Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV [1 ed.] 9783428515103, 9783428115105

Alexander Schultz liefert mit der vorliegenden Veröffentlichung erstmals eine umfassende Auseinandersetzung mit der Frag

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Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV [1 ed.]
 9783428515103, 9783428115105

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Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Band 150

Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV Von

Alexander Schultz

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ALEXANDER SCHULTZ

Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von J o s t D e l b r ü c k, R a i n e r H o f m a n n und A n d r e a s Z i m m e r m a n n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht

150

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Rudolf Bernhardt Heidelberg

Eibe H. Riedel Universität Mannheim

Christine Chinkin London School of Economics

Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg

James Crawford University of Cambridge

Bruno Simma International Court of Justice, The Hague

Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV Von

Alexander Schultz

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-11510-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Mutter Sybille Schultz

Vorwort Der Dissertant als solcher tendiert in seiner Klausur dazu zu übersehen, wie viele Menschen tatsächlich zum Gelingen seiner Arbeit beitragen. Hier daher in gebotener Kürze noch einmal meine Danksagungen: Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann. Als Betreuer der Arbeit war er stets sehr verlässlicher Ansprechpartner in den unvermeidlichen schwierigen Phasen der Arbeit. Als Direktor des WaltherSchücking-Instituts danke ich ihm für die mannigfache Förderung und freundschaftliche Unterstützung, die ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut erfahren habe. Dem zweiten Direktor des Walther-Schücking-Instituts, Herrn Prof. Dr. Andreas Zimmermann LL.M. (Harvard) danke ich ebenso für anregende Diskussionen und die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Für das vielbeschriebene familiäre und produktive Umfeld, welches das WaltherSchücking-Institut auch heute auszeichnet, sind neben den Direktoren selbstverständlich vor allem dessen Mitarbeiter verantwortlich. Für die vielfältige Unterstützung, die ich aus diesem Kreis erhalten habe, sei exemplarisch Frau Dr. Ursula Heinz und Herrn Gerhard Köster gedankt. Herrn Prof. Dr. Christian Tietje LL.M. (Michigan) möchte ich aufrichtig für die Gelegenheit zum Vortrag im Rahmen seines Doktorandenseminars und für die anschließende motivierende Kritik danken. Dem Kieler Doctores Iuris e.V. danke ich recht herzlich für die Ehre der Verleihung seines Preises für eine herausragende Dissertation 2004 an die vorliegende Arbeit. Bei Herrn Dr. Julian Richter bedanke ich mich für hilfreiche Korrekturen des Manuskriptes. Mein besonderer Dank gilt Frau Dr. in spe Christiane Wandscher. Abgesehen von ihrer fachkundigen Überarbeitung meines Manuskripts erinnert sie mich stets daran, was wirklich wichtig ist. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie für ihre unbedingte Unterstützung und Fürsorge. Die vorliegende Arbeit ist im September 2003 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen worden. Danach erschienene Literatur und Rechtsprechung ist soweit möglich bis März 2004 eingearbeitet worden. Hamburg, im März 2004

Alexander Schultz

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Erster Teil Vergleichende Darstellung der relevanten Eigenschaften von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

25

Kapitel I Gemeinschaftsgrundrechte

25

1. Entwicklung des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

2. Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

3. Gewinnung der Gemeinschaftsgrundrechte durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

4. Rang der Gemeinschaftsgrundrechte im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

5. Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

6. Gemeinschaftsgrundrechte als Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

7. Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

8. Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

9. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . .

64

Kapitel II Grundfreiheiten

67

1. Funktionen der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

2. Grundfreiheiten als Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

3. Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

4. Struktur der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

5. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . . 103

10

Inhaltsübersicht Zweiter Teil Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

104

Kapitel I Tatbestandliches Verhältnis und Konkurrenzen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

104

1. Tatbestandliche Schnittbereiche von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Konkurrenzen von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . 109 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . . 111

Kapitel II Kollisionen – Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

112

1. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Gemeinschaftsgrundrechte als kollidierendes Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Gemeinschaftsgrundrechte als Rechtfertigung für mitgliedstaatliche Eingriffe in die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. Schrankenfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte in anderen Kollisionslagen . . . . . . 131 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6. Grundfreiheiten als Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 7. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . . 136

Kapitel III Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten

137

1. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Interpretation des Gemeinschaftsrechtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Inhaltsübersicht

11

3. Grundfreiheiten als Schranken-Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . 180 4. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . . 180 Zusammenfassung der Hauptthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Erster Teil Vergleichende Darstellung der relevanten Eigenschaften von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

25

Kapitel I Gemeinschaftsgrundrechte

25

1. Entwicklung des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

b) Die Entwicklung der Grundrechtsrechtsprechung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . .

26

c) Spätere Kodifizierungsbemühungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

2. Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

a) Stellungnahmen des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

b) Auslegung des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

aa) Art. 6 II EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

bb) Art. 220 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

cc) Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

dd) Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

ee) Grundrechtsschutz als Geschäftsgrundlage der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . .

36

ff) Grundrechtsschutz als Obliegenheit der EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

3. Gewinnung der Gemeinschaftsgrundrechte durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

a) Wertende Rechtsvergleichung der mitgliedstaatlichen Verfassungen auf der Grundlage eines relativierten Maximalstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

b) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

4. Rang der Gemeinschaftsgrundrechte im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

14

Inhaltsverzeichnis

5. Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

a) Gemeinschaftsgrundrechte als Abwehrrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

b) Gemeinschaftsgrundrechte als Leistungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

6. Gemeinschaftsgrundrechte als Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

7. Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

a) Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

b) Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

c) Der Einzelne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

8. Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

a) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

aa) Sachlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

(1) Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

(2) Allgemeiner Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

bb) Persönlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

(1) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

(2) Juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

b) Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

c) Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

9. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . .

64

a) Verhältnis von Chartagrundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen . . . . . . . .

64

b) Fehlende Übereinstimmung von Kompetenzen und Grundrechtsgewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

c) Defizitäres Schrankensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

d) Angestrebter Beitritt zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Kapitel II Grundfreiheiten

67

1. Funktionen der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

a) Grundfreiheiten als Abwehrrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

aa) Rechtsprechungsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

(1) Warenverkehrsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

(2) Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

Inhaltsverzeichnis

15

(3) Arbeitnehmerfreizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

(4) Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

(5) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

bb) Auslegung der Grundfreiheitsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

(1) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

(2) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

(a) Rechtsangleichungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

(b) Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

(3) Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

(a) Das Binnenmarktziel des EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

(b) Grundsatz der Effektivität des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . .

86

(aa) Die Grundfreiheiten als grundsätzlich effektiveres Mittel . . . . .

87

(bb) Normative Begrenztheit der Grundfreiheiten als einfache Verbotsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

(cc) Die Grundfreiheiten als koordinationsrechtlich qualifizierte Verbotsnormen (Herkunftsprinzip) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

b) Grundfreiheiten als Schutzgewährrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

2. Grundfreiheiten als Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

3. Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

a) Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

b) Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

c) Der Einzelne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

4. Struktur der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

aa) Sachlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

bb) Persönlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

b) Schranken der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

aa) Vertragliche Rechtfertigungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

bb) Ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände (Zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(1) Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(2) Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 (3) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

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Inhaltsverzeichnis c) Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 aa) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 bb) Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

5. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . . 103

Zweiter Teil Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

104

Kapitel I Tatbestandliches Verhältnis und Konkurrenzen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

104

1. Tatbestandliche Schnittbereiche von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Konkurrenzen von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . 109 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 6. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . . 111

Kapitel II Kollisionen – Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

112

1. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a) Rs. Kommission / Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Rs. Gouda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 c) Rs. Bosman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 d) Rs. Kommission / Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 e) Rs. Schmidberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Gemeinschaftsgrundrechte als kollidierendes Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 a) Schutzdefizite im Grundrechtsschutz durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Inhaltsverzeichnis

17

b) Mögliche Rechtfertigungen binnenmarktfreundlicher Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 120 aa) Das Binnenmarktziel des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Der spezifische Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . 122 cc) Unterschiedlicher materieller Charakter beider Normengruppen . . . . . . . . . . . . 123 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Gemeinschaftsgrundrechte als Rechtfertigung für mitgliedstaatliche Eingriffe in die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Ausnahmetatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Rechtfertigungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 aa) Unmittelbare Bezugnahme auf Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 bb) „Grundrechtskonforme Auslegung“ geschriebener Rechtfertigungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 cc) Ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 dd) Keine gemeinschaftsgrundrechtliche Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4. Schrankenfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte in anderen Kollisionslagen . . . . . . 131 a) Kollisionen im Rahmen der Schutzpflichtfunktion der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . 132 b) Kollisionen im Rahmen der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten . . . . 133 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6. Grundfreiheiten als Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 7. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . . 136

Kapitel III Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten

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1. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 a) Rs. Rutili . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 b) Rs. Defrenne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Rs. Cinéthèque . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 d) Rs. ERT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 e) Rs. Grogan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 f) Rs. Familiapress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 g) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2 Schultz

18

Inhaltsverzeichnis

2. Interpretation des Gemeinschaftsrechtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 aa) Ausnahmetatbestände als Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes . . . 146 (1) Rechtfertigungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 (2) Bereichsausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 bb) Volle Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Grundrechtsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Zuständigkeit des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 aa) Bestimmungen des EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 bb) Art. 220 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 cc) Implizite Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (1) Bisherige, externe Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (a) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (b) Konstitutive Prinzipien des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (c) Universalität des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (d) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (2) Universelle Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 c) Schranken der Zuständigkeitsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 aa) Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 bb) Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (1) Verhältnismäßigkeitsprüfung von Prüfkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (2) Argumente für die Kompetenzbetätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (a) Konstitutive Prinzipien des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (b) Defizite des nationalen Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (aa) Schutzdefizite struktureller Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 … † Grenzüberschreitende Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 … † Beschränkung auf Inländergrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (bb) Schutzdefizite nicht-struktureller Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (d) Argumente gegen die Kompetenzausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 (aa) Eingriff in die nationale Identität der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . 172

Inhaltsverzeichnis

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(bb) Verknüpfung von Binnenmarktziel und Grundrechtsschutz . . . 174 … † Große Reichweite der Prüfkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 … † Gefahr der Instrumentalisierung der Grundrechtsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 (3) Abwägung und Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Grundfreiheiten als Schranken-Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . 180 4. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? . . . . . . . . . . . . . . . 180 Zusammenfassung der Hauptthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

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Abkürzungsverzeichnis a. a.A. Abl. Abs. AdV AfP AöR Art. Bd. BGBl. Bsp. bspw. Bull. BReg. BVerfG BVerfGE BYIL CMLR CONV d. ders. d. h. DÖV DVBl. EEA EG EGKS EGMR EGV EKMR E.L.J. ELRev. EMRK endg. etc. EU

auch andere Ansicht Amtsblatt Absatz Archiv des Völkerrechts Archiv für Presserecht Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Band Bundesgesetzblatt Beispiel beispielsweise Bulletin der Bundesregierung Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes British Yearbook of International Law Common Market Law Review Dokumente des Europäischen Konventes des Derselbe das heißt Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Verwaltungsblätter Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäische Menschenrechtskommission European Law Journal European Law Review Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten endgültig et cetera Europäische Union

Abkürzungsverzeichnis EuG EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW EWG EWGV f. ff. Fn. FS GA GG GmbH GRCh GS GTE Hdb d. VerfR. HdbEGWR HdbStR h.M. Hrsg. ICJ Rep. i.E. i. e. S. insb. IPbürg IPR i.V. m. JA Jura JZ KOM Ls. mglw. mwN n. F. NJW Nr. NVwZ RabelsZ

Gericht Erster Instanz Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechtezeitschrift Europarecht Vertrag über die Gründung der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft folgende folgende Fußnote Festschrift Generalanwalt Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Grundrechtecharta Gedächtnisschrift von der Groeben / Thiesing / Ehlermann Handbuch des Verfassungsrechts Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts Handbuch des Staatsrechts herrschende Meinung Herausgeber International Court of Justice, Reports im Ergebnis im engeren Sinne insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und polische Rechte Internationales Privatrecht in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Juristische Ausbildung Juristenzeitung Dokumente der Kommission Leitsatz möglicherweise mit weiteren Nachweisen neuer Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Verwaltungszeitung Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

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22 RdA RIW RL Rn. Rs. Rspr. Rz. s. S. Slg. sog. Spstr. st. Rspr. u. UNTS v. v. v.d. verb. Verf. VerwArchiv vgl. vgl. a. vol. ZaöRV z. B. ZHR ZRP

Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für die Wissenschaft und Praxis des gesamten Arbeitsrechts Recht der Internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Randzeichen siehe Seite oder Satz Sammlung sogenannte Spiegelstrich ständige Rechtsprechung und United Nations Treaties Series von oder vom versus von der verbundene Verfasser Verwaltungsarchiv vergleiche vergleiche auch volume Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung Mit den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundfreiheiten enthält das Gemeinschaftsrecht zwei Normengruppen, die ähnliche, sich möglicherweise sogar überschneidende Gewährleistungsgehalte aufweisen. Während einzelne Aspekte der Beziehungen beider Normengruppen untereinander innerhalb des Schrifttums bereits zum Teil adressiert wurden,1 ist eine umfängliche Untersuchung des Verhältnisses von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten bislang nicht angestellt worden.2 Das Interesse an einer solch umfassenden Untersuchung ist dabei nicht bloß rein rechtsdogmatischer Natur. Die Beschäftigung mit den verschiedenen individuellen Rechtsgewährleistungen des Gemeinschaftsrechtes betrifft dabei stets zugleich die Frage, welche Rolle dem Einzelnen innerhalb der Wirtschaftsrechtsordnung der Gemeinschaft zukommt, inwieweit ihm insbesondere subjektive Rechte lediglich in der Funktion eines homo oeconomicus3 als Mittel einer effektiven Durchsetzung eines prioritär wirtschaftlichen Integrationskonzeptes verliehen werden oder ob ihm die Gemeinschaftsrechtsordnung tatsächlich den Status eines mündigen civis europeus verleiht, der sich mittlerweile, vermittelt durch diese neuartige Rechtsordnung, ohne Rücksicht auf innergemeinschaftliche Grenzen auf seine unveräußerlichen Rechte berufen kann.4 Hier geht es auch darum, die rechtliche Fundierung von Proklamationen einer bereits existierenden europäischen Wertegemeinschaft vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft zu untersuchen. Bei alledem sieht sich die Arbeit im Kontrast zu neueren Ansätzen, nach denen angesichts angeblicher Unzulänglichkeiten eines gerichtlichen Schutzes der Fokus verstärkt auf andere Formen der Durchsetzung des Grundrechtsschutzes gelegt werden soll.5 Für einen effektiven Schutz individueller Rechte sind die Achtung 1 Vgl. nur die Monographien von Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, Berlin 2001 und Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, Baden-Baden 2003. 2 Vgl. bereits Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 164. 3 Vgl. dazu Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 566 ff. 4 Siehe GA Jacobs, Schlussanträge, Rs. C-168 / 91 – Konstantinides –, Slg. 1993, I-1198, Rz. 46; zu dem Verhältnis von Unionsbürgerschaft und Grundrechtsschutz bspw. auch O’Leary, in: CMLR 32 (1995), S. 519, 519 ff. 5 s. Alston / Weiler, in: Alston, EU and Human Rights, S. 3, 12 f.

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Einleitung

der Grundsätze der Bestimmtheit und Rechtssicherheit von elementarer Bedeutung. Auf eine tragfähige Dogmatik auf Grundlage traditioneller hermeneutischer Methoden kann deshalb nicht verzichtet werden. Die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Problemen des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene darf nicht gegenüber sozial-technologischen Herangehensweisen in den Hintergrund treten.6 Dem Anspruch einer systematischen Auseinandersetzung mit der Thematik versucht die Arbeit dadurch gerecht zu werden, dass in ihrem ersten Teil zunächst die relevanten Eigenschaften von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten einander gegenüber gestellt werden, um im zweiten Teil der Arbeit das Verhältnis beider Normengruppen zu untersuchen. Dies wiederum geschieht in Anlehnung an das klassische Prüfraster bei der Betrachtung subjektiver Rechte. Es werden zunächst die tatbestandlichen Beziehungen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten untersucht, um dann die Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken bzw. als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten näher zu beleuchten. Dabei sollen die im ersten Teil der Arbeit gewonnenen Ergebnisse die Grundlage für die Betrachtungen des zweiten Teiles bilden. Gleichzeitig werden sich im Rahmen der Untersuchung des Verhältnisses von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten bestimmte Interdependenzen aufgezeigt, die wiederum Rückschlüsse auf originäre Eigenschaften der jeweiligen Normengruppen zulassen. Den möglicherweise gravierenden Änderungen, die sich bei Verbindlicherklärung des kürzlich vorgelegten Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa ergeben, soll Rechnung getragen werden, indem am Ende der einzelnen Kapitel ein kurzer Ausblick über die thematisch relevanten Änderungen angefügt wird, die sich im Falle der Annahme einer europäischen Verfassung ergeben würden.

6

Vgl. v. Bogdandy, in: JZ 2001, S. 157, 159.

Erster Teil

Vergleichende Darstellung der relevanten Eigenschaften von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten Kapitel I

Gemeinschaftsgrundrechte 1. Entwicklung des Grundrechtsschutzes a) Einleitung Die Darstellung der historischen Entwicklung des Grundrechtsschutzes ist nicht nur unvermeidbarer Bestandteil einer jeden Abhandlung, die sich mit den Gemeinschaftsgrundrechten auseinandersetzt. Im gegebenen Rahmen stellt sie einen nicht zu vernachlässigenden Aspekt der Untersuchung dar, liefert sie doch entscheidende Hinweise für das gemeinschaftsrechtliche Verständnis subjektiver Rechte. Als die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er Jahren unterzeichnet wurden, enthielten sie keine ausdrücklichen Bestimmungen über den Grundrechtsschutz im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes. Dies hat sich bis heute, nach mehr als fünfzig Jahren europäischer Integration, nicht geändert. Dabei war der Optimismus anfangs groß, die europäische Integration auch auf politischer Ebene vorantreiben zu können.1 Noch bevor der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) am 23. Juli 1952 in Kraft trat, unterzeichneten deren sechs Gründungsmitglieder einen Vertrag über die Errichtung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG).2 Bereits ein Jahr darauf wurde ein Vertragsentwurf zur Gründung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft verfasst. Diese hatte zum Ziel, EGKS und EVG unter Koordinierung der Außenpolitik und enger Zusammenarbeit auch in allgemeinpolitischer Hinsicht zusammenzufassen.3 Der Vertrag zur Gründung der EVG sah 1 Craig / de Búrca, EU Law, S. 318; vgl. Everling, in: EuR 1990, Beih. 1, S. 81, 82, mwN in Fn. 4. 2 Vertrag vom 25. 5. 1952, BGBl. II 1954, S. 343. 3 Vgl. Feger, S. 63 mwN.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

in seinem Art. 3 § 1 den Schutz der Grundrechte des Einzelnen ausdrücklich vor.4 Auch der Vertragsentwurf für eine Politische Gemeinschaft sah in seinem Art. 2 den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten als eines der vornehmlichsten Ziele der Gemeinschaft an und schlug hierzu in Art. 3 unter anderem die Aufnahme der entsprechenden Schutzbestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten5 (EMRK) und deren 1. und 4. Zusatzprotokolls als Bestandteil der Satzung vor.6 Diese Pläne fanden jedoch ein jähes Ende, als die französische Nationalversammlung am 30. August 1954 die Ratifikation des EVG-Vertrages ablehnte. Mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft entfiel zugleich die Grundlage für eine politische Gemeinschaft.7 Nach diesen Rückschlägen wich die anfängliche Euphorie sehr nüchternen utilitaristischen Überlegungen, und das Ziel, ein übergreifendes Systems des Grund- und Menschenrechtsschutzes in Europa zu schaffen, rückte in den Hintergrund.8 Sowohl der im Jahre 1953 abgeschlossene EGKS-Vertrag als auch die Römischen Verträgen von 1957 beschränkten sich danach auf die Regelung der Zusammenarbeit in vorwiegend wirtschaftlichen Angelegenheiten. Die Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft sollte nun als Mittel und Grundlage dienen, um auf diesem Wege das ursprüngliche Ziel zu erreichen: ein friedliches Nebeneinander in Europa zu gewährleisten und ein Zusammenwachsen auch auf politischer Ebene zu ermöglichen.9 Die Frage nach Grundrechtsschutz schien sich in diesem zunächst verbleibenden Rahmen ökonomischer Integration nicht mehr zu stellen.10

b) Die Entwicklung der Grundrechtsrechtsprechung durch den EuGH Angesichts des Fehlens eines geschriebenen Grundrechtskataloges kam dem EuGH bei der Entwicklung eines europäischen Grundrechtsschutzsystems eine entscheidende Rolle zu.

4 „ . . . soweit dies zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlich ist; sie wahrt dabei die staatsbürgerlichen Rechte und die Grundrechte des Einzelnen.“ 5 UNTS, Bd. 213, S. 221. 6 Vgl. Robertson, in: BYIL 29 (1952), S. 383, 396 ff. 7 Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 44; vgl. a. Siegler, S. 62 ff. 8 Dauses, in: ELRev 10 (1985), S. 398, 399; Craig / de Búrca, EU Law, S. 318. 9 Vgl. die Präambeln des EGKSV und EWGV. 10 Craig / de Búrca, EU Law, S. 318 f.; Pescatore, in: EuGRZ 1978, S. 441, 441; ders., in: EuR 1979, S. 1, 2; vgl. demgegenüber aber Bahlmann, in: EuR 1982, S. 1, 3.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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Dabei erweckte der Gerichtshof in den Anfangsjahren noch den Eindruck, dass gegenüber Akten der Gemeinschaft kein Rechtsschutz anhand grundrechtlicher Verbürgungen bestehe.11 Auch der Gerichtshof schien die Notwendigkeit der Gewährleistung eines Grundrechtsschutzes auf der Ebene der zunächst auf rein wirtschaftlich-technische Aspekte beschränkten Gemeinschaften nicht zu sehen.12 Als der EuGH erstmals ausdrücklich mit Grundrechtsfragen konfrontiert wurde, lehnte er eine Berücksichtung von Grundrechten mit der Begründung ab, nicht für die Auslegung nationaler Grundrechte zuständig zu sein.13 Später brachte er vor, die Berufung auf Grundrechtsverletzungen könne nicht zu einer Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten nach Art. 173 II EWGV führen.14 Ende der sechziger Jahre wurden jedoch insbesondere von Seiten der deutschen und italienischen Rechtsprechung Bedenken hinsichtlich des fehlenden Grundrechtsschutzes auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene laut.15 Insbesondere durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechtes hatte das Problem des europäischen Grundrechtsschutzes neue Dringlichkeit erhalten.16 Den grundlegenden Wandel innerhalb seiner Rechtsprechung leitete der EuGH daraufhin mit der Rs. Stauder17 ein. In einem Vorabentscheidungsverfahren über die Rechtmäßigkeit einer Kommissionsentscheidung zur Regelung des Verkaufs von sogenannter Sozialbutter stellte der EuGH knapp in einem obiter dictum fest, dass die „streitige Vorschrift nichts enthält, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte.“18

11 Lenz, in: EuGRZ 1993, S. 585, 585; vgl. EuGH, Rs. 1 / 58 – Stork / Hohe Behörde der EGKS –, Slg. 1958 / 59, 43 (63 f.); EuGH, verb. Rs. 36 / 59, 37 / 58, 38 / 59 u. 40 / 59 – Ruhrkohlenverkaufsgesellschaft / Hohe Behörde der EGKS –, Slg. 1960, 885 (920 f.) 12 Pescatore, Schutz der Grundrechte, S. 64; Streinz, Grundrechtsschutz, S. 48; ChwolikLanfermann, Grundrechtsschutz, S. 42. 13 EuGH, Rs. 1 / 58 – Stork / Hohe Behörde der EGKS –, Slg. 1958 / 59, 43 (64); ChwolikLanfermann, Grundrechtsschutz, S. 49. 14 EuGH, Rs. 1 / 58 – Stork / Hohe Behörde der EGKS –, Slg. 1958 / 59, 43; EuGH, Rs. 40 / 59 – Ruhrkohlenverkaufsgesellschaft –, Slg. 1960, 885; EuGH, Rs. 40 / 64 – Sgarlata –, Slg. 1965, 295. 15 Coppel / O’Neill, in: CMLR 29 (1992), S. 669, 670; Mancini, in: CMLR 26 (1989), S. 595, 609; vgl. BVerfGE 22, 293 [298 f.], dazu Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 90 f.; weiterführend zum italienischen Verfassungsgerichtssystem: Fritz, in: GS Nagelmann, S. 77 ff. 16 Grundlegend EuGH, Rs. 26 / 62 – van Gend en Loos –, Slg. 1963, 3. 17 EuGH, Rs. 29 / 69 – Stauder / Stadt Ulm –, Slg. 1969, 419. 18 EuGH, Rs. 29 / 69 – Stauder / Stadt Ulm –, Slg. 1969, 419, Rz. 7.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Damit ordnete der EuGH die Grundrechte im Gemeinschaftsrecht als allgemeine Rechtsgrundsätze ein. Das Konzept der allgemeinen Rechtsgrundsätze hatte der Gerichtshof bereits vor der Stauder-Entscheidung zur Anwendung gebracht, indem er verschiedene rechtsstaatliche Grundsätze als allgemeine Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung entwickelt und angewandt hatte.19 Dazu gehörten zum einen Verfahrensgrundsätze, wie rechtliches Gehör20 und ne bis in idem,21 zum anderen die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechtes, wie der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,22 der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes,23 das Prinzip der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes,24 insbesondere bei der Rückwirkung von Rechtsakten25 sowie beim Widerruf rechtmäßiger26 und bei der Rücknahme rechtswidriger27 Verwaltungsakte, sowie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.28 In der Entscheidung Internationale Handelsgesellschaft29 griff er diese Qualifizierung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrecht wieder auf, präzisierte sie darüber hinaus, indem er erstmals eine Aussage über die Rechtsfindungsquellen für die Ermittlung dieser allgemeinen Rechtsgrundsätze traf: „Die Gewährleistung dieser Rechte muss zwar von den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein. . .“30 Streinz, Grundrechtsschutz, S. 47. Vgl. bereits EuGH, verb. Rs. 42 und 49 / 59 – SNUPAT / Hohe Behörde –, Slg. 1961, 107 (169); Rs. 32 / 62 – Alvis / Rat –, Slg. 1963, 107 (123). 21 Vgl. bereits EuGH, verb. Rs. 18 und 35 / 65 – Gutmann / Kommission der EAG –, Slg. 1966, 153 (178); Rs. 14 / 68 – Wilhelm / Bundeskartellamt –, Slg. 1969, 1 (15); Rs. 7 / 72 – Boehringer / Kommission –, Slg. 1972, 1281 (1290). 22 EuGH, verb. Rs. 42 und 49 / 59 – SNUPAT / Hohe Behörde –, Slg. 1961, 107 (172 ff.). 23 EuGH, Rs. 222 / 84 – Johnston / R.U.C. –, Slg. 1986, 1651, Ls. 2. 24 Vgl. z. B. EuGH, Rs. 13 / 61 – Kledingveroopbedrijf de Geus en Uitedenbogerd / Bosch u. a. –, Slg. 1962, 97 (113); verb. Rs. 17 und 20 / 61 – Klöckner und Hoesch / Hohe Behörde –, Slg. 1962, 653 (686); Rs. 19 / 61 – Mannesmann / Hohe Behörde –, Slg. 1962, 717 (749). 25 Vgl. z. B. EuGH, Rs. 9 / 56 – Meroni u. a. / Hohe Behörde –, Slg. 1958, 9 (41 f.); Rs. 17 / 67 – Neumann / HZA Hof / Saale –, Slg. 1967, 591 (611); Rs. 1 / 73 – Westzucker GmbH / Einfuhr- und Vorratstelle für Zucker –, Slg. 1973, 723 (729). 26 Vgl. bereits EuGH, verb. Rs. 7 / 65 und 3 – 7 / 57 – Algera u. a. / Gemeinsame Versammlung –, Slg. 1957, 83 (117 ff.). 27 Vgl. bereits EuGH, Rs. 15 / 60 – Simon / Gerichtshof der EG –, Slg. 1961, 239 (259 f.); Rs. 111 / 63 – Lemmerz-Werke / Hohe Behörde –, Slg. 1965, 893, (911). 28 EuGH, Rs. 8 / 55 – Fédération Charbonnière des Belgique / Hohe Behörde –, Slg. 1955 / 56, 297 (311); Rs. 15 / 57 – Compagne des hauts fourneaux de Chasse / Hohe Behörde –, Slg. 1958, 159 (196 f.); verb. Rs. 17 und 20 / 61 – Klöckner und Hoesch / Hohe Behörde –, Slg. 1962, 653 (686). Für die EWG erstmals EuGH, Rs. 94 / 71 – Schlüter Maack gegen Hauptzollamt Hamburg-Jonas –, Slg. 1972, 307, Rz. 11; Rs. 5 / 73 – Balkan-ImportExport / HZA Berlin-Packhof –, Slg. 1973, 1091, Ls. 3. 29 EuGH, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel –, Slg. 1970, 1125. 19 20

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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In unmittelbarer zeitlicher Folge zu dem EMRK-Beitritt Frankreichs, als insoweit letzten der damaligen Mitgliedstaaten der Gemeinschaften, erweiterte der Gerichtshof den Kreis der von ihm benutzten Rechtsfindungsquellen in der Rs. Nold31, in welcher er feststellte: „Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er zu wahren hat, und daß er bei der Gewährleistung dieser Rechte von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat. Hiernach kann er keine Maßnahmen als rechtens anerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten. Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechtes zu berücksichtigen sind.“32

Eine ausdrückliche Bezugnahme auf EMRK-Bestimmungen enthielt allerdings erstmals die Entscheidung Rutili33. c) Spätere Kodifizierungsbemühungen Bevor die Rechtsprechung des EuGH zur Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte mit der Einführung des Art. F II (Art. 6 II n. F.) EUV durch den Vertrag von Maastricht eine Kodifizierung erfuhr, gab es lediglich vereinzelte Bemühungen der Mitgliedstaaten bzw. anderer Gemeinschaftsorgane hinsichtlich des Grundrechtsschutzes innerhalb der Gemeinschaft. Als bis dahin einzige vertragliche Bezugnahme auf den Grundrechtsschutz in der Gemeinschaft ist der dritte Erwägungsgrund der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) zu nennen, in dem es heißt: „Entschlossen, gemeinsam für die Demokratie einzutreten, wobei sie sich auf die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten, in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit stützen, . . .“

Die Präambel ist zwar gemäß Art. 31 II des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge34 (WVK) Teil des Vertrages, stellt innerhalb des Vertrages jedoch lediglich eine politische Zielbestimmung dar.35 30 EuGH, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel –, Slg. 1970, 1125, LS. 2. 31 EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491, vom 14. 5. 1974; Frankreich war der EMRK erst am 3. 5. 1974 beigetreten. 32 EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491, Rz. 13. 33 EuGH, Rs. 36 / 75 – Rutili / Minister des Innern –, Slg. 1975, 1219, Rz. 32, vgl. dazu näher unten S. 137. Seitdem in st. Rspr. bspw. EuGH, Rs. 44 / 79 – Hauer / Land Rheinland / Pfalz –, Slg. 1979, 3727; Rs. 136 / 79 – National Panasonic / Kommission –, Slg. 1980, 1979; Rs. 222 / 84 – Johnston / R.U.C. –, Slg. 1986, 1651.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Des Weiteren sind die politischen Erklärungen einzelner oder mehrerer Gemeinschaftsorgane von Bedeutung.36 Der sicherlich bedeutsamsten dieser Verlautbarungen, der Gemeinsamen Erklärung von Rat, Kommission und Parlament vom 5. April 197737, wird teilweise über die Qualifizierung als „soft law“38 hinaus aufgrund der Selbstbindung der beteiligten Organe ein gewisser normativer Charakter beigemessen.39 Jedenfalls kommt ihr aber insofern eine symbolische Bedeutung zu, als aus ihr hervorgeht, dass die politischen Institutionen der Gemeinschaft die Herangehensweise des EuGH akzeptieren und unterstützen.40 Auch die späteren Versuche der Kodifizierung einer europäischen Grundrechtecharta wie die Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlamentes (EP) vom 12. April 198941 und der auf ihr aufbauende sogenannte Herman-Entwurf des Institutionellen Ausschusses des EP vom Februar 199442 blieben zunächst ohne durchschlagenden Erfolg. Schließlich hat es auch immer wieder Bestrebungen gegeben, den förmlichen Beitritt der EG zu der EMRK zu erreichen.43 Mit seinem diesbezüglichen Gutachten vom 18. März 1996 stellte der EuGH indes klar, dass es der EG für einen Beitritt zur EMRK an einer entsprechenden Kompetenzgrundlage fehle.44 Für einen Beitritt zur EMRK bedürfte es demzufolge einer Vertragsänderung.45 Ungleich erfolgreicher als alle vorangehenden Versuche die Gemeinschaftsverträge mit einem ausdrücklichen Grundrechtskatalog auszustatten, war schließlich die Einsetzung eines Gremiums bestehend aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs, 16 Mitgliedern des EP, 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente und einem Beauftragten des Kommissionspräsidenten durch den Europäischen Rat von Tampere vom 15 und 16. Oktober 1999. Durch dieses Gremium, welches sich UNTS, Bd. 1155, S. 331. Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 47. 36 Vgl. die Übersicht über die Organerklärungen bei Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 84 ff. 37 Abl. 1977, C-103 / 1; dazu Hilf, in: EuGRZ 1977, S. 158 ff. 38 Bleckmann in: NVwZ 1993 S. 824, 826, bezeichnet die Erklärung als „rechtlich unverbindlich“. 39 Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 86; vgl. Bahlmann, in: EuR 1982, S. 1, 9 f.; vgl. a. BVerfGE 73, 339 [378] sowie EuGH, Rs. 44 / 79 – Hauer / Land Rheinland / Pfalz –, Slg. 1979, 3727; Rs. 222 / 84 – Johnston / R.U.C. –, Slg. 1986, 1651. 40 Craig / de Búrca, EU Law, S. 325. 41 Abl. 1989, C 120 / 51; dazu Beutler, in: EuGRZ 1989, S. 185 ff. 42 Abl. 1994, C 61 / 166. 43 Vgl. Memorandum betreffend den Beitritt der EG zur Konvention über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Bull. EG, Beilage 2 / 79; Gesamtbericht (1990), 419. 44 EuGH – Gutachten 2 / 94 –, Slg. 1996, I-1795. 45 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 35; EuGH – Gutachten 2 / 94 –, Slg. 1996, I-1795, Rz. 35; vgl. a. EuGH, Rs. C-249 / 96 – Grant –, Slg. 1998, I-621, Rz. 45. 34 35

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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später selbst Konvent nannte, sollte auf der Grundlage des Beschlusses des Europäischen Rates von Köln ein Entwurf einer Grundrechtecharta erarbeitet werden.46 Der Konvent trat am 17. Dezember 1999 erstmals zusammen um dann bereits am 2. Oktober 2000 einen entsprechenden Entwurf zu verabschieden. Dieser wurde schließlich am 7. Dezember 2000 in Nizza gemeinsam von Europäischem Rat, Parlament und Kommission feierlich als Charta der Grundrechte der Europäischen Union proklamiert. Verbindliche Wirkung wurde dem Text indessen nicht verliehen.47 Insbesondere hat bisher auch der EuGH die Charta im Rahmen seiner Grundrechtsrechtsprechung noch nicht herangezogen. Demgegenüber haben sowohl die Generalanwälte48 als auch das EuG49 wiederholt auf Bestimmungen der Charta Bezug genommen. Ein bedeutender Schritt in Richtung Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta ist mit dem Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa (EVVE)50 gemacht worden. Der Europäische Rat von Laeken hatte im Dezember 2001 einen Konvent zur Erarbeitung eines Verfassungstextes für die Europäischen Union beauftragt.51 Diesem gehörten neben 15 Vertretern der Staats- und Regierungschefs und der doppelten Zahl nationaler Parlamentarier auch 16 Mitglieder des Europäischen Parlaments und zwei Vertreter der Kommission an. Des Weiteren nahmen auch jeweils ein Regierungs- und zwei Parlamentsvertreter der Beitrittsstaaten teil, dies allerdings ohne dass ihnen Vetorechte eingeräumt wurden.52 In der abschließenden Fassung des Entwurfs, der dem Präsidenten des Europäischen Rates am 18. Juli 2003 in Rom überreicht wurde, bildet die Grundrechtecharta unter geringfügigen Änderungen den zweiten Teil des Vertrages über eine Verfassung für Europa.53 Des Weiteren soll die Union nach Art. 7 II EVVE den Beitritt zur EMRK anstreben. Sowohl die Charta als auch deren geplante Einbindung in einen möglichen neuen Verfassungstext der EU werfen zahlreiche Fragen auf, die in dem gegebenen Rahmen jedoch nicht im Einzelnen untersucht werden. Bis die avisierte EU-VerBull. BReg. 84 / 1999, 793 (799), Philippi, Charta der Grundrechte, S. 15. Vgl. aber zu einer möglichen Selbstbindung der Organe der EG Alber, in: EuGRZ 2001, S. 350 ff.; allgemein zur aktuellen Verbindlichkeit der Charta Iber, in: ZEuS 2002, S. 483 ff., Schröder, in: JZ 2002, S. 849 ff. 48 Übersicht bei Eeckhoft, in: CMLR 39 (2002), 945, 947 f. 49 Bspw. EuG, Rs. T-54 / 99 – max.mobil / Kommission –, Slg. 2002, II-313, Ls. 1; Frenz, in: EuR 2002, S. 614; für weitere Fälle: Eeckhoft, in: CMLR 39 (2002), S. 945, 948 f. 50 CONV 850 / 03. 51 Erklärung des Europäischen Rates von Laeken zur Zukunft der EU, NVwZ 2002, S. 183 f.; allgemein zur Diskussion über eine europäische Verfassung Pache, in: EuR 2002, S. 767 ff. 52 Allgemein zur Arbeit des europäischen Verfassungskonvents s. Hobe, in: EuR, 2003, S. 1 ff. 53 Zur Charta im Konvent s. Pietsch, in: ZRP 2003, S. 1 ff. 46 47

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

fassung in Kraft getreten ist und solange der Charta noch keine Verbindlichkeit zukommt, fußt der Grundrechtsschutz innerhalb der Europäischen Gemeinschaft auch weiterhin im Wesentlichen54 auf der Herleitung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts55. Auf dieser Grundlage werden die folgenden Überlegungen angestellt. Am Ende der einzelnen Kapitel wird jedoch jeweils ein kurzer Ausblick auf die Änderungen gegeben, die eine Verbindlicherklärung der Charta für die gefundenen Ergebnisse mit sich bringen würde.

2. Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte Aus der Feststellung des EuGH, die Grundrechte seien von ihm als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes zu schützen, wird nicht klar, worin der normative Grund für diese Entwicklung zu sehen ist. Die durch den EuGH als allgemeine Rechtsgrundsätze entwickelten Grundrechte können nicht schon wie die völkerrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsätze allein deshalb in der Gemeinschaftsrechtsordnung gelten, weil ein solcher Grundrechtsschutz allen Mitgliedern im Grundsatz gemeinsam ist. Anders als im allgemeinen Völkerrecht werden hier allgemeine Rechtsgrundsätze nicht nur als zwischen einzelnen Staaten verbindlich festgestellt, sondern für die eigenständige Hoheitsgewalt einer supranationalen Rechtsordnung als bindend angeordnet.56 Die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze setzt eine entsprechende Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung, in der sie entwickelt werden, voraus.57 Folgerecht geht der EuGH offensichtlich davon aus, dass das Fehlen grundrechtlicher Verbürgungen eine Lücke in der Gemeinschaftsrechtsordnung darstellt.58 Damit ist aber immer noch nicht geklärt, woraus sich die Notwendigkeit eines Grundrechtsschutzsystems für die Gemeinschaftsrechtsordnung ergibt. Die Beantwortung der Frage nach dem „Warum“ des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes ist dabei von grundlegender Bedeutung für das Verständnis des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes, da sich aus dem Geltungs-

54 Vereinzelt sind dem Vertrag grundrechtliche Teilgewährleistungen zu entnehmen. Siehe dazu noch unten S. 104 ff. 55 Die terminologische Vielfalt, die der EuGH hinsichtlich dieses Rechtsinstituts entwickelt hat, soll im Folgenden keine weitere Berücksichtigung finden, da an die unterschiedlichen von dem Gerichtshof benutzten Bezeichnungen keine erkennbaren inhaltlichen Unterscheidungen geknüpft werden. 56 Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechtes s. Weiß, in: AdV 2002, S. 394 ff. 57 Weiß, S. 14. 58 Vgl. bspw. EuGH, Rs. 259 / 85 – Kommission / Frankreich –, Slg. 1987, 4393, Rz. 12.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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grund zugleich der Gewährleistungsmaßstab ergibt, an dem der Schutz der Grundrechte auf Gemeinschaftsebene zu messen ist.59

a) Stellungnahmen des EuGH Die Stellungnahmen des EuGH zur Frage nach dem Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte erschöpfen sich in der Feststellung, dass es einen Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene geben müsse.60 Insbesondere auch die Aussage des EuGH in der Rs. Algera61, er müsse die Grundrechte schützen, wolle er sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung ausgesetzt sehen, bringt keine weiterführende Erkenntnis. Dasselbe gilt für die vereinzelten Fälle, in denen der EuGH allgemeine Rechtsgrundsätze unmittelbar aus dem Gedanken der Billigkeit hergeleitet hat.62

b) Auslegung des Vertrages Auch das Schrifttum setzt sich nur vereinzelt mit dieser Fragestellung auseinander.63 Im Ergebnis stimmen all diese Stellungnahmen darin überein, dass der Grundrechtsschutz der Gemeinschaftsrechtsordnung immanent sei.64

aa) Art. 6 II EUV Teilweise wird die Rechtsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte in Art. 6 II EUV gesehen.65 Dagegen spricht allerdings zum einen der Wortlaut dieser Vorschrift, die lediglich die Begründung des EuGH für die Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte wiedergibt, und die Tatsache, dass Art. 6 II EUV (Art. F II EUV a.F.) nicht als Rechtsquelle der vor In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrages entwickelSchindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 117. Schindler, ebenda, S. 119. 61 EuGH, verb. Rs. 7 / 56 u. 3 / 57 – Algera –, Slg. 1957, 83 (118). 62 EuGH, Rs. 14 / 68 – Walt Wilhelm u. a. / Bundeskartellamt –, Slg. 1969, 1, Rz. 11; Rs. 13 / 61 – Kledingverhoopbedrijf de Gens enhit den bojerd / Bosch –, Slg. 1962, 97, (142). 63 Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 153, mwN; Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 117 ff.; Notthoff, in: RIW 1995, S. 541 ff.; Stadler, Berufsfreiheit, S. 80 ff.; Hirsch, in: Europäischer Grundrechtsschutz, S. 13 f.; Pernice, in: NJW 1990, S. 2409, 2410; Jürgensen, S. 145 ff.; Rengeling S. 13. 64 Feger, S. 99, mwN; Beutler, in: GTE, Art. F EUV, Rn. 71. 65 Kingreen, in: JuS 2000; ders., in: Callis / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 33. 59 60

3 Schultz

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

ten Grundrechte gelten kann.66 Der Art. 6 II EUV alleine kann mithin keine Begründung für die Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte liefern. Ihm kommt demnach für den Grundrechtsschutz innerhalb der Gemeinschaft lediglich deklaratorische Bedeutung zu, konstitutive Bedeutung hat er nur in Bezug auf die EU.67

bb) Art. 220 EGV Teilweise wird die Frage des Geltungsgrundes der Gemeinschaftsgrundrechte mit der Frage nach der Kompetenz des EuGH für deren Entwicklung gleichgesetzt.68 Diese Kompetenz ergibt sich aus Art. 220 EGV. Darin heißt es: „Der Gerichtshof sichert die Wahrung des Rechtes bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages.“

Mit der Unterscheidung zwischen zu sicherndem Recht und dem Vertrag geht der EGV davon aus, dass sich das von dem EuGH zu beachtende Recht nicht in dem Vertragstext selbst erschöpft.69 Das zu wahrende Recht kann sich dabei auch nicht auf das aufgrund des Vertrages ergangene Sekundärrecht beschränken. Nur gleich- oder höherrangiges Recht kann schließlich zur Auslegung der primärrechtlichen Vertragsnormen dienen. Mithin muss es über den Vertragstext hinausgehendes gleich- oder höherrangiges Recht geben, welches auch durch den EuGH beachtet werden muss. Daraus lässt sich jedoch lediglich die grundsätzliche Kompetenz des EuGH zur Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes aus Art. 220 EGV herleiten.70 Ein Gebot an den EuGH zum Schutz gerade der von ihm entwickelten Gemeinschaftsgrundrechte ergibt sich aus dieser Norm nicht. Mit der Feststellung, dass dem EuGH mit Art. 220 EGV eine Kompetenzgrundlage zur Verfügung steht, um Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes zu schützen, ist somit noch nichts über den Geltungsgrund dieser Grundrechte ausgesagt.

Vgl. Pauly, in: EuR 1998, S. 242, 250 f. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 121. 68 Wille, S. 91. Dabei handelt es sich zunächst allein um eine Frage der Organkompetenz, da grundsätzlich die anderen Gemeinschaftsorgane Adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte sind. Für die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte s. unten S. 137 ff. 69 Vgl. Wegener, in: Calliess / Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 8. 70 Genauer gesagt handelt es sich mangels ausdrücklicher Ermächtigung in Art. 220 EGV um eine implizierte Kompetenz. Darauf ist jedoch erst an gegebener Stelle ausführlich einzugehen, s. unten S. 152. 66 67

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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cc) Richterrecht Während es sich bei der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte nach zutreffender Ansicht um einen Fall richterlicher Rechtsfortbildung handelt,71 ist darin nicht zugleich auch der Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte zu sehen.72 Der Richter ist keine Rechtsquelle. Die richterliche Rechtsfortbildung ergibt sich aus konkreten Notwendigkeiten der Rechtsordnung und verweist somit lediglich auf die Lückenhaftigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung hinsichtlich des Grundrechtsschutzes zurück.73 Daneben wäre eine solche Sichtweise auch nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes vereinbar. Dieser stellt darauf ab, dass er keine Gemeinschaftsrechtsakte als rechtens anerkennen könne, die mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten und den von diesen abgeschlossenen Menschenrechtsverträgen unvereinbar seien.74 Daraus geht hervor, dass er und mit ihm die anderen Organe der Gemeinschaft an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind, schon bevor eine entsprechende Entscheidung des Gerichtshofes in einem konkreten Fall ergangen ist.75 Es bleibt mithin dabei, dass die Gründe für die Rechtsfortbildung des EuGH näher zu bestimmen sind.

dd) Legitimität Teilweise wird für die Begründung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes auf die Legitimierungsfunktion der Grundrechte für eine jegliche Rechtsordnung abgestellt.76 Eine Rechtsordnung, die dem Einzelnen Pflichten auferlegt, soll nur dann Geltungsanspruch erheben können, wenn sie über grundrechtliche Leitplanken verfügt.77 Die Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes stelle somit ein unverzichtbares Element der Legimitation der europäischen Rechtsordnung dar.78

Schwarze, in: ders., Art. 220 EGV, Rn. 4. So aber Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 321; ders., in: Jura 2002, S. 468, 469; Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 30; Hirsch, in: RdA 1998, S. 194. 195; Kokott, in: AöR 121 (1996), S. 599, 602. 73 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 187 ff. 74 s. bereits EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491, Rz. 13. 75 Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 482 f.; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 13; i.E. a. Schilling, S. 117 ff. 76 Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 118 ff.; Hirsch, in: Europäischer Grundrechtsschutz, S. 13. 77 Hirsch, in: Europäischer Grundrechtsschutz, S. 13. 78 Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 121. 71 72

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Die Bedeutung der Grundrechte für die Legitimität der europäischen Gemeinschaft ist unbestritten.79 Auch scheint für diese Ansicht zu sprechen, dass die Idee der principes généraux du droit, an die sich das Konzept der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes offensichtlich anlehnt, davon ausgeht, dass der Grundrechtsschutz rechtsstaatlichen Rechtsordnungen schlicht immanent zu sein habe.80 Dennoch kann der Ansatz, den Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte aus dem Legitimitätserfordernis der Gemeinschaftsrechtsordnung zu entwickeln, nicht überzeugen. Der für diese Herleitung zugrunde gelegte Legitimitätsbegriff stellt keineswegs eine gesicherte Erkenntnis dar.81 So ist beispielsweise bei Zugrundelegung einer rechtspositivistischen Sichtweise durchaus denkbar, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung Geltung entfaltet, ohne im Sinne der Orientierung anhand höherrangiger Werte legitimiert zu sein.82 Somit wird die Frage nach der Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte nach dieser Sichtweise von einem bestimmten Legitimitätsbegriff abhängig gemacht. Die Frage der Gemeinschaftsgrundrechte wäre mit der Diskussion um das richtige Verständnis von Legitimität verknüpft und somit auf eine entsprechend unsichere Grundlage gestellt. Des Weiteren kann ein Begründungsansatz, der mit der Legitimierungsfunktion der Grundrechte argumentiert, nicht erklären, warum gerade die mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen und die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge als Rechtsfindungsquellen der Gemeinschaftsgrundrechte heranzuziehen sind. Aus dem Legitimitätserfordernis ergäbe sich schließlich nur, dass gegenüber der Gemeinschaftsgewalt überhaupt ein Schutz des Einzelnen durch Grundrechte gewährleistet sein muss. Welcher Art dieser Grundrechtsschutz zu sein hat, geht daraus indessen nicht hervor. Damit fehlen jegliche klare Konturen für den Grundrechtsschutz, und dieser Ansatz kann nicht leisten, was mit der Suche nach dem Geltungsgrund ursprünglich bezweckt worden war, nämlich den Gewährleistungsstandard der Gemeinschaftsgrundrechte zu bestimmen. ee) Grundrechtsschutz als Geschäftsgrundlage der Gemeinschaft Der Bezugnahme auf die Rechtsfindungsquellen des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes trägt ein anderer Ansatz Rechnung, der hinsichtlich des GelVgl. dazu Kingreen, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 653. Siehe Jouanjan, in: EuGRZ, 2002, S. 314, 315. 81 Siehe hierzu die umfassende Darstellung bei Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas; S. 505 ff.; vgl. a. Hengsbach, S. 6. 82 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 506 f. 79 80

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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tungsgrundes der Gemeinschaftsgrundrechte darauf abhebt, dass die Europäische Gemeinschaft auf den freiheitlich-demokratischen Rechtsordnungen ihrer Mitglieder basiere und sich daraus wiederum die rechtsstaatlich-demokratische Verfasstheit der Gemeinschaft selbst ergebe.83 Die Beachtung der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten seien „schlechthin konstitutiv für die Eigenschaft der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft“,84 die Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes somit gleichsam als „Geschäftsgrundlage der Gemeinschaft“85 anzusehen. Dem scheint es zu entsprechen, wenn der EuGH in der Rs. AM&S86 in Bezug auf den Schutz der Vertraulichkeit im anwaltlichen Verhältnis feststellt: „Das Gemeinschaftsrecht beruht darauf, daß die Mitgliedstaaten nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf rechtlichem Gebiet miteinander verflochten sind, und muß daher den Grundsätzen und Vorstellungen Rechnung tragen, die den Rechtsordnungen dieser Staaten [ . . . ] gemeinsam sind.“87

Für diese Sichtweise spricht in der Tat, dass „die Mitgliedstaaten als rechtsstaatliche Demokratien keine überstaatliche Einrichtung mit eigener Hoheitsgewalt errichten wollten und verfassungskonform gar nicht errichten konnten, die nicht an die für sie unverzichtbaren Elemente und Ausflüsse des Rechtsstaates gebunden wäre und deren Handlungen nicht auf die Einhaltung derselben gerichtlich kontrolliert werden könnten.“88 Die Mitgliedstaaten sind größtenteils durch ihre Verfassungen daran gehindert, Hoheitsbefugnisse an eine andere Rechtsordnung abzugeben, ohne dass gegen Akte ihrer Hoheitsgewalt ein Grundrechtsschutz für den Einzelnen gewährleistet ist, der dem nationalen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist.89 Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit dieses Vorbehaltes folgt für das deutsche Grundgesetz aus der Ewigkeitsklausel des Art. 79 I GG, welche ihrerseits auf die Bindung aller hoheitlichen Gewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes in Art. 1 III GG Bezug nimmt. Andere mitgliedstaatliche Verfassungen enthalten vergleichbare Bestimmungen, welche eine Antastung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechtsstandards untersagen.90 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 572. Rengeling, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 13; zu dem begrifflichen Verhältnis von Rechtsgemeinschaft und Rechtstaatlichkeit s. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 6. 85 Pernice, in: NJW 1990, S. 2409, 2411, Fn. 31; Feger, S. 99. 86 EuGH, Rs. 155 / 79 – AM&S –, Slg. 1982, 1575. 87 EuGH, Rs. 155 / 79 – AM&S –, Slg. 1982, 1575, Rz. 18. 88 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 383. 89 Etwas anderes ergibt sich unmittelbar lediglich in den britischen bzw. den niederländischen und irischen Verfassungssystemen, welche das Gemeinschaftsrecht vollständig in ihre jeweiligen Rechtsordnungen inkorporiert bzw. diese dem Gemeinschaftsrecht unterstellt haben. Siehe dazu Besselink, in: CMLR 35 (1998), S. 629, 644 f. sowie Streinz, in: FS Steinberger, S. 1437, 1458 f. 83 84

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Dementsprechend behält sich beispielsweise das Bundesverfassungsgericht die Überprüfung auch gemeinschaftsrechtlicher Akte für den Fall vor, „dass die gegenwärtige Rechtsentwicklung zum Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, den jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet.“91

Diese Rechtsprechung hat mittlerweile in der sogenannten Strukturklausel des Art. 23 I 1 GG verfassungsrechtliche Verankerung gefunden.92 Eine entsprechende Bindung ergibt sich für die Mitgliedstaaten indes nicht nur aus den einzelstaatlichen Verfassungen, sondern auch aus bestimmten völkerrechtlichen Verträgen, durch die sie zur Beachtung der jeweils darin verbürgten Grundrechtspositionen verpflichtet werden. Für den in diesem Zusammenhang bedeutsamsten Menschenrechtsschutzvertrag, die EMRK, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Rs. Waite & Kennedy93 demgemäß klargestellt: „Der Gerichtshof ist der Meinung, daß es Auswirkungen auf den Schutz der Grundrechte haben kann, wenn Staaten internationale Organisationen gründen, um ihre Zusammenarbeit in bestimmten Tätigkeitsbereichen fortzuführen oder zu verstärken, und diese Organisationen bestimmte Zuständigkeiten zuweisen und Immunitäten gewähren. Es wäre jedoch mit Sinn und Zweck der Konvention nicht vereinbar, wenn die Vertragstaaten für den Tätigkeitsbereich, auf den sich dies Verlagerung erstreckt, von ihrer Verantwortung nach der Konvention befreit wären.“94

Zwar könnten sich die EG-Mitgliedstaaten dieser konkreten vertraglichen Beschränkung durch Kündigung gemäß Art. 58 EMRK entziehen.95 Jedoch wird man Vgl. Art. 110 GriechVerf; Art. 2 ItalVerf; § 71 DänVerf; Art. 288 PortVerf etc. BVerfGE 102, 147 [161] (Bananenmarktbeschluss). Für eine Konkretisierung des „unabdingbaren Schutzstandards der durch die streitige Bananenmarktverordnung 404 / 93 berührten Grundrechte s. Selmer, Die Gewährleistung des unabdingbaren Schutzstandards durch den EuGH, insb. S. 92 ff. Änliche Rechtsprechung ist durch die italienische Corte Costitutionale (s. nur Entscheidung Nr. 117 / 94 – Zerrini – Raccolta Ufficiale 1994, 785, 789) und den dänischen Højesteret (Urteil v. 6. 04. 1998 – Hanne Norup Carlsen et al. mud statsminister Poul Nyrup Rasmussen – EuGRZ 1999, S. 49, 50, Rz. 9.2.) ergangen. Zu letzterem s. Hofmann, in: EuGRZ 1999, S. 1, 4 f. 92 Vgl. dazu zuletzt Giegerich, Europäische und deutsche Verfassung, S. 1271 ff.; a. Vögler, Defizite beim Schutz der Berufsfreiheit durch BVerfG und EuGH, S. 38 ff. 93 EGMR, Urteil v. 18. 02. 1999 – Waite&Kennedy v. Germany – EuGRZ 1999, S. 207 ff. 94 EGMR, Urteil v. 18. 02. 1999 – Waite&Kennedy v. Germany – EuGRZ 1999, S. 207, 212, Rz. 67 in der Übersetzung der EuGRZ. Der verbindliche Originaltext lautet: „The Court is of the opinion that where States establish international organisations in order to pursue or strengthen their cooperation in certain fields of activities, and where they attribute to these organisations certain competences and accord them immunities, there may be implications as to the protection of fundamental rights. It would be incompatible with the purpose and object of the Convention, however, if the Contracting States were thereby absolved from their responsibility under the Convention in relation to the field of activity covered by such attribution.“ 95 Vgl. zur Praxis Feist, S. 209 ff. Gegenüber der Kündbarkeit von Menschenrechtsschutzverträgen ohne Kündigungsklauseln wie dem IPbürg bestehen allerdings grundsätzliche Zweifel. 90 91

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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wohl inzwischen auch von einer gewohnheitsrechtlichen Bindung des jeweiligen Staates an die in der EMRK verbürgten Menschenrechte ausgehen können.96 Ein solches Vorgehen wäre in der heutigen Situation aber jedenfalls politisch nicht mehr zumutbar. Nach dem Gesagten erscheint es zunächst tatsächlich plausibel, den Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte darin zu erblicken, dass die Mitgliedstaaten eine Gemeinschaft, welche die Grundrechte nicht achtet, weder schaffen wollten noch konnten. Dass diese Argumentation dennoch zu kurz greift, wird allerdings in Zusammenschau mit der Rechtsprechung des EuGH zur Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung deutlich. Der Gerichtshof hat frühzeitig festgestellt, dass das Gemeinschaftsrecht eine autonome Rechtsordnung darstellt, welche eigenständig neben den nationalen Rechtsordnungen steht.97 Folgt man dieser dualistischen Sichtweise, gilt es aber zu klären, wodurch die eben beschriebenen Verpflichtungen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Relevanz auf Gemeinschaftsebene entfalten sollen.98 Aus der Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung folgt, dass sich ein Berücksichtigungsgebot hinsichtlich der oben beschriebenen mitgliedstaatlichen Verpflichtungen nur aus dem Gemeinschaftsrecht selbst ergeben kann. Nach der Theorie vom Grundrechtsschutz als Geschäftsgrundlage der Gemeinschaft bleibt aber unklar, worauf sich die Rezeption der beschriebenen nationalen rechtsstaatlichen Grundprinzipien durch die Gemeinschaft gründet.99

ff) Grundrechtsschutz als Obliegenheit der EG Ein solches gemeinschaftsrechtlich positiviertes Berücksichtigungsgebot könnte der Grundsatz der Gemeinschaftstreue gemäß Art. 10 EGV enthalten. Dem Wortlaut des Art. 10 EGV ist zunächst lediglich eine mitgliedstaatliche Pflicht zur Gemeinschaftstreue zu entnehmen.100 Danach müssen die Mitgliedstaa96 Gleichzeitig zeigt die Abfolge des Nold-Urteil auf den EMRK-Beitritt Frankreichs als letztem der damaligen Mitgliedsstaaten, dass diese Pflicht grundsätzlich auch für Verträge gelten soll bzw. können muss, die nach dem Gemeinschaftsbeitritt geschlossen wurden. 97 Grundlegend: EuGH, Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL –, Slg. 1964, 1251. 98 Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 118; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 220; Claudi, S. 392; vgl. a. v. Arnauld, in: EuR 2003, S. 191, 206. 99 Vgl. v. Arnauld, in: EuR 2003, S. 191, 206; Der Verweis von Lecheler auf eine „stillschweigende Rezeption“ in: ders., Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 185 f., führt in diesem Zusammenhang allerdings nicht weiter. Vgl. weiterhin Pernice, in: NJW 1990, S. 2409, 2411, Fn. 31. 100 Für eine aktuelle Darstellung zur Gemeinschaftstreue s. Unruh, in: EuR 2002, S. 41 ff.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

ten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art ergreifen, die zur Erfüllung der sich aus dem EG-Vertrag und den Handlungen der Gemeinschaftsorgane ergebenden Verpflichtungen notwendig sind.101 Aus Sinn und Zweck dieser Treuepflicht folgt indes deren Reziprozität. 102 Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue dient in erster Linie der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft, indem die Mitwirkung der Gemeinschaftsmitglieder gesichert werden soll. Der Kooperationswille der Mitgliedstaaten ist durch einseitiges Auferlegen von Pflichten allein allerdings nicht zu erreichen.103 Würde man die Gemeinschaft von vornherein davon freistellen, dass auch sie berechtigte Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu beachten hat, bliebe die Gefolgschaft der Mitgliedstaaten zwangsläufig aus.104 Daher ist dem Gebot der Gemeinschaftstreue des Art. 10 EGV eine korrelierende Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit seitens der Gemeinschaftsorgane zu entnehmen.105 Die Gemeinschaft trifft danach aus Art. 10 EGV eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die elementaren Interessen der Mitgliedstaaten.106 Welche mitgliedstaatlichen Interessen als so elementar anzusehen sind, dass sie eine Berücksichtigungspflicht auf Gemeinschaftsebene begründen können, ist im Einzelnen gewiss schwierig zu bestimmen.107 Insbesondere die Grundsätze des Vorranges und der Effektivität des Gemeinschaftsrechtes dürften für eine restriktive Handhabung der umgekehrten Treuepflicht sprechen. Jedenfalls jedoch muss eine Berücksichtigungspflicht der Gemeinschaft in solchen Fällen bestehen, in denen die geforderte Mitwirkung für die Mitglieder unabdingbaren Verpflichtungen zuwiderlaufen würde. Bei einem Konflikt zwischen Mitwirkung in der Gemeinschaft und solchen zwingenden Normen bliebe den betroffenen Mitgliedstaaten Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip, S. 36. Epiney, in: EuR 1994, S. 301, 314; Jarass, in: AöR 121 (1996), S. 173, 196, mwN. Gegen eine teleologische Erweiterung des Art. 10 EGV spricht sich Wille in: ders., Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, S. 81 f. wegen Verstoßes gegen die Wortlautgrenze des Art 10 EGV aus. Er übersieht dabei jedoch, dass der Wortlaut Grenze der Auslegung einer Norm nicht aber der richterlichen Rechtsfortbildung anhand einer Norm ist. (vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 187 ff.) Der Herleitung der gegenseitigen Treuepflicht als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechtes, wie sie Wille vorschlägt, ist mithin die normorientierte, teleologische Erweiterung des Art. 10 EGV vorzuziehen. 103 Vgl. Kaiser, in: EuR 1 (1966), S. 4, 19. 104 Kahl, in: Calliess / Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 50, mwN.; Epiney, in: EuR 1994, S. 301, 314. 105 Vgl. bereits EuGH, Rs. 230 / 81 – Luxemburg / EP –, Slg. 1983, 255, Rz. 37; Rs. 94 / 87 – Kommission / Deutschland –, Slg. 1989, 175, Rz. 9; Rs. 44 / 84 – Hurd / Jones –, Slg. 1986, 29. Eindeutig schließlich Rs. C-2 / 88 – Zwartfeld –, Slg. 1990, I-3367, Rz. 17. Siehe auch BVerfGE 89, 155, [201] (Maastricht); BVerfGE 92, 203 [237] (Fernseh-RL) zu dem „aus der Gemeinschaftstreue folgenden Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme“; Delbrück, Die Rundfunkhoheit der deutschen Bundesländer, S. 57 f. und 70; Schwarze, in: DVBl. 1995, S. 1265, 1269. 106 Kahl, in: Calliess / Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 50; vgl. BVerfGE 89, 155 [184]. 107 Siehe Beispiele bei Kahl in: Calliess / Ruffert Art. 10 EGV, Rn. 50 ff. 101 102

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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schließlich nichts anderes übrig, als der Gemeinschaft seine Gefolgschaft zu versagen.108 Die Beachtung jedenfalls solcher mitgliedstaatlicher Verpflichtungen ist folglich unerlässlich, um die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft zu gewährleisten.109 Eben solche unabdingbaren Verpflichtungen werden den Mitgliedstaaten aber, wie gezeigt, sowohl durch ihre Verfassungen als auch durch die Menschenrechtsverträge, denen sie beigetreten sind, auferlegt.110 Denn diese begründen jeweils Pflichten, denen sich die Mitgliedstaaten nicht entziehen können. Will die Gemeinschaft also verhindern, dass ihre Mitglieder in einen Normenkonflikt geraten, der für sie nur dadurch zu lösen ist, dass sie den Vorrang des Gemeinschaftsrechtes gegenüber jeglichen mitgliedstaatlichem Recht nicht länger anerkennen, so müssen eben diese zwingenden mitgliedstaatlichen Verpflichtungen zur Beachtung der in den Verfassungen und den völkerrechtlichen Verträgen enthaltenen Grundrechte auch bei Ausübung der gemeinschaftsrechtlichen Hoheitsgewalt Berücksichtigung finden. Um den Vergleich mit dem deutschen Zivilrecht aufzugreifen, bildet die Pflicht zum Grundrechtsschutz mithin nicht lediglich die Geschäftsgrundlage der Gemeinschaft, sondern sie stellt sich als konkrete Obliegenheit, also als Pflicht der Gemeinschaft, deren Erfüllung im eigenen Interesse liegt, dar. Die gesuchte gemeinschaftsrechtliche Berücksichtigungspflicht hinsichtlich der für die Mitgliedstaaten unabdingbaren Erfordernisse111 des Grundrechtsschutzes, wie sie sich aus den einschlägigen Verfassungsbestimmungen und den von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen ergeben, und damit der Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte folgt mithin aus dem Prinzip der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 10 EGV.112 108 Die Urteile EuGH, verb. Rs. 46 / 87 u. 227 / 88 – Hoechst / Kommission –, Slg. 1989, 2859; Rs. 155 / 79 – AM&S –, Slg. 1982, 1575, lassen erkennen, dass der EuGH zwingenden Verfassungserfordernissen eines Mitgliedstaates auch dann gerecht zu werden bemüht ist, wenn diese in anderen Mitgliedstaaten nicht gegeben sind. (Streinz, Rn. 362); vgl. a. Besselink, in: CMLR 35 (1998), S. 629, 671 ff. 109 Vgl. Epiney, in: EuR 1994, S. 301, 314. 110 Für völkerrechtliche Verträge, denen Staaten bereits vor dem Beitritt zur Gemeinschaft angehörten ergibt sich eine entsprechende Beachtungspflicht bereits unmittelbar aus Art. 307 EGV. 111 Zu den Parallelen dieser Argumentation zum Rechtsinstitut der „Zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls“ als Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten vgl. unten S. 100 ff. 112 Für eine Berücksichtigungspflicht hinsichtlich grundlegender nationaler Verfassungsstrukturen s. Kahl, in: Calliess / Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 52; vgl. insbesondere auch Peters, S. 290, Fn. 594; Beispiele für andere Elemente der mitgliedstaatlichen Verfassungsstrukturen, auf die durch die Gemeinschaft Rücksicht genommen werden muss, liefert Giegerich, Europäische und deutscher Verfassung, S. 803 ff. Vgl. a. Bleckmann, Europarecht, Rn. 709 ff., der eine Bindung der Gemeinschaftsorgane an die meisten Regeln, die die Staaten aus rechtsstaatlichen Gründen den Individuen gegenüber zu befolgen haben, befürwortet. (ebenda, Rn. 710).

