus, was menschliches Leid und Angst verursacht und wie dem beizukommen ist. Von Marc Aurel wiederum wissen wir nichts über seine stoische Lehre, sondern nur über seine stoische Übungspraxis. Er hat eine Art stoisches Tagebuch – die Selbstbetrachtungen – verfasst, das uns sprichwörtlich dabei zusehen lässt, wie er sich mit mal kurzen, mal längeren Mementos darin übt, seinen Charakter stoisch zu formen. Lucius Annaeus Seneca, auch Seneca der Jüngere genannt, wurde irgendwann zwischen 4 und 1 v. Chr. in Cordoba (Spanien) geboren. Von ihm sind heute die meisten Schriften erhalten, wenngleich er nicht der fleißigste Schreiber unter den Stoikern war. Chrysipp etwa soll bei Weitem produktiver gewesen sein. Diogenes Laertius zufolge hat Chrysipp mehr als 700 Traktate verfasst, von denen allerdings keines direkt überliefert ist (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.180). Von Seneca hingegen besitzen wir zehn Dialoge zu verschiedenen Themen der Lebenskunst, eine Sammlung von 124 Briefen an einen Adressaten namens Lucilius, zwei Essays zu ethischen Fragen und ein Werk

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in acht Büchern zur Naturphilosophie. In all diesen Schriften geht es Seneca typischerweise um menschliche Grundleiden und Ängste – um Trauer über persönliche Verluste, Ärger über sich selbst und die Mitmenschen, Alter und Tod sowie soziales Ansehen und Reichtum. Wie sollen wir mit diesen Aspekten unseres Lebens umgehen und wie machen wir unser Leben davon ausgehend nicht nur tolerabel, sondern freudvoll? Unter anderem darauf wollte Seneca in seinen Schriften eine Antwort geben. Gerade der Aspekt der emotionalen Freude ist nochmals zu betonen. Seneca scheint es vielleicht mehr als den anderen Stoikern nicht nur um zähneknirschendes Durchhalten zu gehen, sondern auch um eine fröhliche und heitere Akzeptanz der Herausforderungen, die das Leben an uns stellt. So werde die stoische Lebensweise von einer »ständige[n] Heiterkeit und Freude, tief aus dem Herzen kommend« begleitet, die alle anderen Regungen als minderwertig erscheinen lasse (Seneca, Über das glückliche Leben, IV.4). Die Phrase ›fröhlicher Stoiker‹ ist mithin für Seneca kein Oxymoron, sondern Teil seines stoischen Programms. Darüber hinaus hätte es Seneca aber nicht nur als Stoiker in die Geschichtsbücher geschafft. Selbst wenn er nie ein Wort über Philosophie geschrieben hätte, wäre er uns bekannt als Schreiber von Theaterstücken (acht Tragödien sind überliefert und eine Parodie auf Kaiser Claudius), als extrem wohlhabender Investor und als Tutor von Kaiser Nero. Die beiden letzten Rollen hängen zusammen: Als Nero Kaiser wurde, stiegen Seneca und Sextus Africanius Burrus, der Präfekt der prätorianischen Garde, zu seinen Hauptberatern auf. Damit einher ging Senecas neuer Reichtum, der ihn zu einem der wohlhabendsten Menschen seiner Zeit machte. Das brachte Seneca schon zu Lebzeiten den Vorwurf ein, eine Doppelmoral zu vertreten, nämlich einerseits eine stoische Lebensweise zu predigen, aber andererseits ein verschwenderisches Leben in Luxus zu führen. Am Ende stand die Beraterkarriere unter keinem guten Stern. Zwar wurde Seneca durch sie unermesslich reich, doch als er sich aufgrund von Krankheit und Alter zurückziehen wollte, überzeugte der neue Berater Nero, dass Seneca in eine Verschwörung gegen ihn verwickelt sei. 65 n. Chr. befahl Nero den Tod Senecas. Der Tod des Seneca ist eine

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eigene Geschichte, wurde vielfach in Kunst und Malerei rezipiert und verrät viel über die stoischen Ansichten über den ›letzten Gang‹. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtet sinngemäß wie folgt (vgl. Tacitus, Historien, 15.60–64): Als die Freunde sich zur Exekution versammelten und Seneca sah, dass sie weinten, maßregelte er sie. Sie sollten seinen Tod nicht beweinen, sondern als eigene Übung in Selbstbeherrschung begreifen. Trauer sei in dieser Situation für einen Stoiker nicht angebracht. Anschließend wurden seine Venen in den Armen aufgeschnitten, allerdings verblutete er nur langsam. Man öffnete daraufhin auch die Venen in den Beinen. Auch das half wenig. Man brachte ihm ein Gift. Er lebte immer noch. Daraufhin legte man ihn in ein Bad, in dem er durch den Dampf schließlich erstickte. Es heißt bei Tacitus, dass Seneca all das furchtlos und mit stoischer Gelassenheit ertrug. Gaius Musonius Rufus wurde um 30 n. Chr. geboren und ist der am wenigsten bekannte der vier römischen Stoiker. Er stammte aus einer angesehenen Familie und war eigentlich für eine Karriere in der Politik vorgesehen. Stattdessen gründete er seine eigene Philosophieschule. Leider ist nur wenig über seine Ansichten überliefert. Wir haben keine Primärtexte von ihm, sondern lediglich Mitschriften von zwei seiner Studenten (Lucius und Pollio), die uns durch Zusammenstellungen von Stobaeus und durch Zitate bei anderen Autoren bekannt sind. Die darin überlieferten Überlegungen sind in Form von dialogischen Zwiegesprächen komponiert und inhaltlich vor allem sehr konkret ausgerichtet. Es geht darin um alltägliche Regeln, die eine große Spannbreite abdecken – von der Inneneinrichtung eines Hauses über den Haarschnitt und die Kleidung bis zur Frage, ob Männer und Frauen gleich erzogen werden sollten. Und was Letzteres angeht: Musonius war der Ansicht, dass beide Geschlechter in gleichwertiger Weise in der Philosophie ausgebildet werden können (vgl. dazu auch ausführlicher S. 120). Die Schule des Musonius und ihr Lehrer waren zur Zeit Neros auf dem Höhepunkt ihres Einflusses und ihrer Bekanntheit. Dieser Umstand und dass sich Musonius mit den Gegnern Neros verbündete, führten dazu, dass Musonius von Nero zunächst inhaftiert und später verbannt wurde. 65 n. Chr. wurde er auf die griechische Insel Gyaros

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verbannt, die im Ägäischen Meer nordöstlich vom Festland liegt. Die Insel war karg, bergig, wenig fruchtbar, und das Wasser war knapp. Seneca erwähnt die Insel etwa auf seiner Liste der zehn schlimmsten Orte für ein Exil (vgl. Seneca, Trostschrift an Helvia, VI.4). Musonius schien die Umgebung aber wenig anhaben zu können. Er versuchte, das Beste aus seiner Lage zu machen, erkundete die Insel, freundete sich mit den Einheimischen an und entdeckte sogar eine Wasserquelle, die das neue ›Zuhause‹ etwas lebensfreundlicher machte. Nachdem Nero gestorben war, kehrte Musonius nach Rom zurück. Es ist überliefert, dass er noch ein weiteres Mal ins Exil musste, dieses wiederum mit Standhaftigkeit ertrug und den Umständen entsprechend handelte. Er starb um 100 n. Chr. Epiktet (griech. Epiktētos, übers. »der Erworbene«) war der bekannteste Schüler von Musonius Rufus. Er wurde als Sklave um 50 n. Chr. in Hierapolis in Phrygien, einer Landschaft in der heutigen Türkei, geboren und durch Epaphroditus erworben, dem Sekretär von Kaiser Nero und später von Domitian. Am Kaiserhof setzte man ihn vermutlich aufgrund seiner Begabungen als Lehrer und als Beamter für administrative Angelegenheiten ein. Er soll ein so ärmliches Leben geführt haben, dass sein Haus in Rom keines Riegels bedurfte. Außerdem soll er gehinkt haben, wobei die Ursache dafür umstritten ist. Bei Simplikios finden wir etwa den Hinweis, dass der Grund eine Krankheit gewesen sei (vgl. Simplikios, Über Epiktet, 44.50–45.2). Origenes gibt hingegen der Erklärung den Vorzug, sein Herr habe ihm als Sklaven ein Bein zertrümmert. Das habe Epiktet mit stoischer Gelassenheit ertragen und in der Folge sein Gebrechen ohne Zaudern und Murren akzeptiert (vgl. Origenes, Gegen Celsus, 7.53). Nach dem Tod Neros erlangte Epiktet die Freiheit und gründete eine eigene Philosophieschule in Rom, wurde aber von Domitian im Rahmen einer großflächigen ›Philosophenverbannung‹ ins Exil geschickt. Daran anschließend eröffnete er seine Schule fernab der römischen Heimat in Nikopolis, das im westlichen Teil Griechenlands liegt. Nach der Ermordung Domitians wurde der Stoizismus in Rom wieder salonfähig.

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Unter dem Namen Epiktets sind zwei Werke in griechischer Sprache überliefert: die Unterredungen (griechischer Titel: diatribai) und das Handbüchlein (griechischer Titel: encheiridion). Beide sind jedoch nicht von ihm selbst verfasst, sondern von seinem Schüler Arrian, der im Vorwort der Unterredungen versichert, er gebe den Wortlaut Epiktets originalgetreu wieder. Von den ursprünglich umfangreicheren Unterredungen sind nur vier Bücher erhalten. Das Handbüchlein ist eine dichte Zusammenfassung dieser Bücher. Epiktet wurde als führende Autorität angesehen und war zu seiner Zeit der berühmteste Vertreter der Stoa. Seine Schule, obwohl in der griechischen Provinz gelegen, zog viele Studenten an, die aus dem gesamten Imperium stammten. Den antiken Berichten zufolge empfing er dort sogar hochrangigen Besuch, zum Beispiel Kaiser Hadrian. Ähnlich wie Musonius war auch Epiktet für seinen sokratischen Unterrichtsstil bekannt. Dieser bestand nicht aus monologischen Vorlesungen, sondern aus einem dialogischen Gespräch über die eigene Lebensführung. Hierbei ging es um alltägliche Dinge wie den Umgang mit Beleidigungen, inkompetenten Sklaven, cholerischen Verwandten, dem Verlust eines geliebten Menschen oder der Verbannung ins Exil. Berüchtigt ist hierbei Epiktets Beobachtungsgabe und analytische Kraft. Er schien in besonderer Weise dazu fähig zu sein, die wirklichen Antriebskräfte seines Gegenübers zu identifizieren, was mitunter schmerzhaft für den Gesprächspartner sein konnte. Das war durchaus beabsichtigt und ein erster Schritt zur mentalen Heilung. Der Besuch einer philosophischen Schule sei, so meint Epiktet, wie der Besuch bei einem Arzt, der einem ein bitteres Medikament gibt: Es schmeckt schlecht, hilft aber am Ende weiter (vgl. Epiktet, Unterredungen, II.15). Er lehrte bis zu seinem Tod um das Jahr 138 n. Chr. in Nikopolis. Marc Aurel (vollständig: Marcus Aurelius Antoninus Augustus) ist derjenige Stoiker, von dessen Leben wir mit Abstand am meisten wissen, was kein Wunder ist: Er war immerhin römischer Kaiser. Aber beginnen wir von vorne: Marc Aurel wurde 121 n. Chr. geboren. Laut Julius Capitolinus, einem seiner Biographen, wurde er schon in frühester Kindheit in die Philosophie eingeführt (vgl. Capitolinus, Marcus An-

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2. Die Grundlagen der stoischen Philosophie – drei kurze Rundflüge

toninus der Philosoph, Abschnitt 2). Im Alter von zwölf Jahren machte ihn der Maler und Lehrer Diognetus mit dem Kynismus bekannt, mit dem er einige Zeit als Lebensweise experimentierte, indem er alte Kleidung trug und auf dem Boden schlief. Als Jugendlicher wurde Marc Aurel vom stoischen Philosophen Apollonius unterrichtet. Von ihm lernte er, wie er selbst berichtet, psychisches Leid und physische Krankheit gelassen zu ertragen (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, I.8). Ein weiterer wichtiger Einfluss war Quintus Junius Rusticus, der Marc Aurel offensichtlich mit Epiktets Unterredungen bekannt machte (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, I.7). Epiktet wurde in der Folgezeit zum wichtigsten Einflussfaktor. Als Marc Aurel sechzehn wurde, adoptierte Kaiser Hadrian seinen Onkel Antoninus, der wiederum auf Befehl den jungen Marc Aurel adoptierte. Nach Kaiser Hadrians Tod wurde folgerichtig Antoninus der neue Kaiser und Marc Aurel wurde früh in das Leben am kaiserlichen Hof eingeführt. Er agierte dreizehn Jahre lang als rechte Hand von Antoninus. Als dieser starb, übernahm Marc Aurel im Jahre 160 n. Chr. das Amt. Während dieser Zeit entstand auch die einzige bekannte philosophische Schrift, die wahrscheinlich keinen Titel trug, jedoch seit dem 10. Jahrhundert mit dem griechischen Titel Ta eis heauton versehen ist, was im Deutschen wahlweise mit Meditationen oder Selbstbetrachtungen übersetzt wird. Das Werk wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht. Inhaltlich handelt es sich nicht um eine Lehrschrift oder um eine Gesprächszusammenfassung, sondern um eine Art stoisches Tagebuch. Es enthält mehr oder weniger lange Reflexionen über stoische Grundsätze, die Marc Aurel vermutlich dazu dienten, den eigenen Charakter und die stoische Lebensweise zu festigen. Die Selbstbetrachtungen können eine große Faszination auf die Leser ausüben. Sie enthalten kaum Details über das Leben von Marc Aurel. Das emphatische Ringen um den Umgang mit der eigenen Unvollkommenheit (z. B. im Umgang mit anderen Menschen) und der eigenen Vergänglichkeit lässt aber eine Nähe entstehen, der sich nur wenige entziehen können. Dass eine mentale Selbstschulung für Marc Aurel einen Gewinn darstellen konnte, erschließt sich jedem, der nur einen kurzen Blick auf die

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Zeit seiner Regentschaft wirft. Die Umstände waren herausfordernd: Er litt unter häufigen Krankheiten und war physisch nicht sonderlich gut gebaut, seine Frau Faustina soll ihm untreu gewesen sein und von den mindestens vierzehn Kindern, die sie ihm gebar, überlebten nur sechs. Hinzu kamen politische Querelen. So wurde er in zahlreiche kriegerische Auseinandersetzung verwickelt; seine eigenen Offiziere, etwa Avidius Cassius, der Gouverneur von Syrien, rebellierten gegen ihn. Darüber hinaus wurde das Imperium durch die Pest, Hungersnöte und Naturkatastrophen, wie das Erdbeben von Smyrna, erschüttert. Seine Herrschaft war für ihn also alles andere als ein Selbstläufer, sondern eher ein stetiger Test, in dem seine stoische Lebensweise auf die Probe gestellt wurde. Hat er den Test bestanden? Wenn man den antiken Quellen glaubt, muss Marc Aurel eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen sein. Der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio bemerkte, nachdem er den herausfordernden Lebensweg beschrieb: »Doch von meiner Seite aus genießt er gerade deshalb umso größere Bewunderung, dass er inmitten nie gekannter und ungewöhnlicher Bedrängnisse selbst durchhielt und das Reich rettete« (Cassius Dio, Römische Geschichte, 72.36). Er blieb, wie Cassius Dio noch anfügt, seinen stoischen Idealen treu und ließ sich auch durch die härtesten Schicksalsschläge nicht beirren (vgl. ebd. 72.34). Für Edward Gibbon gehörte Marc Aurel gar zu den fünf guten Kaisern (neben Nerva, Trajan, Hadrian und Antoninus), in deren Herrschaft die Menschheit »äußerst zufrieden und wohlhabend war« (Gibbon zitiert nach Birley, Marcus Aurelius, S. 11, meine eigene Übersetzung, M. R.). Diese Einschätzung kann man diskutieren. Es zeigt aber, dass Marc Aurel vermutlich eines der seltenen Exemplare eines Philosophenherrschers war, von dem mit Bewunderung gesprochen wurde und der ein hohes Ansehen besaß. Im Jahre 180 n. Chr. wurde Marc Aurel ernsthaft krank. Er verweigerte die Nahrungsaufnahme, um den Sterbeprozess zu beschleunigen und starb mit 58 Jahren am 17. März 180 n. Chr. Es wird berichtet, dass sein Tod die römische Öffentlichkeit und insbesondere seine Soldaten in tiefer und aufrichtiger Trauer zurückließ (vgl. Birley, Marcus Aurelius, S. 209).

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2. Die Grundlagen der stoischen Philosophie – drei kurze Rundflüge

Ein kurzer Zwischenstopp Damit sind wir am Ende des ersten Rundfluges angelangt. Atmen wir kurz durch und erinnern uns an die wichtigsten Stationen. Da wäre etwa das stoische Philosophieverständnis: Die Stoiker sahen die Philosophie nicht als Mittel, um die eigene theoretische Neugier zu befriedigen oder ethische Sachprobleme zu lösen, sondern um das eigene Leben besser zu machen. Das wird erreicht, indem die Philosophie hilft, den eigenen Charakter zu formen. Für die Stoiker ist die Philosophie eine Lebenskunst, also ein Weg zur Persönlichkeitsbildung. Mit dieser Auffassung standen sie nicht alleine dar. Sie befanden sich in guter Gesellschaft und konkurrierten zum Beispiel mit Platonisten, Peripatetikern, Kynikern und Skeptikern um Schüler und Gefolgsleute. Leider wissen wir nicht viel über die ältere und mittlere Stoa, sodass ich mich in diesem Buch an die jüngeren, römischen Vertreter halten werde, insbesondere an Seneca, Musonius Rufus, Epiktet und Marc Aurel. Von ihnen haben wir belastbare direkte oder überlieferte Zeugnisse, und sie lassen unter anderem in den Berichten über ihre eigenen Leben – trotz sicherlich so mancher Beschönigungen – zumindest erahnen, wie es eigentlich war und immer noch sein könnte, als Stoiker zu leben.

2.2 Ein zweiter Rundflug: Was behaupten die Stoiker eigentlich? Der zweite Rundflug nimmt seinen Ausgangspunkt von den konkreten Inhalten. Wir wissen vielleicht nach dem ersten Rundflug, wer Marc Aurel war, wie er lebte und was für eine Persönlichkeit er gewesen sein könnte, aber wir haben nichts über seine tiefen philosophischen Überzeugungen erfahren. Was macht ihn zu einem Stoiker? Was sind die zentralen Bestandteile der Philosophie? Worum ging es den römischen Stoikern in ihrer Lebenskunst? Diese Fragen möchte ich in einem zweiten Rundflug genauer beleuchten und beantworten.

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Der tugendhafte Charakter und die präferierten Indifferenzen Nehmen wir einmal an, es gäbe genau ein einziges Wort, mit dem sich das gesamte Anliegen der Stoiker zusammenfassen ließe – was wäre das wohl? Die Antwort lautet: aretē. Hierbei handelt es sich um einen bedeutungsschweren griechischen Terminus, der sich am ehesten mit »Tugend« oder »Tugendhaftigkeit« übersetzen lässt. Das klingt zunächst ein wenig antiquiert. Gemeint ist damit aber nicht weniger als eine bestmögliche Verfasstheit des Gesamtcharakters. Wer also tugendhaft ist, hat es geschafft. Er hat sich in einer Weise selbst geformt, wie es besser nicht geht. Er ist, in der Sprache der Stoiker, »absolut vollkommen« (Cicero, Das höchste Gut und das schlimmste Übel, IV.37). Die Gleichung ist für die Stoiker damit recht einfach: Wer Philosophie betreibt, bildet seinen Charakter; wer seinen Charakter bildet, arbeitet daran, sein Leben zu einem guten Leben zu machen. Er strebt zur eudaimonia – einem Zustand des bestmöglichen Lebens. Die Stoiker meinten sogar, dass die aretē, also der tugendhafte Charakter, das einzige ist, was im Leben wirklich wichtig ist, und daher auch die einzige Möglichkeit darstellt, zur eudaimonia zu gelangen. Alle anderen Dinge sind entweder schlecht oder indifferent. Schlecht ist insbesondere das Gegenteil der Tugend, das Laster (griech. kakia). Wer einen lasterhaften Charakter hat, ist für die Stoiker am weitesten vom guten Leben entfernt. Sollten wir also jemals im Leben vor eine Wahl gestellt werden, die uns nötigt, einen schlechten Charakter zu entwickeln, würden die Stoiker uns raten: »Lass es sein, das ist das Schlimmste, was du dir antun kannst!« Aber was ist dann mit Krankheit, Armut und gesellschaftlicher Missachtung? Oder ihrem Gegenteil, also mit Gesundheit, Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen? Sind das nicht auch Dinge, die schlimm bzw. wichtig für das gute Leben sind? Nein, das würden die Stoiker tatsächlich nicht so sehen. Sie bezeichnen diese Dinge als adiaphora und sprechen ihnen lediglich einen Wert (griech. axia) zu. Das bedeutet: Es handelt sich dabei um Dinge, die wir präferieren sollten, wenngleich sie für das gute Leben eigentlich ohne Bedeutung, das heißt indifferent sind. Sie sind, wie man sagen könnte, präferierte Indifferenzen. 38

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2. Die Grundlagen der stoischen Philosophie – drei kurze Rundflüge

Das klingt paradox: Warum sollten wir lieber gesund als krank sein wollen, wenn es doch für die Qualität unseres Lebens gleichgültig ist? Die Antwort liegt in der oikeiōsis-Lehre, die wir im Kapitel zur stoischen Physik noch kennenlernen werden (vgl. S. 123). An dieser Stelle nur so viel: Die Stoiker meinen, dass ein Blick auf die menschliche Ontogenese vom Kind zum Erwachsenen zeige, dass es eine natürliche Entwicklung von den Indifferenzen zur Tugend gebe. Demnach ist es in den frühen Phasen unserer Entwicklung ganz normal, dass uns zum Beispiel Gesundheit wichtig ist. Wenn wir jedoch weiter voranschreiten, bemerken wir, dass sie immer weniger wichtig wird und schlussendlich durch die Bedeutung der Tugend überstrahlt wird. Ihr Wert sei dann, wie Cicero es ausdrückt, so gering wie der Schein einer Lampe der von der Sonne überstrahlt wird (vgl. Cicero, Das höchste Gut und das schlimmste Übel, III.45). Allerdings sollten diese Erläuterung nicht so gedeutet werden, dass die Indifferenzen lediglich weniger wichtig sind. Das würde implizieren, dass es sich nicht um Indifferenzen handelt, sondern um Dinge, die einen kleineren Einfluss als die Tugend auf das gute Leben haben. Die stoische These ist radikaler. Die Stoiker meinen, dass die Indifferenzen überhaupt nicht auf der gleichen Werteskala liegen wie die Tugend. Auf der einen Seite haben sie einen Wert, da sie immer noch einen Teil unserer natürlichen Entwicklung darstellen. Sie sind einfach Dinge, die zu uns dazugehören. Wir sollten sie daher präferieren. Auf der anderen Seite befinden sie sich nicht an der Spitze dieser Entwicklung. Dort steht einsam und alleine eine einzige Sache: die Tugend. Nur sie bestimmt das gute Leben, und nur sie kann es ermöglichen. Oder negativ ausgedrückt: Wir sollten Gesundheit, Reichtum und Ansehen aufgrund unserer Natur zwar präferieren, aber wenn wir sie nicht besitzen, ist das nicht sonderlich tragisch, da ihr Verlust keinen Einfluss auf die eudaimonia, also das gute Leben, hat. Auch ohne Gesundheit, Reichtum und gesellschaftliche Anerkennung führen wir ein gutes Leben, und zwar genau dann, wenn wir tugendhaft sind. Die These, dass einzig die Tugend ein Leben gut machen kann, wurde bereits in der Antike kontrovers diskutiert. Cicero erwähnt sie etwa in seiner Schrift Paradoxa Stoicorum als eine von sieben Be-

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hauptungen, mit denen sich die Stoiker gegen (griech. para) die gängige Meinung (griech. doxa) richten. Und das mag auch heute noch zutreffen. Denn wer würde tatsächlich behaupten wollen, dass am Ende für das eigene gute Leben unwichtig ist, ob man entweder gesund, reich und beliebt oder aber sterbenskrank, bettelarm und sozial isoliert ist? Um das zu behaupten, muss man schon einige gedankliche Akrobatik betreiben. Allerdings muss man auch sagen, dass die Stoiker, wie wir im Laufe dieses Buches noch sehen werden, das in der Tat getan haben. Sie haben versucht zu begründen, wie sie zu dieser kontraintuitiven Ansicht gelangt sind. Und die Stoiker setzen noch einen drauf: Wenn wir die nichtstoischen Intuitionen über das gute Leben betrachten, die wir meistens im Alltag haben, sind diese nicht nur philosophisch unbegründet, sondern sogar unnatürlich (vgl. dazu auch S. 123). Damit ist gemeint, dass die natürliche Entwicklung eigentlich die stoische Sichtweise begünstigt: »Denn die Natur führt uns zur Tugend« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.87). Wie aber kommen die antistoischen Intuitionen zustande? An dieser Stelle spürt man einen gesellschaftskritischen Hauch. Es ist für die Stoiker nicht die Natur, sondern die Gesellschaft, die uns falsche Urteile darüber in den Kopf setzt, was uns wichtig sein sollte. Am Ende sehen sie sich daher mit ihrer These nicht nur im Einklang mit der philosophischen Theorie, sondern auch mit unseren ursprünglichen Vorstellungen über das gute Leben. Paradox ist die These, dass einzig die Tugend für das gute Leben relevant ist, für die Stoiker nur in dem Sinne, dass sie den aus ihrer Sicht ohnehin falschen und unnatürlichen Vorstellungen widerspricht.

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Der stoische Weise und die vier Kardinaltugenden Die Tugend ist also alles, was zählt. Was das konkret für die stoische Lebensweise bedeutet, konnten wir schon in Ansätzen in den verschiedenen Biographien der vier römischen Stoiker sehen. Die Stoiker befassten sich nicht nur nebenbei, sondern besonders eingehend mit der eigenen Persönlichkeitsbildung. Was aber sind die Tugenden, die sie verkörpern wollten? Diese Frage lässt sich durch die Betrachtung des stoischen Weisen, das stoische Idealbild der eigenen Persönlichkeitsbildung, beantworten. Dieser ist das Leitbild, um das es geht; er ist das Ziel, auf das hin wir unseren Charakter entwickeln sollen. Allerdings fanden nicht alle Merkmale des idealen Charakters in der Stoa und ihrer Rezeption die gleiche Beachtung. Manche wurden mehr betont, andere wurden weniger ausführlich behandelt (vgl. zum stoischen Weisen auch S. 133). Zu den bekanntesten Merkmalen zählen sicherlich die Widerstandsfähigkeit und Standfestigkeit des stoischen Weisen angesichts von Rückschlägen und Leiderfahrungen. So schreibt etwa Plutarch: »Der stoische Weise verliert auch im Kerker seine Freiheit nicht; man stürze ihn vom Felsen herab, er leidet keine Gewalt; man spanne ihn auf die Folter, er leidet keine Qual; man hacke ihm die Glieder ab, er bleibt unverletzt; fällt er auch beim Ringen, ist er doch unbesiegt; man schließe ihn mit Mauern ein, ihm gilt keine Belagerung; wird er von den Feinden verkauft, so ist er doch kein Gefangener.« (Plutarch, Von der Ruhe des Gemüts und andere philosophische Schriften, 75)

Der stoische Weise ist damit ein Beispiel eines, wie man heute sagen würde, maximal resilienten Menschen. Nichts scheint ihm etwas anhaben zu können, weder äußere noch innere Feinde. Er ist ein Fels in der Brandung, der allen Sturmfluten trotzt. Selbst auf der Folterbank gerät der Stoiker nicht ins Wanken. Er ist in der Lage, in jeder Situation selbstbeherrscht und mutig – so nennen die Stoiker diese Charaktereigenschaften – zu sein (vgl. für eine genaue Darstellung der beiden Tugenden Kap. 3). Man kann sich vorstellen, dass eine solche Unbeugsamkeit eine gewisse Faszination ausstrahlte, insbesondere zur Zeit der Stoiker, in denen die eigene Gesundheit oder das eigene Leben

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ständig bedroht waren. Es gibt daher keinen Mangel an blumigen Beschreibungen. So fragt etwa Seneca voller Bewunderung: »Wenn du einen Mann siehst, nicht zu schrecken vor Gefahren, unberührt von Begierden, im Unglück glücklich, mitten in stürmischen Zeiten gelassen, von einer höheren Warte die Menschen sehend, von gleicher Ebene die Götter, wird dich nicht Ehrfurcht vor ihm ankommen?« (Seneca, Briefe, 41.4)

Das Idealbild des unbeugsamen Stoikers ist vielleicht das, was viele heute im Kopf haben, wenn über die Stoa berichtet wird. Gleichwohl ist es lediglich die halbe Wahrheit, denn der Stoizismus ist nicht nur ein mentales Betriebssystem für stürmische Zeiten. Es geht nicht nur darum, sich darauf zu trainieren, mit Angst und Leid in einer angemessenen Weise umzugehen. Es gibt auch eine positive Seite, die beinhaltet, wie man sein Denken und Handeln ausrichten soll. Damit ist die Tugend der Gerechtigkeit angesprochen (vgl. für eine genauere Darstellung Kap. 4). Zwei sehr pointierte Beschreibungen dieser Tugend stammen von Marc Aurel und Seneca: »Leidenschaftslosigkeit angesichts der Ereignisse, die aufgrund einer äußeren Ursache eintreten, Gerechtigkeit in den Handlungen, die entsprechend einer in dir liegenden Ursache vollzogen werden. Das bedeutet: Dein Streben und Tun erreicht sein Ziel im solidarischen Handeln; denn dies entspricht deinem Wesen.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IX, 31) »Doch keine Schule ist gütiger und sanfter, keine mehr zugetan den Menschen und um das Gemeinwohl besorgter, nämlich daß es ihr Vorsatz sei, Nutzen zu stiften und Hilfe zu leisten, nicht nur für sich, sondern für alle und jeden einzelnen sich Gedanken zu machen.« (Seneca, Über die Milde, II.3.3)

Damit lässt sich erkennen, dass die Stoiker für einen ziemlich ausgeprägten Gemeinschaftssinn einstehen. Ihnen zufolge muss es im eigenen Leben vor allem darum gehen, andere Menschen zu unterstützen, und zwar ganz unabhängig von Abstammung und Verwandtschaft. Ja, tatsächlich ziehen die Stoiker keine klare Grenze zwischen

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dem sozialen Nah- und dem Fremdbereich (vgl. S. 120). Leitend ist vielmehr die Annahme, wir seien gegenüber allen Menschen in der gleichen Weise verpflichtet, was darin begründet liegt, dass alle Menschen, wie Diogenes von Sinope gesagt haben soll, gleichermaßen »Bürger des Kosmos« (griech. kosmopolitēs) sind und daher die gleiche Qualität an Wohlwollen verdienen (vgl. dazu Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VI.63). Kurzum: Wir sehen, der stoische Weise zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass er angesichts äußerer und innerer Herausforderungen selbstbeherrscht und mutig ist, sondern auch, dass er sein Leben dem Ziel widmet, anderen Menschen und seiner Gemeinschaft zu helfen. Er ist mithin beides: unerschütterlich und moralisch gut. Nun gibt es allerdings noch eine weitere Tugend, die den Stoikern zugeschrieben wird, nämlich die Weisheit. Wie passt diese ins Bild? Eine kurze Antwort lautet: Wer weise ist, besitzt die Kunst des richtigen Denkens (vgl. für eine ausführlichere Darstellung Kap. 5). Das kann verschiedene Dinge beinhalten, aber für die Stoiker ist Weisheit vor allem eine mentale Fähigkeit, die sich auf die eigene Urteilsbildung bezieht und diese auf ihre Angemessenheit überprüft. In diesem Zusammenhang ist besonders relevant, dass der weise Mensch von seinen eigenen Überzeugungen ein Stück weit abrücken kann. Er besitzt die Fähigkeit zur kognitiven Distanzierung, wie man gegenwärtig in der Psychologie sagen würde. So schreibt etwa Epiktet zum Erwerb der Weisheit: »Lerne, jedem unangenehmen Gedanken direkt damit zu begegnen, indem du sagst: ›Du bist nur eine Vorstellung und nicht die Sache selbst, die du zu sein vorgibst.‹« (Epiktet, Handbüchlein, 1)

Entscheidend ist also, dass man nicht blind den eigenen Wertvorstellungen folgt, sondern sich von ihnen distanziert, um sie anschließend einer Prüfung unterziehen zu können. Wie aber sieht ein solches Verfahren aus? Wir werden dies noch im Teil zur stoischen Logik genauer unter die Lupe nehmen (vgl. zum Beispiel S. 154). Hier daher nur der Kerngedanke: Die Stoiker meinen, wir sollten ­prüfen, ob unsere Handlungen wirklich einem tugendhaften Charakter ent-

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springen, also ob das handelnde Individuum wirklich mental so gestrickt ist, dass es als selbstbeherrscht, mutig und gerecht gelten kann. Wenn das der Fall ist, kann der Test als bestanden gelten, und der Stoiker besitzt einen wesentlichen Aspekt der Tugend der Weisheit. Er hat die eigenen Beweggründe geprüft und sie als mit der eigenen Lehre übereinstimmend identifiziert. Selbstbeherrschung, Mut, Gerechtigkeit und Weisheit bilden die vier Kardinaltugenden der Stoiker. Zwar geben auch die Stoiker zu, dass sich damit die Liste der Tugenden nicht erschöpft, doch gehen sie davon aus, dass alle weiteren Tugenden sich entweder unter einer der Kardinaltugenden subsumieren lassen oder von nachrangiger Bedeutung sind. Das Hauptaugenmerk der Charakterbildung sollte also auf diesen vier Charaktereigenschaften und ihrer Einübung liegen. Allerdings darf die Übersichtlichkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stoiker damit ein denkbar anspruchsvolles Persönlichkeitsideal formulieren. Das haben sie auch selbst bemerkt. Die frühen Stoiker, wie etwa Chrysipp, meinten sogar, niemals jemanden getroffen zu haben, den man mit gutem Gewissen als stoischen Weisen bezeichnen könne. Die römischen Stoiker waren demgegenüber optimistischer. Für sie gab es einige Beispiele, die das stoische Ideal erfüllt haben, aber diese Exemplare seien so selten wie der Phoenix, der nur alle 500 Jahre auftaucht (vgl. Alexander von Aphrodisias, Über das Schicksal, 199.14– 22, zitiert nach: LS 61N). Die Beispiele, die immer wieder genannt werden, sind unter anderem Diogenes der Kyniker, Heraklit, Sokrates oder Cato der Jüngere. Die Stoiker selbst haben aus den hohen Hürden, die ihr eigenes Ideal vorgibt, die Konsequenz gezogen, die eigene Kennzeichnung als »Stoiker« aufzugeben und sich selbst als prokoptōn, also als Fortschreitende oder Lernende, zu bezeichnen. Es kann sogar manchmal als eine falsche Eitelkeit interpretiert werden, wenn sich jemand als Stoiker und damit als im Besitz der Tugend ausgibt. So weist Epiktet einen Schüler recht harsch zurecht, der sich als Stoiker bezeichnet haben soll:

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»Wer ist also ein Stoiker? [...] Zeigt mir einen, der krank und doch glücklich ist, der in Gefahr lebt und doch glücklich ist, der stirbt und dabei glücklich ist, der des Landes verwiesen und doch glücklich ist, der aller Ehren enthoben und doch glücklich ist. Zeigt mir doch so einen solchen, bei Gott, ich wünsche einen solchen Stoiker zu sehen. Ihr könnt mir keinen solchen zeigen.« (Epiktet, Unterredungen, II.19)

Man kann das als eine mehr oder weniger sympathische Erinnerung an die eigene Unvollkommenheit deuten (vgl. auch dazu S. 133). Wer sich auf den Pfad des stoischen Lebens begibt, muss sich im Klaren darüber sein, dass er das Ziel vermutlich niemals erreichen wird. Er bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit immer ein Fortschreitender und Lernender und sollte sich nicht anmaßen, allzu schnell davon auszugehen, seine Persönlichkeit in bestmöglicher Weise geformt zu haben. Das mag der eine oder andere ernüchternd finden. Weitere mögen diese Erkenntnis der Stoiker vielleicht auch verwenden, um sich in Demut und Bescheidenheit zu üben. Frei nach dem Motto: Nobody is perfect!

Die Affektenlehre: Was sollte der stoische Weise fühlen? Die meisten Menschen sind also keine stoischen Weisen. Sie führen ihr Leben nicht im Lichte der vier Kardinaltugenden, sondern kommen bei der einen oder anderen Gelegenheit vom richtigen Weg ab. Ein solches ›Abfallen‹ beinhaltet für die Stoiker vor allem, dass wir falsche Urteile darüber fällen, was wichtig und was unwichtig ist. Zum Beispiel überschätzen wir den Wert der präferierten Indifferenzen und halten sie für genauso wichtig wie die Tugend. Es ist folglich im Wesentlichen unsere kognitive Fehleranfälligkeit, die uns vom guten Leben entfernt. Damit einher geht aber noch ein anderes Phänomen, denn die falschen Urteile sind nicht bloß kognitive Irrtümer, sondern haben auch einen emotionalen Preis: Wir fangen an, Leid, Angst und Ärger zu fühlen, die sogenannten pathē (übers. »Leidenschaften«). Der Zusammenhang lässt sich so herstellen: Wenn wir ein falsches Urteil darüber fällen, was wichtig ist, bezieht sich das immer auf etwas, das letztendlich – wie Epiktet es nennt – nicht mehr in unserer Hand liegt (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 1; vgl. dazu auch S. 72). Um einige Beispiele aus 45

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dem Bereich der präferierten Indifferenzen zu nennen: Wer möchte, dass er gesellschaftlich anerkannt ist, wird darunter leiden, wenn ihm diese Anerkennung versagt bleibt. Wer im Leben unbedingt erfolgreich sein möchte (z. B. im Beruf), wird Angst vor Misserfolg haben. Und wer unbedingt ein geregeltes Auskommen haben möchte, wird sich darüber ärgern, wenn sein Arbeitgeber oder die gesellschaftlichen Verhältnisse ihm dies verweigern. All diese Dinge können die besagten Gefühle auslösen, weil der Handlungserfolg nicht in unserer Hand liegt. Ob wir Anerkennung erhalten, erfolgreich sind oder Reichtum ansammeln, können wir in der Regel nicht alleine beeinflussen. Es kommt daher immer wieder zu Frustrationen unserer Wünsche, wenn wir diese oder andere präferierte Indifferenzen anstreben. Und das führt zu mehr oder weniger starken emotionalen Reaktionen. Damit werden die Gefühle von Angst, Leid und Ärger für die Stoiker zu guten Indikatoren, dass etwas falsch läuft. Wir sind vom richtigen Weg abgekommen und damit auch vom Ziel, ein gutes Leben zu führen. Man kann es auch umgekehrt sagen: Wer solche Gefühle nicht fühlt, scheint einiges richtig gemacht zu haben. Die Stoiker haben für diesen Zustand sogar einen Namen: apatheia. Hierbei handelt es sich um eine Art innerer Seelenruhe, die mit einem heiteren, selbstgenügsamen und gelassenen Leben (griech. euroia biou) einhergeht. Wie gelangen wir zu einem solchen Zustand? Die naheliegende Antwort lautet: Wir konzentrieren uns nicht wie die gewöhnlichen Menschen auf Dinge, die wir nicht kontrollieren können, sondern nur auf solche, die in unserer Hand liegen. Und was kann das sein? Natürlich nur eines: das tugendhafte Leben der Stoiker. Diese Verbindung lässt sich so erklären: Die Stoiker sind der Ansicht, dass die Ausbildung des tugendhaften Charakters das einzige ist, was wirklich wichtig ist. Wenn das aber so sein sollte, liegt das gute Leben vollständig in der eigenen Hand, denn prinzipiell kann uns niemand daran hindern, an der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten und jede Entscheidung im Leben im Geiste der vier Tugenden zu treffen. Cicero bringt es besonders gut auf den Punkt, wenn er das »Versprechen der Philosophie« erläutert:

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»Denn was wird versprochen? Ihr guten Götter: dass, wer den Gesetzen der Philosophie gehorcht habe, stets gegen das Schicksal gewappnet sei und in sich alle Waffen zum guten und glückseligen Leben besitze und schließlich dauernd glückselig sei.« (Cicero, Gespräche in Tusculum, V.19)

Der lateinische Slogan des omnia mea mecum porto (übers. »Meinen gesamten Besitz trage ich mit mir«) wird zum Programm. Alles, was jemand braucht, um ein gutes Leben zu führen, trägt er immer schon bei sich und kann ihm auch nicht genommen werden, nämlich die Möglichkeit, seinen eigenen Charakter in einer tugendhaften Weise zu bilden. Was also gibt es noch zu fürchten und woran sollte der Stoiker noch leiden? Wenn es ihm stets nur um dasjenige geht, was in seiner Hand liegt, nämlich die Arbeit an der eigenen Tugend, dann wird er die apatheia besitzen. Sein Geist wird, wie es Pierre Hadot einmal in seinem Buchtitel formuliert hat, zu einer »inneren Burg«, die durch nichts und niemanden mehr eingenommen werden kann.2 Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es mag naheliegend sein, den Begriff der apatheia so zu verstehen, wie wir unseren heutigen Begriff »apathisch« deuten. Ein apathischer Mensch ist etwa jemand, der emotionslos, geistig abwesend oder uninteressiert ist. Die Stoiker wollten ihr eigenes Ideal aber keineswegs so verstanden wissen. Der stoische Weise ist kein emotionsloser Zombie, der sein gesamtes Gefühlsleben ausradiert hat. Der stoische Eliminationsgedanke bezieht sich lediglich auf eine bestimmte Art der negativen Gefühle, nämlich auf die pathē, also die Leidenschaften (daher auch: apatheia = »a«: »ohne«; »-patheia«: »Leidenschaften«). Andere Emotionen werden von ihnen keineswegs in der gleichen Weise diskreditiert. Dazu zählen zunächst die guten Leidenschaften, die eupathē (übers. »eu«: »gut«, »glücklich«; »-pathē«: »Leidenschaften«). Diese beziehen sich vor allem auf die Ausübung der eigenen Tugend und auf die Arbeit am eigenen Charakter. Ein Beispiel stellt etwa die chara dar, die von Seneca als ein heiterer, freudvoller und gelassener Gemütszustand beschrieben wird:

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»Das also bedenke, das ist der Weisheit Ergebnis, der Freude Gleichmaß. So ist des Weisen Seele beschaffen, wie die Welt oberhalb des Mondes: stets ist es dort heiter. […] Diese Freude entsteht nur aus dem Bewußtsein sittlicher Vollkommenheit: nicht kann sich freuen, wenn nicht der Tapfere, wenn nicht der Gerechte, wenn nicht der Selbstbeherrschte.« (Seneca, Briefe, 59.16)

Das klingt alles andere als danach, dass die bewusste Wahrnehmung der eigenen Tugendhaftigkeit und die Freude darüber etwas Schlechtes und zu Vermeidendes wären. Seneca schildert die Freude eher mit blumigen Metaphern, die nahelegen, dass sie etwas sehr Positives ist. Und es gibt noch weitere Emotionen, die den eupathē zugeordnet werden können: Die eulabeia ist eine maßvolle Abneigung und Vorsicht gegenüber allem, was nicht tugendhaft ist. Sie beinhaltet auch Emotionen wie Selbstrespekt und Selbstgenügsamkeit. Oder auch die boulēsis, die ein Streben nach dem tugendhaften Leben für sich und andere bezeichnet. Sie ist mit Emotionen wie Wohlwollen und Freundlichkeit gegenüber sich und anderen verbunden. Natürlich: Alle drei positiven Emotionen haben keineswegs den Status der Tugend, denn diese ist ja das einzige Gut im Leben. Die positiven Emotionen sind mithin – ähnlich wie Gesundheit, Reichtum und Ansehen – etwas, das wir präferieren sollten, ohne dass ihre Abwesenheit unser Leben in bedeutender Weise schlechter macht. Dennoch zeigt die Diskussion der drei guten Leidenschaften, dass das Leben eines Stoikers keineswegs freudlos sein muss. Im Gegenteil. Die positiven Emotionen zu fördern und zu kultivieren, sollte zwar nicht das höchste Lebensziel sein, aber ihre Anwesenheit ist in jedem Fall gegenüber ihrer Abwesenheit vorzuziehen. Darüber hinaus werden bei den Stoikern nicht nur positive Leidenschaften diskutiert, sondern auch körperliche Empfindungen, die auf angeborenen Reizen basieren. Diese werden von ihnen als propathē bezeichnet (übers. »pro«: »vor«; »-pathē«: »Leidenschaften«). Sie nennen verschiedene Beispiele hierfür, darunter etwa die Trauer über den Tod eines Angehörigen, die Empfindung von Scham oder die Furcht in einer Gefahrensituation. Die Grundidee ist die folgende: Bei all diesen (und ähnlichen) Empfindungen handelt es sich um solche, die auto-

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matisch ablaufen und auf die wir daher keinen Einfluss haben. Selbst in dem (unwahrscheinlichen) Fall, dass wir es geschafft hätten, stoische Weise zu werden, würden wir immer noch mit ihnen konfrontiert. Seneca drückt es so aus: »Denn mit Hilfe von keinerlei Weisheit werden die natürlichen Schwächen des Körpers oder der Seele abgelegt: was immer eingeprägt und angeboren ist, wird gelindert durch Kunst, nicht überwunden.« (Seneca, Briefe, 11.1)

Es scheint auch für den Stoiker Grenzen in der Kontrolle unseres Innenlebens zu geben. Einige Empfindungsreaktionen (z. B. Trauer, Scham oder Angst) können wir durch Training zwar mildern, aber nicht vollständig beseitigen. Das bedeutet freilich nicht, dass wir uns ihnen hingeben müssen oder sie als gut beurteilen sollten, denn es handelt sich bei den Auslösern der Emotionen nach der stoischen Lehre nach wie vor um Indifferenzen. Der stoische Weise würde vielleicht sagen: »Ich weiß, dass es nach einem Verlust eines geliebten Menschen unausweichlich und natürlich ist, eine gewisse Trauerempfindung zu haben; allerdings weiß ich auch, dass es sich beim Verlust um nichts handelt, was mich in meinem guten Leben beeinflusst. Ich akzeptiere daher einerseits die Empfindung und lasse sie abklingen, ohne dass ich andererseits ihre Ursache als etwas Schlimmes begreife.« Stoiker scheinen keine Unmenschen zu sein, die von uns verlangen würden, den Tod von geliebten Menschen regungslos zu ertragen. Eine maßvolle Trauer, so schreibt Seneca in seinem Trostbrief an Polybius, ist durchaus angemessen und sollte auch nicht unterdrückt werden: »Und dennoch überlege – vielleicht ist auch gerade das bereits überflüssig: etwas nämlich fordert die Natur von uns, mehr wird durch nichtige Einbildung bewirkt. Niemals aber werde ich von dir überhaupt nicht zu trauern verlangen.« (Seneca, Trostschrift an Polybius, XVIII.4–5)

Man kann das emotionale Leben des Stoikers so beschreiben: Die gewöhnlichen Menschen empfinden Leid, Angst und Ärger, weil sie ihr Herz an Dinge hängen, die sie nicht selbst in der Hand haben. Ihnen

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ist es wichtig, dass andere sie bewundern, dass sie ein halbwegs geregeltes finanzielles Auskommen haben oder dass sie ›Spuren‹ für die Nachwelt hinterlassen. Dem Stoiker hingegen ist das gleichgültig. Er konzentriert sich vornehmlich auf die Schulung des eigenen Charakters, der vollständig in seiner Hand liegt. Aus diesem Grund kann er heiter und gelassen seinen Weg gehen, sich hierbei möglicherweise über seine eigene Tugendhaftigkeit freuen und in einigen Ausnahmesituationen sogar automatische Gefühlsreaktionen zeigen. Das Gemüt des stoischen Weisen mag daher emotional reduziert sein, aber freudoder empfindungslos ist es sicher nicht.

Worum es wirklich geht: ein Leben im Einklang mit der Natur Die Stoiker sind der Ansicht, dass wir ein tugendhaftes Leben führen sollen und ein solches Leben zur Seelenruhe führt. Ist dann die Seelenruhe der tiefere Grund dafür, warum wir uns einer stoischen Lebensweise verschreiben sollten? Das könnte man meinen. Es ist allerdings zu kurz gegriffen. Die Seelenruhe begründet nicht, warum Stoiker ein tugendhaftes Leben anstreben, sondern ist allenfalls ein begrüßenswerter Nebeneffekt. Entscheidend ist vielmehr etwas anderes, nämlich das Leben im Einklang mit der Natur. Denn »unser Vorsatz ist es«, wie Seneca festhält, »der Natur gemäß zu leben« (Seneca, Briefe, 5.4). Ein solches Leben sei das oberste Ziel und die letztendliche Begründung dafür, warum wir eine charakterliche Transformation zum stoischen Weisen anstreben sollten. Was ist damit gemeint? In letzter Konsequenz verbinden die Stoiker mit dem Leben im Einklang mit der Natur die Idee, dass das tugendhafte Leben das Individuum mit seiner kosmischen Aufgabe harmonisiert (vgl. dazu ausführlicher S. 83). Wer sich an den Tugenden orientiert, tut genau das, wofür das Schicksal (lat. fatum; griech. heimarmenē) ihn und die Menschheit vorgesehen hat. Mit dieser normativen Leitidee stehen die Stoiker nicht alleine da. Die Vorstellung, man habe sich in ein kosmisches Gesamtgefüge einzugliedern, findet sich sowohl bei ihren intellektuellen Vor- als auch Nachfahren. Sie ruht auf den breiten metaphysischen Schultern zum Beispiel von Platon und Aristoteles. Und sie kommt in Variationen bei 50

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den spätantiken Nachfolgern (z. B. bei Plotin) vor, insbesondere auch bei den christlichen Denkern des Mittelalters und der Renaissance. Gleichzeitig muss man jedoch sagen: Die stoische Metaphysik stellt für viele Menschen heutzutage sicherlich eine Kröte dar, die nicht leicht zu schlucken ist. Viele glauben weder, dass alles Werden und Vergehen in der Wirklichkeit einem guten Plan oder Zweck folgt, noch, dass Menschen eine gewisse, vielleicht sogar besondere, Rolle in diesen zweckhaften Prozessen zukommt. Und tatsächlich muss ich zugestehen: Ich habe ebenfalls die Vermutung, dass eine gewisse Skepsis gegenüber der Überzeugungskraft dieser metaphysischen Vorstellungen angebracht ist. Wir sollten nicht alles umstandslos hinnehmen, was die Stoiker uns in der Metaphysik auftischen. Allerdings bedeutet das aus meiner Sicht nicht, dass wir die stoische Metaphysik in Bausch und Bogen verwerfen müssen. Ich habe vielmehr die Hoffnung, dass einige Bausteine durchaus das philosophische Papier wert sind, auf dem sie geschrieben sind. Mit anderen Worten: Ich glaube, man kann die stoische Metaphysik so modifizieren, dass sie einerseits immer noch den Geist des Stoizismus atmet und trotzdem auch für säkulare Naturen halbwegs anschlussfähig ist. Im besten Fall könnte man dann einerseits Stoiker bleiben, aber andererseits auch mit gutem Gewissen an einem Leben im Einklang mit der Natur festhalten. Wie ich mir diese Modifikation der Metaphysik konkret vorstelle und welche intellektuellen Eingriffe dafür notwendig sind, werde ich im zweiten Teil des Buches genauer erläutern, insbesondere, wenn ich auf die stoische Physik zu sprechen komme (vgl. S. 88).

Ein kurzer Zwischenstopp Soweit der zweite Rundflug, der etwas länger und vielleicht auch intellektuell fordernder ausgefallen ist. Dafür war er reich an neuen Einsichten. Ich denke, die meisten Leser können jetzt genauer erkennen, worum es den Stoikern geht. Zunächst ist da vor allem: die Tugend! Hierunter verstehen die Stoiker eine vortreffliche Ausbildung des eigenen Charakters, die für sie das einzige ist, was wirklich wichtig ist im Leben. Zwar sind alle anderen Dinge nicht bedeutungslos, aber sie­ 51

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t­reten als präferierte Indifferenzen in den Hintergrund. Es ist für die Stoiker nicht entscheidend, ob man im Leben Reichtum oder Ruhm – um zwei Beispiele zu nennen – ansammelt, sondern nur, was für einen Charakter man ausbildet. Dieser sollte so gestaltet sein, dass er sich durch die Charaktereigenschaften Weisheit, Gerechtigkeit, Mut und Selbstbeherrschung auszeichnet, aus denen beim Handeln ein Zustand der Seelenruhe folgt. Hierbei bedeutet Seelenruhe allerdings nicht, dass man zu einem kalten und gefühllosen menschlichen Brocken wird. Einige positive Gefühlzustände hat auch der stoische Weise und ebenso negative Regungen. Insbesondere solche, die sich von Natur aus nicht vermeiden lassen, sind ihm weder fremd, noch werden sie von ihm verteufelt. Die Stoiker raten uns zu einem emotional reduzierten, aber nicht zu einem emotionslosen Leben. Und warum das alles? Die Stoiker vertreten die Ansicht, dass das tugendhafte Leben im Einklang mit der Natur steht. Den Zweck des Menschen sehen sie darin, sich in stoischer Weise zu formen und zu bilden. Wenn uns das gelingt, bilden wir uns zu demjenigen weiter, zu dem wir von der Natur vorgesehen sind.

2.3 Ein dritter Rundflug: das stoische Bildungsprogramm Im zweiten Rundflug haben wir entdecken können, worum es Stoikern im Grunde ihres Herzens geht. Sie wollen tugendhaft sein und dadurch im Einklang mit der Natur leben. Noch ungeklärt bleibt aber die Frage, wie genau ein Bildungsprogramm aussehen kann, um dieses Ziel zu erreichen. Wie werde ich eigentlich tugendhaft und lebe im Einklang mit der Natur? Was muss ich dafür tun? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt des dritten Rundfluges. Er führt uns zu einer genauen Analyse des Tugendbegriffs, dann über die theoretischen und praktischen Elemente des Bildungsprogramms und schließlich zum daran anschließenden Curriculum und Lehrplan.

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Der Ausgangspunkt: der Tugendbegriff – eine Detailanalyse Dreh- und Angelpunkt des stoischen Bildungsprogramms sind die vier Kardinaltugenden. Es ist daher unerlässlich, das Tugendverständnis der Stoiker noch genauer in den Blick zu nehmen. Das Wichtigste zuerst: Die Tugenden sind für sie vor allem dadurch definiert, dass sie ein Wissen darstellen. Wer beispielsweise mutig handelt, weil er seine eigene Angst überwindet, tut das nicht einfach aus einer unreflektierten Neigung heraus. Damit ein solches Handeln in den Bereich der Tugend fällt, muss man vielmehr ein Wissen darüber haben, was Mut in der konkreten Situation bedeutet. Mehr noch: Der wahrhaft Tugendhafte muss auch begründen können, warum der Mut angemessen ist, warum es sich hierbei um eine Tugend handelt, warum Tugenden relevant sind usw. Er muss also Rechenschaft ablegen können (griech. logon didonai), und das in einer sehr umfassenden Weise, die auch abstraktes philosophisches Grundlagenwissen einschließt. Ein solches Verständnis von Tugend als Wissen ist ziemlich folgenreich für das Bildungsprogramm. Es bedeutet nämlich, dass es nicht nur darauf ankommen kann, den Lernenden in einer gewissen Weise zu dressieren, sodass er in einer bestimmten Weise handelt. Es muss vielmehr immer auch darum gehen, den Lernenden kognitiv einsichtig zu machen, was aus Sicht der Stoiker zu einem guten Leben beiträgt. Ein Stoiker muss zum Beispiel verstehen und begründen können, warum eine Handlung mutig ist und eine andere nicht. Blicken wir noch genauer auf die Tugenden. Was ist eigentlich ihr Bezugspunkt? Was genau ist es, das weise, gerecht, mutig und selbstbeherrscht genannt werden kann? Der Gegenstand der Tugend ist der Charakter eines Menschen, wobei sich jede Einzeltugend auf einen bestimmten Teil des menschlichen Charakters bezieht. Ich werde im Kapitel zur stoischen Logik noch genauer darauf zurückkommen (vgl. S. 156). An diesem Punkt ist es nur wichtig, die groben Zusammenhänge zu erkennen. Diese lassen sich wie folgt rekonstruieren: Die Stoiker gehen davon aus, dass sich alle Tugenden im rationalen Teil des Charakters verorten lassen, wobei sie diesen wiederum in drei Bereiche einteilen, nämlich in Denken, Fühlen und Handeln. Alle drei Bereiche 53

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werden in unterschiedlicher Weise analysiert und in unterschiedlicher Ausführlichkeit dargestellt. Im Bereich des Denkens betrachten sie vor allem die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und der Zustimmung zu den richtigen Urteilen (griech. synkatathesis); im Bereich des Fühlens interessieren sie sich für die Ausbildung von Wünschen (griech. orexis) und Aversionen (griech. ekklisis); und im Bereich des Handelns fokussieren sie auf die Bildung von Absichten und Strebungen (griech. hormē). Nun können all diese Bestandteile des Charakters besser oder schlechter ausgebildet sein. Und da kommen die verschiedenen Einzeltugenden ins Spiel. Diese beziehen sich nämlich nicht auf den gesamten Charakter, sondern auf die drei genannten Bestandteile. Wenn wir unser Denken in guter Weise trainieren, indem wir den richtigen Urteilen zustimmen, können wir uns nach den Stoikern als weise Menschen bezeichnen. Wenn wir das Fühlen in bestmöglicher Weise ausbilden, indem wir angemessene Wünsche und Aversionen haben, sind wir selbstbeherrscht und mutig. Und wenn wir in einer angemessenen Weise handeln, weil wir gute Absichten und Strebungen besitzen, sind wir gerecht. Demnach beziehen sich bestimmte Tugenden immer auf bestimmte Bestandteile des Charakters. Um den Zusammenhang noch einmal anschaulicher darzustellen: Bestandteil des Charakters

Tugend

Denken (z. B. Urteilen)

Weisheit

Handeln (z. B. Absichten)

Gerechtigkeit

Fühlen (z. B. Wünschen)

Selbstbeherrschung und Mut

Für die Stoiker sind die Tugenden in ihrem Wesen klar voneinander abgegrenzt. Es ist eine Sache, an der eigenen Weisheit zu arbeiten, nämlich an der eigenen Zustimmung zu den richtigen Urteilen, eine andere Sache ist es jedoch, die eigene Selbstbeherrschung oder den Mut zu trainieren, indem man die angemessenen Wünsche und Aversionen in den Blick nimmt.

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Nun kommt allerdings noch ein dicker Verständnisbrocken auf uns zu. Denn die Stoiker meinen, dass die verschiedenen Tugenden zwar auf dem Papier voneinander getrennt werden können, aber in der Realität nicht getrennt voneinander vorkommen. Oder um es einmal anders auszudrücken: Weisheit, Gerechtigkeit, Mut und Selbstbeherrschung sind zwar unterschiedliche Tugenden, doch können wir niemals nur eine von ihnen haben, sondern müssen – wenn wir tatsächlich tugendhaft sind – immer alle gleichzeitig besitzen. In diesem Sinne, so berichtet Diogenes Laertius, bilden die Tugenden für die Stoiker eine Einheit: »Die Tugenden, sagen sie, stehen in einem so engen Verhältnis zueinander, dass, wer eine hat, sie alle hat« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII .125). Das ist eine ziemlich herausfordernde These. Kennen wir nicht alle Menschen, die in bestimmten Situationen gerecht gehandelt haben, hierbei jedoch Angst und Verzweiflung fühlten und sich nicht über die Motive ihrer Handlungen im Klaren waren? Die Stoiker würden sagen: Nein, einen solchen Menschen gibt es tatsächlich nicht. Oder besser: Einen solchen Menschen mag es zwar geben, aber wir sollten ihn nicht tugendhaft nennen. Wer wirklich tugendhaft ist, der ist nicht nur gerecht, sondern immer auch selbstbeherrscht, mutig und weise. Den Hintergrund für diese These bildet die oben beschriebene Annahme: Wir müssen den Stoikern zufolge von verschiedenen Bestandteilen des Charakters ausgehen, auf die die jeweiligen Tugenden bezogen sind. Und der Clou ist dann: Diese Anteile sind zudem so miteinander verbunden, dass die positive Ausbildung des einen jeweils die Voraussetzung der anderen ist. Ein Beispiel: Wenn wir gerecht sind, bezieht sich diese Charaktereigenschaft auf unsere Strebungen und Neigungen. Wir haben, so würden die Stoiker sagen, eine gerechte Absicht. Um jedoch eine gerechte Absicht zu haben, müssen wir zunächst lernen, unser Fühlen zu kontrollieren und widerstreitenden Impulsen entgegenzutreten, die ihrerseits eine konträre ungerechte Absicht generieren können. Wir müssen folglich lernen, selbstbeherrscht und mutig zu sein, damit wir gerecht sein können. Und die Tugend der Weisheit? Die Verbindung lässt sich so herstellen: Wenn wir gerecht sein wollen, darf es gemäß den ­Stoikern

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nur um unsere gerechten Absichten gehen und nicht etwa um andere Motive, wie die Steigerung oder den Erhalt des eigenen sozialen Status. Wir müssen ihnen zufolge also zum einen unsere Motive kennen, aber zum anderen ebenfalls wissen, was die richtigen Motive sind. Das heißt in diesem Fall: Wir müssen wissen, was in der jeweiligen S­ ituation »gerecht« bedeutet und wie sich das begründen lässt. Und das bedeutet wiederum nichts anderes als weise zu sein. Ähnlich wie die anderen beiden Tugenden ist auch die Weisheit eine Voraussetzung der Gerechtigkeit. Die Tugenden sind also, so lässt sich zusammenfassen, für die Stoiker ein Alles-oder-nichts-Paket. Wer eine von ihnen besitzen will, muss auch alle anderen verinnerlichen.

Auf dem Weg zum stoischen Weisen I: der Wert des theoretischen Wissens Die Tugend ist das zentrale Element im Bildungsprogramm der Stoiker. Wer tugendhaft ist, besitzt ein Wissen darüber, wie er in einer bestimmten Situation weise, gerecht, mutig und selbstbeherrscht handelt. Und wie werde ich eine solche Person? Das sollte auf der Hand liegen. Wenn es nämlich stimmt, dass es sich bei den Tugenden um Wissen handelt, liegt es nahe, sich diese in theoretischer Hinsicht vorzunehmen. Man könnte etwa daran arbeiten, gerechter zu werden, indem man darüber reflektiert, was Gerechtigkeit bedeutet, wie sie in den jeweiligen Situationen anzuwenden ist, warum es wichtig ist, gerecht zu handeln, was gerechtes Handeln im letzter Instanz begründet usw. Das heißt im Klartext: Man könnte philosophische Theorienbildung betreiben. Und in der Tat haben die Stoiker genau diesen Weg auch eingeschlagen. Sie haben sogar versucht, die philosophische Theorienbildung zu ordnen und in eine nachvollziehbare Systematik zu bringen. Hierbei schlossen sie sich einer damals bekannten Dreiteilung an, die darin bestand, die verschiedenen Diskussionen in den Bereichen der Logik, Ethik und Physik zu verorten. Ich werde im zweiten Teil des Buches in den jeweiligen Tugendkapiteln noch genauer darauf eingehen, was die drei Bereiche beinhalten. Da sie jedoch zum Teil erheblich davon abweichen, was wir heute von den Disziplinen erwarten ­würden, 56

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möchte ich zumindest einige kurze Worte darüber verlieren. Im Einzelnen: Die Logik (griech. logikē) umfasst das philosophische Studium der richtigen Definitionen und Schlussregeln, aber auch – wenngleich es etwas weniger wichtiger war – die Rhetorik. Insbesondere waren für die römische Stoa Überlegungen relevant, die wir heute der Erkenntnistheorie und der Psychologie zuschlagen würden. Dazu gehören etwa die Fragen danach, wie wir eigentlich Wissen, insbesondere Tugendwissen, erwerben können und wie die Struktur unseres Denkens und Wahrnehmens zu rekonstruieren ist. Die Ethik (griech. ēthikē) beinhaltet die Frage nach dem guten Leben des Einzelnen und der angemessenen Ordnung des Gemeinwesens. Ebenso umfasst sie das Studium der Emotionen und der Verbesserung des Charakters. Die Ethik entspricht am ehesten noch unserer Vorstellung von diesem Bereich, gleichwohl der antike Begriff noch erheblich weiter gefasst ist als unser heutiger, der vorwiegend nicht auf das gesamte Leben, sondern auf die Einzelhandlungen bezogen ist. Die Physik (griech. physikē) wird manchmal auch als Naturphilosophie bezeichnet. In ihr lassen sich alle Untersuchungen verorten, die wir heute als Ontologie und Metaphysik bezeichnen würden. Sie umfasst das Studium des Kosmos und unseres Platzes in ihm, wobei sich die Stoiker insbesondere dafür interessieren, woraus die Wirklichkeit besteht und welcher Zweck und Plan ihr zugeschrieben werden kann. Soweit die kurzen Erläuterungen. Wichtig ist nun, dass die drei Bereiche jeweils einer Tugend und einem Bestandteil des Charakters zugeordnet sind. Die Logik etwa befasst sich mit der Tugend der Weisheit und hat unser Denken zum Gegenstand (z. B. durch eine Theorie darüber, wie das Denken und unser Wahrnehmen funktioniert). Die Ethik korrespondiert mit der Tugend der Gerechtigkeit und hat unser Handeln zum Gegenstand (z. B. was eigentlich gerechtes Handeln bedeutet und wie es begründet werden kann). Die Physik wiederum hat

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zwei Tugenden zum Gegenstand, nämlich die Selbstbeherrschung und den Mut. Sie bezieht sich, vielleicht etwas überraschend für einige, auf das menschliche Fühlen (z. B. indem sie erläutert, was wir wünschen sollten und was nicht; vgl. zur Erläuterung S. 70). Etwas anschaulicher gefasst sieht es dann so aus: Bestandteil des Charakters

Tugend

Philosophischer Bereich

Denken (z. B. Urteilen)

Weisheit

Logik

Handeln (z. B. Absichten)

Gerechtigkeit

Ethik

Fühlen (z. B. Wünschen)

Selbstbeherrschung und Mut

Physik

Die Dreiteilung der philosophischen Disziplinen ist charakteristisch für die gesamte hellenistische Ära. Die Besonderheit der stoischen Auffassung liegt jedoch darin, dass in ihr die drei Disziplinen nicht als autonom betrachtet werden, sondern als zusammenhängendes Ganzes. Das wird etwa an den verschiedenen Bildern deutlich, die die Stoiker verwenden, um den Zusammenhang aufzuzeigen (vgl. für die folgenden Metaphern Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.40): In einem der bekanntesten werden die philosophischen Bereiche wie ein Garten aufgefasst. Demnach ist die Logik der Zaun, da sie den gesamten Garten beschützt und umgrenzt. Die Physik ist der fruchtbare Boden und die Bäume, die dort wachsen. Die Ethik wiederum wird durch die Knospen und Früchte auf den Bäumen symbolisiert. Ein anderes Bild vergleicht die Philosophie mit einem Tier: Die Knochen und Sehnen entsprechen der Logik, das Fleisch der Ethik und die Seele der Physik. Wiederum einem anderen Bild zufolge ist die Philosophie wie ein Ei: Die Logik ist die Eierschale, die Ethik das Eiweiß und die Physik der Dotter. Die drei Bilder lassen sich sicherlich in unterschiedlicher Weise ausdeuten, etwa mit Hinblick darauf, welche Hierarchie der Disziplinen sie nahelegen. Klar ist aber auch, dass selbst die am höchsten

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bewertete Disziplin – sei es wie im ersten Bild die Ethik, sei es wie in den beiden folgenden die Physik – nicht alleine, sondern nur im Verbund mit den anderen bestehen kann.

