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German Pages 300 [299] Year 2023
Nina Kreibig, Thomas Macho, Moisés Prieto (Hg.) Ordnungen des Todes
Tod und Agency. Interdisziplinäre Studien zum Lebensende | Band 1
Editorial Tod und Sterben betreffen nicht nur Individuen, sondern auch Gesellschaften – und sie sind historischen Prozessen inhärent. Die Reihe Tod und Agency verbindet einen kultur- und sozialgeschichtlichen Schwerpunkt mit interdisziplinären Ansätzen, um die handelnden Personen und Institutionen in den jeweiligen Todeskontexten zu beleuchten. Zeitlich fokussiert sie die Frühe Neuzeit bis zur Gegenwart, da in dieser Zeitspanne aufgrund zahlreicher Innovationen vielfältige Anknüpfungspunkte für die Auseinandersetzung mit Toten, Sterblichkeit und Trauer gegeben sind. Die Reihe beabsichtigt, Forschungslücken zur Thematik von Tod und Sterben zu schließen und zur Beantwortung offener Fragen beizutragen. Die Reihe wird herausgegeben von Nina Kreibig, Thomas Macho und Moisés Prieto. Wissenschaftlicher Beirat: Thorsten Benkel, Elisabeth Bronfen, Norbert Fischer, Bettina Gockel, Volker Hess, Manfred Hettling, Dolores Martín Moruno, Karen Nolte, Jan Plamper, Reiner Sörries. Unterstützung der Reihe durch:
Nina Kreibig studierte Ur- und Frühgeschichte, Anthropologie und Alte Geschichte in Göttingen und promovierte zur Geschichte der Berliner Leichenhäuser im 19. Jahrhundert am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie beschäftigt sich u.a. mit Sepulkralkultur und der Geschichte der Emotionen. Thomas Macho, geb. 1952, leitete von 2016 bis 2023 das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien. 2019 wurde er mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet und erhielt 2020 den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. Moisés Prieto, geb. 1978, promovierte in Geschichte an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte der Diktatur im 19. und 20. Jahrhundert, der Medien, der Migration und der Emotionen.
Nina Kreibig, Thomas Macho, Moisés Prieto (Hg.)
Ordnungen des Todes Von Listen, Statistiken und Dunkelziffern über das Sterben und die Verstorbenen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Title page to a statistical analysis of mortality during the plague epidemic in London of 1665. Etching, 18--. Wellcome Collection. Public Domain Mark Lektorat: Text + Strategie – Sünje Knutzen, Hamburg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6400-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6400-7 https://doi.org/10.14361/9783839464007 Buchreihen-ISSN: 2752-1494 Buchreihen-eISSN: 2752-1508 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
In Gedenken an Herrn Dr. Oliver Landolt
Inhalt
Vorwort .................................................................................. 11
Einleitung Die letzte Ordnung? Nina Kreibig und Moisés Prieto ............................................................ 15
Teil I: Sterben in der Ferne Todeslisten aus Niederländisch-Ostindien Der koloniale Arm der Schweizer Bürokratie, 1860–1895 Philipp Krauer............................................................................ 43 »Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist.« Historische Sterbefälle und ihre Dokumentation – eine Fallstudie zur maritimen Gesellschaft an der Westküste Schleswig-Holsteins Wiebke S. Nissen .......................................................................... 61 Ihr Tod ist nicht in Ordnung Totenlisten im zivilgesellschaftlichen Engagement für eine humane Flüchtlingspolitik Stephan Scholz ........................................................................... 81
Teil II: Institutionen des Todes Von Zahlen und dem, was zählt Zu den Totenlisten eines Berliner Leichenhauses des 19. Jahrhunderts Nina Kreibig ............................................................................ 103
Unfalltote und Unfallstatistik im Deutschen Kaiserreich Verwaltungspraxis, Verwissenschaftlichung und Politisierung Sebastian Knoll-Jung..................................................................... 117 Latenz der Liste Ordnung und Störung in der organisierten Sterbebegleitung Niklas Barth, Katharina Mayr, Andreas Walker und Sophie Gigou ...........................137
Teil III: Tod in Krieg und Revolution Kriegsgefallenenlisten – erläutert am Beispiel der Schlachtjahrzeiten in den eidgenössischen Orten Oliver Landolt † .......................................................................... 161 Gefallen und geordnet Die Beisetzung der Berliner Märzgefallenen von 1848 Moisés Prieto ............................................................................175 Der Krieg und ein Ordnungsversuch: Die ersten Verlustlisten 1914 Jan-Martin Zollitsch ......................................................................195
Teil IV: »…ein Meister aus Deutschland« Die doppelte Buchführung Die (un-)dokumentierte Erfassung des Todes in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern Andreas Kranebitter und Bertrand Perz ................................................... 217 »Die Kreuzform ist ein Ergebnis der Statistik« Listen in Heimrad Bäckers nachschrift Sophie Liepold .......................................................................... 233 Tabu als Handlungsraum Die Suizidstatistik der DDR Udo Grashoff............................................................................ 255
Epilog: Der Tod in der Gegenwart Listen und Schatten Ordnung, Trauer und die Aufzeichnung von Todesfällen Thorsten Benkel......................................................................... 275 Dank ....................................................................................291 Zu den Autor*innen .................................................................... 293 Register ................................................................................ 297
Vorwort
Im Frühjahr 2020 erschütterte der Ausbruch der Coronapandemie die ganze Welt. Regierungen, Gesundheitsbehörden, Medien und Bevölkerungen wurden in einem seit dem Wüten der Spanischen Grippe in den Jahren 1918/19 kaum da gewesenen Maße herausgefordert. Tägliche Todesstatistiken wurden in kurzer Zeit zur Routine. In jenen dramatischen Tagen, als ein gesundheitlicher Ausnahmezustand ausgerufen wurde, entwickelten wir die Idee für den vorliegenden Band. Zwei Jahre später begann mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ein nicht minder tragischer Prozess, dessen Ende noch nicht absehbar erscheint. Plötzlich wurde eine seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – mit Ausnahme der Balkankriege – anhaltende Epoche des Friedens in Europa beendet. Die Aufmerksamkeit wurde nun auf die Gefallenen und Opfer von Bombardierungen und weiterer Kriegsverbrechen gelenkt. Im September desselben Jahres führte der Tod der jungen Iranerin Zhina Mahsa Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei zu einer anhaltenden Welle von Protesten gegen den autoritär-fundamentalistischen Staat. Der Mut der protestierenden Frauen und Männer sollte danach mit aller Härte durch die theokratische Regierung gebrochen werden: brachiale Polizeigewalt, Folter und Hinrichtungen werden seither von der Opposition geradezu als Martyrologium präsentiert. Noch während der abschließenden Arbeiten am Sammelband wurden die ungeheuren Opferzahlen des Erdbebens im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien im Februar dieses Jahres täglich erhöht. Eine Tragödie wird stets von der nächsten eingeholt. Auch die Fertigstellung des Sammelbandes wurde von einem traurigen Ereignis begleitet. Unser Kollege Herr Dr. Oliver Landolt verstarb während des Prozesses der Drucklegung. Leider war es uns nicht vergönnt, Herrn Landolt persönlich kennenzulernen, doch wird uns die professionelle und angenehme Zusammenarbeit positiv in Erinnerung bleiben. Herrn Landolt war es nicht mehr möglich, die letzte Überarbeitung seines Beitrags vorzunehmen. Diese Aufgabe haben die Herausgebenden des Sammelbandes übernommen. Sollten sich daher Fehler eingeschlichen haben, so sind diese uns und den traurigen Umständen
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Ordnungen des Todes
geschuldet. Wir hoffen, dass wir mit der Publikation des Textes dem Wunsch von Herrn Landolt entsprechen. Im Mai 2023 Nina Kreibig, Thomas Macho und Moisés Prieto
Einleitung
Die letzte Ordnung? Nina Kreibig und Moisés Prieto
1. Einleitende Worte »Die Toten in der Corona-Pandemie werden im Moment mehr als ordnungspolitische Zahl wahrgenommen. Wir blicken ja fast täglich auf die gemeldeten Zahlen. Wir haben hier ein besonderes Phänomen, was sich historisch auch ableiten lässt, dass die Toten in Krisenzeiten, also in Seuchenzeiten wie der Pest oder der Cholera isoliert werden. Sie werden gesellschaftlich isoliert, sie werden emotional isoliert. Sie werden zu einer bloßen Zahl, es wird nicht mehr das Individuum wahrgenommen, was dahintersteht.«1 Die Toten begegnen den Lebenden in Form von Zahlen. Dies geschieht unter anderem in turnusgemäß veröffentlichten Statistiken von Unfall- oder Drogentoten sowie in Gemeindebriefen, die über das Ableben ihrer Mitglieder informieren. Seit dem Frühjahr 2020 bis in das Jahr 2022 hinein bestimmten die Todeszahlen zeitweise die abendlichen Bildschirme. Die Todesopfer der Coronapandemie wurden zu Zahlenwerten, manchmal in Prozent angegeben, ein anderes Mal in minutiöser Aufzählung stetig steigender und dadurch die Gruppe der Toten vergrößernde Kolonnen. Statistische Werte, die von Stadt zu Stadt, Land zu Land verglichen, abgeglichen wurden. Die pandemischen Zahlen schaffen eine neue Ordnung, relativieren, erhöhen und bewerten nicht zuletzt. Hinter den Zahlen stehen die Einzelschicksale der Betroffenen, die jedoch nur selten in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Es dominiert die »ordnungspolitische Zahl«, von der Norbert Fischer spricht. Die Darstellung der Medien konzentrierte sich vielmehr auf Zahlen der Neuansteckung, Inzidenzwerte oder eben die Todeszahlen. Die Coronapandemie, die den Globus zeitweise fest im Griff hielt, überlagerte dabei andere Listen von Verstorbenen, wie die Statistiken der auf der Flucht zu Tode gekommenen Menschen oder derjenigen, die Suizid verübten. Seit Februar 2022 traten die unterschiedlichen Coronalisten zunehmend in den Hintergrund, während die fatalen Folgen des Ukrainekrieges in
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Das Zitat stammt von dem Kulturwissenschaftler Norbert Fischer, vgl. Fannrich-Lautenschläger: Menschen.
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Einleitung
Form von geflüchteten und vertriebenen Menschen sowie getöteten Soldat*innen und Zivilpersonen die Nachrichtensendungen dominieren. Bisher treten Angaben dieser Art weniger in Listenform als vielmehr in Zahlenangaben hervor, die nicht selten umstritten sind. Hier scheint sich eine Hierarchie der Todeslisten abzuzeichnen. Die eine Liste, jene der Coronatoten, betrifft uns alle, die anderen treten in den Hintergrund und werden als sekundäre Listen behandelt. Das, was sie alle eint, ist die Annäherung respektive Verhüllung des individuellen Todes in Form von scheinbar neutralen Zahlen. Dass eine solche abgeklärte Haltung gegenüber dem Tod eine Schimäre ist, dass Listen von Toten der oder dem einzelnen Verstorbenen die ihm oder ihr zustehende Aufmerksamkeit entziehen, darauf wies bereits Elias Canetti in seinem postum erschienenen Werk Das Buch gegen den Tod hin: »Es beginnt damit, daß man die Toten zählt. Jeder müßte durch seinen Tod alleinzig werden wie Gott. Ein Toter und noch einer sind nicht zwei. Eher ließen sich die Lebenden zählen, und wie verderblich sind schon diese Summen. Ganze Städte und Landschaften können trauern, als ob ihnen alle Männer gefallen wären, alle Söhne und Väter. Aber solange 11 370 gefallen sind, werden sie ewig danach trachten, die Million voll zu machen.«2 Hier – dazu hat bereits Peter von Matt in seinem Nachwort Stellung genommen – ist das Zählen der Toten nicht unschuldig, sondern spornt dazu an, die Zahlen zu erhöhen. Zumindest erkennt er mit Verweis auf Canetti »die Inhumanität, die im Akt des Zählens selbst liegt«.3 Mit den Worten des Schriftstellers Dietmar Dath könnte man auch noch provokanter sagen: »Zahlen sind Waffen.«4 Das gleichmachende Element einer Liste scheint für den Tod unangemessen. Hier, wo sich die letzte Möglichkeit für uns alle bietet, uns auszudrücken, auf unser Leben zu verweisen. Als eine Zahl auf einer Liste verliert sich diese Option. Die an Corona verstorbenen Menschen werden in Form der veröffentlichten Listen zu Zahlen, deren Gehalt ansteigen und sinken kann. Die Intention, die sich hinter diesen Listen verbirgt, ist das Versprechen an eine Ordnung, die sich durch die Listen ausdrückt und die man verstehen kann sowie zu beherrschen trachtet. Diese Ordnung stützt sich auf eine technisierte Welt, in der alles seinen zugewiesenen Platz hat und die sich bewusst emotionalisierter Sprache entzieht. Ein gänzlich anderer Zugang zeigt sich dann, wenn die vorgefundene Ordnung keine Akzeptanz findet, wenn vielmehr gegen sie rebelliert wird. Dann ist der Verweis auf das Individuum jenseits der Zahlen relevant. Einen solchen Zugang wählte
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Canetti: Buch, S. 7. von Matt: Nachwort, S. 317. Dath: Zahlen, S. 44.
Nina Kreibig und Moisés Prieto: Die letzte Ordnung?
das international agierende Netzwerk »UNITED for Intercultural Action«, indem es eine List of Refugees Deaths beginnend von 1993 bis 2023 publizierte. Die Liste führt 52.760 Menschen auf, die an den Grenzen Europas auf der Flucht zu Tode gekommen sind.5 Sofern bekannt, werden hierbei die Namen und die Art des Todes der Betroffenen angegeben. Hier zeigt sich anhand der individuellen Informationen eine eindringliche Nähe zum Tod des/der Einzelnen und die Grausamkeit des jeweiligen Schicksals. Diese Liste verliert ihre Objektivität, zwingt zur persönlichen Stellungnahme, soll betroffen machen. Die bestehende politische Ordnung, die anhand dieser Liste angeklagt wird, kann allein mit Emotionen gesellschaftlich unter Druck gesetzt werden. An dieser Stelle wird die Totenliste unangenehm, denn sie verweist auf uns selbst zurück. Der individuelle Tod des Anderen ist zugleich ein Vorbote unseres eigenen Todes und gemahnt an unsere Verantwortung den Mitmenschen gegenüber. Dann ist die Zahl der 52.760 verlorenen Menschenleben nicht nur abstrakt, die Scham und Trauer auszulösen vermag, sondern wird aufdringlich intim. Während sich die Kultur- und Literaturwissenschaften bereits mit der Liste als Darstellungsform beschäftigt haben,6 sieht dies im Bereich der Geschichtswissenschaften anders aus. Als verbindendes Element der unterschiedlichen Disziplinen scheint sich hingegen herauszukristallisieren, dass eine Auseinandersetzung mit Listen bezogen auf verstorbene Menschen bisher kaum angestrebt worden ist. Findet sich die Begrifflichkeit einer Totenliste noch im Kontext bewaffneter Konflikte oder in Bezug auf Genozide, kann wiederum eine forschungsgeschichtliche Bearbeitung von Listen von verstorbenen Menschen im zivilen Kontext seltener ausfindig gemacht werden.7 Dies scheint nicht nur auf den ersten Blick bemerkenswert, denn schließlich sterben wir alle und Listen werden im Zusammenhang des Todes regelmäßig aufgestellt. Dies betrifft gleichermaßen Krankenhäuser, Privathaushalte, Heimeinrichtungen und Hospize, aber auch spezifische Felder wie den Drogentod, Mord, Suizid, Unfalltod oder das Versterben an einer Krankheit.
2. Versuch einer Definition »Die ›Aufzählung‹ […] ist eine Abstraktion. ›Als solche‹ existiert sie nicht. Es gibt vielmehr immer nur spezifische Arten, und diese Spezifik bringen die vielen verschiedenen Bezeichnungen zum Ausdruck. Als vager und gerade nicht technischer
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Vgl. List of 52.760 documented deaths of refugees and migrants…; siehe dazu den Beitrag von Stephan Scholz in diesem Band. Vgl. Mainberger: Liste; Mainberger: Kunst; Eco: Unendliche Liste; Belknap: List. Davon ausgenommen sind u.a. kirchliche Totenbücher, deren Rezeptionsgeschichte früh anzusetzen ist, vgl. Loefke: Totenbuch; Oepen: Totenbücher.
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Einleitung
Begriff aber können ›Aufzählen‹ als Tätigkeit und ›Aufzählung‹ als ihr Produkt hier Leitbegriffe sein.«8 Wie die Germanistin Sabine Mainberger in ihrem Werk Die Kunst des Aufzählens ausführt, sind Aufzählungen – zumindest jene, die sie in diesem Kontext zitiert, wie Einkaufslisten, das Alphabet, die römischen Kaiser etc., – Konstrukte; sie wurden von Menschengeist generiert. Mehr als das: Aufzählungen können von einem ästhetischen Standpunkt her betrachtet werden. Für Umberto Eco lässt sich Ästhetik und Unendlichkeit unter dem Vorzeichen der subjektiven Wahrnehmung, etwa bei der Betrachtung der Sterne am Nachthimmel miteinander in Verbindung setzen: »Das Unendliche in der Ästhetik ist das subjektive Gefühl von etwas, das uns übersteigt, es ist ein Gefühlszustand; das Unendliche, von dem wir hier sprechen, ist ein faktisches Unendliches, es besteht aus zählbaren Dingen, die wir aber nicht zu zählen vermögen – und wir fürchten, daß ihre Zählung (und Aufzählung) nie an ein Ende kommt. […] Auf dem Gebiet des Ästhetischen ist das Unendliche also eine Empfindung, die von der vollendeten und perfekten Abgeschlossenheit des Gegenstands herrührt, den man bewundert; die andere Form der Darstellung hingegen, von der hier die Rede ist, macht das Unendliche geradezu physisch fühlbar, weil sie tatsächlich nicht endet, nicht abgeschlossen ist in eine Form. Diese Art der Darstellung wollen wir Liste, Aufzählung oder Katalog nennen.«9 Ungeachtet von Ecos scharfer Trennung zwischen dem Ästhetischen und dem Physischen, zwischen dem Subjektiven und dem Faktischen, scheinen Listen dennoch zwei auf den ersten Blick entgegengesetzte Dinge vereinbaren zu können: das Alltägliche, Biedere und Nüchterne der Lotteriegewinner, des Telefonbuches oder des Katasterbuchwerks mit dem Erhabenen, Feierlichen oder Erschreckenden einer Liste von Nobelpreisträgern, von Gefallenen oder von zivilen Opfern von Gewalttaten. Die Nicht-Abgeschlossenheit einer Liste, ihr Potenzial, beliebig ergänzt zu werden, birgt besonders im Fall der letzteren Beispiele eine unausgesprochene Dramatik. Erzählen, aufzählen – auf Französisch raconter, compter –, in der Liste verbindet sich Narratives mit Enumerativem. Doch was ist eine Liste und ab wann kann man von einer solchen sprechen? Für die Gründung und Eintragung eines Vereins bedarf es nach deutschem Recht sieben Personen.10 Es braucht allerdings die Beteiligung von mindestens drei, um – ebenfalls nach deutschem Recht – von organisier-
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Mainberger: Kunst, S. 4. Eco: Unendliche Liste, S. 15–17, [Herv. i. O.]. Vgl. Bürgerliches Gesetzbuch – Kommentar, hg. v. Hanns Prütting/Gerhard Wegen/Gerd Weinreich, 17. Aufl., Hürth 2022, § 56.
Nina Kreibig und Moisés Prieto: Die letzte Ordnung?
ter Kriminalität zu sprechen.11 Ähnlich verhält es sich mit der Definition einer terroristischen Vereinigung, die mindestens drei Mitglieder benötigt.12 Eine zahlenmäßige Definition der Liste gibt es indessen nicht. Laut dem Duden ist sie schlicht und einfach eine »schriftliche Zusammenstellung, Aufstellung nacheinander, besonders untereinander unter einem bestimmten Gesichtspunkt aufgeführter Personen oder Sachen«.13 Vieles würde jedoch dafür sprechen, die weit verbreitete Mindestzahl von drei Einträgen als ›Kristallisationspunkt‹ für eine Liste zu betrachten. Eine Liste besteht aus Elementen, die vertikal angeordnet werden, die demnach für gewöhnlich eine Kolumne bilden. Wird die Kolumne mit einer horizontalen Zeile ergänzt, so ergibt das eine Tabelle. »Listen sind für sich allein kein Text«, schreibt Mainberger. »Ihnen entsprechen kein verstehendes Lesen kein Mitgehen und Realisieren eines Sinns, sondern Arten des Ablesens, der Informationsentnahme, des Konsultierens, Heraussuchens, ein Lesen also im Sinn des Auf- und Auslesens, ein kriteriöses ›Picken‹.«14 Der Ägyptologe Friedhelm Hoffmann sieht hingegen die Liste als »stärker aus dem Zusammenhang gelöste, quasi autarke Zusammenstellung. Die Einzeleinträge sind grammatikalisch nicht untereinander verbunden. Man kann die Liste als eigene Textgattung verstehen.«15 Was aber für die frühen Hochkulturen gilt, muss nicht zwingend auf die Neuzeit applizierbar sein und umgekehrt. Einer Liste im modernen Sinn liegt immer mindestens ein Kriterium zugrunde. Dieses determiniert, wer auf die Liste kommt und wer nicht. Wer für den Kriegsdienst eingezogen wurde oder sich freiwillig gemeldet hat, kommt auf eine Liste – im Englischen wird dies durch das Verb to enlist besonders deutlich, was je nachdem ob transitiv oder intransitiv verwendet, mit ›einberufen‹ oder ›einrücken‹ übersetzt werden kann. Werden die Soldaten verwundet oder fallen im Kampf, kommen sie auf eine neue Liste mit dem neuen Kriterium ›gefallen‹ oder ›verwundet‹. Der Reihenfolge der Listeneinträge liegt ein explizites oder implizites Anordnungskriterium zugrunde. Personenverzeichnisse werden alphabetisch nach dem Nachnamen geordnet, außer die Liste wird fortlaufend ergänzt und aktualisiert. Ist das Kriterium etwa der Verwandtschaftsgrad zu einer bestimmten Person, so kann daraus eine Erb- oder Thronfolge resultieren. Hiermit gelangen wir zu einer hervorzuhebenden Funktion der Liste: das Erinnern, das mit den passenden Emotionen ausgestattet zum Gedenken werden kann. Man listet etwas auf, man schreibt es
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Vgl. Organisierte Kriminalität, Homepage Bundeskriminalamt, https://www.bka.de/DE/Uns ereAufgaben/Deliktsbereiche/OrganisierteKriminalitaet/organisiertekriminalitaet_node.h tml, Zugriff: 06.12.2022. Vgl. Sturm: Terroristische Vereinigungen, S. 333. Duden online, https://www.duden.de/rechtschreibung/Liste, Zugriff: 23.10.2021. Mainberger: Listen, S. 266. Hoffmann: Aufzählungen, S. 88.
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Einleitung
nieder, um es nicht auswendig lernen zu müssen oder aber, um es sich umso leichter zu vergegenwärtigen. Aus dem Mnemotechnischen einer Liste kann so ein kulturnationales Schibboleth entstehen, das die Bindung einer Gemeinschaft stärkt oder überhaupt ausmacht. Als der zehnjährige Juan Carlos, der spätere König von Spanien, im November 1948 den spanischen Diktator General Francisco Franco in seiner Residenz besuchte, wurde er nach der Liste der 33 spanischen Westgoten-Könige befragt; die er offenbar durchaus aufzuzählen imstande war.16 Lieferte wohl die vom jungen Prinzen rezitierte Liste dem Caudillo die Gewissheit einer akzeptablen Vorbildung nach nationalen Idealen? Dass der junge Prinz aufgefordert wurde, eine Totenliste zu rezitieren, dürfte erst auf den zweiten Blick ersichtlich sein. Stattdessen dürften die vielen Gefallenen auf dem Schlachtfeld von Waterloo deutlicher als solche in Erscheinung treten. Der schottische Dichter Walter Scott besang den Heldentod von wenigen (hohen Offizieren) – Ponsonby, De Lancy, Miller, Cameron, Gordon – im Namen von vielen: »Forgive, brave Dead, the imperfect lay! Who may your names, your numbers, say?«17 Wie oben bereits angedeutet, kann das Aufzählen der Namen von Verstorbenen einen feierlichen und würdevollen Charakter aufweisen oder aber in aller Nüchternheit eines unauffälligen, routinemäßigen Staatsgeschäfts geschehen. Ob auf einem fernen Schlachtfeld gefallen oder bei einem Protest in der eigenen Stadt, der Eintrag auf der Liste adelt das Opfer und verleiht dem Vorfall ein menschliches Antlitz. Dies steht keineswegs im Widerspruch zu der oben erwähnten Anonymisierung von Verstorbenen durch die Erstellung von statistischen Listen, in denen die Zahlen dominieren. Am 16. August 1819 versammelten sich annähernd 60.000 Menschen auf dem St. Peter’s Field im englischen Manchester, um unter anderem für ein allgemeines Männerwahlrecht zu demonstrieren.18 Der Angriff der Kavallerie forderte über 700 Opfer. 18 davon verstarben noch vor Ort oder an den unmittelbaren Folgen.19 In der Absicht, die Brutalität des Vorgehens anzuprangern, entstanden in den Nachwehen des »Peterloo Massakers«, wie es in Anlehnung an der Schlacht von Waterloo genannt wurde, mehrere Schriften mit Tabellen und akribischen Beschreibungen der Opfer unter Angabe ihrer Verwundungen und Todesursachen.20 Gefallenenlisten können je nach Konfiguration und Verwendung Unterschiedliches bewirken. Nach außen feiern sie den ›heldenhaften Tod fürs Vaterland‹ und
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Vgl. Vilallonga: Juan Carlos, S. 44. Scott: Field, S. 38f. Vgl. Poole: Peterloo, S. 360f. Vgl. ebd., S. 374–377. So etwa im Report of the Metropolitan and Central Committee appointed for the Relief of the Manchester Sufferers.
Nina Kreibig und Moisés Prieto: Die letzte Ordnung?
haben zusammen mit Kriegerdenkmälern eine pädagogische Funktion zwecks Vermittlung patriotischer Werte.21 Nach innen, als Dokument in den Händen der Militärverwaltung, dienen sie auch dazu, die Hinterbliebenen durch materielle Hilfe zu unterstützen.22 Wer das heroische Opfer anderer zelebriert oder es als ein notweniges Übel betrachtet, ist selbst nicht auf einer solchen Liste. Seit Marcel Duchamps Bonmot wissen wir, dass »immer die Anderen sterben«.23 Nach außen wird die Tragödie um den Verlust des Sohnes, Ehemannes oder Vaters zelebriert, nach innen dominiert nicht selten das kühle, manchmal auch zynische Kalkül und die bloße Zahl. Die Einzelschicksale werden von den Todeszahlen verdrängt – erst recht, wenn die Zahlen eine Schätzung von ›potenziellen‹ Gefallenen sind, die ›in Kauf genommen‹ werden müssen. Wie Marschall Pietro Badoglio in seinen Memoiren wiedergibt, entgegnete Benito Mussolini am 26. Mai 1940, das heißt wenige Tage vor dem italienischen Kriegseintritt, ersterem und Marschall Italo Balbo, welche große Bedenken in Bezug auf die Stärke und Tauglichkeit der italienischen Streitkräfte geäußert hatten, der Krieg würde bereits im September vorbei sein: »Ich brauche ein paar Tausend Tote, um mich als Kriegsteilnehmer an den Friedenstisch zu setzen«, fügte der Duce hinzu.24 Gelten Todeszahlen als ein Abstraktum, hinter dem die Einzelschicksale aus Datenschutzgründen oder aus solchen der Darstellbarkeit verborgen bleiben, so erlauben sie auch, Entwicklungen zu erkennen und Prognosen zu extrapolieren. Nicht erst seit dem »großen Enthusiasmus für Statistik«, der im Vormärz in mehreren Ländern aufkam, entwickelte sich eine verwissenschaftlichte Sicht auf die Politik.25 Erste Bestrebungen, Tote aufzuzählen sind immerhin seit dem alten Ägypten attestiert,26 doch erst das 19. Jahrhundert galt als das »des Zählens und des Messens«, wie Jürgen Osterhammel es auf den Punkt gebracht hat.27 Die Aufklärung mit ihrem rationalistischen Anspruch, exaktes Wissen über die Landesbevölkerung zu schaffen und deren numerische Fluktuationen zu ermitteln,28 stellte die Weichen für die statistischen Ämter, wie wir sie heute kennen. Für den Staat gelten Listen als Ermittlung und Veranschaulichung der Wirkung eigener policies. Sie können auch als ›Diagnose‹ verstanden werden, auf die spezifische Maßnahmen folgen müssen. In diesem Kontext sind auch Statistiken zum Suizid lesbar. Eine erste Auflistung dieser 21 22 23 24 25 26 27 28
Vgl. Weigand: Kriegerdenkmäler, 206f.; Mainberger: Kunst, S. 279. Vgl. Prieto: Vaterland, S. 123f. Duchamp, Marcel, zit.n. Esser: Anderen, S. 33. Badoglio: Italia, S. 37: »Io ho bisogno di alcune migliaia di morti per sedermi al tavolo della pace quale beligerante.« Osterhammel: Verwandlung, S. 60. Vgl. Deicher: Einführung, S. 21–23. Osterhammel: Verwandlung, S. 62. Vgl. Stamhuis: Use; Miller: Cameralism.