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

c) Ergebnis Die gemeinschaftsrechtliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte stellt sich als Obliegenheit der Gemeinschaft dar. Aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er sich aus Art. 10 EGV ergibt, folgt, dass die Gemeinschaft die für ihre Mitgliedstaaten unabdingbaren Verpflichtungen achten muss. Zu diesen unabdingbaren Verpflichtungen zählt die Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzsystems. Diese Pflichten ergeben sich wiederum zum einen aus den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen und zum anderen aus den völkerrechtlichen Verträgen, an welche die Mitgliedstaaten gebunden sind. Als Obliegenheit stellt sich die dahingehende Berücksichtigungspflicht auf Seiten der Gemeinschaft dar, weil die Mitgliedstaaten an einer weiteren Mitarbeit innerhalb der Gemeinschaft gehindert wären, wenn dies einen Verstoß gegen ihre unabdingbaren Verpflichtungen bedeutete.

3. Gewinnung der Gemeinschaftsgrundrechte durch den EuGH Der EuGH trägt der soeben hergeleiteten Obliegenheit der Gemeinschaft Rechnung, indem er sowohl die mitgliedstaatlichen Verfassungen als auch die von den Mitgliedstaaten geschlossenen Verträge als Rechtsfindungsquellen für die Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes heranzieht.113 Im Folgenden soll nunmehr dargestellt werden, welche Folgen sich aus den eben angestellten Überlegungen für die Frage ergeben, wie die Gemeinschaftsgrundrechte aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen sowie ihren völkerrechtlichen Bindungen herzuleiten sind. Als wichtigste unter den völkerrechtlichen Rechtsfindungsquellen soll sich hierfür auf die Betrachtung der EMRK beschränkt werden.114 Entsprechend dem hier vertretenen Ansatz hinsichtlich des Geltungsgrundes der Gemeinschaftsgrundrechte sind andere als die beiden von dem EuGH herangezogenen Rechtsquellen abzulehnen.115 113 Vgl. bereits oben zu EuGH, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhrund Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel –, Slg. 1970, 1125, Ls. 2 u. EuGH, Rs. 4 / 73, – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491, Rz. 13. 114 Für den IPbürg als Rechtsfindungsquelle vgl. bspw. EuGH, Rs. C-60 / 92 – Otto BV / Postbank –, Slg. 1993, I-5683, Rz. 11. Ausführlich zur Funktion anderer völkerrechtlicher Verträge als Rechtsfindungsquellen der Gemeinschaftsgrundrechte Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 529 ff. 115 Kingreen / Störmer, in: EuR 1998, S. 263, 272 f.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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a) Wertende Rechtsvergleichung der mitgliedstaatlichen Verfassungen auf der Grundlage eines relativierten Maximalstandards Im Zusammenhang mit der ersten der beiden vom EuGH herangezogenen Rechtsfindungsquellen, den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen, stellt sich das Problem, wie aus der Vielzahl der unterschiedlichen Verfassungen und den jeweiligen höchstrichterlichen Interpretationen derselben der auf europäische Ebene maßgebliche Schutzstandard gewonnen werden kann.116 Eine unmittelbare Bindung der EG an die nationalen Grundrechte, wie sie noch von den Vertretern der sogenannten Hypothekentheorie117 gefordert wurde, kommt nicht in Betracht, da dies mit dem Erfordernis der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechtes in allen Mitgliedstaaten und dem sich daraus ergebenden Vorrang des Gemeinschaftsrechtes nicht vereinbar wäre.118 Aus demselben Grund ist ein variabler Grundrechtsschutz abzulehnen.119 Die Orientierung an einem Minimalstandard im Sinne des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ im Vergleich aller mitgliedstaatlichen Verfassungen widerspräche den Anforderungen des eben erarbeiteten Geltungsgrundes der Gemeinschaftsgrundrechte. Es bestünde nämlich die Gefahr, dass die Verfassungen derjenigen Staaten, die ein höheres Schutzniveau vorsehen, nicht ausreichend berücksichtigt würden.120 Die Rechtsprechung des EuGH hält eine klare Antwort auf die Frage nach dem Herleitungsprozess der Gemeinschaftsgrundrechte nicht bereit.121 In der Rs. Nold122 stellt er allerdings fest, er könne „keine Maßnahmen als rechtens anerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Rechten.“123

Diese Aussage ist teilweise so verstanden worden, dass der EuGH sich bei der Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte an dem maximalen Schutzniveau, wie es sich durch Übertragung des jeweils maximalen nationalen Grundrechtes oder aus der Kombination des jeweils maximalen Normbereiches mit den jeweils minimalen Schranken innerhalb der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen erVgl. Stadler, Berufsfreiheit, S. 176 ff. Nach dieser überholten (s. aber neuerdings Schermers, in: CMLR 27 (1990), S. 249, 251 f.) Theorie sollten die von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragenen Hoheitsrechte gleich einer Hypothek mit dem Vorbehalt des Grundrechtsschutzes belastet gewesen sein. Eingehender dazu mwN Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 219 f. 118 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 219; vgl. a Weiß, S. 79 ff. 119 Wetter, S. 42; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 55; Bleckmann, in: DÖV 1978, S. 457, 458; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 430. 120 Ähnlich Wetter, Grundrechtscharta, S. 46; Stadler, Berufsfreiheit, S. 181 ff. 121 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 41. 122 EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491. 123 EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491, Rz. 13. 116 117

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

gibt, orientieren wolle.124 Ein so verstandener Maximalstandard würde zu einem Ungleichgewicht zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und den diesen gegenüberstehenden Gemeinschaftsinteressen führen und somit die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft gefährden.125 Würde man bei der Bestimmung des für die gesamte Gemeinschaft verbindlichen Grundrechtsniveaus ausschließlich die jeweiligen Gewährleistungskriterien desjenigen Mitgliedstaates zugrundelegen, der „zufällig“ das höchste Schutzniveau bezüglich des betreffenden Grundrechtes vorsieht, wäre dies zum einen selten repräsentativ für die Gesamtheit aller Mitgliedstaaten und würde zum anderen zu methodischen Schwierigkeiten bei der Übernahme dieser Kriterien in die Gemeinschaftsrechtsordnung führen.126 Ein solches Verständnis wäre zudem nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes vereinbar, der schon in der Rs. Internationale Handelsgesellschaft127 festschrieb: „Die Gewährleistung dieser Rechte muß zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muß sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen.“128

Dass der EuGH nicht von einem absoluten Maximalstandard bei der Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte ausgeht, findet nunmehr auch Bestätigung durch neuere Rechtsprechung, in welcher der EuGH bei der Definition des Normbereiches der in Frage stehenden Grundrechte teilweise unter dem Schutzniveau einzelner Mitgliedstaaten bleibt.129 Dennoch folgt aus dem oben entwickelten Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte die Notwendigkeit eines bestimmten Maximalstandards. Dieser Maximalstandard ist allerdings nicht absoluter Art, in dem Sinne, dass er sich an dem höchsten Schutzniveau orientiert, wie es sich aus der Kombination des jeweils maximalen Normbereiches mit den jeweils minimalen Schranken innerhalb der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen ergibt. Gleichwohl darf der EuGH bei der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte die unabdingbaren Mindest-

124 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 434. Für einen so verstandenen Maximalstandard aber bspw. noch: Akehurst, in: BYIL 52 (1981), S. 29, 43 f.; Petersmann, in: Annuaire Européen 23 (1975), S. 179, 192 f.; Riegel, in: AöR 102 (1977), S. 410, 423 f. 125 Tridimas, The General Principles of EC Law, S. 214, mwN. 126 Beutler, in: GTE, Art. F EUV, Rn. 66; Bleckmann, in: FS Börner, S. 30; Pernice, in: NJW 1990, S. 2108, 2414. 127 EuGH, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide –, Slg. 1970, 1125. 128 EuGH, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide –, Slg. 1970, 1125, Rz. 4 ff. 129 EuGH, Rs. C-227 / 92 – Hoechst –, Slg. 1999, I-4443 ff. Streinz entnimmt dem Urteil hingegen Hinweise zu einer Herleitung im Sinne eines Maximalstandards, ders., Europarecht, Rn. 362.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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anforderungen der jeweiligen mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutzsysteme nicht missachten.130 Anzulegen ist deshalb ein dahingehend relativierter Maximalstandard, dass der Gerichtshof bei der Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte nicht unter dem Niveau desjenigen Staates bleiben darf, der unter den Mitgliedstaaten die höchsten Anforderungen an den für ihn unabdingbaren Gewährleistungsstandard stellt.131 Da sich die Gemeinschaftsgrundrechte zugleich in „Ziele und Strukturen“ des europäischen Gemeinschaftsrechtes einpassen müssen, kann sich der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz nicht allein an diesem relativierten Maximalstandard orientieren, da dieser lediglich das Schutzniveau vorgibt, welches auf Gemeinschaftsebene nicht mehr unterschritten werden darf. Dementsprechend geht das überwiegende Schrifttum davon aus, der EuGH müsse die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung der mitgliedstaatlichen Verfassungen entwickeln.132 Daraus folgt allerdings, dass die Rechtsvergleichung nicht auf die tatbestandliche Ebene beschränkt ist sondern daneben auch einen Vergleich der nach den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen vorgesehenen Möglichkeiten der grundrechtlichen Eingriffsrechtfertigung umfassen muss. Dies wiederum beinhaltet die Berücksichtigungen von Abwägungs- und Wertungsentscheidungen im Falle von Kollisionen unterschiedlicher Interessen in den einzelnen Rechtsordnungen.133 Denn nur nach einer solchen umfassenden Gesamtschau des Grundrechtsschutzes auf innerstaatlicher wie auf EMRK-Ebene kann effektiv festgestellt werden, ob das in einem konkreten Fall entgegenstehende Gemeinschaftsinteresse einen fraglichen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen vermag oder nicht. Damit wird zugleich deutlich, dass die Gleichzeitigkeit von Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte und deren Anwendung im konkreten Fall eine klare Unterscheidung zwischen Tatbestands- und Rechtfertigungsebene erheblich erschwert.134

Vgl. oben S. 39 ff. Ähnlich Streinz, Europarecht, Rn. 363; Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 492 hält eine Kernbereichsgarantie für möglich. Vgl. a. bereits Pescatore, in: EuGRZ 1978, S. 441, 445. 132 v. Arnauld, in: EuR 2003, S. 191, 206; Bienert, Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns, S. 53; Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 493, mwN auf S. 494; Wegener, in: Calliess / Ruffert, Art. 220, Rn. 33; Beutler, in: GTE, Art. F EUV, Rn. 66; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 58; Bleckmann, Europarecht, S. 149; Notthoff, in: RIW 1995, S. 541, 542 f.; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 228 f.; Bleckmann, in: FS Börner, S. 29, 30. 133 Vgl. Besselink, in: CMLR 35 (1998), S. 629, 638 f. 134 Vgl. dazu unten S. 59 f. 130 131

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Festzuhalten bleibt, dass die gerichtliche Grundrechtsentwicklung und Anwendung im Wege einer wertenden Betrachtung der mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutzsysteme hinsichtlich der Tatbestände und Eingriffsvorbehalte der nationalen Grundrechte durchzuführen ist, wobei der relativierte Maximalstandard, wie er sich aus den zwingenden Anforderungen des mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutzes ergibt, nicht unterschritten werden darf.

b) EMRK Die Schwierigkeiten bei der Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte aus den sehr unterschiedlichen oder teils nicht positivierten Grundrechtsbestimmungen der Mitgliedstaaten führen dazu, dass der EMRK eine bevorzugte Rolle als Rechtfindungsquelle für die Gemeinschaftsgrundrechte zukommt.135 Die EMRK ist der bislang einzige Grundrechtstext, in dem alle Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Grundrechtsstandard als für sie verbindlich erklärt haben.136 Aus der Bevorzugung der EMRK als Anknüpfungspunkt bei der Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte ist jedoch nicht deren Höherrangigkeit als Rechtserkenntnisquelle abzuleiten.137 Der Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte verlangt die gleichberechtigte Berücksichtigung aller zwingenden Grundrechtsschutzverpflichtungen der Mitgliedstaaten. Mit dem EGMR existiert ein Konventionsgericht, dessen Auslegung der EMRKBestimmungen für alle EG-Mitgliedstaaten verbindlich ist. Dementsprechend kommt der EGMR-Rechtsprechung für die Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte besondere Bedeutung zu. Der EuGH hat mittlerweile mehrfach auf Entscheidungen des EGMR Bezug genommen und ist diesen unmittelbar gefolgt.138 In anderen Fällen jedoch weicht die Rechtsprechung des EuGH (bewusst) von der des EGMR ab.139 Während eine formelle Bindung ohnehin den 135 Soweit ersichtlich zuerst mit EuGH, verb. Rs. 46 / 87 u. 227 / 88 – Hoechst / Kommission –, Slg. 1989, 2859, Rz. 18. Beispiele für aktuellere Bezugnahmen sind EuGH, Rs. C-74 / 95 – Strafverfahren gegen X –, Slg. 1996, I-6609, Rz. 25; Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, 3689, Rz. 26; Rs. C-60 / 92 – Otto BV / Postbank –, Slg. 1993, I-5683, Rz. 11. 136 Pernice, in: NJW 1990, S. 2409, 2414. 137 Weiß, S. 40; Ress / Ukrow, in: EuZW 1990, S. 499, 501; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 227; a.A. Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 50; Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 43. 138 EuGH, verb. Rs. 74 / 95 u. 125 / 95 – Strafverfahren gegen X –, Slg. 1996; I-6609, Rz. 25; EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 26; Rs. 13 / 94 – P / S and Cornwell County Council –, Slg. 1996, I-2143, Rz. 16; vgl. a. EuGH, Rs. 185 / 95 – Baustahlgewebe / Kommission –, Slg. 1998, I- 8417, Rz. 29. 139 Vgl. dazu das Urteil des EuGH vom 10. 11. 1993 in der Rs. C-60 / 92 – Otto BV / Postbank –, Slg. 1993, I-5683, Rz. 11, gegenüber EGMR, Urteil v. 25. 2. 1993 – Funke / Frankreich – Series A, Vol. 256, S. 23, Rz. 44; sowie verb. Rs. 46 / 87 u. 227 / 88 – Hoechst / Kom-

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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Beitritt der EG zum EMRK-System voraussetzt,140 ist es deshalb fraglich, ob man von einer faktischen Bindung der EG an die EMRK und insbesondere die Rechtsprechung des EGMR ausgehen kann.141 Auf der einen Seite scheint die neuere Rechtsprechung des EGMR dafür zu sprechen, dass dieser einen Jurisdiktionsverzicht im Sinne der Solange-II-Rechtsprechung des BVerfG, wie sie noch in der Melchers-Entscheidung der EKMR142 anklang, nicht mehr üben will.143 Damit gälten alle Urteile des EGMR für die Mitgliedstaaten als unabdingbar und wären nach den Grundsätzen der gegenseitigen Loyalitätspflicht somit auch für den EuGH als bindend zu beachten.144 Auf der anderen Seite bleibt das Bedürfnis, die Gemeinschaftsgrundrechte in „Struktur und Ziele des Vertrages“145 einzufügen, was eine uneingeschränkte Bindung an die EGMR-Judikatur im Einzelfall schwierig machen kann. Gegen eine Bindung der EG spricht auch, dass der EGMR bei der Anwendung der Konventionsbestimmungen teilweise auch auf mitgliedstaatliche Verfassungsbestimmungen zurückgreift.146 Dies stellt insofern ein Problem dar, als die EG-Mitgliedstaaten nicht einmal die Mehrheit unter den Unterzeichnerstaaten der EMRK stellen. Die Gemeinschaft als autonome Rechtsordnung würde mithin mittelbar an die grundrechtlichen Wertungen von Drittstaatenverfassungen gebunden.147 Ohne dass die Problematik hier umfassend untersucht werden kann, bleibt festzuhalten: Die Loyalitätspflicht der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten spricht für eine Bindung des EuGH an die EGMR-Rechtsprechung für den Fall, mission –, Slg. 1989, 2859, Rz. 18 u. EGMR, Urteil v. 30. 3. 1989 – Chapell –, teilweise abgedruckt bei Berger, Case Law of the ECHR, S. 86 ff.; s. dazu Weiß, S. 36 ff. 140 EuGH – Gutachten 2 / 94 –, Slg. 1996, I-1759, Rz. 35. 141 Streinz, Europarecht, Rn. 361; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 63; Weiß; a.A.: Lenaerts, in: EuR 1997, S. 17, 37; Langenfeld / Zimmermann, in: ZaöRV 52 (1992), S. 259, 304 f.; Bleckmann, Bindung der EG an die EMRK, S. 86 f.; Pescatore, der Schutz der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften und seine Lücken, in: Mosler / Bernhardt / Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 64, 70 f.; Hilf, in: Grabitz / Hilf, Art. F EUV, Rn. 28; Langenfeld / Zimmermann, in: ZaöRV 52 (1992), S. 259, 304 f. 142 EKMR, Entscheidung v. 9. Februar, 1990 – Melchers & Co. KG v. Bundesrepublik Deutschland –, DR 64, 138, Rz. 8 „. . . wenn gewährleistet ist, daß im Rahmen jener Organisation ein vergleichbares Maß an Individualrechtsschutz gewährleistet ist.“, vgl. a. EKMR, Entscheidung v. 29. Oktober 1997 – Matthews v. Vereinigtes Königreich –, EuGRZ 1999, S. 206, 207, Rz. 63. 143 EGMR, Urteil v. 18. 2. 1999 – Waite&Kennedy v. Bundesrepublik Deutschland –, EuGRZ 1999, S. 207 ff., insb. Rz. 67. 144 Vgl. dazu oben S. 39 ff. 145 EuGH, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide –, Slg. 1970, 1125, Rz. 4 ff. 146 Vgl. EGMR, Urteil v. 26. 8. 1997 – Balmer-Schafroth u. a. / Schweiz –, EuGRZ 1999, S. 183, 185, Rz. 34; s. dazu Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 504, mwN. 147 Bornemann, Grundrechtsquellen, S. 121.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

dass der EGMR einen Jurisdiktionsanspruch auch gegenüber gemeinschaftsrechtlich bestimmte Akte der Mitgliedstaaten ausdrücklich bestätigt.148

4. Rang der Gemeinschaftsgrundrechte im Gemeinschaftsrecht Für die hier anzustellende Untersuchung von maßgeblicher Bedeutung ist schließlich die Frage nach der normhierarchischen Stellung der Gemeinschaftsgrundrechte innerhalb des Gemeinschaftsrechtssystems. Der Rechtsprechung des EuGH lässt sich insoweit lediglich entnehmen, dass die Gemeinschaftsgrundrechte ihrem Rang nach über dem sekundären Gemeinschaftsrecht anzusiedeln sind.149 Mittlerweile in ständiger Rechtsprechung legt er zudem Normen des Primärrechtes anhand der Gemeinschaftsgrundrechte aus.150 Daraus folgt, dass er zumindest von einer Gleichrangigkeit der Gemeinschaftsgrundrechte auszugehen scheint.151 Auf die facettenreichen Ansichten, die zu dieser Frage innerhalb des Schrifttums existieren, kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden.152 Nach zutreffender, herrschender Meinung ist mit dem EuGH die grundsätzliche Gleichrangigkeit der Gemeinschaftsgrundrechte mit sonstigem Primärrecht anzunehmen.153 Dieser Schluss folgt aus dem auch hierfür maßgeblichen spezifischen Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte, wie er oben entwickelt worden ist: 148 Zur Zeit ist ein Individualbeschwerdeverfahren gegen alle fünfzehn Mitgliedstaaten der Senator Lines GmbH bei dem EGMR anhängig, welche sich durch ein in EuG, Rs. T-191 / 98 R – Senator Lines – Slg. 1999, II – 2531 ff. u. EuGH, Rs. C-364 / 99 P (R) – Senator Lines – Slg. 1999, I-8733 f. bestätigtes kartellrechtliches Bußgeldverfahren in ihren Rechten aus Art. 6 u. 13 EMRK verletzt sieht. (Antragsnummer 56672 / 00); für eine zusammenfassende Sachverhaltsdarstellung siehe EuGRZ 2000, S. 334 ff. Zu dem Problem des defizitären Individualrechtsschutzes auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene in prozessualer Hinsicht s. Calliess, in: NJW 2002, S. 3577 ff. Zu dem Gemeinschaftsgrundrecht auf einen fairen Prozess s. Pache, in: NVwZ 2001, S. 1342 ff. 149 Bspw. EuGH, Rs. 280 / 93 – Deutschland / Rat –, Slg. 1994, I-4973, Ls. 7; verb. Rs. 133 – 136 / 85 – Rau / Balm –, Slg. 1987, 2289, Rz. 18. 150 EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, I-2925, Rz. 42 f.; Rs. C-62 / 90 – Kommission / Deutschland –, Slg. 1992, I-2601, Rz. 23; EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 24 ff. Dazu eingehend unten S. 137 ff. 151 Der Vorrang der Gemeinschaftsgrundrechte gegenüber sonstigem Primärrecht geht aus dieser Rechtsprechung indessen nicht notwendigerweise hervor. So aber Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 541; ähnlich Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 166 f. 152 Umfangreiche Nachweise zum Meinungsstand bei Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 541 ff. 153 Bornemann, Grundrechtsquellen, S. 158; Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 145; Streinz, Europarecht, Rn. 354; Gramlich, in: DÖV 1997, S. 801, 805; Weiß, S. 124; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 77, Claudi, S. 476.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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Als Ausfluss des in Art. 10 EGV verankerten Prinzips der gegenseitigen Loyalität fußen die Gemeinschaftsgrundrechte unmittelbar auf vertraglichem Primärrecht des EGV.154 Ein Verstoß gegen die Gemeinschaftsgrundrechte kommt folglich immer auch einem Verstoß gegen diese gegenseitige Treuepflicht aus Art. 10 EGV gleich. Durch die Übernahme der Gemeinschaftsgrundrechte kraft einer Vertragsbestimmung teilen diese mithin den Rang des vertraglichen Primärrechts.155

5. Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte a) Gemeinschaftsgrundrechte als Abwehrrechte Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind Grundrechte wesensmäßig und primär Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat.156 Auch die Grundrechtskataloge anderer Mitgliedstaaten, wie die der griechischen, italienischen oder spanischen Verfassungen, sind nachdrücklich subjektiv-rechtlich ausgerichtet.157 Während auch die Gemeinschaftsgrundrechte regelmäßig in der Funktion des Abwehrrechtes angewandt werden,158 findet sich eine entsprechende Festlegung zu der Verknüpfung von Schutzgegenstand und negatorischem Abwehranspruch in der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH nicht.159 Fraglich ist daher, inwieweit ein solches dogmatisches Verständnis Gültigkeit auch für die Grundrechte der Gemeinschaft haben kann. Grund zu diesbezüglichen Zweifeln ergeben sich insbesondere daraus, dass sich der EuGH in seiner Grundrechtsrechtsprechung offenbar an die französische Rechtstradition anlehnt. So scheint sich der EuGH bei der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechtes an der Rechtsprechung des französischen conseil d’état orientiert zu haben, der zahlreiche nationale Grundrechte als principes généraux du droit160 entwickelt hat.161

Vgl. oben S. 39 ff. Vgl. Weiß, S. 123 f.; in Bezug auf Art. 220 EGV a. Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 30, mwN. 156 BVerfGE 7, 198 [204]. 157 Kühling, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 601. 158 Gerstner / Groebel, in: Jura 1993, S. 626, 630. 159 Vgl. Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 25 ff. Zu der Differenzierung zwischen Schutzgut und korrelierendem negatorischem Anspruch auch in Bezug auf die deutschen Grundrechte s. Stern, Staatsrecht, Band III / 1, S. 620 f. Zu dem Konzept subjektiver Rechte im Gemeinschaftsrecht allgemein s. v. Danwitz, in: DÖV, S. 481, 484; vgl. a. Triantafyllou, in: DÖV 1997, S. 192 ff. sowie Hölscheidt, in: EuR 2001, S. 376, 387 ff. 160 Eingehender dazu Itin, Grundrechte in Frankreich, S. 34 ff.; Gehlert, S. 73 u. Jouanjan, in: EuGRZ 2002, S. 314, 315. 154 155

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Nach dem französischen Grundrechtsverständnis werden Grundrechte aber nicht als subjektive Rechtsnormen verstanden, die primär dem Einzelnen Abwehrrechte gegenüber dem Staat einräumen sollen.162 Die Bindung der Hoheitsgewalt an die Grundrechte fußt nicht auf einem entsprechenden Anspruch des Bürgers sondern wird durch die objektive Rechtsordnung vermittelt. Der Rechtschutz des Einzelnen wird erst durch individuelle Klagerechte auf Beachtung der an sich objektiven Grundrechte gewährleistet.163 Inwieweit auch der EuGH tatsächlich ein entsprechendes objektives Grundrechtsverständnis bei der Gewährleistung der Gemeinschaftsgrundrechte zugrunde legt ist unklar.164 Deutlich wird jedoch, dass zumindest von einer unkritischen Übertragung des deutschen Grundrechtsverständnisses auf die europäische Ebene abzusehen ist.165

b) Gemeinschaftsgrundrechte als Leistungsrechte Von dem zugrundegelegten Grundrechtskonzept hängt auch ab, inwieweit den Gemeinschaftsgrundrechten Leistungsrechte zu entnehmen sind. Ginge man von einer objektiven Grundrechtsbindung der Gemeinschaft aus, entstünden bei der Herleitung anderer Grundrechtsfunktionen nicht die Probleme, die sich nach dem deutschen Grundrechtsverständnis ergeben, welches auf dem subjektiv-rechtlichen Abwehranspruch aus den Grundrechten basiert.166 Teilweise wird die Rechtsprechung des EuGH zu den Gemeinschaftsgrundrechten als Schranken der Grundfreiheiten167 als Hinweis auf die Schutzpflichtfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte verstanden.168 Die relevanten Entscheidungen knüpfen allerdings jeweils an mitgliedstaatliche Maßnahmen an. Weitergehende grundrechtliche Schutzpflichten der Gemeinschaftsorgane hat der EuGH, soweit 161 Bleckmann, Europarecht, Rn. 580; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 54. Zur aktuellen Entwicklung des Grundrechtsschutzes in Frankreich Grewe, in: EuGRZ 2002, S. 209 ff. 162 Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 920; Gehlert, S. 8. 163 Bornemann, Grundrechtsquellen, S. 90 ff. Zu den damit verbundenen Problemen s. Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 921. 164 Vgl. aber Hölscheidt, in: EuR 2001, S. 376, 387; ausdrücklich für die Gemeinschaftsgrundrechte als objektive Rechte insbesondere Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 27. 165 Anders aber bspw. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 177. 166 Vgl. Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 920. 167 Dazu unten S. 113 ff. 168 Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 152 ff.; Kokott, in: AöR 121 (1996), S. 599, 611; Gersdorf, in: AöR 119 (1994), S. 400, 411 ff.; dazu eingehender unten auf S. 130.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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ersichtlich, bislang noch nicht hergeleitet.169 Dies kann damit erklärt werden, dass die klassischen Gegenstände der Schutzpflichten, wie Leben oder Gesundheit, nicht im Kompetenzbereich der Gemeinschaft liegen.170 Neben der Schutzpflichtgewährleistung als der prominentesten unter den Leistungsrechten lassen sich bei Zugrundelegung eines objektiv-rechtlichen Verständnisses der Gemeinschaftsgrundrechte Teilhaberechte und Leistungsrechte im engeren Sinne ableiten. Und tatsächlich hat der EuGH zumindest im sozialen Bereich bestimmte Leistungsrechte im engeren Sinne anerkannt.171 Von den eben genannten originären Leistungsrechten sind die Teilhaberechte zu unterscheiden. Teilhaberechte sind Gleichheitsrechte und gewähren keinen eigenständigen Leistungsanspruch sondern ein Recht auf Zugang zu einer bestimmten bereits bestehenden Begünstigung. Der EuGH hat in verschiedenen Fällen den allgemeinen Gleichheitssatz in der Sache als Teilhaberecht angewandt.172 Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass der EuGH den Gemeinschaftsgrundrechte zumindest einzelne objektiv-rechtliche Funktionen beilegt.

6. Gemeinschaftsgrundrechte als Prinzipien Um die Gemeinschaftsgrundrechte in den folgenden Untersuchungen mit den Grundfreiheiten in Beziehung setzen zu können, sind beide Normengruppen hinsichtlich ihres Normcharakters näher zu qualifizieren.173 Hierzu soll das Regel / Prinzipien-Modell Alexy’s herangezogen werden.174 Danach sind Prinzipien solche Normen, „die gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird.“175 Sie können mithin 169 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 48. Die Schutzpflichtfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte allgemein befürwortend: Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 602; Jaeckel, Schultzpflichten, S. 221, mwN auf S. 215; Gersdorf, in: AöR 119 (1994), S. 400, 402 ff. 170 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 48; vgl. a. Jaeckel, Schutzpflichten, S. 216 f. u. Geiger, Art. 220 EGV, Rn. 35 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-68 / 95 – Port IV – Slg. 1996, I-6065. 171 EuGH, verb. Rs. 41 / 79, 121 / 79 u. 796 / 79 – Testa, Maggio u. Vitale / Bundesanstalt für Arbeit –, Slg. 1980, 1979. Zu der Gewährleistung sozialer Rechte durch den EuGH s. Zuleeg, in: EuGRZ 1992, S. 329, 333 f. 172 EuGH, Rs. C-357 / 89 – Raulin / Minister van Onderwijs en Wetenschapen –, Slg. 1992, I-1027, Rz. 28; verb. Rs. 124 / 76 u. 20 / 77 – Moulins Pont-à-Mousson / Office Interprofessionnel des Céréales –, Slg. 1977, 1795, Rz. 24 ff.; vgl. a. EuGH, Verb. Rs. 117 / 76 u. 16 / 77 – Ruckdeschel / Hauptzollamt Hamburg-St. Annen –, Slg. 1977, 1753, Rz. 7; Rs. 9 / 74 – Casagrande –, Slg. 1974, 773, Rz. 4. 173 Vgl. die Qualifizierung der Grundfreiheiten als Prinzipien auf S. 83 f. sowie die daraus folgenden Schlussfolgerungen auf S. 113 f. 174 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. 175 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

als „Optimierungsgebote“ verstanden werden.176 Demgegenüber sind Regeln Normen, die immer nur erfüllt oder nicht erfüllt werden können.177 Bedeutung für die vorliegende Untersuchung erlangt diese Unterscheidung wegen des unterschiedlichen Kollisionsverhaltens beider Normarten.178 Während im Falle eines Prinzipienkonfliktes eines der konfligierenden Prinzipien nur in dem konkreten Fall zurücktritt, seine grundsätzliche Geltung dadurch jedoch nicht einbüßt, kann ein Regelkonflikt generell nur durch die Ungültigkeitserklärung einer der konfligierenden Regeln gelöst werden.179 In einem jeden Rechtssystem, welches den Schutz einer Vielzahl unterschiedlicher Grundrechte gewährleistet, kommt es unvermeidlich zu Konflikten zwischen diesen Grundrechten.180 Es ist unzweifelhaft, dass Gemeinschaftsgrundrechte nicht ihre Geltung verlieren, wenn sie in einem konkreten Kollisionsfall zurückstehen.181 Folglich sind die Gemeinschaftsgrundrechte ihrem Normcharakter nach als Prinzipien zu verstehen.182 Für die vorliegende Arbeit erlangt die Qualifizierung der Gemeinschaftsgrundrechte als Prinzipien insbesondere Bedeutung bei der Untersuchung der Schrankenfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Prüfung der Grundfreiheiten, welche Gegenstand der Ausführungen in Kapitel II des zweiten Teiles ist.

7. Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte a) Gemeinschaft Nach Art. 6 II EUV achtet die Union die Grundrechte. Damit sind die Organe der Gemeinschaft nicht nur im Rahmen ihrer gemeinschaftlichen Kompetenzen an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, sondern auch bei Handlungen nach dem EUV.183 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 121. 178 Vgl. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 164. 179 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77 ff. 180 Vgl. Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 2 I GG, Rn. 16. 181 Vgl. EuGH, Rs. C-369 / 90 – Monika Bötel –, Slg. 1992, I-3589; Rs. C-12 / 92 – Enderby –, Slg. 1993, I-5535; Rs. 237 / 85 – Rummler –, Slg. 1986, 2101 in denen der EuGH dem Art. 141 EGV den Vorrang vor unterschiedlichen Gemeinschaftsgrundrechten einräumte, ohne dass daraus deren Ungültigkeitserklärung gefolgt wäre. 182 Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 164. 183 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 48; Hilf, in: Grabitz / Hilf, Art. F EUV, Rn. 40. 176 177

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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b) Mitgliedstaaten Nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH sind die Mitgliedstaaten der EG an die Gemeinschaftsgrundrechte „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ gebunden.184 Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Bindung der Mitgliedstaaten bei der Anwendung und Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht185 und der Bindung der Mitgliedstaaten bei der Berufung auf Rechtfertigungstatbestände zu den Grundfreiheiten.186 Der erste Fall der mitgliedstaatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte ist in kompetenzieller Hinsicht vergleichsweise unproblematisch und demgemäß weitgehend anerkannt.187 Sofern den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht kein Ermessen eröffnet ist, handelt es sich bei den Umsetzungsakten nicht um originär mitgliedstaatliche Akte.188 Die Mitgliedstaaten handeln in diesem Falle lediglich als Agenten der Gemeinschaft.189 Gleichzeitig können wegen des Vorranges des Gemeinschaftsrechtes gegenüber solchen Maßnahmen nationale Grundrechte nicht vorgebracht werden. Um den Bürger nicht schutzlos zu lassen, muss sich dieser insoweit gegenüber dem umsetzenden Staat auf die Gemeinschaftsgrundrechte berufen können, womit zugleich sowohl dem Vorrang als auch der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechtes Rechnung getragen wird.190 184 Grundlegend: EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, 2925; s. die Rechtsprechungsübersicht unten S. 137 ff. 185 EuGH, Rs. 5 / 88 – Wachauf / Bundesanstalt für Ernährung und Forstwirtschaft –, Slg. 1989, 2609; Rs. C-2 / 92 – Bostock –, Slg. 1994, I-955; Rs. 12 / 86 – Demirel –, Slg. 1987, 3719; Rs. 201 u. 202 / 85 – Klensch / Staatssekretär für Landwirtschaft und Weinbau –, Slg. 1986, 3477, Rz. 9 ff.; für mitgliedstaatliche Durchführungsmaßnahmen im Bereich der Gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte: EuGH, Rs. C-44 / 94 – The Queen / Minister of Agriculture, Fisheries and Food u.a. –, Slg. 1995, I-3115 ff.; Rs. C-63 / 93 – Fintan Duff u. a. / Minister for Agriculture and Food und Attorney General –, Slg. 1996, I-569. Für die Anwendung europarechtlicher Verordnungen und unmittelbar wirkender Richtlinien EuGH, Rs. 80 / 86 – Kolpinghuis Nijmegen B.V. –, Slg. 1987, 3969; Rz. 12 f.; verb. Rs. 41, 121 u. 796 / 79 – Testa –, Slg. 1980, 1979; Rs. 314 / 85 – Foto Frost –, Slg. 1987, 4199; zuletzt soweit ersichtlich: EuGH, Rs. C-292 / 97 – Karlsson u. a. –, Slg. 2000, I-2737, Rz. 37. 186 EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, I-2925, Rz. 42 f.; Rs. C-62 / 90 – Kommission / Deutschland –, Slg. 1992, I-2601, Rz. 23. EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, 3689, Rz. 24 ff.; EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659. 187 Schaller, EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 47 f.; Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 190; Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 57; Ruffert, in: EuGRZ 1995, S. 518, 527 f.; Jürgensen / Schlünder, in: AöR 121 (1996), S. 200, 207 ff.; mit teilweise recht unterschiedlicher Begründung, vgl. nur Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der EG, S. 28 ff. Dagegen zuletzt Bienert, Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns, S. 210. 188 Vgl. Gerstner / Goebel, in: Jura 1993, S. 626, 632. 189 Verbreitet wird daher von der sog. „agency situation“ gesprochen.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

An einer entsprechenden Rechtsschutzlücke, die es mithilfe der Gemeinschaftsgrundrechte zu schließen gilt, fehlt es jedoch grundsätzlich im Rahmen der zweiten Situation, der Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Prüfung von mitgliedstaatlichen Eingriffen in die Grundfreiheiten des Vertrages. In Frage stehen hier originär mitgliedstaatliche Regelungen, gegenüber denen Grundrechtsschutz auf nationaler Ebene jederzeit erlangt werden kann.191 Die Überprüfung mitgliedstaatlicher Akte anhand von Gemeinschaftsgrundrechten, im Falle der Berufung auf grundfreiheitliche Rechtfertigungsgründe wird daher auch im Schrifttum als weitaus problematischer angesehen.192 Da diese Frage unmittelbar das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten betrifft, wird darauf ausführlich im dritten Kapitel des zweiten Teiles einzugehen sein.

c) Der Einzelne Das Problem der unmittelbaren Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte ist durch den EuGH soweit ersichtlich noch nicht adressiert worden.193 Die Frage nach der Bindung Privater an die Gemeinschaftsgrundrechte hängt wiederum davon ab, an welcher Grundrechtskonzeption sich der Gerichtshof bei seiner Rechtsprechung orientiert. Die mitgliedstaatlichen Ansichten hierzu sind äußerst unterschiedlich. Während nach deutschem Verständnis eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte kategorisch auszuschließen ist,194 ist die Bindung Privater an die Grundrechte im französischen Rechtskreis allgemein anerkannt.195 Der EGMR schließlich verfolgt den Ansatz einer durch den Staat vermittelten Drittwirkung,196 indem er Jurisdiktion auch gegenüber Grundrechtsbeeinträchtigungen privaten Ursprungs ausübt, weil diese nur durch legislatives Unterlassen möglich geworden seien.197 Auch zu der Frage der Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte ergeben sich autonom gemeinschaftsrechtliche Argumente aus der Betrachtung des Verhältnis190 Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 166 ff., Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der EG, S. 40 ff. 191 Eingehend dazu unten S. 172 ff. 192 Clapham bezeichnete diese Situation als „the real crux of the matter“, ders., Human Rights and the European Community: A Critical Overview, S. 40. 193 Kingreen, in: Calliess / Ruffert Art. 6 EUV, Rn. 63. 194 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 480 ff. 195 Itin, Grundrechte in Frankreich, S. 47; Savoie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und USA, S. 203, 232. 196 Zu der Theorie der vermittelten Drittwirkung der deutschen Grundrechte s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 480 f. 197 EGMR, Urteil v. 13. 8. 1981 – Young, James u. Webster –, Série A, Vol. 44, Rz. 49; EGMR, Urteil v. 25. 3. 1995 – Costello-Roberts v. Vereinigtes Königreich – Série A, Vol. 247-C, Rz. 27 f.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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ses von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten. Um diesen Erörterungen hier nicht vorzugreifen, soll auch an dieser Stelle auf die im zweiten Teil folgenden Ausführungen verwiesen werden.198

8. Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte Ausgehend von der deutschen Grundrechtsdogmatik kann die Grundrechtsprüfung in drei Schritte aufgeteilt werden: Zunächst wird der Lebensbereich bestimmt, der von dem betreffenden Grundrecht geschützt wird. Dem wird im Eingriff die Maßnahme gegenübergestellt, durch die dieser Bereich möglicherweise beschränkt wird. Wenn die divergierenden Interessen auf diese Weise herausgearbeitet wurden, folgt innerhalb der Rechtfertigung des Eingriffes die Abwägung zwischen eben diesen Rechtspositionen und eine rechtliche Bewertung der in Frage stehenden Maßnahme. Die oftmals konturlose Rechtsprechung des EuGH insbesondere in grundrechtsrelevanten Fällen wird vielerorts kritisiert.199 So werden teilweise Fragen des Schutzbereiches und der Rechtfertigung miteinander vermengt, so dass nicht klar wird, ob die zu prüfende Maßnahme nur für den konkreten Fall gerechtfertigt ist, oder ob der Schutzbereich des einschlägigen Grundrechtes schon nicht betroffen ist.200 Wie bereits bemerkt, ist die fehlende Strukturierung zumindest teilweise der Besonderheit des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes geschuldet, wonach für die Gemeinschaftsgrundrechte die Tatbestandsentwicklung grundsätzlich mit der Anwendung auf den konkreten Fall zusammenfällt. 201 Dennoch ist auch dem EuGH eine der eben beschriebenen Herangehensweise entsprechende Aufteilung bei der Prüfung der Gemeinschaftsgrundrechte nicht grundsätzlich fremd.202

a) Schutzbereich aa) Sachlich Eine Konkretisierung des Schutzbereiches nimmt der EuGH so gut wie nicht vor.203 Wenn er es nicht sogar unterlässt, das zu prüfende Grundrecht überhaupt zu s. dazu unten S. 133 f. Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 11 ff. 200 Vgl. EuGH, Rs. 230 / 78 – Eridiana / Minister für Landwirtschaft und Forsten –, Slg. 1979, 2749, Rz. 22; Verb. Rs. 133 – 136 / 85 – Rau / Balm –, Slg. 1987, 2289, Rz. 18. 201 Vgl. Bornemann, Grundrechtsquellen, S. 114; Ress u. a., in: EuZW 1990, S. 503. 202 Bspw. EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 25 f. 198 199

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

nennen204, beschränkt er sich meist auf die Feststellung, dass das betreffende Grundrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrecht geschützt wird. Einige Konturen gewinnt die Grundrechtsrechtsprechung, wenn der EuGH in neueren Urteilen auf die jeweilig entsprechende Schutznorm der EMRK oder sogar auf die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR verweist.205 Aus dem Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte ergeben sich zudem, wie bereits dargelegt, jedenfalls bestimmte Mindestanforderungen an den Schutzgehalt der Grundrechte der Gemeinschaft.206

(1) Freiheitsrechte Eine herausragende Bedeutung haben wegen des primär wirtschaftlichen Regelungsgegenstandes des Gemeinschaftsvertrages die Grundrechte, die einen wirtschaftlichen Bezug aufweisen.207 Vor allem die Grundrechte der Eigentumsfreiheit208 und der Berufsfreiheit209 sind zu nennen.210 Diese Grundrechte zählten denn auch zu den ersten, die der EuGH überhaupt als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes entwickelte.211 Zu den von ihm geschützten Gemeinschaftsgrundrechten mit direktem Wirtschaftsbezug zählt der EuGH des Weiteren das Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung212 sowie auf freien Zugang zur Beschäftigung213. 203 Das bedeutet indes nicht, dass den Gemeinschaftsgrundrechten jegliche Substanz abzusprechen wäre und diese gar mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in eins fielen. So aber Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 12. Der EuGH differenziert ausdrücklich zwischen Grundrecht und allgemeinem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, vgl. EuGH, Rs. C-293 / 97 – Standley –, Slg. 1999, I-2603, Rz. 57. 204 EuGH, Rs. 5 / 88 – Wachauf / Bundesanstalt für Ernährung und Forstwirtschaft –, Slg. 1989, 2609, Rz. 17 u. 19. 205 EuGH, Verb. Rs. 46 / 87 u. 227 / 88 – Hoechst / Kommission –, Slg. 1989, 2859, 18; Verb. Rs. 97 – 99 / 87 – Dow Chemical Iberica u. a. / Kommission –, Slg. 1989, 3165, Rz. 15; Rs. 368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, 25. 206 s. oben 42 ff. 207 Koch, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 399; Günter, Berufsfreiheit und Eigentum, S. 1; Schwarze, in: EuGRZ 1986, S. 293, 293. 208 EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491, Rz. 14; Rs. 44 / 79 – Hauer / Land Rheinland / Pfalz –, Slg. 1979, 3727, LS. 4. 209 EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491; Rs. 44 / 79 – Hauer / Land Rheinland / Pfalz –, Slg. 1979, 3727, LS. 4; Rs. 265 / 87 – Schräder / Hauptzollamt Gronau –, Slg. 1989, 2237. Vgl. a. Wunderlich, Berufsfreiheit, S. 98, Fn. 434. 210 Für eine aktuellere Rechtsprechungsübersicht für beide Gemeinschaftsgrundrechte s. Penski / Elsner, in: DÖV 2001, S. 265, 265 ff. 211 EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491, Rz. 14. 212 EuGH, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel –, Slg. 1970, 1125, 1135 ff.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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Unter den nicht-wirtschaftlichen Freiheitsrechen hat der Gerichtshof die Grundrechte auf Schutz der Privatsphäre,214 der Familie215 sowie der Wohnung216 anerkannt. Auch „soziale Grundrechte“ gehören zu den von ihm geschützten Rechten.217 Vor allem im Rahmen von Beamtensachen wurden die Grundrechte der Religionsfreiheit218, der Meinungsfreiheit219 und der Koalitionsfreiheit entwickelt.220 Letzterer wurde später das allgemeinere Grundrecht der Vereinigungsfreiheit zur Seite gestellt.221 Für das Verständnis der Gemeinschaftsgrundrechte von entscheidender Bedeutung222 ist schließlich, dass der EuGH in seiner Grundrechtsrechtsprechung auf die Würde des Menschen Bezug genommen hat.223

EuGH, Rs. 222 / 86 – UNECTEF / Heylens –, Slg. 1987, 4097. EuGH, Rs. 136 / 79 – National Panasonic / Kommission –, Slg. 1980, 2033, 2065 f.; Rs. C-62 / 90 – Kommission / Bundesrepublik Deutschland –, Slg. 1992, I-2575 (Deutsches Arzneimittelrecht). 215 EuGH, Rs. 249 / 86 – Kommission / Bundesrepublik Deutschland –, Slg. 1989, 1263 (Wanderarbeitnehmer); 216 EuGH, Rs. Verb. Rs. 46 / 87 u. 227 / 88 – Hoechst / Kommission –, Slg. 1989, 2859, Rz. 14. 217 Zuleeg, in: EuGRZ 1992, 329, 332; vgl. a. Chwolik-Lanfermann S. 67, EuGH, verb. Rs. 41 / 79, 121 / 79 u. 796 / 79 – Testa, Maggio und Vitale / Bundesanstalt für Arbeit –, Slg. 1980, 1979; Rs. 9 / 74 – Casagrande / Landshauptstadt München –, Slg. 1974, 773, Rz. 2 f.; Rs. C-357 / 89 – Raulin / Minister van Onderwijs en Wetenschapen –, Slg. 1992, I-1027. 218 EuGH, Rs. 130 / 75 – Prais / Rat –, Slg. 1976, 1589, 1599. 219 EuGH, verb. Rs. 43 u. 63 / 82 – VBVB und VBBB / Kommission –, Slg. 1984, 19 (Flämische Bücher); verb. Rs. 60 u. 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération nationale de Cinéma français –, Slg. 1985, 2605; Rs. C-100 / 80 – Oyowe u. Traore / Kommission –, Slg. 1989, 4285; Rs. C-159 / 90 – The Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd. / Grogan –, Slg. 1991, 4685. 220 EuGH, Rs. 175 / 73 – Gewerkschaftsbund Europäischer Öffentlicher Dienst, Massa und Kortner / Rat –, Slg. 1974, 917, Rz. 10 ff.; Rs. 18 / 74 – Allgemeine Gewerkschaft –, Slg. 1974, 933, Rz. 10 ff.\ 221 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, Rz. 79. 222 Dazu genauer unten s. 107 ff. sowie S. 157 ff. 223 EuGH, Rs. 13 / 94 – P / S and Cornwell County Council –, Slg. 1996 I-2143, Rz. 16; Rs. C-377 / 98 – Niederlande / Parlament u. Rat –, Slg. 2001, I-7079, Ls. 6. Teilweise wurde auch bereits aus der Formulierung des EuGH in der Rs. 29 / 69 – Stauder / Stadt Ulm –, Slg. 1969, 419, Rz. 6, er habe die „Grundrechte der Person“ zu schützen, ein Verweis auf die Anerkennung der Menschenwürde gesehen. So bspw. Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 69. Vgl. a. unter Bezug auf VO 1612 / 68: Rs. C-413 / 99 – Baumbast –, Slg. 2002, 7091, Rz. 50; Rs. C-33 / 99 – Fahmi und Esmoris Derdeiro-Pinedo Amado –, Slg. 201, I-2415, Rz. 50; Rs. C-356 / 98 – Kaba –, Slg. 2000, I-2623, Rz. 20; unter Bezug auf RL 89 / 552: verb. Rs. C-34 / 95 bis C-36 / 95 – de Agostini –, Slg. 1997, I-3843, Rz. 31. 213 214

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

(2) Allgemeiner Gleichheitssatz Dem allgemeinen Gleichheitssatz kommt in der Reihe der Gemeinschaftsgrundrechte in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle zu.224 Zum einen wird das Gebot der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Entgelts im überwiegenden Schrifttum als „das einzige in den Verträgen kodifizierte Menschenrecht“ bezeichnet.225 Neben dem Art. 141 EGV226 enthält der Vertrag zudem weitere bereichsspezifische Ausgestaltungen des Verbotes der Ungleichbehandlung,227 die dem als allgemeinem Rechtsgrundsatz hergeleiteten allgemeinen Gleichheitssatz228 als lex specialis vorgehen.229 Zu diesen vertraglichen Diskriminierungsverboten gehören unter anderem die Grundfreiheiten denen das zweite Kapitel dieses Teiles gewidmet ist.230

bb) Persönlich Wie bei den deutschen Grundrechten kann für den persönlichen Schutzbereich der Gemeinschaftsgrundrechte unterschieden werden zwischen natürlichen und juristischen Personen.