Auf dem Weg zum stoischen Weisen II: der Wert der praktischen Übung Für die Stoiker ist die theoretische Reflexion nur die eine Hälfte des Tugendwissens. Die andere besteht darin, dass wir nicht nur wissen müssen, was wichtig ist, sondern dieses Wissen zudem in den jeweiligen Situationen procheiron, also vor Augen, haben. Tugend schließt damit sowohl theoretische Reflexion als auch Übung ein. Seneca bestätigt diesen Zusammenhang, wenn er Ariston von Chios, einen Schüler von Zenon, zitiert: »Denn wer gelernt und begriffen hat, was man tun und lassen muß, ist noch nicht weise, wenn nicht seine Seele dem, was er gelernt hat, anverwandelt hat.« (Seneca, Briefe, 94.48)

Wie kann das theoretische Wissen für das handelnde Individuum praktisch werden? Die Antwort kennen wir alle: Übung, Übung, Übung. Denn »alles ist Übung«, wie Periandros, einer der sieben Weisen, schon formuliert (griech. meletē to pan). Und das wissen auch die Stoiker. Sie stellen daher den theoretischen Bereichen der Philosophie, wie Pierre Hadot herausgearbeitet hat, jeweils einen praktischen Übungsbereich gegenüber.3 Jeder dieser Bereiche enthält verschiedene Übungen, die meditatio (lat.) oder askēsis (griech.), die helfen sollen, das theoretische Wissen in der Person zu verankern, sodass sie es in der jeweiligen Situation parat haben kann. Epiktet beschreibt die drei Übungsbereiche und ihre Ziele in seinen Unterredungen wie folgt: »Drei Gebiete sind es, in denen man sich üben muss, wenn man sittlich gut ­werden will. Das erste betrifft das Begehren und Vermeiden, damit uns weder fehlschlägt, zu bekommen, was wir begehren, noch das wir in das hineingeraten, was wir ablehnen. Das zweite Gebiet betrifft die Entschlüsse, etwas zu tun oder zu lassen, und damit den Bereich der pflichtgemäßen Handlungen. Da hat man

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sich zu üben, dass man in geordneter Weise, aus guten Gründen und nie gedankenlos handelt. Das dritte Gebiet hat es zu tun mit der Verhütung von Irrtum und unbegründeten Urteilen, überhaupt mit der Zustimmung.« (Epiktet, Unterredungen,  III.2)

Leider gibt es keine einheitliche Namensgebung für die drei Übungsbereiche. Ich werde sie daher mit Blick auf die Bestandteile des Charakters benennen, die sie formen sollen. Ausgehend von Epiktets Schilderungen erhalten wir dann: Einen ersten Bereich, die Übungen des Fühlens, der sich auf Wünsche und Abneigungen bezieht (»das Begehren und Vermeiden«) und dem philosophischen Bereich der Physik zugeordnet werden kann. Einen zweiten Bereich, die Übungen des Handelns, der unsere Neigungen, Impulse und Absichten betrifft (»Entschlüsse, etwas zu tun oder zu lassen«) und mit dem philosophischen Bereich der Ethik korrespondiert. Und einen dritten Bereich, die Übungen des Denkens, der die Qualität unserer Urteile und Überzeugungen in den Blick nimmt (»Verhütung von Irrtum und unbegründeten Urteilen«) und den praktischen Teil der Logik darstellt. Wir können damit unser bereits bekanntes Schema wie folgt ergänzen: Bestandteil des Charakters

Tugend

Philosophischer Bereich

Übungsbereich

Denken (z. B. Urteilen)

Weisheit

Logik

Übungen des Denkens

Handeln (z. B. Absichten)

Gerechtigkeit

Ethik

Übungen des Handelns

Fühlen (z. B. Wünschen)

Selbstbeherrschung und Mut

Physik

Übungen des Fühlens

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Ein stoisches Leben führen: die Lerninhalte und -formen Wer wirklich daran interessiert ist, stoisch zu leben, der muss theoretische Reflexion und praktische Übung gleichermaßen berücksichtigen. Er muss einerseits theoretisches Wissen haben, aber dieses andererseits auch so in seinem Charakter und seiner Persönlichkeit verankern, dass er es in den jeweiligen Situationen griffbereit hat. Wie können wir diesen Doppelaspekt in der Lebenspraxis umsetzen? Eine Möglichkeit besteht darin, auf verschiedene Lerninhalte zu setzen, die im Rahmen eines Curriculums abgehandelt werden. Auf die Pythagoreer und Platon geht etwa die Vorstellung zurück, die Philosophie könne in einem geordneten Curriculum gelernt werden. Auch die Stoiker schlossen sich diesem Ideal an, wenngleich nicht genau überliefert ist, in welcher Weise und Reihenfolge das Studienprogramm zu absolvieren ist. Soll erst die philosophische Theorie zum Gegenstand gemacht werden oder soll man mit dem Einüben beginnen? Und in welcher Reihenfolge sollen die jeweiligen Bereiche erlernt werden? Oder müssen vielleicht sogar alle Inhalte so miteinander verflochten werden, dass es gar keine pädagogische Trennung geben kann? Tatsächlich scheinen alle Varianten vertreten worden zu sein. Plutarch berichtet etwa, dass gemäß manchen Stoikern die Logik als erste, dann die Ethik und zum Abschluss die Physik unterrichtet werden soll. Andere Stoiker meinen ihm zufolge, dass nicht mit der Logik, sondern der Physik begonnen und mit der Ethik abgeschlossen werden muss. Wiederum andere empfehlen, dass die drei theoremata nur im Verbund, also zusammen unterrichtet werden können und man sich nicht auf eine feste Reihenfolge festlegen darf (vgl. Plutarch, Über die Selbstwidersprüche der Stoiker, 9.1035a–b). Es scheint also unter den Stoikern eine gewisse Uneinheitlichkeit in der Struktur und Reihenfolge der Lehrinhalte zu geben. Was wir jedoch sagen können, ist, dass die Stoiker uns verschiedene Lehrformen zu bestimmten Zwecken empfehlen. Einige dieser Formen möchte ich im Folgenden zumindest kurz anreißen, bevor ich sie dann im zweiten Teil dieses Buches in den jeweiligen Tugendkapiteln noch genauer entfalte. Betrachten wir zunächst die Lehrformen für das theoretische Studium, über die wir leider wenig wissen und die sich wahrscheinlich 61

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auch über die Zeit hinweg verändert haben.4 Als gesichert kann wohl gelten, dass die Stoiker viel Wert auf das persönliche Lehrgespräch legten. Dieses wurde wahlweise in der Stoa Poikile abgehalten, aber möglicherweise auch an anderen institutionalisierten Orten, wie einem Gymnasium oder im Haus eines Lehrers oder Schülers. Inhaltlich konnte ein Lehrgespräch verschieden ausgestaltet sein. Von Epiktet ist etwa bekannt, dass er zusammen mit seinen Schülern ein Thema auswählte und dieses dann philosophisch bearbeitete. »Philosophisch bearbeitet« ist hier allerdings nicht so zu verstehen, dass sie gemeinsam schriftliche Traktate verfassten. Vielmehr wurde das klassische Lehrgespräch in mündlicher Form abgehalten und bestand in einem dialogischen Austausch zwischen Lehrer und Schülern. Darüber hinaus scheint es auch mündliche Vorlesungen gegeben zu haben. So lässt sich herleiten, dass es spätestens seit der Zeit, in der Antipater und Panaitios die Schuloberhäupter waren, auch einführende Veranstaltungen gab, in der Lehrende in ihre Theorie und Praxis einführten. Ebenso kann man vermuten, dass die Schuloberhäupter selbst tiefergehende Inhalte vorstellten, zum Beispiel, um die bereits weiter vorangeschrittenen Studenten weiterzubilden oder um ihre Theorien in einer Art ›Forschungsseminar‹ zur Diskussion zu stellen. Damit zu den Lehrformen, die die Stoiker für das praktische Studium vorsehen. Was schlagen sie uns vor? In diesem Zusammenhang waren die Stoiker bei ihrer Auswahl recht undogmatisch, was sich daran ersehen lässt, dass sie auch Lehrformen anderer Schulen verwandten. So betont etwa Seneca gegenüber seinem Gesprächspartner Lucilius: »Nicht besteht Grund, dich über meine Denkweise zu wundern: bis jetzt gehe ich mit fremdem Eigentum großzügig um. Warum aber habe ich von fremden gesprochen? Was immer jemand gut formuliert hat, ist mein Eigentum.« (Seneca, Briefe, 16.7)

Um einige Beispiele aus dem reichhaltigen Arsenal herauszugreifen: Da wäre zunächst die Übungsform des Auswendiglernens und wiederholten Aufsagens zu nennen. Die Stoiker legten etwa großen Wert

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darauf, dass ihre Schüler den kanōn memorierten, d. h. die Grundüberzeugung, dass alle unerreichbaren Güter wertlos sind und nur die Tugend einen Wert besitzt. Außerdem gehörte hierzu das Aufsagen von Einzelsätzen (lat. sententiae), allgemeiner Regeln (lat. decreta) sowie von Einzelanweisungen (lat. praecepta), in denen philosophische Einsichten in komprimierter Form zusammengefasst sind. Beispiele solcher Merksätze sind etwa: carpe diem, omnia me mecum porto oder memento mori (vgl. dazu auch S. 95). Eine beliebte Praxis scheint etwa darin bestanden zu haben, sich seine Grundsätze in einem kleinen Büchlein, dem vademecum (übers. »vade«: »gehen«; »mecum«: »mit mir«), aufzuschreiben und mit sich zu führen, um sie bei Bedarf griffbereit zu haben. So empfiehlt uns Marc Aurel: »Wie die Ärzte stets ihre Instrumente und Messer für plötzlich notwendige Behandlungen zur Hand haben, so sollst du deine Überzeugungen bereithalten, um die göttlichen und menschlichen Dinge zu begreifen.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, III.13)

Neben dem Memorieren und Aufsagen stand die eigene Lesearbeit im Fokus der stoischen Übungspraxis. Diese diente nicht wie im theoretischen Teil dazu, sich philosophische Einsichten zu erschließen, sondern diese gedanklich zu festigen. Zu den Leseübungen gehörte etwa die Ratgeberliteratur der Kaiserzeit, die lose an die diatribē, die ursprünglich seit den Kynikern praktizierte populärwissenschaftliche schriftliche Ansprache, angelehnt war. Sie ist gekennzeichnet durch zahlreiche Stilmittel wie pointierte Antithese, Metaphern und Alliterationen, wobei der gedankliche Aufbau gegenüber der Form in den Hintergrund tritt. Ein stoisches Beispiel sind etwa Senecas Briefe an Lucilius oder seine Trostbriefe, in denen der Autor den vermutlich fiktiven Adressaten literarisch und rhetorisch gekonnt verpackte Ratschläge für den Umgang mit alltäglichen Problemen gibt. Hierbei geht es Seneca nicht um eine Argumentation für die stoische Lehre, sondern darum, den Inhalt beim Rezipienten, der vermutlich ein lernender Stoiker war, zu festigen. Seneca selbst betont diesen Übungsaspekt, wenn er seine Schreibtechnik mit dem Verfahren zum erfolgreichen

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Einfärben von Wolle vergleicht. Ähnlich wie jenes muss auch dieses in regelmäßigen Abständen wiederholt werden, wenn es Bestand haben soll (vgl. Seneca, Briefe, 71.31). Andere Übungen umfassen die eigene Schreibarbeit. Am bekanntesten sind vermutlich die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel, die er nach allem, was wir wissen, nicht geschrieben hat, um theoretische Probleme der stoischen Philosophie zu lösen oder um ihr bestimmte Aspekte hinzuzufügen. Vielmehr ging es ihm darum, seine stoische Lebenshaltung zu vertiefen, sie in sein Denken zu integrieren und ihre persönlichkeitsverändernde Wirkung zu verstärken. Darüber hinaus konnte er seine Schreibarbeiten im Ernstfall nutzen, da er seine Einsichten in schriftlicher Form für sich verfügbar gemacht hat. Es gibt Hinweise darauf, dass es prospektive oder reflexive Formen der Schreibarbeit gab. Von Pythagoras ist etwa überliefert, dass er zweimal täglich eine Selbstprüfung vorgenommen habe, nämlich am Morgen und am Abend, um so die richtigen Grundüberzeugungen zu festigen bzw. die falschen auszumerzen. Ebenso ist von Seneca bekannt, dass er vor dem Zubettgehen den Tag noch einmal an sich vorbeiziehen ließ und aufschrieb, in welcher Weise er tugendhaft und lasterhaft gehandelt hatte (vgl. Seneca, Über den Zorn, III.36.1). Daneben lassen sich auch Übungen ausmachen, die weder auf das Memorieren noch auf Lese- oder Schreibarbeit ausgerichtet waren, sondern vollständig in mente, also im Geist, abliefen. Diese Form der Lernpraxis können wir als imaginative Übungen bezeichnen. Eine besonders bekannte und in den verschiedenen Traditionen der Stoa immer wiederkehrende imaginative Übung ist die premeditatio futurum malorum, die der Abhärtung und Desensibilisierung gegenüber zukünftigem Leid diente. Sie besteht im Kern darin, dass man das zukünftige Ereignis bereits vor seinem geistigen Auge ablaufen lässt und ihm dadurch die Spitze nimmt. Von Chrysipp ist überliefert, dass er so versuchte, die eigene Todesfurcht zu besiegen (vgl. Cicero, Gespräche in Tusculum, III.28–31). Eine andere imaginative Übung, der sogenannte Blick von oben, setzt weniger auf direkte Konfrontation als vielmehr darauf, sich von allem Irdischen ›abzulösen‹, sodass auch die eigenen Ängste und Sorgen vergleichsweise unbedeutend wirken und

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2. Die Grundlagen der stoischen Philosophie – drei kurze Rundflüge

dadurch abgemildert werden. So empfiehlt Marc Aurel, man solle die Alltagsrealität gelegentlich »wie von einer Anhöhe aus« betrachten, um sich zu verdeutlichen, wie »weder der Nachruhm noch das Ansehen noch sonst etwas von allem, was dazu gehört, Beachtung verdient« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IX.30). Wiederum andere imaginative Übungen dienten nicht der Desensibilisierung, sondern der Konzentration der Aufmerksamkeit. Denn wie soll man die richtigen Grundsätze anwenden, wenn man im jeweiligen Moment unaufmerksam und unkonzentriert ist? So schlägt etwa Epiktet vor, dass der Stoiker sich ständig fragen müsse: »Bin ich etwa auch einer von diesen Menschen?«, »Was halte ich von mir selbst?«, »Wie gehe ich mit mir selbst um?«, »Bin ich auf jedes künftige Ereignis vorbereitet?« (Epiktet, Unterredungen, II.21).

Ein letzter Zwischenstopp (und Ausblick) Die zentrale Frage des dritten Rundfluges lautete: Wie kann ein Bildungsprogramm gemäß der stoischen Philosophie aussehen? Ich habe betont, dass der Tugendbegriff den Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage darstellt. Wenn wir genauer wissen, was er für die Stoiker bedeutet, wissen wir auch, in welcher Weise wir uns bilden müssen. Und für die Stoiker beinhaltet der Tugendbegriff vor allem zweierlei: Wissen und Gewohnheit. Wer zum Beispiel gerecht sein will, muss einerseits wissen, was eine gerechte Handlung ist und diese begründen können, andererseits muss er darauf trainiert sein, dieses Wissen gewohnheitsmäßig in der jeweiligen Situation vor Augen zu haben. Daraus ergibt sich für die Stoiker eine zweifache Aufgabe: Wer tatsächlich als Stoiker leben will, muss sowohl theoretisches Wissen erwerben als auch sich um dessen praktische Einübung bemühen. Die Stoiker geben bereits einen Hinweis, wie das zu realisieren ist. Denn systematisch sind mit den verschiedenen Kardinaltugenden unterschiedliche theoretische und praktische Disziplinen verbunden, in denen wir uns ausbilden müssen. Die Tugend der Weisheit erlangt man, indem man sich der philosophischen Disziplin der Logik widmet und sich in den praktischen Übungen des Denkens erprobt. Die Tugend der Gerechtigkeit wird ausgebildet, indem man sich der Ethik zuwendet und sich die 65

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Teil I: Die Grundlagen

Übungen des Handelns aneignet, und die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes können realisiert werden, wenn man die Disziplin der Physik studiert und die Übungen des Fühlens trainiert. Am Ende können wir also recht genau sagen, was wir tun müssen, um als Stoiker zu leben. Wir müssen uns an den Tugenden ausrichten und uns in den entsprechenden theoretischen und praktischen Disziplinen schulen. Darin besteht im Grundsatz die Hauptaufgabe des Stoikers. Und wie funktioniert diese Schulung konkret? Im folgenden zweiten Teil des Buches werde ich dieser Frage nachgehen, indem ich mich den vier Kardinaltugenden der Reihe nach zuwende und erläutere, was wir in theoretischer Hinsicht wissen und in praktischer Hinsicht trainieren müssen, um weise, gerecht, mutig und selbstbeherrscht zu werden.

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Teil II: Die Tugenden im Fokus 3. Die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes Wenn es irgendwelche Charaktereigenschaften gibt, für die Stoiker besonders prominent sind, dann sind es diese beiden: Selbstbeherrschung und Mut. Sie haben das Bild dieser Philosophengruppe seit der Antike geprägt. Stoiker gelten als besonders widerstandsfähig gegenüber äußeren Gefahren. Und sie lassen sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen, ganz egal, was die Realität ihnen entgegenschleudert. Eine solche Unerschütterlichkeit der Seele, wie die Stoiker es nennen, ist in vielen Geschichten und Erzählungen greifbar. Eine der wohl bekanntesten Geschichten rankt sich um ihren Gründer, Zenon von Kition. Es ist überliefert, dass er ein wohlhabender Kaufmann war, der in seinen dreißiger Jahren mit einem Handelsschiff nach Piräus aufbrach (siehe auch S. 27). An Bord hatte er seinen wohl wertvollsten Besitz, nämlich eine Ladung von wertvollem Farbstoff, gewonnen aus der Pupurschnecke. Nun kam es so, wie es wahrscheinlich für einen Stoiker kommen musste: Er erlitt Schiffbruch, und die Ladung sank auf den Boden des Meeres. Zenon war auf einen Schlag ein armer Mann und strandete mittellos in Athen. Jedoch schien Zenon den Schiffbruch nicht zu bedauern. Diogenes Laertius berichtet, dass er seine Lage sogar begrüßte: »Das Schicksal meint es wohl mit mir, dass es mich der Philosophie zuführt« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII .4–5). Und er witzelte noch: »Das ist

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Teil II: Die Tugenden im Fokus

doch nun eine glückliche Fahrt gewesen, als ich Schiffbruch litt« (ebd.). Eine weitere Anekdote handelt von Paconius Agrippinus, der im ersten Jahrhundert n. Chr. lebte und dessen Vater von Kaiser Tiberius zum Tode verurteilt wurde, vermutlich wegen Hochverrats. Im Jahre 67 n. Chr. sah sich nun Agrippinus mit dem gleichen Vorwurf konfrontiert, allerdings von einem neuen Kaiser, nämlich Nero. Epiktet berichtet von den Gegebenheiten wie folgt (vgl. Epiktet, Unterredungen, I.1): »Man kündigte ihm an: Der Senat sitzt deinetwegen zu Gericht.« Darauf antwortete er nur: »Möge alles gut gehen, aber wir haben jetzt 11 Uhr.« – Das war die Zeit, zu der Agrippinus seine körperlichen Übungen machte und in der Regel ein kaltes Bad nahm. Er entgegnete daher: »Lasst uns gehen und unsere Übungen machen.« Als er damit fertig war, kam man zu ihm und erklärte ihm: »Höre, du bist verurteilt.« Er fragte: »Verbannung oder Tod?« – »Verbannung.« – »Und mein Vermögen?« – »Es wurde dir nicht konfisziert.« Darauf Agrippinus lapidar: »Gut, gehen wir also und speisen in Aricia zu Mittag!« Allerdings kann man es auch noch schlechter treffen. Zufälligerweise wurde ein Freund von Agrippinus, der Senator Thrasea Paetus, ebenfalls beschuldigt und kam nicht so glimpflich davon. Ihm wurde die Ehre des liberium mortis arbitrium zuteil, die freie Wahl zur Selbsttötung. Das ist natürlich ein Euphemismus dafür, zum Tode verurteilt zu werden. Die Nachricht über sein Schicksal wurde ihm von einem Quaestor, einem niederen Beamten, während eines Abendessens mit Freunden überreicht. Er verabschiedete sich nach Erhalt der Nachricht ruhig von seinen Gästen und zog sich in seinen Schlafraum zurück. Es ist überliefert, dass er ohne Zaudern seine Venen öffnete und währenddessen das tat, was für einen Stoiker tugendhaft ist: Er holte seinen Freund Demetrius herbei, einen Kyniker, und diskutierte mit ihm über die Natur und den Ursprung der menschlichen Vernunft. Zenon, Agrippinus und Thrasea waren außergewöhnliche Menschen, die viel auf sich nehmen mussten. Ihre Leben sind Extrembeispiele. Sie zeigen jedoch, was eine stoische Lebensweise ausmacht. Alle drei haderten nicht mit ihrem Schicksal, sondern akzeptierten es. Zenon akzeptierte den Verlust seines Reichtums, Agrippinus zeigte

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3. Die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes

sich gleichgültig gegenüber seiner Verbannung und Thrasea nahm seine Verurteilung zum Tod gelassen an. Es scheint sogar so, als bewahrten alle drei angesichts der Schicksalsstürme, die ihnen entgegenwehten, immer noch einen kühlen Kopf, um diejenigen Dinge zu tun, die ihnen wichtig waren – sei es, sich ein neues Leben als Philosoph aufzubauen, ein letztes Mittagessen mit Freunden zu halten oder eine philosophische Diskussion fortzuführen. Alle drei darf man mit Sicherheit als selbstbeherrscht und mutig bezeichnen. Auf die Vorstellung, dass Stoiker besonders widerstandsfähig und unerschütterlich sind, treffen wir nicht nur in der Antike. Auch gegenwärtig ist sie prägend für das Bild, das wir von den Stoikern haben. Das geht sogar so weit, dass die Stoiker manchmal ausschließlich durch diese Merkmale definiert werden. Ein Indiz finden wir etwa in Lexika, die die Wortbedeutung abbilden. Der Duden definiert das Adjektiv »stoisch« als »unerschütterlich, gleichmütig und gelassen«, und das englische Meriam-Webster-Lexikon meint, eine stoische Haltung bedeute: »nicht von Leidenschaften oder Gefühlen getrieben oder diese zeigend, entschiedenes Zurückhalten von Schmerz- und Leidreaktionen.«5 Eine solche Definition ist nicht ganz unbegründet. Zenon, Agrippinus und Thrasea waren Sinnbilder für Unerschütterlichkeit, Gleichmut und Gelassenheit. Allerdings waren sie nicht nur das. So habe ich im ersten Teil des Buches darauf hingewiesen, dass die Stoiker nicht bloß zwei Tugenden kennen, sondern vier (vgl. S. 41). Der stoische Weise ist nicht nur selbstbeherrscht und mutig, sondern auch gerecht und weise. Das sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir über die Stoiker sprechen, weil wir sonst zu Engführungen und Einseitigkeit neigen könnten. Allerdings muss man auch irgendwo anfangen, wenn man lernen will wie ein Stoiker zu leben. Und wie die Stoiker selbst erläutern, sind die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes dafür ein guter Startpunkt (vgl. Epiktet, Unterredungen, III.2). Denn wie können wir gerecht und weise werden, wenn wir ständig damit zu tun haben, unsere aufflackernden Leidenschaften und Ängste zu besänftigen? Man stelle sich etwa vor, dass Zenon am Schiffbruch verzweifelt wäre und Jahre damit zugebracht hätte, seinen verlorenen Reichtum zu bedauern. Er wäre mithin derart um sich selbst

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gekreist, dass er gar nicht in der Lage gewesen wäre, daran zu denken, seine Motive ausführlich zu prüfen und altruistische Absichten auszubilden. Wie sieht nun ein geeignetes Bildungsprogramm für diese beiden Tugenden aus? Um das etwas deutlicher zu sehen, erinnern wir uns an den relevanten Teil der Bildungssystematik (vgl. S. 59): Bestandteil des Charakters Fühlen (z. B. Wünschen)

Tugend Selbstbeherrschung und Mut

Philosophischer Bereich

Übungsbereich

Physik

Übungen des Fühlens

Die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes beziehen sich also auf den Teil des Charakters, der mit dem Fühlen betraut ist. Dieser wird von zwei Seiten geformt. Wir brauchen einerseits das theoretische Wissen, andererseits die praktische Übung. Oder genauer gesagt, wir müssen die Einsichten der stoischen Physik kennen, aber auch die Techniken, mit denen wir deren Einsichten im Ernstfall vor Augen haben und einsetzen können. Beginnen wir mit der theoretischen Arbeit und gehen dann zu den Übungen vor.

3.1 Was wir wissen müssen Die stoische Physik: Was ist das? Die Physik ist der theoretische Teil des stoischen Bildungsprogramms. Sie vermittelt uns unter anderem Wissen darüber, was Selbstbeherrschung und Mut bedeuten und warum es sich um etwas Gutes handelt, wenn wir diese Tugenden ausbilden. Dieser Zusammenhang zwischen Physik und den beiden Tugenden klingt zunächst vielleicht merkwürdig. Wir müssen allerdings beachten, dass die stoische Physik wenig mit unserem neuzeitlichen Verständnis von Physik zu tun hat. Für die Stoiker ist die Physik mehr als nur Aufdeckung von kausalen 70

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3. Die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes

Verhältnissen und die Analyse von Naturphänomenen. Sie verstehen dieses Fachgebiet viel umfassender, nämlich als eines, in dem man sich unter anderem mit ›letzten Fragen‹ auseinandersetzt. Was ist die Natur und was treibt sie an? Folgt die Natur einem Zweck oder Plan? Was bedeutet das für den Menschen und seinen Platz im großen Ganzen? Die Verbindung zu den Tugenden ergibt sich dann so: Wenn wir wissen, wie die Welt funktioniert, was sie zusammenhält und was unser Platz in ihr ist, können wir besser mit möglichen Schicksalsschlägen umgehen. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn sich herausstellt, dass bestimmte Schicksalsschläge, die uns widerfahren, eigentlich etwas Unabänderliches sind, vielleicht sogar näher besehen etwas Gutes realisieren, müssen wir keine Angst mehr vor ihnen haben oder unter ihnen leiden. Wir können ihnen dann selbstbeherrscht und mutig gegenübertreten, weil wir eingesehen haben, dass sie eigentlich gar keine Übel sind. Mit diesem therapeutischen Verständnis vom Wert der Physik befanden sich die Stoiker in guter Gesellschaft. Bei Lukrez, einem Epikureer, heißt es etwa, die Furcht vor der Finsternis werde nicht durch Sonnenstrahlen, sondern durch systematisches Wissen über die Natur zerstreut (vgl. Lukrez, Über die Natur, 1.146–8). Der Wert, den die Stoiker der Physik zusprachen, zeigt sich auch im Textkorpus. Seneca, der ansonsten vor allem lebenspraktische Fragen bearbeitete, hat ein naturphilosophisches Werk in acht Bänden verfasst, die Naturwissenschaftlichen Untersuchungen (lat. naturales questiones). Darin verhandelt Seneca vor allem meteorologische und kosmologische Fragen. Darüber hinaus erläutert und diskutiert Cicero in Vom Wesen der Götter (lat. de natura deorum) einige stoische Überlegungen zur theologischen Frage, was der Endzweck der Natur ist und was daraus für den Menschen folgt. Als der aber wahrscheinlich wichtigste Architekt der stoischen Physik kann Poseidonius gelten. Im Bericht von Diogenes Laertius über die Physik wird sein Name, neben dem von Chrysipp, mit Abstand am häufigsten genannt (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.132–160). Es wird vermutet, dass ein großer Teil der Überlieferungen auf seine Lehre zurückgeht.

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Teil II: Die Tugenden im Fokus

Das Tugendverständnis: Selbstbeherrschung und Mut Die Stoiker verstanden unter den Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes vor allem die Fähigkeit, mit widrigen Umständen umzugehen. Allerdings bezogen sie beide auf unterschiedliche Umstände. Als Selbstbeherrschung (griech. sophrosynē) wurde vor allem die Fähigkeit verstanden, die eigenen Wünsche und Strebungen zu disziplinieren und in Schach zu halten. Wenn das nicht gelang, konnte man als undiszipliniert und unkontrolliert gelten (griech. akolasia). Der Mut (griech. andreia) hingegen stellt die Fähigkeit dar, angesichts von äußeren Widerfahrnissen standhaft und tapfer zu bleiben. Wenn das nicht gelang, war man nicht unbeherrscht, sondern feige (griech. deilia). Damit zur Frage, wie man gemäß der Stoiker selbstbeherrscht und mutig wird. Der Königsweg besteht für sie darin, die Widerfahrnisse der Realität zu akzeptieren und sich mit ihnen zu arrangieren. Seneca drückt es so aus: »[U]nd was auch immer geschieht – daß es geschehen mußte, soll sie [die Seele, meine Anmerkung, M.R.] einsehen und nicht die Natur beschuldigen wollen. Am besten ist es, hinzunehmen, was du nicht bessern kannst [...].« (Seneca, Briefe,  107.9)

Wenn wir an dieser Stelle Senecas Hinweis auf die Natur einmal weglassen (dazu unten mehr, S. 76), dann können wir ihn so verstehen: Wir sollten unseren Geist so ausrichten, dass wir Widerfahrnisse und Schicksalsschläge als etwas sehen, das so kommen musste, also jenseits unseres Einflusses liegt. Und warum sollten wir das akzeptieren und uns damit abfinden? Um das zu sehen, bietet sich ein Rückbezug auf die Lehre der präferierten Indifferenzen an (vgl. S. 41). Diese bestand darin, dass all diejenigen Dinge, die nicht in unsere Macht liegen, keinen Einfluss darauf haben, ob unser Leben gut oder schlecht verläuft. Wir würden natürlich präferieren, dass bestimmte Ereignisse nicht eintreten, aber letztendlich ist es für die eudaimonia, also das gute Leben, nicht entscheidend. Oder bezogen auf die Musterbeispiele aus der Einleitung: Sicherlich sind Zenon, Agrippinus und Thrasea nicht froh über ihre Lage. Sie hätten bestimmt präferiert, ihren Besitz zu behalten,

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nicht ins Exil zu müssen oder den Tod vermeiden zu können. Auf der anderen Seite: Sie konnten auch nichts mehr an ihrer Lage ändern. Sich gegen die Realität zu stellen, hieße nur, sich unnötig gegen etwas Unvermeidliches aufzulehnen. So schreibt etwa Seneca, der sich auf die Hymne an Zeus von Kleanthes bezieht: »Es führt einen das Schicksal, wenn man zustimmt, wenn man sich verweigert, schleppt es einen fort« (Seneca, Briefe, 107.11; vgl. zur Hymne auch S. 95). Nun sind Besitzverlust, Exil und Tod nicht die einzigen Widerfahrnisse, die laut den Stoikern zum Gegenstand der Akzeptanz gemacht werden müssen. Epiktet nennt weitere Elemente in seiner berühmten Kontrollfrage zu Beginn des Handbüchleins: »Von allen Dingen stehen die einen in unserer Macht, die anderen nicht. In unserer Macht stehen Annahme, Antrieb zum Handeln, Begehren, Meiden, und mit einem Wort alles, was unser Werk ist. Nicht in unserer Macht stehen Leib, Besitz, Ansehen, Stellung, kurz alles, was nicht unser Werk ist.« (Epiktet, Handbüchlein,  1)

Wir kennen den Gedankengang bereits: Das einzige, was wir wirklich in der eigenen Hand haben, ist die Ausbildung des eigenen Charakters, der aus unserem Denken (z. B. Urteilen), Fühlen (z. B. den Begierden und Abneigungen) und den Absichten (z. B. Bestrebungen) besteht. Alle anderen Dinge liegen nicht vollends in unserem Einflussbereich. Unser Körper wird auch bei guter Pflege älter und ist nur bedingt vor Krankheit zu schützen. Der soziale Status ist nicht vollständig kontrollierbar, weil die Fremdbeurteilung nicht in allen Aspekten – selbst bei gekonnten Manipulationsversuchen – von uns steuerbar ist. Und vor einer Rezession oder anderen wirtschaftlichen Ereignissen ist keine Branche sicher, sodass ein Jobverlust lediglich in gewissem Maße in der eigenen Hand liegt. Kurzum: Zu Besitzverlust, Exil und Tod gesellen sich noch Krankheit, soziale Missgunst und der Verlust der Arbeit und Ämter. All das gilt es den Stoikern zufolge zu akzeptieren, wenn man Selbstbeherrschung und Mut erlangen will. Es gibt für sie noch weitere Elemente, die vielleicht auf den ersten Blick nicht so offensichtlich sind. Einen solchen Gegenstand nennt

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etwa Cicero in seinem Gleichnis des Bogenschützens (vgl. Cicero, Das höchste Gut und das schlimmste Übel, III.22). Darin fordert er dazu auf, uns einen Bogenschützen vorzustellen, der versucht, sein Ziel zu treffen. Cicero erklärt uns, jener habe eine Reihe von Dingen unter seiner Kontrolle: Er kann entscheiden, wie viel er trainieren will. Er hat einen Pfeil und einen Bogen gewählt. Er visiert das Ziel an, so gut er kann, und er wählt den exakten Moment, wann er den Pfeil loslässt. Was aber liegt nicht in seiner Hand? Der Handlungserfolg, also der Umstand, dass der Pfeil auch tatsächlich das Ziel trifft. Es kann eine plötzliche Windböe aufkommen und den Pfeil ablenken, das Ziel kann beschädigt werden, oder ein Hindernis kann auftauchen und sich zwischen Ziel und Bogenschützen stellen. Das alles zeigt ihm zufolge, dass es zwar in unserer Hand liegt, einen Handlungsversuch und alle nötigen Vorbereitungen zu unternehmen, aber der Erfolg der Handlung nicht garantiert ist. Wir sollten es also akzeptieren, wenn es einmal nicht so läuft, wie wir es gerne hätten. Denn sobald wir – wie Ciceros Bogenschütze – alles unternommen haben, um zum Handlungserfolg beizutragen, dann ist uns nichts vorzuwerfen, wenn wir einmal doch nicht unser Ziel erreichen. Oder in Senecas Worten: »Auf die Absicht aller Dinge, nicht auf den Erfolg blickt der Weise. Die Anfänge stehen in unserer Macht: Über den Ausgang urteilt das Schicksal, dem ich über meine Person keine Stimme einräume.« (Seneca, Briefe, 14.16)

Damit sind wir bei einem weiteren Gesichtspunkt. Denn was ist, wenn wir nicht alles getan haben? Wenn wir nachlässig in unseren Vorbereitungen waren und, wie man manchmal sagt, nicht alles gegeben haben? Die stoische Antwort lautet: Ja, dann ist das eben so. Auch das gilt es zu akzeptieren. Das klingt kurios und wie ein Freifahrtschein ins Land des Müßiggangs. Das ist es aber näher besehen keineswegs. Die Idee hinter der Akzeptanz der mangelnden Vorbereitung besteht darin, dass wir die Vergangenheit nicht ändern können und sie daher nicht in unserer Kontrolle liegt. Natürlich können wir einen Blick in den Rückspiegel nutzen, um etwas zu lernen. Zum Beispiel, dass man beim nächsten Mal besser trainieren sollte. Es ergibt jedoch für die Stoiker

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keinen Sinn, sich selbst pausenlos für die eigenen Fehler zu verurteilen. Was vergangen ist, ist vergangen und kann nicht mehr geändert werden. Es ist daher zu akzeptieren. Das gilt für die eigenen Fehler genauso wie für den Verlust aller anderen präferierten Indifferenzen. So weit, so gut. Konzentrieren wir uns wieder auf unsere Liste von Indifferenzen. Dort finden sich mittlerweile die folgenden Dinge: 1. Besitzverlust 2. Exil 3. Tod 4. Krankheit 5. soziale Missgunst 6. Verlust der Arbeit und Ämter 7. Misserfolg in der Zielerreichung 8. vergangene Handlungen, Ereignisse und Widerfahrnisse

Das ist bereits eine stattliche Ansammlung von Dingen. Bei allen gilt der stoische Imperativ: »Akzeptiere sie, da sie nicht vollständig in deiner Hand liegen!« Wird dieser beherzigt, sind wir ein gutes Stück näher am Ziel, selbstbeherrschte und mutige Menschen zu werden. Tatsächlich scheinen die Stoiker in manchen Textstellen sogar noch mehr zu fordern. Sie verlangen nicht nur Akzeptanz, sondern auch heitere Zustimmung. Ein Beispiel sind etwa die Ausführungen von Marc Aurel, der wie vielleicht kein anderer Stoiker betont, man müsse sein Schicksal gutheißen, ja, sogar lieben.6 Eine literarisch prägnante Stelle, in der das deutlich wird, ist die folgende: »Alles passt mir, was dir gut passt, mein Kosmos. Nichts ist mir zu früh oder zu spät, was für dich zum richtigen Zeitpunkt geschieht. Für mich ist alles eine gute Ernte, was deine Jahreszeiten bringen, gütige Natur. Von dir kommt alles, in dir ist alles, zu dir geht alles.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IV.23)

Es gibt aber auch weniger beschwörende Einlassungen bei den Stoikern, die die Liebe zum eigenen Schicksal zum Gegenstand machen. So äußert sich Epiktet dazu recht lakonisch mit einer Aufforderung:

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»Verlange nicht, dass das, was geschieht, so geschieht, wie du es willst, sondern wünsche vielmehr, dass es so geschieht, wie es geschieht und du wirst ein gelingendes Leben haben.« (Epiktet, Handbüchlein, 8)

Das ist sicherlich für die meisten von uns keine Selbstverständlichkeit. Wollen wir jemandem, der seinen Arbeitsplatz verloren hat, wirklich sagen, dass daran auch etwas Gutes zu sehen ist? Und was, wenn der Verlust eines geliebten Menschen erlitten wurde? Was ist bei einer terminalen Diagnose, wenn jemand um sein eigenes Leben fürchtet? In diesen Fällen wollen wir sicher nicht hören: »Liebe dein Schicksal!« oder »Akzeptiere die Dinge, die du nicht ändern kannst!«. Es erscheint wenig sensibel und vielleicht je nach der Situation und Äußerungsweise geradezu zynisch, die Ereignisse in dieser Weise zu interpretieren. Nun waren auch die Stoiker nicht so ignorant, dass sie ihren ›Anschlag‹ auf den Common Sense nicht wahrgenommen hätten (vgl. zur stoischen Kritik an der alltäglichen Meinung auch S. 38). Sie zogen daraus ihre eigene Konsequenz, nämlich die stoische Akzeptanz philosophisch tiefergehend zu begründen und dadurch verständlich zu machen, wie sie auf ihre Ansichten kamen. Den Kern bildet hierbei ihre Auffassung darüber, was die Natur im Innersten zusammenhält und wie sich davon ausgehend der Platz des Menschen in diesem Gefüge ergibt. Diesem herausfordernden Teil der stoischen Physik werden wir im Folgenden genauer auf den Grund gehen.

Die Bausteine des Kosmos und das gute Schicksal Um die Kernfrage aus dem letzten Abschnitt nochmals prägnant zu wiederholen: Warum sollten wir widrige Umstände, die wir nicht vollständig in der Hand haben, akzeptieren, ja vielleicht sogar begrüßen? Um bereits eine Kurzzusammenfassung der stoischen Ansicht zu geben: Weil es sich bei diesen Dingen nicht um Schicksalsschläge handelt, sondern um Bestandteile einer perfekt eingerichteten Wirklichkeit, in der alle Dinge aufeinander abgestimmt sind. Es kann daher nicht anders passieren, als es eben geschehen ist, und es ist mit Blick auf den Endzweck der Wirklichkeit auch gut so, dass es genau so passiert und nicht anders. 76

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»Ach so«, möchte man ironisch und achselzuckend entgegnen. Diese Thesen sind natürlich erklärungsbedürftig. Und die Stoiker versuchen sich ebenfalls daran, indem sie darlegen, was sie unter ›Wirklichkeit‹ verstehen und wie darin Veränderungsprozesse stattfinden. Beginnen wir mit dem grundlegenden Verständnis. Was meinen die Stoiker, wenn sie von Wirklichkeit sprechen? Das ist noch vergleichsweise einfach zu beantworten. Sie ist alles, was wir Realität nennen, also schlicht alles, was existiert. Sie verwenden in der Regel auch den Terminus »Natur«, der für sie gleichbedeutend ist mit dem der Wirklichkeit (vgl. Seneca, Briefe, 65.2; Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.88). Und woraus besteht sie? Jetzt wird es etwas komplizierter. Erst einmal muss man sich klarmachen, dass die Stoiker davon ausgehen, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, nämlich diejenige, die uns durch die Vernunft und unsere Sinne zugänglich ist. Das klingt für die modernen Ohren trivial, ist aber keineswegs selbstverständlich. Die Stoiker wenden sich nämlich damit explizit gegen Platon und die Annahme, dass es hinter der für uns rational zugänglichen Wirklichkeit noch eine weitere gibt. Platon hat in dieser zweiten Wirklichkeit bekanntlich seinen ›Ideenhimmel‹ verortet und in ihm die wirkliche Realität gesehen. Darin sind ihm in der Geschichte nicht wenige gefolgt, denn die Grundidee findet ihren Niederschlag heute etwa in einigen monotheistischen Religionen und ihren Vorstellungen vom Jenseits. Wenn Stoiker sich daher für die These von der einen Wirklichkeit aussprechen, dann wenden sie sich damit nicht gegen irgendwen. Sie wenden sich gegen eine Zwei-Welten-Lehre, die in unserer abendländischen Geschichte sehr wirkmächtig war und immer noch ist. Damit zurück zur Frage nach den Bestandteilen der einen und einzigen Wirklichkeit: Die Stoiker meinen, die zentralen Bausteine würden durch zwei Arten von Substanzen oder Leitprinzipien (griech. archai) gebildet (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.134). Diese stellen sie sich so vor, dass sie tatsächlich in Raum und Zeit existieren und eine gewisse Ausdehnung besitzen. Für sie sind die Grundbausteine der Wirklichkeit also, wie einige Quellen berichten, ausnahmslos materielle Körper (vgl. Nemesios, Über die Natur des

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Menschen, 78.7–79.2, auch in: LS 45C; Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.135). Das ist die Gemeinsamkeit. Der Unterschied besteht darin, dass die eine Substanz selbst agiert (griech. to poioun) und auf die andere Substanz einwirkt, die sich passiv formen lässt (griech. to paschon). Die aktive Substanz nennen sie pneuma und die passive physis. Warum aber nehmen sie zwei Substanzen an? Darüber kann man nur spekulieren. Ein Grund könnte darin liegen, dadurch erklären zu wollen, wie es eigentlich sein kann, dass verschiedene Dinge in der Wirklichkeit existieren. Es gibt ja nicht nur Menschen, sondern auch Vögel, Pflanzen, Steine und vieles mehr. Und das provoziert die Frage, worin sich die verschiedenen Dinge eigentlich unterscheiden – denn dass Menschen sich von Steinen in irgendeiner Hinsicht unterscheiden, ist nachvollziehbar. Die zentrale Frage ist nun, worin genau dieser Unterschied besteht. Weil die Stoiker zwei Substanzen annehmen, können sie sagen: »Ja, die Dinge sind unterschiedlich, weil sie unterschiedliche Mischungen der beiden Grundsubstanzen enthalten.« Genauer gesagt, stellen sich die Stoiker die Mischung so vor, dass es sich um eine vollständige Durchdringung beider Substanzen handelt – und zwar im wirklichen Wortsinn (vgl. Alexander von Aphrodisias, Über die Mischung, 216,14–218,6, auch in: LS 48C, und in: SVF 2.473). Es ist nicht nur so, dass die beiden Substanzen in einer Entität irgendwie nebeneinander existieren oder nahe beieinander liegen. Vielmehr stellen sich die Stoiker die Substanzen als Kontinua mit offenen Grenzen vor. Das pneuma und die physis können also durchaus dieselbe Raum-Zeit-Position besetzen. Sie sind eins geworden, weil sie einander durchdringen. Damit weichen sie von der gängigen atomistischen Lehrmeinung ab, etwa von Epikur, der davon ausgeht, dass die Grundbausteine nicht teilbare Atome waren, die sich qua ihres Status als atomare Einheiten nicht durchdringen, sondern nebeneinander existieren und damit ihre Eigenständigkeit bewahren. Die Stoiker wenden sich also auch hier gegen die vorherrschende Orthodoxie. Damit haben wir schon den kompliziertesten Teil der stoischen Theorie hinter uns gelassen. Jetzt müssen wir nur noch verstehen, wie sich die Stoiker in einer dermaßen gebauten Wirklichkeit Ver-

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änderungsprozesse vorstellen. Ihre Theorie besagt, dass alles Geschehen als eine Abfolge von Ursache und Wirkung zu deuten sei. Ein Ding stößt ein anderes an. Und wenn das häufiger passiert, kommt es zu Veränderungen. Dinge entstehen und vergehen. Menschen werden geboren und sterben, Königreiche werden errichtet und erobert usw. Hinzu kommt noch: Die Stoiker meinten nicht nur, dass die Geschehnisse kausal zusammenhängen, sondern auch, dass es sich hierbei um einen vorherbestimmten – oder wie die Philosophen manchmal sagen: determinierten – Prozess handelt. Jedes gegenwärtige und zukünftige Ereignis hat seine Ursache in einem vorausgehenden (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.149; Aëtius, 1.28.4, auch in: LS 55J, und in: SVF 2.917). Es gibt keine Kausallücken, also etwas, das nicht hinreichend von einem vorigen Ereignis bestimmt wird. Das hat weitreichende Konsequenzen, denn es bedeutet, dass wir prinzipiell alles Geschehen auf eine erste Ursache zurückführen können. Irgendwo muss ja der Anfang der Kausalkette sein, der alles in Gang gesetzt und die gesamte Entwicklung verursacht hat. Eine solche Position nennt man im philosophischen Diskurs ›kausaler Determinismus‹. Er wird auch heute noch häufig vertreten, wenngleich die Befürworter einräumen, dass es einige nicht zu unterschätzende Herausforderungen für diese Position gibt. Es stellt sich etwa die Frage, wie sich die Ansicht von der kausalen Determination mit unseren gängigen Intuitionen über menschliche Freiheit und Verantwortung vereinbaren lässt. Wie lässt sich davon noch reden, wenn seit Anbeginn der Zeit (also seit der ersten Kausalursache) unverrückbar feststeht, was jemand morgen tun wird? Nehmen wir das erst einmal lediglich zur Kenntnis und kommen zurück zu den Stoikern und der Frage nach der tieferen Begründung der stoischen Akzeptanz (vgl. die Erläuterungen zur Freiheitsthematik auf S. 88). Mit den obigen Vorüberlegungen im Hinterkopf können wir nämlich erkennen, was aus Sicht der Stoiker dafür spricht. Sie argumentieren: Wir müssen die von uns nicht kontrollierbaren Geschehnisse akzeptieren, weil sie ohnehin von Anfang an feststehen und wir daran nichts mehr ändern können. Es ist mithin einfach ein unentrinnbares Schicksal, dass bestimmte Dinge passieren, oder, wie die Stoiker

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es auch nannten, es ist Teil des fatum (vgl. Aëtius, 1.28.4, auch in: LS 55J; Cicero, Über das Schicksal, XVII.39–XIX.43). Aber hatten Marc Aurel und Epiktet nicht oben davon gesprochen, dass wir das Schicksal nicht nur akzeptieren, sondern auch willkommen heißen sollten? Diese positive Umwertung des Schicksals begründen die Stoiker durch einen weiteren Gedanken. Er lautet, dass das fatum nicht einfach willkürlich eine Abfolge von Ereignissen festlegt, sondern auf einen positiven Endzweck zusteuert. Die Wirklichkeit ist kein Uhrwerk, in dem jedes Rädchen in ein anderes greift. Sie ist vielmehr, so betonten die Stoiker, ein perfekt durchkomponiertes Kunstwerk, in dem alles stimmig zusammenpasst und auf einen Endzweck hin entworfen wurde (vgl. Cicero, Vom Wesen der Götter, II.81–87). Das mag uns aus einer persönlichen Perspektive nicht immer sofort einsichtig sein, aber aus der globalen Perspektive gibt es daran für sie keinen Zweifel. Marc Aurel beschreibt es so: »Begrüße alles, was geschieht, auch wenn es sich als ziemlich unangenehm erweist, weil es dorthin führt: zur Gesundheit des Kosmos und zum Glück und zum guten Wirken des Zeus. Denn alles, was geschieht, würde niemandem etwas bringen, wenn es nicht dem Ganzen etwas brächte.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, V.8)

Das Schicksal ist also für die Stoiker keine launische Diva, die mal hierhin und mal dorthin steuert. Alles was geschieht, auch die Schicksalsschläge, sind vorherbestimmt und gut, weil sie auf einen guten Endzweck zusteuern. Das klingt zunächst ein wenig so, als meinen die Stoiker, dass wir in einer unbarmherzigen Wirklichkeit leben, die keine Rücksicht auf Einzelschicksale nimmt – einer Wirklichkeit, in der nur das Endergebnis zählt und den Individuen die einzige Aufgabe zukommt, selbstbeherrscht und mutig alles willkommen zu heißen, was diesem Gesamtzweck dient. Wir werden krank? Das wird schon richtig sein. Wir verlieren unseren Beruf? Das wird durchaus seinen Zweck haben. Ein geliebter Mensch stirbt? Ja, für den Gesamtzweck müssen wir das in Kauf nehmen.

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Um an dieser Stelle etwas zu beruhigen: Das ist natürlich nicht die Ansicht der Stoiker. Sie halten das Schicksal nicht für einen skrupellosen Gangster, der für seine Endziele über Leichen geht. Vielmehr meinen die Stoiker, dass das Schicksal auf seinem unabänderlichen Weg zum Endziel ebenfalls die Güte der Zwischenstationen im Blick hat. Etwas salopp ausgedrückt: Es geht nicht nur darum, ans Ziel zu kommen, sondern auch darum, dass der Weg dorthin in optimaler Weise verläuft. ›Optimal verlaufen‹ bedeutet für den Menschen, dass das Schicksal ihm immer auch die Möglichkeit gibt, ein gutes, also tugendhaftes Leben zu führen. Aus diesem Gedanken heraus lässt sich verstehen, warum die Stoiker die vermeintlich negativen Geschehnisse nicht als Strafe des Schicksals ansehen, sondern als einen Charaktertest. »Unglück ist Gelegenheit zu männlichem Verhalten«, wie Seneca meint, wobei von ihm mit »männlichem Verhalten« weniger patriarchale Stereotypen angesprochen werden als vor allem tugendhafte Handlungen (Seneca, Über die Vorsehung, IV.6). Das Schicksal wirft uns mit seinen Ereignissen gewissermaßen keinen Fehdehandschuh hin, sondern einen Rettungsring, der uns helfen soll, tugendhaft zu werden. Das können im Einzelfall natürlich hart zu ertragende Schicksalsschläge sein. Allerdings werden diese wiederum gemäß der Idee des optimierten Schicksals immer nur in der Weise auftreten, dass sie die betreffende Person nicht überfordern: »[F]olge der Natur. Sie wollte uns nicht vielfach belastet sehen: für alles, wozu sie uns zwang, hat sie uns ausgerüstet.« (Seneca, Briefe, 90.16) »Nichts passiert einem, was man nicht von Natur aus zu ertragen imstande ist.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, V.18)

Die Stoiker meinen, dass das Schicksal uns immer schon mit allem ausgestattet hat, was wir brauchen, um mit den Widerfahrnisse zurechtzukommen. Es ist nicht gleichgültig gegenüber dem, was Menschen geschieht. Auf dem langen Weg zum Endzweck trägt es uns immer nur diejenigen Lasten auf, die für uns auch zu schultern sind.

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Aber wäre es nicht schön, wenn wir das alles nicht bräuchten? Wenn wir in einer Welt lebten, in der es all die Schicksalsschläge und Verluste nicht gäbe? Wäre das nicht die optimale und bestmögliche Welt? Nein, für die Stoiker wäre sie es tatsächlich nicht. Und das liegt an ihrer Überzeugung, dass Schicksalsschläge keine optionale Zutat sind, sondern eine, die wir in jedem Fall brauchen, um ein tugendhaftes Leben zu führen. Denn: Ohne Herausforderungen fehlt uns die Möglichkeit, unseren Charakter zu stärken und zu formen. Seneca berichtet, dass er diese Weisheit von einem kynischen Philosophen namens Demetrius gelernt habe: »An dieser Stelle kommt mir unser Demetrius in den Sinn, der ein Leben, sorgenfrei und ohne irgendwelche des Schicksals Angriffe, ein totes Meer nennt. Nichts zu haben, zu dem du dich ermunterst, zu dem du dich anspornst, durch dessen Ankündigung und Ansturm du die Festigkeit deiner Seele versuchst, sondern in unerschütterlicher Muße zu liegen ist nicht Ruhe: Flaute ist es.« (Seneca, Briefe, 67.14)

Ein Leben ohne Herausforderungen und Rückschläge ist für die Stoiker kein Leben, das die Möglichkeit bietet, gut zu werden. Es ist in etwa so, als würden wir – so eine andere Analogie von Seneca – als einziger Teilnehmer bei den Olympischen Spielen antreten. Wir werden zwar den Siegerkranz bekommen, aber uns fehlt mangels anderer Teilnehmer die Herausforderung, um uns wirklich messen und daran anschließend auch wachsen zu können. Ein solcher Mensch ist für Seneca nur zu bedauern: »Für unglücklich erkläre ich dich, weil du niemals unglücklich gewesen bist. Du bist ohne Gegner durch das Leben gegangen« (Seneca, Über die Vorsehung, IV.3). Die Stoiker begrüßen also nicht nur Widerstände, sondern halten sie für notwendig, um überhaupt ein gutes Leben führen zu können. Um tugendhaft zu werden, brauchen wir etwas, an dem wir uns reiben können. Wenn es das nicht gibt, können wir nicht tugendhaft werden.

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Warum das alles? Seelenruhe oder ein Leben im Einklang mit der Natur An dieser Stelle möchte ich es niemandem verübeln, wenn ein mulmiges Gefühl aufkommt. Es ist nämlich denkbar herausfordernd anzunehmen, dass wir in einer optimal eingerichteten Wirklichkeit leben, in der uns widrige Umstände vor die Füße geworfen werden, damit wir uns in stoischer Akzeptanz üben können. Das gilt nicht nur wegen der damit zusammenhängenden Metaphysik. Vielmehr erscheint es auch als dogmatisch. Warum sollten wir dem ›Tugendangebot‹ der Realität eigentlich folgen? Im Supermarkt hören wir doch auch nicht auf jeden Werbeaufruf und jedes Angebot, welches auf uns einprasselt. Das tun wir nur, wenn wir der Überzeugung sind, dass es ein attraktives Angebot ist. Wir könnten uns also mit guten Gründen fragen, was eigentlich dafür spricht, uns in stoischer Akzeptanz zu üben und dadurch zu einem selbstbeherrschten und mutigen Menschen zu werden. Diese Frage nach dem Warum führt uns ins Zentrum der stoischen Physik. Sie ist gleichbedeutend mit der Frage, warum wir eigentlich tugendhaft sein sollten, also uns dafür interessieren sollten, unseren Charakter gemäß der stoischen Lehre auszubilden. Beginnen wir mit einem naheliegenden Kandidaten: der eigenen Seelenruhe. Demnach würden die Stoiker meinen, wir sollten tugendhaft sein, weil wir dadurch einen besonderen mentalen Zustand erreichen, nämlich einen solchen, der sich durch innere Ruhe, Heiterkeit und Gelassenheit auszeichnet. Die Verbindung lässt sich so herstellen: Wenn wir uns nur um die eigenen Tugenden sorgen, kann uns eigentlich nichts und niemand daran hindern, an ihrer Ausbildung zu arbeiten. Entsprechend geht mit der Arbeit an der eigenen Tugendhaftigkeit eine geistige Ruhe und Gelassenheit einher. Es liegt, wie die Stoiker sagen, alles in unserer eigenen Hand. Oder andersherum: Rastlosigkeit und Unruhe entstehen nur in dem Moment, in dem wir unser Herz an Dinge hängen, die – anders als die Tugend – sich unserer vollständigen Kontrolle entziehen. Diese letzte Konsequenz erläutert etwa Seneca: »Zum Höchsten ist gelangt, wer weiß, worüber er sich freut, wer sein Glück nicht unter fremde Macht gesetzt hat; beunruhigt ist und seiner unsicher, wen irgend-

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eine Hoffnung reizt, mag sie zur Hand sein, mag sie nicht unter Schwierigkeit zu erfüllen sein, mag niemals ihn eine Hoffnung enttäuscht haben.« (Seneca, Briefe, 23.2)

Natürlich muss man zugeben, dass die Seelenruhe ein attraktives Versprechen darstellt. Wer will nicht geistige Ruhe erfahren, insbesondere in Zeiten, in denen man mit Schicksalsschlägen und herausfordernden Situationen konfrontiert ist? Wenn wir allerdings die stoische Lehre bis zum Ende durchdenken, glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass die Seelenruhe die letzte Begründung darstellt, warum wir tugendhaft sein sollten. Dafür lassen sich zwei Gründe angeben: Zum einen rechnen die Stoiker positive emotionale Zustände – und dazu gehört auch die Seelenruhe – zu den präferierten Indifferenzen (vgl. S. 38). Es ist zu präferieren, wenn sich geistige Ruhe einstellt, aber wenn es nicht geschieht, ist das kein Beinbruch für das gute Leben. Entsprechend kann man, so meine ich, die Seelenruhe bei den Stoikern eher als einen wünschenswerten Nebeneffekt des tugendhaften Lebens deuten, jedoch nicht als finalen Grund, warum wir die Tugendhaftigkeit anstreben sollten. Zum anderen kann man vielleicht auch argumentieren, dass die Stoiker die Seelenruhe vor allem deshalb thematisierten, weil von ihr eine gewisse Werbewirksamkeit ausging. Erinnern wir uns: Es gab in der Antike mehr als nur eine philosophische Schule. Wenn man also neue Mitglieder rekrutieren wollte, muss man sich im Konkurrenzkampf durchsetzen und etwas präsentieren, das die eigene Schule besonders attraktiv machte. Für diesen Zweck scheint der Hinweis auf die Seelenruhe gut geeignet. Man konnte dann sagen: »Seht doch! Es passieren schlimme Dinge in der Welt, die euch emotional aus der Bahn werfen. Wenn ihr jedoch zu uns kommt, können wir euch helfen und zur inneren Gelassenheit anleiten!« Das war sicherlich eine Botschaft, die damals wie heute viele sehr attraktiv fanden bzw. finden. Wenn aber die Seelenruhe nicht der wirkliche Grund dafür ist, dass wir uns um unsere Tugend kümmern sollen – was ist es dann? Auf den Punkt gebracht lautet die Antwort: Die Tugend ist etwas Gutes, weil sie ein Leben im Einklang mit der Natur ermöglicht oder – wie die Stoiker

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es nennen – das secundam naturam vivere. Wie allerdings alle kurzen Antworten ist auch diese noch wenig aussagekräftig. Ich versuche daher, etwas genauer zu werden. Als Ausgangspunkt kann eine Textstelle bei Diogenes Laertius dienen, in der er die Lehrmeinung von Chrysipp wiedergibt. Es lohnt sich, diese ausführlich zu zitieren und schrittweise zu interpretieren. Zunächst wird in der Textstelle die allgemeine Begründung bestätigt: »Ferner ist das Leben gemäß der Tugend dasselbe wie das Leben in Übereinstimmung mit unserer Erfahrung dessen, was von Natur aus geschieht [...].« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.88)

Wenn wir unseren Charakter tugendhaft ausbilden, dann leben wir im Einklang mit der Natur. Aber warum eigentlich? Darauf wird im Anschluss eingegangen: »Unsere Naturen sind nämlich Teile des Ganzen. Aus diesem Grund besteht das Ziel darin, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben, d. h. in Übereinstimmung mit der eigenen Natur und der des Universums [...].« (ebd.)

Die Grundidee lautet also, dass wir ein Leben im Einklang mit der Natur führen sollen, weil wir alle ein Teil ebendieser Natur sind. Wir sind aus ihr hervorgegangen und werden in sie zurückkehren. Und das bedeutet auch, dass sie uns mit einer spezifischen eigenen Natur ausgestattet hat, einer menschlichen Natur, der wir gerecht werden müssen. Wenn wir das tun, leben wir im Einklang mit dem großen Ganzen. Wir folgen, wie Seneca es nennt, dem lex naturae, dem Gesetz der Natur, sodass wir uns ins große Ganze einfügen: Toti se inserens mundo, wie er sagt (Seneca, Briefe, 66.6). Worin aber besteht die eigene Natur des Menschen? Worin besteht, wie die Stoiker es formulieren, sein ergon – also sein eigentümliches Merkmal? Um das zu verstehen, müssen wir uns noch einmal an die beiden Grundprinzipien erinnern. Den Stoikern zufolge bestehen alle Dinge in der Wirklichkeit aus einer Mischung von passiven und aktiven Elementen – dem physischen Substrat, der physis, und dem darauf

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einwirkenden aktiven Element, dem pneuma. Nun kann es zu verschiedenen Mischungsverhältnissen kommen, was begründet, warum es verschiedene Gegenstände, Dinge und Lebewesen in der Welt gibt. Darüber hinaus stellen sich die Stoiker das Mischverhältnis als eine Stufenfolge vor. Je nachdem, wie hoch die Konzentration des pneuma ausfällt, ist ein Ding auf einer niedrigeren oder höheren Stufe anzusiedeln. Diogenes Laertius und einige andere Quellen berichten, die Stoiker stellten sich das in etwa so vor (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.157; Hierokles, 1,5–33, 4.38–53, auch in: LS 53B; Aëtius, 4.21.1–4, auch in: LS 53H, und in: SVF 2.836): Auf einer unteren Stufe gibt es nur einen geringen Komplexitätsgrad des pneuma, was bedingt, dass sich hier ausschließlich unbelebte Gegenstände finden, zum Beispiel Steine. Diese Gegenstände besitzen lediglich dank des pneuma eine gewisse Kohäsion (griech. hexis). Auf den höheren Stufen steigt der Komplexitätsgrad, und es entstehen belebte Dinge wie Pflanzen, die sich insbesondere durch Wachstum auszeichnen. Wenn die Konzentration weiter ansteigt, entstehen auch höhere Lebensformen wie Tiere, die Wahrnehmungen und Impulse besitzen (griech. psychē). Auf der höchsten Stufe sind die Menschen anzusiedeln, die dank des pneuma die Fähigkeit zur Vernunft haben (griech. logikē psychē). Die Pointe ist also: Das eigentümliche Merkmal des Menschen, sein ergon, besteht darin, dass er eine Vernunft besitzt und durch sie erkennen kann, was richtig und gut für ihn ist. Und dieser Umstand ist nicht bloß eine neutrale Beschreibung, sondern hat für die Stoiker einen auffordernden Charakter. Das erklärt uns Epiktet: »Denn was ist der Mensch? – ›Ein vernünftiges, sterbliches Lebewesen.‹ – Von welchen Lebewesen unterscheidet uns die Vernunft? – ›Von den wilden Tieren.‹ – Von welchen noch? – ›Auch von Schafen und anderen zahmen Tieren.‹ – So schau, dass du nie handelst wie ein wildes Tier, sonst hast du den Menschen in dir verloren und deine Bestimmung nicht erfüllt.« (Epiktet, Unterredungen, II.9)

Der menschlichen Natur gerecht zu werden, heißt gemäß den Stoikern also, dass wir unsere Vernunft gebrauchen. Wenn wir das nicht tun,

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zerstören wir dasjenige, was uns als Menschen ausmacht. Wir sinken auf die Stufe der Tiere zurück. Eine solche normative Hierarchisierung von Menschen und Tieren ist eine ziemlich verbreitete Ansicht in der Antike. Aristoteles ist der gleichen Ansicht, wenngleich die Stoiker sich in einem nicht zu vernachlässigenden Punkt von ihm unterscheiden. Der Streitpunkt betrifft die Auffassung darüber, wie der Begriff ›Vernunft‹ genau zu verstehen ist. Aristoteles verbindet mit der Vernunft unter anderem die Fähigkeit zur theoretischen Reflexion, zum Beispiel darüber, was die Wirklichkeit im Innersten zusammenhält. Daraus ergibt sich für ihn, dass die wahrscheinlich beste Lebensform des Menschen das kontemplative wissenschaftliche Leben, das bios theoretikos, ist (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, EN X 8, 1178a8–1178b32). Die Stoiker haben hingegen eine pragmatischere Auffassung: Für sie besteht das Hauptmerkmal der Vernunft nicht in der Reflexion über letzte Dinge, sondern darin, wie wir unser Leben zu führen haben. ›Typisch menschlich‹ bedeutet für sie zu überlegen, was gut und schlecht ist und wie wir in einer bestimmten Situation handeln sollen. Das impliziert nicht, dass die Stoiker keine Sympathie für ausgiebige metaphysische Theorienbildung haben. Es ist nur vielmehr so, dass diese für sie keinen Selbstzweck darstellt, sondern vor allem der praktischen Orientierung dient. Mit anderen Worten: Die Stoiker wollen nicht deshalb wissen, woraus die Welt besteht, weil sie dadurch ihre theoretische Neugier befriedigen können, sondern weil sie denken, mithilfe dieses Wissens etwas darüber zu erfahren, wie sie in der Welt handeln sollen. Die menschliche Vernunft ist bei ihnen vor allem eine praktische Vernunft. Darüber hinaus hatten die Stoiker auch eine sehr klare Vorstellung davon, was die praktische Vernunft ausmacht. Jemand, der gemäß den Stoikern vernünftig ist, orientiert sich – man kann es sich schon denken – an den Tugenden. Darauf kommen die Stoiker wiederum durch einen Blick in die Natur, genauer gesagt, auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen. Diese legen sie in der sogenannten oikeiōsis-Lehre dar, die ich im Kapitel zur stoischen Ethik noch genauer erläutern werde (vgl. S. 123). An dieser Stelle sei aber schon einmal die Schlussfolgerung verraten: Den Stoikern zufolge zeigt ein Blick auf die menschliche

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Ontogenese, dass der Mensch von Natur aus zur Tugend neigt. Die Stoiker sind sozusagen anthropologische Optimisten. Der Mensch ist für sie kein gieriges und rachsüchtiges Wesen, welches nur seinen eigenen Vorteil im Sinn hat. Er ist vielmehr so angelegt, dass er von Natur aus gut ist. Er hat die Tendenz, sofern er nicht durch gesellschaftliche Einflüsse ruiniert wurde, ein selbstbeherrschtes, mutiges, gerechtes und weises Wesen zu sein. Im Kern kann man die Argumentationskette der Stoiker also in etwa so zusammenfassen: Die tiefe Antwort darauf, warum wir selbstbeherrscht und mutig die Schicksalsschläge in unserem Leben akzeptieren und willkommen heißen sollen, besteht nicht darin, dass wir dadurch Seelenruhe und Gelassenheit erlangen, sondern dass wir dadurch in kosmischer Harmonie mit einer perfekt eingerichteten Natur leben. Wir sind Teil dieser Natur, indem wir die menschliche Natur realisieren. Das heißt, wir versuchen ein tugendhaftes Leben zu führen. Wenn das gelingt, haben wir unseren Platz in der Realität eingenommen. Wir leben im Einklang mit der Natur, weil wir dasjenige realisiert haben, wofür wir in diese Welt gebracht wurden.