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Einleitung
Art stammt von 1825, als der Mediziner Johann Ludwig Caspar in Berlin unter anderem Daten zu Suizident*innen zusammentrug. Emile Durkheim wertete gegen Ende des 19. Jahrhunderts derartiges Datenmaterial dann erstmals statistisch aus. Heutzutage werden Freitode in westeuropäischen Ländern durch die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems der Weltgesundheitsorganisation (WHO) berücksichtigt.29 Der oben angesprochene präventive Charakter der statistischen Erfassung von Suiziden wird dann deutlich, wenn ein weltweit angesetztes Monitoring der WHO zum Freitod vom 4. September 2014 mit Preventing suicide – A global Imperative betitelt ist.30 Doch schon vor der Hochzeit der Statistik waren proto-statistische Erhebungen vorhanden.31 Etwa während der Großen Pest von London (1665/66) wurden die sogenannten Bills of mortality ausgehängt. Wöchentlich wurden die Toten je Pfarrgemeinde aufgezählt und veröffentlicht (siehe Tab. 1). Gelten diese Listen als Ausdruck eines epidemischen Ausnahmezustandes, so regulär wird dann eine periodisch erscheinende Übersichtsdarstellung der an »gewöhnlichen« Krankheiten Verstorbenen im Berlin des ausgehenden 18. Jahrhunderts. So gab Erich Biester in der Berlinischen Monatsschrift eine »Jahrtabelle« für 1794 heraus, die unter dem Stichwort »an allen Krankheiten« verstorbene Personen aufführt, die jedoch auch Ermordete, Ertrunkene oder Suizident*innen aufweist. Darüber hinaus differenzierte er nach Erwachsenen und Kindern und in einem zusätzlichen Verzeichnis nach gehobenem Alter und Geschlecht.32 Doch Totenlisten sind kein Staatsmonopol. Sie können auch von Privatpersonen, Parteien oder Verbänden erstellt und publik gemacht werden. Dies zeigt sich exemplarisch an dem Names Project Aids Memorial Quilt, das 1985 begonnen wurde und an die Menschen erinnern soll, die an Aids verstorben sind. Der Quilt steht in der Tradition der Vereinigten Staaten von Amerika, in gemeinschaftlicher Arbeit eine aus Stoffstücken zusammengenähte Decke herzustellen. Hier indes wurden Stoffteile, panels, zusammengebracht, die jedes für sich genommen durch individuelle Gestaltung an einen Menschen gedenken.33 Die bunten Stoffe verbinden sich hierbei zu einem Erinnerungsmahnmal ganz anderer Art.
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Vgl. Bennefeld-Kersten: Suizid, S. 28. Vgl. Mergel: Sterben, S. 34. Vgl. Goltermann: Opfer, S. 33. Jahrtabelle, der im Kirchenjahr 1794 verstorbenen Personen nach allen Krankheiten. Vgl. Homepage National Aids Memorial, https://www.aidsmemorial.org, Zugriff: 05.08.2022.
Nina Kreibig und Moisés Prieto: Die letzte Ordnung?
Tab. 1: Titelseite einer statistischen Untersuchung zur Mortalitätsrate während der Pest in London 1665.
Quelle: Wellcome Collection, https://wellcomecollection.org/works/j55yz7fd.
Neben den Totenlisten aus eindeutig martialischen Kriegskontexten und jenen aus zivilen Projekten sind zusätzlich jene Aufzählungen zu erwähnen, die in politischen Krisen- und Umbruchszeiten entstehen. Seit dem misslungenen Hitlerputsch in München vom 8. und 9. November 1923 wurde ein Totenkult innerhalb der NSDAP geschaffen, der an jedem Jahrestag Anlass gab, den übrigen Parteien und der Wei-
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Einleitung
marer Republik den Kampf anzusagen und eine (emotionale) Bindung mit den im Ersten Weltkrieg gefallenen Frontsoldaten zu bekräftigen. Der Völkische Beobachter druckte am 8. und 9. November 1931 die nach Jahren unterteilte namentliche Liste der seit 1923 gefallenen Parteigenossen ab. Ferner ist die Rede von »unsere[n] ermordeten nationalsozialistischen Kameraden«.34 Diese Ausgabe veranlasste die Zeitungen anderer Parteien, ihre eigenen Opfer aufzulisten, um die Rolle der Nationalsozialisten als Täter zu unterstreichen.35 Listen sind nie ›unschuldig‹; sie verfolgen stets gewisse Absichten. Sie werden oft zum Zweck des Opfer-Täter-Dualismus, etwa zur Verunglimpfung der politischen Kontrahent*innen herangezogen. Dabei kann die Länge einer solchen Liste, als Maß für die Schwere eines Delikts oder für die Brutalität eines Regimes stehen. Dies zeigt sich deutlich am Beispiel des argentinischen Dichters José Rivera Indarte. Er war ursprünglich ein Bewunderer des diktatorisch regierenden Gouverneurs von Buenos Aires Juan Manuel de Rosas, bis er die Seiten wechselte und zu seinem erbitterten Gegner wurde. 1843 erschienen seine »Blutstafeln« (Sp. Tablas de sangre). Die alphabetisch geordneten Tablas sind als Anklageschrift vor einem imaginären Gericht der Historie und der öffentlichen Meinung zu verstehen.36 Der Liste folgt ein entsprechendes »Urteil«: Rivera Indarte ruft zum Tyrannenmord auf. Der Hintergrund dieser Liste liegt in dem Angebot einer englischen Bank, für jede*n belegte*n Tote*n, den oder die Rosas zu verantworten hatte, einen Penny zu zahlen.37 Der im Exil lebende Autor nutzte die Gunst der Stunde und blähte die Anzahl der Verstorbenen auf 5884 Terroropfer und 16.520 im Gefecht Gefallener auf.38 Obschon der Blutzoll von Rosas’ Regime noch immer schwer zu quantifizieren ist, wird heute von einer weitaus geringeren Zahl ausgegangen.39 Terroropfer können auf Listen erscheinen. Sie können als unliebsame Regimegegner*innen die Einträge einer sogenannten ›Schwarzen Liste‹ bilden, die liquidiert werden sollen. Sie können, wie soeben gezeigt, zum Zwecke des Gedenkens oder der öffentlichen Anklage als Schandmal erscheinen. Tote können aber auch negativ auffallen, indem sie auf einer »Liste von Lebenden« fehlen. In Terror und Traum behandelt Karl Schlögel das 680 Seiten starke Moskauer Adressbuch, das aufgrund der stalinistischen Säuberungen von 1937/38 kaum weitergeführt werden konnte. Von den noch 1936 in Moskau lebenden 139 Parteisekretären40 blieben Mitte 1939 nur noch sieben übrig.41 Die Massenverhaftungen, Hinrichtungen, Deportationen und 34 35 36 37 38 39 40 41
Völkischer Beobachter, Nr. 312/313, 08. und 09.11.1931. Vgl. Die Welt am Abend, Nr. 262, 09.11.1931; Die Rote Fahne, Nr. 203, 10.11.1931. Vgl. Prieto: History, S. 240. Vgl. Rivera Indarte, José, Art., S. 208. Vgl. Lynch: Caudillo, S. 117. Vgl. ebd. Ob sich darunter auch Frauen befanden, ist den Herausgebenden nicht bekannt. Vgl. Schlögel: Terror, S. 99.
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in den Suizid getriebene Funktionäre der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, aber auch Parteilose verunmöglichen weitere Ausgaben von Ganz Moskau. »Keine Redaktion hätte Schritt halten können mit dem rasenden Tempo, in dem Menschen von ihren Posten gefegt und vernichtet und andere hinaufgetragen wurden«, schreibt Schlögel.42 Der systematische Massen- und Völkermord bedarf der Effizienz. Am Anfang der Umsetzung steht immer eine ›gewöhnliche‹ Liste, etwa aus der Volkszählung oder von Schüler*innenkarteien stammend.43 Die Konzentrations- und Vernichtungslager des Nationalsozialismus trugen ihre Häftlinge auf Listen ein, wobei in gewissen Fällen die Häftlinge selbst insgeheim Listen führten.44 Aus der erhaltenen Genozid-Bürokratie entstehen heute Gedenkbücher und Monumente,45 die die Grausamkeit bezeugen und ein Lernen aus der Geschichte einfordern. In der populären Kultur verbindet man Liste und Nationalsozialismus mit dem Spielfilm Schindlers Liste. Steven Spielbergs Werk aus dem Jahre 1993 erzählt den Wandel Oskar Schindlers vom Opportunisten und Parteimitglied zum Retter von Jüdinnen und Juden, denen die sichere Ermordung durch eine Deportation nach Auschwitz erspart blieb. Schindlers Liste ist aber eine solche der Überlebenden. Ganz anders verhält es sich mit den Listen in einem Film jüngeren Datums. Persischstunden (2020) – unter der Regie von Vadim Perelman gedreht und auf der Erzählung »Erfindung einer Sprache« von Wolfgang Kohlhaase basierend – handelt von Gilles, dem Sohn eines Rabbiners, der sich als Perser ausgibt, um der Massenerschießung durch die SS zu entkommen. Als Häftling soll er dem Hauptsturmführer Persisch beibringen. Außerdem ist er für die Buchführung über die Häftlinge zuständig. Anhand ihrer Namen, die er täglich ergänzen muss, erfindet er ein eigenes Persisch-Vokabular. Das ad-hoc-Kauderwelsch fungiert hier als virtueller ›Speicherort‹ einer verloren geglaubten Totenliste, die realiter vernichtet wurde. Die Totenliste kann, um nochmals auf Eco zu rekurrieren, auch eine ästhetische Interpretation jenseits des Verbalen erfahren. Ein Beispiel dafür liefert das dem französischen Fotografen Eugène Disdéri zugeschriebene Bild Cadavres d’insurgés dans leurs cercueils.46 Über die Bedeutung dieser Fotografie (siehe Abb. 1) herrscht kein Konsens. Für Fotografie-Forscher Hans-Michael Koetzle entstand diese kurz nach dem 21. Mai 1871, also in der ›Blutigen Woche‹, als die Truppen der französischen Armee die Pariser Kommune niederschlugen.47
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Ebd., S. 102. Vgl. Mainberger: Kunst, S. 280. Vgl. Kogon: SS-Staat, S. 184. Vgl. Kranebitter: Zahlen, S. 171–173. Disdéri war der Pionier der Carte de Visite-Fotografie im Zweiten Kaiserreich, vgl. Meyer: Porträts, S. 65–85. Vgl. Koetzle: Photo Icons, S. 91.
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Abb. 1: Fotografie von toten Kommunarden der Pariser Kommune 1871.
Quelle: Musée Carnavalet, Histoire de Paris.
Zu welchem Zweck wurden diese Verstorbenen abgelichtet? Auffallend ist, dass die zwölf in zwei Reihen angeordneten Leichen hingerichteter Kommunarden in ihren offenen Särgen durchnummeriert sind. Zwei Tote weisen die Nummer zwei auf, während niemand die Nummer zwölf trägt. Die Nummerierung weist auf eine zumindest virtuelle Liste hin, über deren Verwendung nur spekuliert werden kann. In der Tat wurde Disdéri damit von der Polizei beauftragt. Zeugt das Bild wohl auch vom Bestreben, exemplarisch den Sieg der Ordnung über die Unruhe zu feiern, oder aber die Brutalität einer bürgerlichen Republik gegen die Freiheit der Kommune anzuprangern? Immerhin ist bekannt, dass Disdéri keine Sympathie für die Sache der Kommune hegte.48 Koetzle erkennt in dieser Darstellung einen mehrfachen Ausdruck von Macht: die Macht der Lebenden über die Toten, die sich der Bloßstellung und Klassifizierung nicht entziehen können, die Macht der Sieger über die Besiegten und nicht zuletzt die der Bourgeoisie über das Proletariat.49 Die geordnete Inszenierung als ästhetische Liste kann also auch als Antithese zur aufständischen Natur der Pariser Kommune verstanden werden.
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Vgl. McCauley: Disdéri, S. 212. Vgl. Koetzle: Photo Icons, S. 91.
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3. Klassifizierungen Listen und Statistiken entstehen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Dies gerade auch deswegen, da der Tod in divergenten Kontexten auftritt und die verstorbenen Personen aus differenten Intentionen in Form von Listen oder Statistiken festgehalten werden. Generell lassen sich hierbei jedoch zwei große Bereiche als Ausgangspunkte zur Erstellung von Listen voneinander scheiden. Zum einen punktuelle Ereignisse, zum anderen serielle Prozesse. Unter punktuellen Ereignissen können Katastrophenfälle jeglicher Art, wie Erdbeben, Sturmfluten, Unfälle oder atomare Zwischenfälle, subsummiert werden, während als serielle Listen kirchliche Totenbücher,50 staatliche Sterbestatistiken und das reguläre Aufzeichnen von Todesfällen definiert werden können. Dabei ist es möglich, dass sich Überschneidungen zwischen beiden Kategorien ergeben, dann etwa, wenn eine epidemische Krankheit wie im Fall der Pest in der Frühen Neuzeit oder der Cholera im 19. Jahrhundert in regelmäßigen Abständen wiederholt auftrat und damit im Laufe der Zeit zu einer erwartbaren Ereigniskette wurde.51 Handelt es sich um Listen, die sich auf lange Zeiträume bezogen oder zu einem alltäglichen Geschehen subsumiert wurden, konnte es zur Professionalisierung der Erhebungen kommen. Allerdings bestand dann auch die Möglichkeit, dass durch den Verlust der Wahrnehmung eines besonderen Ereignischarakters, dem die Liste zugrunde lag, die Aufzeichnungen verkürzt wurden, da die Relevanz des Bedeutungsgehalts nicht länger gesehen wurde. Informationsgehalt und Ausführlichkeit einer Liste, gerade dann, wenn sie als statistische Erhebung verstanden wurde, konnte und kann somit abhängig vom Ereignischarakter, der Informationsflut oder der Alltäglichkeit des Geschehens variieren. Listen und Statistiken verfügen über eine eigene Dominanz in Raum und Zeit, damit ist ihre Bezugsgröße und ihre Aussagekraft limitiert. Die Nuklearkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl am 26. April 1986 forderte zahlreiche Menschenleben, die entweder durch Explosionen im Kernkraftwerk unmittelbar zu Tode kamen oder im weiteren Verlauf auch an den Folgen der Verstrahlung starben.52 Obgleich hier ein punktuelles Ereignis als Ausgangspunkt der danach erstellten Totenliste fungierte und der räumliche Bereich, mit dem der Vorfall beschrieben werden kann, mehr oder weniger klar abgrenzbar ist, kann dies für den zeitlichen Aspekt in diesem Fall nicht gesagt werden. Durch den Umstand, dass zahlreiche Menschen an den Spätfolgen starben – vergleichbare Bezüge können zu den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki53 oder dem Einsatz des Giftgases Agent Orange im Viet-
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Vgl. dazu den Beitrag von Wiebke Nissen in diesem Band. Vgl. Dettke: Hydra. Vgl. Koepp/Koepp-Schewyrina: Tschernobyl, S. 41. Vgl. Terne: Hiroshima, S. 52.
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namkrieg gezogen werden54 – verlängert sich zumindest der zeitliche Radius, den die jeweilige Liste oder Erhebung erfasst. Ähnliche Situationen ergeben sich bei der Betrachtung von Kriegsszenarien: Auch hier kann im Regelfall ein punktuelles Ereignis, zum Beispiel eine Schlacht, ausgemacht werden, bei der Soldat*innen und womöglich auch Zivilist*innen augenblicklich zu Tode kommen, die aber auch zu Spätfolgen führen kann und zu einem zeitlich verzögerten Sterben beiträgt. Damit zeigt sich, dass der räumliche respektive geografische Rahmen auch eines punktuellen Ereignisses keineswegs mit seinem temporalen Kontext identisch sein muss. Dieser Umstand ist dann von Relevanz, wenn es darum geht, den Opfern einer kriegerischen Handlung, von Unfällen oder Naturkatastrophen Anerkennung zu verschaffen. Raum und Zeit stellen somit zwei entscheidende Klassifizierungsparameter im Zuge von Erstellung, Interpretation und Verwendung von Listen dar.
4. Akteur*innen Die vorgebliche Objektivität und Neutralität, die eine Statistik oder eine Liste auszeichnet, muss spätestens dann kritisch hinterfragt werden, wenn die Akteur*innen und/oder das Agens in den Fokus der Betrachtung rücken und danach gefragt wird, wer die handelnden Personen, die treibende Kraft hinter der Erstellung einer Liste sind. Denn obgleich die Listen selbst in ihrer nüchternen Numerik den Eindruck einer unbeteiligten Grundhaltung vermitteln (sollen), ist eine solche Ausgangslage bei denjenigen, die die Zahlen zusammentragen, keineswegs zu konstatieren. Wer ist generell in der Lage, also befähigt, eine Totenliste zu erstellen? Und welche Position bekleidet er oder sie innerhalb der Gesellschaft? Von wem oder was sind die Akteur*innen gegebenenfalls abhängig und wonach werden Informationen, die in eine Liste aufgenommen werden sollen, ausgewählt? Wie unterschiedlich eine Aufzählung von Verstorbenen ausfallen kann, wurde bereits oben mit Verweis auf die Liste verstorbener geflüchteter Menschen deutlich. Der Umstand, dass hier Namen, Alter und die spezifische Form des Todes von einer NGO aufgeführt werden, lässt eine Intention erkennen, die Empathie mit den Betroffenen generieren und ein Aufruf zum aktiven politischen Handeln in Europa sein sollen. Andere Listen, die im Zeichen von Tod und Sterben stehen, so wie die Angaben zu den täglichen Coronatoten, scheinen auf den ersten Blick allein der Informationsvermittlung von Seiten des Staates respektive der Gesundheitsbehörden an die Bürger*innen zu dienen, lassen aber auf den zweiten Blick, insbesondere im Umgang mit diesen Daten auf anderen politischen Ebenen, eine Intention zur gesellschaftlichen Meinungsbildung erkennen. Hier schwingt der unausgesprochene Aufruf zur Impfung und zur Einhaltung der Hygienemaßnahmen mit. Zugleich 54
Vgl. Thao Chi: Agent Orange, S. 75.
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können Zahlen ökonomische und/oder politische Erfolge unterstreichen oder suggerieren, indem der Anstieg und das Fallen von Todeszahlen mit zuvor eingeleiteten Maßnahmen, zum Beispiel im Bereich von Hygiene, Präventionen im Kontext von Drogenmissbrauch oder Suizid, baulicher und verkehrstechnischer Absicherungen und Optimierungen sowie staatlichen Vorgaben, korreliert werden. Andererseits können Listen von Gefallenen in politischen Auseinandersetzungen, wie Kriegen oder Revolutionen, neben der bloßen Informationsübermittlung in Form von Mahnmalen und Denkschriften auch das gesamtgesellschaftliche Erinnern befördern und lenken.55 Statistische Werte von Umweltkatastrophen, Risiken im Straßenverkehr oder baulichem Gewerbe dienen wiederum Versicherungsgesellschaften dazu, ihre Beiträge anzupassen und womöglich ganz einzustellen, wie es im Zusammenhang mit der Klimaveränderung nun bisweilen diskutiert wird.56 Im Kontext von Naturkatastrophen, politischen Attentaten oder Genoziden kann durch die Erstellung von Listen gewährleistet werden, dass dem Zweck einer Identifikation unbekannter Opfer gerecht wird. Die Aufnahme von Einzelpersonen oder Gruppen auf eine solche Liste kann später auch mit der Anerkennung von Schadensersatzansprüchen, Klageberechtigungen oder Verweisen auf ein Gedenken relevant werden. In solchen Fällen treten nicht allein die Repräsentanten des Staates, wie die staatlichen Ermittlungsbehörden, als Akteur*innen auf, sondern gleichermaßen NGOs, Familienmitglieder oder Angehörige von gesellschaftlichen Minderheiten. Obgleich manche Länder heutzutage bereits über offizielle FemizidRegister verfügen,57 ist eine Beschäftigung mit der Thematik vielerorts nicht ausgeprägt. Als Femizid wird das »gender-based killing of women and the most extreme form of violence against women« verstanden.58 In diesem Fall wird die Problemlage erst durch das Erstellen einer entsprechenden Liste von ermordeten Frauen gesellschaftlich wahrgenommen.59 Wenn Slavoj Žižek in diesem Zusammenhang vom Femizid als einem »symbolischen Brauch«60 spricht, so wird dies erst durch das gemeinsame Element der Ermordung der Frauen in Bezug auf die Hintergründe der Taten deutlich. Einen formellen Charakter, wenn auch nicht politisch besetzt, kann die Erstellung von Totenlisten im Kontext bestimmter (nicht-)staatlicher Institutionen, wie religiösen Gemeinschaften, haben. Hier können Institutionen, insbesondere dann, wenn sie neu eingeführt wurden, Listen von Verstorbenen veröffentlichen, um die
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Vgl. Kaiser: Helden. Vgl. Anpassung: Handlungsfeld Finanz- und Versicherungswirtschaft; zur Unfallversicherung im Deutschen Kaiserreich vgl. den Beitrag von Sebastian Knoll-Jung in diesem Band. Vgl. Walklate/Fitz-Gibbon/McCulloch/Maher: Femicide Index, S. 19. Ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 5. Žižek: Ärger, S. 117.
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eigene Gründung zu legitimieren. Einen solchen Fall stellen die Berliner Leichenhäuser in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar.61 Im Fall der Aufnahme von Personenstandsdaten durch Kultusgemeinden in Form von Sterberegistern oder Totenbüchern hilft ein solches Vorgehen auch bei der Rekonstruktion familiärer Strukturen, die gegebenenfalls mit Erbschaftsansprüchen verbunden sind. Demografische Daten, wie Geburten- oder Sterbezahlen einer Gesellschaft, die vom Staat zusammengetragen werden, können auch unter kameralistischer Lesart verstanden werden, wenn versucht wird, die Größe staatspolitischer Kategorien möglichst genau zu umreißen und daraus Handlungsoptionen, Machtkonstellationen oder Präventionsmaßregeln abzuleiten. Ob sich eine Gesellschaft viel oder wenig mit Tod und Sterben ihrer Mitglieder auseinandersetzt oder wie die Menschen sterben und bestattet werden möchten, drückt sich ebenfalls unmittelbar in Zahlen aus.62 Hierbei können leichte Nuancen in den Fragen bereits zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Die Erstellung einer Liste von Verstorbenen ist immer der Gefahr der Instrumentalisierung ausgesetzt. Fragen von Machtsicherung und -ausübung respektive von propagierter Normvorstellung, Ordnungsabsichten, Inklusion und Exklusion sind untrennbar damit verbunden. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich auch, dass die objektivierte und damit scheinbar ent-emotionalisierte Charakteristik einer Liste wesentlich in ihrer Erstellung und ihrer Rezeption von Emotionen bestimmt wird. Aus der erschreckend großen Anzahl an Suiziden in Deutschland und weltweit kann durchaus ein gesamtgesellschaftliches Scheitern abgelesen oder ein Präventionsaufruf postuliert werden.63 Gewaltausbrüche, wie sie in den vergangenen Jahren wiederholt an Schulen, öffentlichen Plätzen oder Einrichtungen stattgefunden haben, verbinden die Zahlen der Opfer stets mit Erklärungsversuchen, die sich auf eine bessere Kontrolle von Waffenzugänglichkeit oder einer intensiveren Überprüfung von Videospielen berufen. Eines gelingt Totenlisten mit Nachdruck, dass sie über an sich erschreckende Fakten informieren und zugleich aufgrund ihrer nüchternen Form einer Verunsicherung entgegenhalten. Der Impetus einer Kontrolle über das wie auch immer zu bestimmende Geschehen schwingt unvermeidlich mit und wird allein schon durch den Umstand suggeriert, dass eine Liste zumindest im Fall von nennenswerten singulären Ereignissen, wie Unfällen oder Naturkatastrophen, im Nachgang erstellt wird. Dann also, wenn das Ereignis,
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Vgl. den Beitrag von Nina Kreibig in diesem Band. Vgl. Online-Redaktion DCV: Was denken Sie übers Sterben und den Tod?; Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hg.): Auf ein Sterbenswort. Harald Mergel verweist darauf, dass sich in Deutschland jedes Jahr annähernd 10.000 Menschen das Leben nehmen, die Dunkelziffer die Suizidversuche indes wesentlich höher anzunehmen ist. Damit übersteigt die Zahl der Suizidtoten jene von Unfallopfern und an Drogen Verstorbenen zusammen. Vgl. Mergel: Sterben, S. 31.
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das der Liste vorangegangen ist und zum Tod von Menschen geführt hat, bereits abgeschlossen, womöglich aufgearbeitet und damit in eine kontrollierte Ordnung überführt wurde.
5. Ordnungsstrukturen Wenn oben bereits die Relevanz des, wenn auch nicht immer bewussten, subjektiven Handelns bei der Erstellung oder dem Gebrauch von Listen aufgezeigt wurde, so verweist dies unmittelbar auf propagierte Ordnungsvorstellungen oder -versuche. Listen, Statistiken, Tabellen und andere Formen der Aufzählungen versprechen wie kaum ein anderes Element menschlichen Handelns Ordnung, Struktur und Kontrolle, auch und gerade bei solchen Themen, die als Inbegriff von Handlungsunfähigkeit und Hilflosigkeit definiert werden können. Dem Ideal der Ordnung kommt hierbei ein besonderes Augenmerk zu. Ordnung, darauf hat bereits der Philosoph Bernhard Waldenfels mehrfach hingewiesen, ist nur über Grenzziehungen zu erreichen.64 Diese wiederum manifestieren Ausgrenzungen und werden dadurch »[z]wielichtig«.65 Dabei kann es sich bei dem von Ausschluss Betroffenen gleichermaßen um Menschen wie um Fakten oder inhaltliche Gegenstände handeln. Durch den Umstand, dass derartige Grenzziehungen, verbunden mit In- und Exklusionen, längst nicht mehr einer äußeren Welt entnommen, sondern vielmehr aktiv gestaltet werden,66 sind diese immer auch einer Bewertung unterworfen. Die Erfahrung des Todes, sei es eines nahen Angehörigen oder eines Fremden, ist eine Schwellenerfahrung, die »Hintergründe des Außeralltäglichen im Alltäglichen öffnen, […] das Nächste fern-, das Fernste naherück[t]«.67 Dieser Umstand fordert umso mehr nach einer vorgeblichen Ordnung, die sich auch in Zahlen ausdrückt. Statistische Erhebungen von tödlichen Verkehrsunfällen, Suiziden oder Morddelikten suggerieren in der nüchternen Form ihrer Darstellung trotz der Begleitumstände des jeweiligen Einzelfalles, eine Kontrolle über das Geschehene, die im besten Fall auch auf die Zukunft antizipiert. Die Liste bedient damit den Wunsch nach Ordnung und Sicherheit innerhalb der Gesellschaft. Insbesondere dadurch, dass nicht auf die Details der Einzelfälle eingegangen werden kann und soll, verschafft die Liste Beruhigung. Die alarmierenden Zahlen über Menschen, die sich das Leben nehmen, verlieren mit der Aufnahme in eine Liste zwar nicht ihren persönlichen Schrecken, jedoch womöglich ihr Potenzial, tiefergehende Gefühle und Vorstellungen von Chaos und Kontrolllosigkeit hervorzurufen. Die
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Vgl. Waldenfels: Schwellenerfahrung, S. 139. Waldenfels: Ordnung, S. 173. Vgl. Waldenfels: Schwellenerfahrung, S. 143. Ebd., S. 152.
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Ordnung von Listen ist somit in der Lage, Fakten zu harmonisieren und verstörende Gefühle zu unterbinden. Damit gelingt es ihr, das Fremde, hier den Tod, das nach Zygmunt Bauman »ein konstantes Ärgernis für die Ordnung der Welt dar[stellt]«, zu zähmen.68 Was Ordnung in letzter Instanz für eine Gesellschaft bedeutet, macht Bauman unmissverständlich klar, wenn er ausführt: »Ordnung zielt nicht gegen eine andere Form von Ordnung; der Kampf um Ordnung ist kein Kampf einer Definition gegen eine andere, einer Möglichkeit, Realität auszudrücken, gegen eine andere. Es ist ein Kampf zwischen Determination und Ambiguität, zwischen semantischer Genauigkeit und Ambivalenz, zwischen Transparenz und Obskurität, zwischen Klarheit und Verschwommenheit. Ordnung kämpft unaufhörlich ums Überleben. Was sie nicht selbst verkörpert, gehört nicht etwa einer anderen Ordnung an: Jede Ordnung ist immer Ordnung als solche, mit Chaos als einziger Alternative. Das Gegenteil von Ordnung ist das Miasma des Unbestimmten und Unvorhersehbaren: Unsicherheit, Ursprung und Grundform jeder Angst. Entsprechungen für das Gegenteil von Ordnung sind: Undefinierbarkeit, Inkohärenz; Inkongruenz, Inkompatibilität, Unlogik, Chaos, das Gegenstück zu Ordnung ist reine Negativität.«69 Dass das Chaotische, Beunruhigende, Unkontrollierbare mit der Einbindung in eine Liste keineswegs aus der Welt ist, sondern jenseits der Grenzziehungen fortexistiert, steht außer Frage. Die Grenzen unserer Ordnung ermöglichen es indes, darüber wenige bis keinerlei Gedanken zu verschwenden. Nur gelegentlich brechen diese Ordnungsschemata auf, dann, wenn sich ein Ereignis in Größe oder Intensität über die genormten Ordnungsvorstellungen erhebt. Sobald indes die Wogen geglättet sind und sich die Auswirkungen des Geschehenen in einer Liste wiederfinden, scheint das Prinzip wiederhergestellt.