(1) Natürliche Personen Berechtigte der Gemeinschaftsgrundrechte sind zunächst alle natürlichen Personen, die Träger der Unionsbürgerschaft gemäß Art. 17 EGV sind.231 Fraglich ist 224 Vgl. u. a. Cirkel, in: NJW 1998, S. 3332 f.; Kischel, in: EuGRZ 1997, 1 ff.; zu der Bedeutung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für die europäische Wirtschaftsverfassung s. Somek, in: ELJ 7 (2001), S. 171 ff. Für eine umfassende Behandlung des Themas s. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, Kehl u. a. 1990. 225 Kingreen / Störmer, in: EuR 1998, S. 263, 275; Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 477, mwN. 226 Vgl. in diesem Zusammenhang eingehend Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1990. 227 Übersicht bei Kingreen / Störmer, in: EuR 1998, S. 263, 265 ff. 228 EuGH, Rs. 130 / 75 – Prais / Rat –, Slg. 1976, 1589, 1599; Rs. 149 / 77 – Defrenne III –, Slg. 1978, 1365; Rs. 1322 / 79 – Vutera / Kommission –, Slg. 1981, 127 (138); verb. Rs. 17 und 20 / 61 – Klöckner und Hoesch / Hohe Behörde –, Slg. 1962, 653 (686); Rs. 8 / 57 – Groupement des Hauts Fourneaux et Aciéries belges / Kommission –, Slg. 1958, 233 (257); verb. Rs. 117 / 76 u. 16 / 77 – Quellmehl –, Slg. 1977, 1753, 1770 f.; verb. Rs. 124 / 76 u. 20 / 77 – Maisgritz –, Slg. 1977, 1795 (1812 f.). 229 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 172. 230 Zu den Grundfreiheiten als spezielle Diskriminierungsverbote s. unten S. 68.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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demgegenüber der grundrechtliche Status der Drittstaatsangehörigen, die sich im Hoheitsbereich der EG befinden. Der EuGH hat sich zu diesem Problem bislang nicht ausdrücklich geäußert.232 Diese Frage ist vor dem Hintergrund der Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte wohl differenziert zu beantworten. Grundrechte, die in den nationalen Verfassungen nur Staatsbürgern zugestanden werden und von der EMRK nicht oder nur eingeschränkt geschützt werden, so z. B. das Recht auf Freizügigkeit, Wahlrechte und das Grundrecht der Berufsfreiheit, können daher auch nur in diesem begrenzten Maße für Angehörige von Drittstaaten Anwendung finden.233

(2) Juristische Personen Ebenfalls noch nicht abschließend geklärt ist der Umfang des grundrechtlichen Schutzes, den juristische Personen im Gemeinschaftsrecht genießen.234 Der EuGH geht in einer Vielzahl von Entscheidungen, die juristische Personen betreffen, von einer grundsätzlichen Grundrechtsberechtigung aus, ohne dies jedoch näher zu erläutern.235 Einschränkungen ergeben sich zwingend aber zumindest analog Art. 19 III GG aus der wesensmäßigen Anwendbarkeit der fraglichen Grundrechte auf juristische Personen. Ausgeschlossen erscheinen beispielsweise die Geltendmachung des Rechtes auf körperliche Unversehrtheit oder des Rechtes auf Leben.236 Inwieweit der EuGH in Zukunft auch juristischen Personen des öffentlichen Rechtes eine Grundrechtsberechtigung zusprechen wird, bleibt abzuwarten.237 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 51. Zum Anspruch auf rechtliches Gehör, jedoch ohne nähere Erläuterung vgl. EuGH, Rs. C-49 / 88 – Al-Jubail Fertilizer / Rat –, Slg. 1991, I-3187, Rz. 15 ff. 233 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 52; a.A. Bleckmann / Pieper in: Dauses, HdbEGWR, B., I, Rn. 118. 234 Vgl. Hilf / Hörmann, in: NJW 2003, S. 1, 5 ff. 235 Vgl. EuGH, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide –, Slg. 1970, 1125, Rz. 4 ff.; verb. Rs. 154 / 78, 205 / 78, 206 / 78, 226 / 78, 227 / 78, 228 / 78, 263 / 78, 264 / 78, 31 / 79, 39 / 79, 83 / 79 – Valsabbia / Kommssion –, Slg. 1980, 907, Rz. 90; Rs. 265 / 87, Schräder / Hauptzollamt Gronau –, Slg. 1989, 2237, Rz. 15; einschränkend: verb. Rs. 46 / 87 u. 227 / 88 – Hoechst / Kommission –, Slg. 1989, 2859, Rz. 14. Allgemein zu der Problematik s. Crones, Grundrechtlicher Schutz juristischer Personen, S. 61 ff. 236 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 53. 237 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-48 / 90 und C-66 / 90 – Niederlande u. a. / Kommission –, Slg. I-1992 I-565, Rz. 40 ff. in Bezug auf einen Mitgliedstaat. Dafür: Tettinger, in: FS Börner, S. 625, 638 f.; auf Verfahrensrechte beschränkend auch: Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 54. Zum gemeinschaftsgrundrechtlichen Schutz der Hochschulen s. Fink, in: EuGRZ 2001, S. 193, 197 ff. 231 232

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

b) Schranken Bereits in den ersten Entscheidungen zum Grundrechtsschutz stellte der EuGH klar, die Gemeinschaftsgrundrechte seien: „weit davon entfernt, uneingeschränkten Vorrang zu genießen; sie müssen im Hinblick auf die soziale Funktion der geschützten Rechtsgüter und Tätigkeiten gesehen werden.“238

In der Rs. Internationale Handelsgesellschaft entwickelte er den sogenannten Gemeinschaftsvorbehalt,239 nach dem sich die Gemeinschaftsgrundrechte „in die Struktur und Ziele des Gemeinschaftsrechts“ einfügen müssen.240 Obwohl der Gerichtshof teilweise auch bei der Prüfung der Einschränkbarkeit gemeinschaftsrechtlicher Grundrechte auf die jeweils entsprechenden Schrankenbestimmungen der EMRK eingegangen ist, können sich daraus immer nur Anhaltspunkte ergeben.241 Für die Konkretisierung der Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in gemeinschaftsgrundrechtliche Schutzbereiche ist nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 I EGV maßgebend, dass sich die Gemeinschaft auch in Bezug auf Grundrechtseingriffe nur auf diejenigen Rechtsgüter und Interessen berufen kann, deren Schutz ihr nach der Kompetenzordnung des EGV aufgegeben worden ist.242 Regelmäßig erschöpfen sich die Aussagen des Gerichtshofes zum Gemeinwohlinteresse in der Feststellung, die Gemeinschaftsgrundrechte müssten im Hinblick auf die gesellschaftliche Funktion der geschützten Rechtsgüter und Tätigkeiten gesehen werden.243 Teilweise konkretisiert er dieses Gemeinschaftsinteresse aber auch und benennt einzelne Gemeinwohlgründe. Dazu sollen insbesondere der Verbraucherschutz,244 die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts245 und die agrarpolitischen Zielsetzungen des Art. 33 EGV246 gehören. Inwieweit Gemeinschaftsgrundrechte durch grundfreiheitliche Bestimmungen eingeschränkt werden können, soll unten noch näher beleuchtet werden.247 EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491, Rz. 14. Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 82. 240 EuGH, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel –, Slg. 1970, 1125, Rz. 4. 241 EUGH, Rs. C-219 / 91 – Ter Voort –, Slg. 1992, I-5485, Rz. 38; zuletzt in EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger – Slg. 2003, I-5659 , Rz. 79. 242 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 71. 243 EuGH, Rs. 5 / 88 – Wachauf / Bundesanstalt für Ernährung und Forstwirtschaft –, Slg. 1989, 2609, Rz. 18; EuGH, Rs. C-280 / 93 – Deutschland / Rat –, Slg. 1994, I-4973, Rz. 78 (Bananenmarktordnung); s. dazu insbesondere Berrisch, in: EuR 1994, S. 461 ff.; Rs. C-306 / 93 – SMW Winzersekt –, Slg. 1994, I-5555, Rz. 22. 244 EuGH, Rs. 234 / 85 – Keller –, Slg. 1986, 2897, Rz. 14. 245 EuGH, verb. Rs. 46 / 87 u. 227 / 88 – Hoechst / Kommission –, Slg. 1989, 2859, 25 f.; verb. Rs. 97 – 99 / 87 – Dow Chemical Iberica u. a. / Kommission –, Slg. 1989, 3165, Rz. 22 f. 246 EuGH, Rs. C-280 / 93 – Deutschland / Rat –, Slg. 1994, I- 4973, Rz. 82 (Bananenmarktordnung); Rs. C-306 / 93 – SMW Winzersekt –, Slg. 1994, I-5555, Rz. 21. 238 239

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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Auch wenn, wie gesagt, die spezifische Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte eine klare Unterscheidung von Tatbestands- und Rechtfertigungsebene erschwert, genügen diese punktuellen Aussagen den Anforderungen einer transparenten und systematischen Grundrechtsdogmatik keineswegs und sind dementsprechend Gegenstand weitläufiger Kritik.248 Schließlich ist im Zusammenhang mit der Frage nach der Einschränkbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte darauf hinzuweisen, dass sich der EuGH mit der Problematik der Grundrechtskollisionen ausdrücklich bislang nur vereinzelt und ausschließlich im Zusammenhang mit dem Grundsatz gleichen Entgelts von Männern und Frauen befasst hat, wobei er stets der primärrechtlichen Verbürgung des Art. 141 EGV Vorrang einräumte.249 Insbesondere aus der Rechtsprechung zu dem Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten zueinander lassen sich jedoch Schlussfolgerungen zur Frage der Kollisionen grundrechtlicher Verbürgungen auf Gemeinschaftsrechtsebene treffen.250

c) Schranken-Schranken Mehr noch als an der diffusen Schrankendogmatik des EuGH entzündet sich Kritik an der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als SchrankenSchranke im Rahmen der Grundrechtsprüfung des EuGH. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist früh vom EuGH als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechtes angewandt worden.251 Er hat inzwischen in Art. 5 III EGV eine vertragliche Verankerung gefunden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bildet damit eine allgemeine Handlungsmaxime, welche die Organe der EG bei allen ihren Tätigkeiten bindet.252 Diese allgemeine Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Gemeinschaftsrecht mag eine Erklärung dafür liefern, dass der EuGH in einigen Fällen zwischen der Anwendung des allgemeis. dazu unten S. 112 ff. Beutler, in: GTE, Art. F EUV, Rn. 77; Pauly, S. 258; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 216 f.; Storr, S. 562. 249 EuGH, Rs. C-369 / 90 – Monika Bötel –, Slg. 1992, I-3589; Rs. C-12 / 92 – Enderby –, Slg. 1993, I-5535; Rs. 237 / 85 – Rummler –, Slg. 1986, 2101 ff.; näher dazu: Bornemann S. 162 ff. 250 Dazu unten S. 133 ff. 251 EuGH, Rs. 8 / 55 – Fédération Charbonnière des Belgique / Hohe Behörde –, Slg. 1955 / 56, 297 (311); Rs. 15 / 57 – Compagne des hauts fourneaux de Chasse / Hohe Behörde –, Slg. 1958, 159 (196 f.); verb. Rs. 17 und 20 / 61 – Klöckner und Hoesch / Hohe Behörde –, Slg. 1962, 653 (686); Rs. 5 / 73 – Balkan-Import-Export / HZA Berlin-Packhof –, Slg. 1973, 1091 (1112). 252 Lienbacher, in: Schwarze, Art. 5 EGV, Rn. 39; vgl. a. Koch, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 193 ff. 247 248

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

nen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der Grundrechtsanwendung unterscheidet.253 Eine stringente Anwendung der aus der deutschen Dogmatik bekannten Teilelemente der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit findet durch den Gerichtshof indes nicht statt.254 Oft wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Sinne nur eines dieser Teilelemente definiert.255 Nur selten zieht der EuGH in seinen Entscheidungen gleichzeitig alle drei Elemente heran.256 Insbesondere in seiner Grundrechtsrechtsprechung findet eine Abwägung des Gemeinschaftswohlinteresses mit den entgegenstehenden Grundrechtsverbürgungen nur vereinzelt statt.257 Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den dem Gemeinschaftsinteresse im Einzelfall gegenläufigen Interessen, insbesondere bei der Prüfung von Eingriffen in Wirtschaftsgrundrechte, fehlt durchweg.258 In der Mehrzahl der Grundrechtsurteile des EuGH erschöpft sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Feststellung, dass die betreffende Maßnahme jedenfalls „nicht offensichtlich unverhältnismäßig“ sei.259 Die mangelnde Auseinandersetzung mit Grundrechtsinteressen durch den EuGH schlägt sich auch in den Ergebnissen der Rechtsprechung nieder. Bislang ist keine Maßnahme der Gemeinschaft wegen Verstoßes gegen ein Wirtschaftsgrundrecht durch den Gerichtshof verworfen worden.260

253 Vgl. EuGH, Rs. C-293 / 97 – Standley –, Slg. 1999, I-2603, Rz. 57; Rs. 265 / 87 – Schräder / Hauptzollamt Gronau –, Slg. 1989, 2237, Rz. 15; verb. C-248 / 95 u. C-249 / 95 – SAM Schiffahrt und Stapf –, Slg. 1997, I-4475, Rz. 66. 254 Kischel, in: EuR 2000, S. 380, 383; Pauly, in: EuR 1998, S. 242, 259; Calliess, in: Calliess / Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 46. 255 s. die diesbezügliche Rechtsprechungsübersicht Übersicht bei Koch, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 200 ff. 256 EuGH, Rs. 265 / 87 – Schräder / Hauptzollamt Gronau –, Slg. 1989, 2237, Rz. 21. 257 Vgl. EuGH, Rs. 44 / 79 – Hauer / Land Rheinland / Pfalz –, Slg. 1979, 3727 (3745); verb. Rs. C-143 / 88 u. C-92 / 89 – Süderdithmarschen –, Slg. 1991, I-415, Rz. 76; Rs. 265 / 87 – Schräder / Hauptzollamt Gronau –, Slg. 1989, 2237, Rz. 15; Rs. C-84 / 95 – Bosphorus –, Slg. 1996, I-3953, Rz. 26. 258 Koch, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 404; Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 23; Nettesheim, in: EuZW 1995, S. 106 f.; Gramlich, in: DÖV 1996, S. 801, 804; vgl a. die grundlegende Kritik an der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH bei Coppel / O’Neill, in: CMLR 29 (1992), S. 669 ff.; kritische Replik dazu von Weiler / Lockhart, in: CMLR 31 (1995), S. 51 ff.; Beschwichtigend auch Kischel, in: EuR 2000, S. 380, 401; Besselink, in: CMLR 35 (1998), S. 629, 641 macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass zumindest im Rahmen des Grundrechtes auf Eigentum die Prüfung des Gemeininteresses eine wesentlich direktere Rolle spielt. 259 Bspw. EuGH, Rs. C-280 / 93 – Deutschland / Rat - Slg. I-1994, 4973, Rz. 78 (Bananenmarktordnung); Rs. C-306 / 93 – SMW Winzersekt – Slg. 1994, I-5555, Rz. 21. Rs. 364 / 95 – T.Port – Slg. 1998, I-1023, Rz. 83. 260 Soweit ersichtlich hat der EuGH bislang lediglich einmal eine Verordnung unter Berücksichtigung der Berufsfreiheit ausgelegt: EuGH, Rs. C- 90 / 90 u. C 91 / 90 – Neu –, Slg. 1991, I-3617, Rz. 13.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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Daneben betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass die durch ihn zu schützenden Grundrechte nicht in ihrem Wesen verletzt werden dürften.261 Zahlreiche Entscheidungen des Gerichtshofes sprechen jedoch dafür, dass der EuGH eine strikte Trennung zwischen Wesensgehaltsgarantie und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht vornimmt.262 Der EuGH scheint vielmehr ein relatives Verständnis des Wesensgehaltes der Gemeinschaftsgrundrechte zugrunde zu legen, wonach der Wesensgehalt der Grundrechte durch jeden unverhältnismäßigen Eingriff angetastet wird.263 Diese Aussagen des EuGH können als Bestätigung der hier vertretenen Ansicht zum Geltungsgrund des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes erachtet werden. Der unantastbare Wesensgehalt der Gemeinschaftsgrundrechte entspricht dem Schutzstandard, der sich aus dem relativierten Maximalstandard der mitgliedstaatlichen Verfassungen264 sowie dem durch den EGMR als für den Grundrechtsschutz nach der EMRK als unabdingbar angesehenen Schutzstandard ergibt.265 Diesen Standard darf der Gerichtshof bei der Herleitung und Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Loyalitätspflicht nicht unterschreiten.266 Dieser maßgebliche Standard ergibt sich jedoch nicht nur aus den tatbestandlichen Mindestanforderungen, wie sie durch die Rechtsfindungsquellen der Gemeinschaftsgrundrechte vorgegeben werden. Heranzuziehen sind daneben auch die Anforderungen, die sich hinsichtlich der Rechtfertigungsmöglichkeiten von Grundrechtseingriffen gemäß dieser Rechtsfindungsquellen ergeben. 261 Seit EuGH, Rs. 4 / 73 – Nold / Kommission –, Slg. 1974, 491; Rs. 5 / 88 – Wachauf / Bundesanstalt für Ernährung und Forstwirtschaft –, Slg. 1989, 2609, Rz. 17; Rs. 265 / 87 – Schräder / Hauptzollamt Gronau –, Slg. 1989, 2237, Rz. 15; Rs. C-280 / 93 – Deutschland / Rat –, Slg. 1994, I-4973, Rz. 78 (Bananenmarktordnung); verb. Rs. C-248 / 95 und C-249 / 95 – SAM Schiffahrt und Stapf –, Slg. 1997, I-4475, Rz. 72; verb. Rs. C-143 / 88 u. C-92 / 89 – Süderdithmarschen –, Slg. 1991, I-415; Rs. C-44 / 89 – von Deetzen –, Slg. 1991, I-5119; Rs. C-177 / 90 – Kühn –, Slg. 1992, I-35. 262 EuGH, Rs. 265 / 87 – Schräder –, Slg. 1989, 2237, Rz.15; Rs. C-62 / 90 – Kommission / Deutschland – Slg. 1992, I-2601, Rz. 13; Rs. C-280 / 93 – Deutschland / Rat –, Slg. I-1994, 4973, Rz. 78 (Bananenmarktordnung); Rs. C-306 / 93 – SMW Winzersekt –, Slg. 1994, I-5555, Rz. 21; verb. Rs. C-142 / 88 u. C-92 / 89 – Süderdithmarschen –, Slg. I-1991, 415; Rs. C-44 / 89 – von Deetzen –, Slg. I-1991, 5119; Rs. C-177 / 90 – Kühn –, Slg. I-1992, 25; Rs. 5 / 88 – Wachauf / Bundesanstalt für Ernährung und Forstwirtschaft – Slg. 1989, 2609; vgl. a. schon EuGH, Rs. 44 / 79 – Hauer / Land Rheinland / Pfalz –, Slg. 1979, 3727, Rz. 5. A.A. Günter, S. 30 ff. 263 Geiger, Art. 164 EGV, Rn. 39; Pernice, in: Grabitz / Hilf, Art. 164 EWGV, Rn. 62 d; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 26; a.A. Günter, S. 30 ff. Zu dem Meinungsstreit um ein absolutes bzw. relatives Verständnis der Wesengehaltsgarantie des Art. 19 II GG vgl. bspw. Krüger, in: Sachs, GG-Kommentar, 2. Auflage, Art. 19 GG, Rn. 27 ff. 264 s. oben S. 42 ff. 265 s. oben S. 46 ff. 266 s. oben S. 39 ff.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Der unabdingbare Schutzstandard und damit der Wesensgehalt der Gemeinschaftsgrundrechte folgt nicht abstrakt aus tatbestandlichen Anforderungen sondern aus einer Zusammenschau mit den Rechtfertigungsmöglichkeiten und damit Abwägungsergebnissen im Rahmen der Anforderungen, wie sie sich aus den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen und der EMRK nach Auslegung des EGMR ergeben. Eben aus diesen Überlegungen folgt, dass dem Wesensgehaltsbegriff im gemeinschaftsrechtlichen Sinne ein relatives Verständnis zugrunde zu legen ist und Verhältnismäßigkeitsprüfung und Schutz des Wesensgehaltes der Gemeinschaftsgrundrechte in eins fallen.

9. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? Augenscheinlich kann nicht auf alle eben untersuchten Punkte erneut im Hinblick auf die Charta als Teil eines möglichen Verfassungstextes eingegangen werden.267 Daher ist hier lediglich kurz auf die für das behandelte Thema bedeutsamsten Aspekte einzugehen.

a) Verhältnis von Chartagrundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen Als sicherlich grundlegendste Änderung ist festzuhalten, dass der Geltungsgrund der Grundrechte der Charta sich im Falle der Verbindlicherklärung des Verfassungsentwurfes unmittelbar aus dem Verfassungstext ergibt. Der Herleitung über das gemeinschaftsrechtliche Loyalitätsgebot bedarf es dann insoweit nicht mehr. Gleichzeitig ist aber darauf hinzuweisen, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den europäischen Grundrechtsschutz bislang im Wesentlichen begründen, auch nach Inkrafttreten der Verfassung nach Art. 7 III EVVE weiterhin geschützt werden sollen. Dies ist allerdings nicht im Sinne einer parallelen Geltung von Chartagrundrechten und Gemeinschaftsgrundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes zu verstehen. Die Geltung der allgemeinen Rechtsgrundsätze setzt eine Rechtslücke voraus, die nach Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta grundsätzlich nicht mehr besteht.268 267 Umfassend mit den Chartabestimmungen haben sich bspw. auseinandergesetzt: Zimmermann, Charta der Grundrechte, S. 7 ff.; Philippi, Charta der Grundrechte, Baden-Baden 2002. 268 Zur Konkurrenz der Gemeinschaftsgrundrechte und den Grundfreiheiten siehe unten S. 112 ff.

Kap. I: Gemeinschaftsgrundrechte

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Damit ist Art. 7 III EVVE vielmehr als Hinweis darauf zu verstehen, dass die Gemeinschaftsorgane bei der Auslegung und Anwendung der Chartagrundrechte auch weiterhin nicht hinter dem für die Mitgliedstaaten unabdingbaren Schutzniveau zurückbleiben dürfen. Dies gebietet die nach Art. 5 II EVVE nunmehr ausdrücklich auf Gegenseitigkeit beruhende Loyalitätspflicht im Verhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. Bestätigung findet diese Sichtweise in Art. 52 III GRCh, der bestimmt: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“

Durch den Verfassungskonvent hinzugefügt wurde überdies der jetzige Absatz IV, welcher lautet: „Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt.“

In diesem Sinne ist auch die Regelung des Art. 53 GRCh zu verstehen, der davon spricht, dass die Bestimmungen der Charta nicht „als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen“ seien, wie sie insbesondere durch die EMRK und die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Eine Vorbehalt zugunsten der Überprüfung von Gemeinschaftsrecht anhand von mitgliedstaatlichen Verfassungsnormen, wie von einigen Vertreter befürchtet worden ist, folgt daraus hingegen nicht.269 Das Prinzip der Einheitlichkeit und der Effektivität des Gemeinschaftsrechtes verlangt auch weiterhin eine gemeinschaftsrechtlich einheitliche Lösung, welche wiederum nur über eine rechtsvergleichende Heranziehung der unterschiedlichen Verfassungsnormen der oben beschriebenen Art zu suchen ist.270

b) Fehlende Übereinstimmung von Kompetenzen und Grundrechtsgewährleistungen Der Grundrechtskatalog der Charta beinhaltet eine beeindruckende Zusammenstellung zu schützender Grundrechtstatbestände. 271 Auch wenn in Art. 52 II GRCh bestimmt wird, dass sich aus der Anwendung der Charta keine neuen Kompetenzen der Union ergeben sollen, ist in diesem Zusam269 Vgl. aber Seidel, in: EuZW, 2003, S. 97 sowie in Replik Everling, in: EuZW 2003, S. 225. 270 s. oben S. 42 ff. 271 Lenaerts and De Smijter, in: CMLR 38 (2001), S. 273, 280.

5 Schultz

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

menhang fraglich, wie beispielsweise die im Kapitel IV – Solidarität – aufgeführten sozialen Grundrechte272 durch die Union gewährleistet werden sollen.273 Daher bleibt eine gewisse Skepsis gegenüber dem festzustellenden Ungleichgewicht von Kompetenzen und Grundrechtsschutzgewährleistungen angezeigt.274

c) Defizitäres Schrankensystem Am kritikwürdigsten erscheint, dass es versäumt wurde, der fortschrittlichen Entwicklung auf der Tatbestandsseite ein für einen effektiven Rechtsschutz erforderliches System differenzierter Schrankenbestimmungen gegenüberzustellen.275 Art. 52 I GRCh statuiert lediglich einen Gesetzesvorbehalt, dem Beschränkungen jeglicher Grundrechte unterliegen sollen, und nimmt Bezug auf die SchrankenSchranken des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Wesensgehaltsgarantie.276 Diese bloße Kodifizierung der bisherigen, defizitären Rechtsprechung des EuGH277 bietet für diesen weder Grundlage noch Anlass „über seine bisherige Kontrollintensität hinaus hinauszugehen und eine konkret-individuelle Abwägung der durch einen Grundrechtseingriff betroffenen öffentlichen und privaten Interessen vorzunehmen, wie sie der tatsächlichen Effektivität des europäischen Grundrechtsschutzes förderlich gewesen wäre.“278 Insbesondere auch der Verweis in Art. 52 III GRCh auf die entsprechenden Bestimmungen der EMRK vermag dieses grundlegende Defizit der Grundrechtecharta nicht auszugleichen. Jedes Grundrecht ist nur so viel wert, wie seine Schranke es zulässt.279 Bleibt es bei den bisherigen Schrankenbestimmungen, so böte sich hier eine „Achillesferse“ der Charta280, durch die der Erfolg des ambitionierten Projektes als Ganzes in Frage gestellt wäre.

Vgl. dazu Weber, in: NJW 2000, S. 537, 540 f. Philippi, Charta der Grundrechte, S. 31 ff.; Lenaerts and De Smijter in: CMLR 38 (2001), S. 273, 288 f.; vgl. a. Zimmermann, Charta der Grundrechte, S. 25 f.; Kenntner, in: ZRP 2000, S. 423. 274 Vgl. Koenig, in: EuZW 2000, S. 417 sowie Pernice, in: DVBl. 2000, S. 847, 852; ders., in: EuZW 2001, S. 673. 275 Philippi, Charta der Grundrechte, S. 40; Pache, in: EuR 2001, S. 475, 488 f.; Magiera, in: DÖV 2000, S. 1017, 1022. 276 Die Änderungen des Art. 52 GRCh durch den Verfassungskonvent brachten insofern keine Abhilfe, vgl. CONV 850 / 03, S. 59 (Art. II-52 EVVE). 277 Dazu oben S. 60 ff. 278 Pache, in: EuR 2001, S. 475, 489. 279 Philippi, Charta der Grundrechte, S. 40. 280 So bezeichnet Kenntner, in: ZRP 2000, S. 423 die Schrankenbestimmungen der GRCh. 272 273

Kap. II: Grundfreiheiten

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d) Angestrebter Beitritt zur EMRK Schließlich bleibt es abzuwarten, ob es zu dem laut Art. 7 II EVVE angestrebten Beitritt der Union zum EMRK-System kommt. Dieser wäre insofern begrüßenswert, als dadurch die bereits oben festgestellte Bindung des EuGH an die Grundrechtsrechtsprechung des EGMR normative Bestätigung erfahren würde.281

Kapitel II

Grundfreiheiten Der EGV enthält verschiedene Gewährleistungen des freien, innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehrs. Diese können unterteilt werden in Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten. Während die Art. 28, 29, 49, 56 I u. II EGV primär auf die Mobilität eines Produktes abzielen (Ware, Dienstleistung, Kapital) gewähren die Art. 39 und 43 EGV personenbezogene Freiheiten. Wegen ihrer konstituierenden Bedeutung als „Stützpfeiler der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ werden diese Gewährleistungen als „Grundfreiheiten“ bezeichnet.282 Diese Bezeichnung findet sich allerdings im Vertrag so nicht wieder. Auch der EuGH hat den Begriff der Grundfreiheiten soweit ersichtlich erst seit 1981 gebraucht.283 Die Kapital- und die Zahlungsverkehrsfreiheit, als sogenannte Hilfsfreiheit, bleiben aus den folgenden Betrachtungen ausgenommen, da für sie eine kaum ergiebige Rechtsprechung vorliegt.284 Da die folgenden Untersuchungen im Sinne einer konvergenten Dogmatik der Grundfreiheiten durchgeführt werden, ist jedoch davon auszugehen, dass die gewonnenen Ergebnisse im Grunde auch auf diese Freiheitsgewährleistungen entsprechend anwendbar sind.285

281 Zu dem Verhältnis von EGMR und EuGH im Hinblick auf die Grundrechtecharta s. Philippi, Charta der Grundrechte, S. 55 ff.; allgemein hierzu bspw. Hoffmann-Riem, in: EuGRZ 2002, S. 473, 478; s. a. Callewaert, in: EuGRZ 2003, S. 198 ff. sowie Drzemczewski, in: HRLJ 2001, S. 14, 26 ff. 282 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 652. 283 EuGH, Rs. 203 / 80 – Casati –, Slg. 1981, 2595, Rz. 8. 284 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 22. Für eine ausführliche Darstellung zur Kapitalverkehrsfreiheit s. Müller, Kapitalverkehrsfreiheit in der EU, Berlin 2000. 285 Allgemein zu der Diskussion um die Konvergenz der Grundfreiheiten s. nur Steinberg, in: EuGRZ 2002, S. 13, 14, mwN.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

1. Funktionen der Grundfreiheiten Ebenso wie für die Gemeinschaftsgrundrechte bildet die Abwehrfunktion der Grundfreiheiten die prominenteste Gewährleistung der Grundfreiheiten als individuelle Rechte.286 Hinzu tritt eine Funktion der Grundfreiheiten als Schutzgewährrechte des Einzelnen.287

a) Grundfreiheiten als Abwehrrechte Innerhalb des Gewährleistungsgehaltes der Grundfreiheiten lassen sich gleichheits- und freiheitsrechtliche Verbürgungen unterscheiden. Den Grundfreiheiten sind zum einen spezielle Diskriminierungsverbote zu entnehmen. Als solche konkretisieren sie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV bereichsspezifisch.288 Diese Diskriminierungsverbote umfassen dabei nicht nur jede Schlechterstellung, die tatbestandlich an die Staatsangehörigkeit anknüpft (offene Diskriminierung)289 sondern auch in diesem Sinne unterschiedslos anwendbare Regelungen, die allerdings Schlechterstellungen an Merkmale anknüpfen, die vorwiegend von ausländischen Produkten bzw. Personen erfüllt werden und somit eine faktische Bevorzugung des inländischen Marktes zur Folge haben (mittelbare Diskriminierung290).291 Während dieser gleichheitsrechtliche Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten allgemein anerkannt ist,292 bildet die 286 Zu dem Begriff des subjektiven Rechtes in diesem Zusammenhang vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 23. 287 Dazu unten S. 91. 288 Ehlers, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 153, Rn. 19; Behrens, in: EuR 1992, S. 145, 148. 289 Für Art. 28: EuGH, Rs. 12 / 74 – Kommission / Deutschland –, Slg. 1975, 181, Rz. 4 ff.; Rs. 13 / 78 – Eggers –, Slg. 1978, 1935, Rz. 20; Rs. 119 / 78 – Peureux I –, Slg. 1978, 975, Rz. 22; Rs. 249 / 81 – Buy Irish –, Slg. 1982, 4005, Rz. 20. Für Art. 49: EuGH, Rs. 110, 111 / 78 – Wesemael –, Slg. 1979, 35, Rz. 27; Rs. 279 / 80 – Webb –, Slg. 1981, 3305, Rz. 4; Rs. C-288 / 89 – Collectieve Antennevoorziening Gouda –, Slg. 1991, I-4007, Rz. 10; Rs. C-43 / 93 – Vander Elst –, Slg. 1994, I-3803, Rz. 14. Für Art. 39: EuGH, Rs. C-419 / 92 – Scholz –, Slg. 1993, I-505, Rz. 7. Für Art. 43 EGV: EuGH, Rs. 2 / 74 – Reyners –, Slg. 1974, 631, Rz. 15 f. 290 Gleichbedeutende Begriffe sind versteckte, indirekte bzw. faktische Diskriminierungen. 291 Art. 28: EuGH, Rs. 152 / 78 – Kommission / Frankreich –, Slg. 1980, 2299, Rz. 12 – 14; Rs. 207 / 83 – Kommission / Vereinigtes Königreich –, Slg. 1985, 1202, Rz. 17. Art. 39: EuGH, Rs. C-419 / 92 – Scholz –, Slg. 1994, I-505, Rz. 7 – 11; Art. 43: EuGH, Rs. 2 / 74 – Reyners –, Slg. 1974, 631, Rz. 16 / 20; Art. 49: EuGH, Rs. C-3 / 95 – Reisebüro Broede – Slg. 1996, I-6511, Rz. 25; vgl. a. Schlussanträge, GA Mischo, Rs. C-275 / 92 – Schindler –, Slg. 1994, I-1039, Rz. 55 292 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 34 ff.; vgl. Chalmers, in: ELRev. 19 (1994), S. 385, 397, der das Diskriminierungsverbot als zentrales Element einer jeden Markttheorie bezeichnet.

Kap. II: Grundfreiheiten

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Frage nach darüber hinausgehenden, freiheitsrechtlichen Verbürgungen der Grundfreiheiten gleichsam das „Kardinalproblem der Grundfreiheitsdogmatik“293. Auf dieses Problem soll daher auch der Schwerpunkt der folgenden Untersuchung der Abwehrfunktion der Grundfreiheiten gelegt werden. Der EuGH hat den Grundfreiheiten im Zuge seiner Rechtsprechung sogenannte Beschränkungsverbote entnommen, die nicht mehr auf eine unmittelbare oder faktische Schlechterstellung von Produkten oder Personen abstellen. Da diese Beschränkungsverbote gemeinhin den wesentlichen Anknüpfungspunkt eines freiheitsrechtlichen Verständnisses der Grundfreiheiten darstellen, soll auch für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung davon ausgegangen werden, dass die Charakterisierung der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote zugleich deren freiheitsrechtlichen Gehalt determiniert.294 Sonach soll zunächst in Kürze die relevante Rechtsprechung des Gerichthofes zur Entwicklung der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote nachvollzogen werden, um sodann die grundfreiheitlichen Bestimmungen des EGV im Wege einer Auslegung auf dementsprechende freiheitsrechtliche Inhalte hin zu untersuchen. aa) Rechtsprechungsübersicht Die Grundfreiheiten des EGV waren in den ersten Jahren der Gemeinschaft durchgehend als Diskriminierungsverbote interpretiert worden,295 da sich Ungleichbehandlungen von Produkten und Marktteilnehmern als die evidentesten und gravierendsten Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Handels darstellten.296 Im Laufe der Zeit setzte sich jedoch die Erkenntnis durch, dass sich Hindernisse für den innergemeinschaftlichen Handel ebenfalls aus unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen der Mitgliedstaaten ergeben können.297

(1) Warenverkehrsfreiheit Der Warenverkehrsfreiheit kommt unter den Grundfreiheiten des EGV in vielerlei Hinsicht die Funktion einer „Pionierfreiheit“ zu.298 So steht auch am Anfang der richterrechtlichen Entwicklung der Grundfreiheiten von Diskriminierungs- zu Beschränkungsverboten eine Entscheidung zu der Freiheit des Warenverkehrs. 293 294 295 296

Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 82. Vgl. dazu Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 30 f. Behrens, in: EuR 1992, S. 145, 148. Schlussanträge, GA Lenz, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921,

5004. 297 Streinz, Europarecht, Rn. 672. Offene Diskriminierungen sind zudem mittlerweile selten geworden (Streinz, in: FS Rudolf, S. 199, 218, mwN). 298 Classen, in: EWS 1995, S. 97, 98, Fn. 8.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Vor dem in dem Vorabentscheidungsverfahren Dassonville vorlegenden Gericht, dem Tribunal de Premiere Instance in Brüssel, wurde ein Strafverfahren gegen Benôit und Gustave Dassonville durchgeführt, weil diese einen Posten Scotch Whisky, der sich zuvor rechtmäßig in Frankreich im freien Verkehr befunden hatte, nach Belgien eingeführt hatten, ohne im Besitz einer dazu nach belgischem Recht erforderlichen Ursprungsbescheinigung gewesen zu sein. In seiner Entscheidung definierte der EuGH das Tatbestandsmerkmal „Beschränkungen des Warenverkehres mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen“ des Art. 30 EWGV (Art. 28 EGV n. F.) wie folgt: „Jede Maßnahme, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.“299

Nach dem Wortlaut dieser sogenannten Dassonville-Formel ist damit allein auf die negative Wirkung abzustellen, die eine Maßnahme auf den Handelsverkehr hat, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um eine diskriminierende oder unterschiedslos anwendbare Maßnahme handelt. Schon in seiner Begründung der Unvereinbarkeit der gerügten Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht in der Rs. Dassonville stellt der EuGH darauf ab, dass sich die betroffene Ware zuvor „in einem anderen Mitgliedstaat ordnungsgemäß im freien Verkehr“ befunden habe.300 Dieses sogenannte Herkunftsprinzip301 findet sich auch in der zweiten grundlegenden Entscheidung zu der Auslegung der Warenverkehrsfreiheit als Beschränkungsverbot wieder. Im Ausgangsstreit des Vorabentscheidungsverfahrens Cassis de Dijon hatte die Firma Rewe gegen ein Importverbot der Bundesbranntweinmonopolverwaltung geklagt. Diese hatte der Rewe-AG untersagt, eine Partie französischen Cassis einzuführen, weil der französische Likör den nach § 100 II des Branntweinmonopolgesetzes erforderlichen Mindestalkoholgehalt von 25 Vol.% nicht aufwies. In seinem Urteil konkretisierte der Gerichtshof den Gewährleistungsgehalt der Warenverkehrsfreiheit weiter, indem er dem Tatbestand des Art. 30 EWGV (Art. 28 EGV n. F.) alle „Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung [von Waren] ergeben“,302

subsumierte. Diese Hemmnisse sollen nach Aussage des EuGH überwunden werden, indem – soweit dem keine stichhaltigen Gründe entgegenstehen –303 EuGH, Rs. 8 / 74 – Dassonville –, Slg. 1974, 837, Rz. 5. EuGH, Rs. 8 / 74 – Dassonville –, Slg. 1974, 837, Rz. 7 / 9. 301 Der Begriff des Herkunftsprinzips wurde ursprünglich durch Steindorff, in: ZHR 150 (1986), S. 687 ff. in die Diskussion eingebracht. Andere Bezeichnungen gleicher Bedeutung: Prinzip gegenseitiger Anerkennung (bspw. Götz, in: Liber Amicorum Jaenicke, S. 763 ff.), Anerkennungsprinzip (bspw. Behrens, EuR 1992, S. 145, 156 f.); Herkunftslandprinzip (bspw. Grabitz, in: FS Steindorff, S. 1229, 1231 ff.), Ursprungslandsprinzip (bspw. MüllerGraff, in: GTE, Art. 30 EGV, Rn. 190). 302 EuGH, Rs. 120 / 78 – Cassis de Dijon –, Slg. 1979, 649, Rz. 8. 299 300

Kap. II: Grundfreiheiten

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Waren, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden, in andere Mitgliedstaaten eingeführt werden dürfen.304 Dieses uneingeschränkt weite Verständnis der Warenverkehrsfreiheit als Beschränkungsverbot305 wurde jedoch alsbald durch eine immense Flut von Verfahren infrage gestellt, in denen insbesondere Werbe- und Absatzbeschränkungen als mit Art. 28 EGV unvereinbar gerügt wurden.306 Als Reaktion auf diese Entwicklung bildeten sich in der Folgezeit unterschiedliche Rechtsprechungslinien heraus, mit deren Hilfe dem Anwendungsbereich der Dassonville-Formel absolute Grenzen gesteckt werden sollten. Diese verschiedenen Rechtsprechungslinien waren in sich nicht konsistent und blieben daher nicht frei von Widersprüchen.307 Teilweise stellte der Gerichtshof darauf ab, ob die zu überprüfende Maßnahme geeignet sei, eine Verringerung des Einfuhrvolumens an bestimmten Waren zu bewirken.308 In anderen Fällen hielt er dieses Kriterium hingegen für gänzlich unerheblich und lehnte eine Anwendung des Art. 28 EGV mit der Begründung ab, die betreffenden Maßnahmen hätten keine Handelsregelung bezweckt, andere Vertriebsformen dieser Ware nicht betroffen oder jedenfalls die Möglichkeit des Vertriebs über andere Wege offengelassen.309 Schließlich wurde – im klaren Wider303 Siehe zu den „zwingenden Erfordernissen“, die durch diese Entscheidung als zusätzliche, ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände in die Grundfreiheitsdogmatik eingeführt worden sind unten S. 100 ff. 304 EuGH, Rs. 120 / 78 – Cassis de Dijon –, Slg. 1979, 649, Rz. 14 u. 15; seitdem st. Rspr.: EuGH, Rs. C-470 / 93 – Mars –, Slg. 1995, I-1923, Rz. 12; verb. Rs. C-267 u. C-268 / 91 – Keck und Mithouard –, Slg. 1992, I-6097, Rz. 15. Vgl. dazu Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 110. 305 Der Dassonville-Entscheidung lag eine offen diskriminierende, der Cassis-Entscheidung eine faktisch diskriminierende Regelung zugrunde. Soweit ersichtlich kann daher erst mit EuGH Rs. 788 / 79 – Gilli u. Andres –, Slg. 1980, 2071 ff. von der Anwendung der CassisGrundsätze auf eine tatsächlich unterschiedslos anwendbare Maßnahme gesprochen werden. 306 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 44. Selbst wenn man die „Zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses“ als Tatbestandsschranken versteht, geht deren Prüfung stets mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung eines jeden Einzelfalles einher, sodass von dieser Seite keine Entlastung hinsichtlich des Prüfungsaufkommens ausgeht. Siehe zu den zwingenden Erfordernissen unten S. 100 ff. 307 Vgl. dazu die Darstellung bei GA Tesauro in der Rs. C-292 / 92 – Hünermund u. a. –, Slg. 1993, 6787, 6805 ff. 308 EuGH, Rs. 286 / 81 – Oosthoek –, Slg. 1982, 4575; verb. Rs. 60 u. 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération nationale de Cinéma français –, Slg. 1985, 2605; Rs. 382 / 87 – Buet –, Slg. 1989, 1248; Rs. C-145 / 88 – Torfaen –, Slg. 1989, I-3851; Rs. C-1 / 90 – Aragonesa –, Slg. 1991, I-4151; Rs. C-362 / 88 – GB-INNO-BM –, Slg. 1990, I-667; Rs. 312 / 89 – Conforma –, Slg. 1991, I-997; Rs. C-126 / 91 – Yves Rocher –, Slg. 1993, I- 2361; Rs. C-145 / 88 – Torfaen –, Slg. 1989, I-3851. 309 EuGH, Rs. 155 / 80 – Oebel –, Slg. 1981, 1993; Rs. 75 / 81 – Blesgen –, Slg. 1982, 1211; Rs. 148 / 85 – Forest –, Slg. 1986, 3449; Rs. C-23 / 89 – Quietlynn –, Slg. 1990, I-3059; Rs. C-350 / 89 – Sheptonhurst –, Slg. 1991, I-2387.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

spruch zur Dassonville-Formel – eine unmittelbare Beeinträchtigung des Gemeinschaftshandels310 verlangt oder die Nichtanwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheitsvorschriften ohne weitere Begründung schlicht festgestellt.311 Der Gerichtshof hielt es schließlich nach eigenem Bekunden für notwendig, seine Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu überprüfen und klarzustellen, um in Zukunft zu verhindern, dass jedwede Handelsregelung unabhängig von ihrem Gemeinschaftsbezug von den Wirtschaftsteilnehmern als Verstoß gegen Art. 28 EGV gerügt würde.312 In dem Vorabentscheidungsverfahren Keck u. Mithouard313, in dem es um das französische Verbot des Weiterverkaufs von Waren zum Verlustpreis ging, zog der EuGH einen Schlussstrich unter die frühere, verwirrende Begründungspraxis absoluter Tatbestandsgrenzen der Warenverkehrsfreiheit und gab den mitgliedstaatlichen Gerichten ein einheitliches Kriterium für die Handhabung warenverkehrsrelevanter Fälle an die Hand, welches er seither in ständiger Rechtsprechung bestätigt hat314: „Demgegenüber ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne [der Dassonville-Formel] zu behindern.“315

Entgegen erster Äußerungen, die Entscheidung läute eine „dramatische Wendung“ ein,316 ist der EuGH mit dem Keck-Urteil indes nicht von der eingeschlagenen Entwicklung der Warenverkehrsfreiheit von einem Diskriminierungsverbot zu einem Beschränkungsverbot abgerückt.317 Zwar wird der Bereich der Regelungen, 310 EuGH, Rs. 69 / 88 – Krantz –, Slg. 1990, 583, Rz. 11; Rs. 93 / 92 – CMC Motorradcenter –, Slg. 1993, 5009, Rz. 12. 311 EuGH, Rs. 20 / 87 – Ministere Public / Gauchard –, Slg. 1989, 4879. 312 EuGH, Verb. Rs. C-267 u. C-268 / 91 – Keck u. Mithouard –, Slg. 1992, I-6097, Rz. 14. 313 EuGH, Verb. Rs. C-267 u. C-268 / 91 – Keck und Mithouard –, Slg. 1992, I-6097. 314 EuGH, Rs. C-292 / 92 – Hünermund u. a. –, Slg. 1993, 6787, Rz. 21; Rs. C-69, 258 / 93 – Punto Casa –, Slg. 1994, I-2355, Rz. 12; Rs. C-63 / 94 – Belgapom –, Slg. 1995, I-2467, Rz. 12; Rs. C-391 / 92 – Säuglingsmilch –, Slg. 1995, I-1621, Rz. 13; Rs. C-470 / 93 – Mars –, Slg. 1995, I-1923, Rz. 12; Rs. 387 / 93 – Branchero –, Slg. 1995, I-4663, Rz. 33 f.; Rs. C-412 / 93 – Leclerc-Siplec –, Slg. 1995, I-179, Rz. 21. Auf den zweiten Blick erscheint die mit der Keck-Entscheidung avisierte Rechtssicherheit beschränkter als zunächst angenommen. Denn es lässt sich nach der Formulierung im Keck-Urteil nicht mit abschließender Sicherheit sagen, welche der früheren Urteile möglicherweise auch heute noch Geltung entfalten (Koutrakos, in: ELRev. 26 (2001), S. 391, 401; vgl. a. Craig / de Burca, S. 620). 315 EuGH, verb. Rs. C-267 u. C-268 / 91 – Keck und Mithouard –, Slg. 1992, I-6097, Rz. 16. 316 Jarass, in: EuR 1995, S. 217; Oliver, S. 100; Reich, in: CMLR 31 (1994), S. 459, 459; Petschke, in: EuZW 1994, S. 107, 111; vgl. a. Ress, in: EuZW 1993, S. 745 (Editorial); für eine Übersicht der Reaktionen auf das Keck-Urteil s. Matthies / v. Börries, in: Grabitz / Hilf, vor Art. 28 – 37 EGV, Nr. 4 der Literaturhinweise. 317 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 57; Becker, in: Schwarze, Art. 28, Rn. 49; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 119.

Kap. II: Grundfreiheiten

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die Verkaufsmodalitäten von Waren zum Gegenstand haben, grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit herausgenommen. Dies geschieht jedoch innerhalb und anhand der Dassonville-Formel nicht unter ihrer Derogation.318 Nur Regelungen, welche die Ware selbst betreffen, entfalten eine unmittelbar marktzersplitternde Wirkung,319 indem sie verhindern, dass eine Ware einheitlich für den gesamten Gemeinschaftsmarkt hergestellt werden kann. Demgegenüber behindern unterschiedslos anwendbare, vertriebsbezogene Maßnahmen den Marktzugang einer Ware grundsätzlich nicht.320 Erst wenn sich Beschränkungen der Vermarktung so stark auswirken, dass dies zu einer tatsächlichen Beschränkung des Marktzugangs führt, werden auch diese von dem Verbot des Art. 28 EGV erfasst.321 Dementsprechend ist in der Keck-Entscheidung auch lediglich von „bestimmten Verkaufsmodalitäten“ die Rede. Daraus folgt, dass auch unterschiedslos anwendbare Regelungen, die lediglich die Art und Weise des Vertriebes einer Ware bestimmen, wegen ihrer hemmenden Wirkung auf den Gemeinschaftshandel unter bestimmten Voraussetzungen als mit Art. 28 EGV unvereinbar angesehen werden können. Diese Sichtweise ist inzwischen durch entsprechende Folgerechtsprechung des EuGH bestätigt worden, in der er Art. 28 EGV auf Maßnahmen für anwendbar erklärte, die den innergemeinschaftlichen Handel zu beschränken geeignet waren, obwohl es sich bei ihnen um vertriebsbezogene Maßnahmen handelte.322 Stellt der EuGH damit den Marktzugang einer Ware als entscheidendes Ziel der warenverkehrsrechtlichen Grundfreiheit heraus, spiegelt sich auch in der KeckRechtsprechung die Anerkennung des Herkunftsprinzips wider.323 Danach ist die Warenverkehrsfreiheit nicht als umfassendes Grundrecht auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit, sondern als auf den ungehinderten Grenzübertritt einer Ware ausgerichtetes Beschränkungsverbot zu verstehen.324

Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 116. Vgl. zu diesem Kriterium die Schlussanträge, GA van Gerven, Rs. 145 / 88 – Torfaen –, Slg. 1989, 3851, 3876. 320 Vgl. a. EuGH, Rs. C-384 / 93 – Alpine Investments –, Slg. 1995, I-1141, Rz. 37. 321 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-34 – 36 / 95 – De Agostini –, Slg. 1997, I-3843; Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 25 f.; Rs. C-254 / 98 – Heimdienst –, Slg. 2000, I-151; Rs. C-405 / 98 – Gourmet –, Slg. 2001, I-1795. 322 EuGH, verb. Rs. C-34 – 36 / 95 – De Agostini –, Slg. 1997, I-3843; Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, 25 f.; Rs. C-254 / 98 – Heimdienst –, Slg. 2000, I-151; Rs. C-405 / 98 – Gourmet –, Slg. 2001, I-1795. 323 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 42, 54; vgl. a. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 116. 324 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 58; Dauses, in: ders., HdbEGWR, C., I, Rn. 103. 318 319

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

(2) Dienstleistungsfreiheit Dem parallelen Verständnis der Dienstleistungsfreiheit als einer primär produktbezogenen Freiheit entspricht die frühzeitige Rechtsprechung des EuGH zur Erweiterung des tatbestandlichen Gewährleistungsgehaltes auch dieser Grundfreiheit. Einen ersten Hinweis auf eine Übernahme der Entwicklung der Warenverkehrsfreiheit von einem bloßen Diskriminierungsverbot hin zu einem Verbot auch unterschiedslos anwendbarer handelsbeschränkender Maßnahmen für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit enthält das Urteil zu dem Vorabentscheidungsverfahren in der Sache van Binsbergen.325 Der EuGH hatte über das niederländische Ansässigkeitserfordernis für Rechtsanwälte in Sozialrechtsstreitigkeiten zu entscheiden. Nach dem Urteil des EuGH erfasst die Dienstleistungsfreiheit des EGV nicht nur diskriminierende Maßnahmen sondern auch solche Beschränkungen, die „in anderer Weise geeignet sind, die Tätigkeit des Leistenden zu unterbinden oder zu behindern.“326

In seinem Urteil in der Rs. Säger327 stellt der EuGH dann weiter klar, „daß Art. 59 EWG-Vertrag [Art. 49 n.F.] nicht nur die Beseitigung sämtlicher Diskriminierungen des Dienstleistungserbringers aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen – selbst wenn sie unterschiedslos für einheimische Dienstleistende wie für Dienstleistende anderer Mitgliedstaaten gelten – verlangt, wenn sie geeignet sind, die Tätigkeit des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden oder zu behindern.“328

Eindeutiger noch als für die Warenverkehrsfreiheit konkretisierte der EuGH das Beschränkungsverbot der Dienstleistungsfreiheit damit im Sinne des Herkunftsprinzips.329 Der Gerichtshof stellte verschiedentlich fest, dass Behinderungen durch unterschiedslos anwendbare Regelungen „daher rühren, daß innerstaatliche Vorschriften, die alle im Inland ansässigen Personen erfassen, auf im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässige Erbringer von Dienstleistungen angewandt werden, die bereits den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats genügen müssen.“330

EuGH, Rs. 33 / 74 – van Binsbergen –, Slg. 1974, 1299. EuGH, Rs. 33 / 74 – van Binsbergen –, Slg. 1974, 1299, Rz. 13. 327 EuGH, Rs. C-76 / 90 – Säger –, Slg. 1991, I-4221. 328 EuGH, Rs. C-76 / 90 – Säger –, Slg. 1991, I-4221, Rz. 12. So auch in der Rs. C-275 / 92 – Schindler –, Slg. 1994, I-1039, wobei allerdings die Ablehnung einer Diskriminierung im konkreten Fall fragwürdig erscheint s. dazu Schroeder, in: EuGRZ 1994, 373, 376 f. 329 Siehe dazu bereits EuGH, Rs. 110 / 78 – van Wesemael –, Slg. 1979, 35, LS. 3; aus der neueren Rspr. zur Dienstleistungsfreiheit s.: EuGH, Rs. C-275 / 92 – Schindler –, Slg. 1994, I-1039, Rz. 43; Rs. C-43 / 93 – Vander Elst –, Slg. 1994, I-3803, Rz. 14; Rs. C-288 / 89 – Collectieve Antennevoorziening Gouda –, Slg. 1991, I-4007, Rz. 12. 325 326

Kap. II: Grundfreiheiten

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Unklar bleibt indes, ob der EuGH die Keck-Grundsätze im Sinne einer konvergenten Grundfreiheitsdogmatik auch auf die Dienstleistungsfreiheit zur Anwendung bringen will. In seiner Entscheidung in der Rs. Alpine Investment331 nimmt der EuGH ausdrücklich Bezug auf die Keck-Rechtsprechung, lehnt im Ergebnis deren Anwendbarkeit allerdings ab, wobei letztendlich offen bleibt, ob es sich dabei um eine Ablehnung im konkreten Fall handelt oder ob die Keck-Grundsätze prinzipiell nicht auf andere Grundfreiheiten als die Warenverkehrsfreiheit Anwendung finden sollen.332 Festzuhalten bleibt, dass auch der Dienstleistungsfreiheit nach dem Willen des EuGH ein Beschränkungsverbot mit Bezugnahme auf das Herkunftsprinzip zu entnehmen ist.333 (3) Arbeitnehmerfreizügigkeit Im Gegensatz zu Waren- und Dienstleistungsverkehrsfreiheit blieb lange Zeit unklar, ob der EuGH auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Sinne eines Beschränkungsverbotes auslegen wollte.334 Das zentrale Urteil in der Frage nach der Qualität der Arbeitnehmerfreizügigkeit als Beschränkungsverbot stellt die Rs. Bosman335 dar. Der EuGH hatte u. a. über Transferregelungen nationaler Fußballverbände zu entscheiden, nach denen Berufsfußballspieler auch nach Ablauf ihres Arbeitvertrages von anderen Vereinen nur eingestellt werden konnten, wenn diese zuvor eine bestimmte Ablösesumme an den ehemaligen Verein gezahlt hatten. Der Gerichtshof entschied: „Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden.“336

330 EuGH, Rs. C-288 / 89 – Collectieve Antennevoorziening Gouda –, Slg. 1991, I-4007, Rz. 12. 331 EuGH, Rs. C-384 / 93 – Alpine Investments –, Slg. 1995, I-1141. 332 EuGH, Rs. C-384 / 93 – Alpine Investments –, Slg. 1995, I-1141, Rz. 33 f. Die mittlerweile wohl h. M. spricht sich für eine Übernahme der Keck-Kriterien auf andere Grundfreiheiten aus: Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 178; Nicolaysen, EuR II, S. 178; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 62; Becker, in: NJW 1996, S. 179, 180 f.; Kort, in: JZ 1996, S. 132, 136; dagegen: Wilmowsky, in: EuR 1996, S. 107, 108. 333 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 60. Für eine spezifische Auseinandersetzung mit dem Gewährleistungsgehalt der Dienstleistungsfreiheit s. Rolshoven, „Beschränkungen“ des freien Dienstleistungsverkehrs, Berlin 2002. 334 Vgl. dazu Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 68 ff. 335 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921. 336 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, Rz. 96.

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In seinen Ausführungen lehnt der EuGH zudem die Anwendbarkeit der KeckGrundsätze in der zu entscheidenden Sache ab.337 Ebenso wie für die Dienstleistungsfreiheit bleibt wiederum unklar, ob der EuGH die Übertragbarkeit der KeckRechtsprechung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nur für den konkreten Fall oder grundsätzlich ablehnt.338 Anders als zu den Grundfreiheiten des Waren- und Dienstleistungsverkehres hat der EuGH im Rahmen der Entwicklung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu einem Beschränkungsverbot bislang keinen Hinweis auf die Anwendung des Herkunftsprinzips gegeben.339 (4) Niederlassungsfreiheit Die Niederlassungsfreiheit ist diejenige der vertraglichen Grundfreiheiten, bei der die Zuschreibung eines freiheitsrechtlichen Gehalts aktuell noch am streitigsten ist.340 Diese Besonderheit der Niederlassungsfreiheit ergibt sich aus dem Umstand, dass die von dieser Grundfreiheit geschützten Tätigkeiten auf eine langfristige Einbindung der Rechtsinhaber in das wirtschaftliche System und damit in die Rechtsordnung des Zielstaates ausgerichtet sind.341 Teilweise wird bereits die Entscheidung Klopp342 als eindeutiges Bekenntnis des EuGH zu einem freiheitsrechtlichen Verständnis auch der Niederlassungsfreiheit angesehen. Darin spricht der Gerichtshof von den „Freiheitsrechten des Vertrages zur Niederlassung in einem anderen Mitgliedsstaat.“343

Jedoch war das zur Überprüfung stehende französische Verbot der Zweigniederlassung für Rechtsanwälte zwar unterschiedslos anwendbar, führte aber zu einer faktischen Schlechterstellung ausländischer Anwälte, weil diesen die Aufgabe ihrer Hauptniederlassung ungleich schwerer fallen dürfte als ihren französischen BeEuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, Rz. 102. Insbesondere der Verweis auf die Alpine Investment Entscheidung in Rz. 103 der Entscheidung kann wiederum in beide Richtungen interpretiert werden. Für eine entsprechende Anwendung der Keckgrundsätze: Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 178; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 62; Nettesheim, in: NVwZ 1996, S. 342, 344, Schroeder, in: JZ 1996, S. 254, 255; dagegen: Wilmowsky, EuR 1996, S. 107, 108. 339 Für einen weiteren Überblick über die Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit s. Castro Oliviera, in: CMLR 39 (2002), S. 77, 78 ff. Für eine spezifische Untersuchung des Gewährleistungsgehaltes der Arbeitnehmerfreizügigkeit s. Heyer, Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit, Köln 1995 / 96. 340 Für eine aktuelle Übersicht des Meinungsstandes s. Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 358 ff. 341 Bröhmer, in: Calliess / Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 23. 342 EuGH, Rs. 107 / 83 – Klopp –, Slg. 1984, 2971. 343 EuGH, Rs. 107 / 83 – Klopp –, Slg. 1984, 2971, Rz. 18. 337 338

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rufsgenossen.344 Ähnliche Unsicherheiten hinterließen auch die Entscheidungen, in denen es um Anerkennung ausländischer Diplome und Befähigungsnachweise ging.345 Einerseits bringt der EuGH hier das Herkunftsprinzip zur Anwendung, wenn er von den Behörden des Zielstaates verlangt, zunächst zu überprüfen, inwieweit eine Gleichwertigkeit der ausländischen Befähigungsnachweise mit den inländischen Anforderungen festgestellt werden kann. Zum anderen handelt es sich auch bei diesen Entscheidungen um Fälle faktischer Schlechterstellungen von Ausländern, denn diese können schließlich regelmäßig keine inländischen Diplome vorweisen. In der Entscheidung Kraus,346 ging es zwar wiederum um einen Anerkennungsfall, jedoch lehnte sich der EuGH hierin in seiner Formulierung erstmals mit Bezug auf Art. 39 und 43 EGV an seine Cassis-Rechtsprechung an.347 Schließlich in uneingeschränkter Allgemeinheit stellte der Gerichtshof dann in seinem Urteil in der Rs. Gebhard348 fest: „Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich jedoch, daß nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein und sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.“349

Der EuGH verweist im Anschluss auf das vorangegangene Zitat auf die Rs. Kraus. Daraus folgt, dass sich die gemachten Aussagen jedenfalls auf die Grundfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit beziehen.350 Das Gebhard-Urteil kann darüber hinaus jedoch als Bekenntnis zu einem konvergenten Verständnis aller Grundfreiheiten des Vertrages als Beschränkungsverbote verstanden werden.351

Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 65. EuGH, Rs. 71 / 76 – Thieffry –, Slg. 1977, 765; Rs. 16 / 78 – Choquet –, Slg. 1978, 2293; Rs. C-340 / 89 – Vlassopoulou –, Slg. 1991, I-2357; Rs. C-164 / 94 – Aranitis –, Slg. 1996, I-135, Rz. 31; EuGH, Rs. C-250 / 95 – Futura Participations –, Slg. 1997, I-2471. 346 EuGH, Rs. C-19 / 92 – Kraus –, Slg. 1993, I-1663. 347 EuGH, Rs. C-19 / 92 – Kraus –, Slg. 1993, I-1663, Rz. 32. 348 EuGH, Rs. C-55 / 94 – Gebhard –, Slg. 1995, I-4165. 349 EuGH, Rs. C-55 / 94 – Gebhard –, Slg. 1995, I-4165, Rz. 37; vgl. a. Rs. C-3 / 95 – Broede / Sandker –, Slg. 1996, I-6511, Rz. 25, mit wortgleicher Formulierung; vgl. a. EuGH, Rs. C-249 / 88 – Kommission / Belgien –, Slg. 1993, I-1275. 350 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 169. Siehe für eine spezifische Darstellung des Gewährleistungsgehaltes der Niederlassungsfreiheit Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, Berlin 2000. 351 Eberhartinger, in: EWS 1997, S. 43, 48; Herdegen, S. 188, Rn. 278; vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 67. 344 345

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(5) Zusammenfassung Zwar kann zumindest die Mehrzahl der Entscheidungen, die soeben als Nachweise für die freiheitsrechtliche Funktion der Grundfreiheiten herangezogen wurden, ebenso als gleichheitsrechtliche Probleme dargestellt werden.352 Dies liegt vor allem daran, dass eine randscharfe Definition des von dem EuGH zugrunde gelegten Diskriminierungsbegriffs bislang nicht geliefert wurde.353 Als entscheidend ist indessen anzusehen, dass der EuGH im Einzelfall eine Prüfung einer Schlechterstellung nicht mehr vornimmt.354 Es kommt danach nicht mehr auf eine Diskriminierung an, auch wenn diese im Einzelfall neben der Freiheitseinschränkung vorliegen sollte. Maßgeblich ist nicht die Art und Weise der Beschränkung sondern deren Wirkung. Das gleichzeitig eine versteckte bzw. faktische Schlechterstellung vorliegt, ist für die freiheitsrechtliche Natur der Grundfreiheiten unschädlich. Es ist daher davon auszugehen, dass der EuGH im Sinne einer konvergenten Betrachtungsweise mittlerweile alle Grundfreiheiten des Vertrages grundsätzlich auch als Beschränkungsverbote versteht.355 Dabei kommt dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ausländischen Marktordnungsrechtes zumindest für die Produktverkehrsfreiheiten eine bestimmende Rolle zu.

bb) Auslegung der Grundfreiheitsbestimmungen Wegen der oft apodiktischen Kürze der Aussagen des Gerichtshofes bleiben die von dem Gerichtshof benutzten Begriffe in vielen Fällen unklar, und es lässt sich über die dogmatischen Grundlagen dieser Entscheidungen oftmals nur mutmaßen.356 Allerdings hat sich auch der EuGH zu den klassischen Auslegungsmethoden, wie sie in den nationalen Rechtsordnungen angewandt werden, bekannt.357 Dementsprechend sind auch Aussagen zu dem Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten an den einschlägigen Vertragsnormen festzumachen.358 Mithin sind nun-

Jarass, in: EuR 1995, S. 202, 216 f.; vgl. a. Streinz, in: FS Rudolf, S. 199, 218. Vgl. Streinz, in: FS Rudolf, S. 199, 216. 354 Vgl. Dörr, in: RabelsZ 54 (1990), S. 677, 688. 355 Vgl. noch allgemein zu der konvergierenden Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV Streinz, in: FS Rudolf, S. 199 ff. 356 Vgl. Jarass, in: EuR 1995, S. 202, 203 u. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 40 ff. 357 EuGH, Rs. C-128 / 94 – Hönig –, Slg. 1995, I-3389, Rz. 9; Rs. 337 / 82 – St. Nikolaus Brennerei –, Slg. 1984, 1051, Rz. 10; Rs. 292 / 82 – Merck – Slg. 1983, 3781, Rz. 12; Schwarze, in: ders., Art. 220 EGV, Rn. 27; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 79 f. 358 Kluth, in: AöR 122 (1997), S. 557, 565 f. 352 353

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mehr die Grundfreiheitsbestimmungen des EGV auf deren freiheitsrechtlichen Gehalt hin zu untersuchen. (1) Wortlaut Ausgangspunkt einer jeden Auslegung ist der Wortlaut der zu untersuchenden Normen. Mit dem in den grundfreiheitlichen Regelungen des EGV statuierten Grundsatz der Inländergleichbehandlung ist diesen jeweils ein gleichheitsrechtlicher Gehalt bereits dem Wortlaut nach zweifelsfrei zu entnehmen (Art. 30 S. 2, Art. 39 Abs. 2, Art. 43 Abs. 2, Art. 50 Abs. 2, Art. 58 Abs. 3 EGV).359 Diese vereinzelten expliziten Nennungen des Diskriminierungsverbotes als Inhalt der Grundfreiheiten bilden schließlich auch den Ausgangspunkt für Überlegungen zu weitergehenden Gehalten der Grundfreiheiten. So ergibt sich schon teilweise aus eben diesen Normen, dass sich der Gewährleistungsgehalt nicht notwendigerweise in einem solchen Diskriminierungsverbot erschöpfen muss.360 Art. 43 Abs. 2 und Art. 39 Abs. 2 EGV sprechen beispielsweise lediglich davon, dass die Niederlassungsfreiheit die dort genannten Gebote der Inländerbehandlung „umfasst“. Für das Verständnis der Arbeitnehmerfreizügigkeit als Beschränkungsverbot könnten die in Art. 39 Abs. 3 EGV aufgeführten Rechte vorgebracht werden, die unabhängig von einer Diskriminierung im Einzelfall gewährt werden sollen. Allerdings ist hier auf der anderen Seite fraglich, ob von dem Inhalt einer Spezialvorschrift auf den Umfang der Grundnorm geschlossen werden kann.361 Weitergehend wird vertreten, die begriffliche Unterscheidung zwischen Diskriminierungen und Beschränkungen in den Art. 30 S. 2, 43 I, 49 I EGV bzw. die weite Formulierung des Art. 39 EGV spreche für ein über ein bloßes Diskriminierungsverbot hinausgehendes Verbot sonstiger Beschränkung nicht-diskriminierender Art.362 Dass dies allerdings zumindest keine zwingende Folgerung ist, ergibt sich aus Art. 30 S. 2 EGV, nach dessen Formulierung in dem Begriff der Beschränkung ebenso ein Oberbegriff verschiedener Arten von Diskriminierungen gesehen werden kann.363 Die ausdrückliche Anordnung von Diskriminierungsverboten im Rahmen der einzelnen Grundfreiheiten spricht auf der anderen Seite allerdings auch wieder dagegen, den Grundfreiheiten ein umfassendes Beschränkungsverbot entnehmen zu wollen, da die ausdrückliche Aufführung einzelner Arten von verbotenen Beschränkungen dann keinen Sinn hätte.364 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 34 f. Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, S. 362; Behrens, in: EuR 1992, S. 145, 151. 361 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 33. 362 Steindorff, in: EuR 1988, S. 19, 21 f.; Bleckmann, in: DVBl. 1986, S. 69, 72. 363 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 32. 364 Rolshoven, S. 208; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 31. 359 360

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Schließlich mag als ein weiteres Indiz für die Natur zumindest der Warenverkehrsfreiheit als Freiheitsrecht sprechen, wenn der EGV im Titel I des Dritten Teiles von einem freien Warenverkehr spricht. Die Formulierungen der grundfreiheitlichen Regelungen liefern mithin Indizien für ein Verständnis der Grundfreiheiten als begrenzte Beschränkungsverbote; zwingende Gründe für diese Sichtweise enthalten sie jedoch nicht.