Was können wir von der Physik übernehmen? Viele der stoischen Theorienelemente in der Physik sind sicherlich genauso vertraut wie zweifelhaft. Sie wirken vertraut, weil viele von ihnen über die Jahrhunderte Eingang in unser alltägliches Denken gefunden haben. Zum Beispiel die Idee, dass wir Menschen eine bestimmte Natur haben, die uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Andererseits scheinen manche Ideen aus der Zeit gefallen zu sein und nicht mehr dem derzeitigen Stand der Forschung oder auch dem Denken der Allgemeinheit zu entsprechen. Wollen wir tatsächlich davon ausgehen, die Wirklichkeit folge einem guten Plan und Zweck? Ist es tatsächlich plausibel anzunehmen, dass diese Ordnung vorherbestimmt und unumstößlich ist? Kann die Natur überhaupt eine Leitschnur für unser Handeln sein? Können wir angesichts der beiden Weltkriege und drohender Umweltkatastrophen ernsthaft davon ausgehen, dass der Mensch einen guten Kern hat? Und diese Nachfragen sind nur der Anfang. 88

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Ich kann an dieser Stelle nicht auf alle Bedenken eingehen, da dies ein eigenes Buch erfordern würde. Stattdessen möchte ich lieber daran erinnern, worin das Kernanliegen dieses Buches besteht, nämlich, die stoische Philosophie als Lebenskunst zu verstehen. Die Frage ist daher, ob sich bei einer Modifikation der stoischen Physik grundlegend etwas daran ändern würde, wie wir als Stoiker leben sollten. Ich habe diesbezüglich meine Zweifel und möchte das anhand von drei Beispielen erläutern: Nummer eins: Die stoische Vernunft, die alle Dinge leitet und ordnet. Was wäre eigentlich, wenn es keinen Endzweck der Wirklichkeit gibt? Wenn einfach kein Plan oder Zweck für das große Ganze vorhanden ist? Es scheint mir jedenfalls nicht ausgemacht, dass sich dann mit Blick auf die stoische Lebenskunst tiefgreifende und bedauernswerte Veränderungen ergäben. Tatsächlich haben das auch die Stoiker so gesehen. So lesen wir etwa bei Marc Aurel: »Entweder gibt es die Unausweichlichkeit der Schicksalsfügung und eine unverletzliche Ordnung oder eine gnädige Vorsehung oder die Unordnung des unbestimmten Zufalls. Wenn nur der unausweichliche Zwang herrscht – warum leistest du dann Widerstand? Wenn aber eine Vorsehung, die sich gnädig bestimmen lässt, dann verhalte dich so, dass du die göttliche Hilfe verdienst. Wenn aber die regellose Unordnung herrscht, dann sei froh, dass du in einem solchen Durcheinander einen lenkenden Geist in dir hast.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, XII.14)

Stellen wir uns das für einen Moment vor: Die Wirklichkeit folgt keinem Zweck, und wir leben auch nicht in der besten aller möglichen Welten. Hinter unserer eigenen Existenz und ebenso der von allem anderen steht kein perfekter Masterplan. Vielmehr ist alles, was existiert, auf blinde Kausalkräfte zurückzuführen. Ändert das etwas an der stoischen Lebensführung, insbesondere mit Blick auf die stoische Akzeptanz? Gleich bleibt in jedem Fall die zentrale Handlungsanweisung, dass es irrational ist, unser Herz an Dinge zu hängen, die wir nicht selbst in der Hand haben. Was sich ändert, sind lediglich zwei Dinge: Zum einen die finale Begründung der Handlungsanweisung. Die

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Pointe, warum wir uns in stoischer Akzeptanz üben sollten, lautet dann nicht, dass wir uns dadurch mit einer perfekten organisierten Welt harmonisieren, sondern ›nur‹ mit einer zufällig entstandenen und planlos verlaufenden. Zum anderen würden wir unsere freudige Reaktion auf Schicksalsschläge etwas ›herunterdimmen‹ müssen. Wenn die Wirklichkeit tatsächlich nicht perfekt und planvoll agiert, stellt sich die naheliegende Frage, warum wir die uns zustoßenden Schicksalsschläge dann begrüßen sollten. Vor diesem Hintergrund scheint es eher plausibel, sie lediglich aus rationalen Gründen zu akzeptieren. In einer Wirklichkeit ohne Plan und Zweck können Schicksalsschläge einfach passieren. Ja, es mag sogar vor dem Hintergrund einer nicht planvoll agierenden Wirklichkeit zu erwarten sein. Nummer zwei: der kausale Determinismus, der eine These darüber beinhaltet, wie die Dinge in der Wirklichkeit miteinander verbunden sind. Die Stoiker meinen, dass die Welt aus einem weit verzweigten Netz von kausalen Verhältnissen besteht. Sie gehen sogar so weit zu behaupten, dass im Grunde genommen alles gegenwärtige und zukünftige Geschehen vollständig durch vorausgehende Ursachen determiniert wird. Was wäre aber, wenn das nicht in allen Situationen der Fall ist? Was wäre, wenn es so etwas wie echte menschliche Freiheit gäbe? Eine solche Freiheit würde beinhalten, dass sich Menschen vorausgehenden Ursachen widersetzten und eigene Kausalketten beginnen könnten. Menschen wären Wesen, denen Willensfreiheit zugesprochen werden könnte. Sie könnten in ein und derselben Situation so oder anders handeln. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich möchte an dieser Stelle keine komplizierte Diskussion über das philosophische Fachthema der Willensfreiheit führen. Es geht vielmehr darum, ein Gedankenexperiment zu wagen und darüber nachzudenken, was mit der stoischen Lebenspraxis passieren würde, wenn der darin vertretene Determinismus in manchen Situationen, etwa mit Blick auf den Menschen, falsch wäre. Um das zu beurteilen, vergegenwärtigen wir uns nochmals die Zusammenhänge: Der kausale Determinismus bildete unter anderem den Hintergrund der Begründung, warum wir die Ereignisse in der Wirklichkeit akzeptieren sollten. Etwas vereinfacht wiedergegeben,

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raten uns die Stoiker: Es ist vernünftig, die Geschehnisse in der Wirklichkeit zu akzeptieren, weil sie kausal vorherbestimmt sind und sich daher von uns nicht ändern lassen. Nun stellen wir uns vor, dass Menschen freie Wesen sind – führt das dazu, gegenüber Menschen und ihrem Verhalten die stoische Akzeptanz aufgeben zu müssen? Ich denke tatsächlich nicht, dass das der Fall ist. Und das liegt vor allem daran, dass auch das Verhalten von Menschen mit einem freien Willen zwar prinzipiell nicht kausal vorherbestimmt ist, aber wir es dennoch nicht ändern können. Mit anderen Worten: Es unterscheidet sich mit Blick auf seine Nichtkontrollierbarkeit nicht von kausal determinierten Geschehnissen. Man kann also sagen: »Ich akzeptiere die Geschehnisse, entweder weil sie kausal determiniert sind oder weil sie aus einem freien Willen stammen – in beiden Fällen gilt: Sie liegen nicht vollständig in meiner Hand.« Ob der kausale Determinismus wahr oder falsch ist, scheint mit Blick auf die stoische Akzeptanz also keinen großen Unterschied zu machen. Nummer drei: Der Mensch neigt zum Guten. Die Stoiker haben eine Eigenschaft, die man bewundern kann. Sie sind mit Blick auf die menschliche Natur sehr optimistisch. Sie meinen (z. B. in der oikeiōsisLehre, siehe S. 123) gezeigt zu haben, dass Menschen zu einem tugendhaften Verhalten tendieren. Entsprechend sind die Tugenden auch kein Korrektiv, das wir ausbilden müssen, um dem Guten im Menschen zum Durchbruch zu verhelfen. Vielmehr sind sie das, was sich ohnehin ausbilden würde, wenn der Mensch nicht durch zivilisatorische Kräfte in eine andere Richtung gedrängt wird. Was aber, wenn die Korrektivthese zutrifft? Wenn der Mensch keine natürliche Tendenz zur Tugend, sondern vielleicht sogar zum Laster hat? Auch in diesem Fall glaube ich nicht, dass die stoische Lebenspraxis sonderlich darunter leiden würde. Es bedeutet lediglich, dass sich das tugendhafte Leben nicht mehr durch einen – aus meiner Sicht ohnehin philosophisch fragwürdigen – Blick auf die Naturgeschichte rechtfertigen ließe (vgl. meine Kritik auf S. 120). Die Stoiker können dann nicht mehr sagen: »Wir sollten tugendhaft sein, weil die Natur uns von vornherein in diese Richtung führt.« Wie aber dann? Die Alternativen sind in der philosophischen Theorie nahezu unbegrenzt.

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Wenn man sich wiederum nahe an stoischen Leitideen orientiert, könnte man auf die menschliche Natur abstellen und auf ihre besondere Konstitution oder typischen Eigenschaften hinweisen. Demnach mag es zwar sein, dass Menschen nicht zur Tugend neigen, aber wenn wir uns die menschliche Natur anschauen, gibt es bestimmte Fähigkeiten, die für den Menschen typisch sind, etwa seine Vernunftfähigkeit. Wenn wir nun genauer überlegen, welches Leben für uns das beste ist, könnte man zum Schluss kommen, dass es sich hierbei um das tugendhafte Leben der Stoiker handelt. Nun möchte ich nicht prognostizieren, ob dieser Weg am Ende erfolgreich ist und wie er genau ausgestaltet sein sollte. Ich möchte nur festhalten: Auf anthropologische Merkmale oder typische Fähigkeiten des Menschen abzustellen, ist eine Möglichkeit, systematisch recht nahe an der stoischen Theorie zu bleiben. Sie erlaubt es, weiterhin am Stoizismus festzuhalten, auch wenn man Skepsis hinsichtlich des guten natürlichen Charakters des Menschen hat und daher die Naturgeschichte nicht als Begründungsressource heranziehen möchte. Die stoische Physik lässt also, so meine ich, durchaus einen gewissen theoretischen Spielraum. Man kann hier und da einige Bausteine austauschen, ohne dass man viel verliert. Man muss nicht sklavisch an den Standarddoktrinen festhalten, um weiterhin als Stoiker leben zu können. Das kann man als eine Schwäche auslegen. Ich denke jedoch, dass es eine wirkliche Stärke darstellt, weil so sehr Viele unter dem Dach des Stoizismus Platz finden. Hier kann jemand einen Platz finden, der an eine durch die Vernunft geordnete Welt glaubt, aber auch jemand, der das nicht tut; jemand, der an eine kausal determinierte Wirklichkeit festhält, aber auch jemand, der das leugnet; jemand, der die Veranlagung des Menschen zum Guten betont, aber auch jemand, der das bezweifelt. Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass der theoretische Spielraum zwar groß ist, jedoch nicht unbegrenzt. Man kann nicht alle traditionellen Gedanken des Stoizismus über Bord werfen oder umdeuten und dann immer noch das Etikett ›Stoizismus‹ verwenden. Mindestens eine Sache, so scheint mir, wird man nämlich in der stoischen Philosophie in keinem Fall los. Und das ist die These, dass das

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Leben gemäß der Natur den Dreh- und Angelpunkt aller weiteren Theoriebemühungen ist. Es handelt sich hierbei um einen Kerngedanken, den man nicht einfach rausstreichen kann, ohne eine ganz andere Philosophie zu erhalten. Der letztgültige Grund, auf den es ankommt, ist, so meinen die Stoiker, der Versuch, der Natur und ihrer Ordnung gerecht zu werden. Man kann das vielleicht auch so verstehen: Die Stoiker schlagen uns in der Physik einen holistischen Perspektivwechsel vor. Sie empfehlen uns, weniger auf die eigenen Belange zu schauen, als vielmehr auf das große Ganze. Ich finde diesen nichtegoistischen Blick auf die Welt attraktiv. Es erzeugt eine gewisse Verbundenheit mit der Wirklichkeit und ihren Bestandteilen, die ansonsten selbst eher kritische Geister wie Bertrand Russell mit Bewunderung beschreiben: »Hat man sich zu dieser Warte emporgeschwungen, so wird man nie ein gewisses tiefes Glücksgefühl missen, wie auch das persönliche Schicksal verlaufen möge. Dann wird das Leben verschmelzen mit dem aller Großen, die je auf Erden weilten, und der eigene Tod nicht mehr sein als ein unwesentlicher Vorgang.« (Russell, Eroberung des Glücks, S. 195)

Andere mögen dieser Verbundenheit nichts abgewinnen können oder sie einfach nur weniger wertschätzen. Es hängt am Ende vielleicht eher vom eigenen Temperament und der Persönlichkeit als von philosophischen Gründen ab, welche philosophische Zugangsweise man wählt (vgl. dazu auch S. 231). Wenn man es jedenfalls mit den Stoikern hält, kommt man nicht umhin, sich selbst etwas zurückzunehmen und die letzten Begründungen des Handelns außerhalb des eigenen Egos zu suchen. Es geht dann weniger um die eigenen Bedürfnisse als eher darum, ein Teil von etwas Größerem zu sein, mit dem man sich verbinden und harmonisieren kann.

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3.2 Was wir üben müssen Die Übungen des Fühlens: Was ist das? Es gehört sicherlich zu den weniger erfreulichen Alltagsweisheiten, dass theoretische Reflexion und praktische Anwendung häufig auseinanderfallen. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Nehmen wir probeweise einmal an, wir stimmten vielen Aussagen der Stoiker zu. Wir gehen davon aus, dass wir viele Geschehnisse, die wir nicht ändern können, in einer gelassenen Art und Weise hinnehmen müssen. Vielleicht stimmen wir sogar zu, dass viele in einem positiven Licht zu sehen sind, nämlich als ein Charaktertest, der uns hilft, selbstbeherrschte und mutige Menschen zu werden. Was passiert aber, wenn uns tatsächlich ein Schicksalsschlag ereilt – zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes, eines Freundes oder der eigenen Gesundheit und Mobilität? In diesen und ähnlichen Fällen ist es für die meisten von uns gar nicht mehr so leicht, einen kühlen Kopf zu bewahren und stoisch mit der eigenen Situation umzugehen. Stattdessen ist es wahrscheinlich, dass wir die jeweilige Situation als Unglück auffassen und in der Folge Angst, Verzweiflung und vielleicht auch Ärger fühlen. Nicht selten gibt es einen Graben zwischen unseren theoretisch gewonnenen Ansichten und denjenigen, nach denen wir handeln, wenn wir in der jeweiligen Situation sind. Wie aber kommt es zu einem solchen Auseinanderfallen? Einen anschaulichen Vergleich, der das verdeutlicht, gibt uns Xenophon an die Hand: »Denn es ist meine Erkenntnis, dass ebenso wenig wie jemand, der seinen Körper nicht geübt hat, körperliche Leistungen zu vollbringen vermag, ein Mensch, der sich nicht zur Sittlichkeit erzogen, moralisch einwandfrei handeln wird, da er ja gar nicht imstande ist, etwas zu tun oder zu lassen, je nachdem wie es sich gebührt.« (Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, 2.19)

Xenophon meint also, das Problem liege vor allem im schlechten Übungszustand. Ähnlich wie beim physischen Training gilt ebenfalls für die Ausbildung der Tugend, dass wir Gelegenheiten zur Übung benötigen. Wer Muskeln haben möchte, muss seine Muskeln gebrauchen

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und sie trainieren. Wer selbstbeherrscht und mutig sein will, muss sich darin üben, diese Charaktereigenschaften in den jeweiligen Situationen auch zu zeigen. Wer nicht trainiert, wird weder Muskeln ausbilden, noch wird er seinen Charakter im stoischen Sinne verbessern können. Einen solchen ›Muskelschwund‹ im Bereich der Tugend wollen uns die Stoiker natürlich ersparen. Sie geben uns daher einen eigenständigen Übungsbereich an die Hand, der uns helfen soll, die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes von der Theorie in die Praxis zu holen. Ich habe diesen Bereich im Grundlagenteil als die Übungen des Fühlens benannt und dort kurz erläutert (vgl. S. 59). Die Übungen in diesem Bereich haben, wie der Name schon sagt, zum Ziel, das Fühlen des Handelnden zu kultivieren. Epiktet beschreibt ihn als denjenigen Übungsbereich, in dem es vor allem um das »Begehren und Vermeiden« geht, die so ausgebildet werden, dass »uns weder fehlschlägt, zu bekommen, was wir begehren, noch dass wir in das hineingeraten, was wir ablehnen« (Epiktet, Unterredungen, III.2). Wie das genau zu verstehen ist und welche Übungen uns die Stoiker für den Alltag vorschlagen, werde ich im Weiteren erläutern. Hierzu noch ein Hinweis: Einige der im Folgenden dargestellten Übungen wurden von den Stoikern nicht lediglich auf die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes bezogen, sondern sind ebenso mit Blick auf die Weisheit und Gerechtigkeit anwendbar (z. B. die dogmata). Zudem sind in manchen Übungen (z. B. der Blick von oben) gleich mehrere Tugenden involviert. Klassischerweise werden die Übungen jedoch in dem hier vorliegenden Kontext diskutiert, weshalb ich sie auch in diesem Kapitel darstelle und sie vor allem auf den Anwendungskontext der Selbstbeherrschung und des Mutes beziehe.

Die Kunst der Autosuggestion: die dogmata Zu den grundlegendsten Übungen der gesamten philosophischen Lebenskunst in der Antike gehört ohne Zweifel das Wiederholen, Memorieren und Einstudieren von philosophischen Kernaussagen, Sprichwörtern oder kurzen Sinnsprüchen – die dogmata. Bekannt sind etwa die griechischen Inschriften am Tempel des Orakels von Delphi, nämlich Gnōthi seauton (übers. »Erkenne dich selbst«) und mēden 95

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agan (übers. »Nichts im Überfluss«) oder die auch heute noch verwendeten, allerdings von ihrem Kontext weitgehend abgelösten lateinischen Sinnsprüche carpe diem oder memento mori. Zu den bekanntesten längeren Sinnsprüchen gehörten die goldenen Verse der Pythagoreer, einer weiteren Schule der Lebenskunst. Hierbei handelt es sich um 71 überlieferte dogmata, die in großen Teilen die Lehre kurz und knapp wiedergeben sollten. Sie reichen thematisch von Hinweisen darauf, dass man vor dem Sprechen nachdenken solle, über den Ratschlag, seine Eltern zu ehren, bis hin zur Erinnerung daran, dass man als Mensch irgendwann sterben wird. Und auch die Epikureer hatten ihre dogmata. Ein Paradebeispiel dafür stammt aus den tetrapharmakos, der vierfachen Medizin. Es lautet: »Vor Gott braucht man sich nicht zu fürchten, dem Tod soll man nicht mit argwöhnischer Angst gegenüberstehen, das Gute ist leicht zu beschaffen, das Schlimme jedoch leicht zu ertragen.« (aus Hadot, Philosophie als Lebenskunst, S. 21, dort zitiert nach Philodemos, Papyrus Herculaneum, 1005.IV.10–14)

In diesem Kontext agierten auch die Stoiker. Sie wollten ebenfalls nicht auf kurze Sinnsprüche verzichten, die sie zum Teil von den anderen Schulen übernahmen. Zu den bekanntesten kurzen Versionen zählen sicherlich das omnia me mecum porto, das secundam naturam vivere oder das memento mori. Belegt ist zudem, dass längere Texte oder zumindest eine gekürzte Version von Kleanthes’ Hymne an Zeus zum Lernrepertoire gehörten. Die Hymne wird unter anderem am Ende des Handbüchleins von Epiktet wiedergeben. Sie lautet in einer etwas gekürzten Version: »Führe mich, o Zeus, und auch du, mein Schicksal, An den Platz, der mir einst von euch bestimmt wurde. Ich folge ohne Zögern. Wenn ich aber nicht wollte, So wäre ich feige und müsste euch dennoch folgen.« (Epiktet, Handbüchlein, 53)

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Für die Stoiker ist klar, dass die Sinnsprüche nicht nur erbauliche Kalendersprüche sind, sondern einen großen Wert haben, da sie helfen, die stoische Lehre zum Habitus zu machen. Sie können dienlich sein, so eine beliebte Metapher, um die philosophischen Einsichten zu verdauen, sodass diese in den Geist einsickern können. Entsprechend wurde ihr Wert auch, wie am Beispiel von Epiktet deutlich wird, hoch veranschlagt: »Wenn du solche Grundsätze immer zur Hand hast, dich fleißig darin übst und jederzeit bereit bist sie anzuwenden, so würdest du es wohl nie nötig haben, dass dich jemand tröstet oder stärkt.« (Epiktet, Unterredungen, III.24)

Im letzten Teil des Satzes deutet Epiktet einen großen Vorteil der dogmata an: Er besteht darin, dass sie es ermöglichen, ohne externe Lehrer und Trainer auszukommen, die einem in einer herausfordernden Situation Ratschläge geben. Man braucht lediglich die kurzen Sinnsprüche, die einen wieder auf die richtige Bahn bringen, wenn man einmal vom Weg abgekommen sein sollte. So gesehen ist es nur folgerichtig, wenn man sie immer griffbereit hat (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen,  III .13). Wir wissen allerdings auch, dass das Auswendiglernen und Memorieren mitunter schwierig sein kann, insbesondere wenn der Lernstoff umfangreich ist. Entsprechend braucht man Hilfe, um ihn bewältigen zu können. Eine solche Hilfe war für de Stoiker das sogenannte vademecum, ein kleines Büchlein, welches alle wichtigen Sinnsprüche enthielt und das man im Zweifelsfall konsultieren konnte (vgl. auch S. 61). Die Gelegenheiten zur Anwendung sind vielfältig. Typischerweise werden die Sinnsprüche bei den Stoikern im Laufe des Tages verwendet, um unstoischem Gedankengut etwas entgegenzusetzten. Wer etwa denkt: »Ja, ich finde es furchtbar ungerecht, dass mir dieses Unglück passiert«, kann sich mit dem omnia mea mecum daran erinnern, dass es bei diesen Widerfahrnissen lediglich um ein präferiertes Indifferentium handelt, sodass die Überzeugung angemessen in die persönliche Werthierarchie eingeordnet werden kann und man weiter selbstbeherrscht und mutig agiert. Ein solches Counter-Conditioning, wie es

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in der Psychologie manchmal genannt wird, ist in der Antike nicht nur bei den Stoikern gesellschaftlich durchaus etabliert. Berühmt ist etwa das Counter-Conditioning eines Sklaven, der seinem Feldherrn auf dem Triumphzug auf dem Forum leise in sein Ohr flüstert: »Bedenke, dass auch du sterblich bist!«, um ihn vor Hybris zu schützen. Ebenso wurden die dogmata zur Tagesvorbereitung genutzt. Diese scheint für die Stoiker sogar eine besondere Rolle gespielt zu haben. Sie übernahmen sie wahrscheinlich von den Pythagoreern, die es sich zur Routine gemacht hatten, den Tag nicht blindlings zu beginnen, sondern sich zunächst ihre eigenen Grundsätze ins Gedächtnis zu holen (vgl. zu den Morgen- und Abendritualen auch S. 176). Der Neuplatoniker Iamblichus schreibt etwa über die Morgenroutine der Pythagoreer: »Ihre Morgenspaziergänge machten die Pythagoreer alleine; sie gingen an Orte, an denen Einsamkeit und gebührende Stille herrschte, wo Heiligtümer, wo Haine waren und was sonst das Herz erfreut. Glaubten sie doch, man dürfe nicht mit einem Menschen zusammentreffen, ehe man die eigene Seele gerüstet und sein Denken geordnet habe. Solche Ruhe sei der Zurüstung des Denkens angemessen. Denn gleich nach dem Aufstehen sich unters Volk zu drängen, hielten sie für ungesammelt. Darum wählten alle Pythagoreer stets diejenigen Orte, die für das Heilige am passendsten waren.« (Iamblichus, Pythagoras, XXI.96)

Ähnliche Passagen finden wir auch bei Marc Aurel, der die Pythagoreer dafür rühmt, die frühe Morgenzeit zur Kontemplation genutzt zu haben, insbesondere, um sich die Größe des Kosmos und den eigenen Platz darin vorzustellen. »Die Pythagoreer: [Wir pflegen, meine Einfügung, M.R.] am frühen Morgen zum Himmel emporzublicken.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, XI.27)

Die Idee dahinter ist offensichtlich. Es geht darum, zu Beginn des Tages die kommenden Aufgaben zu antizipieren und sich mithilfe der dogmata daran zu erinnern, wie man diese auf eine tugendhafte Weise bewältigen kann. Eine ähnliche Praxis schlägt Epiktet seinen Schülern

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vor. Er empfiehlt, sich die stoischen Grundsätze am Morgen vor Augen zu halten, indem man sich Fragen stellt wie: »Was fehlt mir noch zur völligen Herrschaft über die Leidenschaften, zur völligen Seelenruhe?« (Epiktet, Unterredungen, IV.6). Ebenso soll der Stoiker sich morgens daran erinnern, dass sich sein Wert nicht nach dem Besitz oder dem Ansehen bemisst, sondern nach seinem Charakter (vgl. ebd.). Für die Stoiker sind die dogmata also ein Mittel der Autosuggestion. Sie dienen dazu, das Denken und das Wahrnehmen auf eine bestimmte Weise zu formen und zu schulen. Das geschieht vor allem durch Auswendiglernen, Memorieren und ständige Wiederholung. Frei nach dem Motto: »Wenn ich immer wieder wiederhole, dass es gut ist, dass etwas so und so passiert, dann muss ich nicht mehr darunter leiden, sondern kann selbstbeherrscht und mutig sein.« Das klingt ein wenig nach Selbstmanipulation. Wir müssen uns allerdings vor Augen halten, dass die Stoiker uns in ihrem Bildungsprogramm nicht einfach vorschlagen, einen Merksatz aufzusagen, ohne zu wissen, wozu und warum das gut sein sollte. Das stoische Programm besteht ja darin, einerseits philosophische Einsicht zu erlangen, indem wir die Physik studieren, und andererseits ausgehend von diesen Einsichten Wege zu finden, um diese im entscheidenden Moment parat zu haben. Ein solcher Weg ist die Autosuggestion durch dogmata. ›Selbstmanipulation‹ ist somit das falsche Wort. Besser wäre es, von einer reflektierten und bewussten Selbstformung zu sprechen, die genau das im eigenen Denken verankern will, was man zuvor als richtig und angemessen eingesehen hat.

Die premeditatio futurum malorum Was können wir von der Philosophie lernen? Diogenes, der Kyniker, scheint darauf geantwortet zu haben: »Wenn sonst auch nichts, so doch jedenfalls dies, auf jede Schicksalswendung gefasst zu sein« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VI.63). Dieser Herausforderungen sahen sich alle Schulen der Antike gegenüber. Es ging darum, einen Weg zu finden, mit zukünftigen Widerfahrnisse in einer angemessenen Weise umzugehen. Eine Technik, die das erlauben sollte, wird als premeditatio futurum malorum bezeichnet. Es gibt zahlreiche weitere Bei99

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spiele in der Philosophie, etwa bei den Pythagoreern, bei Platon oder bei den seinerzeit konkurrierenden Schulen wie den Epikureern. Man kann jedoch sagen, dass die Stoiker die Technik in besonderer Weise kultiviert haben. Für sie gehörte sie zum Grundinstrumentarium eines jeden guten Philosophen. Sie bezogen sie auch nicht nur auf ausgewählte Einzelaspekte, sondern auf schlicht alle Dinge, die vorkommen können: Exil, Krankheit, Armut, schwierige Menschen, Trauerfälle oder auch den eigenen Tod. Eine der wahrscheinlich bekanntesten Stellen finden wir zu Beginn des zweiten Buches von Marc Aurels Selbstbetrachtungen (vgl. II.1). Die premeditatio wird an dieser Stelle als ein Morgenritual beschrieben, in dem Marc Aurel die Begegnungen mit all den schwierigen Menschen vorwegnimmt, die ihn an dem betreffenden Tag aufsuchen könnten (vgl. dazu auch ausführlicher S. 198). Nun sind schwierige Personen unangenehm, aber vermutlich im Denken der meisten Menschen noch nicht das Schlimmste, was uns passieren kann. Die Stoiker haben jedoch noch andere Anwendungsbeispiele für die premeditatio. So lässt uns Epiktet darüber sinnieren, wie es wäre, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren: »Wenn du dein Söhnchen, deinen Bruder oder deinen Freund küsst, […] sollst du dich daran erinnern, dass du einen Sterblichen liebst; es ist nichts von den Dingen, die dein Eigentum sind, was du da liebst; es ist dir für die Gegenwart vergönnt; es kann dir leicht genommen werden; es ist dir nicht für immer gegeben, sondern so wie eine Feige oder eine Traube nur für die ihnen bestimmte Jahreszeit. Wenn es dich im Winter danach gelüstet, so bist du ein Narr.« (Epiktet, Unterredungen, III.24)

Das ist allerdings noch nicht der Höhepunkt möglicher Verluste. Es gibt nach Epiktet nämlich noch eine weitere sehr wichtige Sache, die wir vorwegnehmen sollten – den eigenen Tod. Er empfiehlt uns: »Halte dir Tod, Verbannung und alles andere, was furchtbar erscheint, täglich vor Augen, vor allem aber den Tod.« (Epiktet, Handbüchlein, 21)

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Warum aber fordern uns die Stoiker dazu auf, schwierige Menschen, den Tod von geliebten Menschen oder sogar das eigene Ableben zu antizipieren? Eine solche Vorwegnahme scheint erst einmal etwas sehr Kontraintuitives zu sein. Wir wollen in der Regel nicht täglich mit Ungemach und Leid konfrontiert werden. Das ist, so kann man die Ansicht zusammenfassen, sehr belastend und führt am Ende auch dazu, dass wir mehr Leid und Angst empfinden als zuvor. Die Stoiker waren jedoch keine Masochisten. Sie haben nicht die Absicht, uns mit herausfordernden Gedanken zu quälen, sondern ihnen ihre emotionale Wucht zu nehmen. Indem wir nämlich die zukünftigen Ereignisse im Geiste immer wieder antizipieren, können wir uns ihnen gegenüber desensibilisieren. Man kann sich das so vorstellen: Wenn wir beispielsweise vor einer großen Menge zum ersten Mal einen Vortrag halten müssen, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder auf einer Hochzeit, werden wir sicherlich Angst verspüren. Diese kann uns hemmen, uns vielleicht sogar schlaflose Nächte bescheren und zu guter Letzt auch unsere Leistung am besagten Tag X beeinflussen (z. B. weil wir zittern oder aufgeregt sind). Allerdings: Wenn wir so etwas bereits häufiger gemacht haben, verlieren derlei Ereignisse ihren Schrecken: »Ach, jetzt darf ich schon wieder eine Rede halten. Kein Problem. Das kenne ich ja schon.« Den gleichen Effekt erhoffen sich die Stoiker durch die premeditatio. Die geistige Vorwegnahme von herausfordernden Ereignisse nimmt ihnen, wenn sie dann wirklich auftreten, den Stachel. Michel Foucault hatte in seinem Spätwerk ein großes Interesse an der antiken Übungspraxis. Bei ihm finden wir daher auch eine systematische Beschreibung der premeditatio. Er beschreibt drei Schritte:7 1. Wir antizipieren nicht die wahrscheinlichste Zukunft, sondern das Worstcase-Szenario. 2. Wir stellen uns das Ereignis so vor, dass es jetzt gerade passieren würde. 3. Wir spüren den emotionalen Einschlag des Ereignisses und überzeugen uns, dass es sich nur um ein Indifferentium handelt.

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Den Gegenstand der premeditatio bildet also immer die Voraussicht der schlechtestmöglichen Zukunft, deren Eintreten wir visualisieren. Hierbei wird uns insbesondere der dritte Schritt viel abverlangen. Wir müssen uns nämlich das Ereignis nicht bloß kurz vor Augen führen, sondern es regelrecht spüren und uns bewusst machen, am besten sogar häufiger als inneren Film in uns ablaufen lassen. Die Idee dahinter ist: Nur wenn wir uns wirklich an das Ereignis gewöhnen und es für uns akzeptabel ist, verliert es seine emotionale Macht über uns. Wichtig ist für die Stoiker auch, dass man sich den eigenen Ängsten nicht nur in Krisenzeiten stellt. Gerade die Zeiten, in denen man etwas ›Luft‹ hat, sollten als Vorbereitungszeit genutzt werden. Das wird etwa in einer damals bekannten Fabel vom Eber und dem Fuchs betont, die auf Aesop zurückgehen soll.8 Darin trifft der Fuchs eines Tages den Eber, der seine Stoßzähne an einem Baum schärft. Der Fuchs fragt den Eber: »Warum schärfst du deine Zähne? Ich sehe keine Jäger, und mehr noch, ich sehe überhaupt keine Bedrohung oder einen bevorstehenden Kampf.« Der Eber antwortet ihm: »Ja, du hast recht. Aber wenn plötzlich doch ein Kampf droht, habe ich ganz andere Dinge im Kopf, als mich darum zu kümmern, meine Waffen zu schärfen. Dann werde ich sie nämlich brauchen!« Seneca formuliert einen ganz ähnlichen Gedanken, wenn er über die Vorbereitungen auf schwierige Zeiten spricht: »Gerade in der Sorgenlosigkeit bereite sich die Seele auf Schweres vor und stärke sich gegen Ungerechtigkeiten des Schicksals inmitten seiner Wohltaten. Der Soldat macht mitten im Frieden Manöver, ohne irgendeinen Feind wirft er einen Wall auf und ermüdet sich bei überflüssiger Strapaze, um einer unausweichlichen genügen zu können. Wer auch im Ernstfall nach deinem Willen nicht zittern soll, den mußt du vor dem Ernstfall ausbilden.« (Seneca, Briefe, 18.6)

Für die Stoiker findet die premeditatio also nicht nur in Krisenzeiten Anwendung, sondern auch in solchen, in denen es uns vergleichsweise gut geht, weil wir mit weniger herausfordernden Ereignissen konfrontiert werden. Nichtsdestoweniger darf man nicht außer Acht lassen, dass es sich um eine anspruchsvolle Übung handelt, die für viele von

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uns heute ungewohnt sein dürfte. Das »Es hätt noch immer jot jejangen« ist nicht nur im Kölner Sprachraum eine beliebte Floskel. Wir sind daran gewöhnt, die positive Zukunft zu sehen und nicht die Ereignisse, die schiefgehen können. Wer das trotzdem betont, ist recht schnell ein ›Miesepeter‹. Das mag auch seine Berechtigung haben. Es führt jedoch, wenn es in einem ausschweifenden Maße betrieben wird, zu einer mangelnden Widerstandsfähigkeit, wenn die Dinge doch einmal schiefgehen. Wir fallen dann sprichwörtlich aus allen Wolken, dass uns so etwas tatsächlich passieren konnte. Die Stoiker überrascht mithin nichts mehr. Sie haben in mente bereits alles erlebt und vorweggenommen. Philon von Alexandria drückt es so aus, dass für die Stoiker die herausfordernden Ereignisse wie abgetragene Kleidung sind. Sie haben sich an die Kleidung gewöhnt und vielleicht finden sie diese sogar ein wenig langweilig (vgl. zur Langweile der Ereignisse Philon, Über die Einzelgesetze, II.46).

Der Blick von oben Eine weitere sehr verbreitete Technik unter den Stoikern ist eine mentale Visualisierungstechnik. Sie besteht darin, die Welt von oben aus zu betrachten, also aus einer Vogelperspektive. Passenderweise wurde sie von Pierre Hadot daher als der Blick von oben (engl. the view from above) beschrieben.9 Es gibt verschiedene Varianten dieser Übung. Eine erste können wir als die olympische Variante bezeichnen. Sie besteht darin, sich vorzustellen, dass man die Menschheit von einem Berg aus beobachten würde, ähnliche wie die Götter es auf dem Olymp tun. In diesem Sinne schreibt etwa Horaz: »Mit ungewohnter, mächtiger Schwinge werd’ ich als Dichter in zweifacher Gestalt durch den lauteren Äther gleiten; nicht länger werd’ ich auf Erden weilen; unerreichbar den Neidern werd’ ich die Städte verlassen.« (Horaz, Oden und Epoden, 2.20)

Eine andere Variante besteht darin, zusätzlich noch eine zeitliche Dimension mitzudenken. Sie kann als die kosmische Variante bezeichnet

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werden. Wir sollten uns als hoch über den Menschen schwebend betrachten und das Weltgeschehen gleichsam an uns vorbeiziehen sehen. Als ein Beispiel hierfür können die Überlegungen in Platons Timaios gesehen werden. Darin erläutert Platon die Entstehung und die Entwicklung des Kosmos, von den Anfängen bis in die Gegenwart und darüber hinaus auch in die Zukunft. Man kann sich daher die Schrift als eine Meditation vorstellen, die – wenn sie laut vorgelesen wird – den Hörer in eine Perspektive versetzt, die Zeit und die Geschehnisse an sich vorbeiziehen zu lassen. Darüber hinaus sind uns aus der Antike zahlreiche weitere Schriften bekannt, in denen sich Naturzeichnungen und Diagramme ausmachen lassen, die der Kosmologie gewidmet sind. Und einige davon hatten nicht nur einen Erkenntniswert, sondern dienten auch dazu, einen Perspektivwechsel auf das große Ganze einzuleiten. Auch die Stoiker haben beide Varianten im Repertoire ihres Übungsprogramms. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür liefern zahlreiche Stellen in Marc Aurels Selbstbetrachtungen. Die olympische Variante erläutert er wie folgt: »Wenn man sich über die Menschen Gedanken macht, muss man auch die irdischen Dinge betrachten, als ob man von irgendeinem höheren Punkt aus nach unten schaute: Tierherden, Heere, Ackerbau, Hochzeiten, Scheidungen, Geburten, Todesfälle, den Lärm von Gerichtsverhandlungen, verlassene Landschaften, vielfältige Barbarenvölker, Feste, Totenklagen, Märkte, das Durcheinander und das aus Gegensätzen zu einer Ordnung Zusammengefügte.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VII.48)

Und auch die kosmische Variante finden wir bei ihm: »Von oben hinabschauen auf unzählige Herden, auf zahllose religiöse Feste, auf allerlei Verkehr über See bei Sturm und heiterem Wetter und auf die Vielfalt des Entstehenden, des sich Vereinigenden und des Vergehenden. Dabei denk auch an das von anderen in früheren Zeiten gelebte Leben, an das Leben, das nach dir gelebt werden wird […].« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IX.30)

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Welche Effekte sollten diese Übungen erzielen und wie kann das helfen, die stoische Akzeptanz zu kultivieren? Ein ziemlich offensichtlicher Effekt ist: Viele Dinge, die wir im alltäglichen Leben häufig wertschätzen, werden weniger wichtig. Oder negativ formuliert: Diejenigen Dinge, die wir ablehnen, werden als weniger schlimm erfahren. Dazu Marc Aurel: »Die Vorstellungen über diese Vorgänge reinigen das irdische Leben von seinem Schmutz« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VII.47). Die weltlichen Dinge, von denen Marc Aurel spricht, sind natürlich die stoischen Indifferenzen, nämlich Armut, Krankheit, Verlust, Tod usw. Wenn wir nun aber diese Dinge für weniger wichtig halten, so der Gedankengang der Stoiker, ist es auch leichter, sie zu akzeptieren, wenn sie eintreten. Der Blick von oben zielt also auf einen Perspektivwechsel ab  – einen, der es uns leichter macht, selbstbeherrscht und mutig zu sein. Ein anschauliches Fallbeispiel für eine solche Wertverschiebung liefert Cicero. Dieser spricht im sechsten Buch von Der Staat (lat. de re publica) über den Traum des Scipio (lat. somnium scipionis). Beginnen wir von vorne: Scipio Aemilianus (185–129 v. Chr.), später Scipio Africanus der Jüngere genannt, war ein römischer Feldherr, der sich in seinem näheren sozialen Umfeld mit Intellektuellen umgab. Man sprach vom »Scipionischen Zirkel« und dieser umfasste auch Stoiker wie Laelius den Weisen und Panaitios. Scipio war also sehr gut in die stoische Philosophie eingearbeitet. Die für unsere Belange zentrale Geschichte ereignete sich während des dritten punischen Krieges (149–146 v. Chr.). Die mächtigen römischen Armeen belagerten die nordafrikanische Stadt Karthago. Als Scipio als junger Offizier dorthin beordert wurde, traf er an seinem ersten Abend vor Ort auf Masinissa, den König von Numidien. Dieser erzählte, er habe Scipios Adoptivvater, Scipio Africanus den Älteren, gekannt. Sie sprachen bis tief in die Nacht über die Ruhmestaten des Adoptivvaters (z. B. den Sieg über Hannibal einige Jahrzehnte zuvor) und die gottgleiche Verehrung, die die Römer ihm seither entgegenbrachten. Nach dem Gespräch begab sich Scipio zur Nachtruhe, die ihm einen merkwürdigen Traum bescherte. Darin stieg er nämlich in den Him-

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mel empor und traf seinen Adoptivvater, Africanus den Älteren. Von dort aus sah alles so klein aus. So berichtet Aemilianus: »Jetzt schien mir die Erde selbst so klein zu sein, dass ich mich für unser Reich, mit dem wir gewissermaßen nur einen Punkt der Erde berühren, schämte« (Cicero, Der Staat, VI.16). Africanus der Ältere bestätigte seinen Eindruck und fügte noch an: »Wie groß ist deine Berühmtheit im Munde der Menschen […]. Von diesen könnt ihr nun wirklich keine Anerkennung erwarten« (Cicero, Der Staat, VI.19). Aemilianus bemerkte, dass Rom selbst nur einen kleinen Teil der Erde ausmachte und dass in einer zeitlichen Perspektive betrachtet die meisten Menschen weder ihn noch seine Taten jemals kennen würden. Zwar mögen die Legenden und Geschichten eine Zeit lang weitergegeben werden, am Ende werden aber auch sie vergessen sein. Africanus der Ältere ermutigte Aemilianus daher, nicht allzu viel auf Ruhm und Ehre zu geben. »Du musst also wissen, dass du ein Gott bist« (Cicero, Der Staat, VI.24), was bedeutet, dass Aemilianus seinen göttlichen Teil, seine Vernunft nutzen soll, um ein tugendhafter Mensch zu werden. Das sei das einzige, was wirklich wichtig ist. Alles andere sei nur Schall und Rauch, die verfliegen. Damit noch zu einer Besonderheit, denn die Stoiker kümmerten sich nicht um alle präferierten Indifferenzen in gleichem Maße. Einige hatten einen höheren Status als andere. Die Beschäftigung mit Ruhm und Ehre war wichtig. Noch wichtiger war es aber für sie, durch den Blick von oben die menschliche Sterblichkeit zu relativieren (vgl. dazu auch noch ausführlicher S. 212). Das kann mitunter skurrile Züge annehmen, wie etwa bei Seneca, wenn er in seinem Trostbrief an Marcia schreibt: »Alles Menschliche ist kurz und hinfällig und von der endlosen Zeit keinen Teil einnehmend. Diese Erde mit Städten und Völkern und Flüssen und dem Umfang des Meeres sehen wir nur als Punkt, wenn wir sie mit dem All vergleichen: einen kleineren Anteil hat unsere Lebenszeit als den eines Punktes, wenn es mit aller Zeit verglichen wird, deren Maß größer ist als das der Welt [...].« (Seneca, Trostschrift an Marcia, XXI.1–2)

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Senecas Worte wirken harsch und unsensibel, insbesondere wenn man die Hintergründe kennt, nämlich dass Marcia ihren geliebten Sohn verloren hat und Seneca ihr einen Trostbrief schreibt. Der Brief wirkt beinahe wie eine Anklage: »Verstehe doch endlich, Marcia, dass es das Wesen aller Dinge ist, auch das von geliebten Menschen, dass sie irgendwann einmal sterben müssen.« Ungeachtet der Diskussion darüber, für wie empathisch man Senecas Ausführungen hält, machen sie dennoch einen wichtigen Punkt deutlich: Er rät Marcia, den Blick von oben zu praktizieren, um dadurch ihr erfahrenes Leid zu mildern und es letztendlich als indifferent für ihr gutes Leben zu erkennen. Die Stoiker sinnierten bekanntlich nicht nur über den Tod von geliebten Menschen. Auch die eigene Sterblichkeit wurde immer wieder zum Gegenstand gemacht. Es verwundert daher nicht, dass auch bei diesem Thema der Blick von oben Anwendung findet. So schreibt etwa Epiktet: »Ich bin ja nicht unsterblich, sondern ein Mensch, ein Teil des Ganzen, wie die Stunde ein Teil des Tages. Ich muss kommen wie die Stunde und vergehen wie die Stunde.« (Epiktet, Unterredungen, II.5)

Oder auch Marc Aurel: »[W]ie viele Menschen nicht einmal deinen Namen kennen, wie viele ihn in Kürze vergessen werden und wie viele dich, die dich jetzt vielleicht loben, sehr bald tadeln werden.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IX.30)

Warum aber waren die Stoiker so besessen davon, sich die eigene Sterblichkeit immer wieder vor Augen zu führen? Den Hintergrund bildet die stoische Ansicht, dass das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit eine Art ›Wurzel‹ vieler weiterer Ängste ist. Wenn wir es also schaffen, die Angst vor dem eigenen Tod als unbegründet zu erkennen oder sie abzumildern, haben wir viele andere Ängste gleich mitbehandelt. Man kann es sich wie einen Dominoeffekt vorstellen. Wenn ein erster Stein gefallen ist, stößt er alle anderen Steine an, die dann ebenfalls fallen. Seneca meint daher, dass derjenige, der gelernt hat, den eigenen Tod

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nicht mehr zu fürchten, gelernt hat, kein Sklave mehr zu sein (vgl. Seneca, Briefe, 26.10). Was soll man auch noch fürchten, wenn man die ›Mutter aller Ängste‹ besiegt hat? Es ist daher, wie Seneca meint, eine der obersten Aufgaben des Stoikers, sich gegen die Angst vor dem Tod zu wappnen: »Was also muß er [gemein ist: der Stoiker, M. R.] bedenken? Was gegen alle Geschosse, was gegen jede Art von Feinden gut tut, den Tod zu verachten.« (Seneca, Briefe, 36.8)

Cicero sah sogar die gesamte Philosophie der Stoiker als den Versuch an, mit dem Tod zurechtzukommen (vgl. Cicero, Gespräche in Tusculum, I.30). So weit muss man aber vielleicht gar nicht gehen. Es ist schon vollkommen ausreichend, wenn man anerkennt, dass die Stoiker mit der Angst vor dem eigenen Tod eine zentrale Grundangst ausgemacht haben, die mit vielen anderen Ängsten zusammenhängt. Und wenn wir es schaffen, sie zu besiegen oder abzumildern, haben wir schon mehr als nur einen kleinen Schritt zu einem selbstbeherrschten und mutigen Charakter getan.

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4. Die Tugend der Gerechtigkeit Vor dem Hintergrund des letzten Kapitels könnte es so scheinen, als stelle der Stoizismus vor allem eine hilfreiche Philosophie für Zeiten dar, in denen uns das Schicksal nicht gerade gewogen ist – also, wenn wir zum Beispiel mit persönlichem Leid, Tod oder anderen negativen Geschehnissen konfrontiert sind. Für diese Zeiten empfehlen uns die Stoiker ein psychologisches Heilmittel, nämlich alle Widerfahrnisse mit Gleichmut hinzunehmen, ja, ihnen gegenüber sogar eine gewisse Heiterkeit zu entwickeln. Und wenn das gelingt, haben wir die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes ausgebildet. Wir sind dann, so lässt sich pointiert festhalten, wie ein Fels in der Brandung, an welchem die Wasser der Welt abprallen. Nun ist eine solche Indifferenz gegenüber den Widerfahrnissen, die auf den ersten Blick vielleicht recht attraktiv erscheinen könnte, den Stoikern immer wieder zum Vorwurf gemacht worden. Muss ein Stoiker, der sich vor allem darauf konzentriert, selbstbeherrscht und mutig den Widerfahrnissen zu trotzen, nicht auch gleichgültig gegenüber dem Leid und dem Schicksal von anderen Menschen sein? Wie soll ausgehend von der stoischen Akzeptanz ein Engagement für andere oder emanzipatorisch-politisches Interesse möglich sein? Ist die Konsequenz ihres Gleichmuts nicht eine Komplizenschaft mit dem Status quo? Der Vorwurf lautet also: Es ist ja schön und gut, dass der gut ausgebildete Stoiker so widerstandsfähig gegenüber den herausfordernden Umständen ist. In der Konsequenz scheint die Haltung aber auf eine Art Biedermeiertum hinauszulaufen. Der Stoiker flieht vor der Welt, zieht sich ins Privatleben zurück und erträgt gelassen, was sich nicht ändern lässt. Und das führt, wie in den Fragen angedeutet, zu einer empathielosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer und einer apolitischen Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen.

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Manche Formulierungen der Stoiker können, wie ich zugeben muss, tatsächlich zu diesem Schluss einladen. Ich glaube jedoch, dass – wenn man sich genauer mit den Stoikern beschäftigt – dieser Vorwurf haltlos ist und auf einer systematischen Verengung ihrer Philosophie beruht. Wäre ihre philosophische Erzählung mit einer Erläuterung zu den Tugenden Selbstbeherrschung und Mut zu Ende, könnte man den Stoizismus vielleicht wirklich für eine Philosophie halten, die zur Weltflucht einlädt. Allerdings erschöpft sich die stoische Philosophie nicht in diesen beiden Tugenden. Vielmehr kennen ihre Vertreter noch mindestens eine weitere, die der Weltflucht und dem Rückzug ins Privatleben sogar entgegensteht, nämlich die Gerechtigkeit. Darunter verstehen die Stoiker keine Tugend, die auf unkontrollierbare Widerfahrnisse gerichtet ist, sondern eine solche, die das eigene Verhalten gegenüber anderen Menschen zum Gegenstand hat. Ein gerechter Mensch ist für die Stoiker nicht jemand, der besonders gut mit widrigen Umständen umgehen kann, sondern jemand, der sich um andere Menschen kümmert und für die Verbesserung von gesellschaftlichen Verhältnissen eintritt. Diese nach ›außen‹ ausgerichtete Zielperspektive des Stoizismus wird besonders gut greifbar, wenn wir uns zwei Beispiele genauer anschauen, von denen Epiktet berichtet. Der erste Fall handelt von einem angsterfüllten Vater, der seiner todkranken Tochter während ihrer Krankheit nicht beistehen mag. In den Unterredungen lässt Epiktet den Vater zu Wort kommen: »Ich für meinen Teil erlebe so viel Unglück mit meinen Kindern. Neulich war meine Tochter krank, und man glaubte, es stünde sehr schlecht um sie. Da konnte ich es nicht über mich bringen, an ihrem Krankenbett zu stehen, sondern machte mich sogleich aus dem Staub, bis ich die Botschaft erhielt, dass es ihr wieder gut ging.« (Epiktet, Unterredungen, I.11)

Damit ist die Szene für ein sokratisches Gespräch bereitet, in dem Epiktet den Vater mit einer geschickten Perspektivübernahme davon überzeugen möchte, dass er tatsächlich falsch gehandelt hat. Eine etwas abgekürzte Version dieses Gespräch lässt sich wie folgt wiedergeben:10

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Epiktet: »Hatte aber die Mutter keine Liebe für das Kind?« Vater: »Oh freilich, auch sie liebt es auf das Innigste.« Epiktet: »Hätte also auch die Mutter das Kind verlassen sollen?« Vater: »Nein, natürlich nicht.« Epiktet: »Und die Amme? Hat sie Zuneigung für das Kind?« Vater: »Das hat sie.« Epiktet: »Hätte also auch sie es verlassen sollen?« Vater: »Nein.« Epiktet: »Oder willst du wohl auch gern, wenn du krank wärest, so fürsorgliche Kinder, eine so fürsorgliche Frau haben, die dich ganz einsam und hilflos liegen ließen?« Vater: »Nein, wahrhaftig.« Epiktet: »Wünschst du dir, von den Deinigen so geliebt zu werden, dass du wegen ihrer gar zu großen Zuneigung in kranken Tagen immer allein gelassen würdest? Oder würdest du dir nicht in diesem Fall lieber wünschen, von deinen Feinden, wenn es möglich wäre, fürsorglich geliebt zu werden, damit sie weit von dir entfernt blieben?« (Epiktet, Unterredungen, I.11)

Man erkennt bereits, worauf es hinauslaufen soll. Epiktet ist sehr skeptisch, ob der Vater die richtige Handlung gewählt hat. Würde der Vater in der gleichen Situation, wenn er anstelle der Tochter wäre, nicht wollen, dass ihm beigestanden wird? »Ja, natürlich«, scheint Epiktet dem Vater unmissverständlich mit seinen rhetorischen Fragen klarmachen zu wollen. Er empfiehlt ihm nicht die Flucht, sondern das Engagement für die ›gute Sache‹, was in diesem Fall bedeutet: Trotz der wahrschein-

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lich unabänderlichen Situation der Tochter bei ihr zu bleiben. Ein gerechter Mensch, so lässt sich Epiktet verstehen, würde genau das tun. Damit zum zweiten Fall, von dem Epiktet berichtet und der mit Blick auf das stoische Engagement für andere sogar noch herausfordernder ist. Er handelt von Helvedius Priscus, der ein römischer Stoiker und Politiker im ersten nachchristlichen Jahrhundert war. Er lebte zur Zeit Senecas und war Tribun, Praetor und Mitglied des Senats. Ähnlich wie Seneca wurde auch Helvedius mehr als nur einmal zum Exil verurteilt, zunächst für seine politischen Ansichten und später für seine offene Kritik am flavischen Regime. Epiktet berichtet jedoch, Helvedius sei besonders durch seine Konfrontation mit dem Kaiser Vespasian in Erinnerung geblieben. So habe Helvedius vor allem vehement und nachdrücklich die republikanischen Werte der Redefreiheit im Senat verteidigt, die unter Vespasian massiv eingeschränkt wurden. Er berichtet: »Als ihm Vespasian mitteilte, er solle nicht in den Senat kommen, gab er zur Antwort: ›Es liegt bei dir, mir die Senatorenstelle zu nehmen. Solange du mir sie nicht förmlich nimmst, muss ich in den Rat gehen.‹ – ›Nun gut, du magst wohl in den Senat gehen‹, sagte der Kaiser, ›aber du musst schweigen.‹ – ›Frage mich nicht um meine Meinung, so will ich schweigen.‹ – ›Ich muss dich aber um deine Meinung fragen.‹ – ›So muss ich auch reden, was mir recht erscheint.‹ – ›Redest du, so lass ich dich hinrichten.‹ – ›Wann habe ich je gesagt, dass ich unsterblich bin? Du magst tun, was in deiner Macht steht, und ich werde tun, was in meiner steht. Es steht in deiner Macht, hinrichten zu lassen, und in meiner, unerschrocken zu sterben. In deiner Macht steht es, des Landes zu verweisen; in meiner, ohne Trauer meines Weges zu gehen.‹« (Epiktet, Unterredungen, I.2)

Natürlich möchte Epiktet uns mit seiner Erzählung über Helvedius nicht den Rat geben, uns bei der nächstbietenden Gelegenheit gegen Obrigkeiten aufzulehnen und möglichweise dadurch das eigene Ableben zu provozieren. Helvedius war sicherlich in einer besonderen Situation, und sie ist nicht ohne Weiteres auf alle anderen Fälle übertragbar. Für ihn war der Märtyrertod möglicherweise geboten, für andere verhält es sich jedoch anderes. Und zudem gilt, dass sich die Stoiker zwar sehr ausgiebig mit dem Freitod beschäftigen, aber daraus

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sollte man nicht den Schluss ziehen, dass sie sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit in ein bereitstehendes Schwert gestürzt haben. Der Freitod ist auch für den Stoiker der absolute Ausnahme-, nicht der Regelfall (vgl. zur stoischen Auffassung über den Freitod S. 212). Was können wir dann aus der Erzählung von Epiktet lernen? Ich denke, es ist vor allem eine Sache: Helvedius ist niemand, der die Realität achselzuckend hinnimmt. Es lag nicht in seiner Macht, die Umstände zu ändern. Vespasians Unterdrückung der Redefreiheit war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aufzuhalten, ganz gleich, ob Helvedius nun interveniert hätte oder nicht. Und trotzdem hat er sich für die aus seiner Sicht gute Sache engagiert. Er hat nicht klein beigegeben und von seiner Redefreiheit abgesehen, sondern war sogar bereit, für seine Prinzipien in den Tod zu gehen. Vor dem Hintergrund dieser beiden Beispiele – des angsterfüllten Vaters einerseits und des unbeugsamen Helvedius andererseits – erscheint der Vorwurf, der Stoizismus sei eine weltentrückte und unpolitische Philosophie, wenig überzeugend. Die Indifferenz gegenüber den unkontrollierbaren Widerfahrnissen mag eine Seite des Stoizismus sein, eine andere besteht aber – qua Gerechtigkeit – darin, sich aktiv um andere Menschen oder die Gesellschaft zu kümmern, und zwar auch dann, wenn es schwerfällt. Es gibt manchmal Situationen, die wir nicht abwenden können – sei es die schwere Krankheit eines geliebten Menschen oder sei es die Korrumpierung eines politischen Systems. Auch in diesen Situationen raten uns die Stoiker nicht zu einem passiven ›Irgendwie-Durchhalten‹, sondern zum sozialen und politischen Engagement, nämlich ein Leben im Lichte der Gerechtigkeit und der guten Sache zu führen. Nun klingen diese Erläuterungen zugegebenermaßen noch recht allgemein und vielleicht sogar in mancher Hinsicht trivial. Natürlich möchte man wissen, was die ›Gerechtigkeit‹ konkret beinhaltet, also was die Stoiker mit der ›guten Sache‹, die gefördert werden soll, eigentlich im Sinn haben. Und natürlich geht es auch um die Begründung und Rechtfertigung ihrer Ansichten und die Frage, wie man letztendlich all das in der Praxis umsetzen kann. Diese und weitere Fragen werden den Gegenstand des folgenden Kapitels bilden. In meiner Gliederung werde

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ich mich hierbei wieder an der bereits bekannten Bildungssystematik aus dem zweiten Kapitel orientieren (vgl. S. 59). Blicken wir daher auf den relevanten Teil zur Tugend der Gerechtigkeit: Bestandteil des Charakters

Tugend

Handeln (z. B. Absichten)

Gerechtigkeit

Philosophischer Bereich

Übungsbereich

Ethik

Übungen des Handelns

Wenn wir dieser Darstellung folgen, bezieht sich die Gerechtigkeit auf einen Bestandteil des Charakters, der mit dem Handeln betraut ist, insbesondere mit unseren Handlungsabsichten. Ein gerechter Mensch zu sein bedeutet mithin, eine bestimmte Absicht zu haben. Die Formung dieser Absicht erfolgt für die Stoiker wiederum in zwei Bereichen: In einem philosophischen Bereich müssen wir theoretisches Wissen darüber erwerben, welche Absichten wir haben sollten, und darüber, wie sich das begründen lässt; in einem zweiten Bereich müssen wir aber auch dafür sorgen, diese Einsichten im Ernstfall vor Augen zu haben. Der erste Schritt erfolgt für den Stoiker im Rahmen einer theoretischen Unterweisung, nämlich in der Ethik, der zweite Schritt in einer praktischen Übungsphase, den Übungen des Handelns. Beginnen wir also der Reihe nach mit der Ethik und bahnen uns von dort aus den Weg zu den praktischen Übungen.

4.1 Was wir wissen müssen Die stoische Ethik: Was ist das? Die Ethik ist ein theoretischer Teil des stoischen Bildungsprogramms, der sich mit der Tugend der Gerechtigkeit beschäftigt. Sie vermittelt uns unter anderem ein Wissen darüber, was Gerechtigkeit ist und was eigentlich dafür spricht, eine solche Tugend auszubilden. Systematisch versuchen sich die Stoiker diesen Fragen auf unterschiedliche Weise zu nähern. Zum einen finden wir Aufteilungen ihrer Ethik in verschiedene Themen, wie »Impulse«, »Tugenden«, »Güter und Werte«, »Gefühle«, 114

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»angemessene Handlungen« und »Lebensziele« (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.84). Zum anderen werden die Fragen aber auch direkt angesteuert, indem Überlegungen zum stoischen Weisen unterbreitet werden und Überlegungen zum stoischen Idealstaat – der Kosmopolis –, welcher als finales Ziel des Handelns bezeichnet wird (vgl. Seneca, Briefe, 89.14; vgl. dazu auch S. 120 unten). Einig sind sich die Stoiker darin, dass für die Ethik gilt, was für alle anderen philosophischen Bereiche auch zutrifft: Sie ist ein zwar heuristisch isolierbarer, aber systematisch nicht alleine zu betreibender Bereich. Seneca etwa wird nicht müde zu betonen, dass »die Philosophie in Teile, nicht in Häppchen« aufgeteilt werden sollte (Seneca, Briefe, 89.2). Und auch Cicero betont die Verwobenheit der philosophischen Bereiche, wenn er schreibt, er kenne kein philosophisches System, welches so »fein zusammengesetzt, wohlgefügt und engverbunden genannt werden kann« (Cicero, Das höchste Gut und das schlimmste Übel, III.74). Das sehe man auch schon daran, dass »alles zusammenfällt, wenn man einen einzigen Buchstaben ändert« (ebd.). Kurzum: Wer, so die Stoiker, Ethik betreibt, muss auch Ergebnisse aus den anderen beiden philosophischen Bereichen – der Logik und der Physik – miteinbeziehen. Allerdings scheint diese Ansicht in der Antike nicht für alle offensichtlich gewesen zu sein, insbesondere, wenn es um die Verbindung von Ethik und Logik ging. Epiktet berichtet etwa von einem Studenten, der die Logik für Zeitverschwendung hielt, weil er nicht sehen könne, wie diese zur Charakterbildung und damit auch zur Tugend der Gerechtigkeit beitrage (vgl. Epiktet, Unterredungen, I.17). Epiktet erwiderte ihm, dass er zwar ein nobles Ziel habe, aber doch wissen müsse, welche psychologischen Bestandteile einen guten Charakter ausmachen und – noch grundlegender – wie man wahre und falsche Aussagen über den Charakter unterscheiden kann. Der Student blieb sprachlos, aber Epiktet antwortete für ihn: Es ist natürlich die Logik, die uns dieses Wissen bereitstellt. Ähnliche Zweifel sind für das Verhältnis von Ethik und Physik nicht belegt. Das mag auch daran liegen, dass – obgleich man natürlich die Thesen der Physik für falsch halten kann (vgl. für einige mögliche Dis-

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kussionspunkte S. 88) – zumindest der Übergang zwischen den philosophischen Bereichen recht offensichtlicher Natur ist. Er lässt sich so wiedergeben: Die Stoiker sind der Ansicht, dass die Gerechtigkeit eine Kardinaltugend ist. Nun begründet sich die Tugendlehre in ihrer Vorstellung darüber, was es heißt, ein Leben im Einklang mit der Natur zu führen (vgl. S. 50 und 83). Um das wiederum explizit zu machen, brauchen wir Kenntnisse aus der Naturphilosophie, also darüber, was die Stoiker unter Natur verstehen und was diese ihrer Ansicht nach im Innersten zusammenhält. Und damit ist die Verbindung bereits hergestellt. Die Frage nach der Bedeutung und Rechtfertigung der Gerechtigkeit führt uns zu Überlegungen in der stoischen Physik. Die Wichtigkeit der Ethik für die Stoiker zeigt sich ebenfalls in der Quantität des Textkorpus. In den antiken Quellen wird eine Reihe von Werken genannt, die sich mit der Ethik und der Tugenden der Gerechtigkeit beschäftigt haben sollen. Die aber vielleicht wichtigsten Quellen, die uns heute zugänglich sind, stammen von Diogenes Laertius, Stobaeus und Cicero (insb. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.84–131, Stobaeus, Anthologie, II.57–11611 und Cicero, Das höchste Gut und das schlimmste Übel, III.16–76). Zusätzlich zu diesen Schriften sind natürlich auch diejenigen der jüngeren, römischen Stoa von besonderem Wert. Sie geben uns ein sehr konkretes Bild davon, was es im Rom der damaligen Zeit bedeutet hat, als Stoiker zu leben, weil ihre Texte vor allem praktische Lebensratgeber sind und weniger theoretische Fundierung im Sinn hatten.