6. Zu den einzelnen Beiträgen Teil I: Sterben in der Ferne: Der Tod erfolgt nicht immer in unmittelbarer Umgebung der eigenen Angehörigen und Freund*innen. Dann, wenn der Tod außerhalb der persönlichen Reichweite der Familie auftritt, können Listen, auf denen der Name einer oder eines Angehörigen aufgenommen wird, eine Bedeutung in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und psychologischer Hinsicht annehmen. In Philipp Krauers Aufsatz werden die Totenlisten von Schweizer Söldnern in kolonialen Diensten der niederländischen Krone zwischen 1860 bis 1895 behandelt. Dabei arbeitet er in besonderem Maße die ökonomische Relevanz der Register für 68 69
Bauman: Moderne, S. 29. Ebd., S. 45.
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die Angehörigen heraus und zeigt bürokratische Strukturen im Todesfall auf kantonaler, nationaler und internationaler Ebene auf, ohne die koloniale Bedeutung der Schweiz zu unterschlagen. Wiebke Sophie Nissen beleuchtet Sterbefälle in küstennahen Gebieten Norddeutschlands von 1874 bis 1957. Unter Berücksichtigung von kirchlichen und standesamtlichen Sterbebüchern setzt sie sich ausführlich mit der Nomenklatur der Formblätter zur Meldung eines Todesfalles auseinander und liefert dabei Aussagen über soziale Akzentverschiebungen. Ein aktuelles Thema greift Stephan Scholz auf, wenn er sich mit dem Tod von geflüchteten Menschen auf dem Weg nach Europa beschäftigt. Der Autor fokussiert hierbei auf die unterschiedlichen Formen des Gedenkens an die Verstorbenen in Deutschland und der Schweiz. Der Aufnahme der Namen der Toten in Listenform kommt hierbei eine maßgebliche Bedeutung zu, die das Sichtbarmachen der politischen Problemlage und zugleich der verstorbenen Individuen zum Ziel hat. Dabei wurden die anfangs schriftlichen Listen in materielle Darstellungen übersetzt und damit der Radius der Aufmerksamkeit erweitert. Teil II: Institutionen des Todes: Der Umgang mit verstorbenen Menschen greift weit über den familiären Kontext hinaus. Institutionen, die sich explizit mit Sterben und Tod befassen, weisen spezifische Intentionen und Umgangsformen auf, um ihrer gesellschaftlichen Relevanz gerecht zu werden. Nina Kreibig fokussiert auf die Listen von Verstorbenen, die in ein Berliner Leichenhaus des 19. Jahrhunderts aufgenommen wurden. Dabei untersucht sie eine zu diesem Zeitpunkt noch immer umstrittene Institution des preußischen Bestattungswesens. Die hier erstellten Listen liefern sozialhistorisch relevante Informationen und ermöglichen insbesondere in einem weit gesetzten zeitlichen Rahmen neue Erkenntnisse über Akzeptanz und Ablehnung der Leichenhäuser. Sebastian Knoll-Jung beschäftigt sich mit der Unfallstatistik im Deutschen Kaiserreich. Dabei stellt er die Intentionen, Akteure und Hintergründe der Auswertungen in den Vordergrund und verweist damit auf soziale und politische Entwicklungen und Dynamiken ab dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die Unfallstatistiken wurden zu Präventionszwecken herangezogen, dienten aber auch als Druckmittel politischer Forderungen. Der Beitrag von Niklas Barth, Katharina Mayr, Andreas Walker und Sophie Gigou setzt sich mit der deutschen Hospizbewegung auseinander und liefert in diesem Zusammenhang zahlreiche Interviews mit Angehörigen des Pflegepersonals der Einrichtungen. Der Begriff des »guten Sterbens« spielt in diesem Kontext eine wesentliche Rolle und wird einer kritischen Reflexion unterzogen. Die zum Teil auch notwendige Effizienz, mit der Listen in Hospizen angelegt und verwendet werden, untergräbt gleichzeitig die zwischenmenschliche Interaktion.
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Teil III: Tod in Krieg und Revolution: Listen, die die Toten eines Krieges oder eines Aufstandes aufführen, reichen historisch weit zurück. Sie zeichnen sich durch kulturelle, politische sowie religiöse Unterschiede aus und erzählen die Geschichte eines Krieges oder einer Revolution aus der Perspektive der Getöteten. In seinem Beitrag beleuchtet Oliver Landolt die performative Praxis der spätmittelalterlichen Schlachtjahrzeiten aus der alten Eidgenossenschaft und wie diese in der Frühen Neuzeit eine neue Bedeutung erlangten. Insbesondere in der (katholischen) Zentralschweiz kam dieser Erinnerungsform die Rolle einer populären Gattung der Geschichtsvermittlung zu. Das Ansehen eines auf einer Gefallenenliste verewigten Vorfahrens erhöhte das Prestige führender Familien, doch nicht selten rekurrierte man auf gefälschte Einträge, um die Familienehre zu stärken. Moisés Prieto untersucht in seinem Kapitel die Beisetzung der Berliner Märzgefallenen von 1848. Nicht nur die Totenlisten und die zentrale Aufbahrung der Verstorbenen in der Neuen Kirche, sondern auch der Trauerzug bis zur neu angelegten Grabstätte im Friedrichshain – was vom Autor als performative Liste gedeutet wird – zeugen mehr von einem Streben nach Ordnung als von einer Würdigung der Revolution. Die martialischen Elemente, die sich im Ritual wiedererkennen lassen, untermauern diese These. Mit den Verlustlisten des deutschen Heeres befasst sich Jan-Martin Zollitschs Aufsatz über die Publikation ebensolcher in den ersten Monaten des Ersten Weltkrieges. Diese wurden vom Zentral-Nachweisebureau, das für die Sammlung und Verteilung zuständig war, an die Zeitungen weitergegeben oder an die Außenmauern angeschlagen. Die Öffentlichkeit nahm die publizierten und manchmal sich widersprechenden Totenlisten mit unterschiedlichen und wandelnden Gefühlen wahr. Teil IV: »…ein Meister aus Deutschland…«: Diktaturen prägten in Deutschland weite Teile des 20. Jahrhunderts. Tod und Sterben wurden in diesen Kontexten zu einem Instrument der gewaltsamen Durchsetzung der eigenen Politik. Andreas Kranebitter und Bertrand Perz behandeln in ihrem Beitrag die Praxis der Verzeichnung des Todes in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Sie kann als eine Art doppelte Buchführung charakterisiert werden, die aus den Widersprüchen zwischen Verschleierung und Kontrolle resultierte, die den verschiedenen Funktionen der Konzentrationslager geschuldet war. Dies unterscheidet die Konzentrationslager als eine Art „permanentem Ausnahmezustand“ vom völlig geleugneten und namentlich weitgehend undokumentierten NS-Massenmord an Jüdinnen und Juden auf der einen und den penibel gefälschten Todesbeurkundungen der NS-Euthanasie auf der anderen Seite. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive befasst sich Sophie Liepold in ihrem Beitrag mit dem österreichischen Autor Heimrad Bäcker und seinem Werk nachschrift. In diesem setzt sich Bäcker, der selbst frühzeitig in die NSDAP eintrat und ein Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung war, in Form von Listen
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poetisch auch vielfach mit dem gewaltsamen Tod von Menschen während der NS-Terrorherrschaft auseinander. Die Ausführungen von Udo Grashoff thematisieren den staatlichen Umgang mit Selbsttötungen in der DDR. Die Suizidrate in der DDR gehörte zu den höchsten weltweit. Informationen darüber, auch wissenschaftliche Bearbeitungen, wurden aus politischen Gründen geheim gehalten. Vor dem Hintergrund politischer Prozesse zeichnet der Autor das Handeln und die Bemühungen von Medizinern nach, Suizidprävention und Forschung zu betreiben, während zugleich die politischen Belange der DDR berücksichtigt werden mussten. Epilog: Der Tod in der Gegenwart: Sterben und Tod eines Menschen sind einerseits intime und eindringlich persönliche Erfahrungen, andererseits stellen sie gesamtgesellschaftliche, kulturelle und weltanschauliche Momente und Prozesse dar. Thorsten Benkels Schlussbeitrag konjugiert unterschiedliche Facetten der Quantifizierung des Todes für gesellschaftsrelevante Prozesse; insbesondere behandelt er den Tod als ordnungsstiftende Kraft. Totenlisten können je nach Entstehungskontext sowohl nüchtern-informative als auch subjektiv-emotionale Gebrauchsformen aufweisen, während Verstorbene immer mehr an Sichtbarkeit verlieren und zu einem hochgradig systematisierten und abstrakten Prozess werden.
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Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tab. 1: Bills of Mortality: Plague, disease and casualties. »A list showing the mortality rates and the causes of death during the week of the 25th of April to the 2nd of May, 1665«, Wellcome Collection, https://wellcomecollection.org/wor ks/j55yz7fd. (Zugriff : 20.02.2023). Abb. 1: Communards morts, en 1871, Disdéri, André-Adolphe-Eugène, Photographe, Vers 1871, Musée Carnavalet, Histoire de Paris, CC0 Paris Musées/ Musée Carnavalet – Histoire de Paris, Photographie, Arts graphiques, Tirage noir et blanc argentique, Dimensions – Oeuvre : Hauteur : 23.7 cm, Largeur : 30.3 cm.
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Teil I: Sterben in der Ferne
Todeslisten aus Niederländisch-Ostindien Der koloniale Arm der Schweizer Bürokratie, 1860–1895 Philipp Krauer
Am 30. März 1872 versandte die Schweizerische Bundeskanzlei an alle Schweizer Kantone ein kurzes Kreisschreiben mit zwei Listen.1 Auf diesen Listen waren die Namen von 181 Schweizer Söldnern2 aufgeführt, die zwischen 1862 und 1869 im Dienst der Niederländischen Kolonialarmee (Koninklijk Nederlandsch Indisch Leger, KNIL) in Niederländisch-Ostindien, dem heutigen Indonesien, verstorben waren. Neben den Namen und den Sterbedaten sind noch weitere Informationen wie Name der Eltern, Geburtsdatum und -ort, Ausreisedatum nach NiederländischOstindien, militärischer Grad sowie der Betrag des Nachlasses aufgeführt.3 Für die Kantone waren diese Listen nichts Außergewöhnliches. Wie aus weiteren Quellen der Schweizerischen Bundeskanzlei zu entnehmen ist, stellte diese zwischen 1860 und 1895 den Kantonen regelmäßig längere oder kürzere Verzeichnisse mit den Namen von in niederländisch-ostindischen Diensten verstorbenen Schweizer Söldnern zu.4 Die darin aufgelisteten Informationen trug sie aus einem globalen bürokratischen Netzwerk zusammen, dass sich zwischen den niederländischen Kolonien und der Schweiz entfaltete. Der Informationsfluss war dabei aber weder schnell noch vollständig akkurat. Immer wieder kam es vor, dass die Identität ein-
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Ich danke Monique Ligtenberg, den Herausgeber*innen und dem/der anonymen Gutachter*in für die Anmerkungen und Hinweise sowie dem Schweizerischen Nationalfonds, der die Recherche finanziell ermöglicht hat. In Anlehnung an eine Typologie des Militärhistorikers Stephen Morillo bezeichne ich diese Schweizer Kolonialsoldaten im Folgenden als »Söldner«, da sie zwei wesentliche Definitionskriterien erfüllen: die kulturelle oder nationale Fremdheit eines Soldaten für den militärischen Arbeitgeber und sein starkes Motiv, militärische Arbeit gegen materiellen Gewinn einzutauschen, vgl. Morillo: Mercenaries, S. 243–260. Diese Listen sind u.a. im Staatsarchiv Solothurn (StASO) und im Schweizerischen Bundesarchiv (BAR) vorhanden, vgl. StASO BG 12, 16 und BAR E2#1000/44#1102*. Vgl. BAR E2#1000/44#1102*–E2#1000/44#1109*. Auch zur französischen Fremdenlegion existieren solche Listen der Bundeskanzlei, vgl.: Todesanzeigen von gefallenen Fremdenlegionären v.a. in Tonkin, in: BAR E2#1000/44#1081*.
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Teil I: Sterben in der Ferne
zelner Söldner nur in mühseliger Korrespondenz zwischen niederländischen und Schweizer Ämtern verifiziert werden konnte.
Tab. 1: Liste der Schweizerischen Bundeskanzlei mit den Namen von in niederländisch-indischen Diensten verstorbenen Schweizer Söldnern, 1872.
Quelle: StASO BG 12, 16.
Ausgehend von Quellen aus dem Schweizerischen Bundesarchiv, dem niederländischen Nationalarchiv in Den Haag und mehreren kantonalen Staatsarchiven untersucht dieser Beitrag den Entstehungs- und Gebrauchskontext dieser Listen und geht den Fragen nach, wie und weshalb sich die zahlreichen kommunalen, kantonalen und nationalen administrativen Rädchen des damals noch jungen Schweizer Bundesstaates in eine global tätige, bürokratische Maschinerie eingliederten, die von lokalen Gemeindeverwaltungen bis zu den Büros der niederländischen KNIL im Malaiischen Archipel reichte. Die Rekonstruktion dieser globalen Informationsbeschaffungs- und Ordnungsmaschinerie erlaubt es uns, den kollaborativen und grenzüberschreitenden Charakter des europäischen Kolonialismus näher zu betrachten.5 5
Vgl. zum Konzept des »kollaborativen« Charakters europäischer Kolonialreiche: Blaser/ Ligtenberg/Selander: Introduction, S. 529–532.
Philipp Krauer: Todeslisten aus Niederländisch-Ostindien
Zwar hielt in den vergangenen Jahrzehnten die Kolonialgeschichte vielerorts Einzug in die bisher von methodologischem Nationalismus geprägten Nationalgeschichten. Wie der deutsche Historiker Sebastian Conrad aber jüngst bemerkte, haben nur wenige dieser Arbeiten den Anspruch, ein vollständigeres Bild von grenzüberschreitenden Interaktionen und Strukturen zu zeichnen, eingelöst. Stattdessen werde die Kolonialgeschichten noch stets als nationale Affäre betrachtet.6 Weitet man jedoch den Fokus auf Gebiete jenseits des eigenen Kolonialreiches aus, so wird ersichtlich, dass auch Akteur*innen aus Ländern ohne formalen Kolonialbesitz, wie zum Beispiel die Schweiz, wesentlich an kolonialen Projekten der europäischen Großmächte beteiligt waren.7 Als Erstes soll daher kurz das Ausmaß der Beteiligung von Schweizer Söldnern an der gewaltsamen niederländischen Expansion im Malaiischen Archipel erläutert werden. Der darauffolgende Teil befasst sich dann mit dem Entstehungskontext der Todeslisten. Abschließend wird in einem letzten Teil deren Zweck diskutiert.
1. Niederländische Nachfrage nach Schweizer Söldnern Nach rund 300 Jahren kolonialer Expansion fanden sich die Niederlande zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer paradoxen Situation wieder, denn als verhältnismäßig kleines Land verfügten sie über eines der weltweit größten Kolonialreiche.8 Die gewaltsame Ausbreitung der Niederlande in Süd- und Südostasien, Südamerika und der Karibik wäre ohne die Unterstützung nicht-niederländischer Akteur*innen jedoch nicht möglich gewesen. Bereits die privat organisierte und mit staatlichen Privilegien ausgestatte Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC, Niederländische Ostindien-Kompanie) rekrutierte im 17. und 18. Jahrhundert indigene Hilfstruppen und nicht-niederländisches, europäisches Personal.9 Zudem nahmen indigene, meist versklavte weibliche Haushaltsangestellte und Konkubinen eine zentrale Rolle als kulturelle Vermittlerinnen und Krankenpflegerinnen ein.10
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Vgl. Conrad: Colonizing, S. 677. Vgl. z.B. Purtschert: Kolonialität und Geschlecht; Ligtenberg: Contagious Connections, S. 555–571; Pfäffli: Arktisches Wissen; Schär: Switzerland, Borneo and the Dutch Indies; Zangger: Koloniale Schweiz; Purtschert/Fischer-Tiné (Hg.): Colonial Switzerland; zur Geschichte einzelner Schweizer Söldner in Niederländisch Ostindien vgl. auch: Zangger: Pfefferland, S. 210–233; Bürgisser: Rohrdorf-Java, S. 197–206. Vgl. zum niederländischen Imperialismus und dem »kolonialen Paradox«: Fasseur: Koloniale Paradox, S. 162–187; Kuitenbrouwer: The Netherlands; Locher-Scholten: Dutch Expansion, S. 91–111. Vgl. zu den nicht-niederländischen Truppen in Diensten der VOC: Gelder/Sauer: Das ostindische Abenteuer; Veyrassat: Histoire de la Suisse; Tzoref-Ashkenazi: Deutsche Hilfstruppen. Vgl. Jones: Wives, Slaves, and Concubines.
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Teil I: Sterben in der Ferne
Als die niederländische Krone im Rahmen der europäischen Restauration 1814 von den Briten die Hoheit über weite Teile des ehemaligen Einflussgebietes der VOC zugesprochen erhielt, knüpfte sie an die bestehenden Rekrutierungspraktiken an. So engagierten sie zahlreiche Soldaten aus Java, Sulawesi und den Molukken. Rassistische Vorurteile hinsichtlich deren Kampfkraft sowie die Angst vor einer Meuterei führten jedoch dazu, dass die niederländische Heeresleitung noch bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts zögerte, vollumfänglich auf diese Truppen zu setzen.11 Stattdessen sollten rund die Hälfte der Truppen aus Europäern bestehen. Die Niederlande selbst verfügten jedoch über zu begrenzte personelle Ressourcen, um diese Nachfrage zu befriedigen. Dieser Umstand verschärfte sich mit der Abspaltung Belgiens 1830 zusätzlich. Erschwerend kam hinzu, dass die meisten Niederländer, die freiwillig Militärdienst leisten wollten, sich lieber der ausschließlich in Europa stationierten Nationalarmee anschlossen. Um ihren Bedarf dennoch decken zu können, warb die KNIL zwischen 1815 und 1909 rund 70.000 Söldner aus den Gebieten des heutigen Deutschlands, Belgiens, Luxemburgs, Polens, Frankreichs und der Schweiz an.12 Wie der niederländische Historiker Martin Bossenbroek ausführlich rekonstruiert, erfolgte die Rekrutierung dieser europäischen Söldner in drei Phasen, die von verschiedenen Faktoren wie innenpolitischen Zielen, Widerstand lokaler Gesellschaften und dem Angebot auf dem militärischen Arbeitsmarkt in Europa geprägt waren. Die erste Phase vollzog sich zur Zeit des verlustreichen Java-Krieges (1825–1830).13 Die von Prinz Diponegoro angeführten javanischen Truppen setzten damals der niederländischen Präsenz auf Java beinahe ein Ende. Dementsprechend gewalttätig und rücksichtlos ging die KNIL gegen die feindlichen Truppen und die Zivilbevölkerung vor.14 Nach diesen zehrenden Kriegsjahren verfolgte die niederländische Regierung zunächst eine »Politik der Enthaltung«. Sie verzichtete auf weitere Eroberungskriege innerhalb des Malaiischen Archipels und fokussierten sich stattdessen auf jene Gebiete auf Java, Sumatra und Borneo (heute: Kalimantan), in denen sie bereits präsent waren. Ab Mitte der 1840er-Jahre begann diese Doktrin jedoch zu bröckeln. Eine Mischung aus der Angst vor anderen expandierenden Kolonialmächten, wie zum Beispiel Großbritannien, und der Hoffnung auf finanzielle Gewinne führten dazu, dass die Kolonialregierung eine Reihe von Kriegsexpeditionen auf Bali (1846, 1848, 1849), Celebes (heute: Sulawesi, 1859–1860) und Borneo (1850–1854
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Vgl. Moor: Recruitment. Vgl. Bossenbroek: Volk voor Indië, S. 278. Vgl. ebd., S. 60–82. Vgl. zum Java-Krieg und Diponegoro (auch Dipanegara): Carey: Destiny; Groen/Dissel Loderichs: Krijgsgeweld, S. 27–60.
Philipp Krauer: Todeslisten aus Niederländisch-Ostindien
und 1859–1863) unternahm. Mit diesen Kriegszügen beabsichtigten die Niederländer nicht, eine permanente Besatzung zu errichten, sondern sie wollten lokale Herrscher*innen dazu zwingen, die niederländische Souveränität vertraglich anzuerkennen.15 Im Zuge dieser unkoordinierten, gewaltsamen Expansion nahm die zweite Rekrutierungswelle an Fahrt auf, bis sie schließlich gegen Ende der 1860er-Jahre abebbte. Ab 1870 nahm die KNIL dann keine neuen Söldner mehr auf. Dieser Einstellungsstopp war jedoch nur von kurzer Dauer. Eine dritte Rekrutierungswelle setzte bereits 1873 wieder ein, nachdem die KNIL vergebens versucht hatte, das an der Nordwestspitze Sumatras gelegene Sultanat von Aceh unter ihre Kontrolle zu bringen. Die niederländische Kolonialregierung nahm den Misserfolg nicht hin und sandte immer mehr Truppen. Was folgte, war ein vierzigjähriger Krieg, der den größten Teil der niederländischen Ressourcen an sich band und rund 75.000 Zivilist*innen sowie 25.000 Soldaten und »Kulis« das Leben kostete.16 Angesichts der enormen Verluste in den eigenen Reihen und den geringen Erfolgen auf dem Schlachtfeld änderte die Heeresleitung mehrmals ihre Strategie. Aus niederländischer Sicht als erfolgsversprechend entpuppte sich der Einsatz von kleinen mobilen Einheiten javanischer und »ambonesischer« Truppen, die von europäischen Offizieren angeführt wurden.17 Theoretisch sollten diese Einheiten mit »chirurgischer Präzision« die feindlichen Einheiten verfolgen und vernichten, während die Zivilist*innen verschont blieben. In der Praxis zeigte sich jedoch ein anderes Bild.18 Alleine auf einem Feldzug in Acehs Hinterland wurden schätzungsweise 5–12 Prozent der indigenen Gajo- und 20 Prozent der Alas-Bevölkerung getötet.19 Mit dieser Strategie gelang es der KNIL jedenfalls, größere Gebiete zu besetzen. Die taktische Neuausrichtung führte schließlich auch dazu, dass die Rekrutierung nichteuropäischer Soldaten intensiviert wurde. Lag ihr Anteil bei Kriegsausbruch 1873 noch bei 55 Prozent (16.000 Soldaten), betrug er am Vorabend des Ersten Weltkrieges 77 Prozent (28.484 Soldaten).20 Die verbliebenen europäischen Einheiten füllte die KNIL vorzugsweise mit niederländischen Soldaten, sodass zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch verhältnismäßig wenig Söldner angeworben wurden.21 Die Schweiz stellte mit schätzungsweise 7680 Söldnern rund 4 Prozent des europäischen Kontingentes, was in Anbetracht ihrer damaligen Bevölkerungszahl von
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Vgl. Groen: Colonial Warfare. Zum Aceh-Krieg vgl. Kitzen: Treaty and Treason, S. 93–116. Zu diesen mobilen Einheiten vgl. Teitler: Mixed Company, S. 146–160; zur konstruierten Kategorie von »Ambonesen« vgl. Moor: Recruitment. Vgl. Groen: Colonial Warfare, S. 286–291. Vgl. Bijl: Emerging Memory, S. 50. Vgl. Koloniaal verslag, ’s-Gravenhage: Algemeene Landsdrukkerij, 1874 & 1915. Vgl. Bossenbroek: Volk voor Indië, S. 229–270.
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2 bis 3 Millionen einen beachtlichen Wert darstellte.22 Die Rekrutierung von Schweizern erfolgte ebenfalls in mehreren Wellen. Die erste Welle erreichte ihren Höhenpunkt Ende der 1820er-Jahre. Als absehbar wurde, dass das niederländische Königshaus die Kapitulationen mit den vier Schweizer Fremdenregimentern, die seit 1815 in den Niederlanden stationiert waren,23 nicht verlängern wollte, wechselten zahlreiche Söldner in die KNIL. Alleine im Juni 1829 verließen beispielsweise 170 Schweizer Söldner an Bord der »Fortitudo« Europa, um ihre militärische Laufbahn in der KNIL fortzusetzen.24 Der weitaus größte Teil, bestehend aus rund 5800 Söldnern, trat aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Reihen der KNIL ein. Dieser Aufschwung zur Jahrhundertmitte ist mit den strukturellen Veränderungen auf dem militärischen Arbeitsmarkt in Europa zu erklären. Während die Nachfrage nach Schweizer Söldnern auf dem europäischen Festland im 19. Jahrhundert zurückging, nahm jene für die kolonialen Söldnerarmeen Frankreichs und der Niederlande stark zu.25 Diese Kolonialarmeen profitierten zunächst von der 1856 erfolgten Entlassung der British-Swiss Legion, die für den Krim-Krieg (1853–1856) ausgehoben worden war. Als drei Jahre später die Schweizer Regimenter in Neapel aufgelöst wurden, suchten rund 1200 Schweizer eine neue Anstellung bei der KNIL.26 Um diese Flut an Söldnern aufzufangen, unterhielten die Niederlande von 1857 bis 1860 ein Rekrutierungsbüro nahe der Schweizer Grenze. Neben den arbeitslosen Söldnern heuerten dort auch viele Schweizer Zivilsten an. Nachdem zahlreiche Schweizer Söldner 1860 wiederholt gemeutert hatten, schlossen die Niederlande dieses Werbebüro wieder und nahmen vorläufig keine Schweizer mehr auf.27 Ab 1866 nahm die Anwerbung von Schweizern kurzzeitig wieder zu – wenn auch in weitaus geringerem Maße – bis sie ab den 1880er-Jahren stetig abnahm. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden schließlich nur noch vereinzelte Schweizer den Weg in die KNIL.28
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Vgl. zu der Anzahl an Schweizer Söldnern: ebd., S. 277. Zur Bevölkerungszahl der Schweiz vgl. Head-König: Bevölkerung. Vgl. Amersfoort: Koning en kanton. Vgl. die Mannschaftsliste der Fortitudo in: NL-HaNA, Koloniën/Stamboeken Militairen KNIL Oost- en West-Indië, 2.10.50, inv. nr. 104. Vgl. zum Strukturwandel auf dem militärischen Arbeitsmarkt Koller/Huber: Armut, Arbeit, Abenteuer, S. 33–37. Vgl. Bossenbroek: Volk voor Indië, S. 127–132. Vgl. Stevens: Muiterij, S. 5–14; Zangger: Pfefferland, S. 221–225. Vgl. Krauer: Geld, Gewalt und Rassismus, S. 229–250.
Philipp Krauer: Todeslisten aus Niederländisch-Ostindien
2. (Un-)Ordnungen des Todes Seit seinem ersten Zusammentreten 1848 hatte das Schweizer Parlament eine ambivalente Haltung gegenüber den Fremden Diensten. Einerseits setzte sich die Überzeugung durch, dass die Fremden Dienste sich nicht mehr mit den liberalen und aufklärerischen Idealen jener Zeit vereinbaren ließen.29 Dementsprechend verabschiedeten National- und Ständerat bis 1859 eine Reihe von Gesetzen, die unter anderem die Werbung für und den Eintritt in sogenannte »nicht-nationale Truppen« untersagten. So lange das offizielle Ansehen der Schweiz im Ausland aber nicht beschädigt wurde, war man andererseits auch froh, wenn Schweizer aus ärmeren Schichten emigrierten. Der individuelle Eintritt in eine ausländische »National-Armee«, zu der auch die KNIL gezählt wurde, blieb daher weiterhin erlaubt und bedurfte auch keiner weiteren Bewilligung.30 Ob ein allfälliges Verbot einzelne Schweizer von einem Eintritt in die KNIL abgehalten hätte, sei dahingestellt. Die Schweizer Behörden hatten auf jeden Fall kaum je einen Überblick darüber, wer sich wo, wann und weshalb der niederländischen Kolonialarmee anschloss. Anders verhielt es sich hingegen, wenn diese Söldner starben. Insofern folgte der junge Schweizer Bundesstaat einem europäischen Trend. Laut der Historikerin Svenja Goltermann habe seit der Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert das Interesse einiger westeuropäischer Staaten, exaktere Daten über tote Soldaten zu erheben, zugenommen. Ausschlaggebend dafür seien weniger moralische, sondern rechtliche Gründe gewesen. Fragen über das Sorgerecht von Hinterbliebenen oder zur Verteilung von Erbschaften konnten nur geklärt werden, wenn der Tod eines Soldaten behördlich bestätigt werden konnte.31 Diesem Bedürfnis nach Rechtssicherheit folgend, sollten auch die Todesfälle der Schweizer Söldner in den Zivilstandsregistern der (Kirch-)Gemeinden festgehalten werden.32 Niederländisch-Ostindien war jedoch zu weit weg, als dass die zuständigen Stellen alleine die Einträge hätten akkurat nachführen können. Sie mussten sich daher an ein globales Netz verwaltungstechnischer Informationsstellen anschließen. Spätestens ab 1863 fungierte dabei die Schweizerische Bundeskanzlei als Drehund Angelpunkt dieser behördlichen Informationsbeschaffungsmaschinerie.33 Der Schweizer Konsul in Amsterdam – und ab den 1870er-Jahren dann hauptsächlich der in Batavia (heute: Jakarta) residierende Schweizer Konsul – schickten
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Vgl. Fuhrer/Eyer/Clerc: Schweizer in Fremden Diensten, S. 247–258. Vgl. Krauer: Geld, Gewalt und Rassismus. Vgl. Goltermann: Opfer, S. 34–35. Insbesondere in katholischen Gegenden waren bis 1876 die Pfarreien für die Zivilstandsregister verantwortlich. Zur Geschichte der Zivilstandsregister, vgl. Perrenoud: Zivilstandswesen. Vgl. die Unterlagen im Dossier BAR E2#1000/44#1102*.
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der Bundeskanzlei regelmäßig verschiedene Listen mit den Namen von verstorbenen Schweizer Söldnern.34 (siehe Tab. 2)
Tab. 2: Liste der im September 1875 gemeldeten Todesfälle von Schweizer Söldnern, erstellt durch den Schweizer Konsul in Batavia (Jakarta), Eduard Erb, 14.10.1875.