(2) Systematik Möglicherweise lässt sich der Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten aus ihrem systematischen Zusammenhang näher bestimmen. Hier lässt sich zunächst auf den, durch den EuGH mehrfach bestätigten Zusammenhang zwischen den Grundfreiheiten als bereichsspezifischen Diskriminierungsverboten und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art. 12 EGV verweisen.365 Angesichts des allgemeinen Diskriminierungsverbotes des Art. 12 EGV hätte es der vielen zusätzlichen Einzelvorschriften nicht bedurft, wäre den Grundfreiheiten nicht ein über das Gebot der Inländergleichbehandlung hinausgehender Inhalt zu entnehmen.366 Als Hinweis auf einen weitergehenden Gehalt zumindest der Warenverkehrsfreiheit kann auch Art. 90 II EGV gewertet werden, wenn man in dem dort stipulierten Verbot des Schutzes anderer als den von dem Verbot unmittelbar betroffenen Waren einen Fall von verschleierten Beschränkungen nach Art. 30 S. 2 EGV sehen wollte, die dadurch einen anderen Gehalt als ein bloßes Inländerbehandlungsgebot erhielten. (a) Rechtsangleichungsvorschriften Es ist bereits festgestellt worden, dass den Grundfreiheiten eventuell zu entnehmende Beschränkungsverbote nicht umfassender Natur sein können. Bestätigung findet dieses Ergebnis in der Existenz der speziellen (Art. 40, 41, 44 und 47 EGV) und allgemeinen (Art. 94 und 95 EGV) Rechtsangleichungsvorschriften für den Bereich der Grundfreiheiten.367 Wenn dem Gemeinschaftsgesetzgeber durch den Vertrag die Kompetenz zur Rechtsangleichung im Bereich der Grundfreiheiten übertragen wird, dann bedeutet 365 EuGH, Rs. 175 / 88 – Biehl –, Slg. 1990 , I-1779, Rz. 11 ff.; Rs. 305 / 87 – Kommission / Griechenland –, Slg. 1989, 1461, Rz. 12 f.; Rs. 186 / 87 – Cowan –, Slg. 1989, 195, Rz. 14; Rs. 59 / 85 – Reed –, Slg. 1986, 1283, Rz. 21; Rs. 1 / 78 – Kenny –, Slg. 1978, 1489, Rz. 18 / 20; Rs. 59 / 85 – Reed –, Slg. 1986, 1283, Rz. 21. 366 Schlussanträge, GA Lenz, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, 5005. 367 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 33; Epiney, S. 49, mwN. Überblick bei Langeheine, in: Grabitz / Hilf, Art. 100a EGV, Rn. 18 f.

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dies, dass die unmittelbar wirkenden Grundfreiheiten nicht das einzige Instrument zur Gewährleistung eines möglichst unbeschränkten innergemeinschaftlichen Handels darstellen können.368 Wenn für die Rechtsangleichung in diesem Bereich besondere Verfahren vorgesehen werden, dann können nicht schon die Grundfreiheiten selbst so ausgelegt werden, dass sie umfassend rechtsangleichend wirken.369 Die Rechtsprechung des EuGH zu der Frage der Reichweite der Grundfreiheiten darf nicht zu einem Ungleichgewicht zwischen Rat und Parlament auf der einen Seite und EuGH auf der anderen Seite führen.370 Dies ergibt sich allein aus dem inzwischen in ständiger Rechtsprechung bestätigten Prinzip des institutionellen Gleichgewichts.371 Da mithin die Auslegung der Grundfreiheiten nicht nur in vertikaler Richtung – weil die mitgliedstaatlichen Kompetenzen betreffend – sondern auch in horizontaler Richtung Konsequenzen hat, ist dieses Prinzip mithin auch durch den EuGH in dieser Frage zu beachten. Über die Feststellung hinaus, dass die Kompetenz des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Rechtsangleichung im Bereich der Grundfreiheiten bedeutet, dass die primärrechtlichen Regelungen nicht schon für sich so weit ausgelegt werden dürfen, dass eine legislative Rechtsangleichung obsolet wird, lässt sich über die konkreten Grenzen der Auslegung der Grundfreiheiten, insbesondere zu der Frage nach den Grundfreiheiten als bloße Diskriminierungs- oder auch Beschränkungsverbote prima facie allerdings nichts entnehmen.372

(b) Subsidiaritätsprinzip Die Heranziehung des Subsidiaritätsprinzips als Anhaltspunkt der systematischen Auslegung ist auch nach mittlerweile fast zehn Jahren seit seiner Einführung durch den Maastrichter Vertrag mit vielerlei Unwägbarkeiten verbunden. Neben der Frage nach der Justiziabilität des Art. 5 II EGV ist im Einzelnen umstritten, welche Maßnahmen unter diesen Grundsatz zu fassen sind. So ist bereits fraglich, ob der Begriff der „Maßnahme“ in Art. 5 II EGV nicht ausschließlich auf legislative Akte der Gemeinschaft gerichtet ist.373

Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 91 f. Kluth, in: AöR 122 (1997), S. 557, 565. 370 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 91. 371 EuGH, Rs. C-300 / 89 – Titandioxid-Richtlinie –, Slg. 1991, I-2867, Rz. 10; Rs. C-70 / 88, Tschernobyl I –, Slg. 1990, I-2041, Rz. 21 f.; Rs. 138 / 79 – Roquettes Frères –, Slg. 1980, 3333, LS. 4; vgl. dazu Wegener, in: Calliess / Ruffert, Art. 220 EGV, Rn 31. 372 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 99. 373 So Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 103; vgl. auch Winter, in: EuR 1996, S. 247, 251; Jickeli, in: JZ 1995, S. 58, 63; Schwarze, in: DVBl. 1995, S. 1264 ff. 368 369

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Doch selbst wenn man von der grundsätzlichen Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips ausgeht,374 ist es auf die Frage nach der Auslegung der Grundfreiheitsbestimmungen des EGV nicht anwendbar. Nach Art. 5 II 1. Hs. EGV ist die Betätigung ausschließlicher Gemeinschaftskompetenzen aus dem Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips ausgenommen. Zwar ist bislang noch nicht abschließend geklärt, welche der im Gemeinschaftsvertrag aufgeführten Zuständigkeiten im Einzelnen als ausschließliche Kompetenzen einzuordnen sind.375 Jedenfalls jedoch besitzt der EuGH das Auslegungsmonopol bezüglich des gesamten Vertrages und hat damit die ausschließliche Kompetenz auch zur Auslegung der Grundfreiheiten inne.376 Mithin ist die Prüfungskompetenz hinsichtlich der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts als ausschließliche Zuständigkeit aus dem Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips gemäß Art. 5 II EGV ausgenommen. Gegen diesen Schluss wird vorgebracht, der EuGH hätte zwar die ausschließliche Kompetenz zur Auslegung, dies sei jedoch zu unterscheiden von den anzulegenden materiellen Maßstäben bei der Auslegung.377 Es ist bereits fraglich, ob die Zuständigkeit zur Erreichung des Binnenmarktzieles des EGV nicht bereits ausschließlich der Gemeinschaft zukommt.378 Jedenfalls stünde aber eine jegliche Bindung des EuGH an das Subsidiaritätsprinzip bei der Auslegung des Vertrages im Widerspruch zum Grundsatz der Effektivität des Gemeinschaftsrechtes als zentrales Prinzip der Vertragsanwendung durch den EuGH sowie dem daraus fließenden Grundsatz des Vorranges des Gemeinschaftsrechts. Dasselbe gilt für die ebenfalls konstitutiven Prinzipien der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrecht und des effektiven Rechtsschutzes.379 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 II EGV bereits seinem Wortlaut nach keine Rückwirkung entfaltet.380 Wesentliche Aussagen des Gerichtshofes zur Auslegung der Grundfreiheiten stammen aus der Zeit vor In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrages, mit dem das Subsidiaritätsprinzip Aufnahme im EGV fand.

374 Zur Debatte um die Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips s. nur Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 297 ff. 375 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 76 ff. 376 EuGH – Gutachten 1 / 91 –, Slg. 1991, I-6079, Rz. 35; Schwartz, in: FS Everling, Bd. II, S. 1331, 1343. 377 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 109. 378 Vgl. Müller-Graff, in: ZHR 159 (1995), S. 34, 68 ff.; Schlussanträge, GA Lenz, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, 4930; für die Rechtsangleichung zur Erreichung des Binnenmarktzieles nach Art. 94, 95 EGV als ausschließliche Kompetenz der Gemeinschaft: Toth, in: CMLR 29 (1992), S. 1079, 1090 f.; Tietje, in: Grabitz / Hilf, Vor Art. 94 – 97, Rn 58 f. mwN; a.A.: Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 97. 379 Müller-Graff, in: ZHR 159 (1995), S. 34, 74. 380 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 267.

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Entsprechend der hier vertretenen Sichtweise stellt Nr. 3 des Subsidiaritätsprotokolls von 1997 klar: „Das Subsidiaritätsprinzip stellt nicht die Befugnisse in Frage, über die die Europäische Gemeinschaft aufgrund des Vertrages aufgrund der Auslegung des Gerichtshofes verfügt.“

Mangels Anwendbarkeit auf die Rechtsprechungstätigkeit des EuGH ergeben sich aus dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 II EGV mithin keine Erkenntnisse hinsichtlich der Auslegung der Grundfreiheiten als freiheitsrechtliche Gewährleistungen. (3) Teleologie Der teleologischen Auslegung kommt innerhalb des Gemeinschaftsrechtes eine herausragende Bedeutung zu.381 Das für die Auslegung der grundfreiheitlichen Normen bestimmende Ziel bildet gemäß Art. 2, 3 und 14 EGV die Errichtung eines europäischen Binnenmarktes.382 Die vertraglich verankerten Ziele der Gemeinschaft stellen nicht nur unverbindliche Programmsätze dar, sondern sind verbindliche Rechtsnormen.383 Daher müssen sie bei der Auslegung der Vertragsnormen unmittelbar Berücksichtigung finden.384 (a) Das Binnenmarktziel des EGV Gemäß Art. 14 II EGV umfasst der Binnenmarkt einen „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen [des] Vertrages gewährleistet ist.“

Dazu ist zunächst festzustellen, dass mit Ablauf der in Art. 14 I EGV genannten Umsetzungsfrist am 31. Dezember 1992 die nationalen Marktordnungen nicht durch einheitliches materielles Binnenmarktrecht ersetzt wurden.385 Dass die FristSchwarze, in: ders., Art. 220 EGV, Rn. 27; Kutscher, in: EuR 1981, S. 392, 400 f. Streinz, Europarecht, Rn. 652; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 40; für den Binnenmarkt als Ziel der Gemeinschaft vgl. Bardenhewer / Pipkorn, in: GTE, Art. 7a EGV, Rn. 1, 21; Zuleeg, in: GTE, Art. 2 EGV, Rn. 13. Die in Art. 3 genannten Tätigkeiten stellen einerseits Mittel zur Erreichung der insoweit allgemeiner formulierten Ziele des Art. 2 EGV dar. (EuGH, Rs. 203 / 80 – Casati –, Slg. 1981, 2595, Rz. 8) Gleichzeitig kommt ihnen selbst die Funktion von Vertragszielen zu (EuGH, Rs. 249 / 81 – Buy Irish –, Slg. 1982, 4005, Rz. 28; Rs. 177 / 94 – Perfili –, Slg. 1996, I-161, Rz. 11). 383 EuGH, Rs. 41 – 44 / 70 – International Fruit Company –, Slg. 1971, 411 (427); Rs. 6 / 72 – Continental Can –, Slg. 1973, 252, LS. 7; Rs. 2 u. 3 / 62 – Kommission / Luxemburg u. Belgien –, Slg. 1962, 873 (882); Zuleeg in: GTE, Art. 2 EGV, Rn. 3. 384 Hatje, in: Schwarze, Art. 2 EGV, Rn. 9. 385 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 50; Bardenhewer / Pipkorn, in: GTE, Art. 7a EGV, Rz. 12, mwN; Schwartz, in: FS v.d. Groeben, S. 333 (365 f.); Rohe, in: RabelsZ 61 (1997), S. 1, 30 ff.; Mülbert, ZHR 159 (1995), S. 2, 20. Bei Ablauf der Frist waren 92% der Rechtsakte erlassen, welche im Weißbuch der Kommission vorgeschlagen worden waren. (Immenga, in: JA 1993, S. 257, 257). 381 382

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bestimmung im Zuge der Vertragsänderungen von Amsterdam nicht gestrichen wurde, war ein Akt politischer Symbolik und hat keine rechtliche Bedeutung.386 Die Elemente des Binnenmarktes sind mithin nicht bereits vollständig durch die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der Grundfreiheiten gewährleistet. Der freie Verkehr von Produkten und Personen wird in Art. 14 II EGV selbst zum Bestandteil der Definition des Binnenmarktzieles gemacht wird. Daraus ergibt sich ein erster Hinweis für die Auslegung der Grundfreiheiten und ein weiteres Indiz für die Beschränktheit des grundfreiheitlichen Gewährleistungsgehaltes. Da davon auszugehen ist, dass das Binnenmarktziel des Vertrages nicht lediglich auf die Einhaltung der Grundfreiheiten als primärrechtliche Vorschriften verweist, folgt aus der Definition des Art. 14 II EGV, dass zwischen dem freien Verkehr mit Produkten und Personen als wesentlichem Element des Gemeinschaftszieles Binnenmarkt387 und den primärrechtlichen Grundfreiheiten als einem der vertraglichen Mittel zur Erreichung dieses Zieles zu differenzieren ist.388 Das Binnenmarktziel wiederum ist auf die allgemeine Gewährleistung eines möglichst unbeschränkten Produkt- und Personenverkehres innerhalb der Gemeinschaft gerichtet.389 Die Grundfreiheiten des EGV sind indes als der Reichweite nach begrenzte, primärrechtliche und damit unmittelbar anwendbare Modalitäten zur Erreichung dieses Binnenmarktzieles zu verstehen. Die Ziele des EGV sind für alle Organe der EG gleichermaßen verbindlich und verpflichten sie in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die zu deren Verwirklichung nötig sind.390 Bezogen auf das Binnenmarktziel folgt daraus, dass auch der Gemeinschaftsgesetzgeber gemäß Art. 3 I lit. h und Art. 14 II EGV im Rahmen der ihm vom Vertrag zugewiesenen Befugnisse zur Zielerreichung tätig werden muss.391 Diese Regelungen verweisen nämlich zur Verwirklichung des Binnenmarktes wiederum auf die „Bestimmungen des Vertrages“ und damit auch auf die Rechtsangleichungsvorschriften als Mittel zur Zielerreichung. Damit wird das bereits im Rahmen der systematischen Auslegung gewonnene Ergebnis der Dualität der vertraglichen Mittel zur Binnenmarktzielerreichung bestätigt.

Kahl, in: Calliess / Ruffert, Art. 14 EGV, Rn. 15. Zu den Grundfreiheiten in dieser Bedeutung vgl. Immenga, in: JA 1993, S. 257, 259 f. 388 Noch klarer wird dieses Ergebnis durch einen Blick auf Art. 3 Abs. 1 lit. c), in dem es heißt, die Tätigkeit der Gemeinschaft umfasse „einen Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr gekennzeichnet ist.“ 389 Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 40. 390 EuGH, Rs. 6 / 72 – Europemballage – Slg. 1973, 215, Rz. 24; Hatje, in: Scharze, Art. 2 EGV, Rn. 5 391 Kahl, in: Calliess / Ruffert, Art. 14 EGV, Rn. 15; Zuleeg, in: GTE, Art. 3, Rn. 3. 386 387

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Gleichwohl ergeben sich aus der genaueren Betrachtung des Binnenmarktzieles darüber hinausgehende Vorgaben für eine Funktionsverteilung zwischen unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten und korrespondierenden Rechtsangleichungsvorschriften des Vertrages. Der Umfang des Binnenmarktbegriffes, insbesondere in Abgrenzung zum vom Vertrag parallel gebrauchten Begriff des Gemeinsamen Marktes, ist im Einzelnen umstritten.392 Aus der Aussage des EuGH in der Rs. Gaston Schul: „Der Begriff Gemeinsamer Markt [ . . . ] stellt ab auf die Beseitigung aller Hemmnisse, im innergemeinschaftlichen Handel mit dem Ziel der Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Binnenmarktes nahe kommen,“393

geht indes hervor, dass der Binnenmarkt hinsichtlich seiner integrativen Wirkung kein Minus gegenüber dem Gemeinsamen Markt darstellen kann.394 Bereits das Konzept des Gemeinsamen Marktes zielte auf die Schaffung eines von internen Behinderungen freien, vereinigten Wirtschaftsraumes ab.395 Insbesondere im Hinblick auf die Aussage des Art. 14 II EGV, der von einem „Raum ohne Binnengrenzen“ spricht, ist das Binnenmarktkonzept mithin auf die Schaffung einer möglichst homogenen europäischen Marktordnung gerichtet. Eine so verstandene Marktordnung lässt sich durch die Elemente der Marktfreiheit und Marktgleichheit kennzeichnen.396 Den Elementen der Marktfreiheit und Marktgleichheit ist als eigenständiges Element das System eines unverfälschten Wettbewerbs beizustellen (vgl. Art. 3 I lit. g EGV).397 Da sich der Schutz vor Eingriffen in den freien Wettbewerb durch staatliche oder private Stellen jedoch unmittelbar nur auf die Vorschriften über den Wettbewerb gemäß Art. 81 ff. EGV bezieht, soll dieses Element für die Auslegung der Grundfreiheiten außer Betracht bleiben.398 Zu den hierzu vertretenen Theorien s. Kahl, in: Calliess / Ruffert, Art. 14, Rn. 8 ff. EuGH, Rs. 15 / 81 – Gaston Schul –, Slg. 1982, 1409, Rz. 33; vgl. a. Rs. 159 / 78 – Zollagenten –, Slg. 1979, 3247, Rz. 8; Rs. 299 / 86 – Drexl –, Slg. 1988, 1213, Rz. 24; Rs. C-41 / 93 – Frankreich / Kommission –, Slg. I-1994, 1829, Rz. 19. 394 Streinz, Europarecht, Rn. 953; zu der Kompetenz der Gemeinschaft zur Bestimmung des Binnenmarktzieles s. Müller-Graff, in: ZHR 159 (1995), S. 34, 43 ff.; kritisch zu diesem Schluss: Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 100 f. 395 EuGH, Rs. 9 / 73 – Schlüter –, Slg. 1973, 1135, Rz. 39; Rs. 10 / 73 – REWE / Hauptzollamt Kehl –, Slg. 1973, 1175, Rz. 26; Schwarze, in: ders., Art. 3 EGV, Rn. 6; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 41 ff.; Grabitz, in: FS Steindorff, S. 1229, 1233. 396 Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, S. 84; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 222; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 42; Borchardt, in: ZHR 150 (1986), S. 206 f.; Grabitz, in: FS Steindorff, S. 1229, 1233. 397 EuGH, Rs. C-300 / 89 – Kommission / Rat –, Slg. 1991, I-2867, Rz. 14; Rs. C-350 / 92 – Spanien / Rat –, Slg. 1995, I-1985, Rz. 32 ff., vgl. dazu Kahl, in: Calliess / Ruffert, Art. 14 EGV, Rn. 7. 392 393

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Unter Marktfreiheit ist in diesem Zusammenhang die Abschaffung aller grenzübertrittsspezifischen Behinderungen zu verstehen.399 Marktgleichheit bedeutet, dass in allen Teilmarktordnungen möglichst gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen sollen.400 Behinderungen des zwischenstaatlichen Produkt- und Personenverkehr ergeben sich nämlich nicht nur durch grenzübertrittsspezifische Beschränkungen sondern folgen bereits aus der unterschiedlichen Ausgestaltung des Marktordnungsrechtes in den einzelnen Mitgliedstaaten.401 Diese Behinderungen ergeben sich aus der Doppelbelastung von Produkten und Personen im innergemeinschaftlichen Verkehr, die darauf beruht, dass diese jeweils insbesondere den Marktzugangsregeln des Herkunfts- wie denen des Zielstaates zu genügen haben.402 Der innergemeinschaftliche Wirtschaftsverkehr ist folglich solange nicht vollkommen frei, wie die Inhomogenität des Gemeinschaftsmarktes mit seinen verschiedenen mitgliedstaatlichen Teilmarktordnungen fortbesteht.403 Eine Totalharmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ist unterdessen vernünftigerweise u. a. deshalb nicht denkbar, weil es auch in Zukunft sinnvoll sein wird, spezifische, an die unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten bzw. Regionen der EG angepasste Regelungen vorzuhalten. Deshalb verlangt das Binnenmarktziel nicht die vollständige Ersetzung der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Marktordnungen sondern ist seinem Normcharakter nach als Prinzip im Sinne eines Optimierungsgebotes404 zu verstehen, welches final auf eine größtmögliche Homogenität der Gemeinschaftsmarktordnung gerichtet ist.405 (b) Grundsatz der Effektivität des Gemeinschaftsrechts Nun ergeben sich aus dem soeben konturierten Binnenmarktziel allein keine genaueren Aussagen über die gebotene Gewichtung zwischen judikatorischen und legislativen Maßnahmen, die zur Erreichung dieses Zieles zu treffen sind.406 398 Näher dazu Zuleeg, in: GTE, Art. 3 EGV, Rn. 9; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 42 f.; Schweitzer / Hummer, EuR, S. 328, Rn. 1068. 399 Grabitz, in: FS Steindorff, S. 1229, 1233; Borchardt, S. 208; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 44; Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, S. 85. 400 Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 44. 401 Möstl, in: EuR 2002, S. 318, 329; Classen, in: EWS 1995, S. 97, 98. 402 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 56 ff. 403 Grabitz, in: FS Steindorff, S. 1229, 1236. 404 Zu dem Begriff des Prinzips und seiner Charakterisierung als Optimierungsgebot s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 46. 405 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 40. 406 v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf Art. 14 EGV, Rn. 11; KOM (1985) 310 endg., 6, 18; Steindorff, in: ZHR 150 (1986), S. 687, 689 f.

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Zwar scheint es nahe zu liegen, in Anknüpfung an die Sondierung der Teilziele Marktfreiheit und Marktgleichheit, die Grundfreiheiten als Mittel zur Erreichung möglichst weitgehender Marktfreiheit und die Rechtsangleichungsvorschriften als Instrument zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen im gesamten Gemeinschaftsmarkt zuzuordnen.407 Eine solche Zuteilung wäre indes als willkürlich anzusehen. Ihr fehlt es an dahingehenden Hinweisen im Gemeinschaftsrecht. Einen Ansatz für die Funktionsverteilung zwischen unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten und Rechtsangleichungskompetenzen liefert erst das gemeinschaftsrechtliche Prinzip des „effet utile“. Dieses besagt, dass bei der Auslegung des Vertrages stets diejenige Lösung zu bevorzugen ist, die den Vertragsbestimmungen zu ihrer größtmöglichen Wirksamkeit verhelfen.408 (aa) Die Grundfreiheiten als grundsätzlich effektiveres Mittel Wenn der Vertrag mit den Grundfreiheiten und den Harmonisierungskompetenzen zwei grundsätzlich gleichrangige Modalitäten zur Erreichung des Binnenmarktzieles bereitstellt, verlangt das Effektivitätsprinzip des Gemeinschaftsrechtes, bei der Gewichtung beider Modalitäten diejenige zu bevorzugen, durch welche sich das relevante Ziel am wirksamsten erreichen lässt. Bezogen auf die vorliegende Problematik ist festzustellen, dass die extensive Auslegung und entsprechende Anwendung der Grundfreiheitsbestimmungen im Gegensatz zur Harmonisierung durch Sekundärrecht nicht mit den Unsicherheiten des gemeinschaftlichen Rechtssetzungsprozesses verbunden ist.409 Das Instrument der Rechtsangleichung birgt die Gefahr, dass aufgrund fehlenden politischen Willens der Mitgliedstaaten von den Harmonisierungsbefugnissen nicht in einer Weise Gebrauch gemacht wird, wie dies im Sinne einer möglichst effektiven Durchsetzung des Binnenmarktzieles erforderlich wäre. Da der EGV mit den unmittelbar wirkenden Grundfreiheitsbestimmungen ein grundsätzlich gleichrangiges Mittel bereithält, das weniger abhängig von einem entsprechenden Kooperationswillen der Mitgliedstaaten ist, spricht das gemeinschaftsrechtliche Effektivitätsgebot grundsätzlich dafür, das Binnenmarktziel vorrangig mithilfe der Grundfreiheiten zu erreichen.

407 Vgl. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 222, Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, S. 88. 408 In st. Rspr. angewandt, vgl. nur EuGH, Rs. 9 / 70 – Leberpfennig –, Slg. 1970, 825, Rz. 5; Rs. 41 / 74 – van Duyn / Home Office –, Slg. 1974, 1337, Rz. 12; Rs. 246 / 80 – Broekmeulen –, Slg. 1981, 2311, Rz. 16; verb. Rs. C-6 / 90 u. C-9 / 90 – Francovich –, Slg. 1991, I-5357, Rz. 32; Schwarze, in: ders., Art. 220 EGV, Rn. 29. 409 Vgl. nur Tietje, in: Grabitz / Hilf, Vor Art. 94 – 97 EGV, Rn. 12 ff.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

In den Grenzen des kompetenziellen Systems des Gemeinschaftsrechtes lässt sich dem Binnenmarktziel mithin in Verbindung mit dem gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgebot ein Argument für eine bestimmte Bevorzugung der unmittelbar anwendbaren Grundfreiheitsbestimmungen gegenüber den korrespondierenden Rechtsangleichungsvorschriften des EGV entnehmen.410 (bb) Normative Begrenztheit der Grundfreiheiten als einfache Verbotsnormen Der Präferenz, die sich aus dem Effektivitätsgebot zugunsten einer extensiven Auslegung der Grundfreiheiten ergibt, sind durch den Normcharakter der Grundfreiheiten Grenzen gesetzt. Grundfreiheiten sind ihrer Rechtsfolge nach Verbotsnormen. Als solche kann mit ihnen zwar Marktöffnung betrieben werden, zur Marktregelung sind sie hingegen nicht fähig.411 Das vom Binnenmarktziel verlangte möglichst einheitliche Marktordnungsrecht im Gemeinschaftsgebiet lässt sich aber durch Verbote alleine nicht schaffen. Marktfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit einem Zustand völliger Abwesenheit marktregulierender Normen. Rechtsvereinheitlichung im Sinne weitgehender Abschaffung mitgliedstaatlichen Marktordnungsrechtes entspricht dem Ziel eines möglichst homogenen Binnenmarktrechtes offenkundig nicht. In ihrer Funktion als Verbotsnormen belassen, die Grundfreiheiten zunächst nur entweder gerechtfertigte aber weiterhin heterogene einzelstaatliche Regelungen oder Lücken innerhalb der Marktordnungen der Mitgliedstaaten die durch wiederum nicht auf europäischer Ebene abgestimmte Vorschriften ersetzt werden.412 Das durch die Derogation der mitgliedstaatlichen Normen hinterlassene Vakuum413 in den Marktordnungen der betroffenen Mitgliedstaaten ist durch binnenmarktkonforme Marktregeln zu ersetzen. Dies ist durch die Anwendung der Grundfreiheiten als einfache Verbotsnormen jedoch nicht zu leisten. Als solche können diese daher nur einen begrenzten Beitrag zur Erreichung des Binnenmarktzieles leisten. Damit wird klar, dass insbesondere auch die Teleologie der Grundfreiheitsbestimmungen dagegen sprechen, diese als umfassende Beschränkungsverbote zu verstehen. Sie können mithin nicht auf die Gewährung umfassender wirtschaftlicher Handlungsfreiheit gerichtet sein.414 A.A. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 92 f. Zuleeg spricht in diesem Zusammenhang von einer negativen Kompetenz der Gemeinschaft. (ders., Subsidiarität, S. 187). 412 Zu den Fernwirkungen von Entscheidungen des EuGH in Grundfreiheitssachen s. Everling, in: RabelsZ 50 (1986), S. 193, 214 ff. 413 Luke, in: Handbuch des EG-Wirtschaftsrechtes, B.II., Rn. 89; Kingreen S. 34. 414 Kingreen, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 660; a.A. bspw. Tietje, in: Grabitz / Hilf, Vor 94 – 97 EGV, Rn. 51. 410 411

Kap. II: Grundfreiheiten

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(cc) Die Grundfreiheiten als koordinationsrechtlich qualifizierte Verbotsnormen (Herkunftsprinzip) Auf der einen Seite ergeben sich die einschlägigen Beschränkungen des Binnenmarktes daraus, dass Produkte bzw. Personen im zwischenstaatlichen Verkehr zwei verschiedenen Rechtsordnungen mit ihren jeweiligen Marktzugangsregeln unterworfen werden. Auf der anderen Seite hinterlässt ein einfaches Verbot einer beschränkenden Marktzugangsregel im Zielstaat, wie soeben gesehen, eine problematische Regelungslücke. Diese Lücke, die durch die Derogation der Marktregeln im Zielstaat entsteht, kann derweil dadurch geschlossen werden, dass das jeweilige Produkt bzw. die Person, die eine innergemeinschaftliche Grenze überschreitet, die für sie einschlägigen Marktzugangsregeln gleichsam importiert. Anstelle eines einfachen Verbotes produkt- und personenverkehrsbeschränkender Regelungen ist den Grundfreiheiten daher ein qualifiziertes Verbot beizulegen, welches Bezug auf die Marktregeln des jeweiligen Herkunftsstaates nimmt. Wendet man nun für das Produkt bzw. die Person, die im Rahmen des innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehres eine Grenze überschreitet, nur noch die Marktzugangsregeln des jeweiligen Herkunftsstaates an, unterfällt das Produkt oder die Person nur noch einer Marktordnung, nämlich der des Herkunftsstaates.415 Als Rechtsfolge sehen die Grundfreiheiten dann in Bezug auf das jeweilige Produkt bzw. die jeweilige Person den Ersatz der binnenmarktwidrigen Maßnahmen durch die im konkreten Fall vergleichbaren Marktordnungsregeln des Herkunftsstaates vor. Indem man den Grundfreiheiten eine solche koordinationsrechtliche Funktion beilegt, kann das oben beschriebene Manko der Grundfreiheiten hinsichtlich ihrer begrenzten Rechtswirkung überwunden werden.416 Dies wiederum ist gleichbedeutend mit der Anwendung des durch die Rechtsprechung eingeführten Herkunftsprinzips.417 Im Weißbuch der Kommission zur Vollendung des Binnenmarktes418 wird dieses Prinzip folgendermaßen umschrieben: Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 62. Zum Begriff des Koordinationsrecht s. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 59 ff. 417 Vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 35. 418 Kommission der EG, Vollendung des Binnenmarktes, Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat, Juni 1985, KOM (1985) 310 endg., S. 5 ff. Dieses diente schließlich der von den Vertretern aller Mitgliedstaaten abgegebenen und der Schlussakte zur EEA beigefügten Erklärung als Leitlinie für die Errichtung des Binnenmarktes (v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf Art. 14 EGV, Rn. 9). Weitere Nachfolgedokumente, die Bezug nehmen auf das Binnenmarkt-Weißbuch: KOM / 88 / 0320 / endg.; CES / 85 / 1020; Abl., C 344, 1985; Abl. C 36, 1986; Abl. C 305, 1987; CES / 88 / 1233; KOM / 86 / 0300 / endg.; KOM / 87 / 0203 / endg.; 415 416

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten „Wenn ein Erzeugnis in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist, ist nicht einzusehen, warum es nicht überall in der Gemeinschaft verkauft werden sollte. Die Ziele nationaler Vorschriften – wie der Schutz der menschlichen Gesundheit, des menschlichen Lebens und der Umwelt – decken sich in den meisten Fällen. Hieraus folgt, daß die Vorschriften und Kontrollen, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen, zwar verschiedene Formen annehmen können, im Kern aber auf das gleiche hinauslaufen und daher normalerweise in allen Mitgliedstaaten anerkannt werden sollten.“419

Die Anwendung dieses Prinzips ermöglicht es in einem bestimmten Umfang, die Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Handels, die sich aus der Inhomogenität des Gemeinschaftsmarktes ergeben, dadurch auszugleichen, dass ein Produkt oder ein Wirtschaftssubjekt bei Grenzübertritt jeweils nur den Bestimmungen der Teilmarktordnung seines Herkunftsstaates unterliegt. Gleichzeitig wird verhindert, dass durch die unqualifizierte Derogation binnenmarktwidriger Marktregelungen eine Lücke in der jeweiligen Rechtsordnung zurückbleibt, auf deren Schließung nur bedingt Einfluss genommen werden kann. Anstelle dessen wird die Marktregel des Zielstaates, die dem Binnenmarktziel zuwiderläuft, für den grenzüberschreitenden Akt durch die entsprechenden Marktzugangsregeln des Herkunftsstaates ersetzt. Nur wo solche entsprechenden Regelungen nicht existieren, werden binnenmarktwidrige Maßnahmen ersatzlos derogiert.420 cc) Ergebnis Den Grundfreiheiten sind gleichheitsrechtliche wie freiheitsrechtliche Inhalte zu entnehmen. Als Gleichheitsrechte enthalten sie spezifische Verbote offener und mittelbarer Ungleichbehandlungen von Personen und Produkten, wenn diese eine innergemeinschaftliche Grenze überschreiten. Freiheitsrechtliche Gewährleistungen enthalten die Grundfreiheiten als koordinationationsrechtlich qualifizierte Beschränkungsverbote, indem sie im konkreten Fall binnenmarktwidrige Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Produkt- oder Personenverkehres derogieren und durch vorhandene Marktordnungsregeln des Herkunftsstaates ersetzen. KOM / 88 / 0134 / endg.; KOM / 89 / 0311 / endg.; KOM / 89 / 0311 / endg. / 2; KOM / 90 / 0090 / endg.; KOM / 91 / 0237 / endg.; KOM / 92 / 0383 / endg.; PE / 92 / A3 – 0417; PE / 92 / A3 – 0417 / Anl.Abl. C 21, 1993. 419 KOM (1985) 310 endg., S. 17, Rn. 58; dieses Prinzip hat bereits in zahlreichen Sekundärrechtsakten Niederschlag gefunden s. dazu Grabitz, in: FS Steindorff, S. 1229, 1238, mwN. 420 Insbesondere in den Fällen, in denen die Beschränkung nicht von dem Zielstaat ausgeht. Vgl. EuGH, Rs. C-384 / 93 – Alpine Investments –, Slg. 1995, I-1141; Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921.

Kap. II: Grundfreiheiten

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b) Grundfreiheiten als Schutzgewährrechte In der Rs. Kommission / Frankreich421 hat der EuGH erstmals einer Grundfreiheit eine Handlungspflicht der Mitgliedstaaten entnommen. Als es an der spanisch-französischen Grenze wiederholt zu massiven Behinderungen und Übergriffen durch französische Bauern auf spanische Erdbeerlieferungen kam, ohne dass die französische Polizei wirksam dagegen vorging, klagte die Kommission deswegen gegen Frankreich wegen Verletzung des Vertrages. Der EuGH gab der Klage gegen die Französische Republik mit der Begründung statt, dass „sie nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Handlungen von Privatpersonen beeinträchtigt wird.422

Inzwischen hat der EuGH diese Rechtsprechung zu der Schutzpflichtfunktion der Warenverkehrsfreiheit in der Rs. Schmidberger423 bestätigt. Die genaue Begründung der mitgliedstaatlichen Handlungspflicht ist indes problematisch.424 Überdies ist bislang ungeklärt, ob neben der Warenverkehrsfreiheit auch anderen Grundfreiheiten eine Schutzpflichtfunktion beizulegen ist.

2. Grundfreiheiten als Prinzipien Es ist bereits davon gesprochen worden, dass das Binnenmarktziel des EGV als Optimierungsgebot und damit als Prinzip verstanden werden kann.425 Dies ist aus der Tatsache abgeleitet worden, dass das Binnenmarktkonzept auf eine größtmögliche Homogenität der innergemeinschaftlichen Wirtschaftsordnung gerichtet ist, eine totale Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen jedoch nicht möglich ist. Aus dem Prinzipiencharakter des Binnenmarktzieles ergibt sich noch nicht unmittelbar, dass auch die Grundfreiheiten des EGV selbst Prinzipien sind. Auch Regeln können Mittel zur Umsetzung eines Prinzips sein.426 Der Prinzipiencharakter 421

EuGH, Rs. C-265 / 95 – Kommission / Frankreich – Slg. 1997, I-2195 (Agrarblocka-

den). 422 EuGH, Rs. C-265 / 95 – Kommission / Frankreich – Slg. 1997, I-2195, Rz. 66 (Agrarblockaden). 423 EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger – Slg. 2003, I-5659. 424 s. dazu Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 549 ff.; Jaeckel, Schutzpflichten, S. 107 ff. 425 s. oben S. 83 ff.; zu dem Normbegriff des Prinzips als Optimierungsgebot s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. 426 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 122 ff.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

der Grundfreiheiten ergibt sich vielmehr eigenständig aus der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei deren Prüfung.427 Prinzipiencharakter und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz implizieren einander, indem sich aus der Qualität der Prinzipien als Optimierungsgebote eine Pflicht zur Abwägung mit gegenläufigen Normen ergibt.428 Mithin können sowohl das Vertragsziel des Binnenmarktes als auch die Grundfreiheiten als Mittel zu dessen Erreichung als Prinzipien charakterisiert werden.429

3. Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten a) Mitgliedstaaten An anderer Stelle ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Grundfreiheiten mit Ausnahme des Art. 39 EGV ihrem Wortlaut nach ausdrücklich auf den Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten Bezug nehmen. Dementsprechend ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten durch die Grundfreiheiten als deren Grundaussage unumstritten.430 b) Gemeinschaft Der EuGH hat verschiedentlich betont, dass auch die Gemeinschaftsorgane an die Grundfreiheiten gebunden seien, soweit ihre Handlungen Binnenmarktrelevanz entfalten.431 Einen entsprechenden Verstoß hat er indes bislang noch nicht festgestellt.432 Im Schrifttum ist die Bindung der Gemeinschaftsorgane an die Grundfreiheiten des EGV auf breite Zustimmung gestoßen.433 Im Einzelnen ist die Funktion der Grundfreiheiten als Schranke insbesondere des Gemeinschaftsgesetzgebers jedoch durchaus nicht unproblematisch.434 Dem kann hier jedoch nicht aus427 Zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips s. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 165. 428 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 115; im Einzelnen: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100. 429 Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 164 f.; Hoffmann S. 40 bezeichnet die Grundfreiheiten in Fn. 124 als Subprinzipien des Binnenmarktzieles als übergeordnetem Prinzip. 430 Möstl, in: EuR 2002, S. 318, 322; Streinz, Europarecht, Rn. 706. 431 EuGH, Rs. 37 / 82 – REWE-Zentral AG –, Slg. 1984, 1229, Rz. 18; Rs. C-51 / 93 – Meyhui –, Slg. 1994, I-3879, Rz. 11; Rs. C-114 / 96 – Kieffer und Thill –, Slg. 1997, I-3629, Rz. 27; Rs. C-284 / 95 – Safety Hi-Tech Srl / S.&T. Srl –, Slg. 1998, I-4301, Rz. 63; Rs. 15 / 83 – Denkavit –, Slg. 1984, 2171, Rz. 15 u. 17; verb. Rs. 80 u. 81 / 77 – Ramel –, Slg. 1978, 927. 432 Kingreen, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 653. 433 Ehlers, in: Jura 2001, S. 266, 275; Jarass, in: EuR 1995, S. 201, 211; ders., in: EuR 2000, S. 705, 715; Kingeen / Störmer, in: EuR 1998, S. 263, 277 f.; Di Fabio, in: AfP 1998, S. 564, 565 ff.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 83; Gramlich, in: DÖV 1996 S. 801, 805.

Kap. II: Grundfreiheiten

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führlich nachgegangen werden. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist mit dem Gerichtshof von einer grundsätzlichen Bindung der Gemeinschaft an die Grundfreiheiten auszugehen. c) Der Einzelne Der EuGH hat die Bindung Privater mittlerweile für die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EGV anerkannt. Zum einen tat er dies in der Rs. Bosman.435 Der EuGH entschied dort, dass die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit „nicht nur für behördliche Maßnahmen gilt, sondern sich auch auf Vorschriften anderer Art erstreckt, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit dienen. Der Gerichtshof hat nämlich ausgeführt, daß die Beseitigung der Hindernisse für die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten gefährdet wäre, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse zunichte gemacht werden könnte, die sich daraus ergeben, daß nicht dem öffentlichen Recht unterliegende Vereinigungen und Einrichtungen von ihrer rechtlichen Autonomie Gebrauch machen.“436

Die uneingeschränkte unmittelbare Drittwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit als Diskriminierungsverbot stellte der EuGH dann in der Rs. Angonese fest, indem er sagte: „Das in Artikel 48 [Art. 39 n.F.] des Vertrages ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gilt [ . . . ] auch für Privatpersonen.“437

Entsprechend eindeutige Aussagen sind durch den Gerichtshof zu den anderen Grundfreiheiten bislang nicht getroffen worden.438 434 Möstl, in: EuR 2002 S. 318, 322; für differenzierte Rechtsfolgen bei Anwendung der Grundfreiheiten auf Gemeinschaftsrechtsakte bspw.: Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 101 f.; Holoubek, in: Schwarze, Art. 49 EGV, Rn. 42 f.; Matthies, in: GS Sasse, S. 115, 129; Müller-Graff, in: GTE, Art. 30 EGV, Rn. 295; Scheffer, S. 131 ff. Zum allgemeinen Meinungsstand s. Scheffer, Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessengrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers, S. 104 ff. 435 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, 4921. 436 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, Rn. 82 f.; vgl. a. die vorangegangene Rechtsprechung zur Frage der Drittwirkung des Art. 39 EGV: EuGH, Rs. 36 / 74 – Walrave und Koch / UCI –, Slg. 1974, 1405; Rs. 13 / 76 – Donà / Mantero –, Slg. 1977, 1333; Rs. 251 / 83 – Eberhard Haug-Adrion / Frankfurter Versicherungs AG –, Slg. 1984, 4277; Rs. 33 / 88 – Pilar Allué und Carmel Mary Coonan / Università degli studi di Venezia –, Slg. 1989, 1591; verb. Rs. C-259 / 91, C-331 / 91 u. C-332 / 91 – Pilar Allué u. a. / Università degli studi di Venezia u. Università degli studi di Parma –, Slg. 1993, I-4309; dazu: Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 45 ff. 437 EuGH, Rs. C-281 / 98 – Angonese –, Slg. 2000, I-4139, Rz. 36. 438 Ansätze für eine weitergehende Zuerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung von Gemeinschaftsrecht werden teilweise folgenden Entscheidungen entnommen: Für Art. 28: Rs. 58 / 80 – Dansk Supermarked –, Slg. 1987, 181, insb. Rz. 17; Rs. 177 u. 178 / 82 – Jan van de Haar u. Kaveka de Meern BV. –, Slg. 1984, 1797; Rs. 251 / 83 Eberhard Haug-

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Die Frage nach der unmittelbaren Drittwirkung ist zweifellos mit noch größeren Problemen verbunden als die der Bindung der Gemeinschaft. Dementsprechend umstritten bleibt die Bindung Privater an die Grundfreiheiten innerhalb der Literatur.439 Auch auf diese Frage kann hier nicht näher eingegangen werden. Dementsprechend soll für die Untersuchung des Verhältnisses von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten von dem soeben beschriebenen Stand der Rechtsprechung ausgegangen werden.

4. Struktur der Grundfreiheiten a) Anwendungsbereich aa) Sachlich Im Allgemeinen ist auf die Gewährleistungen der Grundfreiheiten bereits oben ausführlich eingegangen worden.440 Der konkrete Schutzbereich ergibt sich aus dem Text der jeweiligen Grundfreiheitsnorm. Allerdings kann die genaue Abgrenzung der verschiedenen Grundfreiheiten untereinander insbesondere im Verhältnis von Art. 39, 43 und 49 EGV Schwierigkeiten bereiten.441 Der EuGH hat mittlerweile darauf hingewiesen, dass sich die Schutzbereiche der Art. 39, 43 und 49 EGV gegenseitig ausschlössen.442 Für die Dienstleistungsfreiheit statuiert Art. 50 I EGV ausdrücklich die Subsidiarität gegenüber den anderen Freiheiten.443 Im Verhältnis von Art. 28 und Art. 49 EGV nimmt der EuGH eine Abgrenzung anhand des Schwerpunktes der zur Überprüfung stehenden Maßnahme vor.444 Des Weiteren sieht der Vertrag negative Tatbestandsvoraussetzungen, sogenannte Bereichsausnahmen, vor.445 So ist der Bereich der öffentlichen Verwaltung Adrion / Frankfurter Versicherungs AG –, Slg. 1984, 4277; Für Art. 43: EuGH, Rs. 90 / 76 – van Ameyde / UCI –, Slg. 1977, 1091. Für sonstiges unmittelbar wirkendes Gemeinschaftsrecht: EuGH, Rs. 102 / 81 – „Nordsee“ Deutsche Hochseefischerei GmbH / Reederei Mond Hochseefischerei Nordstern AG&Co. KG –, Slg. 1982, 1095; Rs. C-16 / 94 – Édouard Dubois et fils SA u. Général cargo services SA / Garanor exploitation SA –, Slg. 1995, I-2421 ff. Demgegenüber zutreffend ablehnend: Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 34 ff.; vgl. a. Jaensch, 69 f. 439 Zum Meinungsstand s. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 98 ff. Aus dem jüngsten Schrifttum äußert sich Remmert, in: Jura 2003 S. 13 ff. ablehnend. 440 s. oben S. 67 ff. 441 Vgl. EuGH, Rs. C-106 / 91 – Ramrath –, Slg. 1992, I-4921. 442 EuGH, Rs. C-55 / 94 – Gebhard –, Slg. 1995, I-4165, Rz. 20. 443 Hakenberg, in: Lenz, Art. 49 / 50 EGV, Rn. 8. 444 EuGH, Rs. C-275 / 92 – Schindler –, Slg. 1994, I-1039, Rz. 22; Rs. C-55 / 93 – van Schaik –, Slg. 1994, 4837, Rz. 14. 445 Vgl. bspw. Streinz, Europarecht, Rn. 692 ff.

Kap. II: Grundfreiheiten

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gemäß Art. 39 IV EGV aus dem Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit herausgenommen. Gem. Art. 45 I EGV unterfällt der Bereich der öffentlichen Gewalt nicht dem Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit; dasselbe gilt gemäß Art. 55 EGV für die Dienstleistungsfreiheit. Im Gegensatz zu Rechtfertigungsvorbehalten zu den Grundfreiheiten gelten diese Bereichsausnahmen absolut.446 Eine Abwägung zwischen Grundfreiheiten und entgegenstehenden Rechtspositionen findet hier nicht statt, denn die Grundfreiheiten sind insoweit schon tatbestandlich gar nicht anwendbar. Der entscheidende Unterschied in der Anwendung von Bereichsausnahmen und Rechtfertigungstatbeständen liegt mithin in der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH bislang erst selten eine der Bereichsausnahmen der Grundfreiheiten als einschlägig angesehen hat.447 Schließlich setzt die Anwendung der Grundfreiheiten den Übertritt einer innergemeinschaftlichen Grenze durch ein Produkt oder eine Person voraus.448 Rein innerstaatliche Sachverhalte bleiben außer Betracht.449 Das Diskriminierungsverbot als eine Teilgewährleistung der Grundfreiheiten setzt einen grenzüberschreitenden Bezug bereits logisch voraus. Das darüber hinausgehende Beschränkungsverbot bezieht sich auf Behinderungen, welche sich aus der Doppelbelastung ergeben, die darauf beruht, dass Produkte bzw. Personen im innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehr den Marktregeln sowohl des Herkunfts- als auch des Zielstaates unterliegen.450 Auch hier ist die Überschreitung einer zwischenstaatlichen Grenze mithin – zumindest mittelbarer – Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten.451 Hinweise auf das Erfordernis des grenzüberschreitenden Bezuges liefern des Weiteren sowohl der Wortlaut der grundfreiheitlichen Vorschriften452 als auch die Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 77. Schwarze, in: ders., Art. 45 EGV, Rn. 2. 448 H.M., z. B.: Möstl, in: EuR 2002, S. 318, 331; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 98 ff., mwN; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 84; a.A. Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, S. 86; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 226, mwN; Becker, in EuR 1994, S. 162, S. 170; Hailbronner / Nachbaur, in: EuZW 1992, S. 105, 107; Bleckmann, in: RIW 1985, S. 917, 920; Heydt, in: EuZW, 1993, S. 105. 449 Für Art. 28 EGV: EuGH, Rs. 255 / 85 – Draincourt / Cognet –, Slg. 1986, 321, Rz. 10; für Art. 39 EGV: EuGH, Rs. 35 f. / 82 – Morson –, Slg. 1982, 3723, Rz. 15 f.; Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, Rz. 89; für Art. 43 EGV: EuGH, Rs. C-112 / 91 – Werner –, Slg. 1993, I-429, Rz. 16; für Art. 49 EGV: EuGH, Rs. C-41 / 90 – Höfner – Slg. 1991, I-1979, Rz. 37. 450 s. oben S. 83. 451 Vgl. in diesem Zusammenhang noch Jarass, der in: EuR 1995 S. 202, 218, den Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten auf Schlechterstellungsverbote grenzüberschreitender gegenüber innerstaatlichen Sachverhalten verstehen wollte. Diese Ansicht revidiert er jedoch in: EuR 2000, S. 705, 710 ff. 452 Mit Ausnahme des Art. 39 EGV. 446 447

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Zielbestimmungen der Art. 3 I lit. a und c EGV, die von der Beseitigung von Beschränkungen und Hindernissen des Verkehrs „zwischen den Mitgliedstaaten“ sprechen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Schaffung eines Systems eines unverfälschten Wettbewerbes gemäß Art. 3 lit. g EGV als grundlegendes Element des Binnenmarktzieles einen grenzüberschreitenden Bezug nicht voraussetzt.453 Wenn das Binnenmarktkonzept als solches damit insoweit grenzüberschreitende Sachverhalte nicht zwingend voraussetzt, bedeutet dies nicht, dass dasselbe für die Grundfreiheiten gelten muss.454 Es ist nämlich bereits darauf hingewiesen worden, dass zwischen dem freien Verkehr mit Produkten und Personen als wesentlichem Element des Gemeinschaftszieles Binnenmarkt455 und den primärrechtlichen Grundfreiheiten als einem vertraglichen Mittel zur Erreichung dieses Zieles zu differenzieren ist.456 Diese vertragliche Differenzierung würde schließlich auch übersehen, wollte man aus der Formulierung „Raum ohne Binnengrenzen“ darauf folgern, dass „die Tatsache der Grenzüberschreitung an sich in der Gemeinschaft keine Rolle mehr spielen soll“457. Aus der Charakterisierung der Grundfreiheiten als teils diskriminierungs- teils koordinationsrechtlich qualifizierte Beschränkungsverbote folgt mithin, dass die Anwendung der Grundfreiheitsbestimmungen voraussetzt, dass der zugrunde liegende Sachverhalt einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist.

bb) Persönlich Für alle Grundfreiheiten ist mittlerweile durch den EuGH bestätigt worden, dass es sich bei ihnen um unmittelbar wirkendes Gemeinschaftsrecht im Sinne der van Gend-en-Loos-Rechtsprechung458 handelt.459 Damit kann sich grundsätzlich jeder Unionsbürger auf die Verbürgungen der Grundfreiheiten berufen, soweit er ihnen tatbestandlich unterfällt.460 Unproblematisch ist dies allerdings nur dort, wo die Beschränkung von einem Mitgliedstaat ausgeht. Die Gemeinschaft als Verpflich453 Für eine weite Auslegung unter Bezugnahme auf Art. 3 lit. g EGV: Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 211; Nicolaysen, in: EuR 1991, S. 95, 102 ff. 454 So aber Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 211. 455 Zu den Grundfreiheiten in dieser Bedeutung vgl. Immenga, in: JA 1993, S. 257, 259 f. 456 s. oben s. 84. 457 So aber Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 226. 458 EuGH, Rs. 26 / 62 – van Gend & Loos / Niederländische Finanzverwaltung –, Slg. 1963, 3, Rz. 10. 459 EuGH, Rs. 74 / 76 – Ianelli –, Slg. 1977, 557, Rz. 13; Rs. 48 / 75 – Royer –, Slg. 1976, 497, Rz. 31 / 33; Rs. 2 / 74 – Reyners –, Slg. 1974, 631, Rz. 16 / 20; Rs. 33 / 74 – van Binsbergen –, Slg. 1974, 1299, Rz. 24 / 26; verb. Rs. 164 / 94 – Sanz de Lera –, Slg. 1995, I-4821, Rz. 43. 460 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 79.

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tete der Grundfreiheiten ist nur im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten des gemeinschaftlichen Individualrechtsschutzverfahrens gemäß Art. 230 IV EGV von Einzelnen in Verantwortung zu nehmen. Soweit den Grundfreiheiten eine unmittelbare Drittwirkung zukommt, sind die Mitgliedstaaten allerdings verpflichtet, innerhalb ihrer jeweiligen Rechtordnungen für eine effektive Durchsetzbarkeit der entsprechenden Individualansprüche zu sorgen.461 Darüber hinaus wird der persönliche Schutzbereich aller Grundfreiheiten i.E. auch auf privatrechtlich organisierte, juristische Personen zu erstrecken sein. So widerspräche es dem Sinn und Zweck im Lichte des effet utile Gebotes, wollte man die Gewährleistungen der Warenverkehrsfreiheit auf natürliche Personen beschränken und beispielsweise Handelsgesellschaften von deren Schutz ausnehmen.462 Für die Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit geht dies ausdrücklich aus Art. 48 EGV hervor. In Art. 39 EGV spricht der Begriff des Arbeitnehmers zwar gegen den Schutz auch von Personenmehrheiten. Mit der Begründung, dem sei kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass sich nicht auch andere Personen, insbesondere Arbeitgeber, auf sie berufen können, hat der EuGH allerdings mittlerweile in der Rs. Clean Car Autoservice eine Kapitalgesellschaft dem Schutz des Art. 39 EGV unterstellt.463

b) Schranken der Grundfreiheiten Die Grundfreiheiten des EGV sind nicht vorbehaltlos gewährleistet. Sie unterliegen verschiedenen Beschränkungsvorbehalten. Den ausdrücklichen Rechtfertigungstatbeständen des Vertrages hat der EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände zur Seite gestellt.

aa) Vertragliche Rechtfertigungstatbestände Jedes Kapitel grundfreiheitlicher Bestimmungen beinhaltet spezielle, ausdrückliche Rechtfertigungstatbestände (Art. 30, 39 III, 46, 58 EGV). Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die ausdrücklichen Rechtfertigungstatbestände des EGV eng auszulegen.464 Vgl. EuGH, Rs. 106 / 77 – Simmenthal –, Slg. 1978, 62, Ls. 4. Ehlers, Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte, S. 163, Rn. 37; Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 7; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 81. 463 EuGH, Rs. C-350 / 96 – Clean Car Autoservice / Landeshauptmann von Wien –, Slg. 1998, 2521, Rz. 19. 464 Grundlegend: EuGH, Rs. 41 / 74 – van Duyn / Home Office –, Slg. 1974, 1337, Rz. 19; seitdem mehrfach bestätigt worden, vgl. zu Art. 30 bereits: EuGH, Rs. 13 / 68 – Salgoil / Außenhandelsministerium der italienischen Republik –, Slg. 1968, 679 694 sowie Rs. 113 / 89 – Kommission / Irland –, Slg. 1981, 1625, Rz. 7; Rs. 95 / 81 – Kommission / Italien –, Slg. 1982, 461 462

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

Auf die einzelnen Rechtfertigungsgründe und die Probleme, die sich im Zusammenhang mit diesen Beschränkungsvorbehalten stellen, kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden.465 Bedeutsam für die hier anzustellende Untersuchung erscheint allein, dass mit dem Tatbestand der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit ein allen Grundfreiheiten gemeinsamer Beschränkungsvorbehalt vorliegt.

bb) Ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände (Zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses) Der dramatischen Erweiterung des Tatbestandes durch die Entwicklung der Grundfreiheiten zu Beschränkungsverboten musste der EuGH auf der Rechtfertigungsebene ein Gegengewicht entgegenstellen.466 Im Widerspruch zu dem engen Verständnis der geschriebenen Rechtfertigungsgründe hat der EuGH daher ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände entwickelt.467 Bereits aus der diesbezüglich grundlegenden Entscheidung in der Rs. Cassis de Dijon, in der er die wirksame steuerliche Kontrolle, den Schutz der öffentlichen Gesundheit,468 die Lauterkeit des Handelsverkehres und den Verbraucherschutz als zwingende Erfordernisse des Gemeinwohles qualifizierte, ging hervor, dass das Rechtsfertigungsinstitut der zwingenden Erfordernisse offen ist für Fortentwicklungen.469 Dementsprechend hat der EuGH in der Folge dieser Entscheidung verschiedene weitere solcher Gründe anerkannt. Beispielhaft sind hierzu zu nennen: der Um2187, Rz. 27; Rs. 229 / 83 – Association des Centres distributeurs Eduard Leclerc u. a.. / SARL „Au blé vert“ u. a. –, Slg. 1985, 1, Rz. 30; zu Art. 39 III: EuGH, Rs. 67 / 74 – Bonsignore / Oberstadtdirektor der Stadt Köln –, Slg. 1975, 297, Rz. 6; Rs. 36 / 75 – Rutili –, Slg. 1975, 1219, Rz. 26 / 28; Rs. 30 / 77 – Bouchereau –, Slg. 1977, 1999, Rz. 33 / 35; zu Art. 45 EGV als Ausnahme zu Art. 43 EGV: EuGH, verb. Rs. 115 u. 116 / 81 – Adoui u. Cornuaille / Belgischer Staat –, Slg. 1982, 1665, Rz. 8; zu Art. 45 EGV als Ausnahme zu Art. 49 EGV: EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, 2925, Rn. 24; zu Art. 58 I lit. b: EuGH verb. Rs. C-163, 165 u. 250 / 94 – Sanz de Lera u.a. –, Slg. 1995, I-4837, Rz. 22. Allgemein zu der Auslegung von Ausnahmebestimmungen im Gemeinschaftsrecht s. Schilling, in: EuR 1996, S. 44 ff. 465 Dazu eingehender Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 149 ff.; insb. für den Rechtfertigungsvorbehalt der öffentlichen Ordnung s. Schneider, Die öffentliche Ordnung als Schranke der Grundfreiheiten im EG-Vertrag, Baden-Baden 1998. 466 Becker, in Schwarze, Art. 30 EGV, Rn. 35; Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, S. 83. 467 Vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 114. 468 Bei dieser Aussage lässt sich angesichts der ausdrücklichen Aufführung in Art. 30 EGV wohl mittlerweile von einem Versehen sprechen. Der EuGH hat im Nachhinein verschiedentlich klargestellt, dass er den Gesundheitsschutz nicht als zwingendes Erfordernis prüfen wolle. So bspw. in EuGH, Rs. 25 / 88 – Wurmser –, Slg. 1989, 1105, Rz. 10; Rs. C-1 / 90 u. C-176 / 90 – Aragonesa –, Slg. 1991, I-4551, Rz. 13. 469 EuGH, Rs. 120 / 78 – Cassis de Dijon –, Slg. 1979, 649, Rz. 8 „insbesondere“.