Das Tugendverständnis: die Gerechtigkeit Die Stoiker verstehen unter der Tugend der Gerechtigkeit (griech. dikaiosunē) vor allem ein Wissen darüber, wie wir andere Menschen behandeln sollten. Ein wesentlicher Gesichtspunkt bezieht sich hierbei auf die Wahl der eigenen Motive. Diese sollen nämlich so ausgerichtet sein, dass sie sich auf das Wohl anderer beziehen. Unser Ziel sollte stets sein, so meint Seneca, »Nutzen zu stiften und Hilfe zu leisten, nicht nur für sich, sondern für alle und jeden einzelnen [...]« (Seneca, Über die Milde, II.3.3). Und auch Musonius Rufus betont, ein gerechter Mensch sei insbesondere jemand, der »Menschenliebe, Güte, 116

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Gerechtigkeit, wohltätige[n] und fürsorgliche[n] Sinn für den Nächsten [zeigt]« (Musonius Rufus, Lehrgespräche, 14.1). Vor diesem Hintergrund ist es daher sicherlich nicht falsch, wenn einige Interpreten wie Donald Robertson den Stoizismus auch als eine Philosophie der Liebe und des Wohlwollens deuten.12 Manchmal findet man bei den Stoikern sogar euphorisch anmutende Äußerungen, die noch mehr nahelegen, nämlich, dass es sich hierbei um geradezu das Kennzeichen handelt, welche den Stoizismus auszeichnet. So schreibt etwa Seneca, er kenne keine Schule, die »gütiger und sanfter« sei und »keine mehr zugetan den Menschen und um das Gemeinwohl besorgter« (Seneca, Über die Milde, II.3.3). Ob Seneca sich mit diesem Urteil zu weit aus dem Fenster lehnt, mag ich nicht beurteilen. Richtig scheint mir jedenfalls zu sein, dass die Stoiker mit ihrem Liebeskonzept eine durch und durch altruistische Tendenz verbinden. Einem gerechten Menschen geht es um die Liebe zum Mitmenschen, was bedeutet, dass es ihm in seinem Handeln weniger um sein eigenes als um das Wohlergehen von anderen geht (vgl. dazu auch S. 190). Ein Liebesstreben, welches etwa auf Kompensation und Eigennutz aus ist, ist für die Stoiker keines (vgl. Cicero, Gespräche in Tusculum, IV.72). Damit kann man die stoische Liebe durchaus in die Nähe zum christlichen Begriff der Nächstenliebe stellen, der ebenfalls ein Liebesverständnis offenbart, welches die Eigeninteressen weitestgehend ausblendet und einen radikalen Altruismus fordert. Diese Ähnlichkeit hebt etwa Pierre Hadot hervor, wenn er die Stoiker in dieser Hinsicht sogar als Vorläufer sieht: »Man kann daher nicht behaupten, dass es eine spezifisch christliche Erfindung sei, ›seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst‹, sondern die stoische und die christliche Liebe entspringen im Gegenteil eher ein und demselben Beweggrund. […] Dem Stoizismus fehlt nicht einmal die Liebe zu den Feinden.« (Hadot, Die innere Burg, S. 317)

Dieser letzte Satz von Hadot führt uns zu einem weiteren Merkmal der stoischen Liebe, denn die stoische Liebe soll nicht nur rein von Eigeninteressen sein, sondern auch keine Enklaven dulden. Sie ist nicht exklusiv, sondern inklusiv, indem sie alle Menschen zum Gegenstand

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macht. Marc Aurel greift diesen Gedanken auf, wenn er sich an seinen Tutor Sextus von Chaeronea erinnert, der »einerseits zwar völlig frei von Leidenschaft, andererseits aber ein äußerst liebevoller Mensch« war und voller natürlicher Zuneigung für die gesamte Menschheit (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, I.9). Cicero beschreibt diese Kernansicht der Stoiker noch deutlicher, wenn er sie in einen Imperativ kleidet, den er dem Stoiker Antipater zuschreibt: »Du [musst, meine Ergänzung, M. R.)] für die Menschen sorgen und der menschlichen Gemeinschaft dienen.« (Cicero, Vom pflichtgemäßen Handeln, III.52)

Stoiker scheinen also keinen Unterschied darin zu machen, wen sie lieben sollen. Sie lieben ihre Verwandten ebenso wie ihre Nachbarn, ihre Arbeitskollegen genauso wie die Vorgesetzten und zufällige Bekannte ebenso wie wildfremde Menschen. Seneca geht etwa so weit zu sagen, dass jemand, der nicht die gesamte Menschheit geliebt hat, niemals wirklich einen einzigen Menschen lieben könne (vgl. Seneca, Briefe, 63.11). Darunter fallen dann auch, wie Hadot im letzten Satz des obigen Zitats erläutert, Menschen, die uns nicht gerade wohlgesonnen sind. Gerade solche benötigen, wie die Stoiker häufig anmerken, unsere Hilfe (vgl. ausführlicher zum stoischen Umgang mit schwierigen Menschen S. 198). Das heißt allerdings nicht, dass die Stoiker keine Unterschiede machen, wem sie ihre Hilfeleistungen zukommen lassen. Sie bringen allen Menschen Wohlwollen entgegen, aber sie sind ebenfalls Wesen, die nicht allen Menschen alles zukommen lassen können. Auch Stoiker müssen entscheiden, wem sie ihre Zeit schenken und mit welchen Projekten sie ihren Tag füllen. So ist es daher nicht überraschend, dass etwa Seneca sich einige Gedanken darüber macht, wie man seine begrenzten Zeitressourcen effektiv verteilen könne. Er schreibt: »Das natürlich wird vom Menschen verlangt, daß er nütze den Menschen: wenn es geschehen kann, vielen; wenn nicht, wenigen; wenn nicht, den nächsten, wenn nicht, sich selber. Denn wenn er sich als den übrigen nützlich zeigt, handelt er für das gemeinsame Interesse.« (Seneca, Über die Muße, III.5)

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Das scheint zu implizieren, dass die Anzahl an Menschen, denen wir helfen können, für einen Stoiker keine unbedeutende Rolle spielt. Es geht darum, möglichst vielen zu helfen und ihnen nützlich zu sein. Und das hat handfeste Folgen, denn Seneca leitet daraus eine Berufsempfehlung ab, nämlich sich für das »gemeinsame Interesse«, also für die Politik, zu engagieren. Das ist, so sein Gedanke, derjenige Ort, an dem es realisierbar ist, möglichst viele Menschen zu begünstigen. Tatsächlich handelt es sich hierbei sogar um ein Distinktionsmerkmal der stoischen Philosophie. Ihre Affinität zum politischen Engagement unterscheidet sie, wie sie selbst gesehen haben, von anderen Schulen der damaligen Zeit wie etwa von den Epikureern. In einer pointierten Gegenüberstellung hält Seneca diesen Unterschied fest, wenn er die beiden Gründungsväter der Philosophieschulen zu Wort kommen lässt: »Epikur sagt: ›Nicht wird in die Politik gehen der Weise, außer wenn etwas eintritt.‹ Zenon sagt: ›Er wird in die Politik gehen, außer wenn ein Hindernis eintritt.‹« (Seneca, Über die Muße, III.2)

Wollen die Stoiker uns damit sagen, wir sollten uns alle politisch engagieren? Ich glaube nicht, dass das ihre Ansicht ist. Warum ich dieser Meinung bin, werde ich im Kapitel zur stoischen Berufswahl noch ausführlicher begründen (vgl. S. 185). An dieser Stelle aber schon einmal ein Hinweis: Das politische Engagement ist für die Stoiker kein Selbstzweck, sondern geht aus ihrem altruistischen Liebeskonzept hervor. Wir sollten versuchen, anderen Menschen dienlich zu sein, und eine aus Sicht der Stoiker sehr wirkungsvolle Möglichkeit dazu besteht darin, die politischen Regeln des Zusammenlebens mitzugestalten. Nun sind jedoch nicht alle Menschen für das politische Geschäft gemacht. Und manchmal sind die gesellschaftlichen oder persönlichen Umstände so gestrickt, dass es schwierig oder sogar unmöglich sein kann, sich zu engagieren. Diese Umstände haben auch die Stoiker nicht ignoriert. Sie hatten durchaus einen feinen Sinn für individuelle und sozial bedingte Unterschiede, und daraus ergibt sich, dass sie Raum für Lebensprojekte lassen, die nicht in der Politik beheimatet sind. Jeder

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sollte diejenigen Projekte wählen, die entsprechend seinen Talenten und Umständen für ihn angemessen sind. Wichtig ist nur, und das sollte man nicht vergessen, dass sowohl die Wahl als auch die Ausübung der Projekte vom stoischen Liebeskonzept geleitet wird. Es geht natürlich um individuelle Passung, aber es geht immer auch darum, die eigenen Projekte mit dem Motiv zu wählen und auszuüben, sich um andere Menschen zu kümmern, sodass ihr Leben in einer guten Art und Weise verlaufen kann.

Die ›gute Sache‹: die stoische Republik In ihrem Kern ist die stoische Philosophie in radikaler Weise altruistisch. Ein gerechter Mensch ist jemand, der sich bemüht, das Leben von anderen Menschen zu verbessern. Was aber spricht dafür, sein Leben in dieser Weise für andere aufzuopfern, und was soll das überhaupt konkret heißen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir tiefer in die Ethik eintauchen und uns klar machen, worum es den Stoikern in ihren ethischen Bemühungen schlussendlich geht. Tatsächlich ist es nämlich so, dass das Ziel, anderen Menschen zu helfen, für die Stoiker nur vordergründig das Endziel ist. Wenn wir etwas genauer in die ethische Theorie schauen, können wir sehen, dass die altruistische Liebe im Dienst eines zu erreichenden Endzustandes steht. Es geht nicht einfach darum, sich um andere zu kümmern. Vielmehr handelt es sich bei altruistischen Handlungen um ein Mittel, die ›gute Sache‹ zu erreichen. Einen Hinweis, worum es sich dabei handeln könnte, gibt uns Marc Aurel: »Erstens nicht planlos und nicht ohne Ziel [leben, meine Ergänzung, M. R.]. Zweitens sein Streben auf nichts anderes richten als auf das Ziel des Gemeinwohls.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, XII.20)

Was Marc Aurel an dieser Stelle äußert, ist mehr als eine Empfehlung. Er formuliert einen handlungsanleitenden Imperativ: Wir sollen bei der Wahl einer Handlung immer ein bestimmtes Endziel im Hinterkopf haben, nämlich das Wohl der menschlichen Gemeinschaft (griech. koinōnikai). Und das ist auch diejenige ›gute Sache‹, die für das gute Leben und die Tugend der Gerechtigkeit relevant ist. Einem gerechten

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Menschen geht es um das große Ganze, also darum – so lässt sich zuspitzen –, die menschliche Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die Redeweisen von der ›guten Sache‹, dem ›Wohl der menschlichen Gemeinschaft‹ oder der ›Verbesserung der menschlichen Welt‹ sind natürlich noch abstrakt und wenig aussagekräftig. Man möchte wissen, was die Stoiker darunter verstanden. Dafür kann man sich insbesondere ihrer politischen Philosophie zuwenden, in der die Vorstellung von der wohlgeordneten Gesellschaft eines der Kernstücke bildet. Das wohl seinerzeit und auch gegenwärtig prominenteste Werke in diesem Bereich stellt Zenons Republik dar. Das Problem ist nur: Die Interpretation dieses Hauptwerkes ist nicht ohne Herausforderungen, denn wir kennen Zenons Werk nur aus den Sekundärquellen (z. B. von Diogenes Laertius und Plutarch). Hinzu kommt, dass es auch von den stoischen Zeitgenossen nicht unkritisch gesehen wurde. Nicht wenige sahen darin ein unreifes Frühwerk, in dem Zenon noch unter dem Einfluss von Krates dem Kyniker stand. Wir müssen bei der Interpretation also sehr vorsichtig sein. Sicher können wir nicht alles, was überliefert ist, ohne genauere Analyse hinnehmen und auch nicht immer mit Bestimmtheit sagen, ob Zenons Ansichten den stoischen Common Sense widerspiegelten. Sicher und dem Inhalt nach stoisch ist, dass Zenon mit seiner Republik etwas anderes im Kopf hatte als Platon. Für diesen besteht die ideale Gesellschaft aus einer Klassengesellschaft, in der jeder Mensch seinen von der Natur vorgegebenen Platz kennt und einnimmt. In Zenons Republik hingegen werden die Menschen nicht in soziale Klassen eingeteilt, sondern als von Natur aus prinzipiell gleichberechtigte Mitglieder verstanden. Diese Ansicht vertreten auch andere Stoiker. Bei Musonius Rufus finden wir etwa die Frage, ob es Frauen erlaubt sein sollte, Philosophie zu studieren (Musonius Rufus, Lehrgespräche, 3 und 4). Seine Antwort war unter den damaligen Umständen einigermaßen verblüffend und mutet für demokratische Ohren sehr modern an. Er antwortet, dass Frauen »dieselbe Vernunft wie die Männer […] gebrauchen« (Musonius Rufus, Lehrgespräche, 3.1), sodass beide in der gleichen Weise zur Philosophie befähigt seien, ein tugendhaftes Leben zu führen. In einer solchen Gesellschaft unter Gleichen, so wird weiter

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über Zenons Ansicht berichtet, braucht es darüber hinaus kein Geld, keine Waffen, keine Gerichte und Tempel, und Männer und Frauen würden eine einheitliche Kleidung tragen. Es ist umstritten, ob Zenon damit eine Art anarchisches Utopia im Sinne hat, welches nur von stoischen Weisen bevölkert wird, oder einen Staat von stoischen Weisen, der jedoch – ähnlich wie bei Platon – durch grundlegende Gesetze und Institutionen reguliert wird. Belastbarer scheinen dagegen Hinweise zu sein, die sich nicht auf die äußere, sondern auf die innere Struktur der stoischen Republik beziehen. Einige wichtige Aufschlüsse erhalten wir durch Athenaios, der Zenons Vorstellungen im Rahmen einer Tischrede beschreibt. Demnach sei nach Zenon die Republik vor allem durch den erōs beseelt: »Eros ist ein Gott, der zur Erhaltung der Stadt beiträgt«, denn er ist der Gott der »Freundschaft und Freiheit«, welcher für Harmonie unter den Menschen sorgt (Athenaios, Gelehrte Gespräche bei Tisch, XIII.561c, zitiert nach: LS 67D, auch teilweise in: SVF 1.263). Zwar ist erōs in der traditionellen Überlieferung vor allem als der Gott der sexuellen Lust verstanden worden, aus dem Zusammenhang wird aber deutlich, dass Zenon ihn Athenaios zufolge eher als Vater einer platonischen, mehr geistigen Liebe sieht, die auf gegenseitiger Freundschaft und Bewunderung für das Gute basiert. Gut überliefert ist auch der Umfang der stoischen Republik. Dieser scheint nämlich nicht an typischen territorialen Grenzen orientiert zu sein. Die Stoiker meinen vielmehr, das Ziel müsse im Kern darin liegen, ihr Gesellschaftsmodell auf die gesamte Menschheit zu übertragen. Plutarch berichtet etwa über die Stoiker, sie seien der Ansicht, dass »wir nicht mehr nach Städten und Gemeinden wohnen sollen, jede durch eigene Gerechtsame getrennt, sondern dass wir alle Menschen für unsere Mitbürger und Landsleute halten sollen, auf dass eine Lebensweise, eine Ordnung herrsche, wie bei einer Herde, die gemeinsam nach gleichem Gesetz auf einer Trift weidet« (Plutarch, Von Alexanders des Großen Glück oder Tapferkeit, 329a–b). So gesehen scheint es den Stoikern damit nicht nur um eine partikulare Lebensweise in engen territorialen Grenzen zu gehen, sondern um das Leben in einer – wie sie es selbst formulieren – »Kosmopolis« (griech. kosmo-

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polis; übers. »kosmos«: Welt, Ordnung; »polis«: Stadt, Gemeinschaft). Der Begriff »Kosmopolis« stammt vermutlich aus der kynischen Tradition und ist von Krates überliefert (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VI.63). Er bezeichnet eine ideale globale ›Weltgemeinschaft‹, die ohne Stadt- und Staatsgrenzen auskommt. Gemäß der stoischen Vorstellung handelt es sich hierbei um ein politisches Ordnungsgefüge, das ausschließlich von stoischen Weisen bevölkert wird. Eine solche Republik zu schaffen scheint das erklärte und finale Ziel der Stoiker zu sein.

Die menschliche Natur und die oikeiōsis-Lehre Man kann über die Stoiker sagen, was man möchte, aber einen besonderen Sinn für andere und die Gemeinschaft kann man ihnen gewiss nicht absprechen. Dass es sich hierbei für sie um eine besondere Aufgabe handelt, ergibt sich allerdings nicht aus der alltäglichen Beobachtung. Die Stoiker blicken nicht auf die Welt und sehen: »Viele Menschen gehen darin auf, dass sie die Welt besser machen, daher muss es wohl eine wichtige Sache sein.« Das ›Aufgehen‹ oder ›Sich-gutFühlen‹ ist für sie zwar nicht unwichtig, letztendlich jedoch nicht die Begründung, warum sie ihre Mühen in die Realisierung einer stoischen Republik stecken. Der Grund, warum Stoiker morgens aufstehen, ist ein anderer. Er besteht darin, durch den Einsatz für die ›gute Sache‹ ein Leben im Einklang mit der Natur zu realisieren. Das macht etwa Seneca deutlich: »Die Natur hat uns als Blutsverwandte geschaffen […]. Unsere Gemeinschaft gleicht einem Bogen aus Steinen, der zusammenbräche, wenn die Steine einander nicht stützten, und eben dadurch gehalten wird.« (Seneca, Briefe, 95.52–53)

Seneca hebt hervor, dass es für die Stoiker keine optionale Zutat darstellt, der Natur zu folgen und anderen Menschen zu helfen. Die Mitmenschen sind auf uns angewiesen, und so würde das gesamte System wie ein unvollständiger Steinbogen zusammenfallen, wenn wir unserer Natur nicht nachkommen. Für uns selbst ist es aber auch von Nachteil. Es wäre nämlich so, wie Marc Aurel in einer weiteren Metapher aus-

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führt, als würden wir einen Ast von seinem Stamm abhacken. Er ist mit einem Mal isoliert und kann seine Aufgabe für das Ganze nicht mehr erfüllen (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, XI.8). Das schadet einerseits dem Baum, andererseits auch dem Ast, der jetzt ohne Funktion dasteht und kein Teil des Ganzen mehr ist. Und für die Stoiker sind das sehr gute Gründe, weiter an ihren altruistischen Projekten zu arbeiten. Nun stellt sich allerdings eine ziemlich naheliegende Frage: Wie kommen die Stoiker darauf, dass genau die Realisierung der stoischen Republik diejenige Aufgabe von Menschen ist, die die Natur für sie vorgesehen hat? Eine Antwort auf diese Frage geben sie in ihrer berühmten und auch berüchtigten oikeiōsis-Lehre. Berühmt ist sie, weil viele Darstellungen der stoischen Ethik mit dieser Lehre beginnen und nicht wenige Interpreten in ihr den Kern des gesamten Stoizismus sehen. Andererseits ist sie berüchtigt, weil sie die Interpreten vor besondere Schwierigkeiten stellt, denn ihr Zusammenhang mit den anderen Theoriebausteinen der Ethik ist nicht immer eindeutig, und sie wird nicht in allen Darstellungen in der gleichen Weise beschrieben. Versuchen wir uns daher langsam heranzutasten und beginnen mit der Terminologie. Der Begriff oikeiōsis meint am ehesten so etwas wie »Aneignung« oder »Orientierung«, wobei im griechischen Terminus auch eine positive Wertung mitschwingt. Das Gegenstück wäre alloiōsis, was mit »Entfremdung« und »Entfernung« übersetzt werden kann und eher negativ konnotiert ist. Eine oikeiōsis liegt für die Stoiker dann vor, wenn ein Lebewesen sich etwas erfolgreich angeeignet hat oder sich erfolgreich an etwas orientiert. Eine alloiōsis besteht dagegen, wenn es sich von etwas entfremdet oder sich von ihm entfernt. Die entscheidende Frage ist nun, was dieses »etwas« ist, an dem sich ein Lebewesen orientieren soll. Für die Stoiker kann dies nur etwas sein, das dem Wesen selbst zugehörig ist und mit ihm verbunden ist. Das macht nämlich die Vorsilbe »oik-« deutlich, die im Wesentlichen eine Eigentümerschaft andeutet, also das, was zu einem gehört. Im stoischen Sprachgebrauch lässt sich das so verstehen, dass die Stoiker die Forderung aufstellen, uns dasjenige anzueignen, was uns bereits gehört und was bereits in unserem Besitz ist. Was das genau ist, versuchen sie durch einen Blick auf die Naturgeschichte der Lebewesen zu klären.

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Gibt es vielleicht etwas, das alle Lebewesen antreibt, also immer schon zu ihnen gehört? Tatsächlich gibt es das. Und es ist sogar etwas, das die Stoiker sehr modern erscheinen lässt. Diogenes Laertius berichtet über ihre Ansicht: »Der erste Trieb, so sagen sie, der sich in einem lebenden Wesen regt, sei der der Selbsterhaltung; dies sei eine Mitgabe der Natur von Anbeginn an, wie Chrysipp im ersten Buch über die Endziele sagt mit den Worten: für jedes lebende Wesen sei seine erste ihm von selbst zugewiesene Angelegenheit sein eigenes Bestehen sowie das Bewusstsein davon.« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.85)

Am Beginn allen Lebens finden die Stoiker also eine Gemeinsamkeit. Sie gehen davon aus, dass die Natur alle Lebewesen mit einem Drang zur Selbsterhaltung ausgestattet hat. Damit wenden sie sich insbesondere gegen die Epikureer, die annehmen, man könne am Verhalten von Kindern zeigen, dass der erste Impuls in einem Streben nach Lust und dem Vermeiden von Schmerz besteht. Nach ihnen erweise sich daher die Lust als natürliches Gut für den Menschen (vgl. Cicero, Das höchste Gut und das schlimmste Übel, I.29–30). Dagegen spricht für die Stoiker jedoch ein Blick in die Lebenswirklichkeit. Ein Kind übe beispielsweise den aufrechten Gang, weil die aufrechte Haltung seine natürliche Konstitution sei und damit der Selbsterhaltung diene. Und eine Schildkröte drehe sich nicht vom Rücken auf den Bauch, weil sie Schmerzen vermeiden will (auf dem Rücken habe sie keine!), sondern weil sie damit ihre natürliche Lage wiedererlangt und sich gegenüber ihrer Umwelt behaupten kann (vgl. Seneca, Briefe, 121.7–8). Aus der Beobachtung der Natur lässt sich also für die Stoiker klar erkennen, dass die Selbsterhaltung gegenüber der Lust vorrangig sei. Entscheidend ist für sie nun, dass der Drang zur Selbsterhaltung unterschiedliche Formen annehmen kann, wobei jede neue Stufe als Zusatz gedeutet wird und die anderen einschließt. Pflanzen erhalten sich durch vegetative Prozesse, Tiere haben ebenfalls vegetative Prozesse, aber zusätzlich triebhaftes Verhalten. Menschen wiederum erhalten sich durch vegetative Prozesse, triebhaftes Verhalten und eine weitere wichtige Sache, nämlich durch ihre artspezifische Vernunft.

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Was jedoch ist die Vernunft und was hat sie mit der Selbsterhaltung zu tun? Für die Stoiker scheint die menschliche Vernunft vor allem eine Fähigkeit zu sein, mit der sie die Möglichkeit verbinden, das eigene Leben nach Gründen auszurichten (vgl. Cicero, Vom pflichtgemäßen Handeln, I.11–12). Anders als Tiere müssen Menschen nicht reflexhaft und instinktiv auf Umweltreize reagieren, sondern können diese auch zum Gegenstand einer Prüfung machen. Das ist für die Stoiker keine bloß logische Möglichkeit. Menschen sind nicht gleichgültig gegenüber der Möglichkeit, welchen Weg sie einschlagen. Es handelt sich um einen natürlichen Drang. Menschen sind Wesen, die danach streben, sich auch an der Vernunft, also an guten Gründen, zu orientieren. Und wenn sie das in einer bestmöglichen Weise tun, sprechen die Stoiker von einer Selbsterhaltung der Vernunft. Die Vernunft erhält sich selbst, indem sie ihre Funktion ausfüllt: Sie tut, wozu sie da ist. Sie hilft den Menschen, sich an Gründen zu orientieren. Damit kommen wir zur entscheidenden Pointe, denn die Stoiker behaupten nicht nur, dass Menschen zur Vernunft neigen, sondern auch, dass sie dazu neigen, dem Leben durch die Vernunft einen ganz bestimmten Inhalt zu geben. Dieser besteht darin, im stoischem Sinne tugendhaft zu handeln. Die Tugend wird damit zu einem durch die Natur vorgegebenen Streben, sodass gelten kann: »[D]ie Natur führt uns zur Tugend« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.87). Oder nochmals anders formuliert: Im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren hat die Natur die Menschen so ausgestattet, dass sie sich – wenn nichts dazwischenkommt – zu weisen, gerechten, mutigen und selbstbeherrschten Menschen entwickeln. Das ist natürlich keine These, die sich von selbst nahelegt. Ich habe im vorigen Kapitel schon darauf hingewiesen, dass man die Vorstellung der Stoiker für zu optimistisch halten kann (vgl. S. 88). Jedoch muss man auch sehen, dass es in diesem Kapitel nicht um alle vier Kardinaltugenden geht, sondern ausschließlich um die Tugend der Gerechtigkeit und damit ›nur‹ um die Frage, ob es eine natürliche Veranlagung des Menschen zum altruistischen Handeln gibt. Hierauf haben Philosophen in nahezu allen Zeitperioden ausführliche Antworten gegeben. Sie alle zu Wort kommen zu lassen, würde ein neues

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Buch erfordern. Ich denke aber auch nicht, dass die philosophische Stimme für diese Frage besonders wichtig ist. Vielmehr scheint es mir eine weitgehend empirische Angelegenheit zu sein, ob und in welcher Hinsicht eine altruistische Veranlagung des Menschen besteht. Und wenn man sich diese Forschungslandschaft einmal anschaut, erhält man ein gemischtes Bild, wobei insbesondere in der jüngeren Vergangenheit einige Arbeiten erschienen sind, die gerade die altruistische Veranlagung in den Vordergrund rücken.13 Damit möchte ich nicht schlussfolgern, der empirische Streit sei entschieden. Ich möchte nur sagen: Dass es überhaupt belastbare und ernstzunehmende Stimmen gibt, die dem Menschen einen natürlichen Drang zum altruistischen Handeln zuerkennen, kann als Indiz gesehen werden, dass die Stoiker mit ihrer Vermutung nicht fernab jedweder empirischen Überzeugungskraft liegen. Natürlich braucht es noch weitere Belege. Aber dass die Stoiker eine von vornherein unplausible und viel zu optimistische Anthropologie haben, kann man angesichts der empirischen Datenlage, so meine ich, nicht behaupten. Allerdings möchte ich den Anspruch der Stoiker auch nicht kleinreden. Es ist durchaus nicht trivial, davon zu sprechen, dass Menschen eine natürliche Veranlagung haben, sich um andere Menschen zu sorgen, insbesondere, wenn man noch ihre allgemeine Sorge um die Menschheit hinzunimmt. Die Stoiker meinen ja nicht nur, dass wir unseren nächsten Verwandten und vielleicht auch unseren Freunden mit Wohlwollen begegnen sollten, sondern allen Menschen in der gleichen Weise. Entsprechend muss sich für diese expansive Haltung ebenso ein Hinweis in der menschlichen Natur finden. Und die Stoiker finden ihn auch: Zwar ist es so, dass sich das Wohlwollen zunächst auf die nächsten Angehörigen bezieht. So schreibt etwa Epiktet, es sei natürlich für die Eltern, sich um ihr Kind zu kümmern, wenn es sich verletzt habe (vgl. Epiktet, Unterredungen, I.23). Es gibt jedoch ebenfalls ein natürliches Wohlwollen, das auf alle Menschen und damit auf die gesamte Menschheit ausgerichtet ist. Chrysipp soll sogar ein Werk mit vier Büchern geschrieben haben, welches auf dieser Ansicht basiert und die Konsequenzen erläutert, zu der das umfangreiche natürliche Wohlwollen gegenüber allen Menschen führt (vgl. Diogenes

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L ­ aertius, Leben und Meinungen, VII.130). Seine Ansichten beinhalten unter anderem, dass der Stoiker politische Verantwortung übernimmt und sich damit letztendlich um die Realisierung der stoischen Republik bemüht. Wir sind, so können wir bei Cicero lesen, »von Natur aus geneigt, Vereinigung, Gesellschaften und Staaten zu bilden« (Cicero, Das höchste Gut und das schlimmste Übel, III.64). Kurzum: Nicht nur der stoische Altruismus in Bezug auf andere Menschen, sondern auch die Sorge um die gerechte menschliche Gesellschaft haben ihren Ursprung in der menschlichen Natur oder genauer gesagt: im menschlichen Drang nach Selbsterhaltung der eigenen Vernunft. Wenn wir diesem Drang folgen, leben wir im Einklang mit uns selbst. In diesem Fall war die oikeiōsis, also die Aneignung desjenigen, was zu uns gehört, erfolgreich.

Was können wir von der Ethik übernehmen? Die Frage danach, welche Gesichtspunkte der stoischen Ethik heute noch vertretbar sind, wird in Philosophiekreisen heiß diskutiert. Ich möchte mir nicht anmaßen, eine nur halbwegs befriedigende Antwort zu geben. Andererseits besteht ein erklärtes Ziel dieses Buches darin, die Frage zu beantworten, was ein Stoiker im 21. Jahrhundert sagen, denken und wie er handeln würde. Ich kann also mit meinen Ansichten über die stoische Ethik und ihre Überzeugungskraft auch nicht vollständig hinter dem Berg halten. Ich möchte daher zumindest andeuten, wo ich die größte Herausforderung sehe und wie man mit ihr umgehen könnte. Die weitaus größte Herausforderung ergibt sich aus meiner Sicht daraus, dass die Stoiker die Ethik in einen sehr engen systematischen Zusammenhang mit der Physik stellen. Die ethischen Grundbausteine werden durch metaphysische Vorstellungen darüber informiert und gerechtfertigt, wie die Welt funktioniert und sich entwickelt, welche Lebewesen in ihr vorkommen und was diese Lebewesen auszeichnet. Das mündet bei den Stoikern in einen Dreiklang von Gerechtigkeit, menschlicher Natur und Naturgeschichte. Oder einmal ausformuliert: Wenn wir wissen wollen, warum wir gerechte Menschen sein sollten, müssen wir gemäß den Stoikern auf die Natur des Menschen blicken. 128

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Was wiederum den Menschen in seinem Kern ausmacht, wird in der oikeiōsis-Lehre festgestellt. Diese Lehre informiert uns unter anderem darüber, wie die Naturgeschichte des Menschen verlaufen ist und welche Merkmale wir als Menschen in welchen Entwicklungsstadien ausbilden. An diesen Zusammenhängen kann man eine ganze Reihe von Dingen kritisieren. Zunächst zur menschlichen Natur: Warum sollte man eigentlich davon ausgehen, die menschliche Natur habe eine Art ›Essenz‹, einen Wesenskern? Ist es nicht problematisch, aus der Beschreibung der eigenen Natur eine Norm ableiten? Wieso sollte man der eigentlichen Natur folgen und ihr nicht zuwiderhandeln? Ich halte alle diese Fragen für wichtig und bedenkenswert. Ich glaube jedoch, sie lassen sich bei näherem Nachdenken auf eine konstruktive Weise beantworten. Die menschliche Natur ist meines Erachtens eine durchaus attraktive Variable, um uns dabei zu helfen herauszufinden, was ein gerechter Mensch ist und wie wir davon ausgehend handeln sollen. Die Stoiker sind in dieser Hinsicht, so meine ich, jedenfalls nicht in offensichtlicher Weise auf dem Holzweg. Dass man dennoch eine erhebliche Menge an Tinte in den Problemkomplex stecken muss, ist ebenfalls klar. Damit zum aus meiner Sicht dicksten Brett, das die Stoiker bohren müssen. Es bezieht sich auf die Rolle der Naturgeschichte in der stoischen Ethik. Ist es wirklich angemessen, bei der Suche nach der menschlichen Natur auf eine Naturgeschichte des Menschen zurückzugreifen? Ich habe da meine Zweifel, weil ich vermute, man liest mit dieser Strategie in die Naturgeschichte etwas hinein, das man bereits vorher als wahr vorausgesetzt hat. Das ergibt sich schon alleine daraus, dass man von irgendeinem Standpunkt aus auf die Entwicklung des Menschen blickt. Man muss eben wissen, worauf man achten muss, wenn man sich einen Entwicklungsprozess anschaut. Die Stoiker achten vor allem auf die menschliche Vernunft und die eigene Selbsterhaltung. Andere Traditionen haben in der Philosophiegeschichte auf andere Aspekte geachtet, zum Beispiel auf die Emotionalität des Menschen, seine Sprachfertigkeit oder – negativ gewendet – seine Grausamkeit oder Zerstörungswut. Mit anderen Worten: Das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen, bevor die Stoiker die Naturgeschichte des Menschen

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zu Rate ziehen, um die menschliche Natur, die Vernunft und daran anschließend die Tugenden (in diesem Kapitel: die Gerechtigkeit) zu rechtfertigen. Die Stoiker wissen gewissermaßen schon vorher, worauf es ankommt, und interpretieren dann die Naturgeschichte so, dass sie zu ihren Vorannahmen passt. Das ist natürlich, wenn es stimmen sollte, ein harter Wirkungstreffer für die Stoiker. Es ist aber keiner, so vermute ich, von dem sie sich nicht erholen können. Das sieht man, wenn man die Kritik konstruktiv wendet und sich fragt, welche Rolle ein Blick auf die Naturgeschichte dann noch im Stoizismus haben kann. Zwar können wir sie alleine nicht mehr verwenden, um herauszufinden, was die ›wahre‹ menschliche Natur ist und davon ausgehend das tugendhafte Leben begründen, aber das muss nicht heißen, ihr gar keine Relevanz mehr zuzuerkennen. Eine mögliche Rolle könnte etwa darin bestehen, den Blick in die Naturgeschichte als einen Aspekt zu verwenden, um unsere Annahmen über die menschliche Natur stimmig oder wie man manchmal auch sagt: kohärent zu machen. Die Grundidee ist dann die folgende: Wenn wir wissen wollen, was die menschliche Natur ist, haben wir immer schon intuitive Vorannahmen darüber, was den Wesenskern ausmacht. Diese Vorstellungen können wir dadurch absichern, dass wir sie hinsichtlich ihrer Passung mit anderen allgemeinen Vorstellungen abgleichen. Dazu gehören kulturelle Vorstellungen über die menschliche Natur, aber eben auch solche, die naturgeschichtlich inspiriert sind. So gesehen informiert uns der Blick in die Naturgeschichte nicht darüber, was die menschliche Natur ist, sondern hilft uns, diejenigen Vorstellungen, die wir bereits haben, in ein Netz von anderen Überzeugungen einzubetten. Sie ist dann eine mögliche Quelle zur Rechtfertigung unseres ethischen Standpunktes über die menschliche Natur. Das ist sicherlich weniger, als die Stoiker im Sinn hatten, die die Naturgeschichte als die zentrale Quelle ansahen. Doch ist es aus meiner Sicht immer noch ein Weg, um dem stoischen Rekurs irgendetwas abzugewinnen und in eine nachvollziehbare Theoriebildung zu integrieren. Aber ist das dann noch Stoizismus? Ich denke, es handelt sich um eine nicht unerhebliche Modifikation. Allerdings ist es vielleicht

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manchmal auch notwendig, etwas weiter zu sehen als die antiken Vorbilder. Derek Parfit, einer der bekanntesten Ethiker der letzten Jahrzehnte, nimmt diesen Gesichtspunkt auf, wenn er sich in seiner eigenen Theoriebildung auf eine bekannte Metapher von Issac Newton bezieht: »Wir sollten von den großen Philosophen lernen, dann aber versuchen, weitere Fortschritte zu machen. Wenn wir auf den Schultern von Riesen stehen, sind wir möglicherweise in der Lage, weiter zu sehen als sie selbst.« (Parfit, Personen, Normativität, Moral, S. 292)

Die Stoiker waren zweifellos intellektuelle Riesen. Sie haben uns mit ihrer Ethik ein Fundstück hinterlassen, das einige Überzeugungskraft besitzt. Dennoch gebietet es die philosophische Suche nach Wahrheit, auch ein solches Fundstück, wenn es in die Jahre gekommen ist, zu polieren und neu aufzubereiten – und vielleicht dann so, dass es ein Stück weit anders aussieht. Wir stehen zweifellos auf den Schultern der Stoiker und haben dadurch die Möglichkeit, weiter zu sehen, als sie es konnten.

4.2 Was wir üben müssen Die Übungen des Handelns: Was ist das? Die Stoiker empfehlen uns mit der Tugend der Gerechtigkeit eine Haltung, die vor allem auf andere Menschen ausgerichtet ist. Wir sollen die Absicht haben, anderen Menschen zu helfen, vielleicht sogar möglichst vielen von ihnen. Das sollten wir tun, weil wir dadurch die menschliche Welt zu einem besseren Ort machen – wir arbeiten daran, die stoische Republik Wirklichkeit werden zu lassen. So weit die Theorie. Die Praxis sieht, wie wir alle nur zu gut wissen, häufig anders aus. In vielen Fällen sorgen wir uns um uns selbst oder – wenn wir über das eigene Schicksal etwas hinwegsehen können – um die nächsten Verwandten und Freunde. Ganz besonders gilt das für Situationen, in denen wir unliebsamen und ›anstrengenden‹ Menschen gegenüber131

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treten. Wem fällt es nicht schwer, einem cholerisch agierenden und rücksichtslosen Gegenüber tatsächlich in der gleichen Weise Wohlwollen entgegenzubringen wie einem engen Freund? Dieser Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit sind auch die Stoiker in ihrer Alltagspraxis begegnet. So bemerkt etwa Epiktet, dass viele Respekts- und Solidaritätsbekundungen allenfalls Lippenbekenntnisse seien. Die meisten Menschen würden sich wie Hunde verhalten, die gegenseitig ihr Wohlwollen bekunden, aber übereinander herfallen, sobald ein Stück Fleisch in die Mitte geworfen wird. So mögen ein Vater und ein Sohn sich ihres Wohlwollens versichern, doch sobald Land und Geld zwischen ihnen stehen, werden wir sehen, wie brüchig das altruistische Band zwischen ihnen ist (vgl. Epiktet, Unterredungen, II.22). Diese empirische Vermutung von Epiktet mag vielleicht ein wenig überzogen sein. Nicht alle Menschen sind so eigensinnig und vor allem nicht in jeder Situation. Bis zu einem gewissen Grad können wir seine Vermutung aber nachvollziehen – und manch einer hat derlei Streitigkeiten vielleicht auch schon erlebt. In jedem Fall muss man zugegeben, dass es nicht leicht ist, in jeder Situation ein im stoischen Sinne gerechter Mensch zu sein. Mit ihrem Altruismus für alle und ihrem Engagement für die stoische Republik legen die Stoiker die Latte sehr hoch, sodass uns die Realität recht schnell einzuholen droht. Wie kann man diesem Umstand entgegenwirken? Die stoische Antwort lautet, dass wir uns im gerechten Handeln üben müssen, um nicht vom stoischen Weg abzukommen. Die Stoiker geben uns dafür sogar einen eigenständigen Bildungsbereich an die Hand, die Übungen des Handelns. Dieser Bereich betrifft, so Epiktet, »die Lehre von den gebotenen Handlungen; denn ich darf nicht gefühllos sein wie eine Statue; sondern ich muss die natürlichen und hinzugekommenen Verhältnisse wahren: als frommer Mensch, als Sohn, als Bruder, als Vater und als Bürger« (Epiktet, Unterredungen, III.2). Die Übungen des Handelns haben, wie der Name schon verrät, weniger zur Aufgabe, dem Lernenden die stoische Theorie verständlich und nachvollziehbar zu machen – das ist die Aufgabe der Ethik –, sondern ihn mithilfe von praktischen Übungen dazu zu befähigen, die stoische Theorie in die Praxis umzusetzen. Wir

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sollen, so der Anspruch, die stoische Gerechtigkeit nicht nur auf dem Papier definieren und begründen können, sondern sie im Alltag auch leben.

Rollenvorbilder und der stoische Weise Wie bleiben wir auf dem stoischen Kurs, wenn wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen? Eine Empfehlung der Stoiker lautet: »Suche dir Vorbilder, die die Lage, in der du dich befindest, schon gemeistert haben!« Hierbei haben sie sogar ein bestimmtes Vorbild im Kopf, nämlich die stoischen Weisen. Wir sollen, wie Marc Aurel uns rät, die »leitenden Prinzipien« dieser Vorbilder untersuchen und »was die Klugen meiden oder erreichen wollen« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IV.38). Die stoischen Weisen sind für die Stoiker ein Idealbild, zu dem wir aufschauen und an dem wir uns orientieren können. Sie sind wie Justus Lipsius, ein frühneuzeitlicher Neostoiker, es ausdrückt, wie Lichter in einer dunklen Welt: »Denn sie fordern mit ihrem Beispiel andere Menschen zu ebensolchem Handeln auf und zeigen die Grenzwege, auf denen sie einherschreiten sollen« (Justus Lipsius, Von der Standhaftigkeit, II.8). Vor diesem Hintergrund liegt es daher nahe, sich im Handeln an einer solchen Figur zu orientieren und sich zu fragen: »Was würde der stoische Weise in meiner Situation tun?«, »Was kann ich vom stoischen Weisen lernen?« oder »Wie würde er an meine Situation herangehen?« Bestimmte Personen als Rollenmodell zu verwenden, war zur Zeit der Stoiker eine verbreitete Praxis. So hat insbesondere Pierre Hadot in seinen exegetischen Studien darauf hingewiesen, dass die Bedeutung von Rollenmodellen, insbesondere des Weisen, für die eigene Lebensführung sowohl in der griechischen als auch der römischen Lebenskunst kaum zu überschätzen ist. Er schreibt: »Seit Beginn der griechischen Philosophie erscheint der Weise als eine lebendige und konkrete Norm, wie Aristoteles in einem Abschnitt seines ›Protreptikos‹ vermerkt: ›Wer kann uns ein genauerer Maßstab und Richtpunkt für das Gute sein als der Weise?‹« (Hadot, Philosophie als Lebensform, S. 136)

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Die Stoiker grenzen ihren stoischen Weisen jedoch in einigen Hinsichten von der Tradition ab. Ein äußerst markantes Merkmal besteht darin, dass sie ein besonders anspruchsvolles Ideal formulieren (vgl. dazu auch S. 41 und S. 162). Der Weise weiß, wie und warum er so und nicht anders leben soll – und zwar immer und in jeder Situation. Er befindet sich in allen Lebenslagen »in Übereinstimmung mit der richtigen Vernunft und mit der Tugend«, wie Stobaeus die Ansicht der Stoiker wiedergibt (Stobaeus, Anthologie, 2.66-67, zitiert nach: LS 61G, auch in: SVF 3.560). Es ist klar, dass ein solcher Mensch sehr selten in der Realität anzutreffen ist, denn in der Regel machen Menschen Fehler. Vor allem die älteren Stoiker sahen daher sogar davon ab, reale Beispiele zu nennen, sondern beschränkten sich darauf, den Weisen als ein rein hypothetisches Ideal zu definieren oder ihn als ein äußerst seltenes Exemplar zu bestimmen (vgl. Alexander von Aphrodisias, Über das Schicksal, 199.14–22, auch in: LS 61N, oder teilweise in: SVF 3.658). Die jüngeren, römischen Stoiker waren hingegen etwas zuversichtlicher. In Senecas Werk finden wir Hinweise darauf, dass Sokrates, Zenon, Kleanthes und Cato als ideale Stoiker betrachtet wurden. Letzterer war für Seneca sogar der Inbegriff der Tugend, sodass er sich in einer rhetorischen Übertreibung fragte, ob nicht Cato gar besser sei als der stoische Weise (vgl. Seneca, Über die Standhaftigkeit des Weisen, VII.1). Das ist selbstverständlich nicht möglich, wenn die Tugend bereits die bestmögliche Verfassung des Charakters definiert. Es zeigt aber, welche Vorbildfunktion Cato hatte. Er war ein lebendes Beispiel für den stoischen Weisen. Und das sah nicht nur Seneca so, sondern auch andere Rezipienten. Cicero etwa lobt Cato für seinen Stoizismus und hebt ihn als perfektes Anschauungsmaterial für Schüler heraus (vgl. Cicero, Pro Murena, 62). In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Lucan, ein der Stoa zugewandter Poet, der Cato sogar als gottähnlich beschreibt und vorschlägt, ihn eines Tages zum Schutzpatron von Rom zu machen (vgl. Lucan, Über den Bürgerkrieg, 9.601–4). Eine ähnliche Prominenz wie Cato erreichte wohl nur noch Sokrates, der insbesondere in der griechisch sprechenden Welt als Beispiel für den stoischen Weisen fungierte. Philodemos berichtet, einige der Stoiker hätten »Sokratiker« genannt werden wollen (vgl. Philodemos,

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De Stoicis, 13.3–4).14 Auch die Schiffbruchgeschichte von Zenon kann angeführt werden. Wir erinnern uns (vgl. S. 27): Zenon hatte sich nach seinem Schiffbruch in Athen mit der Lebenskunst des Sokrates beschäftigt, die ihn nachhaltig beindruckte. So sehr, dass er gleich auf dem Markt fragte: »Wo finde ich Menschen wie Sokrates?« Er wollte offensichtlich von einem Rollenmodell lernen, wie es ist, wie Sokrates zu leben. Dass das in jedem Fall kein einfaches Unterfangen sein würde, habe ich schon betont. Zu leben, wie ein stoischer Weiser es tun würde, ist – selbst in einer optimistischen Deutung der Wahrscheinlichkeiten – nur den wenigsten von uns möglich. Warum aber bürden die Stoiker uns ein solch hohes, für die meisten sogar unerreichbares Ideal auf? An dieser Frage hat sich bereits in der Antike eine heftige Debatte entzündet. Einem Ideal anzuhängen, welches man aller Voraussicht nach nicht erfüllen kann, haftet der Hauch der Vergeblichkeit und der Absurdität an. Und an diesem Vorwurf ist auch etwas dran. Ich glaube jedoch, dass man mit etwas Wohlwollen zwei Dinge zur Ehrenrettung anführen kann. Zum einen scheint das hohe Ideal bei näherem Hinsehen gar nicht so kontraintuitiv zu sein, sondern eigentlich unsere Vorstellungen von ›großartigen‹ und ›außergewöhnlichen‹ Leistungen recht gut widerzuspiegeln. Denn solche Leistungen verdienen, wie Seneca bemerkt, gerade deshalb so großes Lob, weil sie schwer zu erreichen sind (vgl. Seneca, Über die Standhaftigkeit des Weisen, VII.1). Wäre die Tugend nur in einem Handstreich zu erlangen, würden wir sie auch nicht mit so positiven Attributen belegen. Zum anderen können wir das hohe Ideal der Stoiker vielleicht sogar positiv deuten, nämlich nicht als Zumutung, sondern als Übung in Bescheidenheit und Demut (vgl. auch S. 41). Es ist schwierig, so zu leben, wie Sokrates es getan hat, und wahrscheinlich ist es auch unmöglich, ihm in allen Facetten nachzueifern. Diese Erkenntnis muss jedoch nicht in Bedauern oder vielleicht sogar Frustration münden, sondern kann als eine Einsicht in die eigene Unvollkommenheit gesehen werden. Es gibt – bis auf ganz wenige Ausnahmen – keine Wesen, die faktisch ohne Fehler durchs Leben gehen. Epiktet drückt es so aus:

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»So ist Sokrates zur Vollkommenheit gelangt, indem er sich bei jedem Vorfall dazu anhielt, auf nichts anderes als auf die Vernunft zu achten. Du bist freilich noch kein Sokrates, aber du solltest doch leben wie einer, der ein Sokrates werden will.« (Epiktet, Handbüchlein, 51)

Darüber hinaus mag die Akzeptanz der eigenen Fehlerhaftigkeit nennenswerte psychologische Effekte haben. Sie kann sicherlich ein gutes Gegengift gegen allzu hohe an sich selbst gerichtete Perfektionsansprüche sein. Ergibt es etwa Sinn, einem Perfektionsideal anzuhängen, dessen Erreichbarkeit außer Frage steht? Umgekehrt sollte man aber auch nicht vergessen, dass uns die Stoiker mit ihren Überlegungen zur eigenen Unvollkommenheit nicht zum Müßiggang einladen. Sie raten uns vielmehr, uns am Best-practice-Ideal zu orientieren, ohne jedoch der unrealistischen Forderung nach Unfehlbarkeit aufzusitzen. Das heißt: Wir sollten uns mit all unseren Kräften bemühen, die stoische Republik zu realisieren, aber wenn wir Fehler machen und darum unser Ziel nicht erreichen, ist das nur menschlich. Ganz unabhängig von der Diskussion über die Erreichbarkeit des Ideals war eine Sache für die Stoiker dennoch ausgemacht: Es stand außer Frage, dass es wichtig und gut ist, das Ideal des stoischen Weisen für die eigene Übungspraxis zu verwenden. Die Reflexion über den Weisen gibt uns, wie Epiktet anführt, einen ethischen Kompass an die Hand: »Wenn du dich mit jemandem in eine Unterhaltung einlassen willst, insbesondere mit einer hochgestellten Persönlichkeit, so stell dir vor, was Sokrates oder Zenon in diesem Fall getan hätten; so wirst du nicht in Verlegenheit kommen, wie du dem anderen in gebotener Weise begegnen sollst.« (Epiktet, Handbüchlein, 33)

Hinzu kommt, dass den Stoikern auch bewusst war, dass Rollenmodelle eine besonders effektive Lernstrategie darstellen, denn »lang [ist, meine Einfügung, M. R.] der Weg […] über Belehrung, kurz und wirksam über Beispiele« (Seneca, Briefe, 6.5). Das impliziert natürlich, dass wir uns die Lebensgeschichten der Vorbilder aneignen müssen. Wie soll ich wissen, was Sokrates mir rät, wenn ich nicht weiß, wer Sokrates

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war? Die Stoiker schlagen in diesem Zusammenhang ein ›Eintauchen‹ in die Rolle vor. Hierbei geht es aber nicht nur darum, kognitiv belehrt zu werden. Es geht vor allem darum, selbst aus der Beobachtung des Verhaltens des Vorbilds zu lernen. Diesen Punkt betont etwa Seneca, wenn er davon spricht, in welcher Weise Kleanthes von seinem Vorbild Zenon gelernt hat: »Den Zenon hätte Kleanthes nicht verkörpern können, wenn er ihn nur gehört hätte: an seinem Leben hatte er Anteil, in seine geheimen Gedanken hatte er Einblick, beobachtet hat er ihn, ob er nach seiner Regel lebe.« (Seneca, Briefe, 6.6)

Ein Beispiel für den Versuch, sich die Eigenschaften eines Vorbilds anzueignen, stammt aus einer Quelle, die man manchmal überliest – dem ersten Kapitel aus den Selbstbetrachtungen von Marc Aurel. Darin findet sich eine Reihe von Danksagungen, die manchmal lediglich als verlängertes Vorwort gedeutet werden und daher den Leser nur von den ›wirklichen‹ Meditationen abhalten. Das ist aus meiner Sicht ein Fehler, denn wir haben es hier mit einem außergewöhnlich klaren Beispiel zu tun, wie sich die Stoiker die Kontemplation des Weisen vorstellten. In der längsten Sektion des Kapitels widmet sich Marc Aurel den Tugenden seines Adoptivvaters und Lehrers Antoninus Pius. Er beginnt mit den folgenden Worten: »Mein Adoptivvater war ein Vorbild der Nachgiebigkeit und des unbedingten Festhaltens an dem, was er nach sorgfältiger Prüfung als richtig erkannt hatte, außerdem der Unempfänglichkeit gegenüber äußerem Ruhm, der Arbeitsfreude und Beharrlichkeit. Er hatte ein offenes Ohr für alle, die etwas Gemeinnütziges vorzuschlagen hatten. Er ließ sich nicht davon abbringen, jedem das zuzuteilen, was er verdiente.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, I.16)

Marc Aurel nennt in der Folge zahlreiche weitere Lektionen, die er von seinem Adoptivvater gelernt hat, den er offensichtlich als ein Vorbild und Rollenmodell sah. Er schließt mit den Worten:

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»Es dürfte auf ihn zutreffen, was man von Sokrates erzählt, dass er gleichermaßen zum Verzicht wie zum Genuss der Dinge fähig war, auf die zu verzichten viele Menschen zu schwach sind und bei deren Genuss sie keine Hemmungen kennen. Doch in beidem stark zu sein, die Beherrschung nicht zu verlieren und nüchtern zu bleiben, ist Kennzeichen eines Mannes, der einen aufrechten und unbezwingbaren Charakter hat.« (ebd.)

Marc Aurel erwähnt im ersten Kapitel noch viele weitere Personen, die er für vorzeigbare Beispiele hält. Über seinen wahrscheinlich wichtigsten stoischen Lehrer, Quintus Junius Rusticus, schrieb er: »Von Rusticus wurde mir die Einsicht vermittelt, dass mein Charakter der Verbesserung und Pflege bedarf«, und von ihm habe er auch gelernt, »gegenüber denjenigen, die einen beschimpft und Fehler gemacht haben, eine versöhnliche Haltung einzunehmen« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, I.7). Von einem weiteren Lehrer, Sextus von Chaeronea, sagte er etwa, dieser habe ihm beigebracht, »mit allen Menschen zu harmonieren.« Und: »Er gab mir das Beispiel des guten Familienvaters« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, I.9). Es ist nicht eindeutig zu sagen, ob Marc Aurel seinen Adoptivvater Antoninus sowie seine Lehrer Rusticus und Sextus auf eine Stufe mit den stoischen Weisen wie Sokrates und Cato stellen würde oder ob er sie nur als Annäherungen an das Ideal verstanden hat. In jedem Fall ist aber ersichtlich, dass er in ihnen lobenswerte Merkmale erkannt hat, die er sich aneignen wollte. Und sein erster Schritt dahin war, diese Eigenschaften in Worte zu fassen, sie dadurch zu memorieren und damit verfügbar zu haben, wenn er sich in schwierigen Situationen fragt: »Was würden Antoninus, Rusticus und Sextus tun?«, »Was würden sie mir raten?« oder »Wie kann ich von ihnen lernen?« Damit zu einem weiteren Schritt in der Übungspraxis, denn diese ist mit der situativen Kontemplation von Vorbildern keineswegs zu Ende. So haben etwa einige Stoiker eine Variation der Übung vorgeschlagen, die das Rollenmodell noch umfangreicher in das Leben des Übenden integrieren soll. Eine solche Übung umreißt etwa Seneca, wenn er in einem Brief an Lucilius eine auf Epikur zurückgehende Praxis beschreibt:

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»›Einen Mann von Wert müssen wir hochachten und uns stets vor Augen halten, damit wir so, als schaue er uns zu, leben und alles, als sähe er es, tun.‹ Das, mein Lucilius, hat Epikur gelehrt; einen Wächter und Erzieher hat er uns gegeben, und nicht zu Unrecht: ein großer Teil der Verfehlungen wird gegenstandslos, wenn denen, die eine Verfehlung begehen wollen, ein Zeuge zur Seite tritt.« (Seneca, Briefe, 11.8–9)

In dieser Variation der Übung kann man den stoischen Weisen als eine Art internalisierten Kritiker oder Überprüfer sehen. Der Übende fragt nämlich nicht – wie oben beschrieben – nur an bestimmten Punkten seines Lebens, was das ausgewählte Vorbild tun würde, sondern stellt sich auch die Person in einer lebhaften Art und Weise vor, sozusagen als einen täglichen Begleiter und Beobachter auf dem Pfad zur Tugend. Hierbei handelt es sich um einen Begleiter, dessen Ideale nicht auf vorgegebener, sondern auf eigener Einsicht beruhen. Das stoische Vorbild wird selbst gewählt. Es geht darum, wie Seneca seinen Gedanken weiterführt, diejenige Person zu wählen, die einem in Lebensform und Art am ehesten zusagt und der man daher etwas abgewinnen kann (vgl. Seneca, Briefe, 11.10). Wenn wir das getan haben, besteht der nächste Schritt darin, sich die Merkmale dieses Vorbilds zu vergegenwärtigen und konstant vor Augen zu führen. In diesem Fall wird das Rollenvorbild unser stetiger Begleiter sein, um uns in schwierigen Situationen daran zu erinnern, wie wir auf dem stoischen Weg bleiben. Er ist nicht nur manchmal oder in ausgewählten Situationen, sondern immer anwesend.

Die Kreise des Hierokles Die Stoiker machen in ihrer Fürsorge für andere keinen Unterschied zwischen den Menschen. Sie sehen vielmehr, wie Plutarch berichtet, »alle Menschen als Mitglieder unserer Gemeinde und als Mitbürger« (Plutarch, Von Alexanders des Großen Glück oder Tapferkeit, 6.329a–b, zitiert nach LS: 67A). Das ist natürlich eine philanthropische, aber auch sehr herausfordernde Empfehlung, denn es mag in vielen Fällen gar nicht so leicht umzusetzen sein, insbesondere bei Menschen, die uns nicht wohlgesonnen sind. Aber auch für diese gilt den Stoikern zufolge: 139

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Ihnen müssen wir helfen und uns um sie kümmern. Es ist sogar so, wie Marc Aurel betont, »eine besondere Eigenschaft des Menschen, auch die Irrenden zu lieben« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VII.22). Was diese Sorge um den anderen konkret beinhaltet und wie die Stoiker sich den Umgang mit herausfordernden Menschen vorstellen, werde ich in einem späteren Kapitel erläutern (vgl. S. 198). Hier geht es vor allem um die psychologische Herangehensweise und die Frage, wie wir sicherstellen, dass wir auch gegenüber solchen Menschen ein gewisses Wohlwollen entwickeln. Eine Quelle, die man dafür zu Rate ziehen kann, ist ein ethisches Fragment, welches von einem stoischen Philosophen namens Hierokles stammen soll. Von ihm ist nur wenig bekannt, außer dass er wahrscheinlich im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte, was wir durch einen Zeitgenossen wissen, nämlich den bekannteren Stoiker Aulus Gellius, der ihn in seinen Attischen Nächten erwähnt und als »tugendhaften und strengen« Mann beschreibt (Aulus Gellius, Attische Nächte, IX.5.8). Das besagte Fragment wiederum kennen wir aus der Überlieferung von Johannes Stobaeus. Darin wird deutlich, dass Hierokles unsere persönlichen Beziehungen in Form von konzentrischen Kreisen beschreibt. Er erläutert: »Der erste und engste Kreis ist der, den jemand wie um ein Zentrum herum gezogen hat, seinen eigenen Verstand […]. Von da aus der zweite Kreis ist zwar weiter vom Zentrum weg; er umschließt aber den ersten. In ihm haben die Eltern, die Geschwister, die Frau und die Kinder ihren Platz. Als nächstes kommt der dritte Kreis, der die Onkeln und Tanten umfasst, die Großväter und Großmütter, die Neffen und Nichten, auch Vettern und Cousinen […]. Der nächste Kreis umschließt die Bewohner der Ortsgemeinde […]. Der äußerste und größte Kreis, der alle diese Kreise umfasst, ist der des ganzen Menschengeschlechts.« (Stobaeus, Anthologie, 4.671,7–673,11, zitiert nach: LS 57G)

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Menschheit

Mitbürger

weitere Verwandte Familie

Verstand (Geist & Körper)

Das Ziel besteht nun darin, den Abstand zwischen dem innersten Kreis, dem eigenen Selbst, und dem äußersten Kreis, der gesamten Menschheit, zu verringern, und zwar so, dass die äußeren Elemente in die inneren eingezogen werden. Mit anderen Worten: Wir sollten den fremden Menschen in der gleichen Weise lieben und achten wie uns selbst. Es ist nicht eindeutig zu sagen, wie Hierokles sich ein Übungscurriculum konkret vorstellte, um den Angleichungsprozess psychologisch zu festigen. Ein Fokus lag aber wohl auf der verbalen Intervention. So ist insbesondere bekannt, dass er Fremde als Brüder und Schwestern bezeichnet hat, was als Hilfsmittel gesehen werden kann, um die Assimilation der äußeren in die inneren Kreise voranzutreiben. Auch beschrieb er andere Menschen als Arme und Beine, die wie diese zum eigenen Körper gehören. Diese Technik würde gut zu denen anderer Stoiker passen. Von Zenon wird etwa berichtet, er habe Freunde als anderes Selbst bezeichnet, was ebenfalls den Hintergrund gehabt haben könnte, das Wohlwollen gegenüber anderen Menschen zu steigern.

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Eine weitere Möglichkeit, die aber spekulativer Natur ist, besteht darin, dass die Stoiker die Kreise des Hierokles als eine kontemplative Übung betrieben haben könnten. In diesem Fall ergäbe sich, wie manche Interpreten betonen, eine interessante Nähe zur buddhistischen Tradition, die mit der metta-bhavana-Meditation eine ganz ähnliche Technik im Repertoire hat.15 Diese buddhistische Meditation, die manchmal auch als Loving-kindness-Meditation bezeichnet wird, hat eine breite empirische Erforschung erfahren. Wenn wir uns ihre Grundstruktur veranschaulich, können wir etwa die folgenden Schritte ausmachen: 1. Wir vergegenwärtigen uns unseren eigenen Körper und bringen uns selbst in einen Zustand, in dem wir Selbstliebe und Empathie gegenüber uns selbst empfinden. 2. Im Anschluss visualisieren wir einen engen Freund oder Verwandten, zu dem wir eine positive Verbindung haben und bringen ihm Wohlwollen entgegen, indem wir ihm wünschen: »Möge es dir gut gehen!« 3. Nun erweitern wir den Kreis und stellen uns einen Bekannten vor, dem wir im Alltag begegnen und zu dem wir im Normalfall eine neutrale Beziehung haben (z. B. einen Arbeitskollegen). Wir stellen uns vor, dass wir ein natürliches Gefühl des Wohlwollens ihm gegenüber haben, als sei er Teil der eigenen Familie. 4. Wir erweitern den Kreis weiter und konzentrieren uns auf herausfordernde Menschen, zum Beispiel jemanden, der uns als ›Feind‹ sieht und seine negativen Gefühle uns gegenüber zum Ausdruck gebracht hat. Wir fokussieren auf die positiven Eigenschaften dieses Menschen, wünschen ihm Wohlergehen und inkludieren ihn in unseren Familienkreis. 5. Weiterhin betrachten wir die gesamte Gruppe der bisher betrachteten Menschen und wünschen ihnen zusammen: »Möge es euch allen gut ergehen!«

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6. Schlussendlich dehnen wir diesen Bereich nochmals aus und versuchen, alle Menschen auf dieser Erde in unseren Kreis des Wohlwollens einzuschließen, indem wir uns in Erinnerung rufen, dass wir die gemeinsame Anlage zur Vernunft und auch den Wunsch nach einem guten Leben haben.

Es ist, wie gesagt, nicht eindeutig belegt, dass die Stoiker die konzentrischen Kreise im Sinne einer kontemplativen Übung verstanden haben. Ganz unabhängig von der exegetischen Frage scheint es mir aber ein hilfreiches Anliegen zu sein, die Erweiterung des Wohlwollens zu unterstützen, indem man meditative Techniken verwendet, wie sie exemplarisch in der buddhistischen Tradition anzutreffen sind. Für die Stoiker ist ein gerechter Mensch, wer seine Liebe nicht für einen spezifischen Menschen aufspart, sondern sie auf alle Menschen ausdehnt. Die stoische Liebe ist mit Blick auf ihren menschlichen Bezugspunkt also, wie man sagen könnte: allparteiisch. Und das ist, wie die Stoiker auch selbst sahen, eine Auffassung, die wir üben müssen, weil wir zwar die natürliche Disposition haben, aber es uns in der Regel nicht so leichtfällt (vgl. Epiktet, Unterredungen, I.11 und I.23). Hierbei können uns, so meine ich, die Kreise des Hierokles einen guten Dienst für die stoische Praxis erweisen.