Quelle: BAR E2#1000/44#1104*.
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Der älteste Vermerk zu den vom Schweizer Konsul in Amsterdam gesandten Namenslisten findet sich auf dem Entwurf eines Briefes der Bundeskanzlei vom 13. Mai 1861, in: BAR E2#1000/44#1102*.
Philipp Krauer: Todeslisten aus Niederländisch-Ostindien
Tab. 3: Zeitungsausschnitt aus dem Staatscourant mit Anmerkungen der Bundeskanzlisten.
Quelle: BAR E2#1000/44#1104*.
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Teil I: Sterben in der Ferne
Die Konsulate bezogen ihre Informationen vermutlich aus diversen niederländischen Zeitungen, wie zum Beispiel dem Nederlandsche Staatscourant oder dem Javasche Courant. In diesen Zeitungen wurden regelmäßig Namen, Geburts- und Sterbedatum, Geburts- und Todesort, der letzte Wohnort, der Name der Eltern, das Abreise- oder Ankunftsdatum, der Name des Schiffes, der militärische Rang sowie die Höhe des Nachlasses der verstorbenen Kolonialsoldaten aufgelistet.35 In vielen Fällen gelangten diese publizierten Listen auch direkt an die Bundeskanzlei. Vermutlich hatten die Schweizer Konsulate sie als Ergänzung mitgeschickt. Wie aus der Korrespondenz der Bundeskanzlei ferner zu entnehmen ist, übermittelte aber auch der in Bern wohnhafte niederländische Generalkonsul der Bundeskanzlei mehrere Jahrgänge des Staatscourants.36 Dementsprechend zahlreich sind diese Zeitungsausschnitte noch im Bundesarchiv erhalten. Die roten Markierungen an den Rändern dieser niederländischen Listen zeugen noch heute davon, wie die Bundeskanzlisten dann in mühseligster Kleinstarbeit die verstorbenen Schweizer aus den Listen herausfilterten und auf eigene Listen übertrugen. Orthografische Fehler erschwerten jedoch die Identifizierung der Söldner. Die Gemeinde Trachselwald wurde beispielsweise unter dem Namen »Frachsewald« geführt.37 Aber auch eine einwandfreie Schreibweise half nicht immer weiter. So notierte 1873 ein sichtlich genervter Bundeskanzlist neben dem Eintrag zum Geburtsort »Rüti« auf den Blättern des Staatscourants: »Welches von den 54??«38 (siehe Tab. 3). Zu solch ungenauen Informationen gesellte sich noch die Tatsache, dass zahlreiche Schweizer mit gefälschten oder gestohlenen Papieren der niederländischen Kolonialarmee beitraten. So muss das Erstaunen beim Schweizer Kesselflicker Carl Mesey groß gewesen sein, als ihn die Behörden 1878 über sein Ableben informierten. Mesey gab schließlich zu Protokoll, dass seine Ausweisdokumente acht Jahre zuvor von einem Arbeiter im Hotel »Cheval« in Aarau gestohlen worden seien.39 Wie viele tatsächlich gefälschte oder gestohlene Papiere nutzten, lässt sich heute kaum mehr eruieren. In den Unterlagen des Bundesarchivs finden sich lediglich 30 bestätigte Fälle.40 Der Westschweizer Söldner Jean-Aimé Humberset, der von 1858 bis 1864 auf 35
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Zu den Zeitungen, vgl. z.B. Javasche Courant, Nr. 62, 07.04.1874, in BAR E2#1000/44#1104*; oder Auszug aus dem Brief des Konsuls Eduard Erb an die Schweizerische Bundeskanzlei, 20. September 1880, in: BAR E2#1000/44#1106*. Vgl. zu den Zeitungslisten, die vom niederländischen Generalkonsul zugestellt wurden, u.a. das Schreiben der Schweizerischen Bundeskanzlei an sämtliche Kantone, 27. Februar 1869, in BAR E2#1000/44#1104*. Nederlandsche Staatscourant, Nr. 34, 08.02.1873, enthalten in: BAR E2#1000/44#1104*. Nederlandsche Staatscourant, Nr. 163, 11.07.1873, enthalten in: BAR E2#1000/44#1104*. Vgl. Brief der Chancellerie d’Etat du Canton de Fribourg an die Schweizerische Bundeskanzlei, 13. März 1878, in: BAR E2#1000/44#1105*. Vgl. BAR E2#1000/44#1105*.
Philipp Krauer: Todeslisten aus Niederländisch-Ostindien
Java und Borneo gedient hatte, erwähnte allerdings in seinem Tagebuch, dass sich viele Schweizer mit gefälschten Papieren anwerben ließen, und aus den Gerichtsakten von verurteilten Werbeagenten geht hervor, dass diese im großen Stil Papiere fälschten.41
3. Listen des Todes – und des Geldes Nachdem die Bundeskanzlei aus den Daten ihre eigenen Listen kompiliert hatte, sandte sie diese an die Kantone. Damit verfolgte sie wohl zwei Ziele. Einerseits sollten die Kantone vermutlich die Anfragen an die Gemeinden weiterleiten, damit diese mittels ihrer Zivilstandsbücher die Identität überprüfen und – im Falle eines positiven Befundes – via Bundeskanzlei die Ausgabe eines offiziellen Todesscheines von den niederländischen Kolonialbehörden erwirken konnten.42 Andererseits sollte damit allfälligen Erbberechtigten die Möglichkeit gegeben werden, die Nachlassenschaften einzufordern.43 Demnach mussten nicht nur die rechtlichen Vertreter der Erb*innen (bei Minderjährigen die Eltern, bei verheirateten Frauen deren Ehemänner), sondern auch noch zwei Zeugen einen entsprechenden Antrag unterschreiben. Wie fehleranfällig dieses Prozedere zum Bezug der Nachlassenschaften war, illustriert das Beispiel des Zürcher Staatschreibers (und bekannten Schriftstellers) Gottfried Keller. Als oberster Staatsbeamter des Kantons Zürich leistete er 1870 dem Bruder eines verstorbenen Söldners einen Vorschuss aus eigener Tasche von 120 Schweizer Franken, in der Überzeugung, dessen Erbschaft von den niederländischen Behörden ausbezahlt zu erhalten.44 Der niederländische Konsul weigerte sich jedoch, Kellers Antrag weiterzuleiten, da auf dem Erbberechtigungsausweis eine verheiratete Frau als Miterbin unterschrieben habe und daher die Mitunterzeichnung ihres Ehemannes unumgänglich sei.45 Weiter führte er aus:
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Vgl. Chevalley: Un Suisse, S. 147. Zu den Gerichtsakten vgl. Krauer: Hotel Helvetia. Darauf deutet die Korrespondenz betreffend die Todesscheine hin. Vgl. dazu den Fall des verstorbenen Söldners Gottlieb Bleuler, Regierungsrat des Kantons Zürich an den Schweizerischen Bundesrat, 9. Juni 1869, in: BAR E2#1000/44#1105* sowie die Korrespondenzprotokolle des Schweizer Konsuls in Batavia (1880–1887), in: BAR E2400#1000/717#290*. Darauf deuten zumindest die schriftlichen Hinweise hin, die im Begleitschreiben sowie im Bundesblatt publiziert wurden. Vgl. Brief der Schweizerischen Bundeskanzlei an die Staatskanzlei des Kantons Solothurn, 30. März 1872, in StASO BG 12, 16 und Bundesblatt 1869, Bd. III, S. 33. Zu den Akten des verstorbenen Söldners Johann Bolliger und Gottfried Kellers Korrespondenz vgl. NL-HaNA, Consulaat Bern, 2.05.14.05, inv. nr. 34, BAR E2#1000/44#1103*. Vgl. Brief des niederländischen Generalkonsuls Suter-Vermeulen an Gottfried Keller, 30. April, 1873, NL- HaNA, Consulaat Bern, 2.05.14.05, inv. nr. 34.
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»Die ministeriellen Beamten im Haag würden unter Umständen wohl gerne etwas weniger minutiös Verfahren und ein Auge zudrücken, wenn’s nur anginge! Allein die Rechnungskammer (la Cour des Comptes, ein ganz eigenes, über allen Ministerien stehendes, für das gesamte Rechnungswesen durchaus selbstherrliches Collegium von lebenslänglich angestellten, hoch besoldeten Rechnungsrevisionisten) ist unerbittlich und visirt einfach nicht, wenn den bestehenden Vorschriften kein volles Genüge gethan ist. Ohne dieses Visum aber, kann kein Heller herausgegeben werden!«46 Angesichts dieser bürokratischen Rigorosität blieb Keller zunächst auf seinen Forderungen sitzen. Erst sechs Jahre später nahm er erneut einen Anlauf. Anstatt den offiziellen Dienstweg über die Schweizerische Bundeskanzlei einzuschlagen, wandte er sich direkt an den niederländischen Generalkonsul und lieferte ihm die gewünschten Unterlagen nach.47 Diese wären mittlerweile jedoch gar nicht mehr notwendig gewesen. Aufgrund des Missverhältnisses zwischen dem enormen Aufwand, der hohen Fehleranfälligkeit und den oft geringen Hinterlassenschaften, vereinfachten die niederländischen Behörden 1876 das Verfahren. Von da an konnten Erbschaftsbeträge unter 250 Gulden (ca. 500 Schweizer Franken) direkt beim Schweizer Konsulat in Rotterdam oder Amsterdam bezogen werden. Höhere Beträge mussten dagegen beim Waisenamt in Batavia (Jakarta) geltend gemacht werden.48 Die Listen der Schweizerischen Bundeskanzlei waren folglich nicht nur Listen des Todes, sondern auch des Geldes. Sie bildeten die Grundlage, um Hinterbliebene in der Schweiz über eine mögliche Erbschaft zu informieren. Da nur die wenigsten Söldner bis in die Offiziersränge aufstiegen und dementsprechend wenig Sold erhielten, fielen die Summen der Hinterlassenschaften meist gering aus. Von den rund 1500 gefallenen Schweizern, die namentlich in den Listen des Staatscourants aufgeführt sind, hinterließen zwei Drittel weniger als 5 Gulden (ca. 10 Schweizer Franken). Nur in 54 Fällen überstieg die Erbschaftsmasse 100 Gulden (ca. 200 Schweizer Franken).49 Wie viel dieser Gelder tatsächlich übermittelt wurden, lässt sich aus heutiger Perspektive nicht mehr rekonstruieren. Laut den Akten aus dem Bundesarchiv wurde die Erbschaft in mehr als 50 Fällen aufgrund der geringen Summe ausgeschla-
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Ebd. Vgl. zu den nachgesandten Unterlagen den Brief des niederländischen Generalkonsuls an den Schweizer Bundespräsidenten Welti, 6. Oktober 1876, in: BAR E2#1000/44#1110*. Zur Einführung des neuen Verfahrens vgl. NL-HaNA, Consulaat Bern, 2.05.14.05, inv. nr. 34 und BAR E2#1000/44#1100*. Eine detaillierte Auswertung dieser Zahlungen liefert: Krauer: Colonial Mercenaries, S. 126–128.
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gen.50 Manchmal wünschten sich die Hinterbliebenen stattdessen lieber genauere Auskünfte über das Schicksal ihres Angehörigen, wie etwa der Vater des verstorbenen Zuger Söldners Jakob Speck. Dieser verzichtete auf das Erbe, wenn er im Gegenzug genauere Informationen über »die Krankheit und die Todesursache« seines Sohnes erhalte.51 Gleichzeitig sind aber auch zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen die Erb*innen selbst kleinste Beträge einforderten. Maria und Johannes Ritschard verlangten beispielsweise die Auszahlung von den 6 Gulden ihres 1890 in Sumatra verstorbenen Sohnes, da sie »unvermögend und alt« seien.52 Ein weiteres Beispiel liefert die Nachlassenschaft des Söldners Karl Schmid. Neben 6,53 Gulden hinterließ er auch sechs Geschwister und »eine dürftige Mutter, welche für die Einsendung des Nachlass dankbar sein wird«, wie die Staatskanzlei des Kantons Zürich 1881 mitteilte.53 Aber nicht nur die Angehörigen machten Ansprüche auf das Erbe verstorbener Söldner geltend. Auch kommunale Armenkassen und Wohlfahrtsbehörden meldeten ihre Ansprüche an, wenn die Hinterbliebenen (oder die Söldner vor ihrer Emigration) auf die finanzielle Unterstützung ihrer Gemeinde angewiesen waren. Die Behörden des Kantons Zürich beanspruchten zum Beispiel die 5,55 Gulden des 1875 in Soerabaja (Surabaya) verstorbenen Albert Sutz mit der Begründung, »dass sowohl der Verstorbene als seine Eltern Unterstützung aus dortigem Armengut [Gemeinde Sternenberg] erhalten haben; namentlich dessen Vater sehr bedürftig sei«.54 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Erbschaften insbesondere dann vermittelt wurden, wenn die Angehörigen aus ärmlichen Verhältnissen stammten.55 So bildeten diese Beträge, auch wenn sie in der Regel äußerst gering ausfielen, eine willkommene Entlastung für das eigene Haushaltsbudget – oder jenes der lokalen Armutsbehörde.
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Der Vater des 1877 verstorbenen Albert Kellers verzichtete beispielsweise auf die geringe Summe von 2.65 Gulden. Auch die Geschwister des 1877 in Padang dahingeschiedenen Andreas Danegger schlugen das Erbe von 2.70 Gulden aus. Beide Fälle finden sich in: BAR E2#1000/44#1106*. Staatskanzlei des Kantons Zug an die Schweizerische Bundeskanzlei, 15. Mai 1855, in: BAR E2#1000/44#1115*. Brief der Polizeidirektion des Kantons Bern an die Schweizerische Bundeskanzlei, 7. Juli 1891, in: BAR E2#1000/44#1109*. Brief der Staatskanzlei des Kantons Zürich an die Schweizerische Bundeskanzlei, 28. Juni 1882, in: BAR E2#1000/44#1115*. Für eine vertiefte, sozialhistorische Analyse dieser Beispiele vgl. Krauer/Schär: Welfare for Veterans. Brief der Staatskanzlei des Kantons Zürich an die Schweizerische Bundeskanzlei, 20. November 1877, in: BAR E2#1000/44#1115*. Vgl. Krauer: Colonial Mercenaries, S. 126–135.
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4. Fazit Dieser Beitrag setzte sich zum Ziel, den Entstehungs- und Gebrauchskontext jener Todeslisten genauer zu untersuchen, welche die Schweizerischen Bundeskanzlei basierend auf den Namen von in Niederländisch-Ostindien gefallenen Söldner erstellte. Drei Punkte haben sich dabei herauskristallisiert, die zeigen, wie der junge Schweizer Bundesstaat in die Strukturen des damaligen europäischen Kolonialismus eingebettet war. So sind diese Listen, erstens, ein eindrückliches Zeugnis der Schweizer Kollaboration an der gewaltsamen niederländischen Expansion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch wenn die Schweizer Söldner nicht die hauptsächlichen Antreiber dieser kolonialen Eroberungszüge waren, leisteten sie dennoch einen wesentlichen Beitrag. Wie die Todeslisten zweitens belegen, waren sich die Schweizer Behörden auf einer kommunalen, kantonalen und nationalen Ebene – zumindest was die Todesfälle anbelangt – über das ungefähre Ausmaß dieser Schweizer Beteiligung stets bewusst. Angeschlossen an eine transnationale bürokratische Informationsbeschaffungsmaschinerie, vermochten sie ihre Zivilstandsregister trotz der räumlichen Distanz akkurat nachzuführen – wenn auch zwischen dem Tod eines Söldners und dessen Eintrag im Register mehrere Jahre verstreichen konnten. Drittens liefern die Todeslisten bisher unbekannte Hinweise auf koloniale Geldflüsse zwischen Kolonialmächten und Ländern ohne formalen Kolonialbesitz. Zwar waren die darauf aufgeführten Beträge im Vergleich zu den Erträgen des Kolonialwarenhandels jener Zeit marginal, die Akten, die den Listen im Bundesarchiv beigelegt sind, zeigen jedoch, dass oftmals auch kleinste Summen bezogen wurden. Folglich müssen diese Geldströme in Relation zum sozialen Umfeld dieser Söldner analysiert werden. Denn in ihren Kreisen konnten selbst geringe Beiträge einen signifikanten Unterschied machen.
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Philipp Krauer: Todeslisten aus Niederländisch-Ostindien
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Tabellenverzeichnis Tab. 1: Liste der Schweizerischen Bundeskanzlei mit den Namen von in niederländisch-indischen Diensten verstorbenen Schweizer Söldnern, 1872, StASO BG 12, 16. © Staatsarchiv Solothurn (StASO).
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Tab. 2: Liste der im September 1875 gemeldeten Todesfälle von Schweizer Söldnern, erstellt durch den Schweizer Konsul in Batavia (Jakarta), Eduard Erb, 14.10.1875. Quelle: BAR E2#1000/44#1104*. © Schweizerisches Bundesarchiv (BAR). Tab. 3: Zeitungsausschnitt aus dem Staatscourant mit Anmerkungen der Bundeskanzlisten. Quelle: BAR E2#1000/44#1104*. © Schweizerisches Bundesarchiv (BAR).
»Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist.« Historische Sterbefälle und ihre Dokumentation – eine Fallstudie zur maritimen Gesellschaft an der Westküste Schleswig-Holsteins Wiebke S. Nissen
1. Sterbebücher Seit Jahrhunderten werden Hochzeiten, Geburten und Sterbefälle in den Büchern der Kirchenverwaltungen dokumentiert. In den Sterbebüchern der evangelischen Kirche Dithmarschen an der Westküste Schleswig-Holsteins wurden beispielsweise ab dem Jahr 1625 in Hemme und ab 1661 in Meldorf und Marne bis in die 1940erJahre frei und ohne Formular – fortan mit – der Todestag, die Lage der Grabstätte, der Name des Verstorbenen und der Predigttext notiert, um den es bei der Trauerfeier gehen sollte. Gelegentlich findet man kurze Beschreibungen der verstorbenen Person oder über die Todesumstände, die dem Pastor als Grundlage für seine Predigt gedient haben mochten, etwa Notizen darüber, dass ein Verstorbener über Jahre hinweg ein einsames Leben gehabt hatte oder nach längerem, schwerem Siechtum verstorben war. So notierte etwa Pastor Mühlenhardt in das Sterbebuch von 1911: »Hansen, Anna Maria, Dienstmagd […] Das Mädchen ertränkte sich nach einem Streit mit den Eltern.«1
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Vgl. Sterbebuch Kirchengemeinde Neuenkirchen, 1911.
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Tab. 1: Sterbebuch Kirchengemeinde Neuenkirchen 03.01.1911.
Quelle: Sterbebuch Kirchengemeinde Neuenkirchen, 1911.
Das Erfassen der Todesfälle auf kirchlicher Ebene diente dem Nachweis einer persönlichen Vita, den familiären Verbindungen und der Angabe des Verbleibs eines Leichnams und hatte somit eine quasi amtliche Bedeutung. Es blieb bei einer reinen Dokumentation ohne Einflussnahme, Pläne für Veränderungen und Auswirkungen auf das staatliche oder gesellschaftliche Leben. Dies änderte sich dann um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Es kam zu großen, einschneidenden Veränderungen als im Jahr 1867 Dithmarschen in den preußischen Staat eingegliedert wurde. Mit den durch die Verwaltungsmacht Preußen vorgeschriebenen neuen Ordnungssystemen, die vorsahen, dass Standesämter neu einzurichten waren, und ihren Standesbeamten, wurden zunehmend mehr und schließlich zahlreiche Mengen von Daten, besonders auch über Sterbefälle, aus gesellschaftspolitischem Interesse aufgegriffen, erhoben und ausgewertet sowie für Pläne und Änderungen verwendet. Dies geschah gänzlich ohne Anmerkungen, die auf die Persönlichkeit des Verstorbenen hätten deuten können. Die Daten waren nun von administrativem und politischem Interesse. Die Sterbebücher dienten unter anderem dem Erfassen von Steuereinkünften, dem sich entwickelnden Versicherungswesen und für militärische Zwecke. Das separate Dokumentieren von Selbstmorden scheint auf eine moralische Intention zu deuten. An der Küste spielte außerdem das Erfassen von Todesfällen durch Ertrinken eine besondere Rolle. Ertrunkene blieben oft verschollen, wurden an unerwar-
Wiebke S. Nissen: »Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist.«
teten Orten angespült oder entstellt aufgefunden. Auch ihr Tod musste im System erfasst werden – Die Kirchenbücher wurden weiterhin parallel geführt. Welche Intention verfolgte der Staat mit diesem präzisen, differenzierten Führen von Sterbebüchern? Inwiefern hat es das staatliche und gesellschaftliche Gefüge beeinflussen sollen? Diesen Fragen wird sich der Text auf den folgenden Seiten annehmen.
2. Das maritime Umfeld An der Westküste Schleswig-Holsteins liegt der heutige Kreis Dithmarschen,2 die Eider im Norden, der Nord-Ostsee-Kanal im Osten, die Elbe im Süden und die Nordsee im Westen, mit seiner von Deichbau und Entwässerung geprägten Kulturlandschaft der Marschen und seiner maritimen Ausrichtung mehrerer Hafenorte. Dithmarschen mit seinen um das Jahr 1900 knapp 90.000 Einwohnern,3 heute 130.000, wurde exemplarisch gewählt, weil seine westliche Hälfte maßgeblich aus dem Meer gewonnen und vom Wasser geprägt wurde. Viele seiner Gemeinden können nach der Definition von Simon Schama4 als maritime beziehungsweise hydrografische Gesellschaften bezeichnet werden. Entlang der Dithmarscher Küste gab es am Anfang des 20. Jahrhunderts noch zahlreiche kleine Häfen, die vor Sturm und höheren Fluten schützen sollten.5 Diese Ankerplätze waren meist gezeitenabhängig und boten nur sehr einfache Anlegemöglichkeiten für flache Boote. Sie lagen an offenen Prielen und Sielzügen direkt vor oder hinter einem Deich6 und waren im Grunde schlickige Modderlöcher, die nicht mit Hafenanlagen im heutigen Sinn verglichen werden können, auch was den Aspekt der Sicherheit anbelangt. Immer wieder gerieten Menschen in Hafenbecken,
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Bis zur Kreisreform 1970 war der Kreis Dithmarschen getrennt in Norder- und Süderdithmarschen. Vgl. Statistisches Landesamt Schleswig-Holstein: Beiträge, S. 11. Vgl. Schama: Überfluss und schöner Schein. Über diese Anlegestellen wurden fischerei- und landwirtschaftliche Produkte zu größeren Häfen transportiert und Waren, die nicht in den Marschen produziert werden konnten, ganz besonders Holz, ins Land hinein gebracht. Das Leben der Dithmarscher war also vom Meer geprägt, die Dithmarscher galten aber nicht als Seefahrernation, die in ferne Meere aufbrachen, etwa zum Walfang wie die Nordfriesen. Ein Deich ist eine künstliche, heute etwa neun Meter hohe, hügelige Abgrenzung des Landes gegen das Meer. Das dadurch gewonnene, meist landwirtschaftlich genutzte Marschenland bezeichnet man als Koog. Priele sind die besonders viel Wasser führenden Ströme in der Nordsee, Sielzüge sind Entwässerungskanäle.
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Entwässerungsgräben, und die Nordsee und ertranken. Die maritime Landschaft beeinflusste somit unmittelbar auch das Sterben und den Tod.7
3. Die Verwaltungsmacht Preußen Schleswig und Holstein und damit auch das in Holstein liegende Dithmarschen wurden bis zum Jahr 1864 vom dänischen König beziehungsweise dem Herzog von Gottorf regiert, der den Dithmarschern diverse Sonderrechte und Freiheiten gewährt hatte. Doch in jenem Jahr kam es zum Deutsch-Dänischen Krieg zwischen Preußen in Verbindung mit dem Kaiserreich Österreich und dem dänischen Gesamtstaat. Nach seiner Niederlage musste Dänemark gemäß dem Wiener Frieden die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg abtreten. Zwei Jahr später wurde dann im Deutschen Krieg zwischen Preußen, im Deutschen Bund, und Österreich ganz Schleswig-Holstein eine Provinz Preußens.8
3.1 Die Verordnung zum Führen von Standesamtsbüchern Wenige Jahre später hatten die Preußen die Verwaltung umstrukturiert, säkularisiert und Standesämter eingerichtet. Die kommunale Einrichtung der Kirchspiele und die daraus später abgeleiteten Namen wie etwa Kirchspielslandgemeinde Büsum wurden zwar von der preußischen Bürokratie übernommen, die universalen Zuständigkeiten der Landvogteien und Kirchspiele, die Überschneidung weltlicher und kirchlicher Verwaltungen wurde aber entflochten und beendet.9 Es wurden Einkommens-, Gewerbe-, Gebäude- und Grundsteuern erhoben und die Gerichtsgewalt den weltlichen, preußischen Verwaltungen und Amtsgerichten übertragen. Der Staat erließ rechtsverbindliche Personenstandsgesetze und verordnete den weltlichen Gemeinden in ihren neu geschaffenen Standesämtern das Führen von Standesamtsbüchern mit Formularvordrucken, in denen ab dem Jahr 1874 Hochzeiten, Geburten und Todesfälle in getrennten Büchern dokumentiert wurden. Eine
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Über die Nordseeküste von den nordfriesischen Halligen und Eilanden bis zu den ostfriesischen Inseln wurde und wird unter verschiedenen Gesichtspunkten geforscht, etwa zu Sturmfluten und Deichbau, aber auch zu maritimen Memorials, wie Friedhöfen und Grabsteinen, die mitunter – besonders im 19. Jahrhundert – aufwendig und mit Schiffsdarstellungen verziert waren. Besonders hingewiesen wird auf Arbeiten von Norbert Fischer, Manfred Jakubowski-Tiessen und Martin Rheinheimer. Von Rheinheimer und Wilhelm Norden liegen zudem historisch-demografische Untersuchungen vor, vgl. Rheinheimer: Die Insel und das Meer; Norden: Bevölkerung in der Krise. Vgl. Opitz: Dithmarschen 1773–1867, S. 249f. Vgl. Nissen: Kleine Geschichte Dithmarschens, S. 90.
Wiebke S. Nissen: »Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist.«
damals fast ausnahmslos kirchlich vorgenommene Bestattung durfte nun erst erfolgen, wenn von staatlich-behördlicher Seite eine schriftliche Erlaubnis erteilt worden war.10 Eine verstorbene Person wurde bei der Gemeinde eingetragen, in deren Zuständigkeitsbereich sie verstorben war, nicht nach ihrem eingetragenen Wohnort oder dem Ort ihrer Beisetzung. Eine Ausnahme bildeten die Soldaten, deren Einträge mit dem Verweis auf ihren Sterbeort am Wohnort vorgenommen wurden, was mitunter aber erst Jahre nach ihrem Tod erfolgte. Auch diejenigen, die auf Seeschiffen verstarben, wurden in die Sterbebücher ihrer Wohnorte eingetragen. Dieses preußische Erfassungssystem hat sich bis heute in den Standesämtern erhalten. Zusätzlich zu Sterbebüchern wurden ordnungspolitische Systeme wie »Zählkarten für Selbstmörder«, Unfallakten oder Totenlisten angelegt. Eine weitere gesonderte Liste existierte über »Sterbefälle männlicher Art« von männlichen Kindern und Heranwachsenden, die vor ihrem 25. Lebensjahr gestorben waren. Andere spezielle Akten enthalten Angaben über Schiffsunfälle und die dabei Ertrunkenen. Die ermittelten Informationen wurden in die Provinzhauptstadt Kiel gesandt, in den sogenannten Generalberichten beziehungsweise in den »Gesammtberichte[n] über das öffentliche Gesundheitswesen« verarbeitet und auch zum Statistischen Bureau Berlin weitergeleitet. Diese Zählkarten und Listen bildeten eine wesentliche Grundlage für die Politik und Verwaltung des straff organisierten Staates Preußen, der Daten systematisch erfasste und auswertete und damit planvoll agierte, etwa auch im Gesundheitswesen.
3.2 Die Angabe der Todesursachen in den standesamtlichen Sterbebüchern Den Standesämtern wurden regelmäßig seitenweise gedruckte Vorschriften darüber zugesandt, wie der Text in den verschiedenen Büchern zu lauten hatte und auch, dass die Schrift »sauber und leicht leserlich« sein müsse, »dies gilt im Besonderen für die Unterschrift des Standesbeamten«, zudem seien »Tintenklecke sowie sonstige Unsauberkeiten zu vermeiden«.11 Auch das Durchstreichen des Formularteils etwa bei Totgeburten und die Nutzung des Randes waren ebenso vorgeschrieben wie das Verbot der Angabe der Todesursache.12 In den 1930er-Jahren begannen
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In den handschriftlich angelegten Kirchenbüchern wurde oftmals im Fließtext, wie in Tabelle 1 zu sehen, oder unregelmäßig in einer Extraspalte das Datum der standesamtlichen Bescheinigung eingefügt. Mitunter sind diese Bescheinigungen erhalten geblieben, etwa in Büsum. Vgl. Ev.-Luth. Kirchengemeinde Büsum: Sterbebuch 1918; Standesamt Büsum: div. Altakten. Minister des Innern, Berlin, Regierung in Schleswig: Zusammenstellung, 1900. Vgl. ebd.