Kap. II: Grundfreiheiten

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weltschutz470, die Erhaltung der Medien- und Pressevielfalt471 oder auch die Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichtes von sozialen Sicherungssystemen472. (1) Herleitung Auch wenn klare Aussagen zur Herleitung der zwingenden Erfordernisse von dem EuGH – wie er dies für die Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte getan hat – nicht vorliegen, lassen sich in der Rechtsprechung Anhaltspunkte für Rechtsquellen der zwingenden Erfordernisse ausmachen. Insbesondere im Hinblick auf gemeinschaftsgrundrechtliche Fragen ist bemerkenswert, dass der EuGH zur Herleitung zwingender Erfordernisse sowohl auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen473 als auch auf völkerrechtliche Verpflichtungen474 zurückgreift, soweit sich entsprechende Ansatzpunkte dem primären und sekundären Gemeinschaftsrecht nicht entnehmen lassen.475 Hier tritt eine gewisse Verwandtschaft zur Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrecht zutage. Ohne dass diesem Ansatz hier näher nachgegangen werden kann, erscheint es doch denkbar, dass sich das Institut der zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses ebenso wie die Gemeinschaftsgrundrechte auf die dem gemeinschaftsrechtlichen Loyalitätsgebot entspringende Berücksichtigungspflicht der Gemeinschaft hinsichtlich wichtiger Erfordernisse mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen zurückführen lassen könnte.476

470 EuGH, Rs. Rs. 302 / 86 – Kommission / Dänemark –, Slg. 1988, 4607, Rz. 7; zu dem zwingenden Erfordernis des Umweltschutzes s. insbesondere Becker, Gestaltungsspielraum der EG-Mitgliedstaaten, S. 77 ff. 471 EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 18. Dieses „zwingende Erfordernis“ soll sich für das Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten als besonders gewichtig herausstellen; vgl. dazu unten S. 128 ff. 472 EuGH, Rs. C-120 / 95 – Decker / Caisse de maladie des employés privés –, Slg. 1998, I-1831, Rz. 39. 473 EuGH, Rs. C-126 / 91 – Yves Rocher –, Slg. 1993, I-2361, Rz. 18; Rs. C-315 / 92 – Clinique –, Slg. 1994, I-317, Rz. 21 u. 22.; vgl. a. Rs. 60 – 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération des Cinemas francais (Cinéthèque) –, Slg. 1985, 2605, Rz. 19 f. Ausführlich dazu: Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, S. 258 ff. 474 EuGH, Rs. 6 / 81 – Beele –, Slg. 1982, 707, Rz. 9. 475 Becker, in: Schwarze, Art. 30 EGV, Rn. 37; Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, S. 257 ff. 476 Zu der Nähe von zwingenden Erfordernissen und allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechtes vgl. a. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, S. 258 ff.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

(2) Dogmatische Einordnung Es existieren widersprüchliche Aussagen des EuGH zu der Frage, ob die zwingenden Erfordernisse bereits den Tatbestand der jeweiligen Grundfreiheit begrenzen oder ob sie als weitere Rechtfertigungstatbestände anzusehen sind.477 Vermutlich ist der Grund für die fehlende Klarheit der diesbezüglichen Rechtsprechung darin zu sehen, dass sich der Gerichtshof dem Vorwurf der unzulässigen Rechtsfortbildung aussetzte, würde er die zwingenden Erfordernisse offen als weitere Rechtfertigungstatbestände neben die vertraglich vorgesehenen Eingriffsvorbehalte stellen.478 Die dogmatische Einordnung der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses ist innerhalb des Schrifttums dementsprechend umstritten.479 Als ausschlaggebend ist nach der hier vertretenen Meinung anzusehen, dass der EuGH bei der Anwendung der zwingenden Erfordernisse in der Sache regelmäßig eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführt.480 Rechtspositionen können nur dann zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, wenn deren Einschlägigkeit bereits feststeht. Mit anderen Worten muss die Beeinträchtigung der jeweiligen Grundfreiheit bereits feststehen, damit sie mit einem entgegenstehenden, als zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls anerkannten Rechtsgut ins Verhältnis gesetzt werden kann.481 Sollte demgegenüber die Geltung der Grundfreiheiten erst von der Anwendung der zwingenden Erfordernisse abhängen, entsprächen diese den Bereichsausnahmen des EGV, bei deren Auslegung das Verhältnismäßigkeitsprinzip jedoch folgerichtig nicht in Anschlag gebracht wird.482 Mithin sind die zwingenden Erfordernisse aufgrund der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten einzuordnen.483 477 Wiederholt hat der EuGH von einer Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse gesprochen Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 18; Rs. C-34 – 36 / 95 – De Agostini –, Slg. 1997, I-3875, Rz. 45; Rs. 216 / 84 – Kommission / Frankreich –, Slg. 1988, 793, Rz. 7. In der Rs. 25 / 88 – Wurmser –, Slg. 1989, 1105, Rz. 11, spricht er hingegen von der Auslegung des Art. 28 EGV (Art. 30 EWGV). In der Rs. 60 – 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération des Cinemas francais (Cinéthèque) –, Slg. 1985, 2605 schließlich nimmt der Gerichtshof in Rz. 23 u. 24 Bezug auf beide Herangehensweisen um daraufhin zu dem Ergebnis zu gelangen, dass Art. 28 EGV (Art. 30 EWGV) nicht anwendbar sei; vgl. dazu unten S. 139. 478 So Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, S. 81. 479 Vgl. Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 107, mwN. 480 Siehe Jarass, in: EuR 1995, S. 202, 224. 481 Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 108. 482 Vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 78.

Kap. II: Grundfreiheiten

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(3) Anwendungsbereich Problematisch ist schließlich auch die Bestimmung des genauen Anwendungsbereiches der zwingenden Erfordernisse. Während der EuGH in ständiger Rechtsprechung die Anwendung der zwingenden Erfordernisse ausdrücklich auf unterschiedslos anwendbare Maßnahmen begrenzt,484 sind wiederholt Urteile ergangen, die dieser Aussage widersprechen.485 Verschiedentlich hat der EuGH zwingende Erfordernisse auf formal diskriminierende Maßnahmen angewandt, freilich ohne jeweils den diskriminierenden Charakter dieser Maßnahmen anzuerkennen.486 So verneinte der EuGH im Vertragsverletzungsverfahren Kommission / Belgien487 kurzerhand den diskriminierenden Charakter einer Regelung, welche die Einlagerung ausländischer Abfälle in Belgien verbot, unter Hinweis auf „die Besonderheit der Abfälle“.488 Ohne auf die Art der Einschränkung einzugehen, hat der Gerichtshof schließlich in der Rs. PreussenElektra489 die Bestimmungen über die Abnahmepflicht deutscher Stromanbieter für in ihrem Gebiet erzeugten Strom aus erneuerbaren Energien unter Verweis auf das Regelungsziel des Umweltschutzes als gerechtfertigt angesehen. Auch wenn der EuGH feststellte, dass die Regelung zugleich die in Art. 30 EGV geschützten Rechtsgüter der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen betreffe, wandte der Gerichtshof damit ein zwingendes Erfordernis auf eine formal diskriminierende Maßnahme an.490 Eine endgültige Klärung des richtigen Verständnisses des Anwendungsbereiches der zwingenden Erfordernisse steht weiterhin aus.491 Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch, wenn von einer uneingeschränkten Anwendung zwingender Erfordernisse auf diskriminierende Maßnahmen nach 483 Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 107 ff.; Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, S. 83; Jarass, in: EuR 1995, S. 202, 224; vgl. a. Epiney, in: Calliess / Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 38; a.A.: Dauses, in: ders., HdbEGWR, C., I, Rn. 92; Matthies / v. Borries, in: Grabitz / Hilf, Art. 30 EGV, Rn. 31; vgl. a. Füßer, in: DÖV 1999, S. 96, 99 u. Jürgensen / Schlünder, in: AöR 121 (1996), S. 200, 216 ff. Zu der vergleichbaren Diskussion um die „immanenten Schranken“ der deutschen Grundrechte vgl. Bleckmann, Staatsrecht II, S. 328 ff. 484 Rs. C-1 / 90 u. C-176 / 90 – Aragonesa –, Slg. 1991, I-4551, Rz. 13; vgl. bereits EuGH, Rs. 188 / 79 – Gilli u. Andres –, Slg. 1980, 2071, Rz. 6. 485 Vgl. schon EuGH, Rs. 16 / 83 – Prantl (Bocksbeutel) –, Slg. 1984, 1299, Rz. 21 ff. 486 Ehlers, in: Jura 2001, S. 482, 487; Nowak / Schnitzler, in: EuZW 2000, S. 627 ff.; Streinz, in: FS Rudolf, S. 199, 200 f. 487 EuGH, Rs. 2 / 90 – Kommission / Belgien –, Slg. 1992, 4431. 488 EuGH, Rs. 2 / 90 – Kommission / Belgien –, Slg. 1992, 4431, Rz. 34; vgl. dazu Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 156 f. 489 EuGH, Rs. C-379 / 98 – PreussenElektra –, Slg. 2001, I-2099, Rz. 75. 490 Epiney, in: NVwZ 2002, S. 1429, 1435; Koenig / Kühling, in: NVwZ 2001, S. 768, 770. 491 Nowak / Schnitzler, in: EuZW 2000, S. 627, 630; zu den verschiedenen hierzu vertretenen Ansätzen vgl. Becker, in: Schwarze, Art. 30 EGV, Rn. 42 f.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 157, mwN in Fn. 373.

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1. Teil: Darstellung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten

dem Willen des Gerichtshofes bis auf Weiteres abzusehen ist, die strikte Begrenzung des Anwendungsbereiches der zwingenden Erfordernisse auf unterschiedslos anwendbare Maßnahmen nicht einzuhalten ist.492

c) Schranken-Schranken Die Anwendung der Rechtfertigungstatbestände des Gemeinschaftsrechtes zu den Grundfreiheiten unterliegt verschiedenen Vorbehalten. aa) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Sind die fraglichen mitgliedstaatlichen Regelungen den Rechtfertigungstatbeständen der Grundfreiheiten zu subsumieren, ist anschließend zu prüfen, ob sich diese Regelungen zur Erreichung des verfolgten Zweckes auch als verhältnismäßig darstellen. Eine hervorgehobene Stellung nimmt in der Rechtsprechung des Gerichtshofes hierbei die Erforderlichkeitsprüfung ein.493 bb) Gemeinschaftsgrundrechte Für die vorliegende Untersuchung besonders bedeutsam ist die Rechtsprechung des EuGH nach der die Rechtfertigungstatbestände des Gemeinschaftsrechtes nunmehr auch „im Lichte der [ . . . ] Grundrechte“ auszulegen sind.494 Danach sind die Gemeinschaftsgrundrechte stets als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten heranzuziehen, wenn sich ein Mitgliedstaat zur Rechtfertigung eines Grundfreiheitseingriffes auf Bestimmungen des Gemeinschaftsrechtes beruft.495 Wie noch zu zeigen sein wird, hat diese Rechtsprechung Bedeutung sowohl für die Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken als auch für ihre Funktion als Schranken der Grundfreiheiten. Beide Funktionen werden im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit eingehend besprochen. Vgl. dazu auch unten S. 131 f. Siehe dazu die Rechtsprechungsübersicht bei Koch, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 417 ff. 494 EuGH, Rs. 60 – 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération des Cinemas francais (Cinéthèque) –, Slg. 1985, 2605, Rz. 24. 495 EuGH, Rs. 60 – 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération des Cinemas francais (Cinéthèque) –, Slg. 1985, 2605, Rz. 24; Rs. 159 / 90 – Society for the Protection of Unborn Children Ireland / Grogan u. a. –, Slg. 1991, 4685, Rz. 31; Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 24. 492 493

Kap. II: Grundfreiheiten

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5. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? Art. II-15 II EVVE lautet: „Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen.“

Ein grenzüberschreitender Bezug ist für diese Rechtsgewährleistungen offenbar nicht mehr notwendig.496 Daneben belässt der Verfassungsentwurf die grundfreiheitlichen Bestimmungen des EGV dem Kapitel über den Binnenmarkt am Anfang des Teil 3 im Wesentlichen unberührt. Diese Grundfreiheitsbestimmungen des dritten Teiles stellen allerdings auch weiterhin in erster Linie die zentralen Mittel der Erreichung des Binnenmarktzieles nach Art. 3 II EVVE dar. Damit sind sie auch in Zukunft an die Anforderungen gebunden, die sich aus dieser Funktion ergeben, wie sie soeben hergeleitet wurden. Damit wird bei Verbindlicherklärung zu differenzieren sein zwischen den Grundfreiheiten als Grundrechten der Grundrechtecharta, insbesondere mit den sich danach ergebenden Schrankenbestimmungen, und den Grundfreiheiten des Teil III der Verfassung, deren Gewährleistungsinhalt auch weiterhin dem der aktuell geltenden Grundfreiheiten entsprechen wird.497

496 497

Grabenwarter, in: DVBl. 2001, S. 1, 5. Für weitere Schlussfolgerungen siehe unten S. 136.

Zweiter Teil

Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten Nachdem im ersten Teil die relevanten Eigenschaften von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten herausgearbeitet wurden, soll nun auf dieser Grundlage das Verhältnis beider Normengruppen zueinander untersucht werden. Dabei soll es nur um das unmittelbare Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten gehen. Inwiefern beide Rechtsgruppen darüber hinaus beispielsweise bei der Auslegung von Sekundärrecht miteinander in Beziehung treten, ist nicht Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung.1

Kapitel I

Tatbestandliches Verhältnis und Konkurrenzen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten 1. Tatbestandliche Schnittbereiche von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten Gemeinschaftsgrundrechte und Grundfreiheiten können nur dort miteinander in Beziehung treten, wo sie parallele Geltung entfalten. Um die praktische Bedeutung der folgenden Untersuchungen einordnen zu können, ist daher zunächst noch einmal kurz zusammenzufassen, in welchen Bereichen es überhaupt zu einer parallelen Anwendung beider Normengruppen kommen kann: Die parallele Einschlägigkeit von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten ist erst durch die Erweiterung des Adressatenkreises sowohl der Grundfreiheiten als auch der Gemeinschaftsgrundrechte möglich geworden.

1 Vgl. dazu: EuGH, Rs. C-45 / 90 – Paletta –, Slg. 1992, I-3423; Rs. C-206 / 94 – Paletta II –, Slg. 1996, I-2357 und die Ausführungen zu diesen Urteilen bei Bornemann, Grundrechtsquellen, S. 174 ff. Zu der Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten des Vertrages s. a. Möstl, in: EuR 2002, S. 318, 322, mwN in Fn. 17.

Kap. I: Konkurrenzen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

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Die Bestimmungen der vertraglichen Grundfreiheiten richteten sich dem ursprünglichen Verständnis nach ausschließlich an die Mitgliedstaaten. Adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte waren ursprünglich ausschließlich die Gemeinschaftsorgane. In dieser Situation fehlte es an der notwendigen Überschneidung der Adressatenkreise, so dass es zu einer parallelen Anwendung nicht kommen konnte. Dies änderte sich erst, indem der EuGH feststellte, dass auch die Gemeinschaftsorgane selbst an die grundfreiheitlichen Bestimmungen gebunden seien, soweit sie binnenmarktwidrige Maßnahmen treffen.2 Später trat hierzu die Rechtsprechung des EuGH, nach der nunmehr auch die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes – und damit der Grundfreiheiten – an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sein sollen.3 Zu einer parallelen Anwendbarkeit von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten kommt es mithin in eben diesen Fällen der Überschneidung der Adressatenkreise beider Normengruppen, also immer dann, wenn die Gemeinschaftsorgane binnenmarktrelevante Maßnahmen ergreifen bzw. sich die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft auf Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten berufen.

2. Rechtsprechung Im Rahmen der Konkurrenzproblematik stellt sich die Frage, inwieweit den Grundfreiheiten des EGV Grundrechtsqualität zuzusprechen ist. Es existieren vereinzelte Aussagen des Gerichtshofes, in denen er grundfreiheitliche Verbürgungen als Grundrechte bezeichnet.4 In der Rs. ADBHU5 stellte der Gerichtshof beispielsweise fest: „Die Grundsätze des freien Warenverkehres und des freien Wettbewerbs sowie die grundrechtliche Handelsfreiheit stellen allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechtes dar, über deren Einhaltung der Gerichtshof wacht.“6

s. oben S. 92. s. unten S. 137 ff. 4 EuGH, Rs. C-416 / 96 – Nour Eddline El-Yassini / SoHD –, Slg. 1999, I-1209, Rz. 45; EuGH, Rs. 240 / 83 – Procureur de al Republique / ADBHU –, Slg. 1985, 531, Rz. 9; Rs. 222 / 86 UNECTEF / Heylens –, Slg. 1987, 4098, 4117, Rz. 14; Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, 4921, Rz. 129; vgl. dazu Coppel / O’Neill, in: CMLR 29 (1992), S. 669, 689 f. 5 EuGH, Rs. 240 / 83 – Procureur de al Republique / ADBHU –, Slg. 1985, 531. 6 EuGH, Rs. 240 / 83 – Procureur de al Republique / ADBHU –, Slg. 1985, 531, Rz. 9. 7 EuGH, Rs. 222 / 86 – Heylens –, Slg. 1987, 4097. 2 3

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

In seinem Urteil in der Rs. Heylens7 findet sich folgende Aussage: „Der freie Zugang zur Beschäftigung ist ein Grundrecht, das jedem Arbeitnehmer der Gemeinschaft individuell vom Vertrag verliehen ist.“8

In dem Fall El-Yassini sprach der EuGH von dem „Grundrecht auf Freizügigkeit“.9 Auch im Zusammenhang mit der Dienstleistungsfreiheit hat der EuGH bereits auf die Grundfreiheiten als Grundrechte des Unionsbürgers verwiesen.10 In keinem der genannten Urteile erläuterte der EuGH seine Feststellungen. Deshalb bleibt letzten Endes unklar, ob diese tatsächlich auf die dogmatische Einordnung der Grundfreiheiten als Grundrechtsnormen zu beziehen sind oder ob der Gerichtshof diese Formulierung lediglich als sprachliches Mittel gewählt hat, um die herausragende Bedeutung der Grundfreiheiten im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung zu betonen.

3. Grundrechtsqualität der Grundfreiheiten Innerhalb der Literatur werden vielerorts Grundfreiheiten mit Grundrechten ausdrücklich gleichgesetzt.11 Es begegnet indessen gewichtigen Bedenken, den Grundfreiheiten uneingeschränkte Grundrechtsqualität beizumessen. Ohne dass hier auf die vielschichtigen philosophie- und theologiegeschichtlichen Hintergründe der Grundrechtsentwicklung eingegangen werden soll,12 fußt EuGH, Rs. 222 / 86 – Heylens –, Slg. 1987, 4097, Rz. 2. EuGH, Rs. C-416 / 96 – Nour Eddline El-Yassini / SoHD –, Slg. 1999, I-1209, Rz. 45; vgl. a. Schlussanträge, GA Lenz, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, 5007 f. 10 EuGH, Rs. C-70 / 95 – Sodemare SA / Regione Lombardia –, Slg. 1997, I-3431, Rz. 19. 11 Bienert, Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns, S. 39; Bornemann, Grundrechtsquellen, S. 185; Füßer, in: DÖV 1999, S. 96, 101 oben; Bleckmann in: GS Sasse S. 665; Bleckmann, Europarecht, S. 269 ff.; vgl. Schilling, in: EuGRZ 2000 S. 3, 4, Fn. 3; Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 25, Fn. 18 f.; Emmerich-Fritsche, S. 412, Fn. 917; Sczekalla, S. 462; jeweils mwN; Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 6; Grundfreiheiten in Grundrechte uminterpretieren will Kluth, in: AöR 122 (1997), S. 557, 565; Grundfreiheiten als spezielle Gemeinschaftsgrundrechte: Bleckmann / Pieper, in: Dauses, HdbEGWR, B., I, Rn. 114. Tietje bezeichnet die Grundfreiheiten in Grabitz / Hilf, Vor 94 – 97 EGV, Rn. 51 als allgemeine Freiheitsgarantien; Nettesheim, in: NVwZ 1996, S. 342 spricht in diesem Zusammenhang von Grundrechten auf wirtschaftliche Mobilität; Notthoff, in: RIW 1995, S. 541, 544 f. will die Personenverkehrsfreiheiten des EGVals absolute Grundrechte und damit gar als Rechtsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte begreifen; vgl. a. Steindorff, in: NJW 1982, S. 1902 ff. A.A. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 127, mwN; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 58, mwN (spricht aber auf S. 45 von einem grenzüberschreitenden auf Freistellung von allen unverhältnismäßigen Beschränkungen beim Warenhandel) Dauses, in: ders., HdbEGWR, C., I, Rn. 103, Möstl, in EuR 2002, S. 318, 334. 12 Dazu etwas ausführlicher unten S. 160 ff. 8 9

Kap. I: Konkurrenzen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

107

der Schutz der einzelnen Grundrechte nach zutreffender Auffassung auf der Würde des Menschen.13 Die Menschenwürde als Kern aller sonstigen Grundrechte gehört zu den unabdingbaren Erfordernissen des mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutzes, die mithin auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene Geltung entfalten müssen.14 Sie wird dementsprechend auch durch den EuGH als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechtes gewährleistet.15 Der Schutz der Grundrechte sowohl auf nationaler als auch auf gemeinschaftlicher Ebene ist somit in erster Linie der Anerkennung des individuellen Eigenwertes des Einzelnen geschuldet. Der Schutz der sich aus den Grundfreiheiten ergebenden individuellen Verbürgungen hat hingegen einen anderen Hintergrund. Die Regelungen der Grundfreiheiten sind in ihrer ursprünglichen Form als objektiv-rechtliche, an die Vertragsstaaten gerichtete Verpflichtungen konzipiert. Sie sind vorrangig als Mittel zur Erreichung des vertraglichen Binnenmarktzieles des Art. 3 I lit. c EGV zu qualifizieren. Ihr primäres Normziel ist folglich institutioneller Art.16 Subjektiv-rechtliche Funktionen sind diesen Normen erst nachträglich durch die EuGH-Rechtsprechung zu der unmittelbaren Anwendbarkeit primärrechtlicher Normen im Allgemeinen17 und schließlich auch unter ausdrücklichem Bezug auf die Grundfreiheiten18 zugesprochen worden. Der Grund dieser Funktionserweiterung der Grundfreiheiten hin zu ihrer subjektiv-rechtlichen Ausprägung ist in dem Ziel der größtmöglichen praktischen Wirksamkeit (effet utile) der Grundfreiheitsnormen zu sehen.19 Diese subjektiven Verbürgungen, die nach der EuGH-Rechtsprechung aus den Grundfreiheiten zu ent13 Bleckmann, in: GS Sasse, S. 665, 667; Stern, Staatsrecht, Bd. III / 1, S. 36; ders., in: HdbStR, § 108, Rn. 6; Benda, in: Hdb d. VerfR. § 6, Rn. 3, spricht von der Menschenwürde als dem „Urgrundrecht“; vgl. a. BVerfGE 12, 45 [51]. 14 Vgl. oben S. 39 ff. 15 EuGH, Rs. 13 / 94 – P / S and Cornwell County Council –, Slg. 1996 I-2143, Rz. 16; Rs. C-377 / 98 – Niederlande / Parlament u. Rat –, Slg. 2001, I-7079, LS. 6; vgl. a. unter Bezug auf VO 1612 / 68: Rs. C-413 / 99 – Baumbast –, Slg. 2002, 7091, Rz. 50; Rs. C-33 / 99 – Fahmi und Esmoris Derdeiro-Pinedo Amado –, Slg. 2001, I-2415, Rz. 50; Rs. C-356 / 98 – Kaba –, Slg. 2000, I-2623, Rz. 20; unter Bezug auf RL 89 / 552: verb. Rs. C-34 / 95 bis C-36 / 95 – de Agostini –, Slg. 1997, I-3843, Rz. 31. 16 Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 177 f.; vgl. a. Müller-Graff, in: FS Steinberger, S. 1281, 1286. 17 Grundlegend: EuGH, Rs. 26 / 62 – van Gend & Loos / Niederländische Finanzverwaltung –, Slg. 1963, 1, Rz. 10. 18 EuGH, Rs. 74 / 76 – Ianelli –, Slg. 1977, 557, Rz. 13; Rs. 48 / 75 – Royer –, Slg. 1976, 497, Rz. 31 / 33; Rs. 2 / 74 – Reyners –, Slg. 1974, 631, Rz. 16 / 20; Rs. 33 / 74 – van Binsbergen –, Slg. 1974, 1299, Rz. 24 / 26, verb. Rs. – Sanz de Lera –, Slg. 1995, I-4821, Rz. 43; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 36, Fn. 5. 19 Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 177 f.; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 25; Kluth, in: AöR 122 (1997), S. 557, 575.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

nehmen sind, stellen damit lediglich Rechtsreflexe der zugrundeliegenden objektiven staatlichen Verpflichtungen dar.20 Aus diesem „Geltungsgrund“ der Grundfreiheiten als Individualschutznormen ergeben sich jedoch noch weitergehende Einschränkungen des grundfreiheitlichen Gewährleistungsgehaltes. Regelmäßiger Anlass und Ausgangspunkt der Ansicht, den Grundfreiheiten käme Grundrechtsqualität zu, stellt die Entwicklung der Grundfreiheiten von reinen Diskriminierungsverboten zu Beschränkungsverboten durch den EuGH dar.21 Und tatsächlich ließen sich die Grundfreiheiten möglicherweise zumindest als grundrechtsgleiche Rechte bezeichnen, wären ihnen umfassende Beschränkungsverbote in den jeweilige Regelungsbereichen wirtschaftlicher Tätigkeit zu entnehmen.22 Die oben angestellte Untersuchung ist zu dem Ergebnis gelangt, dass Grundfreiheiten neben der Gewährleistung spezifischer Diskriminierungsverbote weitergehende Beschränkungsverbote zu entnehmen sind.23 Auch dies war herzuleiten aus dem für die Auslegung der Grundfreiheiten bestimmenden Vertragsziel der Errichtung eines Binnenmarktes i.V.m. dem Effektivitätsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts. Festgestellt wurde dabei allerdings auch, dass die Grundfreiheiten nicht als umfassende Beschränkungsverbote jeglicher binnenmarktwidriger Hindernisse zu verstehen sind. Das Binnenmarktziel ist auf die Schaffung möglichst einheitlichen Marktordnungsrechtes innerhalb der Gemeinschaft gerichtet. Durch die Auslegung der Grundfreiheiten als Grundrechte und damit als umfassende Beschränkungsverbote lässt sich dieses Ziel jedoch nicht optimal verfolgen. Es ist festgestellt worden, dass den Grundfreiheiten vielmehr eine koordinationsrechtliche Funktion beizulegen ist, die es ermöglicht, derogierte einzelstaatliche Marktregeln durch binnenmarktkonforme Regelungen zu ersetzen. Den Grundfreiheiten sind deshalb keine umfassenden sondern koordinationsrechtlich qualifizierte Beschränkungsverbote zu entnehmen. Die damit verbundene Rechtsfolge der Grundfreiheiten, die den Verweis auf entsprechendes Marktordnungsrecht des jeweiligen Herkunftsstaates eines Produktes bzw. einer Person vorsieht, ist von einem ersatzlosen Verbot einer betreffenden Maßnahme, wie es sich bei einem grundrechtlichen Verständnis der Grundfreiheiten ergeben würde, wesensmäßig verschieden.

20 Vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 25 sowie Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 25 ff. 21 Bspw.: Bienert, Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns, S. 37; Bornemann, Grundrechtsquellen, S. 185; Notthoff, in: RIW 1995, S. 541, 544 f. 22 So Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 6; vgl. a. schon oben S. 88. 23 Siehe oben S. 90.

Kap. I: Konkurrenzen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

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Als Folge dieser Qualifikation ist der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zudem auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt.24 Zusammenfassend ist mithin festzuhalten, dass sowohl der Geltungsgrund der Grundfreiheiten als Individualrechte als auch deren Aufgabe als zentrale Mittel zur Umsetzung des Binnenmarktzieles gegen die Qualifizierung der Grundfreiheiten als vollwertige Grundrechte sprechen.25

4. Konkurrenzen von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten Eine weitere Konkretisierung des Verhältnisses von Grundfreiheiten und (Gemeinschafts-)Grundrechten folgt aus Überlegungen zu dem Konkurrenzverhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten. Es ist festgestellt worden, dass nach der Erweiterung des personellen Tatbestandes sowohl der Grundfreiheiten als auch der Gemeinschaftsgrundrechte, Sachverhalte auftreten können, in denen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte prima facie nebeneinander Anwendung finden. So ergibt sich aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 39 EGV unter anderem das Recht des Arbeitnehmers, ein Arbeitsverhältnis im EU-Ausland anzunehmen. Eine Anstellung anzunehmen gehört jedoch auch zu den prominentesten Gewährleistungen der Berufsfreiheit. Mithin sind Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte teilweise auf dieselbe Rechtfolge gerichtet, auch wenn festgestellt wurde, dass Erstere nicht selbst als Grundrechte zu qualifizieren sind. Damit scheint es zu Konkurrenzsituationen in der Anwendung der Grundfreiheiten als subjektive Rechte und den Gemeinschaftsgrundrechten kommen zu können.26 Nach der hier vertretenen Ansicht sind Konkurrenzsituationen zwischen einem Gemeinschaftsgrundrecht und einer Grundfreiheit jedoch von vornherein ausgeschlossen. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind als ungeschriebene Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes entwickelt worden, weil ausdrückliche Grundrechtsbestimmungen im Vertrag weitestgehend fehlen.27 Indem die allgemeinen Rechtsgrundsätze zum Ausfüllen von Regelungslücken im geschriebenen Recht dienen, ist ihre Existenz von solchen Regelungslücken abhängig.28 Vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 58, mwN. Zu der These der tatbestandlichen Beschränkung der Grundfreiheiten auf ihre Funktion als Mittel der Binnenmarktverwirklichung vgl. zuletzt Kingreen, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 653 ff. 26 Vgl. Frenz in: EuR 2002, S. 603, 608; Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 30; Akehurst, in: BYIL 1981, S. 29, 30. 27 Dazu oben S. 25 ff. 24 25

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Eine Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze ist demzufolge in dem Maße nicht notwendig, in dem deren Inhalte bereits von geschriebenen Normen des Gemeinschaftsrechtes garantiert werden. Das Loyalitätsgebot des Art. 10 EGV verlangt lediglich die Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene. Vorgaben hinsichtlich der Art und Weise des Grundrechtsschutzes gibt es hingegen nicht vor. Ebenso wie sich für die Anwendung des Grundsatzes gleichen Entgelts für Frauen und Männer bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit als Teilgewährleistung des Grundrechtes des Allgemeinen Gleichheitssatzes nicht auf das Gemeinschaftsgrundrecht der Gleichheit von Männern und Frauen sondern auf Art. 141 EGV gestützt wird, ist für ausdrücklich in den Grundfreiheiten vorgesehene Gewährleistungen kein Rückgriff auf wirtschaftliche Gemeinschaftsgrundrechte nötig. Dies folgt indessen nicht aus dem Konkurrenzgrundsatz des lex specialis.29 Dieser setzt die parallele Geltung zweier Rechtnormen voraus. Aus der spezifischen Eigenschaft der allgemeinen Rechtsgrundsätze als zur Lückenfüllung erst zu entwickelnden Rechtes folgt aber, dass sie in dem Umfang, in dem sie bereits durch Vertragsrecht gewährleistet sind, nicht gleichzeitig auch als allgemeine Rechtsgrundsätze gelten können. Denn insoweit fehlt es an der dafür vorauszusetzenden Rechtsschutzlücke.30 Im Ergebnis bedeutet dies, um bei dem Beispiel der Berufsfreiheit zu bleiben: Die Gemeinschaft schützt gemäß ihrer Verpflichtungen aus Art. 10 EGV das Grundrecht der Berufsfreiheit. Die besonderen Gegebenheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung bedingen es, dass dieser Schutz zu einem Teil durch die Anwendung der vertraglichen Grundfreiheiten und zu dem nicht von den Vertragsbestimmungen abgedeckten Teil durch die ungeschriebenen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes gewährleistet wird. Für die Grundrechtsnorm der Berufsfreiheit existieren auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene mithin verschiedene Grundrechtsbestimmungen.31 Die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit erhält, wie dargelegt, dadurch nicht die Qualität eines Grundrechtes. Deren individuellen Freiheitsgewährleistun28 Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 485 mwN; vgl. zu den verwandten völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen: Ipsen, § 17, Rn. 6. 29 So aber wohl bspw. Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, S. 376 sowie Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 30. 30 v. Arnauld, in: EuR 2003, S. 191, 207 f. 31 Zur der hier herangezogenen Differenzierung zwischen Grundrechtsnorm und Grundrechtsbestimmung im deutschen Verfassungsrecht s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 54 ff. insb. S. 56. Anders als nach dem deutschen Grundgesetz werden Grundrechte (Norm) im Gemeinschaftsrecht mithin nicht regelmäßig durch lediglich eine Grundrechtsbestimmung geschützt. Der Schutz der Wirtschaftsgrundrechte wird zu einem Teil durch Grundfreiheiten und zum anderen Teil durch Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts garantiert.

Kap. I: Konkurrenzen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

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gen konstituieren lediglich einen speziellen Teil des Gewährleistungsgehaltes des gemeinschaftsrechtlich zu schützenden Grundrechtes der Berufsfreiheit.32 Gewährleistungsbereiche welche aufgrund seiner Beschränkung auf koordinationsrechtliche Funktionen nicht von Art. 39 EGV abgedeckt werden, unterfallen dem Schutz des Gemeinschaftsgrundrechtes der Berufsfreiheit als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts. Grundrechte, wie beispielsweise die Grundrechte der Meinungs- oder Versammlungsfreiheit, deren Schutz nicht durch entsprechende Auslegung vertraglicher Normen erreicht werden können, werden demgegenüber vollständig und ausschließlich als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes geschützt.

5. Zusammenfassung Grundfreiheiten sind keine vollwertigen Grundrechte. Sie bleiben beschränkt auf spezifische Teilgewährleistungen, die mit klassischen grundrechtlichen Gewährleistungen parallel laufen. In dem Maße, in dem grundrechtlich geforderte Freiheitsbereiche durch die Grundfreiheiten des EGV gewährleistet werden, fehlt es an der Regelungslücke im Gemeinschaftsrecht, welche die Herleitung von Gemeinschaftsgrundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes erst erforderlich macht. Deshalb sind Konkurrenzen zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten ausgeschlossen.

6. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? Nach Verbindlicherklärung der Grundrechtscharta werden Konkurrenzsituationen zwischen den Grundfreiheiten, die weiterhin im dritten Teil des Verfassungstextes in im Wesentlichen unveränderter Form geschützt werden und den dann als unmittelbares Vertragsrecht zu schützenden Grundrechten der Gemeinschaft – insbesondere den Grundrechten aus Art. II-15 EVVE – möglich. Es bleibt allerdings bei dem Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber den Grundrechtsbestimmungen. Dieser ergibt sich dann allerdings aus dem lex-specialisGrundsatz, indem die bereichsspezifischen freiheitsrechtlichen Teilgewährleistungen der Grundfreiheiten des dritten Teiles des Verfassungsvertrages der lex generalis der Grundrechte des zweiten Teiles vorgehen.

32 Vgl. dazu Schaller, EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 90 ff.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Kapitel II

Kollisionen – Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten Als zweiter Aspekt des Verhältnisses von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten soll nun der Frage nachgegangen werden, wie sich beide Normengruppen in Kollisionssituationen zueinander verhalten. Auch hierzu wird zunächst in Kürze die relevante Rechtsprechung des Gerichthofes zu Fällen von Normenkonflikten zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten dargestellt, um sodann die genaueren Modalitäten der Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Prüfung der Grundfreiheiten näher zu beleuchten.

1. Rechtsprechung a) Rs. Kommission / Deutschland Die Kommission leitete am 12. März 1990 ein Vertragsverletzungsverfahren33 gegen die Bundesrepublik Deutschland ein, da sie die Regelung des § 73 Arzneimittelgesetz als mit Art. 28 EGV (Art. 30 EGV a.F.) unvereinbar ansah, weil danach Medikamente in dem üblichen persönlichen Bedarf entsprechenden Mengen nicht nach Deutschland eingeführt werden durften, wenn die Medikamente verschreibungspflichtig waren. Im Verfahren hatte die deutsche Seite unter anderem geltend gemacht, dass die Grenzkontrollen hinsichtlich der Verschreibungspflichtigkeit einen Eingriff in das Arztgeheimnis darstellten, welches dem Schutz des Grundrechtes auf Achtung der Privatsphäre unterfalle. Der EuGH stellte sodann auch fest, dass das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre zu den durch ihn zu schützenden Grundrechten zu zählen sei34 um dann Bezug auf seine Rechtsprechung in der Rs. ERT35 zu nehmen: „ . . .wenn ein Mitgliedstaat sich auf Vertragsbestimmungen beruft, um eine nationale Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung einer vom Vertrag garantierten Freiheit zu behindern, [ist] diese im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen.“36

EuGH, Rs. C-62 / 90 – Kommission / Deutschland –, Slg. 1992, I-2601. EuGH, Rs. C-62 / 90 – Kommission / Deutschland –, Slg. 1992, I-2601, Rz. 23. Der EuGH verweist hier auf die Rs. 136 / 79 – Panasonic / Kommission –, Slg. 1980, 2033. 35 EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, 2925. Dazu eingehender unten S. 140 ff. 36 EuGH, Rs. C-62 / 90 – Kommission / Deutschland –, Slg. 1992, I-2601, Rz. 23. 33 34

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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In der ERT-Rechtsprechung, auf die der Gerichtshof hier Bezug nimmt, ging es indes um die Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten. Die Besonderheit dieses Falles besteht nun darin, dass die deutsche Seite das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre als Rechtfertigung vorbrachte, indem sie argumentierte, dass es unmöglich sei zu kontrollieren, ob es sich um eine dem persönlichen Bedarf entsprechende Menge handelt, ohne die Privatsphäre des Kontrollierten und insbesondere das Arztgeheimnis anzutasten. In dem gegebenen Fall wird das Grundrecht des Schutzes der Privatsphäre durch die deutsche Regierung mithin in seiner Schranken- und nicht in seiner SchrankenSchranken-Funktion angeführt. Dass der EuGH dies im Grunde ebenso versteht, wird deutlich, wenn er diesbezüglich ausführt, dass diese Grundrechte keine unbeschränkte Geltung beanspruchten und der vorgebrachte Grundrechtseingriff daher aus Gründen der öffentlichen Gesundheit und des Lebens von Menschen zu rechtfertigen sei. Da dem Vorbringen der Bundesregierung nichts zu entnehmen gewesen sei, was beweisen könnte, dass ein in diesem Sinne verhältnismäßiger Eingriff unmöglich wäre, habe Deutschland mithin gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 30 ff. EWGV (Art. 28 ff. EGV n. F.) verstoßen. Die ERT-Formel, die bislang lediglich für die Schranken-Schranken-Funktion verwandt wurde, gilt nach diesem Judikat mithin auch, wenn die Gemeinschaftsgrundrechte im konkreten Fall als Gegenrechte zu den Grundfreiheiten auftreten. In der Sache hat der EuGH das Grundrecht des Schutzes der Privatsphäre als mögliche Schranke der Warenverkehrsfreiheit anerkannt.

b) Rs. Gouda In der Rs. Gouda37 legte der Gerichtshof den Grundstein einer eigenen Rechtsprechungslinie, in der er verschiedentlich auf die Pluralismussicherung als zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses Stellung nahm.38 Im diesem Fall wurden dem EuGH von dem niederländischen Raad van State unterschiedliche Fragen über die Auslegung der Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit vorgelegt. Dieser hatte einen Rechtsstreit zu entscheiden in deren Mittelpunkt die niederländischen Rundfunkbestimmungen (Mediawet) standen. Darin war unter anderem vorgesehen, dass niederländische Sendevereine eigene Programmteile weitgehend nur mit inländischen Firmen produzieren durften und 37 EuGH, Rs. C-288 / 89 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda u. a. / Commissariat vor de Media –, Slg. 1991, I-4007. 38 Zu der bezuggenommenen Folgerechtsprechung zählen die Urteile EuGH, Rs. C-353 / 89 – Kommission / Niederlande –, Slg. 1991, I-4069, Rz. 3, 29 u. 30; Rs. C-23 / 93 – TV10 –, Slg. 1994, I-4795, Rz. 19 ff.; Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 18.

8 Schultz

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

dass ausländische Programme für die Ausstrahlung in den Niederlanden besondere Anforderungen hinsichtlich Art und Umfang von Werbeanteilen sowie der Organisationsform der ausländischen Produktionsfirmen erfüllen mussten. Insbesondere die Bestimmungen zu den Werbeprogrammen versuchte der niederländische Rundfunkrat aus Gründen der Sicherung einer pluralistischen Medienlandschaft zu rechtfertigen. Dem folgte der EuGH im konkreten Fall nicht, stellte aber erstmals fest, dass die Pluralismussicherung generell einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen könne. „Die Aufrechterhaltung eines pluralistischen Rundfunkwesens, die diese niederländische Politik gewährleisten soll, steht nämlich in einem Zusammenhang mit der durch Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Meinungsfreiheit, die zu den von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehört.“39

Damit wird zumindest eine Teilgewährleistung der gemeinschaftsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit als zwingendes Erfordernis des Gemeinschaftsrecht mit den Grundfreiheiten in Abwägung gebracht. Mittelbar wird hier mithin die Schrankenfunktion der Meinungsfreiheit bei der Prüfung der Grundfreiheit des freien Dienstleistungsverkehres anerkannt. In einer Reihe von Folgeentscheidungen hat der EuGH die Rechtsprechung zur Pluralismussicherung als zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses und somit zur Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bestätigt.40

c) Rs. Bosman Gesteigerte Relevanz kommt der Frage nach der Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten in den Fällen zu, in denen grundfreiheitliche Pflichten an die Handlungen Privater angeknüpft werden, so z. B. im Rahmen der Schutzpflichtfunktion oder der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten. Diese privaten Maßnahmen sind oft zugleich Ausdruck einer Freiheitsbetätigung. Augenscheinlich wurde dies mit der Rs. Bosman.41 Dort erklärte der EuGH in den Urteilsgründen zwar erstmalig, dass er die allgemeine Vereinigungsfreiheit als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrecht schütze.42 Jedoch sah 39 EuGH, Rs. C-288 / 89 – Stichting Collectieve Antennevoorziening u. a. / Commissariat vor de Media –, Slg. 1991, I-4007, Rz. 23. 40 EuGH, Rs. C-353 / 89 – Kommission / Niederlande –, Slg. 1991, I-4069, Rz. 3, 29 u. 30; Rs. C-23 / 93 – TV10 –, Slg. 1994, I-4795, Rz. 19 ff.; Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 18. 41 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921. Für den Sachverhalt s. oben S. 75. 42 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, Rz. 79. Bis dato hatte sich der EuGH zu diesem Grundrecht lediglich in der Ausformung der Koalitionsfreiheit

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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der EuGH die gerügte Transferregelung nicht als von der Vereinigungsfreiheit gefordert. „Jedoch ist nicht davon auszugehen, daß die von Sportverbänden aufgestellten Regeln, mit denen sich das vorlegende Gericht beschäftigt, erforderlich sind, um die Ausübung dieser Freiheit durch die genannten Verbände, die Vereine oder die Spieler zu gewährleisten, oder daß sie eine unausweichliche Folge dieser Freiheit darstellen.“43

Zu einer Abwägung zwischen dem Gemeinschaftsgrundrecht der Vereinigungsfreiheit und der Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt es hier somit nicht, da der EuGH bereits die Erforderlichkeit der fraglichen Regelung zum Schutz der Vereinigungsfreiheit ablehnt. Der EuGH führt hier also quasi eine doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung durch, wobei er hinsichtlich der Gemeinschaftsgrundrechte losgelöst von den entgegenstehenden Grundfreiheiten zunächst überprüft, ob die in Frage stehende Regelung zum Schutz des betreffenden Gemeinschaftsgrundrechtes erforderlich ist.44 Dem EuGH ist vorgeworfen worden, er umgehe auf diese Weise eine Abwägung von grundrechtlichen und grundfreiheitlichen Positionen, wie sie nach deutschem dogmatischen Verständnis zur Erreichung einer praktischen Konkordanz zweier Prinzipien erforderlich gewesen wäre.45

d) Rs. Kommission / Frankreich Im sogenannten „Erdbeerstreit“ 46, in dem der Gerichtshof einer Grundfreiheit erstmalig eine Schutzpflicht entnahm,47 stellte sich die Frage nach der Abwägung von Grundfreiheit und entgegenstehenden Gemeinschaftsgrundrechten zunächst nicht. Soweit ersichtlich hatte der EuGH bis dato noch nicht ausdrücklich bestätigt, dass er die Freiheit der Versammlung zu den von ihm zu schützenden Gemeinschaftsgrundrechten zählen wollte. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird allerdings allgemein nach den relevanten Rechtsfindungsquellen der Gemeinschaftsgrundrechte tatbestandlich beschränkt auf den Schutz friedlicher Versammlungen.48

geäußert, so in den Rs. EuGH, Rs. 175 / 73 – Gewerkschaftsbund Europäischer Öffentlicher Dienst, Massa und Kortner / Rat –, Slg. 1974, 917, Rz. 10 – 12; Rs. 18 / 74 – Allgemeine Gewerkschaft –, Slg. 1974, 933, Rz. 10 – 12. 43 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, Rz. 80. 44 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, LS. 8 u. Rz. 80. 45 Gramlich, in: DÖV 1996, S. 801, 810; s. dazu unten S. 117 f. 46 EuGH, Rs. C-265 / 95 – Kommission / Frankreich –, Slg. 1997, I-2195 (Agrarblockaden). 47 Dazu ausführlicher oben auf S. 91. 48 Vgl. Art. 11 I EMRK; Art. 8 I GG; Art. 26 I BelgVerf; Art. 21 I SpanVerf etc. 8*

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Die Aktionen der französischen Bauern blieben indes nicht frei von Gewalt, so dass sie allein aus diesem Grund dem Schutz der Versammlungsfreiheit bereits tatbestandlich nicht unterfielen und eine Kollisionslage zwischen Warenverkehrsfreiheit und Versammlungsfreiheit in diesem konkreten Fall nicht gegeben war.

e) Rs. Schmidberger Eine friedliche Demonstration war allerdings Gegenstand der Rs. Schmidberger49. Im Ausgangsstreit dieses Vorabentscheidungsverfahrens hatte die Transportfirma Eugen Schmidberger gegen die stillschweigende Billigung einer Lastwagenblockade der Brenner-Autobahn durch österreichische Behörden geklagt. Der EuGH wiederholte hier zunächst seine Rechtsprechung zu den aus den Grundfreiheiten fließenden Schutzpflichten, welche er in der Rs. Kommission / Frankreich aufgestellt hatte. Er stellte sodann fest, dass das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu den als allgemeine Rechtsgrundsätze geschützten Grundrechten des Gemeinschaftsrechtes gehöre. Nachdem er des Weiteren darauf hingewiesen hatte, dass beide Rechtspositionen nicht schrankenlos gewährleistet seien, stellte er schließlich fest, es sei „zu prüfen, ob die Beschränkungen, denen der innergemeinschaftliche Handel unterworfen wurde, in einem angemessenen Verhältnis zu dem berechtigten Ziel stehen, das mit ihnen verfolgt wird, hier dem Schutz der Grundrechte.“50

Damit hat der Gerichtshof erstmals explizit Gemeinschaftsgrundrechte und Grundfreiheiten unmittelbar in Abwägung miteinander gebracht. Der EuGH kam schließlich zu dem Ergebnis, dass unter den gegebenen Umständen dem Interesse am Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als wichtige öffentliche Rechte gegenüber den, im Vergleich zu der Situation in der Rs. Kommission / Frankreich verhältnismäßig geringen Beeinträchtigungen des innergemeinschaftlichen Warenverkehres das größere Gewicht zukomme. Trotzdem der EuGH Warenverkehrsfreiheit und betroffene Grundrechte hier unmittelbar gegeneinander abwägt, wird – nachträglich – die Erforderlichkeit der in Frage stehenden Maßnahme zur Erreichung des Zieles des Grundrechtschutzes geprüft.51 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH, wie schon in der Rs. Kommission / Deutschland, auf die ERT-Rechtsprechung Bezug nimmt, die davor gemeinhin auf die Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bezogen wurde: EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659. EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659, Rz. 82. 51 EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659, Rz. 93; vgl. für die diesbezügliche Kritik noch in Bezug auf die Bosman-Entscheidung, S. 110. 49 50

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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„So hat der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung im Vorabentscheidungsverfahren dann, wenn wie im Ausgangsverfahren eine innerstaatliche Situation in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes fällt, den nationalen Gerichten alle Auslegungshinweise zu geben, die diese benötigen, um beurteilen zu können, ob die Grundrechte, deren Wahrung der Gerichtshof sichert und wie sie sich insbesondere aus der EMRK ergeben, in dieser Situation beachtet sind.“52

Da die Gemeinschaftsgrundrechte im betreffenden Fall jedoch als Schranken der Grundfreiheiten fungierten, erhellt daraus, dass der Gerichtshof die ERT-Rechtsprechung nicht auf die Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte beschränkt wissen will, sondern die Gemeinschaftsgrundrechte unabhängig davon heranzieht, ob deren Aussagen den Gewährleistungen der Grundfreiheiten konform gehen oder diesen entgegenstehen.53

f) Zusammenfassung Der EuGH hat verschiedentlich auf die Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten Bezug genommen. Im Rahmen der Grundfunktion der Grundfreiheiten als Abwehrrechte gegen unmittelbar mitgliedstaatliche Eingriffe geschah dies bislang ausschließlich, indem die Sicherung eines pluralistischen Medienwesens als zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls herangezogen wurde. Zu einer unmittelbaren Abwägung zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten kam es bislang lediglich in einem Fall, in dem die Warenverkehrsfreiheit in ihrer Schutzpflichtfunktion geprüft wurde. Im Rahmen seiner Rechtsprechung zur unmittelbaren Drittwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit hat der EuGH eine entsprechende Abwägung bisher vermieden.

2. Gemeinschaftsgrundrechte als kollidierendes Gemeinschaftsrecht Aus den Ergebnissen, die im Rahmen der Betrachtung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten im ersten Teil der Arbeit gewonnen wurden, ergeben sich grundlegende Vorgaben für die dogmatische Behandlung von Konflikten zwischen den beiden Normengruppen. So ist festgestellt worden, dass Gemeinschaftsgrundrechte und Grundfreiheiten grundsätzlich auf gleicher normhierarchischer Stufe stehen.54 Daraus folgt, dass EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659, Rz. 75. Schaller, EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 109 ff. verneint diesen Schluss, da dafür eine gemeinschaftsgrundrechtliche Schutzpflicht Voraussetzung sei. Vgl. demgegenüber weiterführend unten S. 129. 54 s. oben S. 48 f. 52 53

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

entgegenstehende Gemeinschaftsgrundrechte bei der Anwendung der Grundfreiheiten nicht unbeachtet bleiben dürfen.55 Überdies sind beide Normengruppen als Prinzipien qualifiziert worden.56 Das bedeutet, dass auf Normenkonflikte zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten das Kollisionsgesetz der hier zugrunde gelegten Prinzipientheorie entsprechend anzuwenden ist. Kollisionen gleichrangiger Prinzipien sind danach im Wege einer sogenannten praktischen Konkordanz aufzulösen.57 Kommt es zu Normenkonflikten zwischen gleichrangigen Prinzipien, verliert keine der in Frage stehenden Normen ihre Geltung. Beide müssen vielmehr unter Beachtung der konkreten Umstände gegeneinander abgewogen werden, um festzustellen, welcher der beiden Normen in der jeweiligen Situation der Vorrang zu gewähren ist.58 Im konkreten Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten zueinander sind diese Grundsätze im Wege einer „grundrechtskonformen“ Auslegung der grundfreiheitlichen Vertragsbestimmungen zu verwirklichen. Einen grundsätzlichen Vorrang grundrechtlicher Positionen wie im nationalen Recht kennt das Gemeinschaftsrecht dabei, wie gesagt, nicht. Aus der normhierarchischen Gleichrangigkeit der konfligierenden Normengruppen folgt daher des Weiteren, dass es sich dabei methodologisch um eine systematische Auslegung handeln muss.59 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Gemeinschaftsgrundrechte und Grundfreiheiten grundsätzlich in jedem Einzelfall eines Normenkonfliktes ergebnisoffen gegeneinander abzuwägen sind.

a) Schutzdefizite im Grundrechtsschutz durch den EuGH Der EuGH sieht sich fortdauernder Kritik wegen seiner defizitären Grundrechtsrechtsprechung ausgesetzt.60 Konkret wird vor allem die unzureichende Prüfdichte bei der Behandlung grundrechtlicher Fragen bemängelt.61 Die Fälle, in denen ein Gramlich, in: DÖV 1996, S. 801, 805. s. oben S. 51 ff. u. S. 91 f. 57 Vgl. Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 217; der Begriff der praktischen Konkordanz stammt von Hesse (vgl. ders., Grundzüge des Verfassungsrechtes, Rn. 72) er soll hier als Begriff für die Anwendung des Alexy’schen Kollisionsgesetzes gebraucht werden, welchem es entspricht, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152; s. a. Clérico, Struktur der Verhältnismäßigkeit, S. 217 ff. 58 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 78 f. Für kollidierendes Vertragsrecht vgl. a. Jarass, in: FS Everling, Bd. I, S. 593, 608. 59 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 167. 60 Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 121 ff. Kokott, in: AöR 121 (1996), S. 599, 608 f.; Nettesheim, in: EuZW 1996, 106 ff.; speziell zu (angeblichen) Defiziten in der Rechtsprechung zum Gemeinschaftsgrundrecht der Berufsfreiheit s. Vögler, Defizite beim Schutz der Berufsfreiheit durch BVerfG und EuGH, S. 171 ff. 55 56

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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Gemeinschaftsrechtsakt wegen Verstoßes gegen Gemeinschaftsgrundrechte verworfen wurde, sind zum einen selten und beschränken sich ausnahmslos auf Verletzungen des Persönlichkeitsrechtes.62 Schutzdefizite ergeben sich indessen nicht schon ohne Weiteres daraus, dass der EuGH teilweise zu einer Abwägung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten nicht kommt, weil er zuvor die fragliche Maßnahme als für den Grundrechtsschutz nicht erforderlich angesehen hat. Geeignetheit und Erforderlichkeit sind im Gegenteil als Teilelemente der Verhältnismäßigkeit integrierende Bestandteile des Kollisionsgesetzes und somit legitime Kriterien einer jeweiligen Vorprüfung.63 Fraglich erscheint allein, ob dem EuGH die Einschätzung zusteht, welche gleich geeigneten aber milderen Mittel dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber bzw. Gesetzesanwender zur Verfügung stehen. Jedenfalls ist zu kritisieren, dass die mit dem Gemeinschaftsinteresse abzuwägenden Individualinteressen und deren Beeinträchtigung durch den Gerichtshof zuvor nicht hinreichend konkretisiert werden.64 Stattdessen hebt der Gerichtshof stets recht schnell auf die besondere Bedeutung der Grundfreiheiten als tragende Grundsätze des Vertrages ab.65 Diese argumentative Schieflage spiegelt sich auch in den einzelnen Urteilen insbesondere zu dem Verhältnis von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten wider: Erst vor kurzem hat der EuGH zum ersten Mal einen Eingriff in eine Grundfreiheit aus Gründen des Grundrechtsschutzes als mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erklärt.66 Im Hinblick auf die unzureichende Begründungspraxis des EuGH erscheint es uneingeschränkt wünschenswert, dass der EuGH seine Entscheidungen mit ausführlichen und nachvollziehbaren Begründungserwägungen versieht. Dies fordert schon das Prinzip der Rechtssicherheit, welches der EuGH nach eigener Rechtsprechung ebenfalls als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechtes zu 61 Kokott, in: AöR 121 (1996), S. 599, 608 f.; Gramlich, in: DÖV 1996 S. 801, 805. Vor allem unter Bezugnahme darauf, dass der EuGH teilweise die Verhältnismäßigkeitsprüfung und Antastung des Wesensgehaltes gleichsetzt. Vgl. dazu: EuGH, Rs. C-280 / 93 – Bananenmarktordnung –, Slg. I-1994, 4973; Rs. 265 / 87 – Schräder –, Slg. 1989, 2237; verb. Rs. C-142 / 88 u. C-92 / 89 – Süderdithmarschen –, Slg. I-1991, 415; Rs. C-44 / 89 – von Deetzen –, Slg. I-1991, 5119; Rs. C-177 / 90 – Kühn –, Slg. I-1992, 25; Rs. 5 / 88 – Wachauf / Bundesanstalt für Ernährung und Forstwirtschaft –, Slg. 1989, 2609; Rs. C-306 / 93 – Methode Champenoise –, Slg. 1994, I-5555. 62 EuGH, Rs. Rs. 374 / 87 – Orkem –, Slg. 1989, 3283; Rs. C-404 / 92 P – X. / Kommis- sion –, Slg. 1994, I-4791, Rz. 23; zudem EuG, Rs. T-211 / 00 – Kuijer –, Slg. II-2002, Rz. 74. 63 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 f.; vgl. a. Besselink, in: CMLR 35 (1998), S. 629, 641. In der Rs. 112 / 00 – Schmidberger – Slg. 2003, I-5659, Rz. 93 schließlich hat der EuGH die Erforderlichkeit der betreffenden Maßnahme neben der Abwägung von Grundfreiheit und Gemeinschaftsgrundrecht geprüft. 64 Gramlich, in: DÖV 1996, S. 801, 804; Nettesheim, in: EuZW 1995, S. 106, 106 f. 65 Nettesheim, in: EuZW 1995, S. 106, 106. 66 EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659, Rz. 82; vgl. a. Bornemann, Grundrechtsquellen, S. 172 ff.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

schützen hat.67 Eine Konkretisierung der im Einzelfall betroffenen Individualrechte ist Grundvoraussetzung für eine Abwägung der eben beschriebenen Art.68 Was demgegenüber die konkreten Abwägungsergebnisse betrifft, lässt sich möglicherweise eine gemeinschaftsrechtliche Begründung für die festzustellenden binnenmarktfreundlichen Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH ausmachen. b) Mögliche Rechtfertigungen binnenmarktfreundlicher Tendenzen Wie bereits dargestellt, folgt aus der Gleichrangigkeit und der Prinzipieneigenschaft beider Normengruppen, dass keiner der beiden per se ein Vorrang egenüber der anderen zukommen kann.69 Stattdessen wird für jeden speziellen Kollisionsfall die Entscheidung getroffen, welches der beiden Prinzipien zurückzustehen hat.70 Innerhalb der Prinzipientheorie wird als Kriterium, welchem zweier kollidierender Prinzipien im Einzelfall der Vorrang einzuräumen ist und welches zurückzustehen hat, das Gewicht der entsprechenden Normen in der jeweiligen Situation herangezogen.71 Mit der Einführung der Dimension des Gewichtes soll herausgestellt werden, dass sich Prinzipienkollisionen nicht auf der Ebene der Geltung abspielen, sondern dass sie im Wege einer Gewichtung beider Normen entschieden werden.72 Ohne dass dies innerhalb der Prinzipientheorie soweit ersichtlich bisher ausdrücklich problematisiert worden ist, erscheint es durchaus denkbar, dass einem Prinzip innerhalb der jeweiligen Rechtsordnung ein im Vergleich zu anderen Prinzipien grundsätzlich größeres Gewicht zukommt. Den Regeln des Kollisionsgesetzes müsste dies deswegen nicht entgegenstehen, weil die Entscheidung, welches der beiden Prinzipien im konkreten Einzelfall überwiegt, nicht vorweggenommen würde. Eine Höherrangigkeit eines der beiden Prinzipien im Sinne einer absoluten Derogationswirkung ergäbe sich daraus nicht. Es würde für das eine Prinzip lediglich schwieriger, sich gegen das mit von der Rechtsordnung grundsätzlich größerem Gewicht versehene Prinzip zu behaupten. Nach dem Gesagten erscheint es mit der Qualifizierung der beiden Normengruppen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte als grundsätzlich gleichrangige Prinzipien vereinbar, wenn sich feststellen ließe, dass die Gemeinschafts67 Vgl. bereits EuGH Rs. 13 / 61 – Kledingveroopbedrijf de Geus en Uitedenbogerd / Bosch u. a. –, Slg. 1962, 97 (113); verb. Rs. 17 und 20 / 61 – Klöckner und Hoesch / Hohe Behörde –, Slg. 1962, 653 (686); Rs. 19 / 61 – Mannesmann / Hohe Behörde –, Slg. 1962, 717 (749). 68 Pauly, in: EuR 1998, S. 242, 259; die Defizite in der Begründungspraxis des EuGH sind daher entgegen Kischel, in: EuR 2000, S. 380, 396 f. nicht als bloße „Stilunterschiede“ abzutun. 69 s. oben S. 117. 70 Ebenda. 71 Der Begriff des Gewichts stammt von Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 26. Siehe in Anknüpfung daran Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 82 f. 72 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 65.