Die Handlung unter Vorbehalt Die Ausbildung der Gerechtigkeit hat für die Stoiker eine hohe Priorität. Sie ist kein optionales Gut, sondern immerhin eine Kardinaltugend! Entsprechend ist die Arbeit an diesem Charaktermerkmal nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen kann. Es ist vielmehr eine Sache, die von den Stoikern als drängend empfunden wird und keinen Aufschub duldet. So stellt denn auch Marc Aurel fest: »Das Leben ist kurz. Man nutze das Dasein mit Vernunft und Gerechtigkeit« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IV.26). An dieser Stelle könnten sich Zweifel einschleichen: Was ist, wenn all unsere Bemühungen ins Leere laufen? Was ist, wenn wir unsere Ziele nicht erreichen? Wenn irgendwer oder irgendwas unsere Pläne durchkreuzt? Wenn es für uns nicht möglich ist, die menschliche Welt 143

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zu einem besseren Ort zu machen? Die Gründe für ein solches Scheitern können vielfältig sein. Es kann an Schicksalsschlägen liegen, die uns hindern, manchmal aber auch an eigenen Fehlern. Bei den Stoikern und speziell bei Marc Aurel spielen insbesondere andere Menschen eine Rolle (vgl. dazu auch S. 198). Für die Stoiker ist ein solches Scheitern, sei es aus eigenem oder fremdem Verschulden, wie wir schon aus dem letzten Kapitel wissen, jedoch kein grundsätzliches Problem (vgl. S. 72). Vielmehr ist es eine Möglichkeit, die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes auszubilden, was bedeutet: zu akzeptieren, dass der Handlungserfolg nicht vollständig in unserer Hand liegt. Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz, denn wer das einmal eingesehen hat, wird sich lediglich auf die Motive und Absichten konzentrieren (vgl. Seneca, Briefe, 14.16). Oder bezogen auf die Tugend der Gerechtigkeit: Wir handeln aus dem Motiv heraus, anderen Menschen zu helfen, wählen uns angemessen erscheinende Mittel, aber sind indifferent gegenüber dem Umstand, ob wir unser Ziel tatsächlich erreichen. Es gibt zahlreiche Metaphern, die die Stoiker anführen, um die Differenz zwischen Handlungsabsichten und -erfolg auf eine erhellende Weise darzustellen. Eine von Cicero stammende Metapher vom Bogenschützen haben wir schon kennengelernt (vgl. S. 72). Eine weitere stammt von Epiktet und vergleicht das eigene Leben mit einem Ballspiel (vgl. Epiktet, Unterredungen, II.5). Ähnlich wie beim Ballspiel komme es auch im Leben nicht so sehr darauf an, ob wir unsere Ziele tatsächlich erreichen, sondern darauf, in welchem ›Geist‹ wir unsere Handlungen angehen. Ein guter Ballspieler versucht zwar, das Spiel nach bestem Wissen und Gewissen erfolgreich zu gestalten, letztendlich obliegt es jedoch dem Schicksal – oder in stoischer Terminologie: dem fatum –, wie das Spiel ausgeht. Und da der gute Ballspieler genau das weiß, konzentriert er sich einzig und alleine darauf, sein Spiel gut zu spielen, möglichst effektive Spielzüge zu machen, die Regeln einzuhalten, aber es ebenso zu akzeptieren, wenn ihm das Schicksal nicht wohlgewogen ist und das Spiel schlecht für ihn läuft. Nun ist es eine Sache, diese Ansicht theoretisch zu formulieren. Eine andere ist es, sie tagtäglich in der Hitze des Gefechts vor Augen

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zu haben. So ist es sicherlich realistisch zu behaupten, dass es gar nicht so einfach ist, den Handlungserfolg auszublenden und nur die eigenen Absichten für relevant zu halten. Um uns darin zu unterstützen, haben uns die Stoiker eine Übung an die Hand gegeben. Sie nennen sie: die exceptio (lat.) oder hypexairesis (griech). Die Grundidee lautet: Wir sollten am Ende der Formulierung eines jeden Handlungsziels ein »wenn mich nichts davon abhält« hinzufügen. Eine solche Vorbehaltsklausel kann uns einerseits helfen, mögliche emotionale Folgekosten zu reduzieren, denn dadurch, dass wir uns den Handlungserfolg nicht versprechen, fällt ein wesentliches Element weg, das psychologischen Schmerz und Frustration verursachen kann (vgl. Seneca, Über die Seelenruhe, XIII.3). Andererseits kann sie uns dabei unterstützen, im Blick zu behalten – und darum geht es im Folgenden vor allem –, worauf es wirklich ankommt, nämlich auf die eigenen Handlungsabsichten. Eine besonders klare Formulierung der Klausel finden wir bei Seneca, der sie uns anhand einiger Beispiele veranschaulicht: 1. »Eine Seereise werde ich unternehmen, außer wenn sich etwas ereignet.« 2. »Prätor werde ich, außer wenn mir etwas entgegentritt.« 3. »Ein Geschäft wird meine Erwartungen erfüllen, außer wenn etwas dazwischenkommt.« (alle Beispiele in: Seneca, Über die Seelenruhe, XIII.2)

Marc Aurel erwähnt die Vorbehaltsklausel ebenfalls einige Male in seinen Selbstbetrachtungen. Er erwähnt sie sogar als eine der drei zentralen Übungen, wenn er auf Epiktets Definition der Übungen des Fühlens eingeht (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, XI.37). Eine pointierte Stelle, an der er sie ausformuliert und sich insbesondere daran erinnert, den Fokus auf die Absichten zu legen, ist die folgende: »Denke daran, dass du dich nur unter Vorbehalt in Bewegung setztest und nicht nach Unmöglichem streben wolltest. Wonach denn? Nach einer Bewegung dieser Art. Das aber hast du erreicht.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VI.50)

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Man darf Marc Aurel und die anderen Stoiker an dieser Stelle allerdings nicht missverstehen. Es geht nicht darum, gute Absichten zu haben und davon ausgehend irgendwelche Handlungen zu wählen. Die Stoiker meinen nicht: »Wenn ich eine gute Absicht habe, dann ist der Rest vollkommen gleichgültig.« Vielmehr muss die Wahl der Handlungen rational und gut begründet sein, was im Kontext der Gerechtigkeit bedeutet: Sie muss so gestaltet sein, dass sie aus unserer Sicht zu derjenigen Handlung führt, die am wahrscheinlichsten dazu geeignet ist, anderen Menschen zu dienen und zu helfen. Zwar ist in letzter Konsequenz unsicher, ob unsere Handlung das Ziel erreicht, aber wir sollten Seneca zufolge trotzdem dasjenige wählen, »hinsichtlich dessen guter Hoffnung sein zu dürfen wir glauben« (Seneca, Über die Wohltaten, IV.33.2), sodass gilt: »Wir lassen uns leiten, wohin uns die Überlegung, nicht die Wahrheit zieht« (ebd.). Und was tun wir, wenn die Handlung ihr Ziel nicht erreicht? Eines ganz sicher nicht: aufgeben! Für die Stoiker steht außer Frage, dass wir in diesem Fall eine andere Handlung wählen sollten, die ebenfalls eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, ihr Ziel zu erreichen. Diesen Punkt macht etwa Marc Aurel in einem imaginierten Dialog mit dem stoischen Weisen deutlich, in dem es darum geht, wie man mit Hindernissen umgeht:16 Stoischer Weise: »Man muss sein Leben aus lauter einzelnen Handlungen zusammensetzen und zufrieden sein, wenn jede – soweit möglich – ihr Ziel erreicht. Dass aber jede Handlung ihr Ziel erreicht, daran kann dich niemand hindern.« Marc Aurel: »Aber es wird sich etwas von außen in den Weg stellen.« Stoischer Weise: »Nichts kann mich daran hindern, gerecht, besonnen und vernünftig zu handeln.« Marc Aurel: »Wird aber nicht vielleicht eine andere Betätigung behindert werden?« Stoischer Weise: »Aber dadurch, dass ich mich mit diesem Hindernis abfinde und mich mit gutem Willen dem Machbaren zuwende, wird sofort eine andere Hand-

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lung die Stelle der behinderten Tätigkeit einnehmen und sich in den Zusammenhang einfügen, von dem die Rede ist.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VIII.32)

Bei Marc Aurel findet sich die Problematisierung des Handlungserfolgs und die Empfehlung, im Falle des Misserfolgs eine andere Handlung zu wählen, an zahlreichen weiteren Stellen (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, V.20, XI.1 und XI.37). Er weist eine solche Toleranz gegenüber Frustrationen mit anschließender Neuausrichtung sogar als einen bewundernswerten Charakterzug aus, was sich an seinen Bemerkungen zu seinen stoischen Vorbildern im ersten Buch der Selbstbetrachtungen, insbesondere zu Maximus und zu seinem Adoptivvater Antoninus Pius zeigt (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, I.15 und 16). Manchmal hat man sogar den Eindruck, Marc Aurel beschreibe den fehlenden Handlungserfolg als Katalysator für das gute Leben, zum Beispiel, wenn er davon spricht, unsere guten Absichten seien wie ein Feuer, welches – wenn man ihm Material, gemeint sind: Hindernisse, hinwirft – nur noch größer werde (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IV.1). Die Hindernisse, die uns von der Handlungsrealisierung abhalten, werden zum Weg, den es für das gute Leben zu beschreiten gilt. Die Stoiker sind jedoch nicht die einzigen Denker, die die Vorbehaltsklausel zum psychologischen Handwerkszeug rechnen. Die Idee finden wir ebenfalls in den religiösen Traditionen, etwa im Christentum und im Islam. Von den Christen ist etwa die Verwendung des Zusatzes »D.V.« (kurz für: deo volante) überliefert, was soviel bedeutet wie: »sofern Gott will.« Und auch das arabische Insha Allah kann übersetzt werden als »wenn es Gottes Wille entspricht.« Das Neue Testament enthält im Brief des Jacobus sogar eine Stelle, die aus der Hand eines Stoikers stammen könnte: »Ihr aber, die ihr sagt: Heute oder morgen werden wir in diese oder jene Stadt reisen, dort werden wir ein Jahr bleiben, Handel treiben und Gewinne machen –, ihr wisst doch nicht, was morgen mit eurem Leben sein wird. Rauch seid ihr, den man eine Weile sieht; dann verschwindet er. Ihr solltet lieber sagen: Wenn der Herr will, werden wir noch leben und dies oder jenes tun.« (Brief des Jacobus, 4:13–15)

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Neben der religiösen Tradition ist es vor allem die Literatur, in der sich der Gedanke einer Unabhängigkeit von Erfolg und Misserfolg findet. So etwa exemplarisch im Gedicht If (übers. Wenn) von Rudyard Kipling, in dem der Autor eine ganze Reihe von Tugenden mit einem Wenn-Satz erläutert und deren Wert im Rahmen eines schließenden Dann-Satzes herausstreicht. Die Zeilen in der zweiten Strophe, die insbesondere den Handlungserfolg betreffen, sind zahlreich rezipiert worden und zieren etwa den Eingang zum Centre Court in Wimbledon. Sie lauten in der deutschen Übersetzung: »Wenn dich Triumph und Sturz nicht mehr gefährden, Weil du beide als Schwindler kennst.«17

Und die Dann-Schlussfolgerung lautet in der letzten Strophe: »Dein ist die Erde und alles, was zu ihr gehört – und was noch mehr ist: Dann bist du ein Mensch, mein Sohn!«18

Ein weiteres Beispiel ist das Gedicht Invictus (übers. Unbezwungen) von William Ernest Henley. In ihm beschreibt der Autor den Kampf gegen eine Knochentuberkulose, die ihn schließlich ein Bein kostete und in einer herausfordernden Rekonvaleszenzphase mündete. In stoischem Geiste schreibt er in der letzten Strophe:19 »Egal wie schmal und groß das Tor, wie viel Bestrafung ich auch erleid, Ich bin der Meister meines Los: Ich bin der Kapitän meiner Seel.«

Es mag noch weitere Beispiele geben. Man kann jedoch bereits sehen, dass nicht nur die Stoiker in der geistigen Unabhängigkeit vom Handlungserfolg und der Konzentration auf die eigenen Absichten einen gewissen Reiz sahen. Es gibt viele Dinge, die uns daran hindern können, unsere Ziele zu realisieren. Das kann frustrieren und vielleicht sogar im Vorhinein Angst auslösen. Diese Reaktionen zu verhindern,

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ist eine der Aufgaben der Vorbehaltsklausel. Sie hilft dem Stoiker, zwei Dinge miteinander zu vereinbaren, nämlich das Streben, alles zu tun, um die eigenen Ziele zu erreichen, zugleich aber auch zu akzeptieren, wenn die Realisierung fehlschlägt. Der stoische Weise hat folglich die Vorbehaltsklausel immer im Hinterkopf, »ohne [die, meine Ergänzung, M.R.] er nichts entscheidet, nichts beginnt« (Seneca, Über die Wohltaten, IV.34.5).

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5. Die Tugend der Weisheit Stoiker scheinen zwei Dinge miteinander zu vereinbaren, die häufig für unvereinbar gehalten werden: Akzeptanz des eigenen Schicksals und Engagement für die gute Sache. Die Stoiker regen uns an, diejenigen Dinge, die wir nicht ändern können, hinzunehmen, in vielen Fällen ihnen sogar mit Heiterkeit entgegenzutreten. Wenn uns das gelingt, können wir als selbstbeherrscht und mutig gelten. Gleichzeitig soll diese akzeptierende Haltung, so die Stoiker, nicht zur Passivität und Resignation führen. Sie empfehlen uns stattdessen das Engagement für die aus ihrer Sicht gute Sache, was bedeutet: trotz aller Widrigkeiten und Widerfahrnissen das Ziel zu haben, Zenons Traum, nämlich der stoischen Republik, ein Stück näher zu kommen. Wenn wir das beherzigen, sind wir nicht nur selbstbeherrschte und mutige, sondern auch gerechte Menschen. Gleichwohl ist damit die Tugendlehre der Stoiker noch nicht abschließend erörtert. Immerhin sprechen die Stoiker nicht von drei, sondern von vier Kardinaltugenden. Es fehlt also noch eine Tugend, um das aus Sicht der Stoiker gute Leben vollständig beschreiben zu können. Hierbei handelt es sich um die Tugend der Weisheit, die unter anderem mit der Reflexion der eigenen Grundsätze und mit der Zustimmung zu ihnen zu tun hat. Denn für die Stoiker ist wichtig, dass wir der stoischen Lehre nicht unbewusst und zufällig folgen, zum Beispiel, weil wir im Rahmen eines dressurhaften Erziehungs- oder Bildungsprozesses auf sie abgerichtet wurden. Vielmehr müssen wir die eigenen Grundsätze auch hinterfragen und als richtig und angemessen erkennen. Wer diese Selbstprüfung in erfolgreicher Art und Weise bewerkstelligt, besitzt die Tugend der Weisheit. Ein Beispiel dafür, wie ein solcher Prozess aussehen kann, liefert uns Epiktet, wenn er sich im Rahmen eines Zwiegesprächs mit sich selbst zu mehr Achtsamkeit gegenüber seinen eigenen Vorstellungen auffordert:

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5. Die Tugend der Weisheit

»Halt Vorstellung, du magst ein wenig warten. Lass erst einmal sehen, was du bist, um was es sich bei dir handelt. Du musst untersucht und geprüft werden.« (Epiktet, Unterredungen, II.18)

Mit ihrer Forderung nach einer Prüfung der eigenen Beweggründe folgen die Stoiker der sokratischen Tradition, die davon ausgeht, dass das ungeprüfte Leben nicht wert ist, gelebt zu werden (vgl. Epiktet, Unterredungen, III.12). Aber so traditionsreich und vielleicht nachvollziehbar diese Annahme auch ist: Sie setzt einige Dinge voraus, zum Beispiel, dass wir überhaupt im Stande sind, aufmerksam gegenüber den eigenen Beweggründen zu sein. Wie wichtig diese Fähigkeit für den Stoiker ist, wird von Epiktet mehr als nur einmal betont. So zeichnet es etwa einen guten Philosophen aus, dass »Argos im Vergleich zu ihm blind [ist, meine Ergänzung, M. R.]«, weil er »alle seine Aufmerksamkeit und Konzentration« auf die eigenen Motive richtet (Epiktet, Unterredungen, III.22).20 Darüber hinaus hat Epiktet in seinen Unterredungen einen eigenen Abschnitt mit dem Titel »Von der Achtsamkeit« (IV.12) verfasst, in dem er den Wert der Selbstbeobachtung betont und den Leser dazu auffordert, ihm eine Handlung zu zeigen, die besser verrichtet werden könnte, wenn sie unachtsam und ungeprüft geschieht. Er fragt: »Baut der Baumeister genauer, wenn er unachtsam baut? Führt der unachtsame Steuermann das Schiff sicherer? Oder wird auch von den kleineren Arbeiten irgendeins durch Unachtsamkeit besser ausgeführt?« (Epiktet, Unterredungen,  IV.12)

Es handelt sich natürlich um rhetorische Fragen. Wenn wir unachtsam sind, so meint Epiktet, folgen wir lediglich unseren Neigungen, die kein Garant dafür sein können, die Handlungen wirklich gut und angemessen auszuführen. Die Tugend der Weisheit ist keine ›normale‹ Tugend, sondern eine, die eine besondere Stellung im Tugendkanon der Stoiker einnimmt, denn sie gibt den systematischen Ort an, an dem wir die anderen Tugenden umsetzen können, nämlich im Bereich des eigenen Urteilens

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und Denkens. Dieser Ort ist es, an dem wir die stoische Lebenskunst ausüben können, sodass für Epiktet der »rechte Gebrauch der Vorstellungen« den zentralen Aspekt der gesamten stoischen Philosophie und damit des guten Lebens darstellt (Epiktet, Unterredungen, I.1 und III.22). Und Marc Aurel scheint ihm beizupflichten, wenn er darüber spricht, nichts trage »so sehr dazu bei, innere Überlegenheit zu erzeugen, wie die Fähigkeit, methodisch konsequent und wirklichkeitsgerecht jeden im Leben vorkommenden Sachverhalt zu durchleuchten« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, III.11). Man kann die Weisheit daher vielleicht am besten als primus inter pares (übers. Erster unter Gleichen) unter den Tugenden beschreiben. Sie ist eine von vier Kardinaltugenden und damit nur eine unter mehreren notwendigen Bedingungen für das gute Leben. Unter diesen vier ist sie jedoch aufgrund ihres Gegenstandes die wichtigste. Die Arbeit an der eigenen Urteilsbildung und damit an der Tugend der Weisheit wird von den Stoikern mit vielen Metaphern, Vergleichen und Beispielen beschrieben. Ein besonders prominenter Vergleich besteht darin, den Prozess als das Errichten einer inneren Burg aufzufassen, an der alle Angriffe abprallen (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VIII.48; vgl. auch S. 27). Wer es einmal geschafft hat, sich nur auf seine Urteilsbildung zu konzentrieren und seine eigenen Beweggründe erfolgreich zu prüfen, dem kann nichts mehr etwas anhaben, was konkret bedeutet: dem macht es nichts aus, wenn ihn Schicksalsschläge wie Verlust, Armut und Tod ereilen. Die Arbeit an der Tugend der Weisheit steht damit auch im Dienste einer Arbeit an der eigenen Seelenruhe, also einer gefühlten Immunität gegenüber äußeren Widerfahrnissen. In diesem Zusammenhang wird die Konzentration auf die eigenen Beweggründe von den Stoikern manchmal als Befreiung interpretiert. So berichtet etwa Epiktet über den Stoiker Diogenes: »Diogenes war frei. Woher war er es? Nicht, dass er von Freien abstammte (denn das waren sie nicht), sondern weil er selbst frei war, weil er alles, an dem man ihn in die Knechtschaft hätte ziehen können, abgetan und keinen Weg übriggelassen hatte, ihm beizukommen, ihn anzufassen und zum Sklaven zu machen.« (Epiktet, Unterredungen, IV.1)

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5. Die Tugend der Weisheit

Die Befreiung des Diogenes bestand für Epiktet offensichtlich nicht darin, aus der Leibeigenschaft entlassen zu werden, sondern von seiner falschen Wertschätzung der Indifferenzen, also von Dingen, die nicht in seiner eigenen Verfügungsgewalt lagen, wozu in seinem Leben als Sklave vor allem Gesundheit, Besitz und Ansehen gehört haben dürften. Die Grundlage für diese Art der Befreiung ist für die Stoiker die Selbstprüfung. Diogenes hat sich selbst befreit, indem er seine inneren Beweggründe geprüft, sie als falsch erkannt und sein Leben entsprechend neu ausgerichtet hat. Kurzum: Er hat an der Tugend der Weisheit gearbeitet, die ihn – so die Interpretation der Stoiker – zu einem freieren Menschen gemacht hat. Wie aber gelingt uns dieses Kunststück? Wie können wir den Stoikern zufolge die Tugend der Weisheit anstreben? Diese Fragen zielen auf das stoische Bildungsprogramm, welches wir schon in seiner grundsätzlichen Systematik kennengelernt haben (vgl. S. 59). Um den relevanten Teil zu wiederholen, erinnern wir uns nochmal an die Bildungssystematik zur Tugend der Weisheit, also an den Bestandteil des Charakters, auf den sie sich bezieht, und daran, welchen philosophischen und praktischen Übungsbereichen die Tugend angehört. Der betreffende Ausschnitt aus dem Schema lautet: Bestandteil des Charakters Denken (z. B. Urteilen)

Tugend

Philosophischer Bereich

Übungsbereich

Weisheit

Logik

Übungen des Denkens

Die Tugend der Weisheit bezieht sich also auf den Teil des Charakters, der mit dem Denken und insbesondere mit dem Urteilen betraut ist. Dieser wird von zwei Seiten geformt. Wir brauchen einerseits das theoretische Wissen, andererseits die praktische Übung. Oder genauer gesagt, wir müssen die Einsichten der stoischen Logik kennen, aber auch die psychologischen Hilfsmittel, damit wir jene Einsichten im Ernstfall vor Augen haben und praktisch umsetzen können. Beginnen wir daher zunächst mit denjenigen Ansichten, die zur stoischen Theorie gehören, und gehen dann weiter zu den Übungen.

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5.1 Was wir wissen müssen Die stoische Logik: Was ist das? Die Logik (griech. logikē) gehört zum theoretischen Teil des stoischen Bildungsprogramms. Sie vermittelt uns unter anderem Wissen darüber, was Weisheit bedeutet und welche Bestandteile sie umfasst. Hierbei muss man jedoch beachten, dass die stoische Logik weitaus umfangreicher ist als die moderne Disziplin, die wir unter diesem Namen kennen. Zur Logik gehören für die Stoiker nämlich nicht nur die formale Logik, sondern auch Rhetorik, Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie. Das Ziel der Stoiker besteht insgesamt darin, unser Denken und Sprechen zu analysieren, um dadurch zu erhellen, was uns zu weisen Menschen macht. In der Logik wird untersucht, wie Reden überzeugend formuliert werden, wie die Grammatik der Sprache aufgebaut ist, wie man gut und angemessen argumentiert und Schlüsse zieht sowie was man unter Wissen zu verstehen hat und was man tun muss, um es zu erlangen. Es ist daher nicht falsch, die Logik als eine Wissenschaft vom Denken und Sprechen zu verstehen. Der hohe Stellenwert zeigt sich auch am Schrifttum. Chrysipp etwa soll über 300 Bücher zur Logik verfasst haben (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.189–201). Darüber hinaus ist die Logik für die Stoiker keine Disziplin, die zusammenhanglos neben den anderen steht und ausschließlich mit der Tugend der Weisheit betraut ist. Sie hat vielmehr einen instrumentellen Nutzen für die Physik und Ethik. Dadurch, dass sie nämlich unter anderem den Wissensbegriff zum Gegenstand hat, dient sie der Klärung der Bedingungen, unter denen die Tugenden Selbstbeherrschung und Mut (Physik) sowie Gerechtigkeit (Ethik) möglich sind. Beispielsweise wird nur, wer gut und angemessen argumentieren kann, in der Lage sein, das relevante Wissen über die Tugenden zu erwerben; ebenso wird nur derjenige tugendhaft sein können, der Kenntnis darüber hat, wie er zu einem solchen Wissen überhaupt erst kommt, zum Beispiel, weil er Kenntnis darüber hat, worauf er im Prozess des Wissenserwerbs achten muss und welche Verfahren er anwenden oder meiden sollte. 154

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5. Die Tugend der Weisheit

Was die interne Wichtigkeit angeht, sind sich die Stoiker einig, dass die Rhetorik gegenüber den anderen Teilen der Logik eine untergeordnete Rolle spielen sollte (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.83). Wichtiger ist ihnen die Dialektik mit ihren Gebieten formale Logik, Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie. Was wiederum die Chronologie im Bildungsprogramm angeht, scheinen die Stoiker die Meinung zu vertreten, ein Training in den Bereichen der Logik könne am besten erfolgen, wenn bereits einige Grundlagen in der Physik und Ethik vorhanden sind. Dementsprechend schlägt Epiktet vor, die Logik erst später in den Unterricht aufzunehmen. Im Zuge dessen kann sie dann der Verfestigung und weiteren Vertiefung der bereits erlernten Prinzipien dienen (vgl. Epiktet, Unterredungen, III.2). Andererseits dürften einige Elemente der Logik immer auch in den anderen Disziplinen vorkommen. – Wie soll man etwa philosophische Theoriebildung betreiben, wenn nicht zumindest eine Grundkenntnis über logisches Argumentieren vorhanden ist? Als einen bloßen Schlussstein der philosophischen Ausbildung wird man sie daher wohl nicht betrieben haben. Obwohl die Logik, wie oben betont, eine besondere Wichtigkeit für die Stoiker hat, besitzen wir insgesamt nicht mehr viel Material über sie. Die wichtigsten Quellen sind Diogenes Laertius (Leben und Meinungen, insbesondere VII.49–54 und VII.55–83), Cicero (Akademische Abhandlungen I und II (auch bekannt als: Lucullus), insbesondere I.40–42, enthalten in: LS 40B und LS 41B; II.27–31; II.143–146) und Sextus Empiricus (Gegen die Dogmatiker, insbesondere VII.150–158, enthalten in: LS 41C und LS 69B; VII.227–269; VII.401–434; das gesamte Buch VIII). Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf die stoischen Überlegungen zur Erkenntnistheorie. Das soll nicht bedeuten, dass die anderen Bereiche weniger wichtig für die Tugend der Weisheit sind. Ich denke jedoch, gerade die erkenntnistheoretischen Ansichten haben einen direkteren Bezug zur Tugend der Weisheit, sodass es gerechtfertigt ist, sie zum Schwerpunkt meiner Darstellungen und Überlegungen zu machen.

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Das Tugendverständnis: die Weisheit Wer die Tugend der Weisheit besitzt, beherrscht die Kunst des richtigen Denkens. Das kann verschiedene Dinge beinhalten, aber für die Stoiker ist Weisheit vor allem eine praktische Fähigkeit, die sich auf die eigene Urteilsbildung bezieht und diese auf ihre Angemessenheit überprüft. Verläuft diese Prüfung erfolgreich, gilt jemand als weise (griech. sophos), gelingt es hingegen nicht, ist er, so formulieren die Stoiker recht harsch, ein Tor oder Dummkopf (griech. idiotēs oder phaulos) (mehr dazu unten, S. 162). Damit stellt sich eine Reihe von Anschlussfragen, zum Beispiel: Was ist für die Stoiker überhaupt ein Urteil und wie stellen sie sich den Prozess der Urteilsbildung vor? Und wenn das einmal geklärt ist: Wie sieht aus ihrer Sicht ein Testverfahren aus, welches angemessene und weniger angemessene Urteile voneinander unterscheiden kann? Beginnen wir mit der ersten Frage nach dem Wesen von Urteilen und ihrer Genese. Hierzu haben die Stoiker einen eigenen Vorschlag vorgelegt, der darauf basiert, dass sich der Bildungsprozess in drei Schritten beschreiben lässt. Da ein Verständnis der drei Schritte wichtig ist, um das Testverfahren genauer zu verstehen, ist es aussichtsreich, sie sich im Einzelnen etwas ausführlicher anzuschauen. Schritt 1: Vorstellung Die Stoiker gehen von der Annahme aus, dass alle Menschen und Tiere einen Sinnesapparat besitzen, durch den sie die Welt wahrnehmen und die einströmenden Reize verarbeiten. Wenn ein Reiz auf die Sinne trifft, entsteht etwas, das die Stoiker Vorstellung (griech. phantasia) nennen. Allerdings verstehen sie die Vorstellung nicht als innere Kopie des äußeren Gegenstandes. Zwar verweist die Vorstellung auf den äußeren Gegenstand, aber sie muss ihm nicht ähneln. Den Stoikern zufolge ist die Vorstellung vielmehr wie der Schein eines Lichts, das selbst hell ist und anderes sichtbar machen kann (vgl. Aëtius, 4.12, zitiert nach LS 39B, auch teilweise in: SVF 2.54). Genauso wenig wie das Licht dem Gegenstand ähnelt, den es erleuchtet, gleicht die Vorstellung dem sie verursachenden Gegenstand. Einige Beispiele für Vorstellungen:

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1. Ich nehme wahr, dass jemand mir einige laut klingende Worte zuruft. 2. Ich bemerke, dass mein Sohn mehrmals hustet. 3. Ich sehe, dass die Soldaten meinen Hausstand wegschaffen. 4. Ich beobachte, dass ringsherum Wasser ist, welches sich über mir auftürmt.

Schritt 2: Proposition Für die Stoiker unterscheiden sich erwachsene Menschen von Kindern und Tieren dadurch, dass ihre Vorstellungen rational verfasst sind. Damit ist gemeint, dass sie sprachlicher Natur sind und in Form von Propositionen (griech. axiōmata) geäußert werden können. Darüber hinaus enthalten sie bereits eine Interpretation der Situation. Bei Diogenes Laertius lesen wir etwa: »Denn der Vorstellung kommt der Vorrang zu, dann folgt der Verstand, der als ein Vermögen der Aussprache dasjenige, wozu er durch die Vorstellung angeregt wird, durch das Wort kundgibt« (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.49). Wenn wir dies auf die obigen Vorstellungen beziehen, können wir die sprachlichen Propositionen vielleicht so fassen: 1. »Jemand versucht, mich zu beleidigen.« 2. »Mein Sohn ist krank.« 3. »Ich habe meinen gesamten Besitz verloren.« 4. »Ich bin auf hoher See inmitten eines Sturms.«

Schritt 3: implizites Werturteil In einem weiteren Schritt werden die rationalen Vorstellungen, die sprachlich verfasst sind, mit Wertungen versehen. Diese Wertung (griech. hypolēpsis) erfolgt häufig implizit und unbemerkt. Sie dient dazu, das wahrgenommene Geschehen in die eigene Wertewelt einzuordnen. Es ergeben sich folgende Ergänzungen:: 1. »Jemand hat mich beleidigt – und das ist schlimm.« 2. »Mein Sohn ist krank – und das ist schrecklich.« 3. »Ich habe meinen gesamten Besitz verloren – und das ist entsetzlich.« 4. »Ich bin auf hoher See inmitten eines Sturms – und das ist furchteinflößend.«

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Dieser Dreischritt lässt sich, so die Stoiker, bei jeder Urteilsbildung beobachten. Wir werden ausgehend von Sinnesdaten mit Vorstellungen konfrontiert, die dazu führen, dass wir sprachlich verfasste Aussagen bilden, die wir mit einer Wertung versehen. Aber warum ist die feingliedrige Unterscheidung der verschiedenen Schritte für die Stoiker so interessant? Das können wir sehen, wenn wir die Verbindung zur Emotionstheorie der Stoiker herstellen: Denn wie ich schon erläutert habe, bleiben die Urteile, zu denen wir gelangen, für die Stoiker nicht ohne Folgen für die eigene Gefühlswelt (vgl. S. 45). Genauer gesagt meinen die Stoiker, dass jemand, der eine der obigen negativen Wertungen vornimmt, auch eine emotionale Reaktion zeigen wird. Jemand, der es als schlimm beurteilt, beleidigt zu werden, wird Frustration empfinden; jemand, der es als schrecklich wertet, wenn der eigene Sohn krank ist, erlebt womöglich Kummer; jemand, der entsetzt darüber ist, seinen Besitz verloren zu haben, wird vielleicht Verlustschmerz spüren; und jemand, der es als furchteinflößend beurteilt, auf hoher See einem Sturm ausgesetzt zu sein, wird Angst haben. Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren Gesichtspunkt, warum die Stoiker so viel Wert auf die Systematik im Urteilsbildungsprozess legen. Sie meinen nämlich, dass wir dem Prozess und den daraus folgenden Emotionen nicht hilflos gegenüberstehen. Wir können vielmehr entscheiden, welchem Urteil wir zustimmen wollen und welchem nicht. Dieser Akt der Entscheidung (griech. synkatathesis) ist für die Stoiker von eminent großer Bedeutung. So lobt etwa Epiktet: »Die Götter haben hiermit, wie es ihrer würdig war, das Allergrößte, das über alles die Herrschergewalt hat, nämlich den rechten Gebrauch der Vorstellungen, in unsere Macht [...] gegeben.« (Epiktet, Unterredungen, I.1)

Den »rechten Gebrauch« setzen die Stoiker allerdings nicht beim ersten oder zweiten, sondern beim dritten Schritt der Urteilsbildung an, denn nur dieser scheint »bei uns« (griech. eph’hēmin) zu liegen. Wir können, so meinen sie, die Vorstellungen und die sprachlichen Propositionen in uns nicht beeinflussen, weil sie von Dingen außerhalb unserer Kontrolle verursacht werden. Demgegenüber können wir je-

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doch durch einen Akt der Entscheidung sehr wohl beeinflussen, wie wir diese Propositionen bewerten. Cicero beschreibt diese Ansicht der Stoiker ausführlich anhand einer bekannten Zylindermetapher, die ihm zufolge auf Chrysipp zurückgeht: »›Wie also jemand, der eine Walze fortgestoßen hat‹, sagt er [gemeint ist: Chrysipp, M. R.], ›dieser zwar den Bewegungsanfang, aber nicht die Rollfähigkeit gegeben hat, so wird auch jene Vorstellung unserem Geist, wenn sie sich ihm darbietet, zwar ihr Erscheinungsbild aufdrücken und gleichsam einprägen, aber die Zustimmung zu ihr wird in unserer Macht stehen, und zwar wird sie sich, wie dies bereits im Falle der Walze gesagt wurde, nachdem sie von außen angestoßen worden ist, im übrigen aufgrund ihres eigenen Wesens und ihrer eigenen Natur bewegen.‹« (Cicero, Über das Schicksal, XIX.43)

Cicero betont mit seinem Vergleich nochmals den oben erläuterten Punkt, nämlich, dass wir – ähnlich wie beim bereits angestoßenen Bewegungsanfang der Walze – auf die Vorstellungen und die Propositionen, also auf die Schritte 1 und 2 der Urteilsbildung, keinen Einfluss nehmen können. Es hat daher wenig Sinn, sich mit diesen beiden Schritten zu befassen. Anders verhält es sich hingegen – ähnlich wie beim anschließenden Rollverhalten der Walze – bei den Wertungen, also dem Schritt 3 der Urteilsbildung. Sowohl das Verhalten der Walze als auch die Wertungen stehen, wie Cicero sich ausdrückt, »in unserer Macht«. Und das bedeutet vor allem, beides kann zum Gegenstand einer Prüfung gemacht und gegebenenfalls davon ausgehend auch verändert werden. An diesem Punkt ergibt sich nun der Übergang zur zweiten der eingangs genannten Leitfragen des Abschnitts: Wie stellen sich die Stoiker das Testverfahren vor, mit dem die Wertungen genauer untersucht werden sollen? Den Kern des Verfahrens bildet natürlich ein Kompatibilitätstest, der die Wertung mit der stoischen Ansicht darüber abgleicht, was gut und richtig ist. In diesem Zusammenhang machen uns die Stoiker verschiedene Vorschläge, wie eine solche Testung konkret ausgestaltet sein kann. Drei Möglichkeiten möchte ich kurz erläutern.

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Da wäre zunächst eine erste, direkte Möglichkeit, die einfach darin besteht, sich die kanonischen Aussagen zur stoischen Wertlehre vor Augen zu halten und diese Aussagen anschließend mit unseren Wertungen zu vergleichen. Eine klassische Aussage aus diesem Bereich finden wir etwa bei Epiktet: »Jeder von uns kann sofort kunstfertig von Gütern und Übeln sprechen: einige sind Güter, einige Übel, andere indifferent; dass die Tugenden und was damit verwandt ist Güter, das Gegenteil aber Übel sind; dass Reichtum, Gesundheit, Ansehen und dergleichen gleichgültig sind.« (Epiktet, Unterredungen, II.9)

Wenn wir diese Aussage beim Wort nehmen, finden wir im letzten Satz einen Hinweis, wie eine Prüfung aussehen könnte: Wohlstand, (eigene und fremde) Gesundheit und Ansehen sind Indifferenzen. Sie spielen für das eigene gute Leben keine Rolle. Nun ist es allerdings so, dass in den obigen Wertungen (1) bis (4) genau das unterstellt wird. Eine Situation wird mit Begriffen wie »schlimm«, »schrecklich«, »entsetzlich« oder »fürchterlich« bewertet und damit als negativ aufgefasst. Folgen wir der stoischen Axiologie, muss das Werturteil also falsch sein. Wir fassen etwas als etwas Schlechtes auf, das eigentlich nicht schlecht, sondern indifferent ist. Ein weiterer, eher imaginativer Vorschlag der Stoiker, wie man die Testung vornehmen kann, besteht darin, sich Rollenmodelle vor Augen zu führen, die uns in der relevanten Situation als Vorbild dienen können (vgl. auch S. 133). Epiktet erwähnt diese Strategie etwa in seinen Unterredungen, wenn er darauf zu sprechen kommt, was wir tun sollten, wenn wir emotional so ›heruntergekühlt‹ sind, dass wir wieder vernünftig unser Urteil prüfen können. Wir sollten nämlich »die Gesellschaft sittlich guter und edler Männer« suchen und unsere Urteile mit den ihrigen vergleichen (vgl. Epiktet, Unterredungen, II.18). Der konkrete Test besteht also darin, sich zu fragen, wie zum Beispiel Zenon, Cato oder Sokrates die obigen Beispiele von Werturteilen kommentieren würden. Würden sie sagen, dass ein weiser, gerechter, mutiger und selbstbeherrschter Mensch einer wäre, der es als negativ bewertete, wenn er beleidigt wird, der eigene Sohn krank ist, der Besitz

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verloren geht oder das eigene Leben durch einen Sturm auf hoher See bedroht wird? Die Antwort scheint selbstredend negativ auszufallen, denn nach allem, was wir bisher schon von diesen Personen wissen, würden sie diese Situationen gemäß der stoischen Lehre als indifferent beurteilen. Eine dritte Möglichkeit der Prüfung besteht darin, auf den schon bekannten Kontrolltest zurückzugreifen (vgl. dazu auch S. 72). Epiktet formuliert seine Empfehlung mit Blick auf den Umgang mit den Werturteilen so: »[P]rüfe sie nach den Grundregeln, die du kennst; zuerst und vor allem nach der, ob sie zu den Dingen gehört, die in unserer Macht, oder zu denen, die nicht in unserer Macht stehen. Ist sie Letzteres, so halte die Antwort bereit: ›Es geht mich nichts an.‹« (Epiktet, Handbüchlein, 1)

Nehmen wir als Anwendungsbeispiel für den Kontrolltest einen Fall, den Epiktet im Abschnitt »Über die Angst« in seinen Unterredungen diskutiert (vgl. Epiktet, Unterredungen, II.13). Dort geht er auf den Fall eines ängstlichen Musikers, eines Kithara-Spielers, ein. Er beschreibt diesen als jemanden, der keine großen Probleme hat, alleine an seinem Instrument zu üben. Sobald er aber eine Bühne und ein Theater betritt, wird er von großem Lampenfieber heimgesucht. Er hat Angst, vor dem Publikum zu spielen, was sich auch körperlich bei ihm niederschlägt. Anschließend an den oben dargestellten Urteilsprozess können wir seine Situation aus der Ich-Perspektive in etwa so beschreiben: 1. Vorstellung: Ich sehe, dass ich ein Musikinstrument in der Hand habe, welches ich zum Klingen bringe, und vor mir eine große Menge unbekannter Menschen versammelt ist. 2. Proposition: Ich spiele eine Kithara vor einem großen Publikum, dessen Gunst mir nicht sicher ist. 3. Werturteil: Ich spiele eine Kithara vor einem großen Publikum unbekannter Menschen, deren Gunst mir nicht sicher ist – und das ist schlimm.

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Damit zurück zu Epiktets Kontrollfrage, die sich auf den dritten Schritt der Urteilsbildung, also auf die Wertung, beziehen muss. Sie könnte in diesem Fall lauten: Kann ich wirklich in letzter Konsequenz beeinflussen, ob mir das Publikum wohlgesonnen ist? Die Antwort darauf wird negativ ausfallen. Sicherlich kann der Kitharaspieler je nach den eigenen Fähigkeiten und dem Wissen über das Publikum Wahrscheinlichkeiten erheben. Eine unfehlbare Sicherheit, ob er sich der Gunst der Zuhörer sicher sein kann, wird er jedoch nicht haben können. Es gilt daher nach Epiktet, dass das negative Werturteil abzulehnen ist. Wir sollten uns, wie er im obigen Zitat rät, selbst die Anweisung geben: »Es geht mich nichts an«.

Der kohärente Charakter des Wissens Bis zu diesem Punkt könnte es als nicht sonderlich herausfordernd erscheinen, die Tugend der Weisheit zu erwerben. Das einzige, was wir den Stoikern zufolge dafür tun müssen, ist ein bestimmtes Testverfahren möglichst häufig erfolgreich anzuwenden. Bei näherem Hinsehen wird es aber recht schnell sehr anspruchsvoll, denn die einzelne Erkenntnis (griech. katalēpsis), dass ein Werturteil mit der stoischen Axiologie übereinstimmt, reicht noch nicht aus, um als weise zu gelten. Die Stoiker sind nämlich der Meinung, dass noch etwas Entscheidendes hinzukommen muss, nämlich kohärentes Wissen (griech. epistēmē). Zenon soll den Unterschied zwischen der Einzelerkenntnis ›normaler‹ Menschen und dem kohärenten Wissen des Weisen anhand einer Geste beschrieben haben. Cicero berichtet darüber wie folgt: »Denn er hielt einem die Hand mit ausgestreckten Fingern entgegen und sagte: ›Von dieser Art ist die Vorstellung‹; anschließend zog er die Finger ein wenig zusammen und erklärte: ›Von dieser Art ist die Zustimmung‹; wenn er sie dann fest zusammengepresst und eine Faust gemacht hatte, sagte er, die sei die Erkenntnis [...]; schließlich nahm er die linke Hand dazu, umfaßte damit eng und kräftig die Faust und erklärte, solcherart sei das Wissen, über das niemand anderes als allein der Weise verfüge.« (Cicero, Akademische Abhandlungen, II.145, zitiert nach: LS 41A, auch in: SVF 1.66)

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Das kohärente Wissen des Weisen ist alles andere als ein Alltagsphänomen, sondern eine seltene Errungenschaft. Es beinhaltet einen Zustand der höchsten internen Kohärenz. Der stoische Weise hat nicht nur die Einzelerkenntnis, wie eine Wertung angesichts der stoischen Axiologie zu beurteilen ist. Er hat auch weitere Einzelerkenntnisse darüber, wie die stoische Axiologie begründet ist und wie diese Ansicht mit anderen Ansichten zusammenhängt, etwa mit den stoischen Vorstellungen über die menschliche Natur sowie über die Natur und den Zweck des Kosmos. Mit anderen Worten: Wer weise ist, der verfügt über Einzelerkenntnisse in der stoischen Philosophie, also die Physik, Ethik und Logik, aber auch ihre tieferen Begründungen und Zusammenhänge (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.89–90). Daraus ergibt sich zudem, dass der weise Mensch nicht unbedingt jemand sein muss, der allwissend ist, weil er alle Details über die Welt kennt. Entscheidend für die Tugend der Weisheit ist vielmehr, dass jemand ausschließlich wahre Werturteile fällt, die begründet sind und miteinander in Zusammenhang stehen – und zwar so, dass keine logischen und inhaltlichen Widersprüche vorhanden sind. Es geht nicht darum, alle wahren Urteile zu kennen, sondern darum, dass diejenigen Urteile, die man kennt, begründet und miteinander vereinbar sind. Entsprechend wird der epistemische Zustand des Wissens von den Stoikern auch als eine innere Harmonie beschrieben, in der die Seele mit sich selbst im Einklang steht (vgl. Stobaeus, Anthologie, 2.60,7–8).21 Wir finden sogar Aussagen, in denen ein solcher Zustand der Seele physikalisch beschrieben wird, nämlich als einer, der eine größere Spannung und Festigkeit aufweist als der von gewöhnlichen Menschen (vgl. Plutarch, Über die Selbstwidersprüche der Stoiker, 9.1034c–e). In diesem Zusammenhang wird erklärbar, warum die Stoiker meinen, der stoische Weise sei besonders stabil in seinen Meinungen. Das ergibt sich daraus, dass dieser die Tugend der Weisheit besitzt und daher mit Wissen ausgestattet ist, was bedeutet: Er hat nur Einzelerkenntnisse, die ein maximal kohärentes System von zusammenhängenden Urteilen bilden. Nichts ist unbegründet und alle Urteile stützen sich gegenseitig. So gesehen hat der stoische Weise daher auch keinen Grund, an seinen Urteilen zu zweifeln oder sie zu ändern.

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Die Dichotomie von Wissen und Nichtwissen Nur wer ein maximal kohärentes System von Einzelerkenntnissen hat, kann beanspruchen, Wissen zu besitzen. Diese Ansicht der Stoiker stellt eine denkbar hohe Hürde dar. Jedenfalls dürften die wenigsten Menschen dieses Ideal erreichen. Die meisten haben an irgendeinem Punkt ihres Meinungssystems falsche Werturteile, die nicht zum Rest des Systems passen. Nun kommt für die Stoiker an diesem Punkt der Argumentation noch eine weitere Sache hinzu: Sie finden nicht nur, dass es schwierig sei, Wissen zu erwerben. Es sei auch so, dass es mit Blick auf das gute Leben keinen Unterschied mache, wann und wo genau wir auf dem Weg zum Wissenserwerb scheitern. Oder nochmals anders ausgedrückt: Die Stoiker meinen, es gebe keine Möglichkeit, die Güte und Qualität eines inkohärenten Systems von Einzelerkenntnissen weiter zu differenzieren. Für sie ist ein System kohärent oder nicht. Und wenn ein System inkohärent ist, dann lässt es sich auch nicht weiter nach ›mehr‹ oder ›weniger angemessen‹ unterscheiden. Die Stoiker führen einige Vergleiche zur Verdeutlichung dieser These an. Einen bekannten Vergleich finden wir bei Plutarch, der ihn auf Chrysipp zurückführt: »[W]ie im Meer derjenige, der eine Armlänge von der Oberfläche entfernt ist, um nichts weniger ertrinkt als derjenige, der 500 Klafter [ca. 900 Meter, meine Anmerkung, M.R.] tief gesunken ist, so sind selbst diejenigen, die nahe an die Tugend herankommen, nicht weniger im Zustand der Schlechtigkeit als diejenigen, die weit von der Tugend entfernt sind.« (Plutarch, Über die gemeinen Begriffe, 10.1063a–b)

Die Stoiker führen noch weitere Vergleiche an: So lesen wir, dass ein Welpe, der seine Augen noch nicht geöffnet hat, genauso blind ist, wie einer, der gerade erst geboren wurde (vgl. Cicero, Das höchste Gut und das schlimmste Übel, III.48). Und wer ein Stadion (ca. 150 Meter) von Kanopus entfernt ist, befindet sich genauso außerhalb der Stadt wie derjenige, der hundert Stadien entfernt ist (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.120).

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Natürlich meinen die Stoiker damit nicht, der Einzelne könne beim Erwerb der Tugend keine Fortschritte machen. Ich hatte ja bereits erläutert, dass sie davon ausgingen, wir alle seien prokoptōns, also Voranschreitende und Lernende, die mehr oder weniger nah an der Tugend sind (vgl. auch S. 41). Die Tugend ist jedoch nicht die höchste Stufe auf einer Skala, die verschiedene Grade zulässt. Man kann für die Stoiker nicht mehr oder weniger tugendhaft sein, sondern nur tugendhaft oder eben nicht. Um nochmals die gerade genannten Vergleiche zu bemühen: Unabhängig davon, wie nah der Schwimmer an der Wasseroberfläche ist, er kann erst dann atmen, wenn er aufgetaucht ist. Der Welpe kann erst sehen, wenn er die Augen aufschlägt. Und in Kanopus befindet man sich erst, wenn man die Stadtgrenzen überschritten hat. Wir sind also entweder ein stoischer Weiser, der ein gutes Leben führt, oder ein Dummkopf, der das gute Leben verfehlt. Nun kann man zwar Fortschritte machen, aber man ist trotz alledem: ein Dummkopf, wenn auch im besten Fall einer, der sehr nahe an der Tugend ist.

Was können wir von der Logik übernehmen? In den vorausgegangenen Abschnitten habe ich nur einen kleinen Teil der stoischen Logik dargestellt. So wurden insbesondere die stoischen Ansichten aus der Sprachphilosophie und formalen Logik weitestgehend ausgeklammert. Auch in diesen Bereichen haben die Stoiker Denkwürdiges geleistet. So geht die heute immer noch gängige Bezeichnung der Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ usw.) auf sie zurück. Ebenso waren die Stoiker aufgrund ihrer Arbeiten in der formalen Logik hoch angesehen, wobei ihr größtes Verdienst wohl in der Entwicklung einer Aussagenlogik besteht. Diese Errungenschaften sind nicht zu unterschätzen. Gleichzeitig bin ich jedoch der Ansicht, dass sie mit Blick auf das Ziel des Kapitels, nämlich die Tugend der Weisheit in Theorie und Praxis darzustellen, eher zweitrangig sind. Für dieses Projekt wichtiger sind der stoische Wissensbegriff und die Frage, unter welchen Bedingungen wir Wissen, insbesondere Tugendwissen, erwerben können. Aus diesem Grund stand dieser Gesichtspunkt im Zentrum der letzten Abschnitte. In diesem Zusammenhang lautet die Ansicht der Stoiker, dass wir Wissen erwerben können, indem wir uns 165

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auf den Urteilsprozess konzentrieren und im Rahmen eines Aktes der Zustimmung oder Ablehnung prüfen, ob unsere Wertungen der stoischen Lehre entsprechen oder nicht. Allerdings wirft auch die stoische Erkenntnistheorie einige Rückfragen auf. Man kann sich etwa fragen, wie der Akt der Zustimmung in metaphysischer Hinsicht zu deuten ist. Handelt es sich hierbei um einen Akt des sogenannten freien Willens? Manche Überlegungen der Stoiker scheinen in diese Richtung zu deuten, wenn vom Akt der Zustimmung gesagt wird, dass er »unbeschränkt, ohne Zwang und ungehindert ist« (Epiktet, Unterredungen, I.17). Ebenso sind die hohen Hürden für den Wissensbegriff nicht unproblematisch. Was macht es für einen Sinn, einem Wissensideal anzuhängen, das ohnehin kaum jemand erfüllen kann? Und nicht zuletzt: Die Stoiker gehen davon aus, dass Wissen möglich ist. Aber gibt es nicht berechtigte Zweifel, zum Beispiel vonseiten der Skeptiker – den Zeitgenossen der Stoiker –, die das infrage stellen? Ich möchte nicht verhehlen, dass ich all diese Rückfragen für gewichtig halte. Zu einigen von ihnen habe ich bereits Stellung bezogen, etwa zur Frage, wie sich die Diskussion um den freien Willen entschärfen lässt (vgl. S. 88), oder auch, wie man die hohen Hürden der Wissensbedingung weniger kritisch deuten könnte (vgl. S. 41 und S. 133). Bei anderen, wie der Auseinandersetzung mit den Skeptikern, habe ich bisher noch keine Hinweise gegeben, wie eine Lösung aussehen könnte. Ich möchte es aber auch an dieser Stelle dabei belassen und den Stoikern stattdessen einen Ausgangskredit einräumen und annehmen, dass sie eine nachvollziehbare Antwort auf die Herausforderungen der Skeptiker anbieten können. Die Stoiker haben sich eingehend mit den Skeptikern beschäftigt, und meine Hoffnung ist, dass sie das auf eine rechtfertigungsfähige Art und Weise getan haben. Dass ich mit dieser Hoffnung nicht alleine bin, zeigt auch ein Blick auf die Literatur.22 Etwas nachdenklicher stimmt mich hingegen eine andere Überlegung der Stoiker, nämlich die These, auf dem Weg zum tugendhaften Leben seien keine Abstufungen möglich. Wer nahe an der Tugend ist, sie jedoch nicht erreicht, ist genauso ein Dummkopf wie derjenige, der noch weit von ihr entfernt ist. Beide verfehlen das gute Leben, sodass

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es für die Stoiker überflüssig ist, zwischen den Leben von Dummköpfen weiter zu differenzieren. Diese Ansicht ist bereits in der Antike auf Widerstand gestoßen. Cicero nimmt sie etwa in seine Liste der stoischen Paradoxien auf (vgl. Cicero, Stoische Paradoxien). Allerdings sollte man die These auch nicht als bloßen Unsinn abtun. Hinter der Vorstellung, dass sich auf dem Weg zur Tugend keine Grade ausmachen lassen, steht ein ernsthaftes Anliegen, nämlich, den besonderen Status des Tugendwisssens zu betonen. Die Stoiker sahen den Erwerb der Tugend nicht als eine Fortführung eines qualitativ ansteigenden Bildungswegs, an dessen Ende das bestmögliche, tugendhafte Leben steht. Vielmehr markiert der Erwerb der Tugend für sie einen Durchbruch, der dem Leben eine gänzlich neue Qualität verleiht. Das wird in den obigen Vergleichen deutlich. Erst wenn der Schwimmer auftaucht, kann er atmen – vorher bekommt er keine Luft; erst in dem Moment, wenn der Welpe die Augen aufschlägt, kann er sehen – vorher ist er blind; und der Wanderer ist erst in Kanopus, wenn er die Stadtgrenzen überquert hat – vorher ist er woanders. Diese neue Qualität besteht, so habe ich oben schon erläutert, im epistemischen Zustand eines maximal kohärenten Wissens. Sobald dieses erreicht ist, sieht die Welt, so könnte man metaphorisch sagen, für das jeweilige Individuum vollkommen anders aus. Man hat keine internen Widersprüche mehr, und es gibt keine Spannungen. Alle Erkenntnisse, die man hat, befinden sich in Harmonie und stützen sich wechselseitig. Nun halte ich das Anliegen, den besonderen Status des Tugendwissens hervorzuheben, für berechtigt. Ich meine jedoch, das muss nicht auf dem Weg geschehen, dass man das Leben der Nichttugendhaften, also der Dummköpfe, für nicht weiter unterscheidbar hält, etwa in besser oder schlechter mit Blick auf die Nähe zur Tugend. Warum sollte man nicht annehmen, dass man auf dem Weg zur Tugend bessere und schlechtere Leben führen kann, und trotzdem daran festhalten, dass der Tugenderwerb etwas qualitativ Neues bedeutet? Natürlich wäre es so, dass derjenige, der noch nicht tugendhaft ist, interne Widersprüche hat und nicht alle Erkenntnisse zueinander passen. Mit Blick auf die Art und Menge der Widersprüche erscheint es aber plausibel, wenn man nicht alle gleichbehandelt.

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In der Regel machen wir etwa einen Unterschied zwischen Widersprüchen, die an der Oberfläche eines Wissenssystems sind und lediglich wenig Einfluss auf die restlichen Erkenntnisse haben, und solchen, die tiefer sitzen und die Basis für viele weitere Erkenntnisse sind. Und wir machen auch dahingehend einen Unterschied, ob es sich um einen einzigen oder mehrere Widersprüche handelt. Diese Unterschiede könnte man beim nichttugendhaften Leben berücksichtigen. Manche haben eben nur oberflächlichere und weniger Widersprüche als andere und sind daher näher am guten Leben, sodass wir sagen können: Diese Menschen leben mit Blick auf die Tugend ein besseres Leben. Diese Menschen wären dann immer noch Dummköpfe, aber manche sind vielleicht nicht ganz so große Dummköpfe. Kurzum: Ich vermute, dass die Stoiker mit ihrer These der Nichtgradualisierbarkeit vor einer Herausforderung stehen. Sie ist jedoch keine, der nicht begegnet werden kann. Die Stoiker verlieren aus meiner Sicht wenig, wenn sie davon ausgingen, dass auch nichttugendhafte Leben sich in ihrer Güte und Qualität unterscheiden lassen. Umgekehrt gewinnen sie einiges, wenn sie das tun, insbesondere gewinnen sie an intuitiver Plausibilität. Es erscheint mir daher ein vertretbarer Eingriff, wenn wir an dieser Stelle die stoische Theorie anpassen und modifizieren.

5.2 Was wir üben müssen Die Übungen des Denkens: Was ist das? Für die Stoiker ist ein weiser Mensch jemand, der seine inneren Beweggründe getestet und entsprechend der stoischen Lehre ausgerichtet hat. Sie folgen mit diesem anspruchsvollem Ideal dem Diktum des Sokrates. So schreibt Epiktet: »Denn wie Sokrates zu sagen pflegte, dass ein ungeprüftes Leben nicht lebenswert sei, so soll man auch keine sinnlichen Vorstellungen ohne scharfe Untersuchung annehmen.« (Epiktet, Unterredungen, III.12)

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Darüber hinaus besitzt der weise Mensch Wissen. Das bedeutet, dass er nicht nur seine Motive testet, sondern sich zudem im Klaren darüber befindet, warum er diese Testung vornimmt und wie sich das mit Blick auf die stoische Logik, aber auch Ethik und Physik begründen lässt. Im Ergebnis besitzt derjenige, der die Tugend der Weisheit innehat, dann ein maximal kohärentes System von Einzelerkenntnissen, also von Meinungen aus den verschiedenen Bereichen der Philosophie, die gerechtfertigt sind und sich wechselseitig stützen. Der weise Mensch ist daher vor allem jemand, der Rede und Antwort stehen kann. Er kann mit Blick auf die stoische Theorie in einem sehr umfassenden Sinne begründen, warum er tut, was er eben tut, und warum genau das die angemessene Handlung ist. Aber wird der Stoizismus damit nicht zu einem bloß akademischen Projekt, in dem es um theoretische Reflexion und ein Kohärentmachen von eigenen Meinungen geht? Die Stoiker wenden sich explizit gegen diese Behauptung, indem sie darauf abstellen, dass theoretisches Wissen nicht hinreichend ist, um einen tugendhaften Charakter auszubilden (vgl. dazu auch S. 59). Es kommt ebenso darauf an, die in der Logik gelernten und nachvollzogenen Inhalte in einer fraglichen Situation parat zu haben und anwenden zu können. Epiktet etwa kommt in seinen Unterredungen darauf zu sprechen, wenn er von den falschen Philosophen berichtet, die damit zufrieden sind, wenn sie lediglich Bücher gelesen haben und berichten, was dieser oder jener für Ansichten gehabt habe. Diese falschen Philosophen müssen ihm zufolge daran erinnert werden, dass das »Leben voll von anderen Dingen, abgesehen von Büchern [ist, meine Ergänzung, M. R.]« (Epiktet, Unterredungen, IV.4). Diese »anderen Dinge« beziehen sich vor allem auf die Herausforderung, die theoretischen Erkenntnisse praktisch umzusetzen. Wie sich dieser Praxistransfer garantiert lässt, erläutert Epiktet durch einen Vergleich zwischen physischen und mentalen Fähigkeiten (vgl. Epiktet, Unterredungen, II.18). Wer etwa die Fähigkeit des Gehens fördern will, sollte häufig gehen. Wer die Fähigkeit zu laufen erhalten will, der sollte laufen. Gleiches gilt nun für den Bereich des Denkens: Wer etwa sicherstellen will, dass er weise handelt, sollte sich darin üben, indem er diese Handlungen möglichst häufig ausübt. Das klingt zunächst

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nach einer genauso nachvollziehbaren wie trivialen Empfehlung. Sie impliziert ja lediglich eine Use-or-lose-it-Strategie, die darauf abstellt, möglichst viele weise Handlungen auszuüben, um ein weiser Mensch zu werden. Wie aber soll das jemandem helfen, der gerade vor der Herausforderung steht, die Tugend der Weisheit praktisch umzusetzen, zum Beispiel, weil er häufig abgelenkt oder unkonzentriert ist? Die an Epiktet anknüpfende Empfehlung: »Führe möglichst viele Handlungen aus, bei denen du nicht abgelenkt und unkonzentriert bist«, hilft an dieser Stelle nur bedingt weiter, weil in der mangelnden Aufmerksamkeit gerade das Problem liegt. Tatsächlich haben es die Stoiker nicht bei diesem einfachen Repetitio-Vorschlag belassen, sondern konkretere Übungen angeraten, die uns dabei helfen sollen, der Tugend der Weisheit näherzukommen. Diese Übungen finden sich in einem eigenständigen Bildungsbereich, namentlich in den Übungen des Denkens (vgl. auch S. 59). Die Übungen des Denkens haben, so Epiktet, vor allem »zu tun mit der Verhütung von Irrtum und unbegründeten Urteilen, überhaupt mit der Zustimmung« (Epiktet, Unterredungen, III.2). Hierbei geht es weniger um die theoretische Reflexion darüber, was Irrtümer und unbegründete Urteile sind und wie der Akt der Zustimmung zu verstehen ist – das ist Aufgabe der Logik –, als vielmehr darum, den Lernenden mithilfe von praktischen Übungen dazu zu befähigen, die Irrtümer und unbegründeten Urteile zu vermeiden und die eigene Zustimmung einzusetzen. Wir sollen, so der Anspruch der Stoiker, die stoische Weisheit nicht nur auf Nachfrage definieren und in ihren Zusammenhängen darstellen und begründen können, sondern ihre Kernelemente im Alltag auch entsprechend umsetzen.

Die Kultivierung der Selbstwahrnehmung Für die Stoiker ist es wichtig, dass wir nicht blind bestimmte Gedankeninhalte übernehmen, sondern sie auch reflektieren und für gut befinden. Hierzu gehört in einem ersten Schritt, sich der eigenen Beweggründe bewusst zu werden. Denn: »Anfang der Rettung ist Kenntnis der Verfehlung«, wie Seneca in Anlehnung an ein Motto von Epikur festhält (Seneca, Briefe, 28.9). Bevor wir uns also verändern können, müssen wir 170

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überhaupt erst erkennen, dass etwas falsch gelaufen ist. Entsprechend ist es für die Stoiker eine der Hauptaufgaben des Philosophen, sich in der Selbstwahrnehmung zu schulen, der sogenannten prosochē. Pierre Hadot beschreibt die Wichtigkeit dieser Fähigkeit wie folgt: »Die grundlegende geistige Haltung des Stoikers ist die Wachsamkeit (prosochē). Es handelt sich dabei um eine ständige Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart, ein stets waches Bewusstsein seiner selbst, eine ständige Anspannung des Geistes. […] Dank der geistigen Wachsamkeit weiß und will der Philosoph in vollem Umfang, was er in jedem Augenblick tut.« (Hadot, Philosophie als Lebensform, 17)

Die stoische Selbstwahrnehmung, wie sie hier von Hadot verstanden wird, besitzt durchaus einige Gemeinsamkeiten mit einem Begriff, der gerade gegenwärtig viel Aufmerksamkeit erfährt, nämlich dem Begriff der mindfullness, oder auf deutsch: der Achtsamkeit. Der Terminus stammt ursprünglich unter anderem aus der taoistischen und buddhistischen Tradition und fand durch die Verbreitung dieser Lehren im Westen, insbesondere über die Verbreitung von psychologischen Resilienzprogrammen, wie des bekannten MBSR-Programms (mindfullness based stress reduction) von Jon Kabat-Zinn, Eingang in den Mainstream. In diesen Traditionen wird unter ›mindfullness‹ oder ›Achtsamkeit‹ vor allem eine Aufmerksamkeit gegenüber den eigenen Gedanken verstanden. Der bekannte taoistische Denker Lao Tze etwa soll gesagt haben, dass der weise Mensch so gut auf seine Gedanken achtet wie jemand, der aufmerksam seinen Schritten folgt, weil er im Winter einen zugefrorenen Fluss überquert. Vergleichbare Charakterisierungen finden wir auch bei den Stoikern: Epiktet etwa meint, die Selbstwahrnehmung desjenigen, der die Tugend der Weisheit besitzt, sei immer angespannt, so als achtete er darauf, nicht barfuß auf einen Nagel zu treten oder seinen Knöchel nicht zu verstauchen, weil er in bergigem Gelände unterwegs ist (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 38). Ebenso erwähnt Epiktet auch, man könne in seiner Lebenskunst nur vorankommen, wenn man seine Gedanken und Urteile stets beobachte, so als ob sie ein tödlicher Gegner seien, vor dem man auf der Hut sein müsse (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 41 und 48). Manchmal ist Epiktet

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auch weniger martialisch und vergleicht die Wahrnehmung der eigenen Gedankenwelt mit der aufmerksamen Arbeit einer Nachtwache. So etwa in folgender Stelle: »›Halt!‹, müssen wir sagen wie die Nachtwache, ›bleib stehen, lass sehen, wer du bist und woher du kommst! Zeig mir deinen Ausweis!‹« (Epiktet, Unterredungen, III.12)

Was aber schlagen uns die Stoiker vor, um die Selbstwahrnehmung zu kultivieren? Eine sehr einfache Möglichkeit besteht darin, sich häufiger am Tag nach den eigenen momentanen Beweggründen zu fragen. Eine prägnante Beschreibung für eine solche unmittelbare und auf den Moment ausgerichtete Quo-vadis-Technik liefert uns Marc Aurel. Er schreibt: »Wozu gebrauche ich denn jetzt eigentlich meine Seele? Bei jeder Gelegenheit muss man sich dies fragen und prüfen: Was geschieht bei mir in dem Teil der Seele, den man den führenden Teil nennt, und welche Seele besitze ich im Augenblick? Etwa die eines Knaben, eines jungen Mannes, eines schwächlichen Weibes, eines Tyrannen, eines Haustieres, einer Bestie?« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, V.11)

Hierbei gestehen die Stoiker auch zu, dass wir Fehler machen. Ihnen war bewusst, dass unsere Gedanken gelegentlich abschweifen und wir unkonzentriert sind. Es ist jedoch für sie sehr wichtig, diesen Achtsamkeitsverlust so weit wie möglich zu minimieren. Denn, wie Musonius Rufus meint, »nachlassen in geistiger Tätigkeit heißt gleichsam dieselbe entlassen« (zitiert aus: Aulus Gellius, Attische Nächte, XVIII.2.1). Die Stoiker raten uns daher zum steten Training. Ein Beispiel, das Epiktet anführt, besteht darin, dass wir ein Tagebuch anlegen können, um so den eigenen Fortschritt zu überwachen. Er rät dazu, diese Praxis zwei bis drei Monate fortzuführen und die Übungspraxis wie ein Training für einen Wettkampf zu betrachten (vgl. Epiktet, Unterredungen, III.22). Demnach ist nicht das Tagebuchschreiben an sich entscheidend, sondern sein vorbereitender Charakter. Dieser besteht darin, dass wir

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unsere Ziele und deren Erreichung protokollieren und uns so auf Kurs halten, um auf diese Weise – ähnlich wie im Wettkampf – bereit zu sein, wenn es darauf ankommt.