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einige Standesbeamte, mit unauffälligem Bleistift auch Todesursachen in den Sterbebüchern zu vermerken. In den Jahren 1938 bis 1957 mussten sie verbindlich im neuen Formular festgehalten werden. War ein Tod offensichtlich unnatürlich, wurden ausschließlich freie Texte eingetragen. Dazu gehörte der Tod durch Unfall, Ertrinken, im Krieg, durch Mord und Suizid. Suizide wurden bis 1938 meist über den Ort des eingetretenen Todes angegeben und damit diskret umschrieben: Jemand sei tot »außerhalb seiner Bettstätte« aufgefunden worden, etwa »auf dem Boden«, womit der Dachboden und damit ein Erhängungstod gemeint war, was sich bei paralleler Durchsicht der kirchlichen Totenbücher bestätigt.13 Ein Suizid wurde ab dem Jahr 1938 dann offen ins Formular eingetragen: »Todesursache Selbstmord«. Zum leichteren Auffinden wurden in einigen Gemeinden Namens-Nachschlage-Register geführt. Darin sind die verstorbenen Personen aus mehreren Jahren nach dem Alphabet geordnet und mit Verweis aufs Sterbebuch aufgelistet. Allerdings findet man in der Gemeinde Büsum in den Jahren 1874 bis 1911 unter dem Buchstaben S auch die Einträge über 24 unbekannte, männliche Strandleichen.14 In den Sterbebüchern wurden die Todesfälle in jedem Jahr durchnummeriert. Bis zum Jahr 1938 wurde im Formular als erstes eingetragen, wer den Tod anzeigte, ob er dem Amt bekannt war und wo er wohnte. Der Anzeigende musste sich in Zeiten ohne Kennkarten oder Ausweispapiere zuerst legitimieren. Meist war er dem unterzeichneten Standesbeamten »der Persönlichkeit nach bekannt« gewesen.15 Neben seiner Identität beteuerte der Anzeigende die Wahrheit seiner Aussage. Bis über die 1950er-Jahre hinaus wurde handschriftlich immer angefügt: »Der Anzeigende erklärte, daß er von dem vorbezeichneten Sterbefall aus eigener Wissenschaft unterrichtet sei.«16 Fast ausschließlich war bis weit nach der Jahrhundertwende der den Tod Anzeigende ein Mann, oft der Ehemann, der im Bürgerlichen Gesetzbuch ab dem 1. Januar 1900 als Familienoberhaupt definiert wurde. Er besaß die rechtliche Vorherrschaft über Frau und Kinder, hatte die Verantwortung über die Familie zu tragen und alle Entscheidungen zu treffen. Häufig gab es zwischen dem Namen des Anzeigenden und dem der verstorbenen Person keine Übereinstimmung. Angezeigt wurden namensgleiche Ehefrauen, Ehemänner, Kinder, aber auch vom Namen ungleiche Enkelkinder, Eltern, Schwiegereltern, Geschwister, Onkel, Paten, Alumne und Tote, deren Verbindung zum Anzeigenden nicht erkennbar sind. Offensichtlich konnte ein Bauer als Hofvorsteher und Verantwortlicher für alle Personen seines Hofes auch den Tod seines Knechts oder seiner Magd anzeigen.
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Ev.-Luth. Kirchengemeinde Barlt: Sterbebücher 1763–1975. Vgl. Standesamt Büsum: Nachschlage-Register zum Sterbe-Register, 1874–1911. Siehe auch Formulartext unten. Siehe ebd.
Wiebke S. Nissen: »Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist.«
Nachfolgend im Formular und erst viele Zeilen später steht, wer überhaupt gestorben und wie alt er oder sie war, wobei Angaben in ganzen Jahreszahlen erfolgten. Solange sich die systematische Erfassung der Geburten nicht durchgesetzt hatte, kam es auch zu ungenauen Altersangaben wie: ein Viertel Jahr, circa 1 21 Jahr oder zwischen 25 und 30 Jahren. Das Formular bestand aus dem folgenden Lückentext: »Nr. …, am … Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach [be]-kannt, …, wohnhaft zu … und zeigte an, daß …, … alt, … Religion, wohnhaft zu …, geboren zu … [auch Angaben zu den Eltern], am … des Jahres tausend acht hundert … um … Uhr verstorben sei. … Vorgelesen, genehmigt und … [Unterschrift]. Der Standesbeamte«.17 Ab dem Jahr 1938 änderte sich die Reihenfolge der Angaben im Formular: Zuerst kam nun nach Eintragungsnummer, Ort und Datum sogleich der Name des Verstorbenen. Diese Reihenfolge erleichterte sehr das Auffinden der Angaben Verstorbener. Außerdem wurde zeitgleich der polizeiliche Inlandsausweis, die sogenannte Kennkarte, eingeführt, mit der sich die Anzeigenden ausweisen konnten und mussten. Es ist nicht sicher, wie genau und verlässlich die Angaben der Eintragungen in die Sterbebücher waren. Mindestens bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war ungewiss und eher unwahrscheinlich, dass in diesen abgelegenen ländlichen Gebieten am Meer stets Dokumente in Form von ärztlichen Totenscheinen vorgelegen hatten. Ob also in jedem Fall die Angaben korrekt waren beziehungsweise immer ein Arzt aus einer fernen Gemeinde zu Rate gezogen worden war, ist über die Sterbebücher nicht erkennbar. Insofern es hingegen offensichtlich war, dass kein natürlicher Tod vorlag, wurde dieser von offizieller Seite gemeldet, erfasst und eingetragen: »Auf Mitteilung der königlichen Kirchspielsvogtei«, ab dem Jahr 1890 hieß es: »Der Amtsvorsteher hat mitgeteilt«.18 Selten und erst in der Zeit ab Ende der 1930erJahre wurde die Polizei erwähnt.
3.3 »Sterbefälle männlicher Personen« Eine besondere im Amtsarchiv Büsum-Wesselburen erhaltene Sammelmappe »Acta spec.« enthält spezielle Erhebungen, in der ab dem Jahr 1890 bis zum Mai 1918 in der Gemeinde ihrer Geburt explizit die »Sterbefälle männlicher Personen« festgehalten wurden, »welche das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben«.19 Vierteljährlich hatten Meldungen vom Standesbeamten jeder Gemeinde an den »Herrn Civil-Vorsitzenden der Ersatzkommission Norder-Dithmarschen zu Heide« zu ergehen. Die
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Siehe auch Abbildung 3. Vgl. Sterbebücher der Standesämter Büsum, Barlt oder Neuenkirchen. Standesamt Büsum: Acta spec. Sterbefälle.
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Angaben bezogen sich auf Paragraphen der Wehrordnung von 1888. In dieser Erhebung sollte offensichtlich festgehalten werden, wie viele potenzielle Soldaten oder Reservisten dem preußischen Staat durch verfrühten Tod verloren gingen. Man hatte die wehrfähige Bevölkerung und die Wehrhaftigkeit des Staates im Blick, die heute besonders im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine als systemrelevante Bereiche bezeichnet werden. Es gab neben dem Eintrag ins Sterbebuch und dieser Auflistung auch ein schmalseitiges Meldeformular mit identischen Angaben und beglaubigenden Stempeln und Unterschrift des Standesbeamten, ausdrücklich vorgeschrieben für Vor- und Rückseite. Dieses streifenförmige, ca. 40 cm breite Formular mit dem Vermerk »Militaria!« und dem Unterzeichnenden »Der Civil-Vorsitzende der ErsatzKommission«, wurde an die entsprechende Behörde gesandt.20 Erfasst wurden auch Verstorbene, die in anderen Gemeinden geboren beziehungsweise Büsumer, die in anderen Gemeinden verstorben waren. Starb etwa eine aus Büsum stammende Person unter 25 Jahren in Altona, sandte der »Zivilvorsitzende der Ersatzkommission des Aushebungsbezirks Altona« einen Auszug aus dem Sterberegister des Königlichen Standesamtes »an den Herrn Civil-Vorsitzenden der Ersatzkommission Norder-Dithmarschen zu Heide«. Dieser wiederum reichte die Information an den Herrn Gemeindevorsteher in Büsum »zur Kenntnisnahme und als Beleg zur Rekrutierungsstammrolle« weiter.21 Der Eintrag ins Sterbebuch selbst erfolgte aber nur in der Gemeinde, in der der Tod eingetreten war.
Tab. 2: Meldeformular über den Tod einer männlichen Person unter 25 Jahren. Hier: Dreeßen Claus Johann Otto, 1 Monat alt, 14. August 1910.
Quelle: Standesamt Büsum: Acta spec.
Kommuniziert wurde nicht direkt von Standesamt zu Standesamt, sondern über militärische Einrichtungen und das Königliche Statistische Bureau zu Ber-
20 21
Standesamt Büsum: Acta spec. Sterbefälle. Ebd.
Wiebke S. Nissen: »Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist.«
lin, Lindenstraße 32, wobei es für die Formularzusendungen nach Berlin eigens vorgedruckte Briefumschläge gab. Begonnen wurde die Acta spec. als Loseblattsammlung mit einer handgeschriebenen Tabelle, in die Namen, Geburts- und Todesdaten sowie Bemerkungen eingetragen und jahrgangsübergreifend als Heft zusammengeschlagen wurden. Beispielsweise gab es im ersten Jahr in Büsum22 sieben Fälle verstorbener Jungen und junger Männer. Im Jahr darauf acht, dann fünf und im Jahr 1893 drei Fälle. In den folgenden 20 Jahren starben in Büsum durchschnittlich etwa zehn männliche Kinder und junge Männer pro Jahr, bei einem jährlichen Schnitt von insgesamt etwa 39 Toten. Die höchste Anzahl junger männlicher Verstorbener lag im Jahr 1905 bei 18 Verstorbenen. Diese Akte endet mit dem letzten Eintrag am 28. Mai 1918.
3.4 Totenlisten In den Standesämtern wurde ab dem Jahr 1878 ein weiteres Buch geführt: die Totenliste,23 deren Formular im Jahr 1906 und in der Zeit der Weimarer Republik 1926 erheblich erweitert wurde, etwa auch um die Angabe der Todesursache. Die Totenliste bildete »die Grundlage für die Erbschaftssteuerveranlagung«24 und stellte eine Verbindung zur Nummer der Steuerliste des Verstorbenen her, die etwas umständlich als »Erbschaftssteuerhauptliste des Erbschaftssteueramtes« oder »Sterbefall Notizregister« bezeichnet wurde. Die Totenliste enthielt neben den Angaben aus dem Sterbebuch vor allem Informationen über den Wohlstand und das Vermögen des Verstorbenen, um Steuern beziehungsweise Erbschaftssteuern berechnen und erheben zu können. Diese Vorgehensweise, diese sehr ausführliche und wortreiche, in 18 Bereiche eingeteilte Form einer Steuererhebung war vollkommen neu und sollte sicherstellen, dass dem Staat keine Einnahmen – mehr – entgehen konnten. Alle Daten sollten engmaschig und lückenlos erfragt und erfasst werden. So hatte der Standesbeamte in Spalte 1 gleich nach der Angabe des Namens den Beruf zu nennen, womit Rückschlüsse auf vermutete Einkünfte gezogen werden konnten: »Beruf (bei Ehefrauen Beruf des Mannes, bei Witwen auch ihr Beruf, bei berufslosen ehelichen Kindern unter 15 Jahren Beruf des Vaters, bei unehelichen Kindern Beruf der Mutter)«.25 Es musste in Spalte 7 genau angegeben werden, in welcher Form ein Erbe hinterlassen wurde, ob »der Verstorbene ein Testament, einen Erbvertrag, einen Ehevertag, Verpflegungs-
22 23 24 25
Um die Jahrhundertwende hatte Büsum rund 1.400 Einwohner, vgl. Statistisches Landesamt Schleswig-Holstein, S. 41. Vgl. Standesamt Büsum: Totenlisten, 1878–1970. Finanzamt Heide: Schreiben an den Herrn Standesbeamten in Büsum, 1920. Totenliste Büsum 1926, Ausschnitt. Standesamt Büsum: Totenlisten 1878–1970.
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vertrag oder dergleichen hinterlassen«26 hatte und wo sich diese Urkunde befand. Ebenso wurde detailliert in Spalte 10 nach den Verwandten gefragt: »Leben vom Verstorbenen a) eheliche Kinder oder diesen gleichgestellte (durch Ehe legitimierte oder für ehelich erklärte Kinder) oder Abkömmlinge von solchen? b) uneheliche Kinder, deren Mutter oder deren Vater die (der) Verstorbene ist oder Abkömmlinge von solchen? Sind die Kinder vom Vater anerkannt? c) an Kindes Statt angenommene Personen?«27 Anzugeben war präzise und »aus eigenem Wissen oder infolge Befragung des den Sterbefall Anmeldenden«,28 worin der Nachlass bestehe, »z.B. Land 20 ha, Garten, Haus, Hausstand, […] Wert des Nachlasses in Goldmark«,29 »Miethausgrundstück, Eigenwohnhaus, Handelsgeschäft, Kapitalvermögen, Wohlfahrtsempfänger, arm u. dergl.«30 Selbst, wenn ein Nachlass wie »z.B. Geschäft, Hausgrundstück, Kap. Vermögen oder dergl. nur vermutet«31 wurde, sollte er eingetragen werden. Dabei ermunterte die Finanzbehörde die Standesbeamten vor Ort, sogleich bei der Anmeldung eines Sterbefalls die nötigen Angaben zu erfragen, was besonders »den Herren Standesbeamten kleinerer Standesämter [gelingen sollte], denn die Verhältnisse seien ihnen ja vielfach auch persönlich bekannt.«32 Das dörflich-persönliche Sozialgefüge, in dem die Beamten, oft zusätzlich in einer Doppelfunktion als Amtsvorsteher, Bürgermeister oder Polizeibehörde tätig waren, nicht nur arbeiteten, sondern auch als Privatpersonen lebten, wurde hiermit vom Staat genutzt, um an Auskünfte über die Bevölkerung zu gelangen und erhoffte Einkünfte zu generieren. Zugleich ließ man den Beamten sogar ausdrücklich Raum für Spekulationen, Vermutungen und Bespitzelungen, was dem Dorfgefüge kaum zuträglich gewesen sein konnte. Die vorletzte Frage auf der Totenliste lautete, ob der Tote auf einem deutschen Seeschiff verstorben war. Diese Frage zielte nicht nur auf Seeleute der Berufsschifffahrt ab, sondern auch auf die auswandernden Frauen, Männer und Kinder. In den 40 Jahren vor Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 waren 2.550.000 Deutsche ausgewandert, bis zur Jahrhundertwende weitere 2.495.000. Nicht weni-
26 27 28 29 30 31 32
Ebd. Ebd. Finanzamt Heide: Schreiben an den Herrn Standesbeamten in Büsum, 1920. Finanzamt Heide: Schreiben an den Herrn Standesbeamten in Büsum, 1924. Finanzamt Kiel, Rundschreiben an alle Standesämter, 1938. Finanzamt Kiel an das Standesamt Büsum, 13.03.1935. Ebd.
Wiebke S. Nissen: »Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist.«
ge starben während der wochenlangen Überfahrt in ferne Länder.33 Auch ihr Erbe sollte erfasst und besteuert werden. Es lagen für die Totenlisten, so wie für die Zählkarten und Einträge ins Sterbebuch, präzise Vorschriften über die »Benutzung der Todtenlisten« vor, die sogar unter Androhung von Strafe gegenüber den Beamten genaustens umzusetzen waren. Die Todesfälle waren chronologisch zu listen. Es war, wenn es keine gegeben hatte, eine »Vacatbescheinigung« vorzulegen. »Bei Vermeidung gesetzlicher Ordnungsstrafe [mussten sie] in den ersten zehn Tagen der Monate Januar, April, Juli und Oktober dem Erbschaftssteuer-Amte unter der Rubrik ›Portopflichtige Dienstsache‹ unfrankiert eingesendet«34 werden, in der Zeit der besonders starken Inflation, dem »Fortschreiten der Geldentwertung […] und Währungsverfall«35 ab September 1924 sogar monatlich. Wenn bereits ersichtlich gewesen war, dass ein Verstorbener über kein Vermögen verfügte, wenn die Beerdigung aus »Armenmitteln« erfolgt war oder wenn »der Nachlaßwerth unzweifelhaft unter 150 M beträgt«, sollte angegeben werden »arm« oder »Nachlaß unter 150 M«.36 Diese Vermögensangaben und lückenhaften Totenlisten kamen überwiegend vor.37 Eine Auswertung dieser Quellen könnte weitere Aufschlüsse über das soziale Gefüge von Gemeinden vermitteln.
3.5 Zählkarten für Unfälle und Selbstmörder Bei unnatürlich erscheinenden Todesfällen waren spezielle Unfallakten angelegt worden,38 die neben frei verfassten Dokumenten auch Formulare enthielten. Es wurden besondere Zählkarten ausgefüllt, getrennt für männliche und für weibliche Personen. Zusätzliche Angaben sollten erfolgen über beteiligte Individuen, die Schwere und Art der Verletzung, wie lang die Arbeitsunfähigkeit angehalten und in welcher Versicherungskasse sich der Verunglückte befunden hatte.39
33
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Weitere Angaben sind beispielsweise im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven zu finden. Statistiken über Sterbefälle existieren dort nicht, sind aber in Sterbebüchern von Gemeinden nachgewiesen. Erbschafts-Steuer-Amts-Bezirk Altona: Todten-Liste. Regierungspräsident des Landesfinanzamts Kiel: Erbschaftssteuern, Totenlisten, 1924. Erbschafts-Steuer-Amts-Bezirk Altona: Todten-Liste. Vgl. Standesamt Büsum: Totenlisten, 1878–1970. Vgl. Bürgermeisteramt Meldorf: Acten des Bürgermeisteramts zu Meldorf betreffend Selbstmorde und Verunglückungen, Mappe 1 und Mappe 2. Vgl. Schrum: Entwicklung, S. 119.
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Abb. 1 und 2: Zählkarte für Selbstmorde weiblicher Personen, Vor- und Rückseite. Wilhelmine, 18 Jahre alt. »Muthmaßliche oder bestimmte Ursache des Selbstmordes? Vermutlich hatte sie mit Männern geschlechtlichen Umgang gepflogen u. empfand Reue darüber.«
Quelle: Bürgermeisteramt Meldorf: Acten des Bürgermeisteramts zu Meldorf betreffend Selbstmorde und Verunglückungen, Mappe 1.
Bei den Suiziden musste die genaue »Art des Selbstmordes (ob erhängt, erschossen, ertränkt, vergiftet, erstickt usw.)« angegeben werden.40 Erfasst wurden Personendaten auf einer durchzunummerierenden Zählkarte, auch hier getrennt für Selbstmorde männlicher und weiblicher Personen. Anzugeben war ferner, wie die Versorgungsverhältnisse waren: »Hat der Selbstmörder bedürftige Anverwandte, deren Stütze er war … [oder] unversorgte Kinder?«41 Diese Fragen bei allen unnatürlichen Todesfällen sind auffällig. Sie deuten auf den Anspruch des preußischen Staates hin, sich um das Wohl seiner Bürger und besonders der Hilfsbedürftigen sozial und fürsorglich kümmern zu wollen, aber auch, um sein gesamtes staatliches Konstrukt aufrechterhalten zu können. Denn Kinder sind, wirtschaftlich betrachtet, auch die Steuerzahler und Soldaten von morgen und für einen Staat unverzichtbar.
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Siehe Abbildung 1. Zählkarte für Selbstmorde weiblicher Personen, 1902.
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3.6 Zählkarten bei Schiffsunglücken und die Beurkundung von auf See Verstorbenen Eine Besonderheit in maritimen Gesellschaften bildeten Zählkarten für die auf See Verstorbenen als Grundlage für den Eintrag ins Sterbebuch. Für die »Schiffsunfälle von Schiffen aller Flaggen an der deutschen Küste« wurden mehrseitige Zählkarten ausgefüllt, die nicht mehr kleinen Karten, sondern eher einem heutigen DINA-4-Format ähnelten, in denen nähere Angaben über das verunglückte Schiff – Name, Heimathafen, Verwendung und Ladung des Schiffes, Berufsgenossenschaft, Schiffsführer und dessen Befähigungszeugnis, weitere Besatzung – und den Unfallhergang festgehalten wurden. Zeit, Ort, Wetter, Tide, erwiesene oder vermutete Unfallursache, Rettungsversuche, vermutete Höhe des Verlusts und ob beziehungsweise wo eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet worden war, wurden erfragt. Die Feststellung entstandenen finanziellen Schadens stand im Vordergrund. Erst auf der dritten der vier Seiten des Formulars wurde um Angaben zu der Anzahl der verletzten oder ums Leben gekommenen Menschen gebeten.42 Welche Gemeinde für den Standesbucheintrag eines auf einem Schiff Verunglückten zuständig war, richtete sich danach, um welche Art von Wasserfahrzeug es sich gehandelt hatte, »ob das Seefahrzeug als Seeschiff im Sinne des Personenstandgesetzes […] angesehen werden kann. Liegt diese Voraussetzung vor, dann ist der Standesbeamte des Wohnsitzes des Ertrunkenen […] zur Beurkundung des Sterbefalles zuständig.«43 Seeschiffe waren als solche definiert als »zum Erwerbe durch die Seefahrt bestimmte[…] Schiffe […] – die Kauffahrteischiffe i. S. der Reichsgesetze – mit Einschluss der Lotsen-, Hochseefischerei-, Bergungs- und Schleppfahrzeuge, aber auch seegehende Lustyachten, Schulschiffe. […] Dagegen rechnen Fischereiboote, die in See gehen, nicht zu den Seeschiffen«44 aufgrund ihrer »unbedeutenden Art«.45 Verstarb jemand während der Fahrt auf einem Seeschiff oder ging über Bord, musste sein Tod in das Schiffstagebuch, auch Logbuch oder Journal genannt, eingetragen werden. Mit dem Vermerk im Logbuch galt der Todesfall als glaubhaft gemacht, als Dokument, als Urkunde. Später wurde der Fall über das Seemannsamt in das entsprechende Standesamtbuch des Wohnsitzes übertragen.
42 43 44 45
Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH), Abt. 548.7, Nr. 269. Der Vorsitzende des Kreisausschusses Norderdithmarschen: Beurkundung, 1930. Zeitschrift für Standesamtswesen: Beurkundung, 1931. Der Vorsitzende des Kreisausschusses Norderdithmarschen: Beurkundung, 1930.
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Abb. 3: Sterbebuch Büsum Nr. 1 aus 1876.
Quelle: Standesamt Büsum: Sterbehauptregister, 1874–1957.
»Vor dem Reichskanzler-Amt […] ist von dem kaiserlichen Consul zu Mazatlan aus dem Journal des Hamburger Schiffes »Montana« (K.F.C.D) […] zugestellt: Heute den 26. August 1875 auf 57°57’ südl. Breite und 66°37’ West. Länge, Morgens 3 Uhr ist der Deckjunge Peter Hinrich Jebens aus Wesselburen-Deichhausen, geboren am 15. März 1857 beim Klüver-Festmachen über Bord gespült, welches Unglück jedoch zu spät vernommen wurde; Hülfe konnte, schlechten Wetters und Dunkelheit halber
Wiebke S. Nissen: »Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist.«
nicht geleistet werden, da die See sehr hoch ging. Der unterzeichnete 1ste Steuermann hatte zur Zeit die Wache auf Deck und erhielt, sowie es bemerkt wurde, sofort Meldung des Vorfalls. Gez. F. Wortmann Schiffscapitain der deutschen Bark »Montana« Heimathafen Hamburg gez. P. H. Dreyer 1ster Steuermann gez.B. Steincke 2ter Steuermann.
Im Sterbebuch der Gemeinde Büsum vom Januar 1876 befindet sich ein zweiseitiger Eintrag, der allerdings nicht über das Seemannsamt gegangen war – da dieses im Ausland nicht zuständig war –, sondern über den Konsul (siehe Abb. 3): Der 18jährige Deckjunge Peter Jebens war über Bord eines Seeschiffs gegangen und ertrunken. Seine Leiche wurde nicht geborgen. Dennoch konnte der Eintrag ins Sterbebuch aufgrund der Aufzeichnung und Beurkundung durch den Kapitän und die beiden Steuermänner ordnungsgemäß vorgenommen werden. Die genaue Abschrift aus dem Schiffstagebuch wurde vom Kapitän für das Standesamt bescheinigt. Zusätzlich bestätigte der Kaiserliche Deutsche Konsul in Mazatlán, einer Hafenstadt im Westen Mexikos, die persönliche Überbringung dieser Abschrift am 31. Oktober 1875. Der Auszug aus dem Journal wurde ins Sterbebuch übertragen und beigelegt. Verstarb jemand hingegen auf der Fahrt mit einem Fischkutter oder Segelboot oder ging über Bord, wurde er in das Sterbebuch der Gemeinde eingetragen, in dessen Zuständigkeit und Verwaltung der Küstenabschnitt lag, also »in dessen Bezirk das Boot seine Reise beendet und die Leiche aus dem Boot entfernt«46 oder die Leiche angespült wurde. Die Meldung eines Todes an Bord eines solchen Bootes ging an die Ortspolizeibehörde, vertreten durch den Kirchspielsvogt beziehungsweise Amtsvorsteher. Hier fehlte die durch ein Schiffstagebuch oder das Seemannsamt glaubhaft gemachte Dokumentation des Todes, die in diesem Fall durch die Behörde ersetzt wurde. Ohne das Prozedere und den Beweis über das Schiffstagebuch respektive das Seemannsamt reichte bei einem Toten oder gar Verschollenen von einem Nicht-Seeschiff »die Vermutung, dass der Betreffende ertrunken ist, für die Beurkundung eines Sterbefalls nie aus«.47 So konnte es allerdings Jahre dauern, bis eine über Bord gegangene Person schließlich für tot erklärt werden konnte. Für die Angehörigen bestand die Möglichkeit, »nach Ablauf der erforderlichen Frist die Todeserklärung des über Bord gestürzten Mannes beim Amtsgericht zu beantragen«.48 Dazu kamen weitere große Probleme, angefangen von der Trauer und Ungewissheit der Angehörigen bis zu – womöglich lange Zeit ausbleibenden – Zahlungen von Renten- oder Versicherungsgeldern. 46 47 48
Zeitschrift für Standesamtswesen: Beurkundung, 1932. Der Vorsitzende des Kreisausschusses Norderdithmarschen: Beurkundung, 1930. Ebd.
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Voraussetzung für den namentlichen Eintrag eines Ertrunkenen war die oft schwierige oder ergebnislose Identifizierung einer Leiche. Es wurde stets versucht, eine aufgefundene Leiche so zu beschreiben, dass sie anhand des im Sterbebuch festgehaltenen Textes noch im Nachhinein hätte identifiziert werden können. Dafür konnte vom Gericht die sogenannte Besichtigung einer Leiche angeordnet werden. Sie wurde, soweit aus den Akten in Büsum ersichtlich, bis Anfang des 20. Jahrhunderts von medizinischen Laien vorgenommen, die sich in ihrer Untersuchung und Protokollführung eher auf die nötigsten, oberflächlichen und augenscheinlichen Angaben beschränkten, so wie zum Beispiel die an der Besichtigung einer Wasserleiche im April 1903 beteiligten Herren Amtsvorsteher Johann, Strandvogt Külper und Kirchspielschreiber Meyer. Sie gaben zu Protokoll: »Es war eine männliche, anscheinend dem Seemannsstande angehörige Leiche, mittlerer Größe, in jüngeren Mannesjahren, die Kleidung bestand in dunkelblauen Kleidungsstücken; wollenes Unterhemd, gestricktes baumwollenes Oberhemd, neuere Schnürschuhe, grauwollene Strümpfe. Das Gesicht der Leiche war unkenntlich; schwarzes Brusthaar und anscheinend erkennbarer Kinnbart.«49 Der Leichnam konnte nicht identifiziert werden. Dies aber gelang bei der Leiche des 20-jährigen Walter Herz anhand der in seine Wäsche eingestickten Initialen »W. H.«. Er war mit zwei weiteren jungen Männern im April 1900 bei der Kollision seines Krabbenkutters mit der Viermast-Bark »Carradale« ums Leben gekommen.50 In Wäsche gestickte Monogramme – üblich bei gemeinschaftlich gewaschener Wäsche etwa beim Militär oder auf Schiffen – konnten häufig Aufschlüsse über eine Person geben, denn Kleidung bleibt im Wasser länger erhalten als organische Körper, die schneller von Tieren und Bakterien zersetzt werden. Immer wieder wurden Wasserleichen aber auch anhand einer mitgeführten Uhr, Uhrkette oder auch nur eines Taschentuchs identifiziert. Dergestalt hatte der 30-jährige Matrose und Koch Adolf Tütjer identifiziert werden können. Der Polizeibericht besagte: »Wohnort, Straße und Hausnummer: Feuerschiff ›Bremen‹, ertrunken am 7. Febr. 1923 abends 7.40 – von Bord des Feuerschiffs ›Bremen‹ in die See gestürzt. Tag und Stunde der Auffindung der Leiche: August 1923. Todesursache, anzugeben auf Grund des Totenscheines: Ertrinken.«51
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Standesamt Büsum: Acta spec., 1876–96. Nr. 11, 15.04.1903. Ebd., Nr. 15, 21.04.1900. Polizeilicher Bericht, ohne Datum, in: Standesamt Büsum: Todesfall Tütjer.
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Über den Fund einer Wasserleiche nahe Büsum, die einen gravierten Ring trug, wurde in einer Hamburger Zeitung berichtet. Daraufhin hatte eine Leserin an das Standesamt Büsum geschrieben, die die Gravur des Ringes wiedererkannt hatte: »Kann Ihnen nun mitteilen, daß dies mein Mann ist, welcher am 7. Februar beim Feuerschiff Bremen auf der Weser verunglückt ist. Ich bitte Sie herzlichst mir doch den Ring und womöglich die Tabaksdose, wenn er sie noch bei sich gehabt hat zu schicken. Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist. An eine Überführung ist bei diesen Zeiten ja wohl nicht zu denken. Am liebsten hätte ich ihn ja hier. Dann bitte ich Sie doch gleich anzuordnen, daß das Grab zurecht gemacht wird. Die Unkosten werde ich Ihnen sofort zurückerstatten. Frau Tütjer, Norderney.«52 Nach vielen Schriftwechseln verschiedener Behörden, auch darüber, ob ein Feuerschiff, eine Art schwimmender Leuchtturm, zu den logbuchführenden Seeschiffen gehöre oder nicht und folglich in welcher Gemeinde der Ertrunkene einzutragen sei, wurde zweieinhalb Jahre nach Tütjers Sturz ins Meer sein Tod im September 1925 ins Sterbebuch Büsum eingetragen, dem Fundort seines Leichnams.