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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rechtsordnung den Grundfreiheiten grundsätzlich ein größeres Gewicht beimisst als den Gemeinschaftsgrundrechten.

aa) Das Binnenmarktziel des Vertrages Ein entsprechender Grund für die Bevorzugung grundfreiheitlicher gegenüber grundrechtlichen Interessen könnte sich daraus ergeben, dass der Vertrag die Verwirklichung eines Binnenmarktes ausdrücklich als eines seiner Ziele definiert, während eine entsprechende Aussage zum Grundrechtsschutz nicht getroffen wird.73 Die Verwirklichung der Grundfreiheiten wird nämlich in Art. 3 I lit. c EGV in Konkretisierung des Gemeinschaftszieles der Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen in Art. 2 I 1. Spstr. genannt.74 Damit werden die Grundfreiheiten explizit als Mittel zur Erreichung eines Gemeinschaftszieles qualifiziert.75 Die Grundfreiheiten als Optimierungsgebote dienen damit dem zentralen Optimierungsgebot Binnenmarkt.76 Fraglich ist, ob den Vertragszielbestimmungen eine solche normative Bedeutung beizumessen ist, dass dies den Abwägungsprozess der Gemeinschaftsgrundrechte mit konfligierendem Primärrecht beeinflussen kann. Die Regelungen des Art. 2 EGV und auch des Art. 3 EGV sind nach Aussage des EuGH zu unbestimmt, als dass es sich dabei um unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht handeln könnte.77 Aus dem Begriff der Aufgabe in Art. 2 EGV ist allerdings zu schließen, dass alle Gemeinschaftsorgane eine Hinwirkungspflicht zur Erreichung der Vertragsziele trifft.78 Damit handelt es sich bei den Bestimmungen der Art. 2 und. 3 EGV nicht um bloße Programmsätze sondern um rechtsverbindliche Ziele.79 Daraus wiederum folgt, dass sie bei der Auslegung und Anwendung sowohl des Vertrages als auch des abgeleiteten Rechtes zu berücksichtigen sind.80 Vgl. v. Bogdandy, in: JZ 2001, S. 157, 157; ders., in: CMLR 37 (2000), S. 1307, 1308. Die in Art. 3 aufgeführten Mittel können als Teilziele charakterisiert werden. (Hatje, in: Schwarze, Art. 2 EGV, Rn. 10). 75 Zu der Differenzierung zwischen den grundfreiheitlichen Bestimmungen des EGV als Mittel zur Erreichung eines freien Produkt- und Personenverkehres gemäß Art. 14 EGV vgl. oben S. 84. 76 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, spricht in Fn. 124 auf S. 40 von den Grundfreiheiten als Subprinzipien des Binnenmarktzieles. 77 EuGH, Rs. 126 / 86 – Gímenez Zaera / Instituto Nacional de la Seguridad Social und Tesorería General de la Seguridad Social –, Slg. 1987, 3697, Rz. 11; Rs. C-339 / 89 – Alsthom Atlantique –, Slg. 1991, I-107, Rz. 9. 78 Ukrow, in: Calliess / Ruffert, Art. 2 EGV, Rn. 29. 79 EuGH, Rs. 6 / 72 – Europemballage –, Slg. 1973, 215, Rz. 23 u. 25. 73 74

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Wenn die Gemeinschaftsziele insoweit mit den Staatszielbestimmungen des deutschen Grundgesetzes vergleichbar sind,81 ist zur Unterstützung der Argumentation auf ein entsprechendes Phänomen aus dem deutschen Verfassungsrecht zu verweisen. Dort ist anerkannt, dass Schrankenbestimmungen von Grundrechten dann eine höhere Bedeutung zukommen, wenn ihre Beachtung der Erreichung eines Staatszieles dient.82 Der Verwirklichung des Binnenmarktes kommt unter den Vertragszielen des EGV eine herausragende Bedeutung zu.83 Es bildet nach wie vor das prioritäre Ziel- und Sinnkonzept der Gemeinschaft als Wirtschaftsgemeinschaft.84 Anderslautende Bekundungen bleiben rechtpolitischer Art, solange sie nicht in der konkreten Normgebung des Gemeinschaftsvertrages Niederschlag gefunden haben. Es ließe sich also tatsächlich davon sprechen, dass in Konfliktsituationen den Grundfreiheiten ein gegenüber den Gemeinschaftsgrundrechten erhöhtes Gewicht zukommt, da die Verwirklichung des Binnenmarktes ein auch von dem EuGH bei seiner Rechtsprechung zu berücksichtigendes Vertragsziel bildet, der effektive Grundrechtsschutz hingegen kein vertraglich positiviertes Ziel der Europäischen Gemeinschaft darstellt.85 Die Herleitung des Binnenmarktzieles als entscheidungserhebliches Gewichtungskriterium könnte schließlich auch einen Erklärungsansatz dafür liefern, dass der EuGH meistenteils eine unmittelbare Abwägung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten nicht vornimmt, sondern bereits die Erforderlichkeit der betreffenden Maßnahme hinsichtlich des Schutzes der Gemeinschaftsgrundrechte verneint.86

bb) Der spezifische Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte Der relativen Stärke der Grundfreiheiten als zentrales Mittel zur Durchsetzung des Primärzieles der Gemeinschaft – der Errichtung eines Binnenmarktes – steht 80 EuGH, Rs. 32 / 65 – Italienische Republik / Kommission –, Slg. 1966, 457 (483); Rs. 15 / 81 – Gaston Schul –, Slg. 1982, 1409, Rz. 33; Rs. 85 / 76 – Hoffmann-La Roche –, Slg. 1979, 461, Rz. 125; Rs. 299 / 86 – Drexl –, Slg. 1988, 1213, Rz. 24. 81 Ukrow, in: Calliess / Ruffert, Art. 2 EGV, Rn. 29. 82 BVerfGE 59, 231 [262 f.]; Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 423. 83 Zu den Grundfreiheiten als „Werten der Gemeinschaft“ s. Bienert, Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns, S. 33 f. 84 Vgl. Müller-Graff, in: FS Steinberger, S. 1281, 1290. 85 Vgl. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 126 f. 86 EuGH, Rs. C-288 / 89 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda u. a. / Commissariat vor de Media –, Slg. 1991, I-4007, Rz. 24; EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, Rz. 80.

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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die Schwäche der Gemeinschaftsgrundrechte als bloßer Ausfluss des Loyalitätsgebotes aus dem Art. 10 EGV gegenüber. Die Argumentation mit dem Vertragsziel Binnenmarkt korrespondiert danach mit einem weiteren Ansatz, der für die Frage nach gemeinschaftsrechtlichen Abwägungsrichtlinien fruchtbar gemacht werden kann. Es ist erneut darauf hinzuweisen, dass die Gemeinschaftsgrundrechte nicht – zumindest nicht unmittelbar – einem gemeineuropäischen, gesellschaftlichen Konsens entstammen, sondern diese vielmehr in Beobachtung des gemeinschaftsrechtlichen Loyalitätsgebotes aus Art. 10 EGV entwickelt worden sind.87 Auch wenn sie von dem EuGH grundsätzlich als vollwertige Grundrechte zu entwickeln sind, die ihrem Wesen nach den in den Mitgliedstaaten geltenden, verfassungsmäßig und völkervertragsrechtlich verbürgten Grundrechten entsprechen, ergibt sich die Pflicht zur Entwicklung und zum Schutz dieser Grundrechte doch lediglich aus einer einfachen Vertragsvorschrift und nicht aus einem übergeordneten Vertragsziel. Des Weiteren ist festgestellt worden, dass die Mindestanforderungen für den Grundrechtsschutz, wie sie sich aus Art. 10 EGV i.V.m. den unabdingbaren mitgliedstaatlichen Schutzverpflichtungen ergeben, von dem Wesensgehalt der jeweiligen Grundrechte bestimmt werden. Ein niedriges Schutzniveau der Gemeinschaftsgrundrechte verletzt die abgeleite Schutzpflicht der Gemeinschaft damit nicht, solange der Wesensgehalt der Gemeinschaftsgrundrechte nicht berührt ist.88 Schließlich kommt auch der Kodifizierung der Grundrechtsrechtsprechung des Gerichtshofes in Art. 6 II EUV insofern lediglich deklaratorische Bedeutung zu. Ein normatives Gegengewicht zu dem prädominanten Binnenmarktziel schafft er mithin nicht.

cc) Unterschiedlicher materieller Charakter beider Normengruppen Teilweise ist weiterhin vertreten worden, für die Abwägung von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten ergäben sich Besonderheiten aus den unterschiedlichen Primärzwecken beider Institute. Während die Grundfreiheiten primär objektiv, namentlich binnenmarktpolitischen Zwecken folgten und subjektive Rechte des Einzelnen nur aus Gründen der effektiveren Wirkweise der Grundfreiheiten gewährten, sei der Individualschutz bereits Primärziel der Gemeinschaftsgrundrechte.89 Maßnahmen Einzelner stellten daher für die primär institutionelle Gewährleistungen der Grundfreiheiten regelmäßig eine geringere Gefahr dar, als dies für die Grundrechte anderer Bürger der Fall sei.90 87 88 89 90

s. oben S. 39 ff. Vgl. dazu oben S. 42 ff. Vgl. zu dieser Argumentation in anderem Zusammenhang oben S. 106 ff. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 178 ff.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Daraus wird abgeleitet, dass die Eingriffsschwelle für Grundfreiheiten höher anzusiedeln sei als bei den Gemeinschaftsgrundrechten.91 Abgesehen davon, dass eine unkritische Übertragung der deutschen Verknüpfung von Grundrechtsgeltung und negatorischem Anspruch bereits an gegebener Stelle abgelehnt worden ist,92 wird die konkrete Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten durch deren unterschiedliche Primärziele nicht beeinflusst. Die Frage der Eingriffsschwelle stellt sich bereits auf der Tatbestandsebene und ist somit eine Frage der Geltung der Norm. Dafür, dass eine Abwägung durchgeführt werden kann, ist aber Voraussetzung, dass ein Normenkonflikt besteht. Dieser wiederum setzt die tatbestandliche Einschlägigkeit der beiden betroffenen Normen voraus. Die Gewichtung einer Norm im Rahmen der konkreten Abwägung wird, wie gezeigt, durch die Wichtigkeit des dahinterstehenden Zweckes beeinflusst. Ob eine Norm eine objektiv- oder eine subjektivrechtliche Grundlage besitzt, ist für das Abwägungsergebnis indessen irrelevant.

c) Zusammenfassung Den EuGH trifft in jedem Einzelfall, in dem Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte in normativem Widerspruch zueinander stehen, die Pflicht, eine sorgfältige Abwägung zwischen den betreffenden Normen anzustellen. Dies ergibt sich aus der Qualität beider Normengruppen als gleichrangige Prinzipien. Zugleich sind Aspekte aufgezeigt worden, welche die Prämisse der Gleichrangigkeit relativieren und lediglich die Ablehnung einer absoluten Derogationswirkung eines der Prinzipien dem anderen gegenüber verlangen. Die Eigenschaft der Grundfreiheiten als Mittel zur Durchsetzung des gemeinschaftlichen Primärzieles Binnenmarkt auf der einen Seite und der lediglich einfachvertragliche Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte auf der anderen Seite sprechen dafür, dass den Grundfreiheiten gegenüber entgegenstehenden Gemeinschaftsgrundrechten ein grundsätzlich höheres Gewicht innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung beizumessen ist. Dies kann sich dementsprechend in der Abwägung beider Normengruppen niederschlagen. Eine vollständige Erklärung aller gerügten Defizite innerhalb der Rechtsprechung zu Konfliktfällen zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten ergibt sich auch mithilfe dieser Ansätze nicht. Deutlich wird aber, dass die unterschiedliche rechtliche Grundlage und Verankerung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten ein Ungleichgewicht 91 92

Ebenda. Dazu oben S. 49 f.

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zwischen beiden Normengruppen begründet, welches es bei zukünftiger Vertragsänderung durch Aufnahme des Grundrechtsschutzes in die Liste der Gemeinschaftsziele zu beseitigen gilt. Der gegebenenfalls festzustellende unterschiedliche materielle Charakter beider Normengruppen hat für den Abwägungsvorgang demgegenüber keine Relevanz.

3. Gemeinschaftsgrundrechte als Rechtfertigung für mitgliedstaatliche Eingriffe in die Grundfreiheiten Eben ist konstatiert worden, dass normative Konflikte zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten grundsätzlich im Wege einer praktischen Konkordanz aufzulösen sind. Damit ist aber noch nicht gesagt, auf welche Art und Weise Gemeinschaftsgrundrechte als Eingriffsrechtfertigungen der Grundfreiheiten in Anschlag gebracht werden können. Diese Frage soll dabei zunächst anhand der subjektiv-rechtlichen Grundfunktion der Grundfreiheiten als Abwehrrecht gegen binnenmarktwidrige mitgliedstaatliche Maßnahmen erläutert werden. In diesem Rahmen ist fraglich, inwiefern grundrechtliche Positionen bei der Überprüfung der Binnenmarktkonformität mitgliedstaatlicher Regelungen Beachtung finden und insbesondere inwiefern sich Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung grundfreiheitsbeschränkender Maßnahmen auf grundrechtliche Positionen berufen können.

a) Ausnahmetatbestände Zunächst fragt es sich, welche Bedeutung den Ausnahmetatbeständen i.e.S., den sogenannten Bereichsausnahmen der öffentliche Gewalt (Art. 45 EGV) für die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit bzw. der öffentliche Verwaltung (Art. 39 IV EGV) für die Arbeitnehmerfreizügigkeit zukommt. Durch sie werden die genannten Regelungsgegenstände bereits aus dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten herausgenommen.93 Bei der Anwendung und Auslegung dieser Bereichsausnahmen geht es also um Fragen der tatbestandlichen Einschlägigkeit der Grundfreiheitsbestimmungen. Wie bereits hingewiesen wurde, ist jedoch die tatbestandliche Einschlägigkeit der Grundfreiheiten Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu einem normativen Konflikt mit den Gemeinschaftsgrundrechten und somit zu einer Abwägungssituation kommen kann. Eine unmittelbare Prinzipienabwägung Grundfreiheit v. Gemeinschaftsgrundrecht ist in diesem Rahmen folglich nicht möglich.

93

Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 77.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

b) Rechtfertigungstatbestände Im Folgenden ist zu untersuchen, inwiefern Gemeinschaftsgrundrechte zur Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Eingriffe in Grundfreiheiten herangezogen werden können. Insbesondere fragt sich, ob die Gemeinschaftsgrundrechte einen eigenständigen Rechtfertigungstatbestand der Grundfreiheiten bilden können oder ob sie im Rahmen der herkömmlichen Rechtfertigungstatbestände zur Geltung gebracht werden. aa) Unmittelbare Bezugnahme auf Gemeinschaftsgrundrechte Die Mitgliedstaaten selbst sind nicht Begünstigte der Gemeinschaftsgrundrechte. Diese vermitteln alleine den Unionsbürgern unmittelbare Rechte.94 Daraus folgt, dass eine unmittelbare Berufung der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaftsgrundrechte zur Rechtfertigung durch sie erlassener binnenmarktwidriger Maßnahmen ausgeschlossen ist. Mitgliedstaaten könnten zu diesem Zwecke lediglich im Namen ihrer Bürger auf gemeinschaftsgrundrechtliche Positionen Bezug nehmen. Geltend gemacht werden kann demnach das mitgliedstaatliche Interesse an dem grundrechtlichen Schutz seiner Bürger. Nach der Systematik der Grundfreiheitsbestimmungen sind gegenläufige mitgliedstaatliche Interessen jedoch abschließend von den bestehenden Rechtfertigungstatbeständen der Grundfreiheiten erfasst.95 Die Schaffung eines neuen eigenständigen Tatbestandes für die Geltendmachung grundrechtlicher Positionen ist demzufolge nicht angezeigt. Mangels ausdrücklicher Erwähnung mitgliedstaatlicher Interessen hinsichtlich des Grundrechtsschutzes in den Rechtfertigungstatbeständen der Grundfreiheiten können Grundrechtsschutzaspekte mithin nur entweder durch dahingehende Auslegung ausdrücklich vorgesehener Rechtfertigungsgründe oder über die Qualifizierung als zwingende Gründe des Allgemeinwohls Beachtung finden. bb) „Grundrechtskonforme Auslegung“ geschriebener Rechtfertigungstatbestände Der systematisch nächstliegende Ansatz ist, grundrechtlichen Positionen im Wege einer entsprechenden Auslegung der ausdrücklichen Rechtfertigungstatbestände Beachtung zu verleihen. Teilweise finden sich Teilgewährleistungen einzelner Grundrechte in den geschriebenen Rechtfertigungstatbeständen der Grundfreiheiten. Beispiele hierfür 94 Zu der davon zu unterscheidenden Frage des Adressatenkreises der Gemeinschaftsgrundrechte vgl. u. S. 134 ff. 95 Vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 162.

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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bilden der Schutz von Menschenleben oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums in Art. 30 EGV. Neben der Warenverkehrsfreiheit nehmen die Rechtfertigungstatbestände der Arbeitsnehmerfreizügigkeit (Art. 39 III EGV), der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 46 I EGV) bezug auf die Gesundheit als Aspekt des Grundrechtes der körperlichen Unversehrtheit.96 Um Grundrechtspositionen im Rahmen der Rechtfertigungstatbestände des Vertrages darüber hinausgehende Berücksichtung zu verschaffen, wären diese, wie gesagt, entsprechend auszulegen. Ein Hinweis auf diesen Lösungsansatz könnte denn auch der ERT-Rechtsprechung zu entnehmen sein, wenn darin von den Mitgliedstaaten gefordert wird, die geschriebenen Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten seien „im Lichte der [ . . . ] Grundrechte“97 auszulegen, worauf der EuGH auch Bezug nimmt, wenn die Gemeinschaftsgrundrechte in ihrer Schranken-Funktion betroffen sind.98 Hierzu käme insbesondere der allen Grundfreiheiten gemeinsame, generalklauselartige Rechtfertigungstatbestand der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Betracht (Art. 30, 39 III, 46 I u. 58 I lit. b EGV).99 Eine entsprechende Sichtweise stünde allerdings in diametralem Gegensatz zu der ständigen Rechtsprechung des EuGH, nach der der gemeinschaftsrechtliche Effektivitätsgrundsatz (effet utile) eine möglichst restriktive Auslegung aller Ausnahmetatbestände zu den Grundfreiheiten gebietet.100 Zudem charakterisiert die 96 Mangels verbindlicher Bezeichnungen für Gemeinschaftsgrundrechte soll sich hier an die Begriffe des GG (Art. 2 II GG) angelehnt werden. 97 EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, 2925, Rz. 43. 98 Vgl. die Ausführungen oben auf S. 112 f. bzw. S. 116 ff. zu den Entscheidungen EuGH, Rs. C-62 / 90 – Kommission / Deutschland –, Slg. 1992, I-2601, sowie EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659. 99 Während der Begriff der öffentlichen Ordnung nach weitverbreitetem Verständnis grundsätzlich eine regelmäßig grundrechtsbeschränkende Wirkung hat: vgl. Schneider, Die öffentliche Ordnung, S. 89 ff. Vgl. das deutsche Polizei- und Ordnungsrecht in dem der Grundrechtsschutz dem Tatbestand der öffentlichen Sicherheit in gefahrenabwehrechtlichen Generalklauseln subsumiert wird. 100 Grundlegend: EuGH, Rs. 41 / 74 – van Duyn / Home Office –, Slg. 1974, 1337, Rz. 19; seitdem mehrfach bestätigt worden, vgl. zu Art. 30 bereits: EuGH, Rs. 13 / 68 – Salgoil / Außenhandelsministerium der italienischen Republik –, Slg. 1968, 679, 694 sowie Rs. 113 / 89 – Kommission / Irland –, Slg. 1981, 1625, Rz. 7; Rs. 95 / 81 – Kommission / Italien –, Slg. 1982, 2187, Rz. 27; Rs. 229 / 83 – Association des Centres distributeurs Eduard Leclerc u. a. / SARL „Au blé vert“ u. a. –, Slg. 1985, 1, Rz. 30; zu Art. 39 III: EuGH, Rs. 67 / 74 – Bonsignore / Oberstadtdirektor der Stadt Köln –, Slg. 1975, 297, Rz. 6; Rs. 36 / 75 – Rutili –, Slg. 1975, 1219, Rz. 26 / 28; Rs. 30 / 77 – Bouchereau –, Slg. 1977, 1999, Rz. 33 / 35; zu Art. 45 EGV als Ausnahme zu Art. 43 EGV: EuGH, verb. Rs. 115 u. 116 / 81 – Adoui u. Cornuaille / Belgischer Staat –, Slg. 1982, 1665, Rz. 8; zu Art. 45 EGV als Ausnahme zu Art. 49 EGV: EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, 2925 Rz. 24; zu Art. 58 I lit. b: EuGH, verb. Rs. C-163, 165 u. 250 / 94 – Sanz de Lera u.a. –, Slg. 1995, I-4837, Rz. 22.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass dieser unbestimmte Rechtbegriffe, wie den der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, zwar tatbestandlich umschreibt, ihn aber nie abschließend definiert.101 Das Interesse an dem Schutz der jeweiligen nationalen Grundrechtsordnung, dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu subsumieren, würde diese Praxis offenkundig konterkarieren. Dementsprechend enthalten die Aussagen des EuGH zu der Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte auch keine Verweise auf konkrete vertragliche Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten. Eine Lösung, über die grundrechtskonforme Auslegung der ausdrücklichen Rechtfertigungstatbestände wäre zwar im Hinblick auf die ERT-Rechtsprechung des EuGH konsequent. Es ist jedoch davon auszugehen, dass nach bisheriger Lesart des EuGH eine solche Auslegung geschriebener Rechtfertigungstatbestände nur dann stattfindet, wenn die einschlägigen Grundrechtspositionen auf Seiten des Gemeinschaftsinteresses fechten.102 Dies ist bestenfalls als skurrile Folge der widersprüchlichen Rechtsprechung, wonach dem Gebot der engen Auslegung der geschriebenen Rechtfertigungstatbestände ein entwicklungsoffener ungeschriebener Rechtfertigungstatbestand, den der „zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses gegenüber gestellt wird, anzusehen. Von anderer Seite ist dem EuGH in diesem Zusammenhang jedoch auch schon vorgeworfen worden, er instrumentalisiere die Gemeinschaftsgrundrechte für die Zwecke der Integration.103 Ohne derlei Spekulationen hinsichtlich entsprechender Intentionen des Gerichtshofes weiter nachzugehen, ist jedenfalls für die vorliegende Untersuchung davon auszugehen, dass eine Berufung auf grundrechtliche Positionen für die Mitgliedstaaten nurmehr im Rahmen der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe der Grundfreiheiten stattzufinden hat.

cc) Ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände Auch den wenigen Aussagen, die der EuGH zu Gemeinschaftsgrundrechten als Schranken der Grundfreiheiten getroffen hat, lässt sich entnehmen, dass dieser offensichtlich die Lösung favorisiert, nach welcher grundrechtliche Positionen im Rahmen der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses in Anschlag gebracht werden sollen.104 Im Kapitel über die Grundfreiheiten ist bereits festgestellt worHoffmann, Die Grundfreiheiten des EGV, S. 135 f. Zum Vergleich der Rspr. des EuGH zur Schranken- und der zu Schranken-SchrankenFunktion s. die entsprechenden Übersichten auf S. 106 ff. u. S. 135 ff. 103 Coppell / O’Neill, in: CMLR 29 (1992), S. 669, 673 ff. 104 EuGH, Rs. C-288 / 89 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda u. a. / Commissariat vor de Media –, Slg. 1991, I-4007, Rz. 23; Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress 101 102

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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den, dass es sich bei den so genannten zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses im Gegensatz zu den geschriebenen Rechtfertigungstatbeständen nicht um einen abgeschlossenen Katalog restriktiv auszulegender Rechtfertigungstatbestände handelt.105 Dies ermöglicht es grundsätzlich, auch Grundrechtsschutzinteressen unter diesen Tatbestand zu fassen. Fraglich bleibt, auf welche Weise Grundrechtsschutzinteressen im Rahmen der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe des Gemeinschaftsrechtes von den Mitgliedstaaten vorgebracht werden können. Die unterschiedlichen nationalen Grundrechte können nicht unmittelbar als zwingende Erfordernisse des Gemeinwohles in Anschlag gebracht werden. Dies liefe dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung zuwider, welcher fordert, dass Rechtfertigungstatbestände als gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen einheitlich ausgelegt und angewendet werden müssen.106 Zudem sind die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nur subsidiäre Rechtsquellen bei der Herleitung der zwingenden Erfordernisse, welche soweit möglich aus Gemeinschaftsrecht herzuleiten sind.107 Zugleich ist festgestellt worden, dass Mitgliedstaaten auch die Gemeinschaftsgrundrechte nicht unmittelbar als Rechtfertigungsgründe für Grundfreiheitsbeschränkungen heranziehen können.108 Daraus folgt, dass Gemeinschaftsgrundrechte nicht als zwingende Erfordernisse in Anschlag gebracht werden können. Um den Gemeinschaftsgrundrechten im Rahmen der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe der Grundfreiheiten dennoch Geltung zu verleihen, ist deren objektivrechtlicher Gehalt heranzuziehen.109 Dies geschieht, indem weder Gemeinschaftsgrundrechte noch nationale Grundrechte unmittelbar in Anschlag gebracht werden, sondern indem das der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten gemeinsame Interesse am Grundrechtsschutz als Allgemeininteresse gewertet wird.110

Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 18; EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659, Rz. 74 ff. 105 Vgl. oben S. 98 ff. 106 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 155; Weiler / Lockhart, in: CMLR 32 (1995), 51, 76. 107 s. oben S. 99. 108 s. oben S. 126 f. 109 Schaller, EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 109; Kühling, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 602; Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 613; Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 155; Pernice, in: Grabitz / Hilf, Art. 164 EGV, Rn. 62 e; Kokott, in: AöR 121 (1996), S. 599, 611; Gersdorf, in: AöR 119 (1994), S. 400, 412 ff.; Kühling, in: EuGRZ 1997, S. 296, 301. Abzulehnen sind allerdings die unter diesen Vertretern teilweise anzutreffende Interpretation, nach welcher hierin der Anwendungsfall einer grundrechtlichen Schutzpflicht zu sehen sei. Es geht hier stattdessen allein um die Konkretisierung des Allgemeininteresses im Rahmen der Rechtfertigung mithilfe der zwingenden Erfordernisse (s. a. Kingreen, in: Calliess / Ruffert Art. 6 EUV, Rn. 47 a). 9 Schultz

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Der Schutz der im Einzelfall betroffenen Grundrechtsnorm stellt sich sodann als zwingender Grund dieses Allgemeininteresses dar, der zur Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Eingriffe in die Grundfreiheiten herangezogen werden kann. Die damit einhergehende Verobjektivierung von Grundrechtsschutzinteressen zu zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses hat zur Konsequenz, dass sich die Mitgliedstaaten vor diesem Hintergrund sowohl auf den Schutz einzelner Grundrechte111 als auch nur auf spezifische Teilgewährleistungen112 der gemeinschaftsrechtlich geschützten Grundrechte berufen können. Entsprechend den oben gemachten Ausführungen zu der Konkurrenzfrage zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten,113 ist an dieser Stelle schließlich darauf hinzuweisen, dass Aspekte des Grundrechtsschutzes, die bereits von den geschriebenen Rechtfertigungstatbeständen erfasst sind,114 nicht mehr im Rahmen der zwingenden Erfordernisse des Gemeinwohles vorgebracht werden können.115 dd) Keine gemeinschaftsgrundrechtliche Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen? Nach den oben getroffenen Feststellungen muss den Gemeinschaftsgrundrechten durch den EuGH unabhängig von dem jeweiligen Vorbringen der Mitgliedstaaten grundsätzlich in jedem Einzelfall zu voller Geltung verholfen werden.116 Es kann also differenziert werden zwischen der jederzeit bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Pflicht zur Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranke der Grundfreiheiten und den Rechtfertigungsgründen, die den Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen. Wenn Mitgliedstaaten grundrechtliche Positionen nur im Rahmen der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses geltend machen können, folgt daraus, dass die Berufungsmöglichkeiten hinsichtlich Interessen des Grundrechtsschutzes auf den Anwendungsbereich dieser Rechtfertigungstatbestände beschränkt sind. 110 Vgl. EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659, Rz. 74; vgl. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 136. 111 Zur Versammlungsfreiheit als entgegenstehendes Grundrecht s. EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659, Rz. 74. 112 Zur Pluralismussicherung als Teilaspekt des Schutzes der Meinungsfreiheit s. EuGH, Rs. C-288 / 89 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda u. a. / Commissariat vor de Media –, Slg. 1991, I-4007, Rz. 23; Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 18. 113 s. dazu oben S. 109 ff. 114 In den Art. 30, 39 III, 45 EGV sind Aspekte der Gemeinschaftsgrundrechte des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit sowie des Eigentums ausgemacht worden. Vgl. dazu oben S. 126 ff. 115 Vgl. Lux, in: Lenz, Art. 28 EGV, Rn. 31. 116 s. oben S. 117.

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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Nach dem bisherigen Stand der Rechtsprechung bedeutet dies, dass sich Mitgliedstaaten jedenfalls zur Rechtfertigung offen diskriminierender Maßnahmen nicht auf gemeinschaftsgrundrechtliche Interessen berufen können.117 Gegenüber diesen sind nur die ausdrücklichen Rechtfertigungstatbestände einschlägig. Eine Lücke bezüglich mitgliedstaatlicher Berufungsmöglichkeiten auf grundrechtliche Positionen als rechtfertigende Interessen würde sich allerdings auch dann ergeben, wollte man die grundrechtlichen Positionen über die ausdrücklichen Rechtfertigungstatbestände der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erfasst wissen. Zumindest für die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EGV fehlt es nämlich an jeglichen – insbesondere auch ausdrücklichen – Rechtfertigungsmöglichkeiten für diskriminierende Maßnahmen.118 Es ist fraglich, ob dies mit der umfassenden Beachtungspflicht, welche die Gemeinschaft hinsichtlich der Gemeinschaftsgrundrechte trifft, vereinbar ist. Die Ausnahme diskriminierender Maßnahmen aus den grundrechtlich rechtfertigungsfähigen Maßnahmen könnte als Ausdruck einer Grundentscheidung innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung gewertet werden, nach der das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot dann per se einer Einschränkung durch grundrechtliche Belange nicht zugänglich sein soll.119 Eine solche Sichtweise wäre zwar im Rahmen der Grundfunktion der Grundfreiheiten als Abwehrrechte durchaus vertretbar. Es ist in der Tat nicht ersichtlich, dass eine staatliche Maßnahme offen diskriminierender Art über die vertraglich aufgeführten Möglichkeiten hinaus durch Grundrechtsschutzinteressen gefordert sein könnte.120 Ob sich dies im Rahmen anderer Gewährleistungen der Grundfreiheiten, wie der Schutzfunktion bzw. insbesondere der unmittelbaren Drittwirkung als ebenso unproblematisch darstellt, ist allerdings fraglich.

4. Schrankenfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte in anderen Kollisionslagen Die soeben gewonnenen Ergebnisse beziehen sich zunächst nur auf die Grundfreiheiten in ihrer Abwehrfunktion. Den Grundfreiheiten sind durch den EuGH über diese Grundfunktion hinaus erweiterte Gewährleistungsgehalte zugesprochen s. oben S. 101 f. Der EuGH differenziert hier inzwischen zwischen offenen und versteckten Diskriminierungen: EuGH, Rs. C-237 / 94 – O’Flynn –, Slg. 1996, I-2617, Rz. 26; Rs. C-350 / 96 – Clean Car Autoservice –, Slg. 1998, I-2521, Rz. 39. 119 In diese Richtung gehend Jacobs, in: ELRev. 26 (2001), S. 331, 337. 120 Eine entsprechende Aussage lässt sich für mittelbar diskriminierende Maßnahmen schon wegen derer begrifflichen Unbestimmtheit nicht treffen. 117 118

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

worden.121 So kommt den Grundfreiheiten unter bestimmten Bedingungen eine unmittelbare horizontale Wirkung zu bzw. es wird ihnen eine Schutzpflicht entnommen. Damit haben sich zugleich neue Konstellationen ergeben, in denen beide Normengruppen zueinander in Beziehung treten können. Der oben gefundene Grundsatz, dass Normenkonflikte zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte im Wege einer praktischen Konkordanz zu lösen sind, verlangt auch im Rahmen dieser Konstellationen Beachtung.122 Fraglich ist dabei wiederum, inwieweit sich die jeweiligen Normadressaten der Grundfreiheiten auf grundrechtliche Positionen bei der Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen berufen können. Sowohl im Rahmen der Schutzpflichtfunktion der Grundfreiheiten als auch für die unmittelbare Drittwirkung ist die Frage nach den Rechtfertigungsmöglichkeiten von Grundfreiheitseingriffen bislang nicht abschließend geklärt. Im Folgenden sollen zumindest einzelne bedeutsame Aspekte aufgezeigt werden, die sich für diese Konstellationen aus den bisher gewonnnen Ergebnissen im Rahmen des Verhältnisses von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten ergeben. a) Kollisionen im Rahmen der Schutzpflichtfunktion der Grundfreiheiten Den Grundfreiheiten werden nicht nur Unterlassungs- sondern i.V.m. Art. 10 EGV unter bestimmten Voraussetzungen auch Handlungspflichten entnommen.123 Auch hier treffen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte aufeinander. Geht man davon aus, dass dem Staat, den die Schutzpflicht trifft, dieselben Rechtfertigungstatbestände zur Verfügung stehen wie in Fällen der Abwehrfunktion der Grundfreiheiten, ergibt sich für die Frage nach der Rolle der Grundfreiheiten bei der Rechtfertigung solcher Maßnahmen zunächst nicht Neues. Ein entscheidender Unterschied zu der Grundfunktion der Grundfreiheiten als Abwehrrechte gegen mitgliedstaatliches Handeln ist jedoch darin zu erblicken, dass die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten hier nicht unmittelbar von den Staaten sondern von Privaten ausgehen. Bei Grundfreiheitsbeeinträchtigungen durch Private ist es nämlich wahrscheinlicher, dass deren grundfreiheitsbeschränkenden Maßnahmen zugleich auch eine grundrechtlich geschützte Freiheitsbetätigung darstellen. In diesem Rahmen kommt es mithin öfter zu Kollisionen zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten. Dies ist unproblematisch, wenn es sich dabei wie in der Situation, 121 122 123

Vgl. zu den verschiedenen Funktionen der Grundfreiheiten oben S. 68 ff. Vgl. oben S. 117. s. oben S. 91.

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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die der Schmidberger-Entscheidung zugrunde lag, um eine nichtdiskriminierende Maßnahme handelt. Genauso gut sind innerhalb dieser Konstellation aber auch Situationen denkbar, in denen sich Grundrechtsbetätigungen als offen diskriminierende Maßnahmen darstellen. Bereits der „Erdbeerstreit-Fall“ liefert ein Beispiel: Hätten sich die französischen Bauern bei ihren Protesten und Blockaden auf friedliche Mittel beschränkt, hätte der Handlungspflicht Frankreichs zur Verhinderung der Blockaden das Grundrecht der Bauern auf Freiheit der Versammlung entgegengestanden.124 Bei der Blockade der Einfuhr ausländischer Erdbeeren handelt es sich aber um eine offen diskriminierende Maßnahme der Bauern, die mithilfe zwingender Erfordernisse nach dem bisherigen Stand der Rechtsprechung nicht zu rechtfertigen gewesen wäre. Hier werden die Probleme deutlich, die aus der tatbestandlichen Begrenzung der zwingenden Erfordernisse als Anknüpfungspunkt der Schrankenfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Grundfreiheitsprüfung folgen. Der EuGH ist bereits an verschiedener Stelle an die Grenzen seiner Rechtsprechung zur Beschränkung der Anwendbarkeit der zwingenden Erfordernisse auf unterschiedslos anwendbare Maßnahmen gestoßen.125 Wenn nun festgestellt wurde, dass Grundrechtsschutzaspekte ausschließlich im Rahmen der zwingenden Erfordernisse geltend gemacht werden können, folgt daraus zumindest im Hinblick auf die Schutzpflichtfunktion der Grundfreiheiten die Forderung, den Anwendungsbereich der zwingenden Erfordernisse auch auf offen diskriminierende Maßnahmen zu erweitern.126

b) Kollisionen im Rahmen der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten Besondere Relevanz entwickelt die Frage nach der Schrankeneigenschaft von Gemeinschaftsgrundrechten in Bezug auf Grundfreiheiten in Fällen der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten.127 Die unmittelbare Drittwirkung von Grundfreiheitsnormen ist von dem EuGH bislang nur für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 ff. EGV anerkannt wor124 EuGH, Rs. C-265 / 95 – Kommission / Frankreich –, Slg. 1997, I-2195 (Agrarblockaden); ausführlicher zu dieser Rs. oben S. 91 u. 115; vgl. a. EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger –, Slg. 2003, I-5659. 125 EuGH, Rs. 2 / 90 – Kommission / Belgien –, Slg. 1992, 4431 ff.; EuGH, Rs. C-379 / 98 – PreussenElektra –, Slg. 2001, I-2099 ff. Dazu oben S. 101 f. 126 Vgl. Becker, in: Schwarze, in: ders., Art. 30 EGV, Rn. 43. 127 Vgl. dazu Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 106 ff.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

den.128 Nach dem Stand der Rechtsprechung gilt die uneingeschränkte Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit weiter nur für deren Gewährleistung als Diskriminierungsverbot.129 Anderen Grundfreiheiten soll eine entsprechende Wirkung nach h. M. nicht beigelegt werden.130 Wird der Einzelne zum Adressaten der Grundfreiheiten gemacht, verursacht dies für die Frage nach Rechtfertigungsmöglichkeiten des auf diese Weise Verpflichteten besondere Schwierigkeiten. Inwieweit sich der Einzelne auf die für mitgliedstaatliches Handeln konzipierten Rechtfertigungstatbestände des Vertrages berufen kann, ist problematisch.131 Soweit sich der Einzelne auf geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände des Gemeinschaftsrechtes zur Rechtfertigung privater Grundfreiheitseingriffe berufen kann, ist auf die zur Abwehr- und Schutzfunktion gemachten Aussagen zu verweisen. Allerdings hat der EuGH eine unbedingte Drittwirkung bislang auf die einzige grundfreiheitliche Gewährleistung ohne jegliche Rechtfertigungsmöglichkeit für unmittelbar diskriminierende Maßnahmen beschränkt: Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheit der Arbeitsnehmerfreizügigkeit. 132 Ebenso wie für die Schutzpflichtfunktion der Grundfreiheiten scheint hier jedoch nicht ausgeschlossen, dass offen diskriminierende Maßnahmen Einzelner vom Schutzbereich einzelner Gemeinschaftsgrundrechte erfasst sind. So ist beispielsweise der Betreiber eines traditionellen bayrischen Gasthauses durch die Gemeinschaftsgrundrechte der Berufsfreiheit bzw. der Eigentumsfreiheit zu schützen, wenn er ausschließlich deutsches Personal für den Ausschank anstellt und damit in die unmittelbar horizontal wirkende Arbeitnehmerfreizügigkeit ausländischer Arbeitssuchender eingreift. Im Unterschied zu Konstellationen, in denen der Staat Adressat der Grundfreiheiten ist, ist im Rahmen der Drittwirkung der Grundfreiheiten allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Einzelne als Rechtsträger der Gemeinschaftsgrundrechte Eingriffe in die Grundfreiheiten rechtfertigt, indem er sich unmittelbar auf diese Gemeinschaftsgrundrechte beruft.133 Zu beachten gilt dabei allerdings, dass im Falle der unmittelbaren Drittwirkung sowohl Adressat als auch Begünstigter der Grundfreiheiten Private sind. Privatpersonen können Gemeinschaftsgrundrechte untereinander geltend machen, soweit diese zwischen ihnen gelten. Dies gilt auch, wenn ein Privater sich 128 EuGH, Rs. C-415 / 93 – ASBL u. a. / Bosman –, Slg. 1995, I-4921, Rz. 82 f.; Rs C-281 / 98 – Angonese – Slg. 2000, I-4139, Rz. 36; vgl. ausführlicher dazu oben S. 93 ff. 129 EuGH, Rs C-281 / 98 – Angonese – Slg. 2000, I-4139, Rz. 36. 130 Jarass, in: EuR 2000, S. 705, 715 f., mwN. 131 Vgl. dazu ausführlich Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 164 ff. 132 EuGH, Rs C-281 / 98 – Angonese –, Slg. 2000, I-4139, Rz. 36. 133 Vgl. dazu oben S. 126 f.

Kap. II: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten

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gegenüber einem anderen zur Rechtfertigung einer Grundfreiheitsbeschränkung auf seine Grundrechte berufen will. Damit nun der Adressat der Grundfreiheit gegenüber dem Begünstigten einen Rechtfertigungsgrund für die fragliche Grundfreiheitsbeschränkung vorbringen kann, muss dieser wiederum Adressat dieses Rechtfertigungsgrundes sein. Damit sich der Einzelne zur Rechtfertigung einer Beeinträchtigung der grundfreiheitlichen Verbürgungen eines zweiten Privaten auf Gemeinschaftsgrundrechte berufen kann, müsste somit zunächst einmal feststehen, dass der Begünstigte der Grundfreiheit auch Adressat des von Ersterem geltend gemachten Gemeinschaftsgrundrechtes ist. Mit anderen Worten setzt die Berufung auf Gemeinschaftsgrundrechte im Rahmen der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten, die unmittelbare Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte voraus.134 Aus dem oben aufgestellten Grundsatz, nachdem Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte in Normenkonfliktsituationen stets im Wege der praktischen Konkordanz miteinander in Ausgleich gebracht werden müssen, folgt mithin allgemein gesprochen, dass die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten stets auch die unmittelbare Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte als Gegenrechte bedingt.

5. Zusammenfassung Sind einzelne Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte auf den selben Fall anwendbar und widersprechen sich deren normative Aussagen bei Anwendung auf diesen Fall, so sind die beiden konfligierenden Prinzipien im Wege einer praktischen Konkordanz zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. In der Praxis geschieht dies, indem gemeinschaftsgrundrechtliche Aspekte bei der Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Eingriffe in Grundfreiheiten Berücksichtigung finden. Soweit die vertraglichen Rechtfertigungstatbestände ausdrücklichen Bezug auf Grundrechtsinteressen nehmen, sind diese vorrangig anzuwenden. Eine gemeinschaftsgrundrechtskonforme Auslegung der allen Grundfreiheiten gemeinsamen Rechtfertigungstatbestandes der öffentlichen Ordnung und Sicherheit kommt demgegenüber nicht in Betracht, da dies mit der Rechtsprechung des EuGH zur engen Auslegung dieses Tatbestandes nicht vereinbar ist. Stattdessen werden die Gemeinschaftsgrundrechte in ihrer objektiv-rechtlichen Funktion herangezogen, indem das Interesse an ihrem Schutz als Allgemeininteresse im Rahmen der ungeschriebenen Rechtfertigungstatbestände der zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses in Anschlag gebracht werden. 134 Vgl. a. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 105.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Offen diskriminierende Maßnahmen sind demzufolge nach bisheriger Lesart einer grundrechtlichen Rechtfertigung über die im Vertrag vorgesehenen Möglichkeiten hinaus nicht zugänglich. Während sich dies für die Abwehrfunktion der Grundfreiheiten als hinnehmbare Folge darstellt, spricht die Grundrechtslage im Rahmen der Schutzpflichtfunktion der Grundfreiheiten für eine Erweiterung des Bereiches der durch zwingende Erfordernisse rechtfertigungsfähigen Maßnahmen. Im Rahmen der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten können Gemeinschaftsgrundrechte schließlich von dem Einzelnen unmittelbar als Rechtfertigung binnenmarktwidriger Maßnahmen vorgebracht werden. Daraus folgt die korrespondierende, unmittelbare Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte.

6. Grundfreiheiten als Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte Wie bereits angemerkt, hängt es in Kollisionslagen lediglich von der Sichtweise ab, ob man jenes Prinzip als Schranke des einen begreift oder umgekehrt. In Kollisionslagen fungiert ein Prinzip jeweils als Schranke des anderen, je nachdem aus der Perspektive welcher der konfligierenden Normen die Betrachtung stattfindet. Bei einem Normenkonflikt können die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechtes damit ebenso als Schrankenbestimmungen zu den Gemeinschaftsgrundrechten gesehen werden. Jedoch gibt es keine ausgereifte, den Grundfreiheitsbestimmungen vergleichbare Dogmatik der Beschränkungsmöglichkeiten der Gemeinschaftsgrundrechte.135 Deshalb lassen sich detaillierte Aussagen der Form, wie sie für die SchrankenFunktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Prüfung der Grundfreiheiten gemacht worden sind, hier nicht treffen.

7. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? Der europäische Grundrechtsschutz erfährt durch den vorliegenden Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa eine erhebliche Aufwertung, indem die Bestimmungen der Grundrechtscharta mit Verbindlicherklärung dieses Entwurfes als unmittelbare Verfassungsnormen Geltung entfalten würden. Allerdings ist oben festgestellt worden, dass im Rahmen der in Fällen von Normenkonflikten anzustellenden Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten den Grundfreiheiten ein höheres Gewicht zukommt, da deren Gewährleistung ein ausdrückliches Gemeinschaftsziel darstellt.136 135 136

Dazu oben S. 60 ff. Vgl. oben S. 120 ff.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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Das Ziel der Binnenmarktsverwirklichung findet sich auch unter den Zielen der Union in Art. 3 II EVVE wieder. Der Grundrechtsschutz wird hingegen lediglich im Außenverhältnis als ausdrückliches Ziel der Union erklärt. Eine Aufnahme des Grundrechtsschutzes als entsprechendes Ziel auch im Innenverhältnis wäre allein aus kompetenzrechtlichen bzw. -politischen Erwägungen nicht durchsetzbar gewesen.137 Zwar existiert auf der anderen Seite mit Art. 7 I EVVE ein vertragsausdrückliches Bekenntnis der Union zur Achtung der Grundrechte, wie sie sich aus der als Teil II des Verfassungsvertrages eingefügten Grundrechtecharta ergeben. In seiner rechtsystematischen Wirkung geht dieses Bekenntnis indessen nicht über diejenige der entsprechenden Bestimmung des aktuellen Art. 6 II EUV hinaus.138 Danach ist davon auszugehen, dass auch im Falle der Verbindlicherklärung des avisierten Verfassungstextes das für die aktuelle Normsystematik des Gemeinschaftsrechts festgestellte Ungleichgewicht zwischen grundfreiheitlichen und gemeinschaftsgrundrechtlichen Schutzinteressen nicht vollständig ausgeräumt sein wird. Kapitel III

Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten Nunmehr soll sich der Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Prüfung der Grundfreiheiten zugewandt werden. Auch hier wird zunächst die hierfür maßgebliche Rechtsprechung wiedergegeben und diese sodann auf ihre gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen hin untersucht.

1. Rechtsprechung a) Rs. Rutili Als ein erster Ansatz zu der Heranziehung der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten kann das Urteil in der Rs. Rutili gewertet werden.139 Der Tribunal Administratif Paris hatte in einem Vorabentscheidungsverfahren zwei Fragen zur Auslegung des Art. 48 EWGV (Art. 39 III EGV n.F.) vorgelegt. 137 Siehe zu den Bedenken hinsichtlich mit der Grundrechtecharta einhergehender Kompetenzerweiterungen oben S. 65 f. 138 Abgesehen von dem nunmehr nach Art. 7 II EVVE angestrebten Beitritt der Union zum EMRK-System. 139 EuGH, Rs. 36 / 75 – Rutili –, Slg. 1975, 1219.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Im Ausgangsstreitverfahren hatte der italienische Staatsbürger Rutili gegen eine Entscheidung geklagt, durch die ihm die Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaates der EWG lediglich eingeschränkt durch ein Aufenthaltsverbot für bestimmte französische Departements erteilt worden war. Der Gerichtshof stellte in seinem Urteil klar: „Nach allem darf das Recht der Angehörigen der Mitgliedstaaten, ins Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen, sich dort aufzuhalten und frei zu bewegen, nur beschränkt werden, wenn ihre Anwesenheit oder ihr Verhalten eine tatsächlich und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. [ . . . ] Insgesamt stellen sich die Beschränkungen der ausländerpolizeilichen Befugnisse der Mitgliedstaaten als eine besondere Ausprägung eines allgemeinen Grundsatzes dar, der in den Artikeln 8, 9, 10 und 11 der . . . [EMRK] verankert ist, die gleichlautend bestimmen, daß die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorgenommenen Einschränkungen der in den genannten Artikeln zugesicherten Rechte nicht den Rahmen dessen überschreiten, was für diesen Schutz, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.“140

Ein früher Hinweis auf ein Verständnis der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten könnte hier in der Gegenüberstellung der Rechtfertigungsanforderung der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der EMRK-Grundrechte, die der Gerichtshof regelmäßig als Rechtsfindungsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte heranzieht, gesehen werden.

b) Rs. Defrenne Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens in der Rs. Defrenne war das Diskriminierungsverbot des Art. 141 EGV (Art. 119 EGV a.F.). Die belgische Cour de Cassation hatte über Schadensersatzforderungen von Gabrielle Defrenne zu entscheiden, die gemäß ihres Arbeitsvertrages mit der Fluggesellschaft Sabena mit Erreichen ihres vierzigsten Lebensjahres aus dem Dienst entlassen worden war. Für männliche Angestellte gab es eine entsprechende Altersbegrenzung nicht. Der EuGH erklärte den vertraglichen Gleichbehandlungsgrundsatz für nicht einschlägig, da dieser als Sonderbestimmung über die Lohndiskriminierung von Frauen und Männern über Fragen des Entgeltes hinaus keine Gleichbehandlung hinsichtlich sonstiger Arbeitsbedingungen fordere. Der EuGH merkte im Leitsatz des Urteiles zwar an, dass er den – diesbezüglich nicht beschränkten – allgemeinen Gleichheitssatz als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrecht schütze, stellte dann aber fest: „Die Gemeinschaft ist jedoch nicht befugt, die Einhaltung dieser Diskriminierungsregel im Hinblick auf ausschließlich dem nationalen Recht unterliegende Arbeitsverhältnisse vorzuschreiben.“141

140 141

EuGH, Rs. 36 / 75 – Rutili –, Slg. 1975, 1219, Rz. 26 / 28 u. 32. EuGH, Rs. 149 / 77 – Defrenne –, Slg. 1978, 1365, Ls. 2.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

139

Der Gerichtshof stellte hier, in Übereinstimmung mit seiner späteren Rechtsprechung klar, dass die Anwendung der durch ihn zu schützenden Gemeinschaftsgrundrechte die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechtes voraussetzt. Außerhalb des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechtes sei er zur Überprüfung mitgliedstaatlicher Akte jedenfalls nicht befugt.

c) Rs. Cinéthèque Dass er die Gemeinschaftsgrundrechte allerdings im gesamten Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes zu schützen habe, proklamierte der EuGH ausdrücklich erstmalig in der Rs. Cinéthèque.142 Gegenstand dieses Vorabentscheidungsverfahrens war ein französisches Gesetz über die audiovisuelle Kommunikation aus dem Jahre 1982. Zum Schutz der französischen Filmindustrie war die Vermarktung von Filmen auf Videokassetten für den Zeitraum eines Jahres nach Erstaufführung in französischen Kinos untersagt. Die französische Filmvereinigung hatte gegen die Firma Cinéthèque auf Grundlage dieses Gesetzes eine Unterlassungsverfügung erwirkt, weil diese vor Ablauf der vorgeschriebenen Jahresfrist und ohne ebenfalls vorgesehene Ausnahmegenehmigung Videokassetten verkauft hatte. Cinéthèque klagte gegen diese Unterlassungsverfügung sowie die zwischenzeitliche Beschlagnahme der bereits in den Handel gebrachten Kassetten. Der Pariser Tribunal des Grandes Instances beantragte ein Vorabentscheidungsverfahren um die Vereinbarkeit des französischen Gesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht prüfen zu lassen. Die Cinéthèque hatte unter anderem die Frage aufgeworfen, ob das durch das französische Gesetz angeordnete Verwertungsverbot gegen die Meinungsfreiheit verstoße, wie sie von Art. 10 der EMRK geschützt ist. In dem konkreten Fall jedoch zog der Gerichtshof das von der Cinéthèque geltend gemachte Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht heran. Zwar stellte er fest: „Der Gerichtshof hat [ . . . ] für die Einhaltung der Grundrechte auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechtes zu sorgen“.143

Der EuGH verneinte jedoch die Einschlägigkeit des Art. 30 EWGV (Art. 28 EGV n.F.) mit der Begründung, bei der fraglichen französischen Regelung handele es sich nicht um eine unverhältnismäßige Maßnahme. Daraufhin stellte er fest, er könne: „nicht prüfen, ob ein nationales Gesetz, das wie im vorliegenden Fall zu einem Bereich gehört, der in das Ermessen des nationalen Gesetzgebers fällt, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist.“144 142 EuGH, Rs. 60 – 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération des Cinemas francais (Cinéthèque) –, Slg. 1985, 2605. 143 EuGH, Rs. 60 – 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération des Cinemas francais (Cinéthèque) –, Slg. 1985, 2605, Rz. 26.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Dies erscheint insofern schwer verständlich, als er zuvor festgestellt hatte, dass es sich bei der fraglichen Regelung um eine Beschränkung des Warenverkehres handele. Ohne dass der EuGH zu den in Anschlag gebrachten Rechtfertigungstatbeständen Stellung genommen hätte, gründet sich die Rechtfertigung hier mangels Einschlägigkeit eines vertraglichen Rechtfertigungstatbestände offensichtlich auf die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe der zwingenden Erfordernisse.145 Es ist demnach davon auszugehen, dass die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit hier wegen der Einschlägigkeit des entsprechenden zwingenden Erfordernisses verneint wurde.146 An gegebener Stelle ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht mit der Sichtweise vereinbar ist, bei den zwingenden Gründen des Gemeinwohles handele es sich um Grenzen des Tatbestandes der Grundfreiheiten.147 Damit hätte der EuGH bei konsequenter Anwendung seiner eigenen Prämisse von der Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte im gesamten Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes bereits hier die Meinungsfreiheit als Schranken-Schranke der Warenverkehrsfreiheit heranziehen müssen. Bestätigung findet diese Sichtweise, wenn der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte mittlerweile auch als Schranken-Schranken der zwingenden Erfordernisse heranzieht.148 Das Urteil ist mithin als inkonsistent mit der sonstigen Rechtsprechung des EuGH zur Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes zu werten.149

d) Rs. ERT Die Grundentscheidung zur Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten stellt die Rs. ERT150 dar. Auch hierbei handelte es sich um ein Vorabentscheidungsverfahren, in dem der EuGH diesmal die ge144 EuGH, Rs. 60 – 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération des Cinemas francais (Cinéthèque) –, Slg. 1985, 2605, Rz. 26. 145 EuGH, Rs. 60 – 61 / 84 – Cinéthèque / Fédération des Cinemas francais (Cinéthèque) –, Slg. 1985, 2605, Rz. 24. 146 Vgl. Jürgensen / Schlünder, in: AöR 121 (1996), S. 200, 216. 147 s. oben S. 100 ff. 148 EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689; dazu sogleich auf S. 142 ff. 149 Vgl. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 134. 150 EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, I-2925 ff.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

141

meinschaftsrechtliche Zulässigkeit des griechischen staatlichen Fernsehmonopols zu überprüfen hatte. Als Rechtfertigung für das Verbot von anderen Sendern führte die griechische Regierung an, dass allein eine staatliche Fernsehanstalt ein ausreichendes Maß an Meinungsvielfalt gewährleisten könne. Im Ausgangsverfahren wollte die staatliche Fernsehgesellschaft ERT vor dem Monomeles Protodikeio Thessaloniki eine einstweilige Unterlassungsverfügung gegen eine Fernsehanstalt erwirken, die trotz des Konzessionsmonopols der ERT Sendungen ausgestrahlt hatte. Der EuGH erklärte, ein Fernsehmonopol, wie es der ERT verliehen worden war, könne gemäß Art. 45 i.V.m. 55 EGV (Art. 56 i.V.m. 66 EGV a.F.) gerechtfertigt werden. Gleichzeitig nahm er aber auf das Vorbringen der Klagegegner, die ihr Grundrecht auf Meinungsfreiheit geltend gemacht hatten Bezug, indem er ausführte: „Fällt dagegen eine solche Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes, so hat der Gerichtshof, wenn er im Vorabentscheidungsverfahren angerufen wird, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat und die sich insbesondere aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben. Insbesondere wenn ein Mitgliedstaat sich auf Art. 66 in Verbindung mit Artikel 56 beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, ist diese im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen.“151

Ausdrücklich wird hier mithin die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte mit der Einschlägigkeit der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsgründe festgeschrieben. Danach sind die Mitgliedstaaten nicht mehr nur bei der Umsetzung mitgliedstaatlichen Rechtes an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden152, sondern auch die Rechtfertigung einer binnenmarktwidrigen Maßnahme hat stets „im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte“ zu erfolgen. Im Rahmen der Untersuchung der Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Prüfung der Grundfreiheiten ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der EuGH diese ERT-Formel nicht nur dann zur Anwendung bringt, wenn die Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten fungieren. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind vielmehr bei der Auslegung der Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten heranzuziehen, auch wenn sie im konkreten Fall als Gegenrechte der Grundfreiheiten auftreten. Teilweise ist vorgeschlagen worden, die ERT-Rechtsprechung so auszulegen, dass der EuGH die Überprüfung mitgliedstaatlicher Regelungen auf deren Grundrechtskonformität nicht anhand der Gemeinschaftsgrundrechte sondern anhand der jeweiligen nationalen Grundrechte vorzunehmen habe.153 Die Entscheidung könne 151 EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, I-2925, Rz. 42 f. 152 Zu der sog. Wachauf-Rechtsprechung vgl. oben S. 53. 153 Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, S. 355.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

so verstanden werden, dass nicht die Gemeinschaftsgrundrechte als Prüfungsmaßstab angelegt werden sollen, sondern die richtige Anwendung der nationalen Grundrechte durch den EuGH überwacht werden.154 Die Kontrolle mitgliedstaatlicher Maßnahmen mithilfe nationaler Vorschriften ist dem EuGH tatsächlich nicht fremd. So wird im Rahmen der Bereichsausnahme des Art. 45 EGV den Mitgliedstaaten zwar zunächst ein gewisser Ermessensspielraum bei der Bestimmung der hoheitlich zu regelnden Sachverhalte eingeräumt. Der EuGH behält sich jedoch vor, diese Ermessensentscheidung unter Betrachtung der Gegebenheiten der jeweiligen nationalen Rechtsordnung zu überprüfen.155 Während es sich in diesen Fällen allerdings um die Definition eines einzelnen Ausnahmetatbestandes handelt, wird von den Vertretern der angesprochenen Theorie verlangt, die gesamte Grundrechtsordnung aller Mitgliedstaaten zu beachten. Es ist nicht nur praktisch schwer vorstellbar, wie der EuGH eine Grundrechtsrechtsprechung leisten soll, die jeweils konsistent mit fünfundzwanzig, teilweise sehr unterschiedlichen Verfassungssystemen ist. Die Einsetzung einer zweiten unmittelbar wirkenden Grundrechtsinstanz müsste vielmehr notgedrungen zu Konflikten innerhalb der nationalen Verfassungssysteme führen.156 Das ohnehin schwierige und weiterhin konfliktträchtige Verhältnis der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte zum EuGH würde durch ein solches Verständnis über die Maßen belastet.157 Abgesehen von den abzulehnenden Folgen ist zudem unklar, wie eine Kompetenz des EuGH zur direkten Anwendung und Kontrolle nationaler Grundrechte zu begründen sein sollte. Zudem handelte es sich in der konkreten Rechtssache, wie in den meisten Fällen, in denen die Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte Gegenstand einer Entscheidung war, um ein Vorabentscheidungsverfahren, in dem die tatsächliche Überprüfung der fraglichen Regelung stets durch das mitgliedstaatliche Gericht erfolgt. So spricht der EuGH jedoch auch ausdrücklich davon, dass er dem vorlegenden Gericht alle dafür notwendigen Auslegungskriterien an die Hand zu geben habe. Es handelt sich also jedenfalls nicht um eine autonommitgliedstaatliche sondern eine gemeinschaftsrechtlich-determinierte Überprüfung. Eine entsprechende Interpretation der ERT-Rechtsprechung und der auf diese bezug nehmenden Judikate ist mithin abzulehnen. Nach der ERT-Rechtsprechung sind mithin die Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der grundfreiheitlichen Rechtfertigungstatbestände heranzuziehen. Verhoeven, ebenda, S. 356. Schlag, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 45, Rz. 5. 156 Vgl. für das deutsche Verfassungsrecht: Art. 93 GG. 157 Vgl. zu dem Verhältnis von EuGH und BVerfG nur Limbach, in: NJW 2001, S. 2913, 2915 ff. 154 155

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

143

e) Rs. Grogan Der EuGH wurde mit einer Streitsache befasst, in der die irische Society for the Protection of Unborn Children eine einstweilige Verfügung gegen verschiedene Studentenvereinigungen erwirken wollte, die auf Flugblättern über die Möglichkeit der legalen Abtreibung im Vereinigten Königreich informierte. Nicht nur Abtreibungen selbst sondern auch die Informierung über Abtreibungsmöglichkeiten sind durch die irische Verfassung verboten. Der vorlegende High Court unterbreitete dem EuGH die Frage, ob das Durchführen von Abtreibungen in Staaten, die Abtreibungen erlauben eine Dienstleistung i. S. d. Art. 49 EGV (Art. 59 EGV a.F.) darstellten und wenn ja, ob ein Verbot der Informierung über diese Dienstleistungen gegen die vertragliche Dienstleistungsfreiheit verstoße. Der EuGH bejahte Ersteres sprach den Aktionen der Studenten jedoch den Schutz der Dienstleistungsfreiheit ab. Diese seien nicht wirtschaftlich motiviert gewesen sondern allein in Ausübung ihrer Meinungs- und Informationsfreiheit geschehen. Es fehle insbesondere an einer notwendigen Verbindung zwischen den Studenten und den Dienstleistungserbringern. Dementsprechend versagte er den Studenten auch den Schutz durch Gemeinschaftsgrundrechte, indem er ausführte: Dagegen besitzt er diese Zuständigkeit nicht hinsichtlich einer nationalen Regelung, die nicht in den Bereich des Gemeinschaftsrechtes fällt.158