Kognitive Distanzierung Neben der Schulung der Selbstwahrnehmung spielt noch eine weitere, sie ergänzende Fähigkeit für die Stoiker eine besondere Rolle. Sie hat damit zu tun, die eigenen Motive nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch so weit zu kontrollieren und zu beherrschen, dass sie einer Prüfung zugänglich sind. Das ist, wie wir schon wissen, keine einfache Sache, da die Werturteile für die Stoiker mit Emotionen verbunden sind (vgl. S. 45). Wenn wir etwa urteilen, es sei eine schlimme Sache, dass jemand uns beleidigt, dann werden wir möglicherweise Frustration und Ärger empfinden. Das wiederum führt dazu, dass es uns – wenn wir uns einmal in diesen Zuständen befinden – schwer fällt, das dahinterliegende Urteil zu erkennen und es infrage zu stellen. Mit anderen Worten: Die Emotionen sind ein Hindernis für die Selbstprüfung, was Seneca etwa zu der drastischen Äußerung anregt, ein ärgerlicher Mensch sei jemand, der an »zeitweilige[m] Wahnsinn« leide (Seneca, Über den Zorn, I.1.2). Das mag überspitzt klingen. Was Seneca aber meint, ist, dass dieser Mensch nicht mehr fähig ist, klar und rational über seine Urteile nachzudenken. Aus diesem Grund legen die Stoiker großen Wert darauf, diesen Zustand zu vermeiden. Epiktet drückt es in einer Forderung aus: »Bemühe dich also vor allem darum, dass dich keine sinnliche Vorstellung mehr fortreißen kann. Denn wenn du nur einmal Zeit zur Überlegung gehabt hast, so wird es dir schon leichter fallen, Herr über dich selbst zu sein.« (Epiktet, Handbüchlein, 20)

Eine Möglichkeit, nicht von den Gedanken und Emotionen fortgetragen zu werden, besteht darin, auf Techniken zuzugreifen, die im psychologischen Jargon häufig unter dem Sammelbegriff ›kognitive Distanzierung‹ subsumiert werden. Hierbei geht es, wie der Name schon sagt, darum, einen Abstand zwischen sich und dem Werturteil

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und der daraus entspringenden Emotion herzustellen. Damit ist nicht gemeint, dass man sich von seinen Gedanken oder Emotionen ablenken oder sie unterdrücken soll. Es geht vielmehr darum, sie von einer höheren Perspektive des Nichtbeteiligten aus zu betrachten, um sie besser kontrollieren zu können. Die Stoiker haben dafür zahlreiche Übungen vorgeschlagen. Da wären zum Beispiel die dogmata zu nennen (vgl. ausführlicher dazu S. 95). Hierbei handelt es sich um kleine einprägsame Sätze, die stoische Grundideen in Erinnerung rufen sollen. Sie sind dafür gedacht, in den entsprechenden Situationen ausgesprochen und im Rahmen einer autosuggestiven Praxis wiederholt zu werden. Die vielleicht bekannteste, und in diesem Kontext relevanteste, ist das stoische Memento, dass es nicht die Ereignisse sind, die in uns die negativen Emotionen auslösen, sondern unsere Interpretation und Deutung dieser Ereignisse. Eine solche Erinnerung finden wir bei Epiktet in zahlreichen Textstellen. Um nur eine kleine Auswahl zu nennen: »Lerne, jedem unangenehmen Gedanken direkt damit zu begegnen, indem du sagst: ›Du bist nur eine Vorstellung und nicht die Sache selbst, die du zu sein vorgibst.‹« (Epiktet, Handbüchlein, 1) »Nicht das, was ihm begegnet ist, bedrückt ihn (denn einen anderen betrübt es nicht), sondern seine Meinung darüber.« (Epiktet, Handbüchlein, 16) »Bedenke, dass nicht derjenige kränkt, der dich tadelt oder schlägt, sondern deine Meinung von solchen Leuten, als ob sie dich kränkten.« (Epiktet, Handbüchlein, 20)

Auch bei Marc Aurel lassen sich ähnliche dogmata ausmachen, die wohl von Epiktet inspiriert sind und beinahe wie wörtliche Übernahmen anmuten. So etwa das folgende: »Wenn du dich wegen einer Sache aus dem Bereich, der deinem Einfluss entzogen ist, ärgerst, dann quält dich nicht jene Sache, sondern dein Urteil über sie.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VIII.47, siehe auch IV.49)

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Die Idee dahinter ist diese: Wenn wir einmal eingesehen haben, dass nicht äußere Dinge (z. B. andere Menschen) in uns die Emotionen auslösen, sondern unsere Werturteile über die Dinge, dann können wir sie leichter zum Gegenstand einer rationalen Infragestellung machen. Anders als einen externen Sachverhalt können wir nämlich unser Werturteil über den Sachverhalt in Zweifel ziehen. Ein erster Schritt, um etwas Abstand von unseren Gedanken und Emotionen zu gewinnen, besteht daher darin, sich klarzumachen, dass sie auf unseren Werturteilen beruhen. Neben dem Aufsagen der dogmata lässt sich noch eine andere Strategie ausmachen. Diese besteht darin, die Emotionen abkühlen zu lassen, indem man die Auseinandersetzung mit ihnen aufschiebt. Epiktet beschreibt diese Idee in einer Stelle in seinem Handbüchlein, wenn er auf den Umgang mit der sinnlichen Lust zu sprechen kommt: »Wenn du von irgendeiner sinnlichen Lust eine Vorstellung in dich aufnimmst, so sei wie bei den anderen Vorstellungen auf der Hut, dass du nicht von ihr hingerissen wirst. Die Sache mag ein wenig auf dich warten.« (Epiktet, Handbüchlein, 34)

Diesen Gedanken, dass man erst auf das Abklingen der Emotionen warten sollte, haben die Stoiker vermutlich von den Pythagoreern übernommen. Bei dem Neuplatoniker Iamblichus finden wir etwa eine Beschreibung der Übungspraxis dieser Philosophengruppe, die gut mit dem zusammenpasst, was Epiktet vorschlägt. So schreibt er über den Umgang der Pythagoreer mit den negativen Emotionen: »Befiel sie aber einmal Zorn, Leid oder etwas Ähnliches, so zogen sie sich zurück, und jeder versuchte, in der Einsamkeit den Affekt zu verdauen und zu heilen. Man erzählt auch folgendes von den Pythagoreern: keiner von ihnen strafte, solange er vom Zorn besessen war, einen Sklaven oder wies einen Freien zurecht. Jeder wartete vielmehr, bis er wieder zur Besinnung gekommen war.« (Iamblichus, Pythagoras, XXXI.196–197).

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Der Vorschlag, seine Auseinandersetzung zu verschieben, sofern noch intensive Emotionen im Spiel sind, ist sicherlich einer, der im Alltagsbewusstsein häufiger anzutreffen sein dürfte. Es ist jedenfalls kein sonderlich überraschender Hinweis, dass es aussichtsreich ist, Emotionen zunächst abklingen zu lassen, bevor man sich mit dem dahinterliegenden Werturteil befasst. Dass jedoch sowohl die Stoiker als auch die Pythagoreer so explizit auf diese Strategie hingewiesen haben, spricht dafür, dass es wohl weniger am Wissen als häufig an der Umsetzung krankt. Sie sollen für diese spezielle Art des ›Aufschiebens‹ oder ›Aussitzens‹ sogar einen eigenen Namen gehabt haben, nämlich paidartan, was die Wichtigkeit dieser Strategie nochmals unterstreicht.

Tagesvorbereitung und Abendreflexion Wie können wir immer besser darin werden, über den Tag hinweg eine Selbstprüfung vorzunehmen, wie sie Bestandteil der Tugend der Weisheit ist? Einige Übungen, die mit den für eine Selbstprüfung nötigen Fähigkeiten zu tun haben, wurden in den letzten beiden Abschnitten erläutert. Den Stoikern zufolge sollten wir etwa daran arbeiten, die eigene Selbstwahrnehmung zu verbessern oder mehr kognitive Distanz zwischen uns und unseren Werturteilen und Emotionen aufzubauen. Wenn uns das gelingt, haben wir schon einen großen Schritt gemacht, um eine Selbstprüfung vornehmen zu können. Nun schlagen uns die Stoiker nicht nur Übungen vor, die sich auf die Voraussetzungen der Selbstprüfung beziehen, sondern auch einige, die direkt auf ihre Verbesserung zielen. Zwei von ihnen sind die meditatio am Morgen und die reflectio am Abend. Die Übung der meditatio beinhaltet im Kern eine Vorwegnahme der Tagesereignisse und die Überlegung, wie mit ihnen umgegangen werden kann. Diese Übung ist nicht nur von den Stoikern praktiziert worden, sondern findet sich in den verschiedenen Traditionen der Antike. Zu denen, die sich sehr ausführlich damit auseinandergesetzt haben und die auch von den Stoikern in dieser Hinsicht rezipiert wurden, gehören wiederum die Pythagoreer. So berichtet beispielsweise Iamblichus über deren Morgenritual: 176

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»Ebenso (fiel auf), dass sie nichts ohne vorherige Überlegung und nachträgliche Kritik taten, sondern sich morgens vornahmen, was sie zu tun hatten.« (Iamblichus, Pythagoras, XXXV.256)

Darüber hinaus erwähnt Iamblichus, dass diese Prüfung der Tagesaufgaben alleine stattfinden sollte. Die Pythagoreer haben daher solitäre Morgenspaziergänge praktiziert, in die sie die meditatio einbauten. Wenn diese Übung abgeschlossen war, konnte der Praktizierende sich wieder in die Gesellschaft von anderen begeben (vgl. Iamblichus, Pythagoras, XXI.96). Allerdings bestanden die Morgenrituale der Pythagoreer nicht bloß aus Überlegungen zu den anstehenden Tagesaufgaben. Es ging auch darum, die eigenen Handlungen so zu planen, dass sie den ethischen Idealen entsprachen, die diese Philosophengruppe für erstrebenswert hielt. Das konnte unter anderem dadurch erreicht werden, dass die morgendliche meditatio durch Mementos, kurze Sentenzen oder Visualisierungen unterstützt wurde. So berichtet Iamblichus weiter, die Pythagoreer hätten morgens den Blick zur aufgehenden Sonne gerichtet, um sich die unendliche Größe des Kosmos vor Augen zu führen und sich den menschlichen Platz darin zu vergegenwärtigen (vgl. Iamblichus, Pythagoras, XXXV.256). Sie scheinen damit eine Übung praktiziert zu haben, die ich in einem vorigen Kapitel als Blick von oben bezeichnet habe (vgl. S. 103). Die Stoiker nehmen an vielen Stellen auf die meditatio der Pythagoreer Bezug, insbesondere auf eine Version, die bereits die Mementos mitumfasst. So wird der Blick von oben von Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen sehr direkt adaptiert, indem er sich selbst auffordert, es den Pythagoreern gleichzutun, nämlich »am frühen Morgen zum Himmel emporzublicken, damit wir uns an die Wesen erinnern, die stets nach denselben Gesetzen und auf dieselbe Weise ihr Werk verrichten [...]« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, XI.27). Bei Marc Aurel finden sich noch weitere Hinweise auf eine Anreicherung des Morgenrituals. So nennt er etwa die premeditatio malorum, also eine Vorabvisualisierung von schwierigen Situationen, als weiteres, mögliches Element. Das berühmteste Beispiel dafür dürfte der erste Absatz des zweiten Buches der Selbstbetrachtungen sein, in dem der römische Kai-

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ser aus der Ich-Perspektive antizipiert, dass er heute »mit einem beschränkten, undankbaren, unverschämten, falschen, missgünstigen und unverträglichen Kerl zusammentreffen« könnte (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, II.1; vgl. ausführlicher dazu auch S. 198). So gesehen scheinen die Stoiker in ihrer Morgenroutine viel Wert auf die Vorwegnahme von herausfordernden Situationen zu legen. Damit werden aber vor allem die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes thematisiert, denn sowohl der Blick von oben als auch die premeditatio malorum sind in diesem Kontext zu verorten (vgl. S. 103 bzw. 99). Einen Hinweis darauf, dass aber auch die anderen Tugenden integriert werden können, insbesondere die Weisheit, gibt uns Epiktet: »Du dagegen, wenn es wahr ist, dass du dich um nichts anderes sorgst als um den rechten Gebrauch der Vorstellungen, sollst dich am frühen Morgen, sobald du aufstehst, fragen: ›Was fehlt mir noch zur völligen Herrschaft über die Leidenschaften, zur völligen Seelenruhe? Was bin ich? Bin ich ein elender Leib? Bin ich Besitz? Bin ich Ruhm? Nichts dergleichen. Sondern was bin ich? Ein vernünftiges Lebewesen.‹« (Epiktet, Unterredungen, IV.6)

Zwar geht es auch hier um die eigene Seelenruhe, aber Epiktet spricht mit den Begriffen »rechter Gebrauch der Vorstellungen« und »vernünftiges Lebewesen« ebenfalls wichtige Aspekte der Tugend der Weisheit ein. Wir können ihn an dieser Stelle daher vielleicht so deuten, dass er uns nicht nur die Empfehlung gibt, unseren Tag darauf zu prüfen, ob und wann wir selbstbeherrscht und mutig sein müssen, sondern auch dahingehend, was wir tun müssen, um der Tugend der Weisheit näherzukommen, also, wann wir etwa besonders wachsam mit Blick auf die uns leitenden Beweggründe sein müssen und wann wir gut daran tun, unsere Motive nochmals zu prüfen. Neben der meditatio am Morgen wird die reflectio am Abend bei den Stoikern ausführlich dargestellt und diskutiert. Sie bezieht sich auf den zurückliegenden Tag und reflektiert die Ereignisse im Lichte der stoischen Ideale. Problemgeschichtlich scheint die abendliche Reflexion der Tagesereignisse in der Antike große Bekanntheit gehabt zu haben, zum Beispiel bei Sokrates, von dem Platon in der Politeia schreibt, der

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weise Mensch gehe erst schlafen, nachdem er mithilfe seiner rationalen Vermögen seinen Tag vor seinem geistigen Auge hat ablaufen lassen (vgl. Platon, Politeia, IX.571d–572a). Die Stoiker bezogen sich bei ihrer konkreten Version aber weniger auf Sokrates als vor allem – wie bei der meditatio – auf die Pythagoreer. Seneca verweist hierbei explizit auf die Praktik eines Neupythagoreers namens Sextius. Er schreibt über ihn: »[A]m Ende eines Tages, wenn er sich zur Nachtruhe zurückgezogen hatte, fragte er sich: ›Welche deine Schwäche hast du heute geheilt? Welchem Fehler hast du Widerstand geleistet? In welchem Punkte bist du besser geworden?‹« (Seneca, Über den Zorn, III.36.1)

Eine ähnliche Verbindung zu den Pythagoreern stellt Epiktet her, wenn er darüber berichtet, wie der stoische Weise seine abendliche Selbstprüfung vornimmt: »Die Vorschrift des Pythagoras: ›Eher werde kein Schlaf dem müden Auge vergönnt‹, bringt er hier an und prüft sich jeden Abend: ›Habe ich etwas versäumt, womit ich mich da oder dort hätte einschmeicheln können? Was habe ich getan? – Habe ich mir etwa da und dort erlaubt, wie ein freier, wie ein edler Mann zu handeln?‹ Und wenn er sich auf so etwas entsinnt, so macht er sich Vorwürfe und tadelt sich.« (Epiktet, Unterredungen, IV.6)

Im Kern geht es bei den Stoikern in ihrer reflectio also um eine Rückschau auf das eigene Handeln. Zwar sind sich Seneca und Epiktet nicht einig darüber, wie diese konkret ausgestaltet werden muss – Seneca betont etwa auch positive Elemente, wie das Lob für gute Handlungen und den Fortschritt in den Tugenden, während Epiktet sich an dieser Stelle vor allem auf den Misserfolg von Handlungen und die daran anzuschließende Schulung konzentriert. Wichtiger als diese Uneinigkeit ist aber ein verbindender Gesichtspunkt: Denn die Stoiker scheinen sich darin einig zu sein, dass die abendliche Reflexion nicht für sich alleine stehen kann, sondern deren Einsichten am nächsten Morgen in der meditatio zu berücksichtigen sind. So formuliert Epiktet einige

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­ eilen später, wenn er auf die morgendliche Vorwegnahme zu spreZ chen kommt: »Bedenke, was du bisher getan hast. Habe ich etwas versäumt, was zum gelingenden Leben beiträgt? – Was habe ich getan, was unfreundlich, unsozial und rücksichtslos war? – Was bin ich irgend worin meiner Pflicht noch schuldig geblieben?« (Epiktet, Unterredungen, IV.6)

Es ist klar, dass man Epiktets Fragen im Morgenritual der meditatio nur berücksichtigen kann, wenn man bereits ein Verständnis von den eigenen Verfehlungen hat. Dieses wird unter anderem in der reflectio des Abendrituals angebahnt, indem man den Tag Revue passieren lässt und sich bewusst macht, was gut und was schlecht gelaufen ist. Man kann daher, wie Epiktet es zu tun scheint, die beiden Übungen nicht bloß als Einzelübungen verstehen, sondern als zusammengehöriges Ganzes betrachten. In beiden Übungen geht es darum, die eigene Praxis mit der stoischen Lehre zu harmonisieren, was bedeutet: den jeweils Praktizierenden auf dem Pfad zur Tugend und damit auch die Tugend der Weisheit weiter voranzubringen. Hierbei kann man in der meditatio einen Bezug auf die reflectio nehmen, sodass die abendlichen Reflexionen Eingang in die eigene Tagesgestaltung finden, oder vielleicht auch umgekehrt, die morgendlichen Überlegungen zum Tagesablauf am Abend reflektieren. Beide Übungen können sich somit gegenseitig ergänzen.

Die physikalische Definition Wenn wir Fortschritte mit Blick auf die Tugend der Weisheit machen wollen, müssen wir versuchen, unsere Beweggründe jederzeit vor Augen zu haben, und bereit sein, sie im Lichte der stoischen Ideale zu prüfen. Allerdings ist das leichter gesagt als getan. Wir hängen manchmal immer noch an der aus stoischer Sicht falschen Wertung. Wir meinen dann einerseits, eine Sache sei lasterhaft oder indifferent, aber andererseits haben wir den Eindruck, dass irgendwie schon etwas dran sein könnte. Wir glauben zum Beispiel, bestimmte Dinge wie wohlschmeckendes Essen, bekömmlicher Wein und teure Kleidung – so 180

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einige Standardbeispiele der Stoiker – seien eigentlich indifferent für das gute Leben. Andererseits glauben wir aber auch, dass es doch nicht ganz egal ist, also dass an diesen (und weiteren) Dingen durchaus etwas ist, das unser Leben besser macht. Kurzum: Wir sind in unseren Wertungen hin und her gerissen. In diesen Fällen bietet sich aus Sicht der Stoiker eine Übung an, die uns dabei unterstützen kann, diesen Zwiespalt aufzulösen. Sie basiert darauf, die Situation, die Anlass für falsche Werturteile gibt, in einer wertfreien Art und Weise zu beschreiben, um dadurch zu sehen, dass diese Dinge tatsächlich indifferent sind. Das grundsätzliche Schema dieser Übung wird von Marc Aurel wie folgt wiedergegeben: »Sag zu dir nichts weiter als das, was dir die ursprünglichen, ungetrübten Vorstellungen anzeigen. Es wurde dir angezeigt, dass dieser oder jener schlecht über dich redet. Das ist dir angezeigt worden. Dass du dadurch geschädigt worden bist, ist dir aber nicht angezeigt worden.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VIII.49)

Marc Aurel orientiert sich in dieser Textstelle an dem bekannten dreischrittigen Prozess der Urteilsbildung, der besagt, dass jedes Urteil aus (1) einer Vorstellung, (2) einer sprachlichen Proposition und (3) einer Wertung zusammengesetzt ist (vgl. S. 156). Seine Idee lautet, dass wir bei der Neubeschreibung versuchen sollen, die implizite Wertung, also den dritten Schritt, aus der Beschreibung der Situation zu eliminieren. Manche Interpreten haben diese Übung aufgrund der naturwissenschaftlich anmutenden Perspektive, die es in ihr einzunehmen gilt, auch als physikalische Definition bezeichnet.23 Konkrete Beispiele, wie eine solche Übung umgesetzt werden kann, finden wir bei Marc Aurel an mehreren Stellen. Besonders anschaulich ist das folgende: »Wie man sich bei Leckerbissen und anderen Speisen dieser Art vorstellen kann, dass es sich hier um den Kadaver eines Fisches handelt, um die Leiche eines Vogels oder Schweines, und weiter, dass der Falerner nur der Saft einer Traube und das Purpurgewand nur die Wolle eines Schafes ist, die mit dem Blut einer Schnecke getränkt wurde und dass bei der geschlechtlichen Vereinigung nur ein Reiben des Gliedes und eine Absonderung von Schleim verbunden mit gewissen Zuckun-

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gen stattfindet – wie man diese Vorstellungen gewinnt, die den Kern der Sache treffen und ihren eigentlichen Gehalt bewusst machen, so dass man sehen kann, um was es sich in Wirklichkeit handelt, so muss man es das ganze Leben lang tun.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VI.13)

Es ist augenfällig, dass Marc Aurel mit den obigen Beispielen seine eigene Lebenswirklichkeit als Kaiser in den Blick nimmt. Er möchte sich durch die Neubeschreibung vor Augen führen, dass die vermeintlich ›guten‹ Dinge wie Essen, Trinken, Kleidung und auch der Liebesakt nur Indifferenzen sind. So spricht er ebenfalls davon, dass durch die wertfreie Beschreibung und Dekomposition der Objekte, diese in ihrer »Beschaffenheit ganz unverhüllt und in allen Einzelheiten« aufgefasst werden können (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, III.1). Und das scheint für ihn keine Kleinigkeit zu sein. So betont er etwa an einer anderen Stelle, dass nichts »so sehr dazu bei[trägt], innere Überlegenheit zu erzeugen, wie die Fähigkeit, methodisch konsequent und wirklichkeitsgerecht jeden im Leben vorkommenden Sachverhalt zu durchleuchten« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, III.11). Wir müssen daher, wie er meint, unser gesamtes Leben daran arbeiten, diese Neubeschreibung in unseren Alltag aufzunehmen, sodass wir die Indifferenzen »entblößen, ihre Wertlosigkeit erkennen und ihr hohes Ansehen zerstören« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VI .13). Marc Aurel ist nicht der einzige Stoiker, der die Technik der physikalischen Definition praktiziert. Auch bei Epiktet finden wir einige Bemerkungen, die in diese Richtung gehen. Hierbei bezieht er sich vor allem auf Dinge, bei denen die meisten Menschen häufig Probleme haben, sie als indifferent zu sehen. Er rät uns, zunächst bei der Neubeschreibung einfacher Dinge, wie einer Tasse, zu beginnen und uns dann, wenn wir daran gewöhnt sind, sich zu anspruchsvolleren Indifferenzen, wie das Leben der eigenen Frau oder des eigenen Kindes, vorzuarbeiten (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 3). Aus einer technischen Sicht ähnelt seine Beschreibung der von Marc Aurel. Er nennt die folgenden Beispiele:

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»Der Sohn ist gestorben. Was ist also geschehen? – ›Der Sohn ist gestorben‹ – Sonst nichts? – ›Nichts sonst.‹ – Das Schiff ist untergangen. Was ist hier geschehen? – ›Ein Schiff ist untergegangen.‹ – Er ist ins Gefängnis geführt worden. Was ist hier die Sache? – ›Ins Gefängnis ist er geführt worden.‹ – Denkst du aber noch: ›Da ist es ihm übel gegangen‹, so setzt du das aus dir selbst hinzu.« (Epiktet, Unterredungen, III.8)

Ähnlich wie Marc Aurel rät uns auch Epiktet, die Situation um die Wertung, die wir selbst hinzusetzen, zu bereinigen. Wenn wir das tun, haben wir schon viel dafür erreicht, der inneren Zerrissenheit beizukommen. Wir sehen dann nämlich, was die Dinge wirklich sind, nämlich indifferente Sachverhalte. Die Stoiker geben uns keine genauen Hinweise, wie und wann genau die physikalische Definition in den Alltag zu integrieren ist. Wenn wir die obigen Ausführungen zugrunde legen, liegt es jedoch nahe, sie in mehrfacher Hinsicht einzubauen. Die physikalischen Definitionen könnten etwa Bestandteil einer Morgenroutine sein, in der man sich auf zukünftige Herausforderungen vorbereitet und mit ihrer Hilfe schwierige Situationen antizipiert und als indifferent entlarvt. Man könnte sie allerdings auch in einer konkreten Situation anwenden, in der etwa ein sogenanntes Counter-Conditioning gefragt ist, also in Situationen, in denen die eigene Wertung nicht den stoischen Idealen entspricht und ihr mit der physikalischen Definition etwas entgegengesetzt werden kann. Wie man sie aber auch immer anwendet: Die physikalische Definition ist ohne Zweifel eine wichtige Übung im Repertoire eines Stoikers, nicht nur, weil sie uns hilft, der stoischen Lehre praktisch zu folgen, sondern ebenfalls, weil sie uns hilft, wie Marc Aurel meint, durch die Wertungen hindurchzusehen und zu erkennen, was die Dinge wirklich sind: nämlich wertfreie Sachverhalte (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VI.13).

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Teil III: Als Stoiker im Alltag leben 6. Wie Stoiker das Leben meistern Im zurückliegenden Teil des Buches habe ich die vier Kardinaltugenden der Stoiker der Reihe nach vorgestellt und erläutert, was wir wissen und üben müssen, um sie auszubilden. Der systematische Gewinn dieses Vorgehens besteht unter anderem darin, dass wir dadurch die jeweiligen Einzeltugenden in ihrer wesentlichen Bedeutung und Begründungstiefe kennengelernt haben. Damit verfügen wir über den Ausgangspunkt, um im folgenden Kapitel die Kardinaltugenden weiter zu konkretisieren und auf ausgewählte Situationen des Alltags zu beziehen. Die Stoiker meinen, dass es darauf ankommt, ein weiser, gerechter, mutiger und selbstbeherrschter Mensch zu werden. Was aber bedeutet das für die eigene Berufswahl? Was für den Umgang mit anderen Menschen – mit den uns liebsten, allerdings auch mit den herausfordernden? Wie geht ein Stoiker mit dem Streben nach sozialem Status und Luxus um? Und was denkt er über den ›letzten Gang‹ und die schwierigen Themen ›Alter‹ und ›Tod‹? Die Stoiker haben alle diese Fragen und Themen zum Gegenstand ihrer Überlegungen gemacht, wobei die Kardinaltugenden das Grundgerüst ihrer Antworten bildeten. Was das genau für die stoische Lebensweise bedeutet, werde ich in den folgenden Abschnitten genauer erläutern.

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6. Wie Stoiker das Leben meistern

6.1 Die stoische Berufswahl: ein Leben für die Gerechtigkeit Die eigene Berufswahl ist für die meisten von uns eine wichtige Sache. Das ist auf den ersten Blick nicht sonderlich überraschend, denn die Wahl des Berufs beeinflusst in nicht unerheblichem Maße, womit wir unsere Zeit verbringen und mit welchen Menschen wir zusammenarbeiten. Nicht selten halten wir uns sogar mehr am Arbeitsplatz auf als zu Hause. Ebenso ist der Beruf für die meisten von uns wichtig, wenn es um den eigenen Selbstwert geht. Wer ein Jobangebot oder ein Angebot für eine neue, für ihn lukrative Position bekommt, fühlt sich in der Regel wertgeschätzt und anerkannt. Wer hingegen auf das berufliche Abstellgleis gerät, kommt schnell auf den Gedanken, ersetzbar und unwichtig zu sein. Daraus ergibt sich für viele, dass es klug ist, den eigenen Beruf mit Umsicht zu wählen, denn er scheint für das Lebensglück eine ganz entscheidende, vielleicht sogar die entscheidende Stellschraube zu sein. Soweit die landläufige Meinung. Was aber meinen die Stoiker? Sie sehen das Thema ›Beruf‹ tatsächlich ein wenig anders. Wenn wir einen Stoiker fragen würden, ob es wirklich wichtig ist, dass wir unserem Traumjob nachgehen dürfen, würde er entschieden antworten: »Nein, ist es nicht!« Und den Grund können wir bereits aus den Tugendkapiteln des zweiten Teils dieses Buches ableiten. Für die Stoiker ist die eigene Erwerbstätigkeit nämlich kein wesentlicher Bestandteil des guten Lebens. Gut möglich, dass wir unseren Traumberuf ausüben dürfen, vielleicht aber auch nicht. In beiden Fällen gilt: Unser Leben wird ihnen zufolge dadurch weder besser noch schlechter, denn die Erwerbstätigkeit ist eine präferierte Indifferenz (vgl. zu diesem Begriff auch S. 38). Das heißt, es ist zwar natürlich und daher präferierbar, dass wir einen bestimmten Beruf ausüben dürfen, insbesondere einen solchen, dem wir etwas abgewinnen können, aber für das eigene Lebensglück ist es schlussendlich egal, also indifferent. Allerdings folgt daraus für die Stoiker weder Passivität noch Resignation. Wir müssen nicht resignierend und passiv hinnehmen, wenn wir in einem aus unserer Sicht unpassenden Beruf arbeiten oder vielleicht sogar arbeitslos sind. Im Gegenteil. Die Stoiker meinen sogar,

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Teil III: Als Stoiker im Alltag leben

dass es sich lohnt, ein bestimmtes Berufsziel anzustreben, aber – und das ist ihre wichtige Pointe – wir sollten uns Herz nicht daran hängen, sodass wir am Ende frustriert sind, wenn es damit nicht klappt. Es geht vor allem um den Versuch, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, jedoch nicht um den Erfolg, diesen auch tatsächlich ausüben zu dürfen. Ersteres liegt, so die schon bekannte Formulierung, vollständig in unserer eigenen Hand, Letzteres nicht. Und welche Berufe sollten wir gemäß den Stoikern in dieser gelassenen und gleichmütigen Weise anstreben? Zunächst einmal könnte man meinen, dass sie in dieser Frage ebenfalls indifferent sind, denn ihr Fokus liegt ja auf den Tugenden. Diese kann man eigentlich in jedem Berufsfeld ausüben. Man kann als Informatiker weise, gerecht, mutig und selbstbeherrscht sein, aber auch als Taxifahrer oder Verkäufer. Tatsächlich sind die Stoiker jedoch recht selektiv, was ihre Empfehlungen angeht. Sie meinen nämlich, dass manche Berufe besser zu ihrer Lebensweise passen als andere. Als besonders erstrebenswert gelten für die Stoiker etwa solche, die eine soziale oder politische Ausrichtung haben. Das sieht man zum einen an der Berufswahl der römischen Stoiker, die entweder als philosophische Lehrer (Musonius Rufus, Epiktet) in der Politikberatung (Seneca) oder direkt als politischer Entscheidungsträger (Marc Aurel) gewirkt haben. Zum anderen ergibt sich diese Passung aus der stoischen ergon-Lehre, also der Lehre darüber, was Menschen von Natur aus sind (vgl. dazu ausführlicher S. 83). Marc Aurel formuliert den sich daraus ergebenden Imperativ wie folgt: »Beschäftige dich nur mit wenigem, wenn du heiter sein willst, sagt der Philosoph. Ist es nicht besser, dass man sich nur mit dem Notwendigen beschäftigt und mit allem, was die Vernunft eines seiner Natur nach auf die Gemeinschaft ausgerichteten Wesens bestimmt?« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IV.24)

Für die Stoiker sind Menschen soziale Lebewesen. Sie sind von der Natur aus so geschaffen, dass sie einander brauchen und sich umeinander kümmern. Ähnlich wie Tiere im Tierreich sollen auch die Menschen zusammenarbeiten, aber eben auf ihre eigene Art. In diesem

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6. Wie Stoiker das Leben meistern

Zusammenhang ist besonders die Tugend der Gerechtigkeit relevant. Sie gibt der Kooperation mit anderen einen konkreten Inhalt. Für die Stoiker bedeutet ein gerechter Mensch zu sein vor allem immer dasjenige zu wollen, was für andere Menschen, die Gesellschaft und die Welt, in der sie leben, förderlich ist (vgl. S. 116). Der stoische Weise habe immer, wie Seneca meint, den Vorsatz: »Nutzen zu stiften und Hilfe zu leisten, nicht nur für sich, sondern für alle und jeden einzelnen [...]« (Seneca, Über die Milde, II.3.3). Und das scheint recht gut zu den sozialen und politischen Berufen zu passen, denn diese sind in ihrer Zielperspektive darauf angelegt, das Leben von anderen Menschen in sehr direkter Weise zu verbessern. Das kann der Fall sein, wie bei den römischen Stoikern, indem man als Lehrer anderen etwas beibringt, in politischen Entscheidungen als Berater fungiert oder selbst als Politiker Gesetze mitgestaltet. Aber natürlich gibt es weitere Möglichkeiten, auf das Leben oder die Gesellschaft einzuwirken. Die Stoiker scheinen jedenfalls keine abschließende Liste von Berufen im Kopf gehabt zu haben, sondern der Ansicht gewesen zu sein, dass in dieser Angelegenheit tatsächlich viele Wege nach Rom führen. Und was ist mit den Berufen, die auf den ersten Blick nicht zur sozialen und politischen Natur des Menschen passen? Scheiden diese aus dem Bereich derjenigen Berufe aus, die ein Stoiker anstreben sollte? Sollte ein Stoiker etwa davon Abstand nehmen, sagen wir, Autoverkäufer, Immobilienmakler oder Hedgefonds-Manager zu werden? Es mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen, diese und ähnliche Berufe auszuschließen und sie für unvereinbar mit einer stoischen Lebensweise zu halten. Ich glaube aber nicht, dass man dem egalitaristischen Grundimpuls der Stoiker gerecht wird, wenn man das tut. Sie meinen, dass es jedem jederzeit möglich ist, ein tugendhaftes Leben zu führen (vgl. dazu auch S. 221). Und das gilt auch, wenn man sich in der Branche der Autoverkäufer, Immobilienmakler und Hedgefonds-Manager befindet. Was allerdings schon stimmt: Die Umstände in diesen Branchen machen es mitunter schwerer als in anderen Bereichen, die eigenen Tugenden als entscheidendes Richtmaß im Blick zu behalten. Das kann man sich wie folgt klarmachen: Im Endeffekt geht es in diesen Branchen vor allem darum, Autos zu verkaufen, Immobilien an den Mann zu

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bringen und Fondswerten zu neuen Höhenflügen zu verhelfen. Damit verbunden ist häufig ein kompetitives Klima im Arbeitsalltag. Es geht darum, besser als die Kollegen zu sein; es gibt Lob vom Chef, wenn die eigenen Verkaufszahlen stimmen, und Tadel, wenn das nicht der Fall ist. Und wenn man alles richtig gemacht hat, gibt es einen Bonus oder man bekommt Ehrungen und Preise. Das alles möchte ich an dieser Stelle gar nicht kritisieren. Es macht jedoch deutlich, dass ein solches Betriebsklima nicht auf stoische Werte ausgelegt ist. Es geht in diesen Branchen nicht primär darum, die menschliche Welt zu einem besseren Ort zu machen, sondern Dinge zu verkaufen und dadurch seinen Chef, seinen Vorstand oder auch die Aktionäre zufrieden zu stellen. Entsprechend ist das berufliche Umfeld nicht so strukturiert, dass es die stoische Gerechtigkeit fördert. Kurzum: Es mag auch in diesen Berufen möglich sein, ein stoisches Leben zu führen. Es ist nur schwieriger, weil die Umstände einen mit allerlei ›Versuchungen‹ wie sozialer Anerkennung (z. B. Auszeichnungen) oder durch materielle Güter (z. B. Geld und Luxus) in eine andere Richtung drängen (siehe ausführlicher zu den Werten ›Ansehen‹ und ›Luxus‹ die Überlegungen weiter unten) Das klingt nun doch irgendwie danach, dass ein Stoiker zumindest prinzipiell – auch wenn es in manchen Bereichen schwerer ist als in anderen – in jedem Beruf sein Glück finden kann. Ich glaube jedoch nicht, dass eine solche Einschätzung bei noch näherem Hinsehen sonderlich weit trägt. Die stoische Berufswahl ist kein anything goes! Und das liegt vor allem an einem Faktor, den man nicht übersehen darf: der eigenen individuellen Natur. Diesen Punkt behandelt etwa Seneca am Beispiel der Wahl zwischen einem handwerklichen und einem wissenschaftlichen Leben. Er schreibt: »Zu bedenken ist, ob dein Wesen zu tätigem Leben oder mußevollen Studien und Betrachtung befähigter ist, und die Richtung mußt du einschlagen, in die dich die Kraft deiner Begabung trägt [...].« (Seneca, Über die Seelenruhe, VI.4)

Es geht den Stoikern also um die Passung von Tugendausübung einerseits und individuellem Talentprofil andererseits. Bei der eigenen Berufswahl sollten wir zum einen im Auge haben, dass wir unsere

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­ ugenden, insbesondere die Gerechtigkeit entwickeln können, und T zum anderen auch berücksichtigen, welche Ausgangsvoraussetzung wir haben. Wenn ein Beruf nicht zu uns passt, weil er etwa Anforderungen an uns stellt, die wir aufgrund unserer physischen oder psychischen Konstitution nicht erfüllen können, sollten wir es lieber sein lassen. Oder wieder Seneca: »Vor allem ist es nötig, sich selbst einzuschätzen, denn im allgemeinen machen wir uns vor, mehr zu können, als wir vermögen: einer strauchelt im Vertrauen auf seine Rednergabe, ein anderer hat seinem Vermögen mehr zugemutet, als er auszuhalten vermag, ein anderer belastet seine schwachen Körper mit einer anstrengenden Verpflichtung.« (Seneca, Über die Seelenruhe, VI.2)

Die Grundidee, dass die eigenen konstitutionellen und charakterlichen Voraussetzungen, also die Begabungen und Handicaps, für die Wahl eines Berufs relevant sind, finden wir nicht nur bei Seneca. Auch bei Epiktet lassen sich derlei Gedanken zur Rolle der individuellen Natur ausmachen. Wer beispielsweise wie Agamemnon fähig sei, eine Armee zu leiten, sollte genau das anstreben. Wer hingegen zum Zweikampf befähigt sei, der sollte sich an Achilles halten und eine Rolle als Kämpfer ausfüllen (vgl. Epiktet, Unterredungen, III.22). Und in theoretischer Hinsicht scheint diese Ansicht durchaus plausibel, denn das stoische secundam natura vivere umfasst ja nicht nur die allgemeine Natur des Menschen, sondern auch seine individuelle. Es sind mithin keine pragmatischen Gründe nach dem Motto »Was ich gut kann, macht mir mehr Spaß«, die dafür ausschlaggebend sind, sich der eigenen naturgegebenen Voraussetzungen bewusst zu werden und sie bei der Berufswahl zu berücksichtigen. Eine Berücksichtigung des individuellen Talentprofils ermöglicht vielmehr ein Leben im Einklang mit der Natur, dem obersten Grundsatz der Stoiker. Wer das nicht beachtet, der handelt – wie Cicero die stoische Ansicht zusammenfasst – gegen den »Willen der Minerva« und damit »gegen den Widerstand und Widerstreit der Natur« (Cicero, Vom pflichtgemäßen Handeln, I.110). Und das sollten wir, wenn wir die stoischen Grundlagen wirklich ernst nehmen, lieber nicht in Betracht ziehen.

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Man kann die grundsätzliche Position vielleicht so zusammenfassen: Im Großen und Ganzen sind die Stoiker im Hinblick auf die Berufswahl recht flexibel. Es ist gar nicht so leicht, einen Beruf zu finden, den Stoiker kategorisch auszuschließen würden. Es mag im einen oder anderen Bereich für den Stoiker schwieriger sein, seine Lebensweise zu pflegen. Aber prinzipiell können auch Stoiker in herausfordernden Berufen ihr Glück finden. Wenn es davon ausgehend jedoch um eine individuelle Berufsberatung geht, sind sie selektiver: Individuen sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Talente und Anlagen. Dieser Unterschiedlichkeit gilt es für die Stoiker bei der Berufswahl zu berücksichtigen. Entsprechend sollte daher jeder Stoiker ganz genau schauen, welcher Beruf zu ihm und seinen naturgegebenen Stärken und Schwächen passt. Oder noch einmal anders ausgedrückt: Für jeden Beruf gibt es sicherlich irgendwo einen geeigneten Stoiker. Aber nicht jeder Beruf ist für jeden Stoiker aufgrund der eigenen natürlichen Beschaffenheit gleichermaßen erstrebenswert.

6.2 Der soziale Nahbereich: stoische Liebe und Trauer Wir leben in der Regel nicht nur für den eigenen Beruf. Wir stehen auch in sozialen Beziehungen. Wir haben Lebenspartner, vielleicht Kinder und zudem vermutlich einen Verwandten- und meistens einen mehr oder weniger großen Freundeskreis. All diese Nahbeziehungen machen für viele Menschen das Leben besonders lebenswert. Wir unternehmen etwas mit diesen Menschen und haben gemeinsame Projekte. Wir fühlen uns ihnen verpflichtet, zum Beispiel, wenn ein Geburtstag oder ein anderer Feiertag auf dem Programm steht. Und wir empfinden Mitleid, wenn jemand anderes einen geliebten Menschen verliert, oder wir trauern, wenn uns selbst ein solches Schicksal ereilt. Stoiker können ebenfalls den sozialen Nahbeziehungen etwas abgewinnen. Sie sehen sie ebenfalls als wichtiges Element in ihrem Leben an. Ähnlich wie das Berufsleben handelt es sich aber auch hierbei nicht um ein notwendiges Element, welches sie für ihr Lebensglück be-

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nötigen. Prinzipiell könnte ein Stoiker ganz ohne soziale Nahbeziehungen ein gutes Leben führen, wenngleich wohl nur der stoische Weise in der Lage wäre, ein solches Leben mutig und selbstbeherrscht durchzustehen. Um es nochmals zu betonen: Stoiker streben ein solches Leben nicht an. Sie halten es mithin für natürlich, wenn wir etwa eine Familie gründen, einen Lebenspartner und Kinder haben. Cicero referiert sogar einen Stoiker namens Laelius den Weisen mit den Worten, dass nichts »so unserer Natur gemäß [sei, meine Einfügung, M. R.], so passend zu unseren Verhältnissen« (Cicero, Laelius über die Freundschaft, 17) wie das Bemühen um gute Beziehungen mit den Menschen des sozialen Nahbereichs. Diese Einschätzung teilt auch Seneca, der schreibt, der stoische Weise wolle »einen Freund haben und einen Nachbar und einen Gefährten, obwohl er sich selbst genug ist« (Seneca, Briefe, 9.3). Wenn es möglich ist, so Seneca weiter, hat der stoische Weise sogar so viele Freunde wie möglich. Der Punkt ist jedoch, dass ein Stoiker – wenn es hart auf hart kommt und er ohne soziale Nahbeziehungen auskommen muss – hinreichend ausgebildet ist, um auch das selbstbeherrscht und mutig zu bewerkstelligen. Die meisten von uns müssen eine derartige soziale Isolation glücklicherweise nicht ertragen, sondern sind zumindest in irgendwelchen sozialen Nahbeziehungen – seien sie mehr oder weniger bewusst gewählt (z. B. Freundschaften) oder durch Geburt etabliert (z. B. Verwandtschaften). Realistischerweise stellt sich daher für uns weniger die Frage, wie wir in einem Leben zurechtkommen, welches durch eine vollkommene soziale Isolation gekennzeichnet ist, als vielmehr, wie wir uns gegenüber denjenigen Menschen verhalten, die uns in sozialer Hinsicht am nächsten sind. Ihre eigene tugendethische Perspektive auf das Thema der sozialen Nahbeziehungen haben die Stoiker insbesondere für die Tugend der Gerechtigkeit entwickelt. Diese Tugend beschreibt etwa Cicero als ein interesseloses Wohlwollen gegenüber anderen: »Die Stoiker freilich erklären, dass der Weise lieben werde, und definieren die Liebe selbst als einen Versuch, auf Grund des Anblicks der Schönheit eine Freundschaft zu schaffen. Mag es nun in der Natur eine Liebe geben, die ohne

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Sorge, Begehren, Kummer und Seufzen ist – sie wird dann ohne Begierde sein.« (Cicero, Gespräche in Tusculum, IV.72)

Den Stoikern ist vor allem wichtig, dass wir anderen Menschen helfen, ohne jedoch die Erwartung zu haben, etwas zurückzubekommen. Es geht nicht um bedingte Reziprozität, sondern um bedingungslosen Altruismus. Stoiker wollen lediglich gerechte Menschen sein – das ist für sie Lohn genug. Dies kann sogar darauf hinauslaufen, dass Stoiker gegenüber anderen Menschen wohlwollend sind und das für sie Beste im Sinn haben, obgleich diese Menschen ihnen umgekehrt nicht sehr wohlgesonnen sind oder ihnen sogar geschadet haben. Sokrates ist bekannt für seine wohlwollende Haltung gegenüber seiner Frau Xanthippe, die ihn, so wird berichtet, in der Öffentlichkeit des Öfteren schikanierte. Laut Diogenes Laertius soll sie ihm etwa aus Wut und Ärger auf dem Marktplatz den Mantel heruntergerissen oder ihm vor dem eigenen Haus einen vollen Nachttopf über den Kopf gegossen haben (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, II.36 und 37). Sokrates äußerste hingegen niemals ein böses Wort über sie in der Öffentlichkeit, kommentierte ihre Schikanen meist mit Ironie und unternahm wohlwollende Versuche, auf ihr Verhalten einzuwirken. Man sieht also: Selbst im Fall der öffentlichen Schikane geht es den Stoikern nicht um Rache oder Wiedergutmachung, sondern darum, den aus ihrer Sicht ›Abtrünnigen‹ wieder auf den rechten Pfad zurückzubringen. Dies kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen. Typische kommunikative Mittel sind – wie bei Sokrates – ironische oder humorvolle Brechungen, um anderen Menschen den Spiegel vorzuhalten, oder auch die wohlwollende und respektvolle Belehrung und Ansprache im Rahmen eines Dialogs (vgl. zu diesen Mitteln auch S. 198). Darüber hinaus legen die Stoiker Wert auf nichtkommunikative Mittel der Belehrung wie das beispielhafte Vorleben des erwünschten Verhaltens. »Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst« (Gandhi), wäre ein Motto, das sicher auch die Stoiker unterschrieben hätten. Darüber hinaus scheint das role modeling, wie man es heute nennt, unter den Stoikern als besonders effektives Mittel gegolten zu haben. Seneca scherzt etwa darüber, dass Hekaton von Rhodes einen

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machtvollen Liebeszauber erfunden habe, der lautet: »Wenn du geliebt werden willst, liebe!« (Seneca, Briefe, 9.6). Freilich handelt es sich beim Geliebtwerden nur um einen präferierten Nebeneffekt, den der Stoiker in letzter Konsequenz nicht für relevant hält. Ihm reicht es, andere Menschen zum guten Leben anzuleiten. Und das heißt vor allem, ihnen den Wert der stoischen Tugenden zu offenbaren, zum Beispiel dadurch, dass man sie selbst lebt. Wie aber können wir diese Ansicht zu einer charakterlichen Disposition machen? Eine Möglichkeit lautet: Wir kümmern uns einfach mehr um die Tugend der Gerechtigkeit als um andere Dinge. Vor diesem Hintergrund muss man wohl die Anweisungen von Epiktet verstehen, der uns rät, in Gesellschaft immer daran interessiert zu sein, ein geistreiches Gespräch zu führen und es nicht mit Dingen zu füllen, die Stoiker für indifferent halten (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 33). Wir sollten über die Tugenden sprechen und nicht über Gladiatoren und den neuesten Tratsch. Jemand, der diese Anweisung von Epiktet in recht konsequenter Weise beherzigte, war Marc Aurel. Von ihm ist überliefert, dass er sich auch in seiner repräsentativen Position als Kaiser von den Wettkämpfen im Kolosseum fernhielt oder – wenn das nicht möglich war – seine Zeit dort mit Lesen und Schreiben verbrachte. Damit zeigte er: »Ich kümmere mich nur um die Angelegenheiten der Tugend und nicht um die aus meiner Sicht minderwertigen Dinge.« Allerdings lässt sich eine stoische Lebensweise nicht immer durch einen Fokus auf das Wesentliche kultivieren und pflegen. Manchmal mussten die Stoiker auch eine härtere Gangart wählen. So befiehlt Marc Aurel sich selbst mit recht harschen Tönen: »Wenn du am Morgen widerwillig aufwachst, dann halte dir vor Augen: Ich wache auf, um die Arbeit eines Menschen zu tun. Da soll ich noch schlechte Laune haben, wenn ich im Begriff bin, das zu tun, wozu ich da bin und weshalb ich auf die Welt gebracht wurde? Oder bin ich dazu bestimmt, dass ich im Bett liegen bleibe und mich wärme?« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, V.1)

Man kann Marc Aurels Äußerungen in dieser Passage als eine Art Motivationsansprache interpretieren: »Du hast keine Lust? Ja, dann

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stell dich nicht so an und erinnere dich daran, was dein Job ist!« Ähnlich wie der Fokus auf das Wesentliche dient eine solche Selbstaffirmation ebenfalls dazu, den Stoiker auf Kurs zu halten. Es geht darum, tugendhaft zu bleiben, und zwar auch dann, wenn man gerade keine große Motivation verspürt oder sich erschöpft fühlt. Der stoische Altruismus kann uns in seiner Rigorosität heute vielleicht etwas weltfremd und naiv erscheinen. In aller Regel wollen wir trotz all unseres Wohlwollens gegenüber anderen etwas von ihnen zurückbekommen, und sei es nur Aufmerksamkeit und Wertschätzung oder einfach Achtung und Respekt. Wenn das nicht der Fall ist, stellen wir den anderen zur Rede, beschweren uns oder beenden im äußersten Fall die Beziehung. Für die Stoiker ist all das, wie gesagt, präferiert, aber letztendlich nicht sonderlich wichtig für das gute Leben. Aber warum eigentlich? An dieser Stelle kommen die Tugenden des Mutes und der Selbstbeherrschung ins Spiel. Sie beinhalten vor allem, dass wir uns in unseren Motiven nicht von Dingen leiten lassen, die wir nicht vollständig beeinflussen können. Und hierzu gehören unter anderem die Motive und das Verhalten der anderen Menschen, insbesondere im sozialen Nahbereich. Sicherlich können wir diese Dinge bis zu einem gewissen Grad kontrollieren, vielleicht sogar manipulieren. In letzter Instanz kann dennoch alles anders kommen, als wir geplant haben. Entsprechend ist es konsequent, dass die Stoiker die Motive und das Verhalten der Anderen aus ihrem eigenen Lebensglück heraushalten wollen. Und wenn jemandem das gelingt, kann man ihn als mutig und selbstbeherrscht bezeichnen. Er hat dann eingesehen, dass es nicht so sehr auf die anderen, sondern vor allem auf ihn selbst ankommt, nämlich auf die Ausbildung der eigenen Tugend. Nun sind es nicht nur die Motive und Handlungen der anderen, die unsere Tugendhaftigkeit auf die Probe stellen können. Eine große Quelle von Angst und Frustration kann auch das Leid oder der Tod von geliebten Menschen sein. Das wussten die Stoiker ebenfalls, weshalb sie diesem Themenkomplex große Aufmerksamkeit zukommen ließen. Ihre wesentliche Beurteilung weicht hierbei allerdings nicht von der oben beschriebenen ab. Ähnlich wie die Motive und das Verhalten sind auch das Leid und das Leben von geliebten Menschen nichts, was das

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stoische Leben besser oder schlechter macht. Interessanterweise bedeutet das für die Stoiker aber nicht, dass wir zum Beispiel über den Verlust eines Menschen nicht trauern dürfen. Der mutige und selbstbeherrschte Stoiker ist kein kalter und affektloser Mensch (vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich S. 45). So stellt etwa Seneca in seiner Trostschrift an Polybius heraus, dass die Natur von ihm zwar ein gewisses Maß an Beherrschung fordert, sie jedoch niemals verlangen würde, dass er überhaupt nicht trauern dürfe (vgl. Seneca, Trostschrift an Polybius, XVIII.5). Aber wie viel Trauer ist genug? Stoiker unterscheiden – wie bereits erläutert – zwischen Emotionen, die wir als natürliche und nicht beeinflusste Affekte haben, den propathē, und denjenigen Emotionen, die wir durch unsere Werturteile kontrollieren können, den pathē. Im Fall der Trauer ist es für die Stoiker mithin in Ordnung, wenn wir unseren natürlichen Affekten freien Lauf lassen, ohne jedoch der falschen Wertung anzuhängen, dass uns tatsächlich ein Unglück geschehen sei. Entsprechend rät Seneca auch in seinem Trauerbrief an Polybius: »Fließen sollen die Tränen, aber ebenso auch aufhören: Es sollen aus tiefster Brust die Seufzer aufsteigen, aber ebenso auch ein Ende haben.« (Seneca, Trostschrift an Polybius, XVIII.6)

Seneca meint also, dass der Akt des Trauerns eine natürliche Sache ist. Gleichwohl rät er uns, dass wir es irgendwann gut sein lassen sollten, nämlich wenn die ersten Affekte abgeklungen sind. Das ist einfacher gesagt als getan. Es ist sicherlich keine konventionell akzeptierte Haltung, sodass wir sie erst ausbilden und einüben müssen. Die vielleicht bekannteste und zugleich eine der schwierigsten Übungen, die uns die Stoiker dafür vorschlagen, ist die schon bekannte premeditatio futurum malorum (vgl. S. 99). Die Grundidee lautet, dass wir zukünftiges Leid mental vorwegnehmen, um dadurch den Schock zu lindern, der uns ereilt, wenn uns ein Unglück unerwartet trifft. In diesem Fall heißt es: Wir sollten uns das Leid und den Tod eines geliebten Menschen vorstellen, des Verwandten, des Ehepartners, ja, sogar – wie Epiktet es vorschlägt – des eigenen Kindes, um der überwältigenden Trauer be-

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reits im Vorhinein ihre destabilisierende Wirkung zu nehmen (vgl. Epiktet, Unterredungen, III.24). Wenn wir das in hinreichender Weise tun, so die Überlegung, gewöhnen wir uns an den psychischen Schmerz, sodass wir im Ernstfall weiterhin tugendhaft bleiben können. Allerdings ist es für die Stoiker keineswegs damit getan, sich die möglichen Szenarien bloß einmal vor Augen zu führen, und nicht zuletzt sind zudem denkbar viele Szenarien möglich, die sich antizipieren lassen. Seneca mahnt uns daher, dass die premeditatio regelmäßig und auf möglichst viele Widerfahrnisse angewandt werden sollte: »In seiner Gesamtheit stelle man sich vor Augen des menschlichen Schicksals Bedingung, und nicht wie oft etwas geschieht, sondern in welchem Umfang es geschehen kann, wollen wir in Gedanken vorwegnehmen, wenn wir es nicht wollen, überwältigt und von ungewöhnlichen, gleichsam nie dagewesenen Schlägen betäubt zu werden: In seiner vollen Wucht muß man bedenken das Schicksal.« (Seneca, Briefe, 91.8)

Das ist natürlich eher ein Ideal als eine realistische Praxis. Denn sich wirklich alle Situationen vorzustellen erscheint angesichts der möglichen Fülle unmöglich. Das scheinen auch die Stoiker geahnt zu haben, denn sie geben uns neben der premeditatio einige Ratschläge, wie wir mit der empfundenen Trauer umgehen können, die noch nicht durch diese Übung abgemildert oder eliminiert wurde. Einer dieser Ratschläge besteht darin, sich direkt mit dem Urteil auseinanderzusetzen, welches der Trauer zugrunde liegt. Die Idee dahinter lautet: Wenn wir das Urteil ändern, verschwindet die Emotion. In diesem Zusammenhang kann man etwa viele von Senecas Ratschlägen interpretieren, die er in seinen Trostschriften vorbringt. So rät er in seinem Brief an Marcia der Empfängerin zu einem Perspektivwechsel. Er berichtet, dass Marcia seit drei Jahren über ihren verlorenen Sohn trauert. Er empfiehlt ihr, anstatt darüber zu grübeln, welches Glück ihr durch den Tod verwehrt wurde, sollte sie sich vor Augen führen, welches Glück sie mit dem verlorenen Sohn gehabt hat. Oder in stoischer Terminologie: Sie sollte nicht dem Urteil zustimmen, dass der Verlust zu beweinen ist, sondern dem Urteil, dass sie bereits eine kostbare und dankenswerte

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Zeit mit ihrem Sohn hatte (vgl. Seneca, Trostschrift an Marcia, XII). Ein weiteres Beispiel findet sich in seinem Trostbrief an Polybius, der den Verlust seines Bruders beweint. Darin versucht Seneca wiederum einen Perspektivwechsel nahezulegen, den er dadurch anbahnt, dass er Polybius darüber sinnieren lässt, ob der verstorbene Bruder seine Trauer gutgeheißen hätte (vgl. Seneca, Trostschrift an Polybius, V.3). Seine Argumentation lautet: Hätte der Verstorbene gewollt, dass Polybius trauert, dann wäre er ein schlechter Bruder, denn er hätte in diesem Fall gewollt, dass Polybius leidet, was kein Bruder mit einem guten Charakter wollen würde. Hätte er hingegen nicht gewollt, dass Polybius leidet, dann wäre er ein guter Bruder. In diesem Fall hätte aber auch Polybius keinen Grund mehr, über den Verlust zu trauern. So oder so gilt also, dass es für Polybius irrational ist, den Tod des Bruders weiter zu beweinen. Und noch ein letztes Beispiel: In seinem Trostbrief an seine Mutter Helvia geht Seneca auf deren Trauer ein, die sich auf seine Verbannung ins Exil bezieht. Darin argumentiert er ganz ähnlich wie am Beispiel von Polybius (vgl. Seneca, Trostschrift an Helvia, I.2 und IV.1) Seine Entgegnung lautet: Ihr fehle schlicht der rationale Grund zur Trauer, weil er als Stoiker nicht unter den Umständen leide. Und sollte es nicht einer Mutter um das Wohlergehen des Sohnes gehen? Die stoische Einschätzung der persönlichen Nahbeziehung als indifferent, inklusive ihrer Auffassung über die angemessene Trauerarbeit, ist vielleicht eines der schwierigsten Dinge, die ein Verfechter der stoischen Lebenskunst zu meistern hat. Wir sollten uns laut Marc Aurel dafür an Rollenvorbildern wie Sextus Chaeronea orientieren, der in eigentümlicher Art und Weise »frei von Leidenschaft, andererseits aber ein äußerst liebevoller Mensch« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, I.9) war. Er wusste, dass wir weniger Wert darauf legen sollten, wie uns die nächsten Menschen und Angehörigen behandeln und wie es ihnen geht. Vielmehr komme es vor allem darauf an, ihnen in der Zeit, in der wir mit ihnen diese Erde teilen, dienstbar und hilfreich zu sein. Wenn wir das schaffen, behalten wir unsere Seelenruhe und sind zudem moralisch gerechte Menschen.