4. Resümee Preußen zeigte sich auch in entlegenen, maritimen Gebieten, wie an der Westküste Schleswig-Holsteins, mit seinen Ämtern und dem gewissenhaften Führen von Standesamtsbüchern, besonders auch den Sterbebüchern, mit dokumentierenden Akten, behördlichen Kontrollorganen, der ausführlichen Datenerhebung und -speicherung, deren Auswertung und den darauf aufbauenden Planungen als zivilisierter, moderner Staat mit moralischen Werten wie Fürsorge, Wertschätzung und Verantwortung, was insgesamt den Erfolg des hierarchisch strukturierten und straff organisierten Preußischen Staates begründete, sein Funktionieren über Jahrzehnte sicherte und zur Grundlage des heutigen deutschen Staates wurde. In der Zeit des nationalsozialistischen Regimes waren die Formulare der Sterbebücher umgeformt und erweitert worden. Nicht mehr die Legitimierung des Anzeigenden stand im Vordergrund, sondern der einfache, unkomplizierte Zugriff auf die Daten Verstorbener. Es ließen sich nun leichter Informationen ableiten, die statistisch erfasst und genutzt werden konnten. Parallel zur Entwicklung der medizinischen Forschung wurde zunehmend erkenntnisbringend, die Todesursachen genauer wahrzunehmen, zu dokumentieren und zu analysieren. Der sich daraus ent-
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wickelnde medizinische Fortschritt konnte für die öffentliche Gesundheitsvorsorge genutzt werden. Die Nationalsozialisten mit ihrem Gedankengut der Rassenlehre waren insbesondere aber auch an der Eugenetik, der Erbgesundheitsforschung, interessiert. Durch die Pflicht des Aufzeichnens in den Sterbebüchern wurde das Registrieren von mutmaßlich genetisch bedingten Anomalien und sich in Familien wiederholenden Todesursachen forciert und zu einer offiziellen Informationsquelle, die für politische Zwecke missbraucht werden konnte. Ebenfalls wurden durch die expliziten Einträge die in der Gesellschaft als ›lebensschwach‹ betrachteten Selbstmörderinnen und Selbstmörder stigmatisiert. Sie hatten sich nach damaligem Verständnis dem Staat entzogen, in den sie sich mit ihren ihn unterstützenden Funktionen als Arbeiter und Steuerzahler, die Frauen als Mütter und die Männer als Soldaten hätten einbringen müssen. Das System der 1930er-Jahre basierte auf grundlegenden Strukturen, die Preußen bereits geschaffen hatte. So hatten auch Familienangehörige wie Frau Tütjer zuverlässige Auskünfte über den Verbleib ihres auf See verstorbenen Mannes erhalten können und auch darüber, wie und wo und wann er begraben ist.
Bibliografie Ungedruckte Quellen Archivgemeinschaft des Kreises Dithmarschen, der Stadt Meldorf und des Amtes Mitteldithmarschen, Meldorf Bürgermeisteramt Meldorf: Acten des Bürgermeisteramts zu Meldorf betreffend Selbstmorde und Verunglückungen, Mappe 1, 1871–1904. Bürgermeisteramt Meldorf: Acten des Bürgermeisteramts zu Meldorf betreffend Selbstmorde und Verunglückungen, Mappe 2, 1905–1927. Standesamt Nordermeldorf: Sterbehauptregister, 1910–1927. Amtsarchiv Büsum-Wesselburen, Wesselburen Erbschafts-Steuer-Amts-Bezirk Altona: Todten-Liste, Regierungs-Bezirk Schleswig, Standesamts-Bezirk Büsum, div. Altakten, 1878/79. Finanzamt Heide: Schreiben an den Herrn Standesbeamten in Büsum, div. Altakten, Totenlisten 1878–1970 (22.10.1920). Finanzamt Heide: Schreiben an den Herrn Standesbeamten in Büsum, div. Altakten, Totenlisten, 1878–1970 (13.02.1924).
Wiebke S. Nissen: »Auch wüßte ich sehr gerne, wie und wo und wann er begraben ist.«
Königliche Kirchspielsvogtei Wesselburen: Einträge Sterberegister Rülke u. Six, 1875, div. Altakten. Standesamt Büsum: Nachschlage-Register zum Sterbe-Register, 1874–1911. Standesamt Büsum: Sterbehauptregister, 1874–1957. Standesamt Büsum: Totenlisten, 1878–1970. Standesamt Büsum: Acta spec., 1876–96. Nr. 11, 15.04.1903. Standesamt Büsum: Acta spec. Sterbefälle männlicher Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. 1890–1918. Standesamt Büsum: Todesfall Tütjer, div. Altakten (1923). Kirchenkreisarchiv Dithmarschen, Meldorf Ev.-Luth. Kirchengemeinde Barlt: Sterbebücher 1763–1975. Ev.-Luth. Kirchengemeinde Neuenkirchen: Sterbebücher 1670–1961. Landesarchiv Schleswig-Holsteinisch, Schleswig Wasserstraßenamt/Wasser- und Schiffahrtsamt Tönning: Sammelakte und Zählkarten von Schiffen aller Flaggen an der deutschen Küste. Sign. AZ 36530, Abt. 548.7, Tönning Nr. 269.
Gedruckte Quellen Der Vorsitzende des Kreisausschusses Norderdithmarschen: Beurkundung Ertrunkener auf Seefahrzeugen, Loseblattsammlung, Heide 1930. Minister des Innern, Berlin, Regierung in Schleswig: Zusammenstellung der Vorgaben zur Beurkundung des Personenstandes. Gültig für die Führung der Standesregister vom 1. Januar 1900 ab (01.01.1900). Regierungspräsident des Landesfinanzamts Kiel: Erbschaftssteuern, Totenlisten, div. Altakten 1878–1970, (12.12.1924). Regierungspräsidium: Gesundheitliche Zählungen. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Sign. 320.8, 858. Zeitschrift für Standesamtswesen: Beurkundung von Sterbefällen auf See, 14.04.1931, Loseblattsammlung, Berlin.
Literatur Nissen, Nis R.: Kleine Geschichte Dithmarschens, Heide 1999. Norden, Wilhelm: Eine Bevölkerung in der Krise, Oldenburg 1984.
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Opitz, Eckhardt: Dithmarschen 1773–1867, in: Verein für Dithmarscher Landeskunde (Hg.): Geschichte Dithmarschens, Heide 2000, S. 217–254. Rheinheimer, Martin: Die Insel und das Meer. Seefahrt und Gesellschaft auf Amrum 1700–1860, Stuttgart 2016. Schama, Simon: Überfluss und schöner Schein, Frankfurt a.M. 1989. Schrum, Karsten: Zur Entwicklung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, in: Nis R. Nissen (Hg.): Menschen, Maschinen, Monarchen. Landarbeiter in Dithmarschen, Heide 1988, S. 117–123. Statistisches Landesamt Schleswig-Holstein: Beiträge zur historischen Statistik Schleswig-Holsteins, Kiel 1967.
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Tab. 1: Tab. 2:
Sterbebuch Kirchengemeinde Neuenkirchen 03.01.1911. Meldeformular über den Tod einer männlichen Person unter 25 Jahren. Hier: Dreeßen Claus Johann Otto, 1 Monat alt, 14. August 1910, Standesamt Büsum: Acta spec. Abb. 1 und 2: Zählkarte für Selbstmorde weiblicher Personen, Vor- und Rückseite, Bürgermeisteramt Meldorf: Acten des Bürgermeisteramts zu Meldorf betreffend Selbstmorde und Verunglückungen, Mappe 1. Abb. 3: Sterbebuch Büsum Nr. 1 aus 1876, Standesamt Büsum: Sterbehauptregister, 1874–1957.
Ihr Tod ist nicht in Ordnung Totenlisten im zivilgesellschaftlichen Engagement für eine humane Flüchtlingspolitik Stephan Scholz
Nahezu zeitgleich, wenn auch unabhängig voneinander, fanden im Sommer 2019 zwei sehr ähnliche Gedenkaktionen in der Schweiz und in Deutschland statt.1 Sie erinnerten an die Toten unter den Flüchtlingen, die in den vergangenen Jahren bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen, ums Leben gekommen waren: »›Beim Namen nennen‹ – 35 597 Opfer der Festung Europa« hieß die Aktion in Bern, »Jeder Mensch hat einen Namen « die Veranstaltung in Dortmund. Bei beiden Aktionen verbanden sich kirchliche Milieus und andere zivilgesellschaftliche Gruppen in der Absicht, der Toten zu gedenken, öffentliche Aufmerksamkeit für ihr Sterben vor allem im Mittelmeer herzustellen und Protest gegen eine inhumane Flüchtlingspolitik zu mobilisieren, der aus ihrer Sicht die zentrale Verantwortung für die hohen Todeszahlen zukam. Sie wollten trauern und die Opfer würdigen, zugleich aber auch Wut und Protest zum Ausdruck bringen. »Die Festung Europa verursacht den Tod, das ist nicht in Ordnung«, meinte ein Initiator in Bern, und auch in Dortmund machte eine Beteiligte deutlich: »Das Gedenken der Toten ist Widerstand«.2 Es handelte sich somit um Formen des »grief activism«, um öffentlich ausgeübte Trauer- und Gedenkpraktiken, die sowohl ethisch als auch politisch motiviert und gleichermaßen auf Totengedenken, öffentliche Bewusstseinsbildung und politische Veränderung ausgerichtet sind.3
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Für mündliche Auskünfte und teilweise auch schriftliches Material, die zu diesem Aufsatz beigetragen haben, danke ich Pfarrerin Susanne Karmeier von der St. Reinoldi-Kirche Dortmund, Paul-Gerhard Stamm von der Seebrücke Dortmund sowie Pfarrer Andreas Nufer von der Heiliggeistkirche Bern. Pfarrer Andreas Nufer, in: Wipfler: Ein Mahnmal; Pfarrerin Lioba Diez, in: Politisches Nachtgebet, S. 4. Der Begriff nach Stierl: Contestations in Death, S. 174. Alternativ dazu wurde in der Forschung auch der Begriff des »commemoration activism« vorgeschlagen (Horsti: Introduction, S. 9), der von Aktivistinnen und Aktivisten teilweise auch aufgegriffen wurde, vgl. z.B. htt ps://trans-border.net/index.php/brochure/commemoraction/. Zu den vielfältigen Übergän-
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Welche Bedeutung und Funktion Totenlisten bei diesen Praktiken zukommt, ist das Thema der folgenden Ausführungen. Welche Rolle spielen Zahlen und serialisierte Aufstellungen von Namen und anderen Daten von Toten im zivilgesellschaftlichen Engagement für eine humane Flüchtlingspolitik? Wie werden sie von welchen Akteuren und Akteurinnen in Gedenkpraktiken und politischen Aktionen verwendet? Welche Formen des Umgangs mit ihnen werden gewählt? Welche Bedeutung haben das öffentliche Vorlesen, Aufschreiben und Ausstellen gelisteter Namen und Daten? An welche Traditionen des religiösen und säkularen Totengedenkens wird dabei angeknüpft und wie werden diese weiterentwickelt? Zu welchen kulturgeschichtlichen Bezügen und Transformationen kommt es dabei? Bevor dies am Beispiel der Gedenkaktionen in Bern und Dortmund näher untersucht wird, soll jedoch die Frage behandelt werden, woher die Totenliste stammt, auf die hier zurückgegriffen wurde, wie sie entstanden ist und Verbreitung gefunden hat.
1. Die Totenliste Wie schon die bei beiden Gedenkaktionen identische Zahl von exakt 35.597 Toten nahelegt, stützten sich die Initiativen in Bern und Dortmund auf die gleiche Datengrundlage: die »UNITED List of Refugee Deaths«. Diese Liste wird vom europäischen Netzwerk »UNITED for Intercultural Action« herausgegeben, einer zivilgesellschaftlichen Organisation »gegen Nationalismus, Rassismus, Faschismus und zur Unterstützung von Migranten und Flüchtlingen« mit Sitz in Amsterdam, an der mehr als 560 Gruppen und Initiativen aus ganz Europa beteiligt sind.4 Seit 1993 werden in dieser Liste die bekannt gewordenen Todesfälle von Flüchtlingen auf ihrem Weg nach Europa gesammelt und dokumentiert.5 Die Daten werden aufgrund eigener Recherchen sowie nach Angaben und Berichten staatlicher und überstaatlicher Einrichtungen, von Nichtregierungsorganisationen und Medien zusammengestellt, aktualisiert und jeweils im Juni jeden Jahres veröffentlicht. UNITED betont
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gen zwischen humanitären und politischen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements vgl. Fleischmann: Contested Solidarity, S. 121–154. www.unitedagainstracism.org/about-united/. Vgl. https://unitedagainstrefugeedeaths.eu/. Zu statistischen Erhebungen anderer Akteure und Akteurinnen und den generellen Herausforderungen und Problemen dabei vgl. Dearden/Last/Spencer: Mortality and Border Deaths Data. Nachhaltigere Bedeutung haben insbesondere die Daten, die seit 2014 von der International Organization for Migration (IOM) im Projekt »Missing Migrants. Tracking Deaths along Migratory Routes« gesammelt und veröffentlicht werden (https://missingmigrants.iom.int/). Zivilgesellschaftliche Akteure und Akteurinnen betrachten diese trotz großer Professionalität allerdings oft kritisch, weil IOM selbst als Teil und Instrument des (zwischen-)staatlichen Migrationsregimes gilt, das zu den Toten führt. Vgl. Al Tamini/Cuttitta/Last: The IOM’s Missing Migrants Project.
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dabei, dass mit der Liste nicht der Anspruch einer wissenschaftlich basierten Erhebung verbunden ist und die Dunkelziffer der unbekannten Todesfälle um ein Vielfaches höher geschätzt werden muss. Bei fast 80 Prozent der gelisteten Todesfälle handelt es sich um Menschen, die im Mittelmeer ertrunken sind.6 Neben den auf dem Weg nach Europa ums Leben Gekommenen sind aber auch solche Todesfälle dokumentiert, zu denen es in den europäischen Aufnahmeländern (zum Beispiel in Flüchtlingslagern und Aufnahmeeinrichtungen oder durch rassistische Übergriffe) oder infolge einer Abschiebung in das Herkunftsland gekommen ist.7 Die Liste umfasst in sechs Spalten jeweils kurze Angaben zu folgenden Kategorien: • • • • • •
Datum des Auffindens, Zahl der Toten, Name, Geschlecht und Alter (soweit bekannt, zum Teil geschätzt), Herkunftsland (soweit bekannt), Todesursache, Quelle der Angaben.
Nur bei sehr wenigen der Einträge sind die Namen der Toten bekannt (2018: 3 Prozent), ansonsten steht an ihrer Stelle ein »N. N.«.8 Die jährlich steigende Gesamtsumme der gezählten Todesfälle seit 1993 ist im Kopf der Liste angegeben. 2019 betrug sie 35.597 (nach dem Stand vom September 2018) und ist seitdem weiter auf 52.760 angestiegen (nach der aktuellen Liste vom Juni 2023).9
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Dies gilt für die Liste des Jahres 2018, vgl. McIntyre/Rice-Oxley: The List. Vgl. zu den Kriterien: https://web.archive.org/web/20210825165137/www.unitedagainstracis m.org/campaigns/refugee-campaign/working-with-the-list-of-deaths/ (hier und im Folgenden sind nicht mehr aktive Links mit ihrem letzten Snapshot in der Wayback Machine des Internet Archive angegeben). Vgl. McIntyre/Rice-Oxley: The List. Das komplizierte Verfahren der Identifizierung zu Tode gekommener Flüchtlinge im Mittelmeer veranschaulicht Cattaneo: Namen statt Nummern. Vgl. https://unitedagainstrefugeedeaths.eu/wp-content/uploads/2014/06/ListofDeathsActu al.pdf.
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Tab. 1: Erste Seite der UNITED-Liste vom 30. September 2018, die den Aktionen in Bern und Dortmund 2019 zugrunde lag.
Quelle: UNITED for Intercultural Action.
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Listen sind nach Umberto Eco generell Instrumente, mit denen Menschen, »das Unbegreifliche zu fassen« versuchen und sich »am Topos des Unaussprechlichen« abarbeiten.10 Dies gilt umso mehr für Totenlisten, mit denen das Sterben einer größeren Zahl von Menschen in eine fassbare Form gebracht und seine Dimension veranschaulicht wird. Daneben sind diese immer wieder auch Versuche einer »Dekonstruktion des Massengrabs«, mit denen Opfern massenhaften Sterbens etwas von ihrer Individualität zurückgegeben werden soll.11 UNITED sieht die Liste der toten Flüchtlinge aber vor allem als Zeugnis und Dokumentation der Folgen einer restriktiven, auf Abschottung setzenden europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik, die Zuflucht suchende Menschen auf lebensgefährliche Migrationsrouten zwingt. Die aufgelisteten Toten liegen demnach in der Verantwortung der europäischen Staaten und wären bei einer anderen Politik vermeidbar gewesen. Erklärtes Ziel der Nichtregierungsorganisation ist daher ein Wechsel hin zu einer humanen Migrations- und Flüchtlingspolitik, der durch einen öffentlichen Bewusstseinswandel herbeigeführt werden soll.12 Die Liste der Toten soll dabei als »a strong lobby document«13 die Aufmerksamkeit auf die tödlichen Folgen einer inhumanen Politik lenken und diese möglichst breit bekannt machen. Viele Jahre war die Liste allerdings nur wenigen Aktivistinnen und Aktivisten bekannt. Erst ab Mitte der 2000er-Jahre kam es zu verstärkten Versuchen, sie öffentlich sichtbar zu machen.
2. Sichtbarmachungen der Liste Eine wesentliche Rolle bei der öffentlichen Sichtbarmachung der Totenliste spielte die türkische Konzeptkünstlerin Banu Cennetoğlu, deren Arbeiten sich oftmals und auf vielfältige Weise mit der Sammlung, Zusammenstellung und Veröffentlichung von Wissen und Information auseinandersetzen.14 Cennetoğlu war der Liste erstmals 2002 auf der Webseite von UNITED begegnet, als sie in Amsterdam Fotografie studierte. Sie war von der Liste »in all its terrible rawness and cumulative power« so beeindruckt,15 dass sie beschloss, ihr größere Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu verschaffen. 2007 gelang es ihr, in Kooperation mit dem Stedelijk-Museum auf über 100 großformatigen Postern einen Auszug der Liste auf Werbetafeln in Amsterdam anbringen zu lassen. Dies war aber nur der Auftakt einer ganzen Reihe ähnlicher
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Beyer/Gorris: Unwiderstehlicher Zauber. Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen, S. 11. Vgl. http://unitedagainstrefugeedeaths.eu/about-the-campaign/. www.unitedagainstracism.org/about-united/. Vgl. Turkowski: Banu Cennetoğlu. Higgins: Interview with Banu Cennetoğlu.
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Aktionen, die Cennetoğlu in den folgenden Jahren in insgesamt zwölf europäischen Großstädten sowie in Los Angeles durchführte.16
Abb. 1: Die erste Aktion von Banu Cennetoğlu 2007 in Amsterdam.
Quelle: Banu Cennetoğlu.
Obwohl diese Aktionen in der Regel in Zusammenarbeit mit kulturellen Einrichtungen und im Zusammenhang mit Ausstellungsprojekten stattfanden und wahrgenommen wurden, betonte die Künstlerin immer wieder, dass sie nicht Teil ihrer künstlerischen Arbeit, sondern eine »kontinuierliche öffentliche Intervention« seien.17 Großformatige Auszüge der Totenliste wurden bis 2019 in Basel, Istanbul, Sofia, Bonn, Berlin und Barcelona auf öffentlichen Werbeflächen angebracht und drangen so in die visuelle Umgebung der alltäglichen Konsumkultur ein. An Bushaltestellen, Bahnhöfen und in U-Bahn-Zügen konnten sie aufgrund ihrer gelisteten Form auf den ersten Blick wie Fahrpläne erscheinen und durch die irritierende
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Vgl. zum Folgenden die Dokumentation der Aktionen auf der Webseite der Künstlerin: www.list-e.info/liste-hakkinda.php?l=en. https://www.bonner-kunstverein.de/exhibition/banu-cennetoglu/. Diese Einordnung ist allerdings nicht unumstritten, vgl. Strsembski: Das Bild des Flüchtlings, S. 224.
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Verschiebung des Totengedenkens in den Kontext der Alltagsmobilität zusätzlich Aufmerksamkeit auf sich ziehen.18 In ihrem ganzen Umfang ließ Cennetoğlu die Liste 2018 während der Liverpool Biennal, dem größten Festival für zeitgenössische Kunst in Großbritannien, auf eine 280 Meter lange Straßenwand anbringen. Diese Form, die durch ihre räumlichen Ausmaße die große Zahl der Todesfälle von Flüchtlingen visuell verdeutlichte, erinnerte an bekannte Monumente des Totengedenkens und etablierte Formen der Ehrung in Denkmälern für Kriegstote und Gewaltopfer. Die Anwendung dieser öffentlichen Würdigungsform auf tote Flüchtlinge blieb jedoch nicht unwidersprochen. Erstmals und dann mehrfach wurde die ausgestellte Liste von Unbekannten massiv beschädigt und unter anderem mit dem Schriftzug »Invaders not Refugees!« versehen, der die Toten nicht als zu würdigende Opfer anerkannte, sondern sie als abzuwehrende Gefahr diffamierte.19 Die Veröffentlichung der vollständigen Liste in gedruckter Form hatte Cennetoğlu erstmals 2007 initiiert, als die griechische Tageszeitung Ta Nea sie im Rahmen der Athens-Biennale als 16-seitige Zeitungsbeilage publizierte. Diese Form der Veröffentlichung wiederholte Cennetoğlu von 2017 bis 2019 im Zusammenhang mit Ausstellungsprojekten in Deutschland, Großbritannien und Norwegen, wo Zeitungssupplemente mit Auflagen von 100.000 (im Berliner Tagesspiegel) beziehungsweise über 200.000 (im britischen Guardian) eine erheblich größere Reichweite erzielten als lokal gebundene Aktionen. Sie wurden hier zudem auf den jeweiligen Titelblättern angekündigt, von redaktionellen Artikeln begleitet und auch auf den Websites der Zeitungen bereitgestellt.20 War die Veröffentlichung der Liste selbst schon ein »Versuch, zehntausende Tote als menschliche Wesen kenntlich zu machen, mit einer Herkunft, einer Vergangenheit, einem Leben«, wie es im Tagesspiegel hieß, so fügte der Guardian noch eigene Recherchen zu den persönlichen Geschichten von zumindest einigen der Toten hinzu, die ein Gegengewicht zu der nüchternen Auflistung anonymer Daten bilden sollten.21 Schon UNITED als Urheber der Liste empfiehlt, Einzelfälle herauszugreifen, um die persönlichen Schicksale deutlich zu machen, die hinter der Statistik stehen: »The human dimension is what makes the data so potent«, heißt es auf der Webseite, die zu diesem Zweck auch Hintergrundinformationen zu einzelnen »Fällen« anbietet.22 18 19 20 21 22
Cennetoğlu selbst hebt die Bedeutung des Überraschungsmoments durch die Präsentation der Liste in ungewohnten Kontexten hervor, vgl. Greig: Chisenhale Interviews, S. 2. Vgl. Greenfield: Liverpool Mayor. Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/downloads/listeentireberlinccbanu; https://uploa ds.guim.co.uk/2018/06/19/TheList.pdf. Casdorff/Maroldt: Künstlerin dokumentiert das Sterben; Watt/Taylor/Rice-Oxley: Drowned, Restrained, Shot. http://unitedagainstrefugeedeaths.eu/join-the-campaign/.
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Mit derselben Absicht und inspiriert durch den Abdruck im Tagesspiegel wurde die Liste 2018 in Deutschland in Buchform unter dem Titel Todesursache: Flucht veröffentlicht.23 Auch hier wurden erläuternde Texte zu einigen der fast 36.000 aufgeführten Toten mit Angaben zu ihren jeweils persönlichen Geschichten ergänzt, die die Herausgeberinnen Anja Tuckermann und Kristina Milz recherchiert hatten. »Nackte Zahlen schützen uns vor Nähe, die uns befällt, wenn wir Geschichten hören, die hinter ihnen stehen«, erläuterten sie im Nachwort.24 »[A]us Zahlen wieder Menschen machen, die Ziffern durch Schicksale ersetzen«, wie es in einem Beitrag hieß,25 war das erklärte Ziel des Buches, das »der Debatte um Flucht und Tod wieder ein menschliches Antlitz« geben und dadurch Empathie mit den Betroffenen ermöglichen sollte.26 Formal stand es damit in der Tradition von Gedenkbüchern, die seit dem 19. Jahrhundert für Kriegstote und später auch für Opfer von Verfolgungen oder Vertreibungen angelegt worden und ebenfalls als Instrumente eines »grief activism« mit politischen Zielen verbunden waren.27 Auch wenn diese Ziele sich stark unterscheiden, so bildet die beabsichtigte Empathie mit den Toten und ihren Angehörigen als Ausgangspunkt und Motivation für politisches Handeln doch eine Kontinuitätslinie. Vom Verlag als »das zentrale Kampagnenbuch« angekündigt, wurde das Buch zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2018 veröffentlicht und in einer Reihe von Veranstaltungen in ganz Deutschland der Öffentlichkeit vorgestellt.28 In einigen Städten wurden mehrstündige oder sogar ganztägige Lesungen aus dem Buch durchgeführt,29 eine performative Praxis, die im Sommer 2019 in den Aktionen in Bern und Dortmund wieder aufgegriffen wurde.
3. Die Aktionen 2019 in Bern und Dortmund Eine 24-Stunden-Lesung der Totenliste von UNITED bildete den Auftakt und das Zentrum der Aktion »›Beim Namen nennen‹ – 35 597 Opfer der Festung Europa«,
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Vgl. Milz/Tuckermann: Todesursache: Flucht (eine zweite, erweiterte Auflage erschien 2019); vgl. zur Entstehung https://flucht.hirnkost.de/2018/09/15/interview-mit-der-initiatorin-anja -tuckermann/. Milz/Tuckermann: Todesursache: Flucht, S. 437. https://flucht.hirnkost.de/2018/11/20/aus-zahlen-werden-menschen-kristin-helberg-journa listin-und-autorin/. https://flucht.hirnkost.de/2018/09/01/das-buch/. Zur Ambivalenz der reinen Zahlen, die zwar die Größenordnung des Sterbens verdeutlichen, aber die Erfahrungsebene der Betroffenen ausblenden, vgl. Sinatti/Vos: Representations of Border Deaths, S. 74f. Vgl. Lurz: Kriegerdenkmäler, S. 407–413; Scholz: Vertriebenendenkmäler, S. 109. https://flucht.hirnkost.de/2018/09/01/das-buch/. Vgl. https://flucht.hirnkost.de/terminkalender/; https://flucht.hirnkost.de/pressespiegel/.
Stephan Scholz: Ihr Tod ist nicht in Ordnung
die zum Weltflüchtlingstag am 15. und 16. Juni 2019 in der Heiliggeistkirche in Bern stattfand. Die Namen beziehungsweise bekannt gewordenen Daten der zumeist nicht identifizierten Toten wurden anschließend auf Stoffstreifen geschrieben, diese an der äußeren Kirchenfassade befestigt und dort zwei Wochen lang ausgestellt. Diese Aktion wurde am Weltflüchtlingstag der nachfolgenden Jahre auch von Kirchengemeinden in zahlreichen weiteren Städten der Schweiz in ähnlicher Form durchgeführt,30 während in Bern die Namen oder Daten der neu hinzugekommenen Toten verlesen, aufgeschrieben und in die erneut ausgestellte Installation von Stoffstreifen hinzugefügt wurden. Nach der Aktion im Juni 2021 wurden hier die Stoffstreifen zu insgesamt zehn »Büchern der Erinnerung« gebunden, die wiederum, mit einleitenden Texten ergänzt, an die Tradition des Gedenkbuches anknüpfen und zukünftig für Gedenkveranstaltungen verwendet und ausgeliehen werden können.31 In Bern war die Initiative vom reformierten Pfarrer der Heiliggeistkirche ausgegangen und die maßgeblichen Akteurinnen und Akteure stammten aus dem überkonfessionellen kirchlichen Bereich, die sich mit flüchtlingspolitischen Aktivistinnen und Aktivisten zusammentaten. Auch in Dortmund vollzog sich nur wenige Tage später, vom 20. bis 22. Juni 2019, die Aktion »Jeder Mensch hat einen Namen « in einem kirchlichen Rahmen, nämlich innerhalb des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentages. Hier wurden in einer ähnlichen Aktion die Namen beziehungsweise Daten der Toten aus der UNITED-Liste auf große Banner geschrieben, die in einem »Trauermarsch«32 durch die Stadt getragen und dann unter dem Läuten der Totenglocke weithin sichtbar am Turm der zentralen St. Reinoldi-Kirche emporgezogen wurden. Auch hier wurden im Anschluss daran am Weltflüchtlingstag 2021 die Namen oder sonstigen Daten der seit 2019 hinzugekommenen Todesfälle verlesen, auf die Banner hinzugefügt und diese erneut durch die Stadt getragen.33 Auch die Dortmunder Banner werden seitdem für Gedenkveranstaltungen in anderen Städten verliehen.