Indem der EuGH die Einschlägigkeit der Grundfreiheiten verneint hatte, ist das Urteil konsistent mit der ERT-Rechtsprechung, wonach die Gemeinschaftsgrundrechte nur im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten, insbesondere zur Auslegung der Rechtfertigungstatbestände, herangezogen werden können. Dem EuGH ist allerdings vorgeworfen worden, die Grundfreiheiten willkürlich nicht aktiviert zu haben, um der dann anstehenden Grundrechtsdiskussion zu entgehen.159 f) Rs. Familiapress Der Ausgangsstreit des Vorabentscheidungsverfahrens in der Rs. Familiapress160 wurde vor dem Handelsgericht Wien von der österreichischen Vereinigte Familiapress Zeitungs- und Vertriebs GmbH gegen den deutschen Heinrich Bauer Verlag geführt. Dieser hatte unter Verstoß gegen das österreichische Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) von 1992 den Lesern der auch in Österreich vertriebenen Zeitschrift „Laura“ die Teilnahme an Gewinnspielen eingeräumt. Da das 158 EuGH, Rs. 159 / 90 – Society for the Protection of Unborn Children Ireland / Grogan u. a. –, Slg. 1991, 4685, Rz. 31. Vgl. dazu unten S. 172 ff. 159 Coppel / O’Neill, in: CMLR 29 (1992), S. 669, 685 ff. 160 EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

deutsche UWG eine entsprechende Regelung nicht kannte, war das vorlegende Gericht der Auffassung, dass das österreichische Verbot mit Art. 28 EGV (Art. 30 EGV a.F.) unvereinbar sei. Der Rs. Familiapress kommt in zweierlei Hinsicht besondere Bedeutung zu. Zum einen nimmt der EuGH hier erstmalig auf die Grundrechte sowohl als Schranken als auch als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten gleichzeitig Bezug. Zum anderen stellt er klar, dass seiner Rechtsprechung zu der Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Auslegung der Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten auch die Rechtfertigungstatbestände der zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls unterfallen. Zu der Schranken-Funktion der Meinungsfreiheit führte der Gerichtshof in Anknüpfung an seine Gouda-Entscheidung161 zunächst aus: Die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt kann ein zwingendes Erfordernis darstellen, das eine Beschränkung des freien Warenverkehres rechtfertigt. Diese Vielfalt trägt nämlich zur Wahrung des Rechtes der freien Meinungsäußerung bei, das durch Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützt ist und zu den von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehört.162

Sodann stellt er in Bezug auf die dem entgegenstehende individuelle Meinungsfreiheit der deutschen Verlagsgesellschaft unter Berufung auf seine ERT-Rechtsprechung fest: „Wenn ein Mitgliedstaat sich auf zwingende Erfordernisse beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, den freien Warenverkehr zu behindern, ist diese Rechtfertigung im Übrigen im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen.“163

Während noch die Cinéthèque-Entscheidung als Bestätigung der Ansicht erblickt werden konnte, welche die Cassis-Grundsätze nicht auf der Rechtfertigungssondern bereits auf der Tatbestandsebene zur Anwendung bringen wollte,164 erhellt nun aus dieser Feststellung, dass es sich bei den zwingenden Erfordernissen des Gemeinschaftsrechtes nicht um tatbestandsausschließende Ausnahmetatbestände handeln kann. Eine Heranziehung der Gemeinschaftsgrundrechte zur Überprüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen kommt nur in Betracht, solange diese im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes getroffen werden. Eine Anwendung im Rahmen 161 EuGH, Rs. C-288 / 89 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda u. a. / Commissariat vor de Media –, Slg. 1991, I-4007, Rz. 23; vgl. a. EuGH, Rs. C-23 / 93 – TV10 –, Slg. 1994, I-4795, Rz. 19 ff. sowie Rs. C-353 / 89 – Kommission / Niederlande, Slg. 1991, I-4069, Rz. 3, 29 u. 30. 162 EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 18. 163 EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 24. 164 Vgl. Jürgensen / Schlünder, in: AöR 121 (1996), S. 200, 216.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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der Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten kommt demnach nur in Frage, wenn man diese als Rechtfertigungsgründe und nicht als schon tatbestandsausschließende Regelungen ansieht, die zu den ausschließlichen Kompetenzen der Mitgliedstaaten zählen. Indem in dieser Entscheidung auf Grundrechte sowohl als Schranke als auch als Schranken-Schranke bezug genommen wurde, stellt sie sich überdies als Fall der Grundrechtskollision dar. Die Besonderheit liegt dabei darin, dass es sich dabei um eine interne Grundrechtkollision handelt. Hier wird ein und dasselbe Grundrecht, namentlich das der Meinungsfreiheit, sowohl als Schranke als auch als Schranken-Schranke herangezogen. Dem objektiv-rechtlichen Aspekt der Pluralismussicherung steht die individuelle Pressefreiheit der betroffenen Zeitschriftenherausgeber entgegen.165

g) Zusammenfassung Durch die Entscheidung in der Rs. ERT sind die Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken bei der Prüfung von Rechtfertigungstatbeständen der Grundfreiheiten etabliert worden. Danach sind die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, wenn sie sich zur Rechtfertigung binnenmarktwidriger Maßnahmen auf Rechtfertigungstatbestände des Gemeinschaftsrechtes stützen. Dieses gilt seit der Rs. Familiapress sowohl für die geschriebenen als auch für die ungeschriebenen Rechtfertigungstatbestände des Gemeinschaftsrechtes. Der Gerichtshof führt mithin stets eine doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung der betreffenden mitgliedstaatlichen Maßnahme durch: Zum einen in Bezug auf die beeinträchtigte Grundfreiheitsnorm und zum anderen bezüglich der im Einzelfall betroffenen Gemeinschaftsgrundrechte. Außerhalb des Anwendungsbereiches der Gemeinschaftsrechtes findet eine Überprüfung mitgliedstaatlicher Regelungen hingegen nicht statt.166

2. Interpretation des Gemeinschaftsrechtes Innerhalb der Literatur ist den Aussagen des EuGH zu der Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten als Aspekt des Verhältnisses von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten die weitaus größte Beachtung geschenkt worden. Vgl. Kühling, in: EuGRZ 1997, S. 296, 302. Dies bestätigt der Gerichtshof auch in neuerer Rspr. wie EuGH, Rs. C-299 / 95 – Kremzow / Österreich –, Slg. 1997, I-2629. 165 166

10 Schultz

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Während sich dabei der überwiegende Teil des Schrifttums der Rechtsprechung des EuGH – oft kritiklos – angeschlossen hat,167 werden andernorts Bedenken geäußert168 oder die ERT-Rechtsprechung des EuGH gänzlich abgelehnt.169 Im Folgenden soll zu dieser Problematik anhand der Auslegung des relevanten Gemeinschaftsrechtes auf Grundlage der bisher gewonnenen Ergebnisse Stellung genommen werden. a) Vorfragen Bevor auf die Grundlagen der Schranken-Schranken-Funktion eingegangen werden kann, sind einige Vorfragen zu klären, die mit der Anwendung der ERT-Rechtsprechung durch den EuGH zusammenhängen. aa) Ausnahmetatbestände als Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes Teilweise wird dem EuGH bereits die unrichtige Anwendung der von ihm selbst aufgestellten ERT-Formel vorgeworfen. Die Kritik knüpft vor allem an das Kriterium „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ an.170 Es ist vertreten worden, die Mitgliedstaaten würden durch die Schutzklauseln des EGV gerade aus dem Anwendungsbereich des Vertrages entlassen.171 Diese seien als ureigene mit167 Schaller, EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 56; Ehlers, § 13 I 4, Rn. 12, § 7 VII 3, Rn. 83; Streinz, in: FS Rudolf, S. 199, 215 f.; Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 65 f.; Bausback, S. 92 f.; Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 143; Schilling, in EuGRZ 2000, S. 3, 35; Giegerich, in: JuS 1997, S. 426, 431; Kühling, EuGRZ 1997, S. 296, 298 f.; Jürgensen / Schlünder, in: AöR 121 (1996), S. 200, 216, Weiler / Lockhart, in: CMLR 32 (1995), S. 51, 74 ff.; Schneider, Die öffentliche Ordnung, 194 f. Epiney, in: Calliess / Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 29; Holznagel, S. 152 f. mwN; Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 30 EGV, Rn. 62; Schneider / Wunderlich, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 39 EGV, Rn. 121, Schlag, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 46 EGV, Rn. 6; Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 55 EGV, Rn. 3; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 192; Langenfeld / Zimmermann, in: ZaöRV 52 (1992), S. 259, 301 ff.; Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der EG, S. 43; Weiler, in: FS Pescatore, S. 830. 168 Auf Evidenzprüfung beschränkend: Ruffert, in: EuGRZ 1995, S. 518, 528 f.; Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, S. 355. 169 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 164 ff. (168); Coppel / O’Neill, CMLR 29 (1992), S. 669, 672; Kingreen / Störmer, in: EuR 1998, S. 263, 283 ff.; Wunderlich, Berufsfreiheit, S. 183; Jacobs, in: ELRev. 26 (2001), S. 331, S. 336 f. kritisch auch Kugelmann, Dienstleistungsfreiheit, S. 222 f.; vgl. ferner Störmer, in: AöR 1998, S. 541, 567; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 260. 170 EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, I-2925, Rz. 42 f. 171 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 167; Jürgensen / Schlünder, in: AöR 121 (1996), S. 200, 216; Störmer, in: AöR 123 (1998), S. 541, 567.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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gliedstaatliche Rechtsbereiche anerkannt. Daher sei die ERT-Formel nicht schlüssig, wenn sie für die Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes spreche. Auf diese These soll, differenziert zwischen den Rechtfertigungstatbeständen (Art. 30, Art. 39 IV, Art. 46 I EGV) und den „echten“ Ausnahmetatbeständen der Grundfreiheiten, den sogenannten Bereichsausnahmen (Art. 39 IV, 45 EGV), eingegangen werden. (1) Rechtfertigungstatbestände Der EuGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass den Mitgliedstaaten mit den Rechtfertigungsgründen der Grundfreiheiten nicht bestimmte Materien zur ausschließlichen Zuständigkeit zugeordnet werden.172 Vielmehr handele es sich jeweils um Begriffe des Gemeinschaftsrechtes, die auch gemeinschaftsrechtlich und im Übrigen eng auszulegen seien.173 Den Mitgliedstaaten ist demnach durch diese Rechtfertigungstatbestände ein gewisser Ermessenspielraum eröffnet; der Auslegung der Rechtfertigungstatbestände sind jedoch durch das Gemeinschaftsrecht Grenzen gesetzt. Diese gemeinschaftsrechtlichen Grenzen zu bestimmen ist aber nicht dem einzelnen Mitgliedstaat überlassen. Sie sind gemeinschaftsrechtlich zu bestimmen.174 Dies allein spricht noch nicht gegen das Argument der mitgliedstaatlichen Regelungsvorbehalte. Innerhalb des durch das Gemeinschaftsrecht determinierten Rahmens wird den Mitgliedstaaten schließlich tatsächlich ohne weitere Vorbehalte ein Regelungsermessen zugebilligt. Die Mitgliedstaaten sind frei in der Ausfüllung dieser Regelungsvorbehalte, solange sie dem „gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbegriff“175 entsprechen. Dieser wird ausschließlich durch das Gemeinschaftsrecht – zu dem die Gemeinschaftsgrundrechte gehören – bestimmt.176 Entweder durch Rechtsprechung des EuGH oder durch konkretisierendes Sekundärrecht.177 Dieses Regelungsermessen wird den Mitgliedstaaten indessen nicht deshalb gewährt, weil die jeweiligen Maßnahmen mit erfolgreicher Berufung auf Rechtfertigungstatbestände zu den Grundfreiheiten aus dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes herausfielen. Der gemeinschaftsrechtliche Rahmen, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten ihr Regelungsermessen ausüben dürfen, wird nicht anhand einer abstrakten SubsumEuGH, Rs. 153 / 78 – Kommission / Deutschland –, Slg. 1979, 2555, Rz. 5. EuGH, Rs. 113 / 80 – Souvenirs –, Slg. 1981, 1625, Rz. 7; Rs. 41 / 74 – van Duyn –, Slg. 1974, 1337, Rz. 18 / 19. 174 Epiney, in: Calliess / Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 21. 175 Schneider, Die öffentliche Ordnung, S. 76 ff. 176 Jürgensen / Schlünder, in: AöR 121 (1996), S. 200, 217. 177 Vgl. RL 64 / 221 / EWG (Abl. 1964 / 850). 172 173

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

tion unter einen Rechtfertigungstatbestand bestimmt, die entscheidet, ob die Regelung dem EGV unterfällt oder nicht. Alle tatbestandlich von Grundfreiheiten erfassten Maßnahmen stehen unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit der Regelung hinsichtlich des Schutzinteresses an der beschränkten Grundfreiheit. Für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, also einer Gegenüberstellung der Interessen von Binnenmarkt und Mitgliedstaat müssen die Regelungen zunächst sämtlich der Überprüfung anhand des Gemeinschaftsrechtes unterstellt werden. Die Prüfung der Rechtfertigung einer binnenmarktwidrigen staatlichen Maßnahme findet mithin innerhalb des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechtes statt. Wird darin die Vereinbarkeit der Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht festgestellt, so unterfällt die Regelung doch weiterhin dem Anwendungsbereich Gemeinschaftsrecht. Die fraglichen Regelungen können dann lediglich als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden. Die Entscheidung über die Anwendbarkeit des EGV ist allerdings bereits mit der Subsumtion der Regelung unter den Tatbestand der Grundfreiheit gefallen. Überprüfungen anhand weiterer Normen des Gemeinschaftsrechtes, wie beispielsweise den Gemeinschaftsgrundrechten, bleiben demnach grundsätzlich möglich. Zur Unterstützung der hier fraglichen These ist der Vergleich zur Richtlinienumsetzung benutzt worden.178 Anhand dieses Vergleiches lässt sich indessen ihre Unrichtigkeit aufzeigen: Auch im Rahmen der Umsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien wird dem Staat Ermessen eingeräumt, nämlich bezüglich der Art und Weise der Umsetzung der Richtlinie. Der Rahmen für die Umsetzung einer Richtlinie ist jedoch nicht Gegenstand einer Abwägung zwischen mitgliedstaatlichem Interesse an Regelungsautonomie und gemeinschaftlichem Umsetzungsinteresse sondern wird abstrakt durch das Richtlinienziel vorgegeben. Erfüllt die mitgliedstaatliche Regelung den „Tatbestand“ des Richtlinienzieles findet eine gemeinschaftsrechtliche Überprüfung dieser Regelung nicht weiter statt. Der entscheidende Unterschied zwischen solchen echten Souveränitätsreserven, die vollständig aus dem Anwendungsbereich des Vertrages ausgenommen sind, und Regelungsvorbehalten, die innerhalb dieses Anwendungsbereiches verbleiben, ergibt sich aber eben aus der Anwendung des Verhältnismäßigkeitgrundsatzes.179 Bei der Richtlinienumsetzung findet eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der mitgliedstaatlichen Umsetzungsmaßnahme nicht statt. Diese Unterscheidung entspricht der an anderer Stelle herangezogenen Differenzierung zwischen Normen mit Regel- und solchen mit Prinzipiencharakter.180 Die Entscheidung der Rechtfertigung einer mitgliedstaatlichen binnenmarktwidrigen Maßnahme ergibt sich nicht aus der bloßen Subsumtion unter eine Regel, die Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 167. Zu der Differenzierung zwischen Regelungsvorbehalten und Souveränitätsreserven s. Schneider, Die öffentliche Ordnung, S. 80 ff., mwN. 180 s. oben S. 51. 178 179

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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– zwar auslegungsbedürftig, aber – entweder erfüllt ist oder nicht, sondern ist Ergebnis einer in jedem Einzelfall unter Anwendung des Verhältnismäßiggrundsatzes stattfindenden Güterabwägung zwischen Ziel der staatlichen Maßnahme und Schutzinteresse an der betroffenen Grundfreiheit. Mithin unterfällt die Anwendung der Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes und damit der von dem EuGH in der Rs. ERT aufgestellten Formel.181

(2) Bereichsausnahmen Im Gegensatz zu den Rechtfertigungsgründen kommt den Bereichsausnahmen des Vertrages (Art. 39 IV, 45 EGV) Regelcharakter zu. Sie sind Annexe zu den Grundfreiheitstatbeständen. 182 Hier wird die fragliche Maßnahme ausschließlich auf ihre Subsumierbarkeit unter den jeweiligen Tatbestand überprüft. Unterfällt die Maßnahme dem Ausnahmevorbehalt ist die betreffende Grundfreiheit tatbestandlich nicht anwendbar. Sie untersteht damit nicht mehr dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Die Ausnahmetatbestände des EGV sind mithin für eine „grundrechtskonforme Auslegung“ im Sinne der ERT-Rechtsprechung nicht offen.183

bb) Volle Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Grundrechtsprüfung Kritik wird auch an der Art und Weise der Berücksichtigung der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Prüfung der Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten geübt. Es wird beanstandet, dass der EuGH von einer Auslegung „im Lichte der Grundrechte“ spricht, dabei aber eine eigenständige und volle Verhältnismäßigkeitsprüfung der Gemeinschaftsgrundrechte durchführt.184 Der EuGH führt also eine zweifache Verhältnismäßigkeitsprüfung, einmal in Bezug auf die Grundfreiheit und zum anderen auf das ggf. mitbetroffene Grundrecht.185 181 I.E. ebenfalls: Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 51. 182 Vgl. oben S. 94. 183 Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 51; a.A. Jürgensen / Schlünder, in: AöR 121 (1996), S. 200, 217 f. 184 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 166 f., der diese Kritik allerdings in JuS 2000, S. 857, 865, nicht ausdrücklich wiederholt; vgl. a. Ruffert, in: EuGRZ 1995, S. 518, 528 f. 185 Vgl. EuGH, Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, I-3689, Rz. 27.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Eine eigenständige Verhältnismäßigkeitsprüfung sei aber, so die Kritik, nur möglich, wenn man von der Höherrangigkeit der Gemeinschaftsgrundrechte gegenüber den Grundfreiheiten ausgehe, was aber – auch nach der hier vertretenen Auffassung – nicht in Betracht komme.186 Wegen der Gleichrangigkeit beider Rechtgruppen müsse es sich demnach bei der Auslegung „im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze“ um eine systematischen Auslegung der Rechtfertigungsgründe der Grundfreiheiten anhand der Gemeinschaftsgrundrechte handeln.187 Der Argumentation ist insofern zu folgen, als es sich bei der Heranziehung anderer Normen des Gemeinschaftsrechtssystems methodisch in der Tat um eine systematische Auslegung handeln muss. Diese Auslegung geht jedoch notwendigerweise mit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung einher. Dies ergibt sich aus dem Prinzipiencharakter der Gemeinschaftsgrundrechte. Anders als die Zuhilfenahme von Normen mit Regelcharakter folgt aus der Eigenschaft der Prinzipien als Optimierungsgebote, dass ihre Anwendung stets mit einem Abwägungsvorgang verbunden ist.188 Gelten Gemeinschaftsgrundrechte bei der Anwendung der Rechtfertigungstatbestände, so ist eine abstrakte Aussage darüber, was sich daraus für die Auslegung dieser Normen ergibt, nicht möglich. Stattdessen muss in jedem konkreten Anwendungsfall dieser Tatbestände deren Vereinbarkeit mit den Gemeinschaftsgrundrechten überprüft werden.189 Dies wiederum kann nur unter Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit geschehen.

b) Zuständigkeit des EuGH Wie bereits in den vorangegangenen Ausführungen angeklungen, bedeutet die ERT-Rechtsprechung in concreto vor allem eine Erweiterung der Kompetenzen des EuGH, indem die Mitgliedstaaten in einem sehr weiten Bereich an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden werden, der zuvor ihrem alleinigen Regelungsermessen unterstand.190 Ausgangspunkt und Maßstab der Diskussion um die Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Prüfung der Rechtfertigungstatbestände der Grundfreiheiten muss daher, wie für jede Kompetenzfrage, das in Art. 5 EGV verankerte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung sein.

186 187 188 189 190

Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 167. Ebenda. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 ff. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 78 f. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 167.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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Die ERT-Rechtsprechung ist mithin nur dann zulässig, wenn sich eine Grundlage für die von dem EuGH behauptete Kompetenz im Gemeinschaftsrecht feststellen lässt. aa) Bestimmungen des EUV Eine Kompetenz des EuGH kann sich gemäß Art. 5 Abs. 2 EGV nur aus dem EGV selbst ergeben. Daher kommt Art. 6 Abs. 2 EUV als oft zitierte Grundnorm des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtschutzes als Kompetenzgrundlage für die ERT-Rechtsprechung nicht in Betracht. Dieser verpflichtet zwar die Gemeinschaft und deren Organe als konstituierenden Bestandteil der Union. Eine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte, aus der dann eine entsprechende Überprüfungskompetenz des EuGH abgeleitet werden könnte, geht damit indes nicht einher.191 Gegen eine extensive Erweiterung der EuGH-Kompetenzen könnte auf der anderen Seite Art. 46 lit. d EUV angeführt werden.192 Dort wird zumindest für den Anwendungsbereich des Unionsvertrages klargestellt, dass der EuGH die Einhaltung der in Art. 6 Abs. 2 EUV niedergelegten Grundsätze nur in Bezug auf Handlungen der Organe der Gemeinschaft zu überprüfen habe. Dieses Argument allein ist allerdings nicht ausreichend, um darüber hinausgehende Kompetenzen kategorisch abzulehnen. Zutreffend wird von der herrschenden Meinung darauf hingewiesen, dass die Bestimmung des Art. 46 EUV lediglich eine Bestätigung geltenden Rechtes darstelle, weshalb sie allein insbesondere der ERT-Rechtsprechung des EuGH nicht entgegen stehe.193 Mithin lassen sich aus den Bestimmungen des EUV keine Rückschlüsse für oder gegen die hier fragliche Kompetenz des EuGH ziehen. bb) Art. 220 EGV Als Kompetenzgrundlage für die Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze wird von der herrschenden Ansicht der Art. 220 EGV herangezogen.194 Dies war auch unproblematisch, solange die Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken allein der Gemeinschaftsgewalt verstanden wurden. In dieser Funktion war das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht berührt, da sich Art. 5 Abs. 1 EGV auf die vertikale Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 144 ff. Vgl. Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, S. 355. 193 Cremer, in: Calliess / Ruffert, Art. 46 EUV, Rn. 7, mwN. Vgl. a. Kühling, EuGRZ 1997, 296, 298 f. 194 Vgl. oben S. 34. 191 192

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Gemeinschaft bezieht.195 In ihrer ursprünglichen Funktion stellte sich für die richterliche Entwicklung von Gemeinschaftsgrundrechten hingegen lediglich die Frage nach der horizontalen Kompetenzverteilung innerhalb der Gemeinschaft. Denn die Gemeinschaftsgrundrechte dienten bis zur Etablierung der ERT-Rechtsprechung lediglich der Überprüfung von Akten anderer Gemeinschaftsorgane. Ein Übergriff auf mitgliedstaatliche Zuständigkeiten ergab sich aus dieser Rechtsprechung hingegen nicht. Eben diese Frage nach der vertikalen Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten stellt sich nun aber nach der ERT-Rechtsprechung. Der Verweis auf Art. 220 EGV reicht deshalb nicht mehr aus. Vertraglicher Ansatzpunkt bleibt zweifellos Art. 220 EGV als kompetenzielle Generalklausel für den Rechtsschutz des EuGH. Als solche ist sie jedoch zu unbestimmt um die unmittelbare Kompetenzgrundlage für die ERT-Rechtsprechung des EuGH zu bilden.

cc) Implizite Zuständigkeit Mangels einer ausdrücklichen Kompetenz im EGV kann sich nach dem Kompetenzsystem des Gemeinschaftsrechtes eine Zuständigkeit des EuGH nur aus impliziten Kompetenzen (sog. implied powers) ergeben.196 Implizite Kompetenzen sind Befugnisse, die als notwendig zu erachten sind, um die effektive Ausübung der ausdrücklich im Vertrag enthaltenen Kompetenzen zu gewährleisten.197 Es muss in dem gegebenen Zusammenhang folglich nachgewiesen werden können, dass die fragliche Bindung der Mitgliedstaaten notwendig ist, um den vor der ERT-Rechtsprechung bereits bestehenden, jedoch auf Gemeinschaftsakte beschränkten Grundrechtsschutz weiterhin wirksam gewährleisten zu können.198

(1) Bisherige, externe Ansätze Zur Begründung, warum die Gemeinschaftsgrundrechte nunmehr auch generell auf mitgliedstaatliches Handeln im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechtes AnLienbacher, in: Schwarze, Art. 5 EGV, Rn 7. Erstmals anerkannt in: EuGH, Rs. 8 / 55 – Fedechar –, Slg. 1965, 297 (312); demgegenüber ist Art. 308 EGV als kompetenzielle Generalklausel gegenüber den implizierten Befugnissen als „im Vertag vorgesehenen“ Befugnissen subsidiär (Rossi, in: Calliess / Ruffert, Art. 308 EGV, Rn. 44); er ist darüber hinaus seinem Wortlaut nach nur auf den Erlass von Rechtsakten gerichtet. 197 Calliess, in: Calliess / Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 13; Bleckmann, Europarecht, Rn. 798; Jarass, in: AöR 121 (1996), S. 173, 176. 198 Nicht zuzustimmen ist demgegenüber die Ansicht, die ebenfalls unter Verweis auf die implied powers-Lehre den Grundrechtsschutz als Annex jeglicher Hoheitsbefugnis ansieht, so aber Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 177 f. 195 196

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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wendung finden sollen, sind im Schrifttum verschiedene Prinzipien des Gemeinschaftsrechtes in Anschlag gebracht worden. Diese Ansätze sind jedoch, wie im Folgenden darzulegen sein soll, nicht in der Lage, die erweiterte Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte zu erklären. Sie leiden alle an dem gemeinsamen Fehler, dass sie die erweiterte Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte voraussetzen, anstatt sie zu begründen. Wenn Konstitutionsprinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung zur Herleitung der erweiterten Kompetenz herangezogen werden sollen, ist zu beachten, dass hierzu auf die Rechtsordnung, wie sie sich vor der Entwicklung durch die ERTRechtsprechung darstellt, abzustellen ist. (a) Systematik Häufig wird damit argumentiert, dass Bestimmungen einer einheitlichen Rechtsordnung stets so auszulegen seien, dass ihre Anwendung im Einzelfall nicht gegen andere Normen derselben Rechtsordnung verstößt.199 Als entsprechender Grundsatz ist aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannt, dass ein Gesetz nur dann wirksame Schranke eines Grundrechtes sein kann, wenn es ansonsten formell und materiell verfassungsmäßig ist.200 Auch der Begründungswortlaut der ERT-Rechtsprechung des EuGH erinnert an diesen Grundsatz, wenn davon die Rede ist, dass eine nationale Regelung die Grundfreiheiten nur dann wirksam beschränken können soll, wenn sie ansonsten mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung und insbesondere mit den Gemeinschaftsgrundrechten vereinbar ist.201 Es ist auch bereits festgestellt worden, dass es sich bei den Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten um grundsätzlich gleichrangige Normengruppen innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung handelt.202 Insofern erscheint es auf den ersten Blick einleuchtend, dass grundfreiheitliche Bestimmungen nicht in einer Art und Weise angewandt werden dürfen, die unvereinbar mit dem Gewährleistungsgehalt der Gemeinschaftsgrundrechte sind und somit zu Widersprüchen innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung führen würden.

199 Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 76; Kühling, in: EuGRZ 1997, S. 297, 299; Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 165; Schneider, Die öffentliche Ordnung, S. 195; Langenfeld / Zimmermann, in: ZaöRV 52 (1992), S. 259, 303; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 136; Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 143; Giegerich in: JuS 1997, S. 426, 431; Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der EG, S. 43; Weiler, in: Liber Amicorum Pescatore, S. 840. 200 BVerfGE 6, 32 [37 f.]; 80, 137 [153]. 201 EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, I-2925, Rz. 42 f. 202 s. oben S. 48 f.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Damit wäre der entscheidende Begründungsschritt jedoch übersprungen. Eine solche Argumentation würde nämlich übersehen, dass Widersprüche zwischen unterschiedlichen Normen eines Rechtssystems nur entstehen können, soweit sich deren Anwendungsbereiche überschneiden. Während grundfreiheitliche Bestimmungen bereits ihrer grundlegenden Bestimmung nach auf mitgliedstaatliche Maßnahmen Anwendung finden, soll dies für die Gemeinschaftsgrundrechte nun aber gerade erst begründet werden.203 Für den als Vergleich herangezogenen deutschen Verfassungsgrundsatz steht beispielsweise nicht in Frage, dass die einzelnen Grundrechte des Grundgesetzes bezüglich ihrer Adressaten den Anwendungsbereich teilen. Auf die europäische Ebene übertragen ist diese, rein systematische, Argumentation mithin zirkelschlüssig. Sie kann die erweiterte Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte nicht erklären, sondern setzt sie bereits voraus.

(b) Konstitutive Prinzipien des Gemeinschaftsrechts Ein entsprechender Vorwurf trifft die Argumentation mit verschiedenen konstitutiven Prinzipien des Gemeinschaftsrechts. Für die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte werden teilweise die Prinzipien des effektiven Rechtsschutzes sowie der Einheitlichkeit und des Vorranges der Gemeinschaftsrechtsordnung genannt.204 Diese Argumente sind fraglos tauglich für die Begründung der Wachauf-Rechtsprechung.205 Für die Problematik der Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte führen sie jedoch nicht weiter. Der Verweis auf den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes kann dabei zunächst in zweierlei Hinsicht verstanden werden. Hier kommt es darauf an, der effektive Schutz welcher Rechte gewährleistet werden soll. Soll dieses Argument auf die Rechte bezogen werden, die sich aus den Gemeinschaftsgrundrechten ergeben, befindet man sich auch hier in einem Zirkelschluss. Der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes innerhalb einer Rechtsordnung ist nämlich stets akzessorisch zu bereits anerkannten Rechtspositionen. Ein effektiver Schutz von Rechten kann folglich nur gefordert werden, soweit deren grundsätzliche Geltung bereits feststeht. So auch Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 167. Ehlers, in: Jura 2001, S. 482, 487; Ruffert, in: EuGRZ 1995, S. 518, 523; Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 166 ff.; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 136; Langenfeld / Zimmermann, in: ZaöRV 52 (1992), S. 259, 304; Bleckmann / Piper, in: Dauses, in: HdbEGWR, B., I, Rn. 149; Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 75. Die Diskussion wird allerdings oft allgemein um die Bindung der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich geführt, Deshalb ist nicht immer ganz klar, ob sich die jeweilige Argumentation tatsächlich auf das Teilproblem der Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bezieht. 205 Vgl. dafür oben S. 53. 203 204

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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Daneben könnte allerdings auch darauf abgestellt werden, dass die Bindung der Mitgliedstaaten notwendig sei, um die Einheitlichkeit und Wirksamkeit anderer, bereits anerkannter Rechte wirksam schützen zu können.206 Dies wiederum entspräche der bereits abgelehnten Argumentation mit der Normsystematik des Gemeinschaftsrechts: Damit die einheitliche Anwendung unterschiedlicher Normen innerhalb desselben Rechtssystems gefährdet sein kann, muss diesen zunächst einmal in den jeweils zu vergleichenden Situationen Geltung zukommen. Eine mitgliedstaatliche Vorschrift kann zwar inhaltlich ohne Weiteres gemeinschaftsgrundrechtlichen Verbürgungen widersprechen. Dafür, dass die Anwendung dieser Vorschrift aber die Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung gefährden kann, muss sie sich allerdings auch im Geltungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte befinden. Somit setzt auch eine Argumentation mit der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung die Bindung der Mitgliedstaaten im Bereich der Grundfreiheiten bereits voraus. Auch die Argumentation mit dem Vorrang des Gemeinschaftsrechtes führt schließlich nicht weiter.207 Vorrang gegenüber nationalem Recht kann das Gemeinschaftsrecht nur entfalten, soweit es auf mitgliedstaatliche Sachverhalte anwendbar ist.208 Die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechtes, namentlich der Gemeinschaftsgrundrechte, steht hier aber, wie schon gesagt, gerade in Frage. Mithin liefern weder der Grundsatz des effektiven Rechtschutzes, noch der Grundsatz der einheitlichen Anwendung oder des Vorranges des Gemeinschaftsrechtes eine Begründung für die Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Prüfung der Grundfreiheiten. (c) Universalität des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Teilweise wird zur Begründung der mitgliedstaatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte darauf verwiesen, andere allgemeine Rechtsgrundsätze der Gemeinschafsrechtsordnung, namentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, würden unstreitig auch auf mitgliedstaatliche Regelungen angewandt werden.209 206 Vgl. in diese Richtung gehend Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 170 ff. 207 So aber insbesondere: Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 136; Langenfeld / Zimmermann, in: ZaöRV 52 (1992), S. 259, 304; Bleckmann / Piper, in: ders., HdbEGWR, B., I, Rn. 149. 208 Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 168 f.; zu dem Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und nationalen Grundrechten, vgl. aber unten S. 171 ff. 209 Kühling, in: EuGRZ, S. 297, 299; Weiler / Lockhart, in: CMLR 32 (1995), S. 51, 78. Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 166; Langenfeld / Zimmermann, in: ZaöRV 52 (1992), S. 259, 304. Vgl. a. Schilling, in: EuGRZ 2000, S. 3, 35; Bleckmann, Europarecht, Rn. 622.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Dem ist die unzulängliche Vergleichbarkeit von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Gemeinschaftsgrundrechten entgegenzuhalten. Zunächst ist mit der gemeinsamen Qualifizierung von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Gemeinschaftsgrundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschafsrechtes noch nichts gewonnen. Die Einteilung in die Normkategorie der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes liefert lediglich einen Hinweis auf die normsystematische Verortung eines Rechtes sagt jedoch nichts über dessen Inhalt aus.210 Im Speziellen ist darauf hinzuweisen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz prozeduralen Charakter besitzt. Er legt fest, auf welche Weise verschiedene materielle Rechtspositionen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Damit handelt es sich also um eine Norm, welche die Geltung materiellen Rechtes voraussetzt. Im Gegensatz zu den Gemeinschaftsgrundrechten weist er einen eigenen materiellen Gehalt, der entsprechende normative Bindungen der Mitgliedstaaten begründen könnte, nicht auf. Mithin ist der Vergleich mit der universellen Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allein als nicht tragfähig zu erachten, um die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte im Rahmen der Grundfreiheiten zu begründen. (d) EMRK Des Weiteren ist damit argumentiert worden, die Mitgliedstaaten seien schließlich auch an die Bestimmungen der EMRK gebunden, die es ihnen verböten, grundrechtswidrige Maßnahmen zu erlassen.211 Das durchschlagende Gegenargument liefert die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechte der Gemeinschaft. Den EMRK-Bestimmungen kommt in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen eben keine unmittelbare Wirkung zu. Ein Verstoß gegen die EMRK als völkerrechtlicher Menschenrechtsvertrag hat unmittelbar ausschließlich völkerrechtliche Folgen und zeitigt lediglich mittelbar als Verstoß gegen umsetzende Gesetze innerstaatliche Folgen.212 Damit kann auch dieses Argument keine überzeugende Begründung für die erweiterte Kompetenz des Gerichtshofes liefern.

Vgl. dazu oben S. 109 f. Weiler / Lockhart, in: CMLR 32 (1995), S. 51, 78 ff. 212 Dies gilt zumindest für die Bundesrepublik Deutschland, vgl. bspw. § 359 Nr. 6 STPO. Zur Frage der Geltung der EMRK-Bestimmungen in anderen Mitgliedsländern s. Chryssogonos, in: EuR 2001, S. 49 ff. 210 211

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(2) Universelle Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte Wenn sich die Notwendigkeit der mitgliedstaatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes nicht mithilfe äußerer gemeinschaftsrechtlicher Konstitutionsprinzipien begründen lässt, kann eine entsprechende Begründung nurmehr in den Gemeinschaftsgrundrechten selbst zu suchen sein. So erscheint es denkbar, dass die Gemeinschaftsgrundrechte einer Beschränkung bezüglich ihres Adressatenkreises möglicherweise überhaupt nicht unterliegen.213 Es müsste also festgestellt werden können, dass die Gemeinschaftsgrundrechte per se Schutz gegenüber jeglichen Hoheitsbeschränkungen gewähren, die innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung Wirkung entfalten, selbst wenn diese Beschränkungen einer anderen Rechtsordnung entstammen. Auch die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes würde sich dann daraus ergeben, dass diesen unabhängig von dem Ursprung einer Beeinträchtigung universelle Geltung zukäme. Teilweise wird vertreten, dass das Völkerrecht den Menschenrechten eine universelle Geltung (erga-omnes-Normen) zubillige.214 Folgt man dem, könnte also von einer universellen Geltung innerhalb der Völkerrechtsordnung gesprochen werden. Auch die EG beruht letztlich nach wie vor auf völkerrechtlichen Verträgen und ist gemäß Art. 281 EGV selbst Völkerrechtssubjekt und somit Teil der Völkerrechtsordnung.215 Der EuGH hat allerdings frühzeitig darauf hingewiesen, dass es sich bei der Gemeinschaft um eine autonome Rechtsordnung eigener Art handelt.216 Der wesentliche Unterschied zu der zu untersuchenden Problematik besteht dementsprechend in der Tatsache, dass völkerrechtliche Verpflichtungen im Gegensatz zu supranationalen Bestimmungen entweder schon keine unmittelbare Geltung in den nationalen Rechtsordnungen entfalten (Dualistischer Ansatz) oder aber jedenfalls keine 213 In diese Richtung scheinen Weiler / Lockhart, in: CMLR 32 (1995), S. 51, 77 zu argumentieren. 214 Riedel, Universality of Human Rights and Cultural Pluralism, in: ders., Universalität der Menschenrechte, S. 139, 162; Shaver Duquette, in: Cornell International Law Journal 34 (2001), S. 363, 375 ff.; Künzli, Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte, S. 65 f.; Brugger, in: GYIL 25 (1982), S. 113, 115; vgl. a. Brems, Universality and Diversity, S. 295 ff. Danach zählen die Menschenrechte zu den sog. erga omnes-Verpflichtungen, deren herausragende Wichtigkeit es gebietet, dass alle Rechtssubjekte innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft durch sie gebunden werden, unabhängig davon, ob diese ihr Einverständnis hierzu erklärt haben s. ICJ Rep. 1970, 3 [30] (Barcelona Traction Case), vgl. hierzu Ipsen, § 15, Rn. 55. 215 Ukrow, in: Calliess / Ruffert, Art. 281 EGV, Rn. 1. 216 EuGH, Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL –, Slg. 1964, 1251 (1270).

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

verfassungsderogative Wirkung entfalten, wie dies für die Gemeinschaftsgrundrechte in Bezug auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in Konfliktsituationen der Fall wäre.217 Der Vergleich mit einem möglichen universellen völkerrechtlichen Menschenrechtsverständnis reicht mithin nicht aus, um den Gemeinschaftsgrundrechten eine entsprechende Wirkung beizulegen. Die spezifischen Gründe der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte scheinen auf den ersten Blick vielmehr gegen eine universelle Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte zu sprechen: Die Gemeinschaftsgrundrechte sind ursprünglich entwickelt worden, um die Rechtsschutzlücke zu schließen, die in den nationalen Rechtsordnungen entstanden war, weil gegen die supranationale Hoheitsgewalt der Gemeinschaftsorgane nationaler Grundrechtsschutz nicht mehr erlangbar war.218 Wenn die Gemeinschaftsgrundrechte aber im Interesse der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entwickelt wurden, erscheint es paradox, eben diese Gemeinschaftsgrundrechte nun wiederum den Mitgliedstaaten entgegenhalten zu wollen. Daraus scheint zu folgern, dass die Gemeinschaftsgrundrechte dementsprechend auch nur als in ihrem Anwendungsbereich auf gemeinschaftliche Maßnahmen beschränkte Normen entwickelt worden sind.219 Allerdings ist die gemeinschaftliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte, wie sie sich aus dem spezifischen Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte ergibt, nicht darauf beschränkt, auf gemeinschaftlicher Ebene überhaupt ein Grundrechtsschutzsystem vorzuhalten. Die zu entwickelnden Gemeinschaftsgrundrechte dürfen dabei hinsichtlich ihrer wesentlichen Gewährleistungen zudem auch nicht hinter den zwingenden Anforderungen der nationalen Grundrechtssysteme zurückbleiben.220 Daraus folgt, dass die Universalität der Gemeinschaftsgrundrechte zu bejahen ist, wenn die universelle Grundrechtsgeltung als wesentliche und unabdingbare Eigenschaft des nationalen Grundrechtsschutzes herzuleiten ist. Hinweise auf ein entsprechendes Verständnis lassen sich der deutschen Grundrechtsdogmatik entnehmen. Ausgehend von Art. 1 III GG wird hier zunächst alle staatliche Gewalt an die folgenden Grundrechte gebunden. Der Gewährleistungsgehalt der deutschen Grundrechte beschränkt sich jedoch nicht auf den Schutz vor unmittelbar staatlichen Eingriffen.

217 Siehe zur unterschiedlichen Geltung der EMRK-Bestimmungen innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Chryssogonos, in: EuR 2001, S. 49 ff. 218 s. oben S. 39 ff. 219 Vgl. die Ansätze, die mit Konstitutionsprinzipien argumentieren, die diese Begrenzung zu egalisieren versuchen. 220 s. oben S. 39 ff.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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Mit der Rechtsprechung des BVerfGE zu dem Verständnis der Grundrechte als objektive Werteordnung hat das Verfassungsgericht die Grundlage dafür geschaffen, dass auch nichtstaatliche Grundrechtsbeeinträchtigungen adressiert werden können.221 Nach der Konzeption der objektiven Werteordnung werden ausgehend von der Grundfunktion der deutschen Grundrechte als Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat die zugrundeliegenden Wertentscheidungen der jeweiligen Grundrechtsnormen extrahiert.222 Dieser somit von einem negatorischen Anspruch losgelöste objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte verlangt, dass den Grundrechten innerhalb der gesamten Rechtsordnung, unabhängig von der Herkunft einer bestimmten Beeinträchtigung, Geltung zu verschaffen ist.223 Daran anknüpfend ist mittlerweile anerkannt, dass grundrechtlicher Schutz auch dann erlangbar sein muss, wenn die Ursache der betreffenden Freiheitsbeeinträchtigung nicht in klassischen staatlichen Eingriffen sondern in den Handlungen Privater liegen.224 Ein weiteres Indiz für ein Verständnis, welches von der universellen Geltung der Grundrechte innerhalb der deutschen Rechtsordnung ausgeht, ergibt sich aus der Rechtsprechung des BVerfG zur Bindung außerstaatlicher Hoheitsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes.225 So behält sich das BVerfG bis dato in letzter Konsequenz die Überprüfung gemeinschaftsrechtlicher Akte am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes vor.226 Diese Rechtsprechung hat das BVerfG mittlerweile auf Akte des Europäischen Patentamtes übertragen.227

Grundlegend dazu BVerfGE, 7 [198 ff.] (Lüth) Jaeckel, Schutzpflichten, S. 53, mwN. 223 Zur Differenzierung zwischen Grundrechtsnorm und akzessorischem Abwehranspruch vgl. bereits oben S. 49 f. 224 Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 146 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 480. Die Differenzierung zwischen mittelbarer Drittwirkung und Schutzpflichten der Grundrechte ist hier nicht von Bedeutung. Eingehender zu der Beziehung zwischen beiden Funktionen der deutschen Grundrechte Szczekalla, Sog. Schutzpflichten, S. 248 ff. 225 Vgl. demgegenüber die ausdrückliche Begrenzung der Jurisdiktionsgewalt auf die deutsche Hoheitsgewalt noch in BVerfGE 22, 293 [295]; 22, 91; 18, 385 [387 f.]; 6, 15 [18]; 1, 10. 226 Zuletzt BVerfGE 102, 147 [147], Ls. 1; Hofmann, in: FS Steinberger, S. 1207, 1222; Nettesheim, in: Jura 2001, S. 686, 689; vgl. a. Vögler, Defizite beim Schutz der Berufsfreiheit durch BVerfG und EuGH, S. 65 f. Zu der Frage, ob der Jurisdiktionsanspruch des BVerfG vielmehr als auf das deutsche Zustimmungsgesetz beschränkt anzusehen ist, s. Streinz, in: FS Steinberger, S. 1437, 1449. 227 BVerfG, Beschluss d. 4. Kammer des zweiten Senats vom 4. 4. 2001, teilweise abgedruckt in: NJW 2001, 2705 f. 221 222

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Damit beansprucht das deutsche Verfassungsgericht Jurisdiktion über Hoheitsakte, die einer anderen – anerkanntermaßen autonomen228 – Rechtsordnung entstammen.229 Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch auf die Rechtsprechung des BVerfG zur grundsätzlichen Anwendbarkeit der deutschen Grundrechte auf Sachverhalte mit Auslandsbezug hinzuweisen.230 Danach sei die deutsche öffentlichen Gewalt auch dann an die Grundrechte gebunden, wenn die Wirkungen ihrer Betätigungen außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes einträten.231 Die deutschen Grundrechte gewähren mithin nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich gegen jegliche Freiheitsbeschränkungen Schutz unabhängig davon, ob sie der deutschen Staatsgewalt, privat-autonomem Handeln oder einer anderen Rechtsordnung entstammen. Es lässt sich also davon sprechen, dass den Grundrechten des deutschen Grundgesetzes universelle Geltung beigemessen wird. Dies lässt sich begründen, indem man den maßgeblichen Anknüpfungspunkt des so postulierten universellen Geltungsanspruchs der deutschen Grundrechte in der in Art. 1 I GG verankerten Menschenwürde sieht. Für eine entsprechende Sichtweise spricht, dass das BVerfG in seiner Rechtsprechung zur Bindung außerstaatlicher Hoheitsgewalt allein an die „Betroffenheit“ der deutschen Grundrechtsträger und einen entsprechenden Schutzauftrag des Verfassungsgerichtes anzuknüpfen scheint.232 Auch als Grundlage für die Erweiterung des grundrechtlichen Gewährleistungsgehaltes auf Beeinträchtigungen privaten Ursprungs wird die Würde des Einzelnen herangezogen.233 Innerhalb des Schrifttums wird verschiedentlich die Meinung vertreten, die Würde des Einzelnen stelle den eigentlichen Geltungsgrund aller anderen Grundrechte dar.234

s. bereits BVerfGE 22, 293 [296]. Befürwortend bspw. Dauses, in: EuZW 1997, S. 705 u. Huber, in: EuZW 1997, S. 517, 520 f.; kritisch Sachs, Art. 1 GG, Rn. 82; Rüfner, in: HbStR V § 117, Rn. 4; vgl. a. Kirchhof, in: HbdStR VII § 183, Rn. 30 ff. der diese Kompetenz mit der Staatsqualität einer Rechtsgemeinschaft verknüpft. 230 Dazu ausführlich Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 13 ff. 231 BVerfGE 6, 290 [295]; BVerfGE 31, 58 [72 ff.]. 232 Sachs, GG-Kommentar, Art. 1 GG, Rn. 82; vgl. BVerfGE 89, 155 [175]. 233 BVerfGE, 88, 203, Ls. 1; Enders, Die Menschenwürde, S. 316 u. 335; vgl. bereits Dürig, in: AöR 81 (1956), S. 117, 123. 234 Enders, Die Menschenwürde, S. 503; Hain, Grundsätze des Grundgesetzes, S. 197 ff.; Stern, Staatrecht, Bd. III / 1, S. 36; ders., in: HbdStR V, § 108, Rn. 6; Bleckmann, in: GS Sasse, S. 665, 667; Benda, in: Hdb d. VerfR, § 6, Rn. 3; a.A. Herdegen, in: Maunz / Dürig, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 19 ff. Vgl. zu dieser These bereits oben S. 106 f. 228 229

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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Folgt man dem, so teilen die Grundrechte des GG wiederum den umfassenden Schutzanspruch gegen jegliche Beeinträchtigungen, wie er sich aus Art. 1 I 2 GG ergibt. Knüpft die Gewährleistung der Grundrechte nämlich wesensmäßig an den Achtungsanspruch des Einzelnen an, spielt die Herkunft einer Beeinträchtigung des persönlichen grundrechtlich geschützten Freiheitsraumes keine Rolle mehr. Maßgeblich für den grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt ist dann alleinig die Orientierung am Schutzobjekt, wonach Schutz gegen jegliche Beeinträchtigungen zu fordern ist.235 Aus dieser Herleitung der Universalität der deutschen Grundrechte folgt zugleich die Qualifizierung als unabdingbares Charakteristikum des deutschen Grundrechtsschutzsystem. Denn versteht man den universellen Geltungsanspruch der Grundrechte des Grundgesetzes als unmittelbaren Ausfluss der in Art. 1 I GG verbürgten Menschenwürde, gehört dieser gleichzeitig zu den wesentlichen Eigenschaften des deutschen Grundrechtsschutzes, die auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene Beachtung finden müssen. Dies ergibt sich aus Art. 79 III GG, nach dem die Achtung der Menschenwürde zu den unabdingbaren Kerngewährleistungen der deutschen Verfassung zählt. Folgt man dieser Argumentation, so muss die universelle Grundrechtsgeltung als unabdingbare Eigenschaft der deutschen Grundrechte aufgrund des gemeinschaftlichen Loyalitätsprinzips aus Art. 10 EGV auch durch die Grundrechte der Gemeinschaft gewährleistet werden.236 Daraus folgt, dass auch den Gemeinschaftsgrundrechten universelle Geltung zuzubilligen ist.237 Inwieweit sich entsprechende Berücksichtigungspflichten daneben auch aus anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ergeben, kann hier im Einzelnen nicht untersucht werden.238 Dafür dass die eben getroffenen Aussagen weiterreichende Gültigkeit beanspruchen, könnte aber sprechen, dass die Menschenwürde dem Einzelnen nicht erst Vgl. a. Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 286 f. Vgl. oben S. 39 ff. 237 Vgl. dazu Wetter, Grundrechtscharta, S. 91, die im Zusammenhang mit der ERT-Rechtsprechung von der Herausbildung einer objektiven Werteordnung der Gemeinschaftsgrundrechte spricht. 238 Insbesondere die italienische Corte Costituzionale anerkennt den Vorrang des Gemeinschaftsrechtes nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Gewährleistung der unveräußerlichen Menschenrechte („diritti inalienabili della persona umana“) Entscheidung Nr. 117 / 94 – Zerrini –, Raccolta Ufficiale 1994, 785, 789; vgl. a. die vorangegangenen Entscheidungen Nr. 183 / 73 – Frontini e altro c. Ministro delle Finanze –, Foro italiano, 1974, I, 314 (= EuGRZ 1975, S. 311) und Nr. 232 / 89 – Spa Fragd c. Ministro delle Finanze, Foro italiano –, I, 1990, 1855 (Übersetzung bei Besselink, in: CMLR 35 (1998), S. 629, 646 f.). Ebenfalls in diese Richtung tendiert offensichtlich die neuere Rechtsprechung des dänischen Højesteret der in seinem Urteil v. 6. 4. 1998 – Hanne Norup Carlsen et al. mud statsminister Poul Nyrup Rasmussen – EuGRZ 1999, S. 49, 50, Rz. 9.2. davon spricht, dass einer Internationalen Organisation nicht die Befugnis übertragen werden darf, Rechtsakte zu erlassen, welche die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte verletzen. Siehe dazu Hofmann, in: EuGRZ 1999, S. 1, 4 f. 235 236

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

durch die Verfassung seines jeweiligen Heimatstaates verliehen wird. Vielmehr können verfassungsrechtliche Grundrechtsnormen als bloße Positivierungen überstaatlicher Menschenrechte begriffen werden.239 Zwar werden die Wurzeln der europäischen Grundrechte aus einem heute unauflöslichen Gemisch philosophischer, theologischer und staatstheoretischer Ideen gebildet; ein einheitlicher historischer Entwicklungsstrang der europäischen Grundrechtsentstehung existiert nicht.240 Dennoch lässt sich in der Anerkennung der unveräußerlichen, jeder Person inhärenten Freiheit ein gemeinsamer ideengeschichtlicher Hintergrund zumindest des westlichen Menschenrechtsverständnisses ausmachen.241 Das deutsche Grundgesetz beispielsweise anerkennt in seinem Art. 1 II den naturrechtlichen und somit vorstaatlichen Kern der folgenden Grundrechte.242 Die in Art. 1 I GG niedergelegte Menschenwürde als Grundlage der folgenden Grundrechte kann somit als Kodifizierung dieser Menschenrechtsidee verstanden werden, nach der diese Schutz vor jedweder Beeinträchtigung zu gewähren haben, sie also universell gelten müssen. Ob aus dem Bekenntnis zur Achtung der Menschenrechte, die sich an dem Eigenwert des Einzelnen orientieren, tatsächlich innerhalb jeder Rechtsordnung auch das Anerkenntnis deren universeller Geltung folgen muss, kann hier allerdings nicht abschließend beurteilt werden.243 Für die vorliegende Untersuchung ergibt sich die universelle Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte jedenfalls daraus, dass die universelle Geltung der Grundrecht gegenüber jeglichen Beeinträchtigungen als zwingendes Erfordernis einer mitgliedstaatlichen Verfassungsordnung eingeordnet wurde.244

Für eine umfassende Übersicht über die Praxis höchster Gerichte anderer Mitgliedstaaten im Hinblick auf das Verhältnis zur Gemeinschaftsrechtsordnung s. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 140 ff.; vgl. auch Streinz, in: FS Steinberger, S. 1437, 1456 ff. Nach der französischen Grundrechtstradition schließlich, auf deren Bedeutung für die Gemeinschaftsgrundrechte bereits hingewiesen wurde (oben S. 49 f.), scheint ein objektiv-rechtliches und damit universelles Verständnis sogar einfacher zu konstruieren als nach dem auf subjektiv-rechtliche Gewährleistungen aufbauenden deutschen Grundrechtsschutz. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hofmann, in: FS Mahrenholz, S. 943 ff. 239 Stern, in: HdbdStR V, § 108, Rn. 6, vgl. a. Schapp, in: JZ 2003, S. 217, 222 ff. 240 Stern, in: HbdStR V, § 108, Rn. 12; s. dazu a. Haratsch, Geschichte der Menschenrechte, 2. Auflage, Potsdam 2002. 241 Leben, in: Alston, EU and Human Rights, S. 69, 73; Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 286, vgl. a. insb. ebenda, S. 290 ff. 242 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 1 GG, Rn. 12 u 12a; zuletzt BVerfGE v. 11. 03. 2003, in: NJW 2003, S. 1303, 1304; vgl. zu der Bedeutung des geschichtlich-philosophischen Hintergrundes der Menschenrechte für das GG Schapp, in: JZ 2003, S. 217, 222 ff.; s. für weitere europäische Staaten Stern in: HbdStR V § 108, Rn. 9 ff. 243 Dies führt zurück zu der im Völkerrecht geführten Diskussion um die Universalität der Menschenrechte. Umfassend dazu Brems, Universality and Diversity, Human Rights: Universality and Diversity Den Haag u. a. 2001; vgl. a. Riedel, Universality of Human Rights and Cultural Pluralism, in: ders., Universalität der Menschenrechte, S. 139 ff.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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Der akzessorische Schutzauftrag des EuGH wiederum ergibt sich aus Art. 220 I EGV. Danach kommt dem Gerichtshof die ausschließliche Zuständigkeit zur Wahrung des Rechtes innerhalb der Gemeinschaft zu. Dies umfasst – wegen deren universellen Geltungsanspruchs – die Gemeinschaftsgrundrechte im Rahmen des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechtes.

dd) Ergebnis Die Frage nach der Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte und damit nach der Bindung der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten stellt sich zuvorderst in kompetenzieller Hinsicht. Mangels ausdrücklicher Kompetenz des Gerichtshofes zur Kontrolle mitgliedstaatlicher Handlungen anhand von Gemeinschaftsgrundrechten kann sich diese nur implizit aus seiner Pflicht zur Wahrung des Rechtes bei Anwendung des Vertrages nach Art. 220 EGV ergeben. Es ist festgestellt worden, dass sich eine solche Zuständigkeit nicht aus systematischen Erwägungen ergibt. Sie knüpft allerdings an den universellen Geltungsanspruch der Gemeinschaftsgrundrechte an. Dieser lässt sich herleiten, wenn man davon ausgeht, dass der universelle Geltungsanspruch der nationalen, namentlich der deutschen Grundrechte, aus der Menschenwürde fließt und somit zu den unabdingbaren Erfordernissen des nationalen Grundrechtsschutzes zählt, die auf Gemeinschaftsebene Achtung finden müssen. Daraus erhellt, dass sowohl die Schrankenfunktion als auch die SchrankenSchranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte auf deren Gestalt als objektivrechtliche Normen zurückzuführen ist.245

c) Schranken der Zuständigkeitsausübung Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass dem gemeinschaftsrechtlichen Überprüfungsanspruch gegenüber mitgliedstaatlichen Rechtsakten anhand von Gemeinschaftsgrundrechten eine gewisse Paradoxie zueigen ist. Schließlich sind die Gemeinschaftsgrundrechte ursprünglich entwickelt worden, um die Integrität des Grundrechtsschutzes auf mitgliedstaatlicher Ebene zu gewährleisten.246 Das Derivat der Gemeinschaftsgrundrechte wird mithin nunmehr auf sein eigentliches Ursprungsrecht angewandt. 244 Siehe zu dem anzulegenden relativierten Maximalstandard bei der Herleitung und Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte oben S. 42 ff. 245 Vgl. a. Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 140 ff., der Schranken- und Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte innerhalb einer einheitlichen „Abwägungslösung“ zusammenfassen will. Siehe für weitere objektiv-rechtliche Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte oben S. 50 f. 246 s. oben S. 39 ff.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Hinzu kommt, dass eben festgestellt worden ist, dass die hier fragliche Kompetenz als wesensmäßiger Nebeneffekt der europäischen Grundrechtsschutzkompetenz qualifiziert worden ist. Während dies nichts an der Vollwertigkeit dieser Kompetenz ändert, so fehlt es doch grundsätzlich an einer entsprechenden Intention der Mitgliedstaaten, ihre Rechtsordnungen einem gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzregime zu unterstellen.247 Deshalb ist der Herleitung der grundsätzlichen Prüfkompetenz die Frage anzuschließen, inwieweit auch die Betätigung dieser Kompetenz mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Der Rückgriff auf die gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzgrundlagen durch die Organe der Gemeinschaft unterliegt bestimmten Kompetenzausübungsbeschränkungen. Die beiden wichtigsten dieser Betätigungsvorbehalte ergeben sich aus den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.248 Beide Grundsätze sind durch den Vertrag von Maastricht im Art. 5 EGV (Art. 3b EGV a.F.) verankert worden. aa) Subsidiaritätsprinzip Nach Art. 5 II EGV hat sich der Frage nach der generellen Handlungsbefugnis der Gemeinschaft stets die Frage anzuschließen, ob für die Ausübung dieser Kompetenz auf gemeinschaftlicher Ebene auch Bedarf besteht.249 Die Gemeinschaft soll danach nur noch tätig werden, „soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher ihres Umfangs oder ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“

Während die Zuständigkeit zum Schutz der Grundrechte nach einhelliger Ansicht bislang nicht in toto von der nationalen auf die gemeinschaftliche Ebene verlagert worden ist, liegt die Zuständigkeit zur Kontrolle und Auslegung des Gemeinschaftsrechtes alleine beim EuGH.250 Das Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechtes macht es notwendig, dass die Letztentscheidungskompetenz für die Überprüfung jeglichen Gemeinschaftsrechtes dem EuGH zukommt. Dieser umfassende Jurisdiktionsanspruch erfasst damit auch die Gemeinschaftsgrundrechte. Es ist bereits festgestellt worden, dass die Auslegung des Vgl. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 168. Streinz, Europarecht, Rn. 145 a u. 145 b. 249 Calliess, in: Calliess / Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 17. 250 I. E. ebenfalls: Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 103 u. ders., in: Calliess / Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 34; vgl. auch Winter, in: EuR 1996, S. 247, 251; Jickeli, in: JZ 1995, S. 58, 63. Gleichfalls abzulehnen sind mithin die in diesem Zusammenhang teilweise zu findenden Forderungen, den „Grundsatz der Subsidiarität“ (Schilling, in: EuGRZ 2000 S. 1, 8) zu beachten oder eine Auslegung der Primärrechtsnormen „im Lichte des Subsidiaritätsprinzips“ (Jung, S. 187) vorzunehmen. 247 248

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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Gemeinschaftsrechtes als ausschließliche Kompetenz des Gerichtshofes anzusehen ist.251 Das Subsidiaritätsprinzip ist mithin gemäß Art. 5 II EGV auf die hier in Frage stehende, ausschließliche richterliche Überprüfungskompetenz hinsichtlich binnenmarktwidriger Akte der Mitgliedstaaten auf deren Vereinbarkeit mit den Gemeinschaftsgrundrechte hin nicht einschlägig.

bb) Verhältnismäßigkeitsprinzip Keiner derartigen Beschränkung unterliegt indessen die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.252 Insbesondere war der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht wie im deutschen Recht ursprünglich auf den Schutz individueller Rechte bezogen sondern war schon als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt, als der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte noch gar nicht entwickelt hatte.253 Dieser entfaltet daher seine Wirkung gegenüber jeglichen Gemeinschaftsmaßnahmen. 254 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip findet insbesondere nicht nur bei Eingriffen der Gemeinschaft in die Rechte Einzelner sondern auch bei Eingriffen in Interessen der Mitgliedstaaten Anwendung.255

(1) Verhältnismäßigkeitsprüfung von Prüfkompetenzen Fraglich ist allerdings, ob diese Aussage für Rechtssetzungs- und Prüfkompetenzen der Gemeinschaftsorgane gleichermaßen Gültigkeit hat. So könnte der Begriff der „Maßnahme“ in Art. 5 III EGV gegen die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch auf Prüfkompetenzen sprechen. Doch selbst wenn man den Wortlaut des Art. 5 III EGV derart eng verstehen wollte, wäre zu beachten, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechtes nicht starr an den Wortlaut des Vertrages gebunden ist.256 Vielmehr s. oben S. 81 ff. Vgl. zu dem Verhältnis von Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Koch, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 242 ff. 253 Jürgensen / Schlünder, in: AöR 121, (1996), S. 200, 205. 254 Lienbacher, in: Schwarze, Art. 5 EGV, Rn. 35. Auf das Verhältnis zwischen Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitprinzip kommt es aufgrund der Unanwendbarkeit des ersteren hier somit nicht an, vgl. dazu Pache, in: NVwZ 1999, S. 1033, 1038. 255 Calliess, in: Calliess / Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 47; Zuleeg, in: DVBl. 1992, S. 1329, 1334; s.a. Emmerich-Fritsche, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 272 ff.; Schindler, Kollisionen von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 205; v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf, Art. 3 b EGV, Rn. 22; Delbrück, Rundfunkhoheit, S. 57 f. 256 Zu der Herleitung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechtes vgl. bereits EuGH, Rs. 8 / 55 – Fédération Charbonnière 251 252

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

sprechen das Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme aus Art. 10 EGV sowie die Festlegung der Union auf die Achtung rechtsstaatlicher Grundsätze für ein grundsätzlich weites Verständnis des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei dessen Anwendung auf die Beziehungen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten.257 Dennoch ergeben sich Besonderheiten, wenn man das Verhältnismäßigkeitsprinzip auf Prüfkompetenzen anwendet. Zwar finden sich entgegen dem Wortlaut des Art. 5 III EGV die aus der deutschen Dogmatik bekannten Elemente Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit auch in der Judikatur des EuGH zur Verhältnismäßigkeit wieder.258 Anders als bei der Betätigung von Rechtssetzungskompetenzen, stellt sich jedoch die Frage nach der Geeignetheit und Erforderlichkeit mangels Differenzierungsmöglichkeiten bei der Anwendung von Prüfkompetenzen nicht. Es kann hier immer nur darum gehen, ob eine Überprüfung stattfindet oder nicht. Dies folgt aus dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts259. Während es denkbar ist, dass das Ziel einer gemeinschaftsrechtlichen Regelungskompetenz genauso gut ohne diese Regelung alleine auf mitgliedstaatlicher Ebene erreicht werden kann,260 kann die Einhaltung von Gemeinschaftsrecht keinesfalls durch Maßnahmen auf mitgliedstaatlicher Ebene gewährleistet werden. Das Erfordernis der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechtes setzt zwingend eine oberste Entscheidungsinstanz voraus. Dementsprechend ist der EuGH im Rechtssystem der EG alleine und zwingend zuständig, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechtes – und damit der Gemeinschaftsgrundrechte – zu garantieren. Aus alledem folgt, dass die Betätigung der dem EuGH zustehenden Prüfkompetenzen mangels Alternative jedenfalls geeignet und auch erforderlich ist, um die Einhaltung des Gemeinschaftsrechtes zu gewährleisten.261 Dass der EuGH von der Überprüfung einer mitgliedstaatlichen Maßnahme Abstand nimmt, könnte sich mithin höchstens daraus ergeben, dass sich die Wahrnehmung der entsprechenden Kompetenz als unangemessen darstellt. Durch die Beschränkung auf die Angemessenheitsprüfung wird die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als solchem aber nicht beeinträchtigt. des Belgique / Hohe Behörde –, Slg. 1955 / 56, 297 (311); Rs. 15 / 57 – Compagne des hauts fourneaux de Chasse / Hohe Behörde –, Slg. 1958, 159 (196 f.); verb. Rs. 17 und 20 / 61 – Klöckner und Hoesch / Hohe Behörde –, Slg. 1962, 653 (686); Rs. 5 / 73 – Balkan-Import-Export / HZA Berlin-Packhof –, Slg. 1973, 1091 (1112). 257 Koch, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 195 f.; Emmerich-Fritsche S. 283 ff. 258 Kischel, in: EuR 2000, S. 380, 383 f.; Lienbacher, in: Schwarze, Art. 5 EGV, Rn. 34 ff.; s. a. oben S. 61. 259 Vgl. dazu Wegener, in: Calliess / Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 28. 260 s. dazu statt aller: Emmerich-Fritsche, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 298 ff. 261 Soweit ersichtlich ist dies für jegliche absolute Kompetenzen der Gemeinschaft gültig. Damit ergibt sich ein weiterer Aspekt für das Verhältnis von Art. 5 II und Art. 5 III EGV.