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6.3 Der Umgang mit herausfordernden Menschen Andere Menschen können die Quelle der größten Freude sein, die uns zuteilwerden kann. Die Liebe zu Lebenspartnern, Verwandten und Freunden sind gute Beispiele, die Gegenstand des letzten Abschnitts waren. Darüber hinaus können andere Menschen aber auch eine Ursache für die stärksten negativen Emotionen sein, die uns widerfahren. Wir fühlen uns vom Lebenspartner ungerecht behandelt, weil Absprachen nicht eingehalten werden; Verwandte und Freunde frustrieren uns, wenn sie uns ausnutzen; unser Chef macht uns rasend, weil er uns als unfähigen Mitarbeiter dastehen lässt; Kollegen bringen uns sprichwörtlich auf die Palme, weil wir ihre Faulheit und Inkompetenz ausbügeln müssen. Und manchmal sind wir einfach auf wildfremde Menschen sauer: Weil sie uns im Verkehr den Weg abschneiden, zu langsam fahren oder uns den Parkplatz wegschnappen; weil sie sich im Supermarkt an der Kasse vordrängeln oder zu lange zum Bezahlen brauchen; oder auch, weil sie im Bus und Zug den Weg zum Ausgang nicht freimachen, sodass wir uns verspäten und einen wichtigen Termin nicht einhalten können. Wie beurteilten die Stoiker solche alltäglichen Situationen? Zunächst schlagen sie in ihrer Beurteilung einen radikalen Perspektivwechsel vor. Dieser besteht in einem grundsätzlichen Memento: Wir sollen uns als Allererstes bewusst machen, dass das Problem nicht die anderen Menschen sind, sondern das eigene Denken über diese Menschen. Oder wie Epiktet es ausdrückt: »Bedenke, dass nicht derjenige kränkt, der dich tadelt und schlägt, sondern deine Meinung von solchen Leuten, als ob sie dich kränkten.« (Epiktet, Handbüchlein, 20)

Wer beispielsweise ärgerlich über die Rücksichtslosigkeit eines Arbeitskollegen ist, hat damit das Werturteil akzeptiert, dass es wichtig ist, wie andere sich ihm gegenüber verhalten. Für die Stoiker ist die Meinung und das Verhalten von anderen jedoch, wie wir schon wissen, etwas, das mit Blick auf das gute Leben nicht relevant ist. Sicherlich wird auch ein Stoiker es bevorzugen, wenn der Arbeitskollege ihm gegenüber fair

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und respektvoll agiert. Aber wenn das nicht der Fall ist, wird er darunter nicht sonderlich leiden, denn er weiß: Im guten Leben geht es alleine um solche Dinge, die in seiner Macht liegen. Alle anderen Dinge, wozu die Motive und das Verhalten anderer Menschen gehören, kann er in letzter Instanz nicht kontrollieren. Sie sind daher gelassen hinzunehmen und Gegenstand der stoischen Akzeptanz, also der Tugenden des Mutes und der Gerechtigkeit. Allerdings waren die Stoiker nicht so kurzsichtig, nicht zu erkennen, dass es im Alltag kein leichtes Unterfangen darstellt, sich derart gleichgültig zu zeigen. Können wir wirklich jedwedes Verhalten, obgleich wir es als falsch erachten, mit emotionaler Indifferenz hinnehmen? Das ist wohl nur das Privileg des stoischen Weisen. Für die Normalsterblichen stellt der Weise ein Ideal dar, dem es nachzueifern gilt, aber dem man in letzter Konsequenz niemals gerecht wird. Die Stoiker schlagen daher einen Notfallplan vor, der darin besteht, sich gar nicht erst den belastenden Situationen und Menschen auszusetzen. Man sollte, wie es Epiktet ausdrückt, seinen Umgang sorgsam auswählen: »Einladungen zu Gastmählern bei andersgesinnten und ungebildeten Leuten weise entschieden ab. Wenn aber doch ein Anlass dazu eintritt, so nimm dich auf das Äußerste in Acht, dass du in keinem Stück ins Gewöhnliche verfällst. Denn du musst wissen, dass man von einem unsauberen Freund, dem man allzu nahekommt, notwendig auch beschmutzt wird, wann man auch für sich selbst noch rein wäre.« (Epiktet, Handbüchlein, 33)

Hierbei hatten die Stoiker nicht nur Menschen im Blick, die sich uns oder den anderen gegenüber ungerecht verhalten, sondern auch solche, die besonders weinerlich sind. Seneca bemerkt etwa, dass ein Mensch sich zwar durch Zuverlässigkeit und guten Willen auszeichnen möge, aber dennoch für unsere innere Ruhe ein Feind ist, wenn er sich in ewiger Aufregung befindet oder sich beständig beklagt (vgl. Seneca, Von der Seelenruhe, VII.4). Solche Menschen zu meiden, lässt sich natürlich nicht immer umsetzen. Für die Wahl des eigenen Freundeskreises erscheint das noch praktikabel. Demgegenüber können wir am Arbeitsplatz in der Regel nicht wählen, mit wem wir zusammenarbeiten

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und mit wem nicht. Zwar können wir kündigen, aber das kommt sicherlich nicht für jeden infrage und mag in manchen Fällen auch unklug sein. Nicht jeder kann es sich leisten, den eigenen Arbeitsplatz aufzugeben, insbesondere, wenn mit dem eigenen Gehalt noch die Versorgung Dritter (z. B. der eigenen Familie) verbunden ist. Für diesen Fall empfiehlt etwa Musonius Rufus als letzten Ausweg, »Unannehmlichkeiten mit Sanftmut und in aller Gemütsruhe« zu ertragen. Das sei ein schwieriges, aber alternativloses Verhalten für jeden, »der hochsinnig sein will« (Musonius Rufus, Lehrgespräche, 10.2). Die Stoiker raten uns damit, gegenüber anderen Menschen eine gewisse Gelassenheit zu pflegen oder, wenn uns das überfordert, schwierige und für uns herausfordernde Menschen und Situationen zu meiden. Und wenn die Vermeidungsstrategie nicht greift, geht es darum, sich schlicht mit diesen Menschen zu arrangieren. Um an dieser Stelle noch einen Punkt klarzustellen: Die Stoiker empfehlen uns zwar emotionale Indifferenz gegenüber anderen Menschen, doch sollte man eine solche emotionale Gelassenheit nicht mit ethischer Gleichgültigkeit verwechseln. Der stoische Weise ist kein Jasager, der sich alles gefallen lässt und jedwedes Verhalten kommentarlos hinnimmt. Er ist weder ein Fußabtreter für Choleriker noch emotionaler Mülleimer für Gestresste! Vielmehr verbinden die Stoiker mit der Tugend der Gerechtigkeit den pädagogischen Anspruch, andere Menschen auf deren ungerechtes Verhalten hinzuweisen. Der Grund dafür ist der gleiche wie derjenige, der die Stoiker dazu bringt, sich um die Menschen des sozialen Nahbereichs zu kümmern. Es liegt für sie in unserer Natur, dass wir mit anderen Menschen kooperieren und ihnen helfen, ein gutes Leben zu führen. In der Art, wie Stoiker das bewerkstelligen, unterscheiden sie sich jedoch häufig von ihrem Gegenüber. Der Unterschied wird deutlich, wenn Marc Aurel sein pädagogisches Konzept vorträgt, mit dem er herausfordernden Menschen gegenübertreten will: »Denn sie werden auf jeden Fall zu dem hingetrieben, was ihnen vertraut und nützlich ist. ›Doch so ist es nicht.‹ Dann belehre sie und kläre sie auf ohne Ärger zu zeigen.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VI.27)

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Die Belehrung des anderen, und sei er auch noch so respektlos uns gegenüber, dürfe nicht mit den gleichen Mitteln geführt werden. Und das bedeutet vor allem, dass wir anderen Menschen nicht mit Wut und Ärger entgegentreten sollten. Das verbietet sich nicht nur, weil wir dadurch unsere Seelenruhe gefährden, sondern auch, weil ansonsten eine Eskalationsspirale des Ärgers droht, die am Ende nur Verlierer hervorbringt. Seneca geht sogar so weit zu sagen, dass Ärger ein »zeitweiliger Wahnsinn« (Seneca, Über den Zorn, I.1.2) des Geistes sei, der einen unvergleichbar hohen Preis habe. Ärger führt dazu, dass Menschen getötet werden, Kriege ausbrechen sowie Städte und ganze Staaten in Schutt und Asche gelegt wurden. Er bilanziert sogar über den Ärger, dass »kein Unheil [...] das Menschengeschlecht teurer zu stehen gekommen [ist, meine Ergänzung, M. R.]« (ebd., I.2.1). Es ist daher für die Stoiker ratsam, die Belehrung des anderen auf einem anderen Weg anzugehen. Die Mittel, die sie uns nennen, sind ganz unterschiedlich. Eine Möglichkeit, die bei den Stoikern auffallend viel Raum einnimmt, ist der Gebrauch des Humors in seinen verschiedenen Facetten. Seneca verweist etwa auf Catos ironischen Kommentar, als ihm während einer Senatssitzung von einem politischen Gegner namens Lentulus ins Gesicht gespuckt wurde. Nachdem er sich ruhig die Spucke aus dem Gesicht gewischt hatte, soll er gesagt haben: »Bestätigen will ich allen, Lentulus, daß sich die irren, die behaupten, du seiest keine Großschnauze« (Seneca, Über den Zorn, III.38.2). An der Spitze der Ironierangliste steht aber, wie sollte es auch anders sein, Sokrates. Seneca berichtet über ihn, dass er von einem Fremden ohne sichtbaren Grund ins Gesicht geschlagen wurde, während er gerade das Haus verließ. Daraufhin wurde er jedoch nicht wütend, sondern kommentierte das Geschehen mit dem Witz, dass man nie wissen könne, ob man das Haus nicht besser mit einem Helm verlassen sollte (vgl. Seneca, Über den Zorn, III.11.2). Epiktet wiederum empfiehlt das Mittel der humorvollen Selbstverkleinerung. Angenommen wir finden heraus, jemand erzählt schlechte Dinge über uns. In diesem Fall können wir die Kompetenz des Beleidigers infrage stellen, indem wir ihn darauf hinweisen, dass – wenn er uns kennen würde – es noch viel schlimmere Dinge gäbe, die

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man sich über uns erzählen könnte (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 33). Die Pointe des Humorgebrauchs lautet in all diesen Fällen: »Sieh doch, deine Beleidigungen machen mir nichts aus, aber vielleicht könntest du ja einmal deine eigenen Motive hinterfragen?« Allerdings steht diese recht kreative Möglichkeit nicht in jeder Situation zur Verfügung. Die Stoiker schlagen daher noch eine Art der Belehrung vor. Sie besteht darin, den Gegenüber in möglichst takt- und respektvoller Weise auf das eigene Fehlverhalten anzusprechen. Wenn jemand ungerecht handelt, sollten wir ihn verbessern – »mit Zuspruch [...], gelinde und hart, [...] ohne Zorn« (Seneca, Über den Zorn, I.15.1). Das schließt eine geeignete Wahl der kommunikativen Mittel und eine hinreichende Situationseinschätzung ein. Der Stoiker muss wissen, wie man den anderen in nichtaggressiver Weise adressiert und wann die richtige Situation dafür gekommen ist. Auch diese Art der Belehrung wird man daher nicht ohne eine gewisse Expertise meistern können. Anders als bei den humorvollen Entgegnungen müssen wir aber nicht in der gleichen Weise schlagfertig und kreativ sein. Wenn man daher jemanden ohne Ärger, Wut und Groll auf den rechten Pfad bringen will, ist die empathische Vernunft, wie man sie nennen könnte, für viele einfacher zu praktizieren als die humorvolle Herangehensweise. Nun kennen die Stoiker noch einen Sonderfall der Belehrung. Dieser betrifft Individuen, die sich weder durch Humor noch durch Einfühlung zur Umkehr bewegen lassen. In diesem speziellen Fall hält es Seneca in der Tat für angemessen, eine Ärgeremotion zu zeigen, wenngleich nur in vorgetäuschter Form (vgl. Seneca, Über den Zorn, II.14.1). Wir zeigen nach außen hin, dass wir uns über das Verhalten des Gegenübers aufregen, um ihn positiv zu beeinflussen, jedoch akzeptieren wir nicht das Werturteil, das dem Ärger zugrunde liegt, nämlich, dass die Person uns etwas Schlimmes angetan hat. Wir sind, wie man sagen könnte, Schauspieler, die im Dienste der guten Sache eine bestimmte Rolle spielen. Die stoischen Herangehensweisen verlangen nicht nur einen gewissen Grad an Überzeugung, sondern auch an Übung. Die Stoiker erwähnen eine ganze Reihe von Praktiken, die uns helfen sollen, schwierigen Menschen gelassen gegenüberzutreten und sie trotz ihrer für uns

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herausfordernden Art zu besseren Menschen zu machen. Ich möchte im Weiteren drei Arten von Übungen herausgreifen, die einen guten Einstieg für den Leser darstellen können. Die erste Übung basiert darauf, die eigene Selbstaufmerksamkeit zu steigern, um damit Ärger frühzeitig zu erkennen und ihm dadurch entgegenzuwirken oder – wenn das nicht mehr möglich ist – ihn zumindest so weit abzumildern, dass er handhabbar wird. Ein mehrstufiger Plan lässt sich etwa bei Marc Aurel erkennen. Hierbei besteht der erste Schritt darin, die frühen Signale des Ärgers zu erkennen, zum Beispiel eine Veränderung der Stimmlage, der Muskelkontraktion oder des einsetzenden ›Gedankenkarussells‹. Bei Marc Aurel steigert sich dieser Schritt sogar zu einer Aufforderung zur ständigen Selbstbefragung: »Wozu gebrauche ich denn jetzt eigentlich meine Seele? Bei jeder Gelegenheit muss man sich dies fragen und prüfen: Was geschieht bei mir in dem Teil der Seele, den man den führenden Teil nennt, und welche Seele besitze ich im Augenblick?« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, V.11)

In einem zweiten Schritt empfiehlt er, sich bewusst zu machen, dass es nicht die Situation oder der andere Mensch ist, was einen wütend macht, sondern das eigene Urteil, dem zufolge das Verhalten des anderen problematisch sei. Methodisch können wir das tun, indem wir die Beschreibungen der Situation und der eigenen Interpretation voneinander trennen. Er schreibt zum Fall, dass wir von jemandem beleidigt werden: »Es wurde dir angezeigt, dass dieser oder jener schlecht über dich redet. Das ist dir angezeigt worden. Dass du dadurch geschädigt worden bist, ist dir aber nicht angezeigt worden.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VIII.49)

Der Sinn dieser Trennung besteht darin, sich der eigenen Wertung (»Dass du dadurch geschädigt worden bist«) so weit bewusst zu werden, dass wir ihre Angemessenheit gemäß der stoischen Lehre prüfen können. Ist es wirklich schlimm, wenn ich beleidigt werde? »Nein«,

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würden Marc Aurel und die anderen Stoiker sagen, »ist es nicht, denn die Meinung und das Verhalten der anderen sind für mein gutes Leben indifferent.« Eine solche rationale Auseinandersetzung setzt natürlich ein recht abstraktes Denken und Vorstellungsvermögen voraus. Außerdem muss man die stoische Lehre immer präsent haben, was gerade in der ›Hitze eines emotionalen Gefechts‹ nicht immer leicht umzusetzen ist. Die Stoiker haben daher unter anderem ein Hilfsmittel vorgeschlagen, das den Zugang zur rationalen Auseinandersetzung im zweiten Schritt erleichtert, nämlich den Bezug auf Rollenvorbilder (vgl. dazu auch S. 133). Marc Aurel hat sich sogar explizit dazu ermahnt, »sich fortwährend an […] Vorfahren zu erinnern, die sich als tugendhaft erwiesen« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, XI.26). Und das ist auch nachvollziehbar. Wir fragen dann nicht: »Wie müssen wir die Situation gemäß der stoischen Lehre einschätzen?«, sondern: »Was würden Zenon, Sokrates oder Cato uns raten?« Beide Fragen führen zum gleichen Ergebnis. Der Bezug auf die Rollenvorbilder erscheint vielen jedoch eingängiger, hilfreicher und hat einen direkten praktischen Nutzen. Allerdings kommt auch eine rationale Auseinandersetzung manchmal an ihre Grenzen, zum Beispiel wenn unser Ärger bereits so weit hochgekocht ist, dass er nicht mehr mit Vernunft zu bewältigen ist. In diesem Fall empfiehlt uns Epiktet einen zusätzlichen Schritt, nämlich: aushalten und aussitzen (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 20)! Oder besser gesagt: Wir sollten die Auseinandersetzung so lange aufschieben, bis wir wieder einen kühlen Kopf haben. Wenn das geschehen ist, können wir das Werturteil in einem stoischen Sinne hinterfragen. Diese Ansicht hat Epiktet wahrscheinlich von den Pythagoreern übernommen, die für diese Art der abkühlenden ›Auszeit‹ eigens den Terminus paidartan verwendeten (vgl. dazu S. 173). Eine zweite Art von Übungen kann man als Desensibilisierung bezeichnen. Ihr Ziel besteht darin, sich im Vorhinein an die negativen Emotionen, die andere in uns auslösen können, zu gewöhnen und dadurch ihren emotionalen Einschlag zu reduzieren. Mit Blick auf den Umgang mit herausfordernden Menschen äußert sich Marc Aurel etwa an einer der prominentesten Stellen der gesamten Selbstbetrachtungen zu Beginn des zweiten Buches:

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»Am Morgen sollte man sich sagen: Ich werde mit einem beschränkten, undankbaren, unverschämten, falschen, missgünstigen und unverträglichen Kerl zusammentreffen.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, II.1)

Marc Aurel äußert in dieser Textpassage keine misanthropische Haltung. Es geht nicht darum, die conditio humana zu verdammen, sondern sich auf den Ernstfall des Tages vorzubereiten, nämlich, dass man an dem betreffenden Tag auf schwierige Menschen treffen wird. Und das konnte bei einem römischen Kaiser, der zahlreiche Bittsteller empfing, ja durchaus vorkommen. Die Logik dahinter lautet: Wer sich schon im Vorhinein auf möglichen Situationen vorbereitet, die die eigene Seelenruhe bedrohen können, der wird in der jeweiligen Situation ruhig und gelassen bleiben. Eine dritte Art von Übungen bezieht sich nicht auf den Ärger und den Umgang mit ihm, sondern darauf, die respektvolle Haltung gegenüber schwierigen Menschen zu kultivieren. Die Stoiker haben sich hierfür mittels kurzer dogmata oder Sinnsprüche einige Eckpfeiler der eigenen Lehre in Erinnerung gerufen (vgl. dazu auch S. 95). Einer dieser Eckpfeiler besteht in der Ansicht, dass niemand willentlich etwas Böses tut. So etwa Epiktet am Beispiel von Dieben und Räubern: »Was meinst du mit Dieben und Räubern? Falsche Begriffe haben sie von gut und schlecht. Sollte man also nicht eher Mitleid mit ihnen haben als auf sie böse sein?« (Epiktet, Unterredungen, I.18)

Die Idee hinter dieser Überlegung besteht darin, dass die Erkenntnis, niemand tue willentlich etwas Böses, den eigenen Ärger über das Fehlverhalten abmildern soll, vielleicht sogar eine gewisse Sympathie oder Mitleid erzeugt, was es einfacher macht, eine konstruktive Belehrung anzugehen. Der Gegenüber erscheint nicht als böser Dämon, sondern als fehleranfälliger Mensch. Eine analoge Überlegung präsentiert auch Seneca, der herausfordernde Menschen mit unerfahrenen Kindern vergleicht (vgl. Seneca, Über die Standhaftigkeit des Weisen, XII.1–2). Ähnlich wie die gute Mutter sich vom Gebaren des unerfahrenen Nachwuchses nicht aus der Ruhe bringen lassen wird, sollte auch der

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Stoiker das kindliche Verhalten der Erwachsenen nicht überbewerten. Sie sind eben, was sie sind: unerfahren und fehlerhaft. Die Stoiker erwähnen noch eine weitere Überlegung. Sie besteht darin, sich die eigene Fehlbarkeit vor Augen zu halten, um nicht andere vorschnell zu verurteilen. So rät etwa Marc Aurel: »Wenn du an dem Fehler irgendeines Menschen Anstoß nimmst, dann hör sofort auf damit und überlege, ob du nicht einen ganz ähnlichen Fehler begehst, wenn du z. B. Geld oder die Lust, den Ruhm und entsprechendes für ein Gut hältst.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, X.30)

Das klingt plausibel und nachvollziehbar. Wer beispielsweise in einer Situation, in der er von jemandem respektlos behandelt wird, vor Augen hat, dass er selbst ebenfalls schon einmal so oder ähnlich gehandelt hat, wird mehr Verständnis dafür aufbringen können als jemand, der sich für ein fehlerloses Superwesen hält. Die aber vielleicht prominenteste Überlegung, die Sympathie gegenüber anderen Menschen erzeugen soll, besteht darin, sich bewusst zu machen, dass wir alle miteinander verbunden sind. Marc Aurel äußert diesen Gedanken direkt im Anschluss an die oben schon zitierte premeditatio zu Beginn des zweiten Buches, in der er das mögliche Zusammentreffen mit herausfordernden Menschen vorwegnimmt: »Da ich aber das Wesen des Guten erkannt habe [...] und das Wesen dessen, der alles falsch macht, daß er mir verwandt ist – nicht weil er dasselbe Blut hat oder aus demselben Samen stammt, sondern weil er teilhat an demselben Geist und an denselben göttlichen Gaben –, kann ich weder von einem dieser Leute geschädigt werden – denn in Häßliches wird mich niemand verstricken – noch kann ich meinem Verwandten zürnen oder sein Feind sein. Denn wir sind da, um zusammenzuarbeiten, wie die Füße, Hände, Augenlider oder die Reihen der oberen und unteren Zähne.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, II.1)

Wer nach Marc Aurel also einmal eingesehen hat, dass der Gegenüber kein Fremder ist, sondern jemand, mit dem er etwas Göttliches teilt, der wird ihn auch mit mehr Wohlwollen behandeln. Das ›Göttliche‹

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des Menschen besteht, wie wir schon wissen, für die Stoiker vor allem in der Fähigkeit zur Vernunft und zur Sozialität. Beide Eigenschaften kommen allen Menschen zu und verbinden sie miteinander (vgl. zum ergon-Argument auch S. 83). Allerdings bedient Marc Aurel in dieser Textpassage nicht nur das Motto: »Gemeinsamkeiten schweißen zusammen!« Vielmehr leitet er aus den Gemeinsamkeiten den bekannten stoischen Imperativ ab, dass Menschen miteinander kooperieren und einander helfen sollen, wie es – so sein Vergleich – die Gliedmaßen und die anderen Körperteile tun. Für ihn sitzen wir Menschen also, etwas salopp gesprochen, alle im gleichen Boot. Wir haben nicht nur ähnliche Fähigkeiten, sondern auch den gleichen Arbeitsauftrag. Im Rahmen einer solchen ›Schicksalsgemeinschaft‹ eine gewisse Sympathie für andere Menschen auszubilden, erscheint da beinahe schon zwangsläufig.

6.4 Falsche Ziele: sozialer Status und Luxus Wir Menschen sind in der Regel keine perfekten Stoiker. Wir sind nicht immer an unseren Tugenden orientiert, sondern uns geht es manchmal, wenn wir ganz ehrlich zu uns sind, auch um etwas anderes, zum Beispiel um sozialen Status und materiellen Komfort. Wer mag es nicht, wenn man vom eigenen Chef, den Arbeitskollegen oder dem Freundeskreis anerkannt und gemocht wird? Wer genießt es nicht, wenn man nach einem beruflichen und privaten Erfolg einen Schulterklopfer oder sogar Applaus bekommt? Und da wäre auch noch der Luxus: Was kann ein wenig Komfort in der eigenen Wohnung schon schaden? Und hin und wieder eine Fahrt in einem schnellen Auto ist auch nicht zu verachten, oder? Und die Freuden des Gaumens: Was soll man gegen einen guten Wein oder ein anspruchsvolles Essen einwenden können? Das alles klingt nach: menschlich, allzu menschlich! Es scheint für Menschen geradezu natürlich, zumindest in einem gewissen Maße an ihrem sozialen Status und am materiellen Komfort interessiert zu sein. Die Stoiker, wir ahnen es bereits, sehen das alles erneut ganz anders.

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Für sie sind beide Wertorientierungen, auch wenn sie natürlich und Teil des Common Sense sein mögen, nicht sonderlich erstrebenswert. Was wir stattdessen bewerten müssen, ist, was für eine Art Mensch wir sind und welchen Charakter wir ausgebildet haben. Und bei einer solchen Einschätzung spielt es erst einmal keine Rolle, ob uns jemand applaudiert oder wir ein volles Bankkonto haben. Manchmal kann man in ihren Äußerungen sogar einen mahnenden Unterton ausmachen. In diesen Fällen scheint sicherlich ein Stück weit das kynische Erbe der stoischen Philosophie durch. Ähnlich wie die Kyniker klingen dann die Stoiker so, als seien Werte wie Ruhm und Reichtum nicht nur irgendwelche, sondern nichtpräferierte Indifferenzen. Sie sind nicht bloß gleichgültig für das gute Leben, sondern können sogar gefährlich werden. Ein Grund für diese Einschätzung liegt wohl darin, dass die Stoiker meinen, mit einem solchen Streben sei immer das Potenzial für Frustration und Leiden verbunden. Epiktet verdeutlicht diesen Punkt am Beispiel von sozialen Erwartungen (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 25). Er bittet uns, uns die folgende Situation vorzustellen: Jemand aus unserem sozialen Umfeld, den wir sehr schätzen und zu dem wir ansonsten eine gute Beziehung haben, veranstaltet ein Abendessen. Es kommen viele prominente Leute, und es verspricht ein bunter und fröhlicher Abend zu werden. Der Haken ist nur, wir sind nicht eingeladen, weil wir nicht wichtig genug sind. Werden wir in diesem Fall nicht sauer, beleidigt und vielleicht sogar wütend sein? Das wäre aus intuitiver Sicht nicht sonderlich überraschend. Und es ist nach Epiktet der Preis, den wir zu zahlen haben, wenn wir uns um den eigenen sozialen Status und das eigene Ansehen sorgen. Wir werden ihm zufolge innerlich unfrei, weil wir unser Glück an Dinge hängen, die wir nicht vollständig beeinflussen können – nämlich daran, wie andere über uns urteilen. Als Gegengift schlagen die Stoiker eine radikale Lösung vor: Wir sollen das Muster unserer Wertorientierung durchbrechen, indem wir ins kalte Wasser springen. Sie empfehlen uns daher ein Abhärtungstraining, um gegenüber Fremdbewertungen immun zu werden. Wie wäre es denn, wenn wir uns einmal bewusst der Missgunst von anderen aussetzen – und zwar nicht nur in der Vorstellung, sondern im all-

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täglichen Leben? Plutarch berichtet etwa über Cato, dieser habe von Zeit zu Zeit unkonventionelle Kleidung getragen, um negative Aufmerksamkeit hervorzurufen und sich dem gegenüber zu desensibilisieren (vgl. Plutarch, Cato der Jüngere, IV). So trug man in der römischen Öffentlichkeit in der Regel eine Tunika und Sandalen. Cato hingegen kam barfuß und in leichter Robe. Man kann sich leicht die stechenden Blicke der Römer vorstellen, die Catos Seelenruhe auf die Probe stellten. Nicht immer sahen sich Stoiker jedoch mit einer negativen Fremdeinschätzung konfrontiert. Manche haben sie auch bewundert und – ironischerweise – gerade ihre Indifferenz gegenüber Missgunst in besonderer Weise gelobt. Mit dem Lob verhält es sich für die Stoiker allerdings genauso wie mit der negativen Aufmerksamkeit. Von ihm versuchen sie sich ebenfalls weitestgehend unabhängig zu machen. Überliefert sind vor allem Techniken, die dem Stoiker erlauben, sich vom Applaus der anderen emotional zu distanzieren. Epiktet empfiehlt etwa, über ein Lob genauso laut zu lachen wie über eine Schmähung, um nicht dessen Lockruf zu verfallen (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 48). Allerdings meint er damit selbstverständlich nur ein lautes innerliches Lachen. Über ein Lob von anderen in der Öffentlichkeit zu lachen, würde wohl von manchen Lobenden als Beleidigung gewertet, was wiederum nicht im Sinne der stoischen Tugend der Gerechtigkeit wäre. Es ist jedoch nicht nur die potenzielle Bedrohung der Seelenruhe, die die Stoiker an Ruhm und Reichtum als geeigneter Wertorientierung zweifeln lässt. Sie meinen ebenfalls, ein solche Orientierung könne uns derart in den Bann ziehen, dass sie einen suchtartigen Charakter bekommt. Es ist, wie Seneca in einem Brief an Lucilius erklärt, ein Begehren, das niemals gestillt werden kann (vgl. für das Folgende Seneca, Briefe, 16.8). Anders als etwa Hunger und Durst ist der Wunsch nach Ansehen und Reichtum unersättlich. Um das zu illustrieren, geht Seneca weiter auf den Reichtum ein und bittet Lucilius sich vorzustellen, er wäre in seinem Leben mit großem Luxus beschenkt – mit einem mit Marmorplatten belegten Haus mit goldenen Decken und mit Kleidung in teuren Purpurfarben. Selbst in dem Fall, so Seneca, wird er nicht zufrieden sein, sondern nur nach noch größerem Luxus streben. Senecas

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Argumentation lautet also, dass ein erfüllter Wunsch zu einem neuen, dieses Mal noch intensiveren Wunsch führt. Eine immer weiter eskalierende Spirale des Begehrens droht, an deren Ende mentale Unruhe und Rastlosigkeit stehen. Und das ist genau das Gegenteil von dem, was die gelassene Lebensweise des Stoikers ausmacht. Was schlagen die Stoiker vor, um dieser Schwierigkeit zu entkommen? Ihre Lösung lautet im Falle des Reichtums: Bescheidenheit. Und das meint, einen einfachen Lebensstil zu pflegen, der nicht zu Ausschweifungen verführt. Das betrifft die eigenen Essgewohnheiten, das eigene Haus und dessen Einrichtung, aber auch die eigene Kleidung. So rät Musonius Rufus, uns vorwiegend an Mahlzeiten zu halten, die leicht zuzubereiten sind, gut erhältlich und als besonders nahrhaft gelten können; unser Haus sollte möglichst funktional sein, sowohl in seiner Bauweise als auch in seinem Mobiliar. Ein Ferienhaus auf dem Land hielt er für einen überflüssigen Luxus. Die Küche des eigenen Hauses sollte mit Stein- und Tonkrügen und nicht mit Gold- und Silberware ausgestattet sein; und die eigene Kleidung sollte vor allem dazu dienen, den Körper warm zu halten und nicht dazu, andere Menschen zu beeindrucken (vgl. Musonius Rufus, Lehrgespräche, 19.5 und 20.3). Ganz ähnlich hält es auch Epiktet. Ihm zufolge sollen wir nur diejenigen Dinge in unserem Leben dulden, die dem Erhalt unseres Körpers dienen: »Die körperlichen Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung und Dienerschaft, befriedige in der einfachsten Weise« (Epiktet, Handbüchlein, 33). Allerdings sollte der Minimalismus der Stoiker nicht mit der Besitzlosigkeit der Kyniker verwechselt werden. So hebt Seneca hervor, dass die Philosophie Genügsamkeit von uns fordert, aber nicht Anspruchslosigkeit und vollkommenen Verzicht (vgl. Seneca, Briefe, 5.5). Das sind die Ideale – aber wie sieht die Realität aus? Zumindest von Seneca wissen wir, dass er sicher nicht das einfache Leben geführt hat, von dem Musonius und Epiktet gesprochen haben (vgl. zum Leben von Seneca S. 27). Handelt es sich bei ihm daher um den Fall eines doppelmoraligen Stoikers, der Wasser predigt und Wein trinkt? Hätte er nicht auch ein minimalistisches Leben führen müssen? Tatsächlich darf man an dieser Stelle nicht vergessen, dass der bescheidene Lebensstil für die

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Stoiker nur Mittel zum Zweck ist und nicht bloßer Selbstzweck. Es ging darum, die Unersättlichkeit der eigenen Begehren in Schach zu halten, um sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern, nämlich ein guter Mensch mit einem guten Charakter zu werden. Nun kann man sich vorstellen, dass bei manchen Menschen bereits der eigene Charakter und insbesondere die Tugenden des Mutes und der Selbstbeherrschung so weit ausgebildet sind, dass sie sich durch ein Leben im Luxus nicht mehr korrumpieren lassen. Das wird jedoch, selbst wenn man optimistisch ist, sicherlich nicht für alle, sondern nur für ausgewählte Individuen gelten. Am Ende legen uns die Stoiker damit eine differenzierte Haltung nahe. Für sie ist es mit Blick auf das gute Leben des Einzelnen egal, ob wir gemocht werden oder über einen hohen materiellen Lebensstandard verfügen. Es ist jedoch natürlich, wenn wir Applaus und Mammon bevorzugen; beiden grundsätzlich abschwören, wie die Kyniker es empfehlen, müssen wir ebenfalls nicht. Im gleichen Atemzug mahnen die Stoiker uns aber zur Wachsamkeit. Das Begehren nach sozialem Status und materiellem Wohlstand kann die stoische Seelenruhe bedrohen und zur obsessiven Sucht werden. Es kann ein tugendhaftes Leben in nicht unerheblichem Maße erschweren – wie soll man auch weise, gerecht, mutig und selbstbeherrscht sein, wenn man sich vor allem um die Meinung anderer Menschen sorgt und Angst um den eigenen Lebensstandard hat? Die Stoiker raten uns daher zu einer ehrlichen Selbstprüfung: Lassen unsere Konstitution und unser stoischer Trainingszustand es zu, dass wir die Tugenden unter den uns gegebenen Lebensumständen ausbilden können? Falls das nicht der Fall ist, empfehlen die Stoiker mentales Abhärtungstraining, kognitive Distanzierung und eine minimalistische Lebensweise. Falls es doch zutrifft, sind wir auf der sicheren Seite. Dann spricht nichts gegen ein Leben, in dem man sich einer individuell angepassten Menge an Ruhm und Reichtum aussetzen kann.

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6.5 Die eigene Vergänglichkeit: Älterwerden, Tod und Euthanasie Das Älterwerden und der eigene Tod sind zwei Dinge, die wir im Alltag nicht jeden Tag präsent haben und reflektieren. Dennoch geraten wir früher oder später in Situationen, die uns die eigene Vergänglichkeit vor Augen führen. Das können die ersten Falten im Gesicht sein, Probleme mit der eigenen Mobilität, die Diagnose einer Krankheit oder vielleicht sogar der Tod eines geliebten Menschen. Wir realisieren dann, dass unser Leben fragil ist. Wir sind nicht unsterblich, und auch wir werden früher oder später von dieser Erde Abschied nehmen müssen, vielleicht sogar früher, als uns lieb ist. Die meisten Menschen finden solche Gedanken beklemmend, manchmal beängstigend. Die Ursache des Unbehagens kann verschieden sein: Man bemerkt, dass man vielleicht irgendwann in den eigenen Lebensvollzügen auf Hilfe angewiesen ist. Oder man ahnt, dass man vielleicht bisher zu wenig aus seinem Leben gemacht hat und es noch so viel zu tun, erleben und erledigen gäbe. Für die Stoiker ist das Vergänglichkeitsthema eines der zentralen Elemente ihrer gesamten Philosophie. Dafür lassen sich mehrere Gründe angeben. Einer davon hat sicherlich mit den Lebenständen der Stoiker zu tun. Sie lebten immerhin in einer Zeit in der Antike, in der weder medizinische Versorgung noch politische Stabilität garantiert waren. Entsprechend war ein frühes persönliches Ableben viel wahrscheinlicher, als es etwa gegenwärtig in der westlichen Welt der Fall ist. Die eigene Endlichkeit stand einem zur Zeit der Stoiker daher deutlicher vor Augen, sodass es nur konsequent erscheint, sie zum Gegenstand des philosophischen Denkens zu machen. In diesem Zusammenhang vertreten die Stoiker die radikale These, dass wir – wenn wir einmal rational darüber nachdenken – eigentlich keinen guten Grund haben, Angst vor dem Älterwerden und dem eigenen Tod zu haben. Beides ist aus ihrer Sicht unausweichlich. Beides ist von uns nicht vollständig zu kontrollieren. Wir können zwar mittels Anti-Aging-Medizin das Altern verlangsamen oder uns mit anderen Hilfsmitteln die eigene Autonomie und Mobilität bewahren. Ganz auf-

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halten können wir den Prozess jedoch nicht. – Daran gibt es (momentan) jedenfalls noch nichts zu rütteln. Die angezeigten Tugenden sind daher Mut und Selbstbeherrschung, was bedeutet: Wir sollten das Älterwerden und das eigene Ableben gleichmütig hinnehmen. Ein ziemlich pointiertes Beispiel für diese indifferente Haltung des Stoikers liefert uns Epiktet: »Ich muss sterben: Wenn es jetzt sein muss, so sterbe ich jetzt. Soll es aber noch Aufschub haben, so speise ich jetzt zu Mittag, weil es eben Mittagszeit ist, und will dann nach dem Essen sterben.« (Epiktet, Unterredungen, I.1)

Es ist nicht einfach, sich angesichts dieser Unerschütterlichkeit das Schmunzeln zu verkneifen. Für die Stoiker war es jedoch voller Ernst. Es ging darum, die unausweichlichen Dinge zu akzeptieren und sich in seinem Lebensvollzug nicht sonderlich von ihnen stören zu lassen. Wenn man also erst später am Abend hingerichtet wird, konnte man vorher noch in aller Ruhe sein Mittagessen zu sich nehmen. Ein anderes Beispiel stammt von Seneca, der in Über die Seelenruhe die Einstellung des Stoikers Julius Canus schildert, der von Kaiser Caligula zum Tode verurteilt wurde. Dieses Urteil habe er gleichgültig kommentiert: »Danke dir, mein gnädigster Kaiser«. Zehn Tage später wurde er von einem Centurio zu seiner Exekution abgeholt. Er spielte ein Würfelspiel und zeigte kein Anzeichen von Bitterkeit oder Trübsal. Als er nach seinem mentalen Zustand gefragt wurde, entgegnete er, er empfinde weder Angst noch Ärger, sondern bereite sich bereits darauf vor, wenn im Moment des Todes der Geist den Körper verlässt (Seneca, Über die Seelenruhe, XIV.4–9). »Siehe«, so kommentiert Seneca, »mitten im Sturm Ruhe«. Und er ergänzt: »[N]iemand hat länger Philosophie getrieben« als ebenjener Canus (Seneca, Über die Seelenruhe, XIV.10). Nicht alle Äußerungen der Stoiker zur Vergänglichkeit zielen auf die Zurschaustellung von Gelassenheit. Manchmal begegnet uns auch eine positive Umwertung. Das lässt sich vor dem Hintergrund der stoischen Physik begründen, denn die Tugenden des Mutes und der Selbstbeherrschung beinhalten nicht nur Indifferenz, sondern auch eine Be-

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jahung des eigenen Schicksals (vgl. S. 72). Was aber soll gut sein daran, dass wir älter werden und irgendwann das Zeitliche segnen? Die Stoiker führen eine Reihe von Punkten auf. Seneca etwa sieht in der letzten Lebensphase die beste Zeit des menschlichen Lebens, denn in dieser Phase verliere man viele Laster, die die Ausübung der Tugenden erschweren können: »Wie süß ist es, leidenschaftliche Wünsche überwunden und hinter sich gelassen zu haben!« (Seneca, Briefe, 12.5). Seneca spricht außerdem davon, dass man aufgrund der eigenen Lebenserfahrung gelassener und beherrschter geworden ist, da man viele Dinge erlebt hat und nicht mehr so leicht aus der Ruhe zu bringen ist. Der Geist hat, wie er berichtet, sich eines großen Teils seiner körperlichen Bürde entledigt (vgl. Seneca, Briefe, 26.2). Und der Tod? Um die Frage zu beantworten, warum unser Tod etwas Gutes haben könnte, müssen wir nochmals in das metaphysische Gebilde der Stoiker eintauchen. Es beinhaltet unter anderem den Gedanken, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben und der zeitliche Ablauf der Dinge in einer bestmöglichen Weise geordnet ist. Wenn das stimmen sollte, bedeutet das für den eigenen Tod: Er ist nicht nur unausweichlich, sondern auch etwas Gutes, weil er Teil einer guten Ordnung ist, die gar nicht besser sein könnte. Entsprechend empfehlen uns die Stoiker, die eigene Vergänglichkeit und die Möglichkeit des eigenen Todes nicht zu bedauern, sondern zu begrüßen. Beides ist Teil eines perfekt komponierten Kunstwerks. Wer diesen Umstand einmal erkannt hat, ist frei von jedwedem Leid und jedweder Angst. Er hat, wie es Seneca ausdrückt, aufgehört, ein Sklave zu sein (vgl. Seneca, Briefe, 26.10). Wie kann man diese Einsicht zum Habitus machen, sodass wir sie im entscheidenden Moment auch verfügbar haben? Die Stoiker hatten darauf mehrere Antworten. Die bekannteste ist sicherlich die melete thanatou, die Kontemplation des eigenen Todes. Hierbei handelt es sich um eine Variante der premeditatio futurum malorum, allerdings um eine radikale und emotional anspruchsvolle Variante (vgl. dazu S. 99). Denn wie der Name schon sagt, stellen wir uns nicht nur herausfordernde Ereignisse wie Krankheit, Mittellosigkeit oder Missgunst von anderen vor, sondern das Ende der eigenen Existenz. Der Grund

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hierfür lag nicht darin, dass die Stoiker besonders morbide waren oder sich in Melancholie ergaben. Es ging ihnen zum einen um die Gewöhnung an die Vorstellung, dass an uns der Zahn der Zeit nagt und wir irgendwann nicht mehr sein werden, und zum anderen um die damit verbundenen Effekte. Letzteres besteht vor allem in der Abmilderung der Angst vor dem eigenen Tod, die – wenn sie einmal besiegt ist – auch viele andere Ängste verschwinden lässt. Wenn wir dieses etwa haben, kann uns kaum noch etwas Angst einjagen: »Ich mache dir eine Vorschrift, die nicht nur bei dieser Krankheit, sondern im ganzen Leben ein Heilmittel ist: verachte den Tod. Nichts ist betrübend, wenn wir uns der Furcht vor ihm entzogen haben.« (Seneca, Briefe, 78.5)

Wie gewöhnt man sich aber daran, dass man ein vergängliches Wesen ist, das irgendwann einmal nicht mehr sein wird? Für die Stoiker liegt die Antwort in der ständigen Wiederholung. Wir rufen uns diesen Umstand immer wieder in Erinnerung. Eine Möglichkeit besteht darin, gewohnheitsmäßig dogmata zu bekräftigen, wie das bekannte memento mori. Oder man lernt Sentenzen und Sinnsprüche auswendig, um sie im angemessenen Moment aufsagen zu können. Epiktet lädt uns etwa zur Memorierung der folgenden Sentenz ein: »Ich bin ja nicht unsterblich, sondern ein Mensch, ein Teil des Ganzen, wie die Stunde ein Teil des Tages. Ich muss kommen wie die Stunde und gehen wie die Stunde.« (Epiktet, Unterredungen, II.5)

Darüber hinaus haben die Stoiker Visualisierungstechniken verwendet. Viele dieser Übungen sind so konzipiert, dass man aus einer Vogelperspektive heraus den zeitlichen Verlauf der Ereignisse, inklusive seiner eigenen Geburt und seines eigenen Ablebens, an sich vorbeiziehen lässt. Einige Varianten dieses Blicks von oben wurden bereits im Kapitel zur Selbstbeherrschung und des Mutes behandelt (vgl. S. 103). Um nochmals ein besonders prägnantes Beispiel von Marc Aurel herauszugreifen:

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»Von oben hinabschauen auf unzählige Herden, auf zahllose religiöse Feste, auf allerlei Verkehr über See bei Sturm und heiterem Wetter und auf die Vielfalt des Entstehenden, des sich Vereinigenden und des Vergehenden. Dabei denk auch an das von anderen in früheren Zeiten gelebte Leben, an das Leben, das nach dir gelebt werden wird, und an das Leben, das jetzt bei fremden Völkern gelebt wird, und wie viele Menschen nicht einmal deinen Namen kennen, wie viele ihn in Kürze vergessen werden und wie viele dich, die dich jetzt vielleicht loben, sehr bald tadeln werden.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IX.30)

Es ist mehr als nachvollziehbar, dass derlei Visualisierungen für einige Menschen anspruchsvoll und vielleicht sogar belastend sein können. Wer denkt schon gern daran, dass er eine ziemlich fragile und endliche Existenz führt? Die Stoiker sahen darin jedoch ein wichtiges Element, um die Tugend des Mutes und Selbstbeherrschung auszubilden. Ein mutiger und selbstbeherrschter Mensch hat begriffen, dass er irgendwann sein Leben, wie Epiktet es formuliert, zurückgeben muss und sich die Welt auch ohne ihn weiterdreht (vgl. Epiktet, Handbüchlein, 11). Den emotionalen Einschlag dieser Einsicht abzumildern, ist die Hauptaufgabe der melete thanatou. Nun muss man allerdings ebenfalls erwähnen, dass für die Stoiker nicht nur die Tugenden des Mutes und der Selbstbeherrschung für die Bewertung und den Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit relevant sind, sondern auch die Gerechtigkeit. Sie spielt vor allem bei einem Spezialthema eine Rolle: dem eigenen Freitod. Die Stoiker waren nämlich, anders als man denken könnte, trotz ihrer Indifferenz gegenüber dem Tod keine radikalen Verfechter eines natürlichen und gänzlich unbeeinflussten Sterbeprozesses. Sie gingen nicht davon aus, dass man der Natur ihren Lauf lassen sollte, da man ihre Prozesse ohnehin nicht kontrollieren könne. Epiktet bringt vielmehr die allgemeine Ansicht der Stoiker auf den Punkt, wenn er seine Politik der ›offenen Tür‹ erläutert: »Einmal hat unser Fleisch eine unangenehme, ein anderes Mal wieder eine angenehme Empfindung. Sagt es dir nicht zu, so steht die Tür offen. Sagt es dir zu, so ertrage es. Die Tür steht unter allen Umständen offen; also hat es keine Not.« (Epiktet, Unterredungen, II.1)

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6. Wie Stoiker das Leben meistern

Mit der Phrase der ›offenen Tür‹ beschreibt Epiktet metaphorisch die Möglichkeit des Freitodes oder, wie die Stoiker es selbst nannten, der Euthanasie (»eu«: »gut«, »richtig«, »schön«; »thanatos«: »Tod«, »Sterben«). Diese Möglichkeit zum ›guten Tod‹ ist uns theoretisch in jeder Situation gegeben. Was aber sind die Kriterien dafür? Im Zitat gibt uns Epiktet mit dem Hinweis auf den eigenen Nutzen nur einen ungenauen Hinweis. Wir können diesen jedoch weiter mit Inhalt füllen, wenn wir auf einige Beispiel von Stoikern blicken, die den Freitod gewählt haben. Da wäre zunächst Zenon von Kition, der Gründer der Stoa. Bei ihm gehen die Berichte darüber auseinander, wie er zu Tode gekommen ist. Diogenes Laertius listet einige Schilderungen auf (vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, VII.28-31). Eine besonders stoisch anmutende besagt, Zenon habe sich im hohen Alter, als er unter physischen Schmerzen litt, zu Tode gehungert, da er annahm, unter diesen Umständen nichts mehr zur Gesellschaft beitragen zu können. Nicht das Leid bzw. dessen Vermeidung war der Grund für den Freitod, sondern die Unmöglichkeit, die eigene Tugend, insbesondere die Gerechtigkeit, weiter auszuüben. Ein weiteres Beispiel ist der Freitod des Cato. Folgen wir Plutarchs Erläuterungen, befand sich jener in der Blüte seines Lebens, als er sich mit Julius Caesar überwarf, der ihn als politischen Gefangenen instrumentalisieren wollte (vgl. Plutarch, Cato der Jüngere, LXIV-LXXI). Aus Catos Sicht wäre er selbst damit zum Komplizen einer ungerechten Sache geworden. Um das zu vermeiden, wählte er den Freitod. Nach Plutarch war Catos Freitod weder durch Angst vor zukünftiger Folter noch aus Verbitterung über das Scheitern seines politischen Handelns motiviert. Sein Grund war vielmehr, dass er mit seinem Überleben sich und auch der römischen Gesellschaft geschadet hätte, nämlich durch unmoralische Komplizenschaft. Der Freitod des Seneca darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Seneca ist natürlich eine kontroverse Figur, auch in stoischen Kreisen. Es ist umstritten, wie aufrichtig er die Philosophie tatsächlich lebte, insbesondere in seiner Zeit im Dienste des Kaisers Nero. Sein Ableben hingegen scheint vielen unzweifelhaft stoische Züge gehabt zu haben.

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Teil III: Als Stoiker im Alltag leben

Zur Erinnerung: Laut Tacitus’ klassischer Schilderung wurde Seneca wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, was bedeutet, dass er sich mit dem Freitod konfrontiert sah (vgl. Tacitus, Historien, 15.60–64; zur Biographie siehe auch S. 27). In dieser Situation hätte er fliehen oder um Gnade bitten können, wie es viele getan hätten. Seneca blieb nach Tacitus jedoch standhaft, da er einerseits durch sein Gnadengesuch die aus seiner Sicht ungerechte Herrschaft Neros legitimiert hätte und andererseits, um einige der Familienreichtümer für seine Familienmitglieder zu erhalten, die ihm bei der Flucht sicher entwendet worden wären. Ich habe die drei Beispiele von Zenon, Cato und Seneca ausgeführt, um aufzuzeigen, unter welchen Umständen für den Stoiker ein Freitod in Betracht kommt, also wann er durch die offene Tür hindurchgehen kann oder sogar sollte. Zenon hat es aus physischen Schmerzen getan, die ihn daran hinderten, der Gesellschaft weiter von Nutzen zu sein. Cato wollte sich nicht für die aus seiner Sicht falschen Zwecke instrumentalisieren lassen, wodurch er der römischen Gesellschaft geschadet hätte. Seneca verweist auf persönliche Integrität, aber auch darauf, das Erbe für seine Verwandten zu sichern. Gemeinsam ist allen dreien, dass sie den Freitod als eine Möglichkeit sahen, ihren tugendhaften Charakter, insbesondere die Tugend der Gerechtigkeit, zu bewahren. Das klingt zunächst nach einer sehr laxen Einstellung zum Freitod. Sie ist es jedoch keineswegs, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Begründungen ein Stoiker dadurch ausschließt. Diesen Punkt machte etwa Epiktet klar, als er einen Dialog mit einem Freund führte, der sich durch einen Hungerstreik suizidieren wollte. Er berichtet: »Ich erfuhr es, als er schon den dritten Tag nichts mehr gegessen hatte. Ich ging zu ihm und fragte, was geschehen ist. – ›Ich habe es so beschlossen.‹ – Aber es muss doch etwas geben, was dich dazu gebracht hat. Ist dein Entschluss richtig und berechtigt, sieh, so sitzen wir bei dir und helfen dir noch auf deinem Weg. Wenn du aber keinen vernünftigen Grund zu einem solchen Entschluss hast, so sollst du Abstand davon nehmen. – ›Man muss auf seinen Entschlüssen beharren.‹ – Guter Freund, was soll das? Nicht auf allen, nur auf den richtigen.« (Epiktet, Unterredungen, II.15)

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6. Wie Stoiker das Leben meistern

Nach Epiktet sollten wir nicht willkürlich entscheiden, ob wir unser Leben beenden oder nicht. Als Stoiker braucht man dafür gute Gründe. Gemäß der stoischen Lehre muss sich der Urteilenden in einer Lage befinden, die die Ausübung eines tugendhaften Lebens unmöglich macht (Zenon) oder in der die Selbsttötung selbst einen Akt der Tugend darstellt, weil sie unmoralische Komplizenschaft vermeidet (Cato), oder auch, weil sie Schaden von anderen abwendet (Seneca). Wenn das der Fall ist, kann der Freitod tatsächlich eine gerechtfertigte Handlung sein. Trifft dies nicht zu – und das dürfte sehr häufig der Fall sein –, rät uns Epiktet stellvertretend in einer Auseinandersetzung mit dem lebensmüden Freund: »[S]o sollst du Abstand davon nehmen.« (Epiktet, Unterredungen, II.15)

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Teil IV: Was wir von den Stoikern lernen können 7. Der Stoizismus im 21. Jahrhundert Die Zielfrage dieses Buches bildete ein zugegebenermaßen anspruchsvolles Gedankenexperiment: Wie sähe eine stoische Lebenskunst im 21. Jahrhundert aus? Welche Gedanken lassen sich übernehmen? Welche müssen modifiziert werden? Welche sind heute kaum noch haltbar? Meine eigene Antwort auf diese Fragen habe ich in den letzten drei Teilen dieses Buches erläutert. Im nunmehr letzten Teil möchte ich ein wenig über den engen Tellerrand der eigenen Auslegung hinausblicken und mich der Frage nach der Attraktivität des Stoizismus widmen und wie wir, wenn wir einer solche Lebensweise tatsächlich attraktiv finden, daran weiterarbeiten können. Dafür werde ich zunächst einen Abstecher durch die Rezeptionsgeschichte des Stoizismus machen und erläutern, warum dieser nach einer langen Phase des Vergessenseins gegenwärtig wieder eine Hochphase erlebt. Der Stoizismus durchläuft eine kleine Renaissance, insbesondere, so möchte ich zeigen, weil er gut zum Zeitgeist passt. Anschließend werde ich den individuellen Mehrwert der stoischen Lebenskunst erläutern, also dasjenige, was uns in der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt erwartet, wenn wir den Stoizismus praktizieren. Das werde ich tun, indem ich auf empirische Studien zurückgreife, aber auch die Ergebnisse dieses Buches zusammentrage. Am Ende werde ich einige Hinweise für diejenigen geben, die Feuer gefangen haben und an dieser Lebenskunst weiter-

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7. Der Stoizismus im 21. Jahrhundert

arbeiten möchten. Für sie kann dieses Buch der Anfang sein, aber es muss sicher nicht das Ende bilden.

7.1 Der neue Stoizismus und seine gegenwärtige Attraktivität Die mehr als 2000-jährige Geschichte des Stoizismus gleicht einem Drama in mehreren Akten. Es ist gekennzeichnet durch zahlreiche Aufs und Abs. Es gibt Höhepunkte in der Rezeption wie den in der römischen Kaiserzeit, aber auch eine sehr lange Zeit des Niedergangs bis hin zum fast vollständigen Verschwinden im Mittelalter. Dann gibt es jedoch ein Comeback und einen kaum für möglich gehaltenen Wiederaufstieg, insbesondere in der Gegenwart. Wie ist dieses Wechselspiel zu erklären? Um diese Frage zu beantworten, müsste man eine ausführliche Quellenkunde betreiben und sich über Jahre in das verfügbare Material eingraben. Ich bin jedoch kein Historiker, der das in einem wissenschaftlich angemessenen Maße tun könnte, sodass ich mich mit einigen explorativen Überlegungen begnügen möchte, um dem historisch Interessierten einen Überblick zu geben. Um mit etwas Unzweifelhaftem zu beginnen: Der Stoizismus war in der griechischen und römischen Antike weit verbreitet und zu großen Teilen sehr angesehen. Es wunderte niemanden, wenn er auf dem Marktplatz einen Stoiker traf, der ihn darüber informierte, wie er mit seinen Ängsten und psychologischen Leiden umgehen sollte. Diese Alltäglichkeit scheint jedoch im Laufe der römischen Kaiserzeit ein Ende gefunden zu haben. W. E. H. Lecky datiert mit dem Tod des Marc Aurel das Ende der breiten Rezeption des Stoizismus.24 Zwar hatte Marc Aurel noch 176 n. Chr. einen Lehrstuhl für stoische Philosophie in Athen eingerichtet, ab dem 3. Jahrhundert gibt es jedoch keine Hinweise mehr darauf, dass sich Stoiker wirkmächtig und erfolgreich am Philosophieunterricht oder an philosophischen Fachdiskussionen beteiligt haben. Dafür macht Lecky soziokulturelle Einflüsse geltend, vor allem das ausschweifende Leben der Partrizier, das nur noch schlecht zum Minimalismus der Stoiker gepasst habe. Entsprechend wurde der

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Stoizismus als anachronistisch betrachtet, also als eine biedere Denktradition aus vergangenen Tagen. Diese soziokulturelle These vom Niedergang teilen nicht alle Historiker. Eine andere These von M. L. Clarke besagt, das Verschwinden des Stoizismus habe weniger mit dem römischen Lebensstil als vor allem mit dem Fehlen charismatischer Lehrer zu tun gehabt.25 Epiktet war einer von ihnen. Aber danach? Clarke macht in dieser Hinsicht eine Leerstelle aus. Seine Überlegung: Wenn es keine Lehrer gab, die den stoischen Nachwuchs rekrutieren und – vor allem – begeistern konnten, ist es nicht erstaunlich, dass die Stoiker weniger Zulauf hatten und schlussendlich an den Rand gedrängt wurden. Ich möchte mich an dieser Stelle nicht entscheiden, ob Lecky oder Clarke richtig liegen. Beide formulieren Thesen, die auf den ersten Blick plausibel klingen. Sowohl der Lebensstil der Römer als auch das Fehlen von charismatischen Lehrern könnten eine Rolle gespielt haben. Ich glaube aber, dass das nicht die gesamte Erklärung ist. Man muss vielmehr noch einen weiteren Faktor berücksichtigen und in die Erklärung einbeziehen. Und der hat mit der intellektuellen Konkurrenz zu tun, denn die Stoiker verbreiteten ihre Lehre ja nicht in Isolation, sondern sahen sich mit konkurrierenden Denkrichtungen konfrontiert und mussten sich ihnen gegenüber behaupten. Einige wie die Epikureer, Peripatetiker und Skeptiker habe ich in Grundzügen kurz erläutert (vgl. S. 24). Nun kam zu Beginn unserer Zeitrechnung jedoch noch ein neuer Konkurrent hinzu, nämlich das gerade neu entstehende Christentum. Diese neue Denkrichtung war für die Stoiker vor allem deshalb von Bedeutung, weil die Christen in vielen Teilen ähnliche Grundauffassungen hatten und sie damit für den gleichen Adressatenkreis interessant wurden. Auch das Christentum versprach Seelenruhe und ein Leben im Einklang mit dem großen Ganzen. Ebenso zeigte es Wege auf, wie man mit seinen Leid und Angst verursachenden Wünschen und Strebungen umgehen konnte. Und es hatte einen ähnlich altruistischen Kern, der darin bestand, die eigenen Bedürfnisse zugunsten der anderen zurückzustellen. Allerdings hatte das Christentum gegenüber dem Stoizismus einen nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsvorteil: Es kannte einen Gott, der einem wohl gesonnen war

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7. Der Stoizismus im 21. Jahrhundert

und zu dem man, zum Beispiel im Gebet, direkt Kontakt aufnehmen konnte. Dieser Gedanke war den Stoikern fremd. Auch sie hatten Gebete (z. B. die Hymne an Zeus), aber diese hatten eher den Zweck der eigenen Charakterschulung. Sie waren an niemanden adressiert, und schon gar nicht sollten sie um etwas bitten – wie auch? Man hatte ja alle Mittel für das gute Leben immer bereits bei sich. Und noch etwas kam hinzu: Das Christentum hatte eine ziemlich attraktive Lösung für die Herausforderung durch den eigenen Tod. Dieser besiegelte nicht das Ende. Man lebte vielmehr nach dem physischen Tod weiter, allerdings nicht im irdischen Diesseits, sondern in einer darüber hinausgehenden himmlischen Extrawelt, in der man bis in alle Zeit als gleiche Person weiterexistierte. Die Stoiker lehnten derlei Vorstellungen ab. Es gab für sie kein ewiges Himmelreich und auch keine ewige Weiterexistenz als personale Einheit. Ihnen galt es als ausgemacht, dass man seine eigene Existenz aufgeben muss und gleichsam wieder zu dem natürlichen Material wird, aus dem man entstanden ist. Beide Versprechungen, der personale Gott einerseits und die Aussicht auf ein ewiges Leben andererseits, waren sicherlich Merkmale, die für viele das Christentum gegenüber dem Stoizismus zu einer psychologisch attraktiveren Option machten. Endlich konnte man sich mit seinen Sorgen an jemanden wenden, und sterben musste man ebenfalls nicht. Dem Stoizismus, so könnte man pointiert sagen, wurde durch das Christentum sprichwörtlich das Wasser abgegraben. Diese letzte Bemerkung deutet bereits an, dass der Lauf der Geschichte in der Folge nicht gerade gnädig mit dem Stoizismus war. Die Entwicklungen nach dem Tode Marc Aurels 180 n. Chr. sind daher recht schnell erzählt. Es gab kein großes Aufbäumen einer philosophischen Strömung, die man mit einem Sammelbegriff ›Stoizismus‹ bedenken könnte, sondern bestenfalls noch einige Schlaglichter, die als Indiz herhalten können, dass die Stoiker über die Jahrhunderte nicht gänzlich in Vergessenheit geraten sind. Bei den christlichen Denkern der Antike und Spätantike liegt die Verbindung zu stoischen Gedanken noch recht nahe. Sie griffen zum Teil recht vielfältig auf sie zurück, auch wenn sie ihnen nicht immer freundlich gegenüberstanden. Um Paulus ranken sich seit jeher Ver-

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mutungen, ob er in einem intellektuellen Austausch mit den Stoikern stand oder sogar persönlich mit Anhängern der Stoa befreundet war. Einige Interpreten gehen etwa so weit zu vermuten, die christliche Lehre der Todsünden könnte auf der Grundlage der stoischen Emotionslehre entstanden sein.26 Darüber hinaus wird Augustinus hin und wieder mit den Stoikern in Verbindung gebracht, wenn auch sein späteres Werk vor allem vom Neuplatonismus beeinflusst sein dürfte.27 Im Mittelalter sind stoische Einflüsse bei Peter Abaelard (1079–1142) greifbar. In seiner Schrift Gespräche über Philosophen (ca. 1122) legt er den dort behandelten Philosophen eine Reihe von Bemerkungen in den Mund, die durchaus stoisch klingen. Das gilt vor allem für das Tugendverständnis, welches die These beinhaltet, dass nur die Tugend alleine das gute Leben ermöglichen kann und die vier Kardinaltugenden eine Einheit bilden. Der Philosoph an sich wird in der Schrift darüber hinaus besonders positiv dargestellt. Seneca wird etwa als bester Moralphilosoph aller Zeiten bezeichnet (§ 81) und Cato der Jüngere als größtes Vorbild für die eigene Lebensführung (§ 131). René Descartes (1596–1650), einer der Begründer der modernen Philosophie, zeigt zum Beispiel in seiner Abhandlung über die Methode (1637), dass er durchaus mit stoischem Gedankengut vertraut war. An einem Punkt erläutert er etwa einige Maximen zur Frage, wie wir ein gutes Leben führen können. Die dritte Maxime liest sich hierbei wie ein Echo des ersten Satzes des Handbüchleins der Moral von Epiktet. Descartes schreibt: »Mein dritter Grundsatz war, stets bemüht zu sein, eher mich selbst zu besiegen als das Schicksal, eher meine Wünsche zu ändern als die Weltordnung und überhaupt mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß nichts völlig in unserer Macht steht außer unseren Gedanken. Haben wir also bezüglich der Dinge außer uns unser Bestes getan, so ist alles, was am Gelingen fehlt, in Hinsicht auf uns völlig unmöglich.« (Descartes, Abhandlung über die Methode, 3. Teil, 4. Abschnitt, S. 43)

Im 19. Jahrhundert finden wir in den Aphorismen zur Lebensweisheit (1851) von Arthur Schopenhauer (1788–1860) Gedanken, deren Her-

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7. Der Stoizismus im 21. Jahrhundert

kunft zwar nicht explizit gemacht wird, aber die ebenfalls einen stoischen Unterton haben. Und ein Blick über den Atlantik zeigt, dass der Stoizismus in dieser Zeit auch dort vereinzelt anzutreffen war, so zum Beispiel in den Überlegungen der New England Transcendentalists wie Henry David Thoreau (1817–1862). Zwar hat dieser den Stoizismus nicht in seinem Hauptwerk Walden erwähnt, doch finden sich in seinem Tagebuch explizite Äußerungen, die von der Kenntnis und der Hochschätzung der stoischen Lehre zeugen. So schreibt er, dass »Zenon, der Stoiker in exakt der gleichen Relation zu Welt stand, wie ich es jetzt tue.«28 Das ist natürlich ein sehr perspektivischer Blick auf die ältere Rezeptionsgeschichte. Man hätte auch ganz andere Geistesgrößen herausstreichen können, die mit den Stoikern in der einen oder andere Weise verbunden sind. Darunter etwa sehr bekannte Philosophen wie Plotin (205–270), Erasmus von Rotterdam (1469–1536), Michel de Montaigne (1533–1592), Justus Lipsius (1547–1606), Baruch de Spinoza (1632– 1677) oder Immanuel Kant (1724–1804); aber ebenso eher unbekannte wie Erzbischof Arethas (850–935), der arabische Philosoph al-Kindi (800–873) oder der Gegenreformator Kaspar Schoppe (1576–1649). Sie alle schienen mit dem Stoizismus mehr oder weniger vertraut. Trotz alledem muss man jedoch festhalten: Das waren allenfalls vereinzelte Lichtblicke. Die stoischen Denker wurden zwar nicht vergessen, aber im Mittelpunkt des kulturellen Interesses standen sie nicht. Und in der neueren Rezeptionsgeschichte? Wenn wir das 20. Jahrhundert in Augenschein nehmen, wird die Lage nicht viel besser. Die Philosophin Martha Nussbaum meint sogar, dass gerade in dieser Zeit eine wachsende Skepsis gegenüber der Lebenskunst insgesamt zu beobachten sei, sodass nicht nur der Stoizismus, sondern auch alle anderen Ansätze kaum noch Beachtung fanden. Der Lebenskunst wehte ein rauer Wind entgegen, sodass von ihren Einsichten weniger Gebrauch gemacht wurde als in »fast jeder anderen philosophischen Kultur des Westens seit dem 4. Jahrhundert v. Chr.«29 Warum aber war man so skeptisch? Ich glaube, es gibt dafür mehrere Gründe. Ein wesentlicher hat wohl mit der Frage der Zuständigkeit zu tun. Die meisten glaubten einfach nicht, dass die Philosophen die richtigen Personen für den Job

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waren, um in der Lebenskunst zu beraten. Philosophen sollten sich eher mit Begriffsfragen befassen. Und tatsächlich sind viele im 20. Jahrhundert, insbesondere in den angelsächsischen Ländern, diesem Diktum gefolgt. Wenn man dort etwa noch in den 1960er Jahren zu einem Philosophen gegangen wäre und ihn gefragt hätte: »Worin besteht das gute Leben und was muss ich dafür tun?«, dann hätte er vermutlich geantwortet: »Moment einmal, ganz langsam, bitte! Bevor wir diese sehr komplizierte Frage beantworten können, müssen wir klären, was du eigentlich mit den Begriffen ›gut‹, ›Leben‹, ›müssen‹ und ›tun‹ meinst.« Dieses Spiel hätten wir dann eine Zeit lang mitgemacht und uns durch den Philosophen durch die verschiedensten semantischen Felder und Wortbedeutungen führen lassen. Eine Antwort auf die Frage hätten wir hingegen nicht bekommen, stattdessen vielleicht einige Zweifel an der eigenen Verstandesfähigkeit (Philosophen, die Begriffsanalyse betreiben, sind ziemlich spitzfindige Leute!) und daran, ob wir überhaupt eine sinnvolle Frage gestellt haben. Kurz gesagt: Zu dieser Zeit sahen die meisten Philosophen ihr Kerngeschäft vor allem in der Begriffsanalyse. Sie verstanden sich, etwas überspitzt formuliert, als ›Begriffspolizei‹, die uns vor semantischen Fehlern bewahrt, indem sie über die Bedeutung von zentralen Begriffen aufklärt. Aus diesem Grund waren inhaltliche Antworten auf wichtige Lebensfragen von Philosophen in jener Zeit eher selten zu erwarten. Allerdings muss man auch bemerken, dass sich gerade in den letzten Jahrzehnten die Schicksalswinde ein wenig gedreht haben. Viele sind mittlerweile etwas optimistischer geworden, insbesondere was normative Fragen angeht: Wie sollen wir dem Klimawandel begegnen? Wie müssen wir uns zur sozialen Ungerechtigkeit stellen? Wie beurteilen wir die aufkommenden Techniken der künstlichen Intelligenz? Wie gehen wir mit Embryonenforschung, pharmakologischer Selbstoptimierung oder Sterbehilfe um? All das sind Fragen, bei denen mittlerweile wieder Philosophen gehört werden und man ihnen zutraut, eine rechtfertigungsfähige Position zu entwickeln. Und das betrifft ebenfalls die Lebenskunst und die Frage danach, wie wir unser Leben führen sollen. Auch diesbezüglich ist ein gewisser Optimismus zu spüren, dass Philosophen die richtigen Ansprechpartner sein könn-

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ten. Die Gründe für das neu erwachte Interesse an normativen Fragen in der Philosophie sind vielfältig. Es mag zum einen mit den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen zu tun haben, zum anderen mit internen Entwicklungen in der Philosophie selbst. Die Überzeugung, dass sich Philosophen ausschließlich mit Begriffsfragen beschäftigen sollten, wurde brüchig und nach und nach durch ein umfangreicheres Bild ersetzt, welches eben auch normative Fragen, insbesondere der Lebenskunst, enthielt. Ausgehend von diesem erweiterten Bild der Rolle von Philosophen ist in den letzten Jahren eine kleine Renaissance des Stoizismus auszumachen. Philosophen wie Lawrence Becker (1939–2018) und Martha Nussbaum (*1947) liefern beeindruckende neuere Zeugnisse für eine intellektuelle Auseinandersetzung mit den Bestandteilen der stoischen Lehre. Darüber hinaus erscheinen mittlerweile Handbücher und Einführungstitel, die das akademische Feld bereichern. Neben der neueren akademischen Beschäftigung zeigt sich das Wiedererstarken aber vor allem in der Selbsthilfe- und Ratgeberliteratur. Viele Menschen verbinden mit der Stoa vor allem philosophische Hilfe im Umgang mit alltäglichen Herausforderungen. Hierzu gehört etwa der autobiographische Bericht Courage Under Fire des amerikanischen Offiziers James Stockdale (1923–2005), der während seiner Zeit im Vietnamkrieg auf die Lehre der Stoa zurückgriff und diese verwendete, um seine siebenjährige Gefangenschaft psychisch zu überstehen. Ein weiteres philosophisch ausgerichtetes Werk ist William Irvines A Guide to the Good Life (2008), der darin seine eigenen Erfahrungen mit der Stoa vorstellt und diese intellektuell so aufbereitet, dass sie für jedermann im Alltag anwendbar sind. Donald Robertson wiederum legt in seinem Buch Stoicism and the Art of Happiness (2013) den Fokus auf die psychologischen Übungen und vermittelt so ein Bild davon, wie ein praktisches Bildungsprogramm des Stoikers aussehen könnte. Weitere Publikationen dieser Art erscheinen derzeit beinahe monatlich und landen recht regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Das interdisziplinäre Netzwerk Modern Stoicism dient dem Zweck, die lebenspraktischen Brosamen der Stoa breit zugänglich zu machen. An vielen Orten, auch in Deutschland, kann man an Stoiker-Treffen teilnehmen, um die eigene

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Lebenspraxis zu reflektieren. Es gibt mittlerweile zudem zahlreiche Foren in den sozialen Medien und sogar Apps, die einem beim Führen eines stoischen Tages helfen sollen. Es ist daher sicherlich nicht falsch, wenn man davon spricht, dass die Stoiker derzeit eine Hochphase des Interesses erleben, und zwar sowohl in der akademischen Welt, aber insbesondere auch in der breiten Öffentlichkeit. Warum fällt das Interesse gerade auf den Stoizismus? Es gibt ja nicht nur die Lebenskunst der Stoiker, sondern ebenso die der Epikureer, Peripatetiker oder Skeptiker. Was haben die Stoiker, was die anderen Lebenskunst-Philosophien nicht haben? Oder hatten sie einfach nur Glück? Ich glaube, diese letzte Frage kann man verneinen. Meine Vermutung zur Renaissance der Stoiker lautet, dass es zum Teil etwas mit dem Zeitgeist zu tun hat, warum die stoische Lehre wieder für viele attraktiv erscheint. Da wäre zunächst die säkulare Weltsicht der Stoiker. Es gibt keine Offenbarung und kein Damaskus-Erlebnis, die einem die Pforte in eine neue ethische Realität aufstoßen. Ebenso wenig gibt es Gurus, denen bedingungslos zu folgen wäre, oder ›heilige Bücher‹, die gemäß ihrer vordergründigen Wortbedeutung ausgelegt werden müssen. Stoiker orientieren sich in den ethischen Grundsätzen ihres Handelns ausschließlich an der eigenen reflektierenden Vernunft. Und das ist ein Wesenszug, der für viele als Inbegriff von säkularem und sich nicht auf externe Autoritäten berufendem Denken gesehen wird. Man mag darin eine gewisse Ironie erkennen: Während in der Antike und im Mittelalter die Abgrenzung zur Religiosität des Christentums den Stoizismus beinahe in den Orkus des Vergessens spülte, ist es heute genau die säkulare Andersartigkeit, die ihm als Attraktivitätsmerkmal ausgelegt wird. Nun darf man allerdings nicht so tun, als hätte der Stoizismus einen klaren atheistischen Wesenszug. Er ist zwar im oben beschriebenen Sinne säkular und ökumenisch, aber er kommt nicht vollkommen ohne metaphysisches Gepäck aus. Gleichwohl denke ich, dass das für einige auch kein Nachteil, sondern sogar ein zusätzliches Attraktivitätsmerkmal ist. Für die Stoiker ist der Mensch in kosmischer Hinsicht nicht heimatlos, sondern Teil von etwas Größerem. Das ist für die Stoi-

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ker der tiefere Grund, warum wir alles auf uns nehmen sollten. Und aus dieser lex natura leiten sich die konkreten Handlungsregeln ab: Der Mensch sollte seinem ergon (d. h. seiner ihm eigentümlichen Natur) folgen, nämlich vernünftig und sozial handeln. Im Konkreten haben wir gesehen, was das heißt: Er muss einen bestimmten Charakter ausbilden, was für Stoiker beinhaltet, das eigene Denken, Fühlen und Handeln so zu trainieren, dass am Ende ein tugendhafter, das meint: ein vernünftiger, gerechter, mutiger und selbstbeherrschter Mensch zu erkennen ist. Nun mag man gegen diesen Gedankengang intellektuelle Einwände hegen, von denen ich einige bereits erläutert habe (vgl. S. 88). Klar ist jedoch, dass gerade für Menschen, die unter den Entfremdungs- und Einsamkeitserfahrungen des modernen Lebens leiden, die Botschaft eines kosmischen Plans und der eigenen Rolle darin eine besondere Anziehungskraft hat. Darüber hinaus passt die stoische Lehre zum politischen Zeitgeist. Das Versprechen der Stoiker ist nämlich zugleich egalitär und individualistisch. Egalitär ist vor allem, dass jeder die Möglichkeit hat, ein gutes Leben zu führen – egal, welcher Abstammung er ist, welchen Bildungsgrad er genießt und welchen sozialen Rang er bekleidet. Das einzige, was zählt, ist die Formung des eigenen Charakters, die eine Praxis darstellt, die prinzipiell jedem offensteht. Individualistisch daran ist, dass mit dieser These verbunden ist, das gute Leben hänge nur vom jeweiligen ›Selbstformer‹ ab. Es hat nicht nur jeder die Möglichkeit zu einem guten Leben, das Individuum hat es auch – wie es der stoische Merksatz: ominia mea mecum porto ausdrückt – immer schon im Gepäck. Es liegt in ihm, nämlich in seinem Denken, Fühlen und Handeln – kurzum: in seinem eigenen Charakter. Entsprechend kann es durch nichts beeinträchtigt werden – weder durch andere Menschen noch durch widrige Umstände. Der erfolgreich durch den Stoizismus geformte Charakter ist, so legt Pierre Hadot in seinem gleichnamigen Buch nahe, wie eine uneinnehmbare »innere Burg«. Das alles sind Erklärungen für die Attraktivität und die Rezeption des Stoizismus in der gegenwärtigen Kultur. Nichtsdestoweniger darf all das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nur eine kleine Renaissance ist. Es ist ja nicht so, als stießen wir mittlerweile an jeder Ecke auf

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den Stoizismus. Wir müssen schon ein wenig suchen. Angemessener ist daher vielleicht die Beschreibung, dass es gegenwärtig mehr Stoiker als noch vor einigen Jahrzehnten gibt. Aber es gilt eben auch: Die meisten Menschen sind keine Stoiker, weil sie schlicht anderen Werten anhängen. Ähnlich wie die Stoiker halten die meisten Menschen die eigene Persönlichkeitsbildung für wichtig, allerdings eben nicht für besonders wichtig und schon gar nicht für alles, was wirklich im Leben zählt. Dafür muss man keine empirischen Studien anfertigen. Wenn man vielmehr das bunte Treiben um sich herum einmal beobachtet, wird man bemerken, dass es vielen um allzu menschliche Dinge geht, also um das, was die Stoiker als präferierte Indifferenzen beschreiben. Gesundheit ist für viele ein kostbares Gut. Schöne Stunden mit den liebsten Menschen ebenso. Zahlreiche andere wollen zudem reisen und etwas erleben. Und wenn man im Beruf Erfolg hat und sein Lebenswerk voranbringen kann, ist das für die meisten auch keine schlechte Sache. Nun wissen wir ja schon, dass die Stoiker all diese Dinge ebenfalls nicht verschmähen. Sie würden sie bevorzugen. Aber sie halten Gesundheit, andere Menschen, schöne Erlebnisse und beruflichen Erfolg nicht für das Wichtigste im Leben. Wichtiger ist für sie die eigene Persönlichkeit, die so geformt sein sollte, dass sie als weise, gerecht, selbstbeherrscht und mutig gelten kann. Darum sollte es ihnen zufolge eigentlich gehen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Stoizismus nach einer langen Durststrecke durch die Jahrhunderte wieder eine aufstrebende Lebenskunst ist, die viele Elemente des Zeitgeistes auffängt: Er ist säkular, ökumenisch, rest-metaphysisch, egalitär und individualistisch. Und das erklärt zu großen Teilen, warum sich heute wieder Menschen insbesondere zu seinen lebenspraktischen Lehren hingezogen fühlen. Ebenso gilt aber auch, dass der Stoizismus anspruchsvoll ist, weil er sich revisionär gegenüber dem gegenwärtigen Lebensstil verhält. Stoikern ist einfach etwas anderes wichtig als den meisten Menschen, denen wir im Alltag begegnen. Das kann Stoiker zu Außenseitern machen, weil sie in ihrer Wertorientierung unkonventionell sind und von der gängigen Norm abweichen. William Irvine zieht daraus den Schluss, gerade für Stoiker-Neulinge sei es besser, wenn sie

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ihren Stoizismus im Verbogenen betrieben.30 Ich selbst habe dazu keine verallgemeinerbare Empfehlung außer den Hinweis, das eigene Umfeld und die eigene Widerstandsfähigkeit zu prüfen und zu schauen, wie viel Gegenwind einen erwartet und wie viel man zu akzeptieren bereit ist. Aber wie man sich auch entscheidet – eine Frage stellt sich in beiden Fällen für jeden Stoiker-Sympathisanten: Ist die unkonventionelle Praxis der Stoiker überhaupt die ganze Mühe wert?