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2020 in Basel, Luzern, St. Gallen und Zürich, 2021 und 2022 darüber hinaus auch in Chur, Genf, Lausanne, Neuchâtel und Thun. Vgl. https://web.archive.org/web/20220424134250/https://www.beimnamennennen.ch/de/ 2022/bern/buecher-der-erinnerung. https://www.gefluechtete-dortmund.de/jeder-mensch-hat-einen-namen/. Vgl. https://www.sanktreinoldi.de/archiv/inhalt/weltfluechtlingstag-2021; Kolle: Protest in Dortmund.
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Abb. 2: »Trauermarsch« mit Banner auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund.
Quelle: Stephan Scholz.
Anders als in Bern kam die Initiative für die Gedenkaktion in Dortmund allerdings nicht aus dem kirchlichen Raum selbst, sondern aus der säkularen Flüchtlingsarbeit. Vertreter der Seenotrettungsorganisation Seawatch hatten – unabhängig und ohne Kenntnis von der nahezu zeitgleichen Schweizer Initiative – die Idee zu einer Aktion auf dem Kirchentag und gewannen das Schauspiel Dortmund für eine Kooperation. Zusammen mit dem zivilgesellschaftlichen Bündnis Seebrücke wurde ein Konzept erarbeitet und Kontakt zum Evangelischen Kirchentag hergestellt, der die Aktion schließlich in sein Programm aufnahm und auch finanziell unterstützte. Es kooperierten somit verschiedene »public mourning agents«34 aus unterschiedlichen Kontexten, zwischen denen es zwar einzelne personelle Überschneidungen gab, die aber keineswegs deckungsgleich waren.35 Gab es so durchaus Unterschiede bei den individuellen und kulturellen Hintergründen und Motiven für das zivilgesellschaftliche Engagement, so war allen das Ziel gemeinsam, auf das Sterben im Mittelmeer öffentlich aufmerksam zu machen und für einen Wechsel der Flüchtlingspolitik einzutreten. Im Rückgriff auf die Totenliste wählten die Akteurinnen und Akteure Formen der Aneignung und des Umgangs, die an etablierte 34 35
Horsti: Transnational Mediated Commemoration, S. 194. Zu unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren der Trauer vgl. auch Mirto u.a.: Mourning Missing Migrants, S. 111.
Stephan Scholz: Ihr Tod ist nicht in Ordnung
Formen sowohl des kirchlichen als auch des säkularen Totengedenkens anknüpften und diese weiterentwickelten.
4. Würdigung, Empathie und Protest: Die Bedeutung des Lesens und Schreibens Das Ziel, öffentliche Aufmerksamkeit für die Toten herzustellen, verband sich bei den Aktionen in Dortmund und der Schweiz besonders stark mit dem Bedürfnis und der Absicht, die Toten zu würdigen und ihrer zu gedenken. Kirchliche und nichtkirchliche Gruppen beriefen sich dabei gleichermaßen auf das fundamentale Recht eines jeden Menschen auf sein Leben und seine Würde.36 Christliche und muslimische Vertreterinnen und Vertreter verwiesen auf ihre gemeinsame religiöse Grundüberzeugung von der Fundierung dieses Rechts in der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen.37 Auch Aktivistinnen und Aktivisten der Seebrücke hoben die Bedeutung der Menschenwürde hervor: »Das ist unser Ziel: Jedem Menschen seine Würde zurückzugeben, die er namenlos, scheinbar namenlos verloren hat im Mittelmeer.«38 Gerade im kirchlichen Bereich konnte man dabei an etablierte Formen des Totengedenkens anknüpfen. »Als Kirche ist [es] ja auch sonst unsere Aufgabe, der Toten zu gedenken«, meinte eine Vertreterin der Katholischen Kirche in Luzern, als dort 2020 die Totenliste verlesen wurde.39 Sie verwies dabei explizit auf die traditionelle Praxis am Totengedenktag Allerheiligen, wenn – ähnlich wie am evangelischen Ewigkeits- beziehungsweise Totensonntag – die Verstorbenen einer Gemeinde des vergangenen Jahres noch einmal in Erinnerung gerufen, gewürdigt und ihre Namen oftmals noch einmal vorgelesen werden. Aber auch Assoziationen zu säkularen Formen des erinnerungskulturellen Gedenkens an NS-Opfer spielten eine wichtige Rolle, bei denen ebenfalls die rituelle Nennung der Namen nicht nur zur Würdigung der Opfer, sondern auch als »Zeugnis des Unrechts ihrer Abwesenheit« dient.40 Die Bedeutung der Namen als Ausweis von Identität und Individualität, der Menschen gleichzeitig unterscheidet und verbindet, stand im Kern der Aktionen. Dies wurde bereits in ihren Titeln »Beim Namen nennen« und »Jeder Mensch hat einen Namen«, aber auch in zahlreichen Äußerungen von Beteiligten immer wieder zum Ausdruck gebracht. Thomas Laqueur hat ausführlich nachgezeichnet, wie die
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Zur der Frage nach der Würde und den Menschrechten von Toten vgl. Moon: What Remains? Vgl. Barben: Die Kirche; Interreligiöses Gebet, S. 2. https://web.archive.org/web/20201030042523/https://seebruecke.org/kirchentag-2019-kun dgebung/ (Paul-Gerhard Stamm). https://www.youtube.com/watch?v=UxgNgrR3OGo. Grotti/Brightman: Hosting the Dead, S. 97.
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Erinnerung an die Namen der Toten seit dem 19. Jahrhundert in der westlichen Gesellschaft an Bedeutung gewonnen hat und seitdem immer mehr zu einem selbstverständlichen Anspruch in einem »age of necronominalism« geworden ist.41 2015 hat er darauf hingewiesen, dass die anonym bleibenden toten Flüchtlinge, indem sie über keinen Namen als »testament to belonging« verfügten, des fundamentalsten Merkmals kultureller Zugehörigkeit beraubt seien.42 In Bern und Dortmund lag daher der Fokus auf der Bedeutung des Namens in einer besonderen Spannung dazu, dass tatsächlich nur sehr wenige Namen von auf der Flucht Verstorbenen bekannt und auf der Liste verzeichnet waren. Dieser Spannung versuchte man dadurch zu begegnen, dass alle bekannten und in der Liste notierten Angaben zu den einzelnen Toten – ihr Geschlecht und Alter, ihre Herkunft und die Umstände ihres Todes – genau und sorgfältig vorgelesen beziehungsweise aufgeschrieben wurden. Dies sollte eine »vermenschlichende Wirkung« haben, um die »Betrauernswürdigkeit« der unbekannten Toten deutlich zu machen oder sogar erst herzustellen.43
Abb. 3: Übertragen der Liste auf Stoffstreifen in Bern 2019.
Quelle: Offene Kirche Bern.
Durch die kulturelle Praxis des Vorlesens und Aufschreibens dieser Angaben entstand bei vielen Beteiligten das Gefühl der Nähe und persönlichen Beziehung zu den einzelnen Toten. Die Identifizierung der Toten ging zwar nicht in eine 41 42 43
Laqueur: The Work of the Dead, S. 413–446. Laqueur: Why We Need to Name the Dead. Butler: Gewalt, Trauer, Politik, S. 55f.
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Identifizierung mit den Toten über, aber doch in eine Form der Annäherung und Empathiebildung, die auf einem Bewusstsein von Gemeinsamkeiten beruhte. Dieser Nähe schaffende Umgang mit der Totenliste kann auch als eine »practice of care« verstanden werden, welche die nüchterne Distanz bloßer Zahlen überwindet.44 Empathie entsteht dabei – trotz der großen räumlichen und lebensweltlichen Entfernung – durch Einfühlung und Imagination, die auf der Vorstellung zentraler menschlicher Gemeinsamkeiten basieren.45 Eine existentiell-menschliche Nähe zu den Verstorbenen wurde beispielsweise zum Auftakt der Beschriftungsaktion in Dortmund geradezu beschworen: »Und doch erahnen wir ihre Träume und Hoffnungen, ihre Angst und Verzweiflung; ihren Wunsch, in einem friedlichen Land zu leben, ihren Wunsch zu leben.«46 Die Annäherung durch Nachvollzug der Namen beziehungsweise der bekannten Daten konnte manchmal eine spirituelle Dimension annehmen, wenn etwa eine Teilnehmerin an der Schreibaktion 2020 in Bern erklärte: »Und es ist ein Moment für mich wie das Beten – mein Herz öffnet sich für diese Leute, an die ich denke.«47 Nachdem dort die Stoffstreifen mit den aufgeschriebenen Angaben der Toten 2021 zu einem Erinnerungsbuch gebunden worden waren, sah eine empfohlene »Übung« vor, nach Auswahl eines Streifens, »sich rund um diesen Namen ein Leben ›aus[zu]malen‹«: »Der Mensch, der im Meer ›verloren‹ gegangen ist, der kein Grab und keine Erinnerungsstätte hat, erhält durch diese Auseinandersetzung ein neues ›Antlitz‹ in der Vorstellung der Person, die sich ganz bewusst an ihn erinnert. Für die Teilnehmenden ergibt sich die Möglichkeit, sich in ein Schicksal hinein zu fühlen.«48 Judith Butler hat darauf hingewiesen, dass die Betrauerbarkeit von Toten mit dafür verantwortlich ist, »ob wir uns politisch folgenreich berührt fühlen«.49 Die sehr persönliche Aneignung der Totenliste besaß daher immer auch eine politische Dimension, insbesondere im Bewusstsein der Vermeidbarkeit und Mitverantwortung. Man sähe jedes Mal das Unrecht und menschliche Verschulden, wenn man einen Namen schreibe, meinte zum Beispiel eine Teilnehmerin an der Aktion 2021 in Chur, während in Dortmund ein Vertreter der evangelischen Kirche erklärte, dass bei Fortsetzung der zu Grunde liegenden Politik »unsere eigene Würde in Gefahr«
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Vgl. M’charek/Black: Engaging Bodies, S. 87–90. Vgl. dazu, wenn auch kritisch gegenüber einer Überschätzung vorgestellter Ähnlichkeiten, Breithaupt: Kulturen der Empathie, S. 18–22. Politisches Nachtgebet, S. 4. https://www.youtube.com/watch?v=lEZLWuTcNFs. https://static1.squarespace.com/static/5ff0e1f5d354ae233ba72955/t/612b61ee9e9d2a7651e7 6a40/1630233074616/BNN_Bu%CC%88cher-Ideenset.pdf, S. 9. Butler: Einleitung, S. 31f.
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geriete.50 Mit Hilfe der Liste verband sich in Dortmund und der Schweiz somit das Totengedenken mit dem Verantwortungsgefühl für und dem Protest gegen eine Politik, die zu diesen Toten geführt hatte.
5. Materielle Transformationen Die Gedenkaktionen 2019 in der Schweiz und in Dortmund erfuhren eine gewisse Verstetigung, indem die beschrifteten Stoffstreifen oder Banner noch eine Zeitlang an oder in den Kirchen angebracht blieben, damit weiterhin öffentlich sichtbar waren und den Charakter von temporären »Mahnmalen« erhielten und auch als solche bezeichnet wurden.51 Sowohl die Installation aus Stoffstreifen als auch die großformatigen Banner mit den Namen beziehungsweise Angaben der Toten waren Versuche, die Liste in Formen zu transformieren, die einerseits die große Zahl der Toten und andererseits deren Individualität anschaulich und begreifbar machen sollten. Auch in den Folgejahren gab es vielerorts immer wieder Initiativen, um die nüchterne Serialität der Totenliste in sinnlich erfahrbarere Formen zu übersetzen. Diese in der Regel ephemeren Formen griffen oftmals – bewusst oder unbewusst – bereits bestehende Traditionen des Totengedenkens auf und entwickelten diese weiter. Seit 2019 stellt zum Beispiel der Künstler Peter Weismann in seiner Aktion »Mare Nostrum längs der Isar« Kieselsteine, in die er die Namen und Daten verstorbener Flüchtlinge eingraviert, an verschiedenen Stationen entlang des Flusses zusammen, um den abstrakten Zahlen eine materielle Gestalt zu geben.52 Erinnern diese Steine ihrer Form nach an Grabsteine, so knüpfte eine Aktion in Bremen im Januar 2021 an die traditionelle Markierung von Gräbern an Totengedenktagen an, indem dort 35.000 Lichter für die auf der Flucht Verstorbenen aufgestellt wurden.53 Im selben Jahr wurden am Strand von Scheveningen bei Den Haag mehrere Tausend Holzstelen aufgestellt, die, beschrieben mit den Namen beziehungsweise Angaben der verstorbenen Flüchtlinge, aus dem Sand herausragten und wie ein großes Gräberfeld wirkten.54 Da die tatsächlichen Gräber der Toten weit entfernt waren oder gar nicht existierten, knüpften diese Materialisierungen der Totenliste an die Tradition des Totengedenkens in Form von Kenotaphen an. 50 51
52 53 54
https://www.youtube.com/watch?v=EZHZmt4HeqQ; https://web.archive.org/web/2020103 0042523/https://seebruecke.org/kirchentag-2019-kundgebung/ (Präses Manfred Rekowski). Vgl. Wipfler: Ein Mahnmal; https://web.archive.org/web/20201030042523/https://seebrueck e.org/kirchentag-2019-kundgebung/ (Anja Sportelli); zu dauerhaften Mahnmalen für auf der Flucht Verstorbene vgl. Scholz: Denkmäler für Geflüchtete, S. 603–608. Vgl. Höcherl: Dimensionen von Flucht. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=qNAhB_2dNDU. Vgl. https://nos.nl/artikel/2385910-duizenden-gedenktekens-op-strand-scheveningen-vooromgekomen-vluchtelingen.
Stephan Scholz: Ihr Tod ist nicht in Ordnung
Abb. 4: Namensstreifen an der Fassade der Heiliggeistkirche.
Quelle: Offene Kirche Bern.
6. Resümee Totenlisten spielen im zivilgesellschaftlichen Engagement für eine humane Migrations- und Flüchtlingspolitik eine wichtige Rolle. Sie dienen als Zeugnis und Nachweis einer verfehlten europäischen Politik, die den Tod von Menschen in Kauf nimmt und wesentlich mitverantwortet. Akteurinnen und Akteure mit unterschiedlichen Hintergründen nutzen Listen von auf der Flucht Gestorbenen für Formen des »grief activism«, mit denen der Toten öffentlich gedacht und auf das Unrecht ihres Sterbens aufmerksam gemacht wird. Nüchterne Zahlen und schematisierte Auflistungen fungieren dabei einerseits als Instrumente, um die Größenordnung des Sterbens zu veranschaulichen. Andererseits bilden sie den Ausgangspunkt, um sich den individuellen Schicksalen der betroffenen Menschen anzunähern. Kulturelle Praktiken des Vorlesens, Aufschreibens sowie des öffentlichen Ausstellens der Namen beziehungsweise der bekannt gewordenen Daten der Toten dienen der Empathiebildung, der Bewusstwerdung menschlicher Verbundenheit, aber auch der Mitverantwortung für eine Flüchtlingspolitik, die zum Sterben von Schutzsuchenden führt.
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Die Totenliste fungiert dabei als Schnittstelle, die dafür sorgt, dass der Umgang mit den Toten im Mittelmeer nicht im »imaginären Raum eines rein Menschlichen« und damit unpolitisch bleibt.55 In ihrer Serialität und durch ihren »dynamischen Rhythmus«56 verdeutlicht die Liste vielmehr, dass es sich bei den Toten nicht um bedauernswerte Einzelfälle und lediglich individuelle Schicksalsschläge handelt, sondern um Bestandteile und Folgen eines Systems, dem nur politisch begegnet werden kann. Somit zwischen Ereignis und Struktur vermittelnd, belegt die Liste als geordneter Überblick über die tödlichen Folgen der Politik, dass diese so nicht in Ordnung sein kann.
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Stephan Scholz: Ihr Tod ist nicht in Ordnung
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Teil I: Sterben in der Ferne
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Stephan Scholz: Ihr Tod ist nicht in Ordnung
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tab. 1: Erste Seite der UNITED-Liste vom 30. September 2018, die den Aktionen in Bern und Dortmund 2019 zugrunde lag. © UNITED for Intercultural Action. Abb. 1: Die erste Aktion von Banu Cennetoğlu 2007 in Amsterdam. © Banu Cennetoğlu. Abb. 2: »Trauermarsch« mit Banner auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund. © Stephan Scholz. Abb. 3: Übertragen der Liste auf Stoffstreifen in Bern 2019. © Offene Kirche Bern. Abb. 4: Namensstreifen an der Fassade der Heiliggeistkirche. © Offene Kirche Bern.
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Teil II: Institutionen des Todes
Von Zahlen und dem, was zählt Zu den Totenlisten eines Berliner Leichenhauses des 19. Jahrhunderts Nina Kreibig
Anfang Juni 1849 kam es in einem – wenn nicht dem – mustergültigen Leichenhaus Berlins zu einem Eklat. Aufgewühlt berichtete der Prediger und Mitglied des Kuratoriums des Leichenhauses der Jerusalems- und Neuen Kirche, Deibel, seinem Kollegen, dem Stadtverordneten und Gründer der Einrichtung, August Carl Friedrich Hollmann, dass er bei seinem Kontrollgang durch das Gebäude eine, nur in schmutzige Laken gehüllte, weibliche Leiche vorgefunden hätte, deren Identität völlig unbekannt gewesen war.1 In der Folge klärte sich die Situation und die Tote konnte als die Lehrerin Schroeder aus Stettin identifiziert werden, die in einer Berliner Wasserheilanstalt verstorben und auf unkonventionelle Weise ins örtliche Leichenhaus gebracht worden war.2 Das »Entsetzen«,3 das Deibel laut eigener Aussage bei der Feststellung der nicht zu verordnenden Leiche erfasst hatte, war weniger dem Umstand geschuldet, mit dem Tod als vielmehr mit dem Bruch der inneren Ordnung des Instituts konfrontiert worden zu sein. Diese Systematik drückte sich in einer geregelten Auflistung und einer ansprechenden Präsentation jener Verstorbenen aus, die in die Einrichtung eingebracht wurden. Erst als der Leichnam durch Name und Stand rubriziert war, die Hintergründe seiner Einlieferung rekonstruiert wurden und er regulär Eingang in die chronologisch geführte Liste der aufgenommenen Toten fand,4 war die gestörte Ordnung wiederhergestellt. Diese Normierung beruhte auf zwei Gesetzmäßigkeiten: der Klassifizierung von Verstorbenen primär anhand von Personenstandsdaten bereits bei der Einbringung in das Leichenhaus
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Vgl. Prediger Deibel an Stadtrat Hollmann, 1. Juni 1849, Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin (ELAB), Jerusalems- und Neue Kirche (JNK), Nr. 10408/194, Bl. 261; der Schriftverkehr beschränkt sich bei den vorliegenden Quellen ausschließlich auf Berlin. Vgl. Bericht des Totengräbers Retzdorff, 16. Juni 1849, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 264f. Deibel an Hollmann, 1. Juni 1849, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 261. Vgl. Liste der Aufnahmezahlen für das Leichenhaus des Jahres 1849, gez. Retzdorff, 25. Dezember 1850, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 273.
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Teil II: Institutionen des Todes
und einem präzisen Ablauf aller notwendigen Schritte, die eine reguläre Erfassung der Leichen kennzeichneten.5 Im Folgenden wird es darum gehen, diese Systematik anhand des Beispiels des Leichenhauses der Jerusalems- und Neuen Kirche näher zu beleuchten und die Parameter zu klären, die einer solchen Auflistung zugrunde lagen. Dabei soll verdeutlicht werden, welche sozialhistorischen Erkenntnisse aus der Erstellung von Listen im vorliegenden Kontext abgelesen werden können, wer an dieser Stelle als handelndes Subjekt auftrat und was die Intention zur Anfertigung besagter Listen war. Als Grundlage der Analyse werden Akten der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde sowie der Berliner Kommunalbehörden herangezogen.
1. Innovationen im Bestattungswesen Leichenhäuser waren Einrichtungen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs mehr ein Novum darstellten – die erste Berliner Anstalt dieser Art war 1794 ins Leben gerufen worden.6 Dennoch galten die Institute aufgrund ihrer geringen Verbreitung im Stadtbild und der bescheidenen Nutzungszahlen nicht als gänzlich etabliert.7 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts waren in zahlreichen deutschen Staaten Leichenhäuser realisiert worden, die im Gegensatz zum wortverwandten Leichenschauhaus, das einer polizeilichen Identifizierung und der Sektion von Verstorbenen diente,8 zum einen den Zweck der Rettung von scheintoten Personen vor einem Lebendig-begraben-Werden, zum anderen die hygienische Absicherung der Lebenden vor einem angeblich schädigenden Einfluss der Toten anstrebten.9 Allgemeine Grundlage für die »Einstellung«10 in ein Leichenhaus war in Berlin ein ärztliches Attest respektive eine zu Lebzeiten aufgesetzte Bevollmächtigung durch die Toten selbst oder ihre Angehörigen.11 Darüber hinaus musste die generelle Möglichkeit
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Totenlisten stellten nicht die einzige Systematik für das Leichenhaus dar. Darüber hinaus existieren Zusammenstellungen über die personelle Besetzung des turnusgemäßen Wechsels der Aufsicht der Kuratoriumsmitglieder, vgl. Nachweisung der Reihenfolge bei Beaufsichtigung des Leichenhauses, durch die Herrn Mitglieder des Curatoriums, für das Jahr 1842, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 144. Vgl. Biester: Leichenhaus. Vgl. Kreibig: Institutionalisierter Tod, S. 424f. Vgl. Stein: Leichenhaus, S. 32. Vgl. Boehlke: Aufkommen, S. 141. Die Aufnahme von Verstorbenen in eines der Berliner Leichenhäuser wurde in der Regel mit dem Begriff »Einstellung« umschrieben, vgl. Landesarchiv Berlin (LAB), A Rep. 004, Nr. 62–63. Von der Einstellung »auf Verlangen« berichtet u.a. der Küster Wilberg im Fall eines Medizinstudenten (Wilberg an den Vorstand der Jerusalems- und Neuen Kirche [?], 2. Juli 1840, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 113).
Nina Kreibig: Von Zahlen und dem, was zählt
bestehen, dass ein Verstorbener nach Kenntnisstand der zeitgenössischen Medizin aus dem Tod zurückgeholt werden konnte. Aus diesem Grund waren verunfallte oder ermordete Menschen, bei denen der Tod unzweifelhaft zu diagnostizieren war, – wenn auch nicht explizit – von einer Aufnahme ausgeschlossen.12 Gleiches galt aus Gründen der Moral für Suizident*innen und Straftäter*innen.13 Zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das primäre Ziel einer Einstellung in ein Berliner Leichenhaus das Bemühen um die Wiederbelebung der vermeintlichen Toten.14 Dieser Ansatz korrespondierte mit medizinischen Konzepten, wie der Lebenskraftlehre, die eine Reanimation scheinbar Verstorbener auch nach mehreren Tagen propagierte.15 In den Berliner Anstalten wurden Listen angelegt, in denen die Personenstandsdaten der aufgenommenen Toten festgehalten wurden. Diese Listen wandelten sich im Laufe der Zeit, auch unter dem Eindruck einer vermehrten Nutzung der Einrichtungen.16 Das Leichenhaus der Jerusalems- und Neuen Kirche, das sich explizit der »Rettung vom Scheintode« verschrieben hatte,17 war 1838/39 auf dem Friedhof vor dem Halleschen Tor errichtet worden.18 Das Gebäude war dreigeteilt und bestand aus einer Kapelle, der Wohnung des verantwortlichen Leichenwächters sowie den Leichensälen im Mittelteil. Die verhältnismäßig aufwendige Architektur und die nach dem damaligen Stand der Medizin fortschrittliche Ausstattung der Einrichtung ließen das Leichenhaus in den Augen des vorstehenden Kuratoriums als »Muster-Leichenhaus« erscheinen.19 Von herausragender Bedeutung ist an dieser Stelle jedoch der seltene Umstand zu nennen, dass die Listen der Einstellungen von Leichnamen für diese Anstalt seit der Eröffnung bis in das 20. Jahrhundert hinein vollständig vorliegen.20 Dies eröffnet die Möglichkeit, einen differenzierten Blick über mehrere
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Diese Personengruppen wurden dem Leichenschauhaus oder der Anatomie übermittelt, vgl. Gottschalk: Alt-Berliner Begräbnisstätten, S. 71. Vgl. Kreibig: Institutionalisierter Tod, S. 397–404. Vgl. ebd., S. 440f. Vgl. Rüve: Scheintod, S. 66, 243. So wurden die persönlichen Informationen der Verstorbenen, wie Vor- und Zunahme, Alter, Beruf, Stand etc., im Laufe der Zeit reduziert. Geheimer Kabinettsrat Mühler an den König, 15. Mai 1869, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), Akten des Geheimen Zivilkabinetts, I. HA Rep. 89, Nr. 23501; Zur Rettung vom Scheintode, in: Erste Beilage zu den Berlinischen Nachrichten, gez. Dr. Lessing, 10.06.1839, Nr. 132, S. [3f.]. Vgl. Vorstand und Ministerium der Jerusalems- und Neuen Kirche an den Magistrat, 15. Dezember 1837, LAB, A Rep. 004, Nr. 369, Bl. 2. Leichenhaus-Kuratorium der Jerusalems- und Neuen Kirche an den Magistrat, 30. März 1846, LAB, A Rep 004, Nr. 369, Bl. 199f. Vgl. ELAB, Depositum der Jerusalems- und Neue Kirche, KKR. Berlin-Stadtmitte, Nr. 10408/192: Leichenhaus aus der Stiftung des Stadtrats Hollmann (Belle-Alliance-Str. 97),
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Teil II: Institutionen des Todes
Jahrzehnte auf die Wahrnehmung und bedingt auch den Umgang mit den Verstorbenen zu werfen, die innerhalb dieser Einrichtung Aufnahme fanden. Die Leichenhäuser konnten sich nur langsam in der Gesellschaft etablieren und es dauerte Jahre bisweilen Jahrzehnte, bis die Bevölkerung Vertrauen zu der neuen Institution im Bestattungswesen fasste.21 Die Einhaltung der festgelegten Regularien innerhalb der Leichenhäuser war nicht nur für die unmittelbar Beteiligten, wie die Mitglieder des Kuratoriums oder die Totengräber, von besonderem Interesse, sondern musste ausdrücklich auch nach außen vertrauensbildend wirken. Aufgrund der anfänglichen Zurückhaltung bei der Nutzung fallen die Einstellungszahlen für die ersten Jahre nach der Eröffnung des Leichenhauses übersichtlich aus.22
2. Listen und Texte Für die ersten Jahre kann für die besagte Einrichtung noch kein singuläres Totenbuch nachgewiesen werden, das als Verzeichnis aller aufgenommener Verstorbener diente, obgleich ein solches nicht ausgeschlossen werden kann. Vielmehr dokumentiert sich die Einstellung in den Jahren 1839 bis 1840 primär anhand einzelner Schreiben, die entweder der Küster der Gemeinde oder der Totengräber des Friedhofes, Retzdorff, an das eigens gegründete Kuratorium versandte.23 Erst Ende 1840 wurde auf Anfrage des Magistrats der Stadt Berlin eine Liste der Verstorbenen rückwirkend für die Jahre 1839/40 angefertigt.24 Hier wurden die Namen der Toten, ihr gesellschaftlicher Stand, das Datum der Beisetzung in der Einrichtung sowie der Beerdigung festgehalten, woraus geschlossen werden kann, wie lange sie jeweils im Leichenhaus aufgebahrt wurden.25 Mit dieser horizontalen Erweiterung einer rudimentären vertikalen Namensliste können die vorliegenden Aufzählungen vielfach als Tabelle definiert werden.26 Die Kombination aus den Schreiben des Totengrä-
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1865–1902; Nr. 10408/193: Leichenhaus aus der Stiftung des Stadtrats Hollmann, 1852–1864; Nr. 10408/194: Leichenhaus aus der Stiftung des Stadtrats Hollmann 1837–1851. Vgl. Kreibig: Institutionalisierter Tod, S. 355–360. So waren 1939 sechs und 1840 acht Verstorbene aufgenommen worden, vgl. Vorstand der Jerusalems- und Neuen Kirche an den Magistrat, 19. Januar 1841, LAB, A Rep. 004, Nr. 61, Bl. 107. Vgl. Küster Wilberg an den Regimentsarzt a.D. Hartmann, Prediger Brauening und Stadtrat Koblanck, 16. November 1839, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 82. Vgl. Oberbürgermeister, Bürgermeister und Rat der Stadt an den Vorstand der Jerusalemsund Neuen Kirche, 19. Dezember 1840, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 116. Vgl. Vorstand der Jerusalems- und Neuen Kirche an den Oberbürgermeister, Bürgermeister und Rat der Stadt, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 117f. Vgl. Mainberger: Kunst des Aufzählens, S. 6; Mainberger: Listen und Zeit, S. 265f.