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Geeignetheit und Erforderlichkeit sind lediglich Elemente einer Vorprüfung, die der Verhältnismäßigkeitsprüfung i.e.S. vorgeschaltet sind.262 Mithin beschränkt sich auch die hier anzustellende Überprüfung auf eine Abwägung zwischen dem gemeinschaftlichen Interesse der Kompetenzausübung, die auf die grundrechtliche Überprüfung binnenmarktwidriger Maßnahmen gerichtet ist, und den Folgen, welche dies für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zeitigt. Stellen sich diese Folgen als unverhältnismäßig i.e.S. dar, ist mithin die teilweise oder völlige Suspendierung der fraglichen Überprüfungskompetenz des EuGH denkbar. (2) Argumente für die Kompetenzbetätigung (a) Konstitutive Prinzipien des Gemeinschaftsrechts Das stärkste Argument für die Ausübung der hier fraglichen Kompetenz zur Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte ergibt sich aus den Konstitutionsprinzipien des Gemeinschaftsrechtes, die oben als für die Kompetenzbegründung unbrauchbar abgelehnt wurden.263 Offenkundig widerspricht es den Grundsätzen der Effektivität, der Einheitlichkeit und des Vorranges des Gemeinschaftsrechtes, wenn der EuGH Gemeinschaftsrecht auf einen Sachverhalt nicht anwendet, obwohl dieser Sachverhalt in den Anwendungsbereich der betreffenden Norm fällt. Mithin widerspräche es diesen konstitutiven Prinzipien, wenn mitgliedstaatliche Reglungen nicht anhand der Grundrechte der Gemeinschaft überprüfte würden, obwohl eine dahingehende Kompetenz des Gerichtshofes besteht. (b) Defizite des nationalen Grundrechtsschutzes Ein mögliches weiteres Argument für die Betätigung der ERT-Kompetenz könnte sich aus dem abstrakten Interesse an einem möglichst effektiven Grundrechtsschutz der Unionsbürger ergeben, welches sich nicht in dem Interesse an der möglichst effektiven Anwendung von Gemeinschaftsgrundrechten erschöpft.264 So würde es für die Betätigung der fraglichen Prüfkompetenz durch den Gerichtshof sprechen, wenn sich der nationale Grundrechtsschutz gegenüber den in Frage stehenden binnenmarktwidrigen Regelungen als defizitär herausstellen wür262 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 f. sowie Clérico, Struktur der Verhältnismäßigkeit, S. 140. 263 s. oben S. 154 f. 264 Zu dem Grundsatz des effektiven Schutzes von Gemeinschaftsrecht s. Wegener, in: Calliess / Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 29.

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

de, die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte mithin einen besseren Grundrechtsschutz gewährleisten könnte. Unterschieden werden soll für eine dahingehende Untersuchung zwischen möglichen Defiziten struktureller Art, die sich aus der speziellen Verfasstheit der nationalen Grundrechtsordnungen ergeben, und Defiziten, die sich aus der konkreten Anwendung durch das jeweilige Verfassungsgericht ergeben. Hierfür soll wiederum exemplarisch die deutsche Situation herangezogen werden. (aa) Schutzdefizite struktureller Art Die Zentralnorm der deutschen Verfassung bezüglich der Grundrechtsgeltung bildet der bereits angesprochene Art. 1 III GG, welcher eine umfassende Bindung aller staatlicher Gewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes anordnet. Trotz dieser Proklamation eines umfassenden Schutzes scheinen Schutzdefizite struktureller Art nicht von vornherein ausgeschlossen. Zum einen die grundrechtliche Beurteilung grenzüberschreitender Sachverhalte und zum anderen die Beschränkung des personellen Schutzbereiches einiger Grundrechte auf Inländer sollen deswegen im Folgenden genauer betrachtet werden. ( ) Grenzüberschreitende Sachverhalte Wie zuvor festgestellt, beschränkt sich der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten und damit der mögliche Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten auf Sachverhalte, welche die Überschreitung einer innergemeinschaftlichen Grenze durch Personen, Dienstleistungen etc. beinhalten.265 Insofern gebührt diesem Bereich im gegebenen Zusammenhang besondere Beachtung. Wie bereits bemerkt, erstreckt sich der universelle Geltungsanspruch der deutschen Grundrechte grundsätzlich auch auf Sachverhalte mit Auslandsbezug.266 Allerdings ist weithin anerkannt, dass die Wirkkraft der Grundrechte bei der Anwendung auf Sachverhalte mit Auslandsbezug Einschränkungen unterliegen kann.267 Grenzüberschreitende Sachverhalte stellen sich zumeist als kollisionsrechtliche Fälle dar. Indem das Grundgesetz selbst die grundsätzliche Respektierung fundamentaler Wertvorstellungen fremder Rechtsordnungen nicht nur hinnehme, sons. oben S. 95 f. BVerfGE 6, 290 [295]; BVerfGE 31, 58 [72 ff.], BVerfGE 57, 9 [23], Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 68 ff.; siehe dazu oben S. 159. 267 Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 68 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 110. 265 266

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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dern fordere, sei es nach dieser Ansicht geboten, in solchen Konstellationen die Wirkkraft der Grundrechte stärker einzuschränken, als dies bei rein innerstaatlichen Sachverhalten zulässig sei.268 Vor diesem Hintergrund lassen sich mögliche Vorteile der Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte auf grenzüberschreitende Sachverhalte ausmachen. Zwar steht der verfassungsmäßigen Berücksichtigungspflicht hinsichtlich der grundlegenden Wertvorstellungen ausländischer Rechtsordnungen, der das BVerfG unterliegt, die parallele Pflicht des EuGH gegenüber, bei der Herleitung und Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte die grundlegenden Erfordernisse der einzelnen mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen zu respektieren.269 Auch sind die Einschränkungen, die sich im Rahmen der Grundrechtsanwendung auf grenzüberschreitende Sachverhalte wiederum durch das unabdingbare grundrechtliche Schutzniveau begrenzt, wie es aus Art. 79 III GG folgt. Allerdings erscheint es denkbar, dass die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte auf diese grenzüberschreitenden Sachverhalte Vorteile mit sich bringen könnten. In Situationen, in denen verschiedene Rechtsordnungen Geltung beanspruchen, könnte die Anwendung einheitlich geltender Gemeinschaftsgrundrechte für sich dann stellende kollisionsrechtliche Probleme eine bessere Lösung bieten als die Behandlung beispielsweise im Rahmen des IPR. Mithin spricht die Problematik der Grundrechtsanwendung auf grenzüberschreitenden Sachverhalte für eine Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte im Sinne der ERT-Rechtsprechung. ( ) Beschränkung auf Inländergrundrechte In Betracht kommen des Weiteren Schutzdefizite, die dadurch entstehen könnten, dass nationale Verfassungen Ausländer von dem Schutz durch bestimmte Grundrechte formell ausnehmen. In der deutschen Verfassung finden sich solche Beschränkungen beispielsweise in den Art. 8, 9 und 12 GG. Weiterhin wird der grundrechtliche Schutz juristischer Personen in Art. 19 III GG ausdrücklich und generell auf inländische juristische Personen beschränkt. Auch in den Verfassungen anderer Mitgliedstaaten finden sich Grundrechtsnormen, welche hinsichtlich ihres personellen Anwendungsbereiches an die Staatsbürgerschaft anknüpfen.270

268 Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 69, mwN auf den S. 64 ff. 269 Vgl. dazu oben S. 39 ff. 270 Vgl. nur für das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit Art. 27 BelgVerf; Art. 12 I GriechVerf. oder § 1 Nr. 5, Kapitel 2, SchwedVerf.

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Eine Schlechterstellung ausländischer Unionsbürger hinsichtlich des grundrechtlichen Schutzes wird allerdings bereits durch das unmittelbar wirkende Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EGV ausgeschlossen.271 So stehen Nichtstaatsangehörige nach der Rechtsprechung des BVerfG auch bezüglich solcher durch sogenannte Deutschen-Grundrechte geregelten Freiheiten nicht schutzlos.272 Entsprechende Rechte können durch Ausländer unter Berufung auf das „Auffanggrundrecht“ der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG geltend gemacht werden.273 Mithin verhindert das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV, dass sich aus den Bestimmungen einiger Verfassungen europäischer Mitgliedstaaten, die bestimmte Grundrechtsnormen formell von der jeweiligen Staatsbürgerschaft abhängig machen, ein Schutzdefizit des nationalen Grundrechtesschutzes folgt. (bb) Schutzdefizite nicht-struktureller Art Möglich erscheinen des Weiteren Schutzdefizite, die durch Einzelentscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte entstehen können. Auch wenn sich die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH bislang selbst regelmäßiger Kritik ausgesetzt sieht, so ist doch nicht auszuschließen, dass vereinzelt Entscheidungen nationaler Verfassungsgerichte ergehen, die hinsichtlich des grundrechtlichen Schutzstandards hinter dem durch den Gerichtshof postulierten zurückbleiben. In einem solchen Falle spräche das maßgebliche Interesse an einem möglichst wirksamen Grundrechtsschutz für die Ausübung der hier fraglichen Prüfkompetenz des EuGH. (c) Ergebnis Die Anwendung der hier in Frage stehenden Prüfkompetenz des EuGH wird von den konstitutiven Prinzipien des Gemeinschaftsrechtes verlangt, welche die Einheitlichkeit, den Vorrang und die Effektivität des Gemeinschaftsrecht statuieren. Daneben erscheint es denkbar, dass durch die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte auf grenzüberschreitende Sachverhalte kollisionsrechtliche Probleme, die sich im Rahmen der Anwendung nationaler Grundrechte in diesen Konstellationen ergeben, besser gelöst werden könnten. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass es auf mitgliedstaatlicher Ebene zu vereinzelten defizitären Grundrechtsjudikaten kommt, die dann im Rahmen der hier fraglichen Prüfkompetenz des EuGH aufgehoben werden könnten. 271 Dazu ausführlich: Störmer, in: AöR 123 (1998), S. 541 ff.; vgl. a. Hain, in: DVBl. 2002, S. 148, 156. 272 Vgl. bereits BVerfGE, 35, 382 [399]; 49, 168 [180 ff.]. 273 Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, Rn. 117.

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(d) Argumente gegen die Kompetenzausübung Es ist festgestellt worden, dass auf mitgliedstaatlicher Ebene grundsätzlich ein umfassender Grundrechtsschutz der Bürger gegenüber den hier in Frage stehenden nationalen Regelungen besteht. Anders als gegenüber mitgliedstaatlichen Akten, die der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht dienen, also in Fällen der WachaufRechtsprechung, wird der nationale Grundrechtsschutz hier nicht von vornherein derogiert.274 Durch die ERT-Kompetenz wird folglich kein Grundrechtsschutz originär begründet, sondern der mitgliedstaatliche Grundrechtsschutz wird zugunsten der Überprüfung durch die Gemeinschaftsgrundrechte überlagert. Um die Angemessenheit der Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte weiter beurteilen zu können, ist zunächst zu klären, welche Folgen diese für den nationalen Grundrechtsschutz haben würde: Dem Gemeinschaftsrecht kommt in seinem Anwendungsbereich Vorrang gegenüber jeglichem nationalen Recht zu.275 Als Teil der gemeinschaftlichen Rechtsordnung gilt dies auch für die Gemeinschaftsgrundrechte. Dies erscheint zunächst in solchen Fällen unproblematisch, in denen der nationale Grundrechtsschutz weiter geht als der gemeinschaftsrechtliche. Da dem Gemeinschaftsrecht nach herrschender Ansicht lediglich ein Anwendungsvorrang zukommt, der die Geltung des nationalen Rechtes unberührt lässt, steht der Anwendung der nationalen Grundrechte in solchen Fällen nichts entgegen.276 Dem betreffenden Gemeinschaftsgrundrecht kommt in dem überschießenden Schutzbereich der nationalen Grundrechte keine Geltung zu. Folglich können die nationalen Grundrechte insoweit auch nicht verdrängt werden. Gemeinschaftsrechtskonforme nationale Regelungen, die nicht gleichzeitig der Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht dienen, können somit jederzeit wegen Verstoßes gegen strengere, nationale Grundrechte von innerstaatlichen Gerichten für unwirksam erklärt werden.277 Eine kompetenzrechtlich relevante Beschränkung des mitgliedstaatlichen Regelungsspielraumes ergibt sich mithin nur dort, wo der nationale Schutzstandard in Bezug auf das Grundrecht, welches als Schranken-Schranke herangezogen wird, hinter dem gemeinschaftsrechtlichen Standard zurückbleibt. Regelungen, die in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als grundrechtskonform anerkannt sind, werden in diesem Fall vom EuGH als mit den Gemeinschaftsgrundrechten unvereinbar verworfen.278 Vgl. zu den sog. Wachauf-Fällen oben S. 53. St. Rspr. seit EuGH, Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL –, Slg. 1964, 1251. Zu den einzelnen Problemen der Gegenansicht des BVerfG vgl. Vögler, Defizite beim Schutz der Berufsfreiheit durch BVerfG und EuGH, S. 19 ff. 276 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 200. 277 Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 197. 278 Mithin ist es ungenau, wenn davon gesprochen wird, dass nationale Grundrechte keine Anwendung finden, wo die Gemeinschaftsgrundrechte Geltung entfalten bzw. nationale 274 275

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Teilweise wird nun vertreten, diese zusätzliche Überprüfung anhand der Gemeinschaftsgrundrechte könne keine zusätzliche Rechtfertigungshürde darstellen, da sowohl Gemeinschaftsgrundrechte und Grundfreiheiten nahezu identische Schranken aufwiesen.279 Zunächst kann bereits von einer Vergleichbarkeit der Schrankenbestimmungen der Gemeinschaftsgrundrechte und der Grundfreiheiten keine Rede sein.280 Dem differenzierten System spezifischer Schrankenbestimmungen zu den Grundfreiheiten des Vertrages stehen die bestenfalls generalklauselartigen Aussagen des EuGH zu den Beschränkungsmöglichkeiten der Gemeinschaftsgrundrechte gegenüber. Doch selbst die Anwendung identischer Schranken können keine identischen Ergebnisse liefern, wenn der Prüfung vollkommen unterschiedliche Rechtspositionen, wie beispielsweise die Freiheit des Warenverkehres und der Meinungsfreiheit, zugrunde liegen. Mithin werden nationale Grundrechte in Anwendung der ERT-Rechtsprechung verdrängt, wenn das im Einzelfall angewandte Schutzniveau des betreffenden Gemeinschaftsgrundrechtes das nationale Schutzniveau übersteigt. (aa) Eingriff in die nationale Identität der Mitgliedstaaten Wie stark der Eingriff in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten nach der ERTRechtsprechung ausfällt, hängt mithin von den jeweiligen Schutzstandards bezüglich der einschlägigen Grundrechte auf nationaler und europäischer Ebene ab. Nun erscheint es auf den ersten Blick begrüßenswert, wenn auf diese Weise ein beiderseitiges Interesse hinsichtlich eines möglichst hohen Niveaus bei dem Schutz der Grundrechte erzeugt wird. Jedoch ist bekanntlich die Grundrechtsbetätigung eines Einzelnen oftmals mit einer korrespondierenden Grundrechtsbeeinträchtigung eines anderen Grundrechtsträgers verbunden.281 Demzufolge bedeutet ein weites Verständnis einer Grundrechtsnorm eine entsprechend stärkere Beeinträchtigung einer anderen, in der konkreten Situation gegenläufigen Grundrechtsnorm.282 So dienen auch die mitgliedstaatlichen Regelungen, die einer gemeinschaftsgrundrechtlichen Überprüfung unterzogen werden sollen, oftmals nicht lediglich Regelungen in dem Maße nicht mehr am Maßstab nationaler Grundrechte zu prüfen sind, wie sie der Überprüfung durch Gemeinschaftsgrundrechte unterfallen. So aber: Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der EG, S. 201, Pernice, in: NJW 1990, S. 2409, 2417 f.; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, Rn. 201. 279 Schaller, EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 96 ff. 280 Vgl. oben S. 60 ff. u. 97 ff. 281 Stern, Staatsrecht III / 2, S. 608 f. 282 Vgl. Besselink, in: CMLR 35 (1998), S. 629, 638 f.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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irgendwelchen abstrakten staatlichen Interessen. Sie sind häufig Ausdruck konkreter Grundrechtspositionen.283 Bei der Anwendung einer Grundrechtsnorm ist daher regelmäßig zugleich zur Gewichtung dieser Norm im Verhältnis zu ganz anderen, im konkreten Fall entgegenstehenden Grundrechtsnormen Stellung zu nehmen. Daraus folgt, dass der EuGH Wertungen vorzunehmen hat, die weitreichende und zum Teil gravierende Folgen nach sich ziehen können. Dies kann an dem Beispiel der Rs. Grogan284 verdeutlicht werden: Hätten in dem Fall, welcher der Entscheidung zugrunde lag, die britischen Abtreibungskliniken selbst anstelle der Studenten in Irland für ihre Dienste geworben, so wäre dies zweifellos in Ausübung der gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungsfreiheit geschehen. Hier hätte der Gerichtshof das Grundrecht auf Leben nicht nur mit der Dienstleistungsfreiheit sondern auch mit dem Gemeinschaftsgrundrecht der Meinungsfreiheit in Verhältnis setzen müssen.285 Eine Stellungnahme des EuGH zu einer innerstaatlich so kontrovers diskutierten Thematik wie der Frage der Erlaubtheit von Abtreibungen hätte die Akzeptanz der Gemeinschaft innerhalb der irischen bzw. der ausländischen Bevölkerung zweifellos auf eine harte Probe gestellt. Damit wird deutlich, dass Grundrechtsfragen oftmals zugleich gesellschaftlichpolitische Grundfragen betreffen. Die einzelnen nationalen Grundrechtsgewährleistungen und deren respektiven Schutzstandards sind überdies nicht lediglich als autonome Sphären individueller Freiheit anzusehen sondern stellen vielmehr das Ergebnis eines Abwägungsprozesses zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen dar.286 Sie treffen damit zugleich eine Aussage über das jeweils zugrunde liegende Verständnis über das Ve;rhältnis der staatlichen Autorität bzw. Gemeinwesen und Privatinteressen.287 Aus diesen Gründen sind die nationalen Grundrechtsschutzsysteme als wesentliche Bestandteile der nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten anzusehen, welche die Gemeinschaft gemäß Art. 6 II EUV zu achten hat.288 Gesellschaftliche Grundfragen, wie sie die nationalen Grundrechtsschutzsysteme adressieren, dürfen letztlich mithilfe der Gemeinschaftsgrundrechte nicht beantwortet werden. Vgl. Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 198. EuGH, Rs. 159 / 90 – Society for the Protection of Unborn Children Ireland / Grogan u. a. –, Slg. 1991, 4685, Rz. 31; Der Sachverhalt ist ausführlich oben auf S. 143 beschrieben worden. 285 Vgl. Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 194. 286 Vgl. Besselink, in: CMLR 35 (1998), S. 629, 642. 287 Ebenda. 288 Puttler, in: Calliess / Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 213, subsumiert den Mindestbestand an Werten aus verschiedenen Bereichen menschlichen Zusammenlebens dem Art. 6 III EUV. 283 284

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Die Gemeinschaftsgrundrechte sind Derivat der einzelnen mitgliedstaatlichen Verfassungen sowie der von diesen Staaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge. Ausfluss eines paneuropäischen, gesellschaftlichen Grundkonsenses sind sie hingegen nicht.289 In der fehlenden gesellschaftlichen Verankerung des europäischen Grundrechtsschutzes ist der Grund zu sehen, weshalb die einzelnen nationalen Grundrechtschutzsysteme weiterhin den nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten zuzuordnen sind.290 Nach allem ist festzustellen, dass eine uneingeschränkte Anwendung der Prüfkompetenz nach der ERT-Rechtsprechung dem Art. 6 Abs. 3 EUV widerspricht, demnach die Gemeinschaft die nationalen Identitäten ihrer Mitglieder zu achten hat. (bb) Verknüpfung von Binnenmarktziel und Grundrechtsschutz Zu dem zentralen Argument des Eingriffes in die nationale Identität durch die uneingeschränkte Ausübung der hier fraglichen Kompetenz treten unterstützende Überlegungen, die sich auf die Bedeutung des Binnenmarktzieles im Rahmen der Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte beziehen. ( ) Große Reichweite der Prüfkompetenz Zum einen ist die Reichweite der hier fraglichen Prüfkompetenz wenig transparent. Mitgliedstaatliche Regelungen sollen laut der ERT-Rechtsprechung immer dann der Überprüfung anhand von Gemeinschaftsgrundrechten unterstellt werden, wenn diese unter den Tatbestand einer vertraglichen Grundfreiheit fallen und sich der betroffene Mitgliedstaat zu ihrer Rechtfertigung auf Rechtfertigungstatbestände des Gemeinschaftsrechtes beruft.291 Damit sind Gemeinschaftsgrundrechte auf alle mitgliedstaatlichen Regelungen anwendbar, durch die in eine der Grundfreiheiten eingegriffen wird und die nicht bereits mangels Rechtfertigungsmöglichkeit unmittelbar für unanwendbar zu erklären sind. D.h. im gesamten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten sollen nunmehr auch grundsätzlich Gemeinschaftsgrundrechte gelten können. Daraus folgt wiederum, dass die Bindung mitgliedstaatlicher Rechtsnormen an die Gemeinschaftsgrundrechte unmittelbar an deren Binnenmarktrelevanz zu knüpfen sind. Wie weit wiederum die tatbestandliche Reichweite der Grundfreiheitsbestimmungen verstanden werden kann, ist bereits an einschlägiger Stelle eingehend dargestellt worden.292 Vgl. v. Bogdandy, in: JZ 2001, S. 157, 167; ders., in: CMLR 37 (2000), S. 1307, 1317. Vgl. a. Müller-Graff, in: FS Steinberger, S. 1281, 1289 sowie Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 168. 291 EuGH, Rs. C-260 / 89 – Elliniki Radiophonia Tileorassi / Dimotiki Etairia Pliroforisis –, Slg. 1991, 2925, Rz. 43. 289 290

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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( ) Gefahr der Instrumentalisierung der Grundrechtsrechtsprechung Zum anderen ist das vom EuGH zugrunde gelegte Schutzniveau abstrakt nicht oder nur schwer feststellbar. In Ermanglung eines verbindlichen, geschriebenen Grundrechtskataloges können sich Anhaltspunkte für den europäischen Standard des Grundrechtsschutzes nur aus der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH selbst ergeben. Der EuGH entscheidet dabei von Fall zu Fall, welche Regelungen er als mit den ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechten als vereinbar ansieht und welche Bestimmungen seiner Ansicht nach dagegen verstoßen. Aus dem gemeinschaftsrechtlichen Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte folgt lediglich ein gewisser Mindeststandard. Er gibt jedoch keine Auskunft über den höchstmöglichen im Einzelfall anzulegenden Schutzmaßstab.293 Mit der Entscheidung über den anzulegenden Schutzstandard der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte entscheidet der EuGH in einem bestimmten Maße selbst über die Reichweite seiner Jurisdiktion und besitzt damit ein erheblich erweitertes Verwerfungsermessen über eine Vielzahl innerstaatlicher Rechtsvorschriften mit oftmals grundrechtlicher Relevanz.294 Ein hohes Schutzniveau bezüglich der Grundrechtsnormen, die mit dem Binnenmarktziel konform gehen, geht dann mit einer stärkeren Beschränkung entgegenstehender Grundrechtspositionen einher. So standen sich beispielsweise in der Rs. Familiapress nicht nur verschiedene Aspekte des Grundrechtes der Meinungsfreiheit – Pluralismussicherung und individuelle Pressefreiheit – gegenüber. Wie vom Gerichtshof ausgeführt, waren auch Fragen des Wettbewerbes und damit die Grundrechte der Berufs- und Eigentumsfreiheit berührt.295 Auch wenn der EuGH in diesem Fall den nationalen Gerichten die Beurteilung der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation überlassen hat, birgt die Verknüpfung von Grundrechtsschutz und Kompetenzfrage die Gefahr, dass der EuGH in anderen Fällen einen gewissen Widerwillen zeigen könnte, die dann entstehenden Grundrechtskollisionen zugunsten derjenigen Grundrechtsposition aufzulösen, die dem Binnenmarktziel im Einzelfall entgegensteht. Auf die besondere Bedeutung des Binnenmarktzieles und dessen Verbindlichkeit auch für die Rechtsprechung des EuGH ist an anderer Stelle bereits eingegangen s. oben S. 68 ff. s. oben S. 42 ff. 294 Dem EuGH ist dies daher auch als „Offensive Use“ der Gemeinschaftsgrundrechte vorgeworfen worden: Coppel / O’Neill, in: CMLR 29 (1992), S. 669, 672. 295 Rs. C-368 / 95 – Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag und Vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag –, Slg. 1997, 3689, Ls. 6. 292 293

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

worden.296 Wird die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte mit Fragen des Binnenmarktes verquickt, könnte die Grundrechtssprechung des EuGH der nötigen, ausschließlich an den Interessen des Einzelnen orientierten Objektivität beraubt werden.297 Damit wird die grundrechtliche Prüfkompetenz auf zwei Arten bedenklich mit dem Binnenmarktprinzip verknüpft. Zum einen entscheidet die Reichweite des Binnenmarktrechtes zugleich über die Reichweite des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes. Zum anderen besteht die Gefahr, dass Fragen der Grundrechtsanwendung durch das Interesse an der Verwirklichung des Binnenmarktzieles durchdrungen werden.

(3) Abwägung und Lösungsvorschlag Für eine Inanspruchnahme der ERT-Prüfkompetenz spricht das Interesse der Gemeinschaft an der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechtes in Gestalt der Gemeinschaftsgrundrechte. Daneben sind mögliche Vorteile des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes bei der Anwendung auf grenzüberschreitende Sachverhalte ausgemacht worden. Schließlich könnte der EuGH gegebenenfalls im Rahmen der Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte defizitäre Urteile nationaler Gerichte überprüfen. Diesen Vorteilen steht das mitgliedstaatliche Interesse an der Integrität ihrer jeweiligen Grundrechtsschutzsysteme als wesentlicher Teil der von der Gemeinschaft gemäß Art. 6 III EUV zu achtenden nationalen Identität gegenüber. Hinzu treten Bedenken im Hinblick auf die Verknüpfung von Grundrechtsschutz und Binnenmarktzielverwirklichung. Im Wesentlichen stoßen hier mithin die konstitutiven Grundsätze des Gemeinschaftsrechtes des Vorranges, der Einheitlichkeit und Effektivität an die Grenzen, welche durch die konstitutiven Erfordernisse der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gezogen werden. Dass die einander gegenüberstehenden konstitutiven Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung und der nationalen Rechtsordnungen grundsätzlich gleich zu achten sind, ergibt sich aus einem Aspekt, der bereits an anderer Stelle der Untersuchung von maßgeblicher Bedeutung war: Die Gemeinschaft ist nach ihrer bisherigen Struktur auf den Integrationswillen ihrer Mitglieder angewiesen.298 s. oben S. 83 ff. An dieser Stelle ist erneut auf Coppell / O’Neill, in: CMLR 29 (1992), S. 669 ff. zu verweisen, die dem EuGH bereits heute die Instrumentalisierung des Grundrechtsschutzes vorwerfen. 298 Eben diese These liegt der Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte aus dem Loyalitätsgebot des Art. 10 EGV zugrunde. Siehe dazu oben S. 39 ff. 296 297

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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Der Grundrechtsschutz bildet in allen demokratisch verfassten Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einen elementaren Bestandteil der jeweiligen Staats- und Gesellschaftsordnung. Der Schutz der Grundrechte ist dabei nicht nur für den einzelnen Bürger von herausragender Wichtigkeit, sondern auch die Funktionsfähigkeit des gesamten Rechtssystems hängt von der Integrität seiner Grundrechtsordnung ab. Zwar beanspruchte das Gemeinschaftsrecht bereits vor der ERT-Rechtsprechung Anwendungsvorrang vor jeglichem innerstaatlichen Recht. Jedoch waren Grundrechtsfragen zumeist auf den Regelungsgegenstand des jeweiligen Gemeinschaftsrechtsaktes begrenzt. Nunmehr wird der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz jedoch nicht nur mit dem gesamten Anwendungsbereich des gemeinschaftlichen Binnenmarktrechtes verknüpft. Es ist auch gezeigt worden, dass die unmittelbare Grundrechtsanwendung auf originär mitgliedstaatliches Recht im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten nicht auf diesen Anwendungsbereich begrenzt bleiben sondern weit darüber hinausgehende Konsequenzen haben. Damit stellt sich die Inanspruchnahme der hier fraglichen Kompetenz als ein Qualitätssprung gegenüber der bisherigen Situation dar.299 Eine derart weitreichende Intervention der Gemeinschaft in das Grundrechtsschutzsystem, wie sie sich nun aber aus der – unbeschränkten – ERT-Kompetenz ergibt, ist von dem Integrationswillen der Mitgliedstaaten zweifellos nicht mehr gedeckt.300 Dringt die Gemeinschaft in die mitgliedstaatlichen Kompetenzreservate ein, die sich als Teil der jeweiligen nationalen Identität darstellen, so hat dies zudem erhebliche Auswirkungen auf die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung. Die Entwicklung und letzten Endes das Fortbestehen der Gemeinschaft ist allerdings in hohem Maße abhängig von der Akzeptanz der Unionsbürger, denn diese bildet die Grundlage für die Mitwirkung der demokratisch verfassten Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft. Mithin wird deutlich, dass die Achtung der aktuellen Integrationsvorbehalte der Mitgliedstaaten, welche die unionsrechtlich anerkannte nationale Identität formen, sich als ebenso bedeutsam für die Entwicklung und den Fortbestand des Gemeinschaftsrechtsystems darstellen, wie die Anwendung der konstitutiven Grundsätze des Gemeinschaftsrechtes der Effektivität, der Einheitlichkeit und des Vorranges. Aus den Besonderheiten des integrativen Systems der Europäischen Gemeinschaft als Staatenverbund301 folgt also, dass neben den konstitutiven Prinzipien der Pernice, in: NJW 1990, S. 2409, 2417. Der Vergleich mit Art. 31 GG, den Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 198 in Bezug auf die ERT-Kompetenz zieht, geht daher fehl. 301 Den Begriff des „Staatenverbundes“ hat das BVerfG in seiner Maastricht-Entscheidung geprägt. 299 300

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

übergeordneten Ordnungsebene den konstitutiven Erfordernissen der untergeordneten Ordnungsebene grundsätzlich gleichrangige Bedeutung zukommt.302 Das entscheidende Kriterium für den anzustrebenden Ausgleich zwischen den beiden widerstreitenden Elementen ist einstweilen in dem abstrakten Interesse an einem möglichst umfassenden Schutz der Grundrechte der Unionsbürger zu suchen. Dies gilt insbesondere, als erst der umfassende Schutzanspruch der Grundrechte die Grundlage für die hier fragliche Prüfkompetenz darstellte. Es ist festgestellt worden, dass die Betätigung der gemeinschaftsrechtlichen Prüfkompetenz Unsicherheiten hinsichtlich dieses Schutzes birgt.303 Auf der anderen Seite sind Defizite hinsichtlich des Grundrechtsschutzes auf mitgliedstaatlicher Ebene ebenfalls nicht ausgeschlossen. Weder eine uneingeschränkte Ausübung der gemeinschaftsrechtlichen Prüfkompetenz noch deren vollständige Suspendierung scheinen daher aus dem Blickwinkel des bestmöglichen Grundrechtsschutzes erstrebenswert. Eine differenzierte Lösung erscheint vorzugswürdig. Ein tragfähiges Modell für die Behandlung einander überschneidender Jurisdiktionsansprüche in dem in vielerlei Hinsicht verschränkten Rechtssystem der Europäische Gemeinschaft wird durch die Rechtsprechung des BVerfG zur Rücknahme des eigenen Jurisdiktionsanspruches gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten hinsichtlich ihrer Grundrechtskonformität vorgegeben.304 Ein entsprechender Teilverzicht auf europäischer Ebene, der die Ausübung der Jurisdiktion auf Fälle wesentlicher Grundrechtdefizite beschränkt, erscheint auch für die vorliegende Situation zweckdienlich. Das Ausgangsproblem ist in beiden Situationen ähnlich: Sowohl auf Seiten des Mitgliedstaates Deutschland als auf Seiten der Gemeinschaft beansprucht ein Rechtsprechungsorgan Jurisdiktion über Hoheitsakte, die ihren Ursprung in der jeweils anderen, autonomen Rechtsordnung haben.305 Entsprechend dem Verständnis der universellen Geltung der Grundrechte des GG behält sich das BVerfG bis heute in letzter Konsequenz die Überprüfung gemeinschaftsrechtlicher Akte am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes vor.306 Innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung kommt dem Gerichtshof die 302 Vgl. a. Giegerich, Europäische und deutsche Verfassung, S. 797 ff., der die nationale Identität als relative Schranke der europäischen Integration ansieht, sowie den durch ihn postulierten Grundsatz der Gleichheit von Mitgliedstaaten und Gemeinschaft vor dem Gemeinschaftsrecht, ebenda, S. 877 ff. 303 s. soeben auf S. 180. 304 Vgl. hierzu BVerfG 89, 155 [174 f.]. 305 s. dazu oben S. 157 ff. 306 Zuletzt BVerfGE 102, 147 [147] Ls. 1; Hofmann, in: FS Steinberger, S. 1207, 1222; Nettesheim, in: Jura, 2001, S. 686, 689; vgl. a. Vögler, Defizite beim Schutz der Berufsfreiheit durch BVerfG und EuGH, S. 65 f.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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grundrechtliche Jurisdiktionsgewalt über mitgliedstaatliche Regelungen zu, soweit diese dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes unterfallen.307 Allerdings suspendiert das BVerfG seinen Jurisdiktionsanspruch solange auf Gemeinschaftsebene ein dem deutschen Grundgesetz im Wesentlichen gleichzuachtender Grundrechtsschutz gewährleistet wird.308 Dieser Teilverzicht an Jurisdiktionsgewalt ist der Notwendigkeit geschuldet, dass die Europäische Gemeinschaft als neuartige Rechtsordnung nur Erfolg haben konnte, wenn die Mitgliedstaaten deren supranationalen Charakter respektieren. Gleichzeitig ist gezeigt worden, dass die Achtung des mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutzsystems als Teil der nationalen Identität ebenfalls als elementares Erfordernis der Integration anzusehen ist. Der wechselseitige Achtungsanspruch der jeweils autonomen Rechtsordnungen auf europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene innerhalb des integrativen Systems der Gemeinschaft verlangt mithin, dass ein der Solange-Rechtsprechung des BVerfG entsprechender Teilverzicht auch durch den EuGH geübt wird, soweit sich die Frage der Schranken-Schranken-Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte bei der Anwendung der Grundfreiheiten stellt. Nach alledem ist zu fordern, dass der EuGH seinen Jurisdiktionsanspruch hinsichtlich der Überprüfung binnenmarktwidriger Maßnahmen der Mitgliedstaaten anhand der Gemeinschaftsgrundrechte zurückstellt, soweit ein im Wesentlichen effektiver Grundrechtsschutz auf nationaler Ebene gewährleistet wird.309

cc) Zusammenfassung Die Ausübung der ERT-Kompetenz durch den EuGH unterliegt wie die Zuständigkeiten aller Gemeinschaftsorgane bestimmten Schranken. Während festgestellt wurde, dass das Subsidiaritätsprinzip auf Prüfkompetenzen des EuGH keine Anwendung findet, unterliegt sie insbesondere dem Vorbehalt der – auf eine Angemessenheitsprüfung beschränkten – Verhältnismäßigkeit. Als Argumente für die Kompetenzbetätigung sprechen die konstitutiven Grundsätze der Effektivität, Einheitlichkeit und des Vorranges des Gemeinschaftsrechts. Außerdem sind mögliche Vorteile der Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte auf grenzüberschreitende Sachverhalte bzw. gegenüber – im Einzelfall – defizitärer Grundrechtsjudikatur mitgliedstaatlicher Gerichte ausgemacht worden. Gegen die Kompetenzausübung spricht, dass durch sie in die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten, zu denen die Integrität der jeweiligen Grundrechtss. oben S. 163. Vgl. Art. 23 I 1 GG. 309 Vgl. die Forderung von Ruffert, in: EuGRZ 1995, S. 518, 529, die Ausübung der ERTKompetenz auf eine Evidenzprüfung zu beschränken. Siehe zu einer möglichen Rolle des Art. 7 EUV in diesem Zusammenhang v. Bogdandy, in: CMLR 37 (2000), S. 1307, 1318. 307 308

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2. Teil: Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

schutzsysteme zu zählen ist, eingegriffen wird. Hinzu kommt, dass der Prüfkompetenz durch die Verknüpfung mit dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten eine große Reichweite zukommt. Schließlich besteht durch die Verquickung von Grundrechtsprüfung und Binnenmarktverwirklichung die Gefahr der Instrumentalisierung des Grundrechtsschutzes. Nach Abwägung der widerstreitenden Argumente und unter Hinzuziehung des Interesses an einem abstrakt möglichst effektiven Grundrechtsschutz, ist der Schluss gezogen worden, dass die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten gebietet, die Ausübung der ERT-Kompetenz zu suspendieren, solange auf der Ebene der Mitgliedstaaten ein effektiver Grundrechtsschutz grundsätzlich gewährleistet wird.

3. Grundfreiheiten als Schranken-Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte Die Schranken-Schranken-Funktion der Grundfreiheiten bei der Überprüfung von Gemeinschaftsakten anhand von Gemeinschaftsgrundrechten hängt wiederum davon ab, inwieweit man eine Bindung der Gemeinschaftsorgane an die Grundfreiheiten des EGV bejaht.310 Insoweit die Organe der EG sowohl an Grundfreiheiten als auch Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind, ist davon auszugehen, dass die Systematik des Gemeinschaftsrechtes verlangt, dass Gemeinschaftsakte nicht als mit Gemeinschaftsgrundrechten vereinbar erklärt werden können, wenn sie gleichzeitig gegen die Grundfreiheiten des EGV verstoßen.

4. Änderungen durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta? In Art. II-51 I 1 EVVE heißt es: „Diese Charta gilt für die [ . . . ] Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechtes der Union.“

Diese Formulierung könnte so verstanden werden, dass nach dem Willen des Konvents die Grundrechtsjurisdiktion des EuGH ausschließlich auf die sogenannten Wachauf-Fälle zu begrenzen ist, in denen die Mitgliedstaaten Gemeinschaftsrecht umsetzen.311 Zwingend ist dieses Verständnis indes nicht.

310 311

Vgl. dazu bereits oben S. 92. So bspw. Zimmermann, Charta der Grundrechte, S. 23.

Kap. III: Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken

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Eine Auslegung durch den EuGH, welche auch die ERT-Kompetenz unter den Art. II-51 I 1 EVVE fasst, erscheint möglich.312 Bei der Erstellung des Artikels stand die Problematik wie sie im 3. Kapitel des zweiten Teiles der vorliegenden Arbeit dargestellt wurde, soweit ersichtlich, nicht zur Debatte. Vielmehr lag der Schwerpunkt auf der grundsätzlichen Klarstellung, dass sich an die Charta jedenfalls keine Bindungen der Mitgliedstaaten knüpfen sollten, die über die bisherige Rechtsprechung des EuGH hinaus gingen.313 Die abschließenden Erläuterungen des Präsidiums des Charta-Konvents schließlich enthalten einen ausdrücklichen Verweis auch auf die ERT-Rechtsprechung.314 Ohne dass diesen Erläuterungen Rechtsverbindlichkeit zukäme, bestehen somit doch Zweifel, ob mit der Geltung des Art. II-51 I 1 EVVE die ERT-Rechtsprechung ad acta gelegt ist.315 Letzten Endes ist es an dem EuGH, die Charta-Bestimmungen auszulegen, so dass nicht zu erwarten steht, das dieser die ERT-Kompetenz negieren wird.316 Mithin ist davon auszugehen, dass sich die hier behandelten Fragen auch nach Verbindlicherklärung der Charta in ähnlicher Form wieder stellen werden. Dazu ist insbesondere auf Art. 5 I EVVE hinzuweisen, welcher die grundlegenden verfassungsrechtlichen Strukturen nunmehr explizit als Ausdruck der zu achtenden nationalen Identität anerkennt. In diesem Falle gilt das oben Gesagte entsprechend. Insbesondere wird der dort in Abrede gestellte europäische Grundkonsens in Grundrechtsfragen nicht schon allein durch die Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta erreicht. Ein solcher ergibt sich nicht aus der bloßen Existenz abstrakter Normtexte, sondern aus Verfassungswirklichkeiten, d. h. aus der konkreten über einen gewissen Zeitraum geübten Anwendung der Grundrechtsnormen durch mitgliedstaatliche und supranationale Gewalten nach der im Einzelnen ebenfalls erst noch zu entwickelnden Interpretation des Gerichtshofes.

312 Eeckhout, in: CMLR 39 (2002), S. 945, 953; offensichtlich auch Pache, in: EuR 2001, S. 475, 483. 313 Eeckhout, in: CMLR 39 (2002), S. 945, 952. 314 CHARTA 4473 / 00, Rz. 46, abgedruckt in: EuGRZ 2000, S. 559 ff. 315 Schaller, EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 214 f. 316 Vgl. Bienert, Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns, S. 215.

Zusammenfassung der Hauptthesen 1. Der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz fußt auf dem Prinzip der loyalen Zusammenarbeit, wie es sich aus Art. 10 EGV ergibt. Dieses verlangt, dass für Mitgliedstaaten unabdingbare Verpflichtungen auf Gemeinschaftsebene Berücksichtigung finden müssen. Solche unabdingbaren Pflichten werden den Mitgliedstaaten durch ihre Verfassungen sowie durch die von ihnen abgeschlossenen Menschenrechtsverträge bezüglich der Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes auferlegt. Da die Mitgliedstaaten an einer effektiven Mitarbeit gehindert wären, wenn dies mit einem Verstoß gegen diese unabdingbaren Pflichten einherginge, lässt sich die Pflicht zum Schutz der Grundrechte auf Gemeinschaftsebene als Obliegenheit der Gemeinschaft kennzeichnen. 2. Die Grundfreiheiten des EGV besitzen keine Grundrechtsqualität. Aus der Funktion der Grundfreiheiten als primäre Mittel zur Umsetzung des Binnenmarktzieles der Gemeinschaft folgt, dass sie für die Gewährung umfassender Freiheitsrechte nicht geeignet sind. Dies ergibt sich daraus, dass die hinsichtlich des Binnenmarktzieles möglichst effektive Auslegung der Grundfreiheiten gebietet, ihnen keine absoluten Freiheitsrechte sondern koordinationsrechtlich qualifizierte Beschränkungsverbote beizulegen. In diesem Rahmen sind den Grundfreiheiten lediglich freiheitsrechtliche Teilgewährleistungen zu entnehmen. 3. Konkurrenzen zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten sind ausgeschlossen. Das folgt daraus, dass die Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtgrundsätze als zur Lückenfüllung entwickelte Normen in dem Maße schon nicht zur Geltung gelangen, wie sich grundrechtliche (Teil-)Gewährleistungen bereits aus positivem Recht ergeben. 4. Bei der Abwägung zwischen grundfreiheitlichen und gemeinschaftsgrundrechtlichen Verbürgungen besteht ein Ungleichgewicht zugunsten der Grundfreiheiten. Dies folgt einerseits aus der Stärke des Binnenmarktes als dem prädominaten Vertragsziel und andererseits aus der Schwäche des Grundrechtsschutzes als bloßem Ausfluss des gemeinschaftsrechtlichen Loyalitätsgebotes. 5. Rechtstechnisch sind die Gemeinschaftsgrundrechte in ihrer objektiv-rechtlichen Funktion als konkrete Rechtfertigungsmittel mitgliedstaatlicher Grundfreiheitseingriffe geltend zu machen. Dies geschieht, indem das Interesse an dem Schutz des jeweils betroffenen Grundrechtes beziehungsweise einer grundrechtlichen Teilgewährleistung als Allgemeininteresse der Gemeinschaft qualifiziert wird und die entsprechenden Grundrechtspositionen von den Mitgliedstaaten im Rahmen der ungeschriebenen Rechtfertigungstatbestände als zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses vorgebracht werden.

Zusammenfassung der Hauptthesen

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6. Die Kompetenz der Gemeinschaft zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte im Rahmen derer Schranken-Schranken-Funktion bei der Prüfung der Grundfreiheiten folgt aus der universellen Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte, die sich, wie die Schranken-Funktion, aus deren objektiv-rechtlichem Gehalt ergibt. Die universelle Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte lässt sich unter Rückgriff auf die unabdingbare Menschenwürdegewährleistung, als Ursprung der nationalen Grundrechte, begründen. 7. Die Ausübung dieser Kompetenz stellt sich als grundsätzlich unverhältnismäßig dar, da sie unvereinbar mit der Achtung der nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten ist. Der Jurisdiktionsanspruch des Gerichtshofes ist daher, entsprechend der Praxis des deutschen Verfassungsgerichtes, solange zurückzustellen, wie auf mitgliedstaatlicher Ebene ein im Wesentlichen effektiver Grundrechtsschutz gewährleistet wird.

Schlusswort Die Idee einer zunächst auf wirtschaftliche Aspekte beschränkten Kooperation, die nach und nach eine engere Zusammenarbeit auch auf anderen Gebieten nach sich zieht („spill over effect“) hat den Grundstein gesetzt für die beispiellose Erfolgsgeschichte der europäischen Integration. Gleichzeitig ergeben sich aus der Integration auf wirtschaftlicher Ebene nicht bloß politische Anreize zur Zusammenarbeit auch in anderen Bereichen. Früh hat sich gezeigt, dass die effektive Durchsetzung eines gemeinschaftlichen Wirtschaftssystems ein unmittelbares Bedürfnis zur Regelung auch anderer Rechtsbereiche nach sich zieht. So war in konkreter Konsequenz der supranational organisierten Wirtschaftskooperation ein umfassendes gemeinschaftsrechtliches Grundrechtsschutzsystem zu schaffen. Der Unionsbürger ist im aktuellen Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung sicherlich nicht mehr auf die Rolle des am Anfang der Arbeit herangezogenen homo oeconomicus beschränkt. Dennoch bedingt die nach wie vor prioritär wirtschaftliche Ausrichtung der europäischen Integration Defizite im Bereich des Grundrechtsschutzes, deren Ausgleich im Rahmen des geltenden Gemeinschaftsrechtes auf Grundlage eines überwiegend prätorischen Grundrechtsschutzsystems nicht zu leisten ist. Daher erscheint es unbedingt wünschenswert, dass die Vorschläge des Verfassungskonvents bezüglich der Inkorporierung der Grundrechtecharta in einen verbindlichen Verfassungstext von den Mitgliedern der Gemeinschaft sowie insbesondere der ausdrücklichen Festschreibung des Grundrechtsschutzes als zumindest zielähnliche Bestimmung umgesetzt werden. Die aktuelle Schmidberger-Entscheidung des Gerichtshofes1 mag hier als Antizipation der zukünftig gehobenen Bedeutung der Gemeinschaftsgrundrechte gewertet werden. Gleichzeitig findet sich der gemeinschaftsrechtliche Individualrechtsschutz zum gegenwärtigen Stand der europäischen Integration in einem Spannungsfeld. Einerseits verlangen die verschiedenen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten als konstituierende Elemente der Gemeinschaft einen effektiven Grundrechtsschutz auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene. Andererseits stellt jede zu weitreichende Kompetenz der Gemeinschaft in Grundrechtsfragen einen Eingriff in die nationale Identität der Mitgliedstaaten dar.2

1

EuGH, Rs. 112 / 00 – Schmidberger – Slg. 2003, I-5659.

Schlusswort

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Solange der europäische Integrationsprozess nicht ein Stadium erreicht hat, in dem sich ein echter, paneuropäischer Grundkonsens über die wichtigsten gesellschaftlichen Fragen herausgebildet hat bzw. solange nicht zumindest eine europäische Öffentlichkeit existiert, innerhalb derer ein solcher Grundkonsens reifen kann, darf die Union die nationalen Identitäten, die unter anderem durch die weiterhin heterogenen Grundrechtschutzsysteme gebildet werden, nicht missachten. Das vom BVerfG in seiner Maastricht-Entscheidung beschworene Kooperationsverhältnis3 bleibt mithin für das Verhältnis nicht nur der beiden Gerichte sondern für das Verhältnis der nebeneinander existierenden Rechtsordnungen zunächst maßgebend. Somit folgt aus der vorangegangen Untersuchung ein weiteres, rechtliches Argument im Rahmen der Diskussion um das zu beklagende Demokratiedefizit auf Gemeinschaftsebene, dass für eine baldige Adressierung desselben mithilfe weitergehender struktureller Reformen spricht. Bereits der erfolgreichen Arbeit der Konvente zur Erstellung einer Grundrechtecharta und zur Erstellung eines Verfassungsentwurfes ging die Einsicht voraus, dass eine primär auf Regierungsebene vorangetriebene Integration mittlerweile an ihre Grenzen gestoßen war. Doch nicht nur das Prozedere der zukünftigen Integrationsschritte hat sich zu ändern. Die bloße Übertragung von weiteren Kompetenztiteln auf die gemeinschaftliche Ebene als Mittel einer fortschreitenden Integration reicht nicht mehr aus. Es ist vielmehr dafür Sorge zu tragen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene für die Entwicklung eines wirksamen demokratischen Systems geschaffen werden. Von der Mediatisierung des Bürgers und dessen Individualinteressen zum Zwecke der effektiven Erreichung des Integrationszieles – welches wiederum als Mittel zur Förderung des Allgemeinwohls diente – ist nunmehr dazu überzugehen, die Gestaltung des Integrationsprozesses zurück in die Hände des mündigen Unionsbürgers zu geben.4 Dass eine europäische Zivilgesellschaft, die unabhängig von nationalstaatlichen Regierungen agiert und so die eigentliche Grundlage der zukünftigen europäischen Integration bildet, keine Utopie sein muss, zeigt nicht zuletzt der europaweite Protest gegen den dritten Irak-Krieg, aber beispielsweise auch die grenzüberschreitende Diskussion um die Verfassung des italienischen Rechtsstaates.

2 Vgl. in diesem Zusammenhang den Vorschlag v. Bodandy’s, in: CMLR 37 (2000), S. 1307, 1318 ff. abhängig von dem Adressaten gemeinschaftsgrundrechtlicher Pflichten verschiedene Grundrechtstandards anzulegen. 3 BVerfGE 89, 155 [175]. 4 Vgl. zu der Verknüpfung von Menschenwürdegarantie und Demokratieerfordernis Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 288 u. 294 ff. Allgemein zur aktuellen, rechtswissenschaftlichen Diskussion um das gemeinschaftsrechtliche Demokratiedefizit s. Giegerich, Europäische und deutsche Verfassung, S. 923 ff.

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Sachwortverzeichnis Kursive Einträge bezeichnen Entscheidungen des EuGH. Abwehrrechte 49, 68 agency situation 53 Arbeitnehmerfreizügigkeit 75 f. Auslegung – des Wortlautes 79 f. – grundrechtskonforme 118, 126 ff., 153 – systematische 80 ff., 118, 150, 153 f., 163 – teleologische 83 ff. Ausnahmetatbestände 125 f. Bereichsausnahmen 125 f. Berufsfreiheit 56, 59, 109 ff., 134, 175 Beschränkungsverbote 68 ff. Beschränkungsvorbehalte 97 ff. Binnenmarkt 83 ff. Binsbergen 74 Bosman 91, 114 f. Cassis de Dijon 70, 77, 98, 144 Charta siehe Grundrechtecharta Cinéthèque 139 f. Dassonville 70 Defizite siehe Schutzdefizite Defrenne 138 f. Dienstleistungsfreiheit 74 f. Diskriminierungsverbote 68 ff. effet utile 87, 97, 107, 127 Eigentumsfreiheit 56, 175 EMRK 46 ff., 67, 156 ERT 140 ff.

– als subjektive Rechte 49 f. – Drittwirkung 54 f., 135 f. – Funktionen 49 ff. – Geltungsgrund 32 ff., 122 f. – Gewinnung 42 ff. – Rang 48 f. – Schranken 60 f. – Schranken-Schranken 61 ff. Geschäftsgrundlage 36 ff. Gleichheitsrechte 51, 68, 78 f., 90 Gleichheitssatz, allgemeiner 51, 58, 110, 138 Gouda 113 f. grenzüberschreitende Sachverhalte 168 grenzüberschreitender Bezug 95 f., 103, 109 Grogan 143 ff. Grundfreiheiten 67 ff. – als Prinzipien 91 f. – Anwendungsbereich 94 ff. – Drittwirkung 93 f., 114 f., 133 ff. – Grundrechtsqualität 106 ff. – Schranken 97 ff. – Schranken-Schranken 102 Grundrechtecharta 30 ff., 64 ff., 103, 111, 136 f. Grundrechtskonvent siehe Konvente Herkunftsprinzip 70, 73 ff., 89 f. Hypothekentheorie 43 implied powers 152 Inländergrundrechte 169 f.

Familiapress 143 ff. Freiheitsrechte 49 ff., 68 ff.

juristische Personen 59

Gemeinschaftsgrundrechte 25 ff. – Bindung der Mitgliedstaaten 53 f. siehe auch Schranken-Schranken der Grundfreiheiten – als Prinzipien 51 f.

Keck 72 f., 75 f., Koalitionsfreiheit 57 Kollisionen 112 ff. Kommission . /. Deutschland 112 f. Kommission . /. Frankreich 115 f.

Sachwortverzeichnis Kompetenzen – Ausübung 163 ff. – Begründung 34, 150 ff. Konkurrenzen 109 ff. konstitutive Prinzipien des Gemeinschaftsrechtes 154 f., 167 f. Konvente 30 ff. Koordinationsrechte 89 f. Legitimität 35 f. Leistungsrechte 50 f. Maximalstandard 43 ff. Meinungsfreiheit 57, 114, 139 ff., 144 f., 175 nationale Identität 172 ff. negatorischer Abwehranspruch 49 f., 124, 159 Niederlassungsfreiheit 76 f. Obliegenheitstheorie 39 ff. Pluralismussicherung 113 f., 145, 175 Prinzipien – Gemeinschaftsgrundrechte als 51 f. – Gewicht 120 f. – Grundfreiheiten als 91 f. – konstitutive 154 f., 167 f. Prinzipientheorie 51 f. Prüfkompetenz 165 ff. Rechtfertigungstatbestände – ungeschriebene 98 ff., 128 ff. – vertragliche 97 Rechtsangleichung 80 f. Rechtsfindungsquellen 42 ff. Rechtsgrundsätze, allgemeine 27 ff. Religionsfreiheit 57 Richterrecht 35 Richtlinien 148 f. Rutili 137 f.

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Schmidberger 116 f. Schnittbereiche, tatbestandliche 104 f. Schranken – der Gemeinschaftsgrundrechte 60 f. – der Grundfreiheiten 97 ff. Schranken-Schranken – der Gemeinschaftsgrundrechte 61 ff. – der Grundfreiheiten 102 Schutzdefizite 118 ff., 167 ff. – nicht-struktureller Art 170 – struktureller Art 168 ff. Schutzgewährrechte – aus Gemeinschaftsgrundrechten 50 f. – aus Grundfreiheiten 91 ff. Schutzrechte siehe Schutzgewährrechte Staatszielbestimmungen 122 Subsidiaritätsprinzip 81 ff., 164 ff. Teilgewährleistungen 110 f., 126, 130, 182 Teilhaberechte 50 f. unabdingbare Erfordernisse 40 ff. Universalität – der Gemeinschaftsgrundrechte 156 ff. – des Verhältnismäßigkeitsprinzips 155 f. Vereinigungsfreiheit 57 Verfassungskonvent siehe Konvente Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 28, 61 ff., 165 ff. Verpflichtungsadressaten – der Gemeinschaftsgrundrechte 52 ff. – der Grundfreiheiten 92 ff. Versammlungsfreiheit 111, 115 f., 133 Vertragsziele 83 ff. Wachauf 53, 154, 171 Warenverkehrsfreiheit 69 ff. wertende Rechtsvergleichung 43 ff. Wesensgehalt 63 f. zwingende Erfordernisse siehe Rechtfertigungstatbestände, ungeschriebene