7.2 Stoiker werden – Was habe ich davon? Die Stoiker hatten eine ziemlich eindeutige Antwort darauf, warum man ihnen folgen sollte. Den Grund dafür sahen sie einfach darin, dass ihre Lebensweise die richtige und beste sei. Und sie meinten auch, dass sie jedermann von dieser Ansicht überzeugen könnten, zumindest jeden, der sich auf eine rationale, auf Gründe gestützte Argumentation einlässt. Ich glaube, um es deutlich zu sagen, dass die Stoiker damit falsch lagen. Zwar bin ich der Ansicht, dass ihre philosophische Theorie im Großen und Ganzen haltbar ist, aber ich denke auch, dass sie nicht die einzige ist, die das Papier wert ist, auf dem sie geschrieben steht. Mir scheinen etwa die Epikureer, Peripatetiker und Skeptiker – um einige willkürlich herauszugreifen – ebenfalls gangbare Optionen zu präsentieren. Das klingt ein wenig so, als würde ich ein anything goes mit Blick auf die Lebenskunst vertreten. Das tue ich jedoch nicht. Ich vermute zwar, dass es einen Spielraum von gleich guten Möglichkeiten gibt, sein Leben zu führen, doch impliziert die Metapher vom Spielraum auch, dass nicht jede Lebensweise gleich gut ist. Manche liegen jenseits dieses Spielraums. Man kann auf viele Arten und Weisen ein gutes Leben führen, aber eben nicht auf alle. Allerdings ist es gar nicht so einfach festzustellen, welche Lebensweisen ausscheiden. Es ist Aufgabe der professionellen akademischen Ethik, das herauszufinden. Meine eigenen Ansichten kann ich an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren. Um jedoch meine Position zumindest an einem Beispiel anzudeuten: Mir selbst scheinen etwa Lebensweisen wenig aussichtsreich, die den Hedonismus mit dem Konsumismus verbinden. Ich

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kann durchaus nachvollziehen, dass manche Menschen das gefühlte Glück (= Hedonismus) als ihr oberstes Lebensziel sehen. Die Epikureer hatten in dieser Hinsicht einen guten Punkt. Wenig verstehen kann ich jedoch, dass manche Menschen – anders als die Epikureer – das gefühlte Glück in externen Konsumgütern verorten (= Konsumismus), an die man sich schnell hedonisch adaptiert oder die nur eine vergleichsweise niedrige Erlebnisqualität bieten. Dazu können etwa die klassischen, nicht lebensnotwendigen Luxusgüter gerechnet werden, zum Beispiel bestimmte Uhren, Kleidungsartikel oder Autos. Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Punkt ist nicht, dass ich ein solche Lebensweise kritisiere, weil ich den Hedonismus oder den Konsumismus für ethisch falsch halte. Ich möchte vielmehr festhalten, dass ich sie ablehne, weil eine Verbindung der beiden Elemente an der eigenen Zielsetzung scheitert. Ein konsumorientierter Hedonismus führt einfach nicht dahin, wohin er zu führen verspricht, nämlich zu mehr positiven als negativen Glückszuständen. Diese Kritik gilt es natürlich wissenschaftlich zu erhärten, doch macht das Beispiel bereits deutlich, wie ich gegen manche Lebensweise argumentieren würde. Es ist vorwiegend eine interne Kritik, also eine solche, die eine Position an ihren eigenen Maßstäben misst. Wenn eine Lebensweise diese interne Kritik übersteht, kann man sagen, dass sie kohärent, also halbwegs durchdacht und in ihren Details zusammenhängend ist. Der Stoizismus ist eine von diesen kohärenten Lebensweisen, aber nicht die einzige. Wie kann man nun entscheiden, ob der Stoizismus etwas für einen ist oder man aus dem Arsenal an kohärenten Möglichkeiten einen anderen Kandidaten wählen sollte? Dies ist wohl vor allem eine Sache der individuellen Persönlichkeit und derjenigen Dinge, die einem wichtig sind und attraktiv erscheinen. Manche Menschen mögen das eine, andere das andere. Wenn man also Menschen für den Stoizismus gewinnen möchte, muss man etwas darüber sagen, was sie davon haben. Um das zu tun, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine davon besteht darin, sich an die empirischen Untersuchungen der akademischen Psychologie zu halten. In diesem Feld hat etwa Tim LeBon ausführliche Tests und Umfragen erstellt, die Aufschluss darüber geben, welche psychologischen Effekte eine stoische Übungs-

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praxis auf die Übenden hat. Eines seiner Ergebnisse: Bereits ein vierbis achtwöchiges Training in der stoischen Lebensweise führt bei den meisten Probanden zu signifikant mehr Gelassenheit, sozialer Verbundenheit, Erfahrung von Selbstwirksamkeit, aber auch Lebensbejahung und Dankbarkeit gegenüber dem Gegebenen.31 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, sich dem Stoizismus über Fallvignetten zu nähern. Gerade in der Populärphilosophie verdeutlichen einige Beispiele, wie eine stoischen Lebensweise praktiziert werden kann und welche Effekte davon zu erwarten sind. Insbesondere Autoren wie Massimo Pigliucci und William Irvine haben einen Einblick in ihre durch die Stoiker inspirierten Tagesabläufe gegeben und geschildert, wie sich ihre Wahrnehmung, Wertewelt und Haltungen im Laufe der Praxis verändert und aus ihrer Sicht auch verbessert ­haben.32 Um die Attraktivität des Stoizismus für das eigene Leben abzuklären, kann man aber auch bei dessen Grundpfeilern ansetzen, wie ich sie in diesem Buch dargestellt habe. Dazu gehört unter anderem, dass die Sprache der Stoiker verständlich und unkompliziert ist. Viele ihrer Überzeugungen treten uns nicht als fremdes Gedankengut gegenüber, sondern sind Teil unserer westlichen Kulturgeschichte. Es gibt darüber hinaus keine Gurus, an die man sich wenden müsste und die einem Wissen aufzwingen, das man nicht nachprüfen kann. Zudem können, wie Seneca es immer wieder vorgemacht hat, Gedanken aus anderen philosophischen Richtungen importieren werden, ohne rot werden zu müssen. Das inhaltliche Versprechen der Stoiker ist groß: Sie versprechen uns Seelenruhe, eine klare altruistische ethische Orientierung sowie ein freudvolles und engagiertes Leben. Wer will das nicht? In einigen Fällen, wie bei praktizierenden Stoikern wie Pigliucci und Irvine, haben die Stoiker gehalten, was sie versprochen haben. Ob das bei anderen auch so ist, muss sich zeigen und hängt von der Persönlichkeit ab. Ich denke aber, dass man wenig zu verlieren hat, wenn man dem Stoizismus eine Chance gibt, und potenziell viel gewinnen kann. Eine lohnende Wette also. Wenn man verliert? Dann probiert man eben etwas anderes. Und wenn die Sache gut ausgeht? In diesem Fall besteht, wie Marc Aurel betont, die Möglichkeit, sein Leben auf eine

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wunderbare Art und Weise zu transformieren und in einem neuen Licht zu sehen (vgl. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VII.2). Es ist schwer, sich einen größeren Gewinn vorzustellen. Nun sollten all diese Effekte und Attraktivitätsmerkmale nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst ein praktizierender Stoiker nicht immun gegenüber Zweifeln an der eigenen Lebensweise ist. Diese Momente können sich manchmal in der theoretischen Reflexion einstellen, zum Beispiel über die metaphysischen Fundamente (siehe etwa S. 88). Vor allem dürften sie präsent sein, wenn man auf Freunde oder Bekannte trifft, die einen anderen Lebensstil pflegen. Nicht jeder ist Minimalist und an der eigenen Charakterbildung interessiert. Manche Menschen finden ein großes Haus, teure Kunst, gutes Essen und schicke Autos erstrebenswert. Und sie haben auf den ersten Blick guten Grund dazu. Ein geräumiges Haus kann einigen Komfort und Luxus bieten. Die Wertschätzung und Rezeption von Kunst kann ein großer Genuss sein. Mit dem Porsche über die Autobahn zu fahren kann einem rauschhaften Zustand gleichkommen. Und ein guter Wein bei einem guten Essen kann einige kulinarische Freuden bereiten. Man mag als Stoiker auf einer intellektuellen Ebene all das kritisieren und als Versuchungen abtun, denen man sich entgegenstemmen muss. Ebenso mag man, wie ich es oben getan habe, eine gewisse Inkohärenz vermuten, wenn man Hedonismus und Konsumismus zusammendenkt. Aber wie das mit den Versuchungen so ist: Sie üben eine eigene Anziehungskraft aus. Und vielleicht haben die anderen Menschen ja am Ende doch Recht? Vielleicht wäre es doch besser, so wie sie zu leben? Immerhin gibt es vermutlich weniger Stoiker als Menschen, die den oben genannten Freuden zugeneigt sind. Tatsächlich hatten die Stoiker in der Antike schon ganz ähnliche Zweifel. Seneca etwa adressiert sie in seinem Essay Über die Seelenruhe. Darin berichtet sein Konversationspartner Serenus über seine stoische Praxis und seine Selbstzweifel, wenn er am Essenstisch mit Menschen sitzt, die ›normalen‹ Werten folgen. Dann entdeckt er einen »nagenden Zweifel, [...] ob nicht jenes [Leben, meine Anmerkung, M. R.] besser sei« (Seneca, Über die Seelenruhe, I.9). Es ist offensichtlich, dass dieser »nagende Zweifel« in vielen Leben eine Rolle spielen dürfte.

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Ich glaube nicht, dass sich diese Sorge vollständig ausräumen lässt. Sobald gezeigt werden kann, dass eine Lebensweise im Bereich des Spielraums der gleich guten Möglichkeiten liegt, kann sie nicht philosophisch kritisiert werden. Man kann allenfalls Wahrscheinlichkeiten erheben und schauen, wie gut eine solche Lebensweise zu den eigenen Bedürfnissen passt. Für eine spezielle Art von Menschen, insbesondere für solche, die den oben erläuterten Effekten etwas abgewinnen können, mag der Stoizismus attraktiv sein. Für andere Menschen mit anderen Bedürfnissen sind vielleicht andere Lebensweisen vielversprechender. Und manchmal ist es so, dass man zu einer Lebensweise neigt, jedoch die andere ebenfalls attraktiv findet. Man möchte den Stoizismus praktizieren, aber irgendwie kann man auch nachvollziehen, wenn andere Menschen andere Prioritäten haben, zum Beispiel solche, die mit hedonischen Freuden zu tun haben. Es ist nicht einfach, mit den schwachen Momenten der eigenen Lebenskunst umzugehen. Allerdings hilft es, sich vor Augen zu führen, dass jede Lebenskunst ihre Schwächen hat. Das gilt für den Stoizismus, aber ebenso für jede andere Denkrichtung. Die persönliche Lebenskunst ist in dieser Hinsicht wie ein guter Freund. Und wie jeder Freund hat auch die jeweils favorisierte Lebenskunst Ecken und Kanten. Nicht alles ist so, wie wir es gerne hätten, und gelegentlich kommt es zu Enttäuschungen. Wenn man also überlegen sollte, ob das Gras auf dem englischen Rasen des Porschefahrers nicht doch grüner ist, kann man sagen: »Nein, dort wird es ebenfalls Zweifel und Besorgnisse geben.« Diese werden sich weder im Stoizismus noch in irgendeiner anderen Lebenskunst ausräumen lassen. Sie gehören einfach dazu. Eine Sache kann noch festgehalten werden: Es ist in jedem Fall besser, eine Lebenskunst zu haben als gar keine. Es mag also zwar gelegentliche Zweifel geben, doch sollten diese nicht dazu führen, dass man überhaupt keine Wahl trifft, sodass man sprichwörtlich zwischen den Heuballen der Lebenskunstoptionen verhungert. Ohne eine Lebenskunst zu leben, bedeutet ja nichts anderes, als ein unreflektiertes Leben zu leben. In diesem Fall wird das eigene Handeln aus einer Mischung von evolutionär entstandenen Bedürfnissen, frühkindlich geprägten Wünschen, den Wertungsmustern des Elternhauses und darüber

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hinausgehenden sozial erworbenen Rollenmustern bestimmt (die Liste ließe sich noch erweitern). Auch damit kann man, wenn die eigene Sozialisation halbwegs normal verläuft, irgendwie durch das Leben manövrieren. Die meisten Menschen jedoch streben danach, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und nach Grundsätzen zu leben, die sie reflektiert und für gut befunden haben. Und wenn die Reflexion umfangreich ist wie im Stoizismus, besitzt man einen rechtfertigungsfähigen ethischen Kompass, also eine Lebenskunst.

7.3 Als Stoiker leben: einige Bemerkungen zur Weiterbildung Was zur Zeit von Marc Aurel galt, gilt immer noch: Ein guter Start, um sich in einem Thema weiterzubilden, besteht darin, ein Buch (oder im antiken Fall von Marc Aurel: eine Papyrusrolle) in die Hand zu nehmen. Das vorliegende Buch gibt einen ersten Überblick, wie es sein kann, als Stoiker zu leben. Wer tiefer in den theoretischen Bildungsteil einsteigen will, kann sich die Originalquellen vornehmen (siehe für mehr Informationen zu den Weiterbildungsmöglichkeiten S. 244). Denn anders als die meisten anderen philosophischen Klassiker sind die Stoiker auch von Nichtphilosophen leicht zu ›verdauen‹. Ein guter Anfang können die drei Essays von Seneca bilden: Über das glückliche Leben, Über die Seelenruhe und Über die Kürze des Lebens. Ebenso könnte man sich den Briefen an Lucilius widmen. Das sind allerdings mehr als hundert, einige interessanter als andere. Außerdem fokussieren die Briefe auf verschiedene Themen. In Brief 83 spricht Seneca über den Genuss des Alkohols; in den Briefen 12 und 26 über das Leiden im Alter und in Brief 7 über die Gladiatorenkämpfe. Wer jedoch durchhält, wird mit nahezu jedem Thema der stoischen Lebenskunst in Kontakt kommen. Wer sich Epiktet zuwenden möchte, dem sei das Handbüchlein nahegelegt. Es ist kurz, einfach zugänglich und philosophisch ertragreich. Zur Vertiefung seines Wissens zur Theorie von Epiktet seien die längeren Unterredungen empfohlen, von denen das Handbüchlein ein Konzentrat ist. Marc Aurels Selbstbetrachtungen gehören

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zur Weltliteratur und sind nicht nur für Stoiker-Sympathisanten ein must-read. Allerdings können sie ein wenig frustrierend zu lesen sein, da die manchmal kürzeren und manchmal längeren Abschnitte keiner Ordnung zu folgen scheinen und sich zum Teil wiederholen. Stilistisch ist das Werk jedoch grandios zu lesen und gibt einen guten Eindruck über das Innenleben des römischen Kaisers samt seiner Ängste und Leiden. Musonius Rufus wiederum ist vielleicht derjenige Stoiker mit den praktischsten Hinweisen darauf, wie man sein Leben führen sollte. Seine Diskurse sind allerdings nur in Fragmenten erhalten, aber die noch erhaltenen ›Fundstücke‹ sind in jedem Fall einen Blick wert. Für den praktischen Übungsteil des Curriculums gibt es ebenfalls ausgezeichnetes Material. Neben den Stoikern selbst kommt insbesondere Pierre Hadot das Verdienst zu, die ›spirituellen Übungen‹ der Stoiker katalogisiert und genauer systematisiert zu haben. Sein Buch The Inner Citadel ist ein eigenes Meisterwerk der philologischen Auslegungskunst, aber für Nichtphilosophen nicht sonderlich gut zugänglich. Einen einfacheren Weg bietet etwa Donald Robertson in Stoicism and the Art of Happiness, in dem er die Übungen auch für den Laien verständlich erläutert und sie in den Kontext der stoischen Philosophie einordnet. Bücher sind allerdings nicht das einzige Medium, um sich mit den Stoikern und ihrer Lebensweise vertraut zu machen. Wer ein wenig die Augen offenhält, kann immer wieder Vorträge und philosophische Cafés entdecken, in denen die Stoiker eine Rolle spielen und ihre Lebensweisheiten auf praktische Herausforderungen bezogen werden. Auch Praxisseminare werden hin und wieder angeboten, die man nutzen kann, um herauszufinden, wie es ist, einige Zeit als Stoiker zu leben. Und wer eine persönliche Unterstützung vorzieht, um an den stoischen Themen zu arbeiten, der wird auf dem reichhaltig bestückten Markt einen philosophischen Berater oder Coach mit der entsprechenden Spezialisierung in ›stoischer Lebenskunst‹ finden. Um intensiver über einzelne Fragen zu diskutieren und sich mit Gleichgesinnten über stoische Lebenskunst zu beraten, können lokale Stoikergruppen aufgesucht werden (z. B. über Meetup). In den sozialen Medien sind die Stoiker ebenfalls gut vertreten. Die Facebook-Seite ist

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nicht gerade klein und auch im Bereich ›Podcast‹ gibt es einige Angebote. Das englischsprachige Stoiker-Netzwerk ›Modern Stoicism‹ bündelt viele Angebote. Man sieht also: Man ist nicht alleine, wenn man am Thema ›Stoizismus‹ arbeiten will. Wichtig ist nur, dass man sich darüber klar wird, was der Zweck der eigenen Suche ist. Will man theoretisches Wissen erwerben? Dann sollte man ein Buch zur Hand nehmen oder, falls vorhanden, den hilfsbereiten Philosophen um die Ecke fragen. Man möchte seine Übungspraxis verbessern? Dann kann man sich verschiedenen Gruppen anschließen oder einen Coach aufsuchen. Oder vielleicht wünscht man sich einfach Gleichgesinnte und weiß noch nicht so genau, was man überhaupt sucht? Dann sind vielleicht die verschiedenen Social-media-Angebote der richtige Schritt. Es gibt sicherlich kein Patentrezept. Eines gilt aber in jedem Fall: Nichts tun ist auch keine Lösung. Und das hätten nicht nur die Stoiker so gesehen, sondern auch alle anderen Vertreter der Lebenskunst.

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Anmerkungen 2. Die Grundlagen der stoischen Philosophie – drei kurze Rundflüge 1 Dass es sich bei dieser Assoziation um ein Vorurteil handelt, das mit dem philosophischen Stoizismus nicht viel zu tun hat, erläutere ich insbesondere auf den Seiten 45 bis 50 und 116 bis 120. 2 Der vollständige deutsche Titel des Buches lautet: Hadot, Pierre: Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels. Frankfurt a. M. 1996. 3 Vgl. Hadot, Die innere Burg, Kap. 5. 4 Vgl. zu den folgenden Ausführungen etwa die erhellenden und informativen Erläuterungen zur Organisation und Struktur der hellenistischen ­Philosophieschulen in Dorandi, Organization and Structure of the Hellenistic Schools.

3. Die Tugenden der Selbstbeherrschung und des Mutes 5 Die englische Originalfassung lautet: »not affected by or showing passion or feeling especially, firmly restraining response to pain or distress.«

4. Die Tugend der Gerechtigkeit 10 Es handelt sich um eine ausschnittartige Wiedergabe des Zitats bei Epiktet. Darüber hinaus wurde die Anzeige des Sprechers, also »Epiktet« oder »Vater«, zum besseren Verständnis von mir eingefügt. 11 Leider sind nicht alle Teile der Anthologie in deutscher Übersetzung verfügbar. Viele finden sich allerdings in LS und in den Quellensammlungen von Hülser und Hossenfelder. Wer darüber hinaus die übrigen Passagen einsehen möchte, muss sich der Originalquelle zuwenden, die von Kurt Wachsmuth und Otto Hense (Band 2, 1884) herausgegeben wurde. Für weitere Erläuterungen zur Quellenverwendung siehe das letzte Kapitel dieses Buches, welches auch eine kleine Quellenkunde beinhaltet. 12 Vgl. dafür etwa Robertson, Stoicism and the Art of Happiness, Kap. 5. 13 Einen lesenswerten populärwissenschaftlichen Einstieg in die Thematik, der zugleich auch auf viele Forschungsarbeiten verweist, liefert Rutger Bregman in seinem Buch Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit.

6 Pierre Hadot hat ausgehend davon nicht zu Unrecht die Verbindung zu Gedanken von Friedrich Nietzsche hergestellt, der bekanntlich den Slogan des amor fati geprägt hat. Vgl. Hadot, Die innere Burg, Kap. 7 im Abschnitt »amor fati«. Die relevante Stelle bei Nietzsche, auf die sich Hadot bezieht, lautet: »Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen – sondern es lieben.« (Nietzsche, Ecce Homo, 10)

14 Zum Text De Stoicis liegt bisher keine deutsche Übersetzung vor. Die griechische Originalquelle geht auf die Herkulanischen Papyri (PHerc. 155 und 339) zurück.

7 Vgl. Foucault, Technologien des Selbst, 24–63.

17 Die englischen Originalzeilen lauten: »If you can meet with Triumph and Disaster, And treat those two impostors just the same«. Die deutsche Übersetzung stammt von mir, M. R.

8 Siehe dafür etwa die Fabelsammlung Aesop, Fabeln.

15 Vgl. dazu auch Robertson, Stoicism and the Art of Happiness, S. 103–109. 16 Es handelt sich eine ausschnittartige Wiedergabe des Zitats bei Marc Aurel. Darüber hinaus wurde die Anzeige des Sprechers, also »stoischer Weise« oder »Marc Aurel«, zum besseren Verständnis von mir eingefügt.

9 Vgl. Hadot, Die innere Burg, Kap. 4.

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Anmerkungen

18 Die englischen Originalzeilen lauten: »Yours is the Earth and everything that’s in it, And – which is more – you’ll be a Man, my son!« Die deutsche Übersetzung stammt von mir, M. R.

7. Der Stoizismus im 21. Jahrhundert 24 Vgl. etwa Lecky, The History of European Morals from Augustus to Charlemagne, 249–255.

25 Vgl. Clarke, The Roman Mind, 133. 19 Das englische Original lautet: »It matters not how strait the gate,  How charged with punishments 26 Vgl. dazu etwa Sorabji, Emotion and Peace of Mind. the scroll, I am the master of my fate: I am the captain of my soul.« Die deutsche Übersetzung 27 Vgl. zu dieser Verbindung Sellars, Augustine stammt von mir, M. R. and the Stoic Tradition.

5. Die Tugend der Weisheit 20 Argos Panoptes war in der griechischen Mythologie ein Riese, der 100 Augen hatte und von dem gesagt wird, dass ihm keine noch so kleine Einzelheit entging. 21 Nicht alle Textstücke von Stobaeus’ Anthologie sind in deutscher Übersetzung verfügbar. Das gilt auch für den hier zitierten Passus. Die Originalquelle findet sich im zweiten Buch der Anthologie, die von Kurt Wachsmuth und Otto Hense (Band 2, 1884) herausgegeben wurde. Die genaue Referenz hierzu findet sich im letzten Kapitel des Buches, welches auch ein ausführliches Quellenverzeichnis und eine kleine Quellenkunde enthält. 22 Vgl. für eine Darstellung der Diskussion mit weiteren Literaturhinweisen Schriefl, Stoische Philosophie, 54–57. 23 Vgl. Hadot, Die innere Burg, Kap. 6.

28 Hierbei handelt es sich um meine eigene Übersetzung. Die englische Originaltext lautet: »Zeno the Stoic stood in precisely the same relation to the world that I do now.« Die Passage findet sich in Richardson, A Perfect Piece of Stoicism, 4. 29 Diese Passage wurde von mir übersetzt. Im Original lautet sie: »almost any other philosophical culture in the West since the fourth century B. C. E.«. Sie stammt aus: Nussbaum, The Therapy of Desire, 4. 30 Vgl. Irvine, A Guide to the Good Life, Kap. 22. 31 Die ausführlichen Forschungsberichte samt methodischer Vorgehensweise finden sich auf der Plattform »modern stoicism«. Siehe: https:// modernstoicism.com/research/ 32 Siehe dafür etwa den Bericht von Pigliucci in der New York Times (https://opinionator.blogs. nytimes.com/2015/02/02/how-to-be-a-stoic/) oder die Ausführungen von Irvine in seinem Buch A Guide to the Good Life (2008).

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Zeittafel

399 v. Chr.: Sokrates wird vom Volksgericht in Athen zum Tode verurteilt. Platon (ca. 428–348 v. Chr.) Aristoteles (384–322 v. Chr.) 300 v. Chr.: Berichte von ersten Stoikertreffen auf der Agora von Athen. Ältere Stoa Zenon (ca. 333–262 v. Chr.) Kleanthes (ca. 331–232 v. Chr.) Ariston (ca. 320–240 v. Chr.) Chrysipp (ca. 282–206 v. Chr.) Diogenes von Babylon (ca. 239–150 v. Chr.) Antipater (unbekannt – ca. 129 v. Chr.) Mittlere Stoa Panaitios (ca. 180–110 v. Chr.) Poseidonios (ca. 135–50 v. Chr.) Cicero (106–43 v. Chr.) ist die älteste indirekte Quelle zur Stoa. Jüngere Stoa Seneca (ca. 4 v. Chr.–65 n. Chr.) Musonius Rufus (30–100 n. Chr.) Epiktet (ca. 50–138 n. Chr.) ab ca. 70 n. Chr.: Plutarch verfasst seine biographischen und philosophischen Schriften (z. B. die Moralia), die unter anderem die Lehren der Stoiker behandeln. Marc Aurel (121–180 n. Chr.)

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Zeittafel

2.–3. Jahrhundert n. Chr.: Die Schriften der Stoiker sind noch weit verbreitet. Sie werden zum Gegenstand bekannter Kommentare gemacht, etwa bei Sextus Empiricus und Alexander von Aphrodisias. ca. 3. Jahrhundert n. Chr.: Der Historiker und Doxograph Diogenes Laertius verfasst eine der wichtigsten Quellen über die griechische Philosophie, nämlich seine Schrift über das Leben und die Lehren der antiken Philosophen. Darin werden auch wichtige Lehrmeinungen der Stoiker wiedergegeben. 4. Jahrhundert n. Chr.: Es wird berichtet, dass die letzten erhaltenen Bücher der Stoiker in Konstantinopel vorhanden sind und dort kopiert werden. 5. Jahrhundert n. Chr.: Es finden sich nur noch wenige Abschriften der Originalwerke. Bekannt sind vor allem Sammlungen, die deren Lehrmeinungen wiedergeben (z. B. von Stobaeus).

529 n. Chr.: Schließung aller Philosophieschulen durch Justinian I.

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Quellenkunde und Literaturnachweise

Quellenkunde und Literaturnachweise Ich habe im letzten Abschnitt bereits einige Hinweise gegeben, an welchen Stellen man beginnen könnte, um sich sowohl im theoretischen als auch im praktischen Teil der Philosophie der Stoiker weiterzubilden. Das waren selbstverständlich nur Vorschläge. Gut möglich, dass der Leser woanders beginnen möchte. Ich werde im Folgenden noch weitere Ressourcen vorstellen, sodass jeder für sich das Richtige finden kann. Damit erhebe ich natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Welt der Stoiker ist mittlerweile derart vielfältig, dass ein solches Unterfangen unweigerlich scheitern muss. Stattdessen versuche ich, die aus meiner Sicht belastbaren und zugleich gut lesbaren Quellen zu nennen und sie zu kommentieren. Viele dieser Quellen haben Eingang in dieses Buch gefunden. In welcher Weise das der Fall ist und wie ich mit den Quellen umgegangen bin, werde ich daher ebenfalls kurz erläutern.

Textausgaben Arnim, Hans von (Hrsg.): Stoicorum Veterum Fragmenta. 3 Bde. Leipzig: Teubner 1903–1905. Vierter Band (Indexband) herausgegeben durch Maximilian Adler (1924). Die wichtigste Sammlung von Quellen zu den Stoikern stammt von Hans von Arnim und nennt sich »Stoicorum Veterum Fragmenta«. Sofern möglich, habe ich neben der deutschsprachigen Quellensammlung von Long und Sedley (siehe nächsten Eintrag) auch auf diese Sammlung verwiesen, um den Abgleich mit den altgriechischen und lateinischen Quellen zu ermöglichen. Sie wurde, wie in der Forschungsliteratur üblich, mit »SVF« zitiert. Long, Anthony A. / Sedley, David N. (Hrsg.): Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Übers. von Karlheinz Hüser. Stuttgart: Metzler 1999. Eine gute deutschsprachige Alternative, aber auch Ergänzung zum Band von Hans von Arnim, liefert der Sammelband von Anthony Long und David Sedley. Er ist eine gängige Quelle sowohl für erfahrene Stoa-Kenner als auch für Einsteiger. Die Sammlung ist übersichtlich nach Themenbereichen geordnet und beinhaltet einen konzisen philosophischen Kommentar. Sie enthält zudem nicht nur Quellen zur Stoa, sondern ebenfalls zu den Schulen der Epikureer, Skeptiker und Akademiker. Einige Quellen, die ich im vorliegenden Buch verwendet habe, sind dieser Ausgabe entnommen worden. Die Stellenangaben wurden in der Zitation mit dem Kürzel »LS« ergänzt. Die englische Ausgabe trägt den Titel The Hellenistic Philosophers und enthält zudem eine hilfreiche kommentierte Bibliographie. Englische Fassung: 1987; deutsche Übersetzung: 1999.

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Quellenkunde und Literaturnachweise

Hossenfelder, Malte (Hrsg.): Antike Glücklehren. Quellen zur hellenistischen Ethik in deutscher Übersetzung. 2., ergänzte und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kröner 2013. Neuere, thematisch gegliederte deutschsprachige Textsammlung, die als Alternative oder Ergänzung zum Band von Long/Sedley dienen kann. Erste Auflage: 1996. Hülser, Karlheinz: Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlungen der Texte mit Übersetzungen und Kommentaren. 4 Bde. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1987–1988. Ältere zweisprachige Textsammlung, auf die in der Forschung häufig Bezug genommen wird. Enthält auch Kommentare zur Übersetzung und zu inhaltlichen Themen.

Übersetzungen zur römischen Stoa Es gibt auf dem deutschen Markt eine kaum zu überblickende Vielfalt an Übersetzungen für die Werke von Seneca, Musonius Rufus, Epiktet und Marc Aurel. Als exegetisch und philologisch belastbar gelten unter anderem die Übersetzungen der Reihe Sammlung Tusculum, die bis 2011 bei Artemis & Winkler, dann bis 2013 im Akademie-Verlag und seither im Verlag de Gruyter publiziert werden. Auch die Übersetzungen aus der Reihe Philosophische Bibliothek des Meiner Verlages sowie die Übersetzungen aus dem Reclam Verlag sind empfehlenswert. In diesem Buch kam es mir vor allem darauf an, bei der Wahl der Übersetzungen einen Mittelweg zwischen sprachlicher Verständlichkeit und exegetische Belastbarkeit zu beschreiten. Aus diesem Grund habe ich die folgenden Übersetzungen zugrunde gelegt, die ich ebenso für das Selbststudium empfehlen kann: Aurel, Marc: Selbstbetrachtungen. 2. Auflage. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel. Berlin: de Gruyter 2014 (Sammlung Tusculum). Seneca, Lucius Annaeus: Philosophische Schriften. Übersetzt von Manfred Rosenbach. Darmstadt: wbg 1995. Daraus wurden die folgenden Schriften zitiert: Über die Vorsehung; Über die Standhaftigkeit des Weisen; Über den Zorn; Trostschrift an Marcia; Trostschrift an Polybius; Trostschrift an Helvia; Über das glückliche Leben; Über die Muße; Über die Seelenruhe; An Lucilius – Briefe über Ethik, 1–124; Über die Milde; Über die Wohltaten. Epiktet; Teles; Musonius Rufus, Gaius: Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel. Berlin: de Gruyter 2014 (Sammlung Tusculum). Daraus wurde die folgende Schrift zitiert: Musonius Rufus: Lehrgespräche. Epiktet: Gespräche, Fragmente, Handbuch. Moderne Gesamtausgabe. Herausgegeben von Tino Deckert. Übersetzt von Rudolf Mücke, bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Tino Deckert. Hamburg: Tredition 2021. Daraus wurden folgende Schriften zitiert: Unterredungen; Handbüchlein der Moral.

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Quellenkunde und Literaturnachweise

Indirekte Quellen zur Stoa Es gibt eine ganze Reihe von indirekten Quellen, die sich über die Stoiker äußern. Indirekte Quellen findet man etwa bei Alexander von Aphrodisias, Cassius Dio, Cicero, Galen, Diogenes Laertius, Plutarch, Simplikios von Kilikien, Stobaeus, Tacitus oder Origenes. Diese sind aber mit Vorsicht zu betrachten. Sie sind nicht nur weniger verlässlich, weil einige Autoren den Überlegungen der Stoiker nicht gerade wohlgesonnen gegenüberstanden (z. B. Plutarch), sondern auch, weil die Autoren bei ihren Erläuterungen nicht auf Originalquellen zurückgreifen, sondern auf andere Sammlungen und Überblickswerke (siehe S. 27). Die in diesem Buch verwendeten indirekten Quellen wurden vorzugsweise aus den modernen deutschsprachigen Ausgaben der jeweiligen Werke der Autoren entnommen. Sofern keine geeignete moderne Ausgabe vorhanden war, wurde auf die Textsammlung von Long/Sedley zurückgegriffen, wobei zusätzlich auf die Sammlung von Hans von Arnim (im Text wiedergegeben als: SVF) referenziert wurde, sodass die Quellen in der altgriechischen oder lateinischen Fassung geprüft werden können. Eine Ausnahme von dieser Regel bilden die Verweise auf den Kommentar zu Epiktet von Simplikios und die Schrift De Stoicis von Philodemos sowie einige Passagen aus dem zweiten Buch der Anthologie von Stobaeus. Für alle drei liegen keine deutschen Übersetzungen vor, sodass entweder auf die englische Übersetzung zurückgegriffen wurde (Simplikios) oder die Originalquelle verwendet werden musste (Philodemos und Stobaeus). Im Folgenden sind die verwendeten Ausgaben der indirekten Quellen angeführt, die ich zugleich für ein weiterführendes Studium empfehlen kann: Cassius Dio: Römische Geschichte. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2009 (Reihe: Die Klassiker der Antike). Cicero, Marcus Tullius: Der Staat / De re publica. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel. Mannheim: Artemis & Winkler 2010 (Sammlung Tusculum). Cicero, Marcus Tullius: De finibus bonorum et malorum / Das höchste Gut und das schlimmste Übel. Herausgegeben und übersetzt von Alexander Kabza. Berlin: de Gruyter 2014 (Sammlung Tusculum). Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in Tusculum / Tusculanae disputationes. 7. Auflage. Herausgegeben und übersetzt von Olof Gigon. Berlin: de Gruyter 2014 (Sammlung Tusculum). Cicero, Marcus Tullius: Laelius de amicitia / Laelius über die Freundschaft. Herausgegeben und übersetzt von Robert Feger. Stuttgart: Reclam 1970. Cicero, Marcus Tullius: Vom pflichtgemäßen Handeln. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2008 (Sammlung Tusculum). Cicero, Marcus Tullius: Über das Schicksal. Herausgegeben und übersetzt von Hermann Weidemann. Berlin: de Gruyter 2019 (Sammlung Tusculum).

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Quellenkunde und Literaturnachweise

Cicero, Marcus Tullius: Akademische Abhandlungen: Lucullus. Herausgegeben von Andreas Graeser. Übersetzt von Christoph Schäublin. Lateinisch – Deutsch. Hamburg: Meiner Verlag 1998. Cicero, Marcus Tullius: De legibus / Über die Gesetze; Paradoxa Stoicorum / Stoische Paradoxien. Lateinisch – Deutsch. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2011 (Sammlung Tusculum). Daraus wurde zitiert: Stoische Paradoxien. Cicero, Marcus Tullius: De natura deorum / Vom Wesen der Götter. Lateinisch – Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Olof Gigon und Laila Straume-Zimmermann. Berlin: Akademie Verlag 2011 (Sammlung Tusculum). Cicero, Marcus Tullius: Sämtliche Reden. Herausgegeben und übersetzt von Manfred Fuhrmann. Düsseldorf: Artemis & Winkler 1970. Daraus wurde die folgende Schrift zitiert: Pro Murena. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg: Meiner 2015 (Philosophische Bibliothek, 674). Gellius, Aulus: Die attischen Nächte. 2 Bde. Herausgegeben und übersetzt von Fritz Weiss. Leipzig: Fues 1875. Lipsius, Justus: Von der Standhaftigkeit. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1998. Lucan, Marcus Annaeus: De bello civili / Der Bürgerkrieg. Herausgegeben und übersetzt von Georg Luck. Lateinisch – Deutsch. Stuttgart: Reclam 2009. Origenes: Contra Celsum / Gegen Celsus. Griechisch – Deutsch. Freiburg im Breisgau: Herder 2011 (Fontes Christiani, 50,1). Philodemos: De stoicis. Aus den Herculanensischen Papyri (PHerc. 155 und 339). Enthalten zum Beispiel in der Sammlung: Crönert, Wilhelm (Hrsg.): Kolotes und Menedemos. Texte und Untersuchungen zur Philosophen- und Literaturgeschichte. Leipzig/Berlin: Avenarius Verlag 1906. Plutarch: Von der Ruhe des Gemütes und andere philosophische Schriften. Herausgegeben von Bruno Snell. Zürich: Artemis-Verlag 1948 (Bibliothek der alten Welt: Griechische Reihe). Plutarch: Moralia. 2 Bde. Herausgegeben von Manuel Vogel und Christiane Weise. Wiesbaden: Marix Verlag 2012. Daraus wurde zitiert: Über die Selbstwidersprüche der Stoiker; Über die gemeinen Begriffe. Wider die Stoiker; Von Alexanders des Großen Glück oder Tapferkeit Plutarch: Große Griechen und Römer. Herausgegeben von Konrad Ziegler et al. Berlin, Boston: de Gruyter 2022 (Bibliothek der Alten Welt: Griechische Reihe). Daraus zitiert: Cato der Jüngere Simplicius: On Epictetus, Handbook 1–26. Übersetzt ins Englische von Charles Brittain und Tad Brennan. London: Duckworth 2002. Stobaeus, Johannes: Anthologii libri duo posteriores. 5 Bände. Herausgegeben von Kurt Wachsmuth (Band 1 und 2) und Otto Hense (Bände 3-5). Berlin: Weidemann 1884 und 1894–1912. 2. Auflage: 1958.

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Quellenkunde und Literaturnachweise

Tacitus, Cornelius: Historiae / Historien. Lateinisch – Deutsch. Herausgegeben von Joseph Borst. 6. Aufl. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2002 (Sammlung Tusculum).

Akademische Gesamtdarstellungen (Monographien) In der jüngeren Vergangenheit sind einige Gesamtdarstellungen und Einführungen zur Philosophie der Stoa erschienen. In deutscher Sprache möchte ich exemplarisch die folgenden hervorheben: Pohlenz, Max: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 2 Bde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972. (Erstauflage: 1948–1949). Die erste Gesamtdarstellung der stoischen Philosophie in deutscher Sprache und daher ein Klassiker. Pohlenz stellt die verschiedenen theoretischen Bausteine der Physik, Ethik und Logik dar, berücksichtigt aber auch die Divergenz der verschiedenen stoischen Autoren und bezieht den historischen Kontext ein. Forschner, Maximilian: Die Philosophie der Stoa. Logik, Ethik, Physik. Darmstadt: wbg 2018. Eine neue Gesamtdarstellung der stoischen Philosophie, die zugleich eine umfangreiche Bibliographie enthält. Das Buch ist die überarbeitete Version einer akademischen Qualifikationsschrift und daher im Anspruch eher an den Fachphilosophen gerichtet. Schriefl, Anna: Stoische Philosophie. Stuttgart: Reclam 2019. Eine kurze, konzise und verständliche Einführung in alle Bereiche der stoischen Philosophie. Das Buch ist zwar als Einführung konzipiert, bietet aber angesichts der Berücksichtigung und Auswertung der vielschichtigen Forschungsliteratur auch Anregungen für den Stoa-Kenner. Das Buch enthält zudem hilfreiche Literaturempfehlungen und Anmerkungen. In englischer Sprache ist der Markt an stoischen Gesamtdarstellungen weitaus umfangreicher, sodass es noch schwieriger ist, einzelne Werke herauszustellen. Einige bekannte und lesbare Darstellungen sind die folgenden: Inwood, Brad: Stoicism. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press 2018. Gemäß dem Reihentitel eine sehr kurze, aber auch quellenreiche Einführung anhand der drei Bereiche Logik, Ethik und Physik. Sellars, John: Stoicism. London: Routledge 2006. Eine umfangreiche und zugleich eingängige Einführung in alle Bereiche der stoischen Philosophie.

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Populärwissenschaftliche Gesamtdarstellungen (Monographien) Irvine, William: A Guide to the Good Life: The Ancient Art of Stoic Joy. Oxford: Oxford University Press 2007. Vermutlich dasjenige Buch, welches den Stoizismus als Thema in der Populärphilosophie etabliert hat. Es enthält eine kurze Darstellung der stoischen Philosophie. In den Vordergrund rücken die psychologischen Übungen der Stoiker und ihre lebenspraktischen Hinweise hinsichtlich Themen wie Liebe, Luxus, Verlust und Tod. Pigliucci, Massimo: How to be a Stoic. Using Ancient Philosophy to Live a Modern Life. New York: Basic Books 2017. Mittlerweile ein Weltbestseller. Pigliucci erläutert lesenswert und anekdotenreich seine Interpretation des Stoizismus. Robertson, Donald: Stoicism and the Art of Happiness. Practical Wisdom for Everyday Life. London: Teach Yourself 2013. Eine Gesamtdarstellung des Stoizismus, die einen besonderen Fokus auf die psychologischen Übungen legt, ohne jedoch die theoretische Einbettung in das stoische System zu vernachlässigen. Farnsworth, Ward: The Practicing Stoic: A Philosophical User’s Manual. Boston, Mass.: Godine 2018. Eine Einführung in das stoische Denken anhand von zentralen Textstellen und Zitaten. Farnsworth führt zu Beginn jedes Kapitels in die Thematik ein, lässt aber im Anschluss vor allem die Quellen für sich selbst sprechen. Eine hilfreiche Auseinandersetzung mit Vorurteilen über den Stoizismus findet sich am Ende des Buches.

Gesamtdarstellungen (Sammelwerke) Inwood, Brad (Hrsg.): The Cambridge Companion to the Stoics. Cambridge: Cambridge University Press 2003. Der Band bietet einen hilfreichen Einstieg in das stoische Denken anhand von Texten, die von einschlägigen Fachexperten verfasst wurden. Der Band ist nach Fachthemen (z. B. Logik, Erkenntnistheorie, Ethik) gegliedert, enthält aber zu Beginn auch zwei Texte zur ideengeschichtlichen Einordnung. Sellars, John (Hrsg.): The Routledge Handbook of the Stoic Tradition. London: Routledge 2017. Der Band versammelt einschlägige Aufsätze zur Ideengeschichte und Rezeption des Stoizismus in der Antike, dem Mittelalter, der Neuzeit und der Gegenwart.

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Forschungsliteratur zur philosophischen Theorie Eine Auswahl der Forschungsliteratur hängt zwangsläufig von den eigenen theoretischen Vorlieben ab. Im Folgenden nenne ich nur einige exemplarische Werke in den Bereichen Physik, Ethik und Logik, die als Ausgangspunkt für eine weiterführende Beschäftigung dienen können: zur Physik Bobzien, Susanne: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy. Oxford: Oxford University Press 1998. Frede, Dorothea: Stoic Determinism. In: Inwood, Brad (Hrsg.): The Cambridge Companion to the Stoics. Cambridge: Cambridge University Press 2003. S. 179–205. Vogt, Katja: Are the Stoics Metaphysical Brutes? In: Phronesis 54. 2009. S. 136–154. zur Logik Frede, Michael: Stoic Epistemology. In: Keimpa, Algra et al. (Hrsg.): The Cambridge History of Hellenistic Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press 1999. S. 295–322. Striker, Gisela: Essays on Hellenistic Epistemology and Ethics. Cambridge: Cambridge University Press 1996. Bobzien, Susanne: Logic: the Stoics. In: Keimpa, Algra et al. (Hrsg.): The Cambridge History of Hellenistic Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press 1999. S. 92–157. zur Ethik Graver, Margret: Stoicism and Emotion. Chicago: Chicago University Press 2007. Schofield, Malcolm: The Stoic Idea of the City. Cambridge: Cambridge University Press 1991. Vogt, Katja: Law, Reason and the Cosmic City. Political Philosophy in the Early Stoa. Oxford: Oxford University Press 2008.

Forschungsliteratur zu den stoischen Übungen Mit dem Aufkommen des Stoizismus in der Populärphilosophie ist ein wachsendes Interesse an der Übungspraxis der Stoiker entstanden. In diesem Zusammenhang gibt es zahlreiche Bücher und Texte, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Den locus classicus der meisten Arbeiten bilden die Bücher von Pierre Hadot, der sich als erster um eine Systematik und Darstellung der Übungspraxis, oder wie er es nennt, der »spirituellen Übungen«, bemüht hat. Die folgenden Bücher möchte ich als Ausgangspunkt für die intellektuelle Weiterarbeit empfehlen: Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Berlin: Verlag Mathias Gatza 1991. Darstellung der spätantiken Philosophieschulen, insbesondere mit Blick auf die von ihnen im Alltag praktizierten Übungen.

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Quellenkunde und Literaturnachweise

Hadot, Pierre: Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels. Frankfurt a. M.: Eichborn 1996. Analyse und Darstellung der verschiedenen »spirituellen Übungen«, die sich nach Hadot in den Selbstbetrachtungen finden. Darüber hinaus wird deren Stellung und Bedeutung im Kontext der Philosophie der Stoa im Allgemeinen und von Marc Aurel im Speziellen erläutert. Horn, Christoph: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern. 3. Auflage. München: Beck 2014. Eine umfassende Darstellung der antiken Lebenskunst, die nicht nur die Stoiker, sondern auch die anderen philosophischen Schulen zu Wort kommen lässt. Darüber hinaus wird die antike Lebenskunst problemgeschichtlich verortet und zentrale Thesen auf ihre gegenwärtige Anschlussfähigkeit geprüft.

Webseiten Es drängt sich der Eindruck auf, dass beinahe jeden Tag neue Webseiten zum Thema ›Stoizismus‹ erstellt werden. Wer an einer rein theoretischen Auseinandersetzung interessiert ist, sollte sich auf die einschlägigen Webseiten der akademischen Autoren begeben (siehe dafür »Forschungsliteratur zur stoischen Theorie«). Wer hingegen einen breiteren, auch populärwissenschaftlichen Zugang bevorzugt, dem seien die folgenden Referenzen als ›Knotenpunkte‹ empfohlen. Modern Stoicism (http://modernstoicism.com): Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um die bekannteste und umfangreichste Ressource, die derzeit zur Verfügung steht. Sie gründet auf der Initiative »Modern Stoicism«, die von einigen Hochschulprofessoren und Psychotherapeuten ins Leben gerufen wurde. Auf der Webseite finden sich im Bereich »Stoicism Today« Sekundärtexte zu nahezu allen Themen des Alltags. Ebenso ist sie eine wichtige Ressource für alle Arten von Veranstaltungen, die zum Stoizismus abgehalten werden. Das Team der Initiative veranstaltet mit der ›Stoicon‹ zudem einmal im Jahr die weltweit größte Tagung zur Philosophie und den Übungen der Stoa. How to be a Stoic (https://howtobeastoic.wordpress.com): Hierbei handelt es sich um die persönliche Webseite von Prof. Massimo Pigliucci, der in New York lehrt und durch »How to be a Stoic« bekannt geworden ist. Auf der Webseite finden sich exzellente und tiefgreifende Analysen der Kernelemente der stoischen Philosophie, aber auch Rezensionen zu Neuerscheinungen und Ankündigungen von Veranstaltungen. Die Rubrik »stoic advice« enthält Texte, in denen Pigliucci auf Leserbriefe zum stoischen Umgang mit alltäglichen Lebensfragen antwortet. Donald Robertsons Training Kurse (https://learn.donaldrobertson.name): Robertson ist eine der treibenden Kräfte hinter der Modern-stoicism-Initiative und ausgebildeter Psychotherapeut. Auf der Webseite finden sich einige Kurse zur Lebenskunst der Stoiker, die einen guten praktischen Einstieg in die Übungspraxis darstellen.

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Gregory Sadler Youtube Channel (www.youtube.com/user/gbisadler): In diesem Youtube-Kanal präsentiert der ausgebildete Philosoph Gregory Sadler seine Vorträge und Seminare zur Philosophie, die auch interessante Inhalte zu den Stoikern enthalten. Der Kanal hat mittlerweile (Stand: 2022) über 50000 Abonnenten und gehört zu den meistbesuchten philosophischen Kanälen überhaupt. Deutsche Stoiker-Webseite von Ralph Kurz (https://www.stoiker.net): Die deutschsprachigen Seiten zur Lebenskunst der Stoiker sind im Vergleich zum englischsprachigen Raum (noch) rar gesät. Die Seite von Ralph Kurz ist eine gute Anlaufstelle für all diejenigen, die sich über Grundlagen der Stoiker informieren wollen oder nach weiteren Ressourcen und Veranstaltungen im deutschen Sprachraum suchen.

Sozialer Austausch Lokale Stoikergruppen (www.stoicfellowship.com): Die Webseite enthält Informationen über lokale Gruppen, die sich im Rahmen von persönlichen Treffen mit der Philosophie der Stoiker befassen. Die Community ist tatsächlich sehr aktiv, sodass sich in fast jeder größeren Stadt Gruppen finden lassen. In Deutschland sind relevante Gruppen etwa in Berlin, Köln, Frankfurt oder München aktiv. Facebook-Gruppen: Mit dem Anwachsen der Stoiker-Community ist auch ein Anwachsen der Facebook-Gruppen zu beobachten. Diese beziehen sich mittlerweile nicht nur auf die Stoa im Allgemeinen, sondern auch auf spezialisierte Themen wie ›Stoizismus und Elternschaft‹. Mit der Suchfunktion sollten sich leicht einschlägige Gruppen finden lassen.

Podcasts Die Podcast-Szene ist unübersichtlich und recht unbeständig. Es erscheinen häufig neue Podcasts, die jedoch in vielen Fällen keine lange Halbwertszeit haben. Drei ganz unterschiedliche Podcasts, die bereits seit Längerem existieren und einen Einstieg bieten können, möchte ich empfehlen: Walled Garden Podcast (https://thewalledgarden.com/the-walled-garden-podcast): Der von Simon Drew initiierte Podcast, vormals bekannt unter dem Namen »Practical Stoic Podcast« gehört zu den ältesten Podcasts, die sich ausschließlich mit der Philosophie der Stoa beschäftigen. Er enthält viele Folgen zu den verschiedensten Autoren und Themen. Darüber hinaus finden sich dort Interviews mit nahezu allen Autoren der englischsprachigen Stoiker-Community. Philosophy as a Way of Life (https://anchor.fm/philosophyasawayoflife): Dieser Podcast wird von Prof. Massimo Pigliucci betrieben und besteht vor allem aus Interviews mit verschiedenen Buchautoren, Akademikern und anderen Personen des öffentlichen Interesses.

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Quellenkunde und Literaturnachweise

Der Stoiker Podcast (http://www.stoikerpodcast.de): Mein eigener Podcast, den ich zusammen mit meinen Co-Hosts Ralph Kurz und Tobias Ruess betreibe. Dem Anspruch nach beschreitet der Podcast einen Mittelweg zwischen akademischer Auseinandersetzung und praktischer Lebensberatung. Der podcast beinhaltet daher sowohl Folgen zur theoretischen als auch zur praktischen Seite des stoischen Bildungsprogramms.

Events Stoic week (https://modernstoicism.com/stoic-week/): Das Team hinter der Initiative Modern Stoicism veranstaltet alljährlich eine stoische Woche, in der Interessenten sich eine Woche lang kostenlos mit dem Stoizismus auseinandersetzen können und tägliche Übungen zum Ausprobieren an die Hand bekommen. Stoicon and Stoicon-x (https://modernstoicism.com/stoicon/): Neben der Stoic week veranstalten die modern stoics auch eine alljährliche internationale Großkonferenz. Diese wurde 2013 das erste Mal mit einigen hundert Besuchern in London abgehalten. Die jüngeren Veranstaltungen in New York und Athen zogen mehr als 5000 Besucher an. Auf der Konferenz werden neben Vorträgen auch Workshops zu vielen wichtigen Lebensthemen angeboten.

Weitere in diesem Buch zitierte Literatur Die meisten der von mir zitierten Bücher und Texte finden sich in den obigen Literaturempfehlungen wieder. Diejenigen, die bisher noch nicht erwähnt wurden, sind die folgenden: Aesop: Fabeln: Neuübersetzung. Griechisch – Deutsch. Herausgegeben von Niklas Holzberg. Übersetzt von Thomas Voskuhl. Stuttgart: Reclam 2005. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzung von Gernot Krapinger. Stuttgart: Reclam 2017. Birley, Anthony: Marcus Aurelius. A Biography. New Haven: Yale University Press 1987. Bregman, Rutger: Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2020. Capitolinus, Julius: Marcus Antoninus der Philosoph. In: Die Kaisergeschichte der sechs Schriftsteller Aelius Spartianus, Julius Capitolinus, Aelius Lampridius, Vulcatius Gallicanus, Trebellius Pollio, Flavius Vopiscus. Übers. und mit Anm. begleitet von C. August Cloß. Reihe: Römische Prosaiker in neuen Übersetzungen. Hrsg. von Gottlieb Tafel, Christian Osiander und Gustav Schwab. Stuttgart: Metzler 1856. Einzusehen unter: https://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV006026701

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Quellenkunde und Literaturnachweise

Clarke, M. L: The Roman Mind: Studies in the History of Thought from Cicero to Marcus Aurelius. New York: Norton 1968. Descartes, René: Philosophische Schriften in einem Band. Hamburg: Meiner 1996. Dorandi, Tiziano: Organization and Structure of the Hellenistic Schools. In: Keimpa, Algra et al. (Hrsg.): The Cambridge History of Hellenistic Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press 1999. S. 55–62. Foucault, Michel: Technologien des Selbst. In: Martin, Luther H.; Gutman, Huck und Hutton, Patrick H. (Hrsg.): Technologien des Selbst. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt a. M.: Fischer 1993. S. 24–63. Horaz: Oden und Epoden. Herausgegeben von Martin Hose, Kai Brodersen und Thomas Baier. Darmstadt: wbg 2010. Iamblichus: Pythagoras. Legende – Lehre – Lebensgestaltung. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Michael von Albrecht. Stuttgart: Artemis 1963. Irvine, William: A Guide to the Good Life. The Ancient Art of Stoic Joy. Oxford: Oxford University Press 2008. Lecky, William Edward Hardpole: The History of European Morals from Augustus to Charlemagne, vol. 1. New York: George Braziller 1955. Lukrez: Von der Natur / De rerum natura: Lateinisch – Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Hermann Diels. Berlin: de Gruyter 2013 (Sammlung Tusculum). Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo. Kritische Studienausgabe Band 6. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin: de Gruyter 1988. Nussbaum, Martha: The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics. Princeton: Princeton University Press 1994. Parfit, Derek: Personen, Normativität, Moral. Ausgewählte Aufsätze. Herausgegeben von Matthias Hoesch, Sebastian Muders und Markus Rüther. Übersetzt von Anneli Jefferson und Nadine Mooren. Berlin: Suhrkamp 2017. Philon von Alexandria: Über die Einzelgesetze. In: Cohn, Leopold et al. (Hrsg.): Philo von Alexandrien. Die Werke in deutscher Übersetzung. Band 2 (insgesamt: 7 Bände). 2. Auflage Berlin: de Gruyter 1962. S. 3–315. Platon: Der Staat (Politeia). Herausgegeben und übersetzt von Karl Vretska. Stuttgart: Reclam 1985. Richardson, Robert: A Perfect Piece of Stoicism. In: Thoreau Society Bulletin. No. 153, 1980. S. 1–5. Russell, Bertrand: Eroberung des Glücks. Darmstadt: Holle Verlag 1951. Sellars, John: Augustine and the Stoic Tradition. In: Pollmann, Karla et al. (Hrsg.): The Oxford Guide to the Historical Reception of Augustine. Bd. 3. Oxford: Oxford University Press 2013. S. 1775–1779. Sextus Empiricus: Gegen die Dogmatiker. Adversus mathematicos libri 7–11. Übersetzt von Hansueli Flückiger. Sankt Augustin: Academia 1998.

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Quellenkunde und Literaturnachweise

Sorabji, Richard: Emotion and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation. Oxford: Oxford University Press 2000. Wolfe, Tom: Ein ganzer Kerl. 2. Auflage. München. Heyne 2018. Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Übersetzt von Johannes Irmscher. Berlin: Akademie-Verlag 1955.

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© PRIVAT

Dr. Markus Rüther ist Permanent Researcher am Forschungszentrum Jülich und lehrt als Privatdozent am philosophischen Seminar der Universität Bonn. Von ihm sind bisher mehr als 50 Beiträge in internationalen Zeitschriften erschienen. Zudem ist er Heraus­ geber der Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie. 2016 erhielt er den Jahrespreis für Philosophie und Ethik von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

EINE ANLEITUNG ZUM GUTEN LEBEN

MARKUS RUTHER

ALS STOIKER LEBEN

… nichts weniger will die Stoische Philosophie ihren Anhängern bieten. Ihr Versprechen heißt: Nichts und niemand kann einen Stoiker aus der Ruhe bringen – weder berufliche oder private Schicksalsschläge noch körperliche Schmerzen, ja noch nicht einmal der eigene Tod. Um ein solches „gutes Leben“ führen zu können, muss man natürlich theoretisch wissen, worauf es ankommt – ebenso wichtig ist es aber, das philoso­ phische Wissen im Alltag umsetzen zu können. Markus Rüther kombiniert in dieser Einführung beide Aspekte: Er erläutert die theoretischen Bau­ steine der Stoa und bietet An­leitung zu praktischen Übungen.

WAS WIR WISSEN UND UBEN MUSSEN

MARKUS RUTHER

ALS STOIKER LEBEN WAS WIR WISSEN UND UBEN MUSSEN

Unter dem Schlagwort „Modern Stoicism“ erlebt der altehrwürdige Stoizismus gegenwärtig eine Renais­ sance. Als Quelle hilfreicher Übungen zur Selbstoptimierung scheint er einen Nerv des Zeitgeistes zu treffen. Dabei ist dieses philosophische System weit mehr als ein Selbstverbesserungs­ programm. Markus Rüther führt alle Interessier­ ten in fachkundiger und zugleich unterhaltsamer Weise in die Philoso­ phie der Stoa ein und stellt dar, was wir von den Stoikern heute noch lernen können.

ISBN 978-3-8062-4498-4

€ 28,00 [D] € 28,80 [A]

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