Nina Kreibig: Von Zahlen und dem, was zählt
bers oder Küsters an das Kuratorium und der Erstellung von Listen setzte sich auch in der Folgezeit fort. So berichtete Retzdorff am 14. März 1845, dass der zwölfeinhalbjährige Friedrich Wilhelm Schmidt, Zögling des nahe gelegenen Erziehungshauses, in das Leichenhaus aufgenommen wurde,27 während die dazugehörige Einstellungsliste des Jahres 1845 den Jungen lediglich als einen von fünf Verstorbenen mit dem Einstellungsdatum, Nachnamen und dem Hinweis »Zögling« aufführt.28 Mit dem zusätzlichen Schriftverkehr, der Informationen über die Toten oder den Umstand ihrer Aufnahme lieferte, die über die bloße Zusammenstellung von Personenstandsdaten hinausgehen, zeigt sich jene korrespondierende »Wechselbeziehung« von Text und Liste, die Sabine Mainberger als Spannungsverhältnis zwischen dem »koordinierende[n] Verfahren der Aufzählung« und dem »subordinierenden [Modus] des Satzes« beschreibt.29 Aber kann in diesem Zusammenhang tatsächlich von einer Unterwerfung des Satzes gesprochen werden? Die Liste der Verstorbenen, die der Totengräber am Ende eines jeden Jahres anfertigte, war primär das Resümee jener Einzelschreiben, die er im Verlauf von zwölf Monaten an das Kuratorium versandt hatte und die durch ihre ergänzenden Informationen ein individuelleres Bild der Ereignisse und der Verstorbenen zeichneten als die spätere Liste. Im Verbund gelesen erscheint die Übersicht hier als schwacher Abguss der Mitteilungen, ihre Nüchternheit als eine Reduktion auf die relevanten Fakten. Aber die Liste ist eben kein Text, der dazu aufruft, gelesen, überdacht und hinterfragt zu werden. Ihre Form lädt vielmehr dazu ein, die dargebotenen Informationen als gegeben hinzunehmen, weder ihre Auswahl noch ihren Kontext in Frage zu stellen.30 Diese Interpretation wird auch durch eine Zusatzinformation nicht infrage gestellt, die den jährlichen Listen hintangestellt wurde und die in den Einzelschreiben nicht enthalten sein konnte. Es handelt sich hierbei um eine Rekapitulation, indem nicht allein die Verstorbenen als Gesamtzahl aufgeführt werden, sondern auch die Frage beantwortet wurde, ob Wiederbelebungsversuche im vergangenen Jahr erfolgreich umgesetzt worden waren.31 Die Nüchternheit der Liste drückt sich in mehrfacher Weise aus: Zum einen zeichnen sich die Zusammenstellungen durchweg als chronologische Reihung der
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Vgl. Totengräber Retzdorff [an das Kuratorium des Leichenhauses], 14. März 1845, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 195. Liste der Einstellungen von Verstorbenen in das Leichenhaus für 1845, gez. Retzdorff, 28. November 1846, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 214. Mainberger: Kunst des Aufzählens, S. 11; vgl. Mainberger: Listen und Zeit, S. 266f. Vgl. Mainberger: Listen und Zeit, S. 267. So konnten noch 1863 gemeldet werden, dass im Jahr 1862 in Gänze 100 Leichen eingestellt worden waren, wobei es zu Wiederbelebungsmaßnahmen »keine Veranlassung« gegeben habe (Vorstand der JNK an den Magistrat, 2. Februar 1863, LAB, A Rep. 004, Nr. 62, Bl. 287).
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aufgenommenen Leichen aus, ohne auf Standes-, Alters-, Geschlechter- oder Glaubensunterschiede näher einzugehen. Dahingehend bilden sie eine scheinbar egalitäre Behandlung der Verstorbenen innerhalb der Einrichtung ab. Dass dies keineswegs der Wirklichkeit entsprach, zeigen die Kostensätze, die für unterschiedliche Leistungen in den Berliner Anstalten erhoben wurden und die eine Distinktion im Umgang mit den Toten vermuten lassen.32 Der Eindruck einer vorgeblichen Egalität steigert sich zum anderen dadurch, dass selbst dann, wenn ein eindeutiger persönlicher Bezug der Verstorbenen zum Leichenhaus bestand, dieser in den Listen keinerlei Ausdruck fand. Dies galt im Fall der Aufnahme der verstorbenen Tochter des Predigers der Gemeinde, Johanna Henriette Friederike Braeunig, die am 8. Februar 1846 gestorben und drei Tage später in die Einrichtung eingebracht worden war. Zwar wurde von dem Küster der Parochie, Adolph Ebel, im Vorfeld der Einstellung ein Circular an die Mitglieder des Kirchenvorstandes versandt,33 letztlich fand der Name der Toten jedoch keine Hervorhebung in der eigentlichen Liste des Jahres 1846.34 Diese Form der Egalisierung kann auch im Zusammenhang mit der Unterbringung der Leiche des Predigers Braeunig selbst konstatiert werden,35 oder im Fall des Stifters des Leichenhauses Hollmann, dessen Name am 27. Mai 1858 als einer unter vielen ohne Betonung innerhalb der Liste notiert ist.36 Der Aspekt der Nivellierung von Unterschieden zeichnet Listen generell aus, auch wenn er keineswegs grundsätzlich auftreten muss.37 Am Ende eines jeden Jahres schloss die Liste des Leichenhauses durch Addition der Toten und bildete damit ein komplettes Dokument, auch wenn die Zählung am ersten Tag des neuen Jahres mit dem Aufsetzen einer neuen Übersicht wieder aufgenommen wurde. Damit kommt dem zeitlichen Aspekt Bedeutung zu, entschied der Augenblick des Todes und der Aufnahme doch zumindest darüber, mit welchen anderen Verstorbenen die jeweils Betroffenen ihre Liste zu teilen hatten.38 Die Relevanz der Zeit wurde noch dadurch intensiviert, dass zumindest in der Anfangszeit der Listenerstellung für das Leichenhaus zum Teil auch die Angaben über die
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Vgl. undatierte Zusammenstellung der Gebühren für Benutzung der Leichenhäuser, die vermutlich von einer kommunalbehördlichen Deputation am 28. Februar 1866 erstellt wurde, LAB, A Rep. 004, Nr. 63, Bl. 200–207. Vgl. Circular vom Küster der Jerusalems- und Neuen Kirche, Adolph Ebel, an den Kirchenvorstand der Gemeinde, 11. Februar 1846, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 208. Vgl. Einstellungsliste vom Jahr 1846, gez. Retzdorff, 26. Januar 1847, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 228. Vgl. unadressiertes Schreiben über die Beisetzung des Predigers Braeunig in das Leichenhaus, 22. Januar 1847, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 238. Vgl. nicht unterzeichnete Einstellungsliste vom Jahr 1858, ELAB, JNK, Nr. 10408/193, Bl. 72. Vgl. Mainberger: Kunst des Aufzählens, S. 7f. Zur Bedeutung von Raum und Zeit in den Leichenhäusern, vgl. Kreibig: Raum-Zeit-Wahrnehmung.
Nina Kreibig: Von Zahlen und dem, was zählt
Verweildauer der Toten in der Einrichtung aufgeführt wurden.39 Dies war zur Einhaltung der Beerdigungsfristen relevant, galt aber auch als absichernde Methode, einen möglichen Scheintod bis zum Eintritt der Verwesung, dem entscheidenden Todeskriterium der Zeit, ausschließen zu können. Wenn Mainberger den Wert der Zeit in Bezug auf Listen wenigstens in Relation auf ihre räumliche Relevanz in Frage stellt,40 so wird deutlich, dass im Fall der Leichenhäuser Zeit eine nicht zu unterschätzende Kategorie darstellte, die sich namentlich in den erstellten Registern manifestierte.41 Somit ist die einzelne Liste endlich, wenn auch die Zählung in einem weiteren Maßstab zu greifen ist. Sie wird so lange vorangetrieben, wie die Einrichtung existiert. Damit verweisen die Listen auf eine Unendlichkeit, von der bereits Umberto Eco sprach und diesen »Zustand« in Form einer Liste als greifbar erkannte.42 Das Verzeichnis als solches, wie es sich hier als Totenindex des Leichenhauses präsentiert, ist »unselbstständig«43 und bedarf einer Praxis des Aufschreibens – das heißt des Auswählens der Informationen, die relevant sind – und des Auswertens. Nur so kann es seinem Zweck gerecht werden.44 Dabei gehört es zu den »praktischen Listen«, die Einkaufslisten, Speisekarten oder Bibliothekskataloge umfassen, und die sich im Gegensatz zu den »künstlerischen« oder »poetischen« Listen durch einen zweckgebundenen Bezug zur äußeren Welt, eine (endliche) und eine systematische Struktur auszeichnen,45 die jener des Leichenhauses unterworfen ist. Der Kontext von Raum und Zeit wird zur bestimmenden Vorgabe für das, was die praktische Liste determiniert.46 Der genuin pragmatische Zweck, der den Einstellungsregistern unterliegt, ist das Kreieren und Erhalten einer Ordnung innerhalb des Instituts. Gleichzeitig vermag die Liste den Tod scheinbar zu neutralisieren, indem sie die Verstorbenen lediglich als Personenstandsinformationen aufzeichnet, ohne die Art und Weise des Todes festzuhalten. Dabei verliert sich die Grausamkeit des Todes und die Trauer der Angehörigen, die höchstens bei der Anzeige des Alters der Verstorbenen durchzuschimmern vermögen. Die Einstellungslisten fungieren gänzlich neutral und unbeteiligt.
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Vgl. Angaben des Totengräbers Retzdorff über die Aufnahme von Leichen für das Jahr 1841, 15. Januar 1842, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 145. Vgl. Mainberger: Listen und Zeit, S. 265. Vgl. Kreibig: Raum-Zeit-Wahrnehmung. Vgl. Eco: Unendliche Liste, S. 17. Mainberger: Kunst des Aufzählens, S. 12. Vgl. ebd. Eco: Unendliche Liste, S. 113. Vgl. ebd., S. 116.
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3. Das Zusammenspiel des Faktischen Der Totengräber, der das Verzeichnis führte, nahm jene Informationen auf, die dem Kuratorium des Leichenhauses bedeutsam erschienen. Dies erklärt auch, weshalb die Listen im Verlauf der Zeit Veränderungen erfuhren oder von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedliche Schwerpunkte setzten.47 Als Konstanten der relevanten Angaben in diesem Kontext galten der Name, wobei hier oftmals der Nachname ausreichen musste, und der gesellschaftliche Stand respektive Beruf der verstorbenen Person. Dass die Register aber keineswegs jenen nüchternen Charakter aufweisen, den sie nach außen hin anzeigten, wird anhand eines Falles aus dem Jahr 1842 erkenntlich, als es zur Aufnahme der Leiche des Grafen von Schlippenbach gekommen war, der offenbar Suizid begangen hatte. Obgleich sich in den Statuten der Anstalt keine Hinweise auf eine Ablehnung von Suizidenten finden lassen,48 eschauffierte sich Stadtrat Hollmann über ein solches Vorgehen und forderte, dass es dazu in Zukunft nicht mehr kommen dürfe. Menschen, die »frevelnd selbst Hand an sich gelegt haben«,49 so Hollmann, stünden konträr zum Rettungsgedanken des Instituts. Damit begnügte er sich aber nicht, sondern befahl darüber hinaus, den Namen des bereits eingestellten Verstorbenen aus der Liste des Leichenhauses zu löschen.50 Ohne den zusätzlichen Schriftverkehr würde diese Form einer moralisch intendierten Bereinigung der Liste nicht erkennbar sein. Zwar war es nicht möglich, den Vorgang der Einstellung rückgängig zu machen, doch konnte man die Dokumentation verschwinden lassen und so eine Form der (Un-)Sichtbarmachung betreiben.51 Die Totenlisten korrespondieren aber nicht nur mit den einzelnen Aufzeichnungen des Totengräbers, sondern sie sind in der Lage, Informationen zu liefern, die erst im Konnex von mehreren Jahren zutage treten. In einer solchen Aufsicht wird erkennbar, dass nominelle Ausnahmen innerhalb der Listenordnung ihre eigene Regularität aufweisen. Dies betrifft im Besonderen weitere unausgesprochene Gebote oder Verbote. So lassen die Listen wiederholt die Aufnahme von unehelich geborenen und zum Teil ungetauft verstorbenen Kindern erkennen. Anna Bergmann ver-
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So wurden bisweilen auch Angaben über die Todesursache gemacht, vgl. Einstellungsliste des Vorstandes der Dorotheenstädtischen Kirche an den Magistrat, 20. Februar 1849, LAB, A Rep. 004, Nr. 61, Bl. 215. Vgl. Statut für die Benutzung des Leichenhauses auf dem Begräbnißplatz der Jerusalemsund Neuen Kirche vor dem Halleschen Thore, vom Oberbürgermeister, Bürgermeister und Rat der Stadt Berlin, 5. Juni 1840, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 100–105. Stadtrat Hollmann an Stadtrat Koblanck, 8. November 1842, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 154. Die Anordnung Hollmanns dazu befindet sich in einer Randnotiz des obigen Schreibens an den Totengräber Retzdorff mit Eintrag vom 13. November, ELAB, JNK, Nr. 10408/194, Bl. 154. Vgl. dazu die Ausführungen Schwedlers zur erasio nominis als Terminus einer intendierten Auslöschung von Namen aus Schriftstücken: Schwedler: damnatio in memoria?, 13f.
Nina Kreibig: Von Zahlen und dem, was zählt
weist darauf, dass uneheliche Kinder und ihre Mütter neben Suizident*innen und Prostituierten bereits im 18. Jahrhundert oftmals der Anatomie zugeführt wurden.52 Eine solche Praxis hätte eine Aufnahme ins Leichenhaus ausgeschlossen. Die Betrachtung einer einzelnen Aufzählung hätte hierbei die Vermutung aufkommen lassen können, dass es sich um Ausnahmen handelte, ein Blick auf den zeitlichen Verlauf der Listen macht jedoch deutlich, dass dies eine wiederholt zu konstatierende Praxis darstellte, das heißt, dass es keine erwartbare Ausgrenzung unehelicher Kinder in dem Leichenhaus gab.53 Aber nicht nur gesellschaftliche Konventionen und entsprechende Distinktionen lassen sich anhand der Aktenlage ablesen.54 Erst in der Übersicht der Zusammenstellungen zeigen sich auffällige Namenshäufungen, die vermuten lassen, dass es sich dabei in einigen Fällen um familiäre Kontexte gehandelt haben muss. Bemerkenswert ist dabei, dass sich derartige Namensgleichheiten eher in den 1850erund 1860er-Jahren finden lassen. Dies legt den Schluss nahe, dass mit zunehmender Akzeptanz des Leichenhauses Familienverbunde die Einrichtung nutzten, um ihre Toten dort aufnehmen zu lassen. So berichten die Listen von 1863 bis 1865 von drei Personen mit dem Nachnamen Ostermann, die in das Leichenhaus aufgenommen wurden: 1863 eine Schuhmacherfrau, 1864 eine unverehelichte Frau und 1865 eine Schuhmachertochter.55 Zwischen 1865 und 1871 sind allein sechs Verstorbene eingestellt worden, die den Namen Möhring als Geburts- oder durch Heirat angenommenen Namen trugen, wobei in einem Fall eine mögliche Nähe postuliert werden darf: 1865 wurde die totgeborene Tochter eines Tafeldruckers mit Namen Möhring festgehalten, 1871 die Witwe eines Tafeldruckers gleichen Namens.56 In Anbetracht der Tatsache, dass es sich um eine Parochie handelte, darf ein gemeinsamer familiärer Bezug postuliert werden. Hier zeigt sich, dass die Listen derart über längere
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56
Vgl. Bergmann: Patient, S. 127. Allein die Einstellungsliste für das Jahr 1865 führt acht unehelich geborene und z.T. ungetauft verstorbene Kinder, die in das Leichenhaus aufgenommen worden waren, vgl. Nachweisung der in das Leichenhaus der Jerusalemer- und Neuen Kirche eingestellt gewesenen Leichen im Jahre 1865, gez. Dietrich, 31. Dezember 1865, ELAB, JNK, Nr. 10408/192. Vgl. Kreibig: Institutionalisierter Tod, S. 389–404. Vgl. Nachweisung für das Jahr 1863, gez. Dietrich, 31. Dezember 1863, ELAB, JNK, Nr. 10408/193, Bl. 118; Nachweisung für das Jahr 1864, gez. Dietrich, 31. Dezember 1864, ELAB, JNK, Nr. 10408/192; Nachweisung für das Jahr 1865, gez. Dietrich, 31. Dezember 1865, ELAB, JNK, Nr. 10408/192. Vgl. Nachweisung für das Jahr 1865, gez. Dietrich, 31. Dezember 1865, ELAB, JNK, Nr. 10408/192; Nachweisung für das Jahr 1866, gez. Dietrich, 31. Dezember 1866, ELAB, JNK, Nr. 10408/192; Nachweisung für das Jahr 1867, gez. Dietrich, 31. Dezember 1867, ELAB, JNK, Nr. 10408/192; Nachweisung für das Jahr 1868, gez. Dietrich, 31. Dezember 1868, ELAB, JNK, Nr. 10408/192; Nachweisung für das Jahr 1871, gez. Dietrich, 31. Dezember 1872, ELAB, JNK, Nr. 10408/192.
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Zeit gelesen, sozialhistorische Informationen transportieren, die während des Prozesses der Dokumentation nicht intendiert waren, die aber zum Selbstverständnis der Einrichtungen, insbesondere in Bezug auf einen moralischen Kodex oder gesellschaftliche Akzeptanz, aussagekräftig sind.
4. Der referenzielle Wert der Totenlisten Die Totenlisten der einzelnen Berliner Leichenhäuser hatten in erster Linie eine Bedeutung für die betroffene Gemeinde. Es handelte sich hierbei um ein Ordnungsinstrument, das sich auf die eigenen Parochie-Mitglieder erstreckte und nur bedingt über die Grenzen der Kirchengemeinde hinaus relevant war. Dies änderte sich erst, als der Berliner Magistrat, der seit Beginn der 1840er-Jahre die Einstellungszahlen aller Leichenhäuser der preußischen Hauptstadt abfragte,57 die Institute aufgrund der Daten als Erfolgsprojekte zu interpretieren begann. Bis in die 1860er-Jahre hinein hatte sich die Kommunalbehörde wenig überzeugt von der Idee der Leichenhäuser gezeigt.58 Als sich hingegen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ausrichtung der Anstalten verstärkt zum Zweck einer Seuchenprävention wandelte, nahm die Akzeptanz durch den Magistrat zu.59 In diesem Zusammenhang wurden die alljährlich im Frühjahr abgefragten und stetig steigenden Einstellungszahlen ebenso wie die Anzahl der existierenden Einrichtungen nunmehr in den Tageszeitungen nicht nur als bloßer Zahlenwert, sondern zudem in Korrelation zum vorangegangenen Jahr oder gar dem gesamten Jahrzehnt präsentiert.60 Damit gewannen die Listen unerwartet eine neue Bedeutung, dienten sie doch nun als Grundlage einer fortan als modern verstandenen Institution, deren sanitätspolizeilicher Vorteil sich in einer zunehmend intensiveren Nutzung der Einrichtungen niederschlug.61 Und dies, obgleich die Einstellungslisten als Chroniken der Leichenhäuser sowie der chronologischen Strukturierung der Verzeichnisse laut Mainberger wertneutral waren.62 Geht man von dieser Prämisse aus, so wären zwar die Einstellungslisten in der Tat vorurteilslos, ihre Interpretation der Nutzung indes keineswegs.63
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Vgl. Magistrat an die Kultusgemeinden, 19. Februar 1840, LAB, A Rep. 004, Nr. 61, Bl. 105. In den Jahrzehnten nach der Gründung des ersten Berliner Leichenhauses bekundete der Magistrat vielfach seine Ablehnung der Leichenhäuser. Dies änderte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Einrichtungen nicht länger zur Rettung von Scheintoten, sondern zur Seuchenprävention und aus hygienischen Gründen verwendet wurden, vgl. Kreibig: Institutionalisierter Tod, S. 254–258, 273f., 287, 421. Vgl. Magistrat an Ernest Gilon, 4. Oktober 1867, LAB, A Rep. 004, Nr. 63, Bl. 310–311. Vgl. Magistrat an diverse Zeitungen, 29. März 1867, LAB, A Rep. 004, Nr. 63, Bl. 271. Vgl. Kreibig: Institutionalisierter Tod, S. 343, 352, 441. Vgl. Mainberger: Listen und Zeit, S. 279. Vgl. ebd., S. 280.
Nina Kreibig: Von Zahlen und dem, was zählt
Spätestens mit diesem letzten Punkt wird deutlich, dass auch die Totenlisten der Leichenhäuser als Mittel zum Zweck verwendet und als aussagekräftige Dokumente betrachtet wurden. Sie mochten auf der Ebene der kommunalbehördlichen Belange sowie in der Öffentlichkeit anfangs aufgrund ihrer geringen Akzeptanz als Ausdruck eines gescheiterten und generell als fragwürdig angezählten Projektes interpretiert worden sein; im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlangten sie aufgrund ihrer Nutzungszahlen und unter veränderten inhaltlichen Vorzeichen einen bisweilen emphatischen Zuspruch vonseiten der Behörden. Die Namen der Verstorbenen respektive die bloßen Zahlenangaben, die auf der Basis von Listen zusammengetragen wurden, dienten einmal zur politischen Ablehnung der Einrichtungen, ein anderes Mal zur nutznießenden Affirmation. Auf dieser Ebene der Instrumentalisierung der Zusammenstellungen spielten die Verstorbenen und ihre persönlichen Schicksale, die indirekt in den Registern einen Widerhall fanden, keine Rolle. Der individuelle Bezug, der den Schreiben des Totengräbers bisweilen noch angehaftet hatte, konnte oder sollte sich in ihnen nicht niederschlagen.
5. Fazit Listen, darauf weist bereits die Einleitung zu diesem Sammelband hin, sind niemals wertneutral. Stets dienen sie einem Zweck, der sich – wie im Fall der Leichenhäuser – auch ändern kann. Hierbei machen »praktische Listen« , die als Totenregister daherkommen, keinen Unterschied. Listen von verstorbenen Menschen haben in unterschiedlichsten Kontexten eine lange Tradition. So nutzte bereits der Berliner Probst Johann Peter Süßmilch (1707–1767), als ein »Begründer der modernen Statistik und Bevölkerungstheorie«,64 das Format der Liste dazu, um in seinem 1742 erschienenen Hauptwerk Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts in mehreren Tabellen auf die Zahlen von Verstorbenen nicht allein in Preußen, sondern unter anderem auch in Wien oder London einzugehen.65 Hierbei stand noch das Verhältnis von getauften, geborenen und gestorbenen Personen im Fokus der Betrachtung. Bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden die listenartigen Darstellungen zu Tod und Sterben der Bevölkerung in Berlin komplexer und differenzierter.66 In einer solchen Tradition des Wissensmanagements können auch die Einstellungslisten der Berliner Leichenhäuser interpretiert werden. Im Gegensatz zu den allgemein gehaltenen Statistiken zu Geburten- und Sterbezahlen in einer Stadt, einer Region oder einem Land, sind die Auflistungen einer einzelnen Institution kleinteiliger. An ihnen lassen sich – so zeigt das Beispiel der Jerusalems64 65 66
Koch: Süßmilch, Johann Peter, o. S. Vgl. Süßmilch: Göttliche Ordnung, Anhang. Vgl. Biester: Jahrtabelle.
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und Neuen Kirche – zum Teil detaillierte sozialhistorische Entwicklungen vereinzelter Gemeinden oder Stadtbezirke ablesen. Die Relevanz von Institutionen bei der Bewertung gesellschaftlicher Veränderungen wird hierbei offenbar.67 Der ordnende Charakter der Einstellungslisten im Zusammenhang mit den Berliner Leichenhäusern zielte auf eine Übersicht ab, diente einer Struktur, die dem Versprechen folgte, den Tod und sein unmittelbares Auftreten beherrschen zu können, indem die Verstorbenen gemäß jenen praktischen Gesichtspunkten klassifiziert wurden, die man in alltäglichen Geschäften anwandte. Hier scheinen die Listen zu einem tendenziell harmlosen Ansinnen erstellt und genutzt worden zu sein. Anders sieht es ab jenem Zeitpunkt aus, als sie zu politischen Zwecken verwendet und damit einem Impetus untergeordnet wurden, der je nach politischer Wetterlage wechseln konnte. Anhand dieses ambivalenten Charakters der dargestellten Verzeichnisse wird eines deutlich: Die praktische Liste bleibt eine praktische Liste, auch wenn sie von verstorbenen Menschen berichtet.
Bibliografie Ungedruckte Quellen Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin (ELAB) Depositum der Jerusalems- und Neue Kirche, KKR. Berlin-Stadtmitte: Nr. 10408/192: Leichenhaus aus der Stiftung des Stadtrats Hollmann (Belle-AllianceStr. 97), 1865–1902. Nr. 10408/193: Leichenhaus aus der Stiftung des Stadtrats Hollmann, 1852–1864. Nr. 10408/194: Leichenhaus aus der Stiftung des Stadtrats Hollmann 1837–1851. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) Akten des Geheimen Zivilkabinetts, I. HA Rep. 89, Nr. 23501: Leichenbestattungswesen, Bd. 1, 1831–1899. Landesarchiv Berlin (LAB) Magistrat der Stadt Berlin, Kirchenabteilung: A Rep. 004, Nr. 61: Leichenschau, Errichtung von Leichenhäusern und Bestimmungen bei Beerdigungen, Bd. 2, 1837–1853.
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Ute Frevert wies bereits 2009 auf die Bedeutung der Untersuchung von gesellschaftlichen Institutionen für ein Verständnis »emotionale[r] Praktiken« hin (Frevert: Gefühle, S. 207).
Nina Kreibig: Von Zahlen und dem, was zählt
A Rep. 004, Nr. 62: Leichenschau, Errichtung von Leichenhäusern und Bestimmungen bei Beerdigungen, Bd. 3, 1854–1864. A Rep. 004, Nr. 63: Leichenschau, Errichtung von Leichenhäusern und Bestimmungen bei Beerdigungen, Bd. 4, 1865–1867. A Rep. 004, Nr. 369: Erbauung eines Leichenhauses auf dem Begräbnisplatz der Jerusalemskirche vor dem Halleschen Tor, 1837–1870.
Gedruckte Quellen Erstes Leichenhaus in Berlin, in: [Johann Erich] Biester (Hg.): Berlinische Monatsschrift, Bd. 23 (1794), S. 149–152. Jahrtabelle der im Kirchenjahr 1794 verstorbenen Personen nach allen Krankheiten, in: [Johann Erich] Biester (Hg.): Berlinische Monatsschrift, 24. Bd., Julius bis Dezember 1794 (1794), S. 568–570. Süßmilch, Johann Peter: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, […], Berlin 1742. Zur Rettung vom Scheintode, in: Erste Beilage zu den Berlinischen Nachrichten, gez. Dr. Lessing, 10.06.1839, Nr. 132, S. [3f.].
Literatur Bergmann, Anna: Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod, Berlin 2004. Boehlke, Hans-Kurt: Über das Aufkommen der Leichenhäuser, in: Ders. (Hg.): Wie die Alten den Tod gebildet. Wandlungen der Sepulkralkultur 1750–1850 (Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, Bd. 1), Mainz 1979, S. 135–146. Eco, Umberto: Die unendliche Liste, aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, München 2009. Frevert, Ute: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183–208. Gottschalk, Wolfgang: Alt-Berliner Begräbnisstätten. Ein Wegweiser zu ehemaligen Berliner Kirch- und Friedhöfen, Berlin 2010. Koch, Peter (Red.): Süßmilch, Johann Peter, in: Neue Deutsche Biographie 25 (2013), S. 686–687 [Online-Version], https://www.deutsche-biographie.de/pnd1188148 34.html#ndbcontent, Zugriff: 07.12.2022. Kreibig, Nina: »Fürchtet Euch nicht lebend begraben zu werden, aber sorget dafür, daß Ihr es nicht werden könnt«. Zur Raum-Zeit-Wahrnehmung des Todes in den Leichenhäusern des 19. Jahrhunderts, in: Monika Frohnapfel-Leis/Muriel Gonzaléz Athenas (Hg.): Zwischen Raum und Zeit. Zwischenräumliche Praktiken in den Kulturwissenschaften (SpatioTemporality/RaumZeitlichkeit, Bd. 14), Berlin/Boston 2022, S. 301–335.
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– Institutionalisierter Tod. Die Kultur- und Sozialgeschichte der Berliner Leichenhäuser im 19. Jahrhundert (Tod und Agency. Interdisziplinäre Studien zum Lebensende, Bd. 2), Bielefeld 2022. Mainberger, Sabine: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 22 [256]), Berlin/New York 2003. – Listen und Zeit, in: Susanne Deicher/Erik Maroko (Hg.): Die Liste. Ordnungen von Dingen und Menschen in Ägypten (Ancient Egyptian Design, Contemporary Design History and Anthropology of Design, Bd. 1), Berlin 2015, S. 263–286. Rüve, Gerlind: Scheintod. Zur kulturellen Bedeutung der Schwelle zwischen Leben und Tod um 1800, Bielefeld 2008. Schwedler, Gerald: Was heißt und zu welchem Ende untersucht man damnatio in memoria?, in: Sebastian Scholz/Gerald Schwedler/Kai-Michael Sprenger (Hg.): Damnatio in Memoria. Deformation und Gegenkonstruktion in der Geschichte (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 4), Köln/Weimar/Wien 2014, S. 9–23. Stein, Marion Ursula: Das Leichenhaus. Zur Entwicklung einer Sepulkralarchitektur in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Marburg/Lahn 1992.
Unfalltote und Unfallstatistik im Deutschen Kaiserreich Verwaltungspraxis, Verwissenschaftlichung und Politisierung Sebastian Knoll-Jung
Durch einen Arbeitsunfall getötet zu werden, bedeutete im Kaiserreich, anonym zu sterben. Bei Massenunglücken nannten die Berichte lediglich die Zahl der Todesopfer, ohne auf deren einzelne Namen oder Schicksale einzugehen. Selbst bei einem Unglück ohne weitere Opfer rückte das Einzelschicksal nur selten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Was blieb, war eine Zahl in der Unfallstatistik. Dabei erfolgte die systematische Erfassung der »Opfer der Arbeit«, wie die sozialdemokratische Presse diese häufig nannte, im deutschen Kaiserreich zunächst noch sporadisch und lückenhaft. Im Gesetzgebungsprozess der frühen 1880er-Jahren nahm die Bedeutung der Unfallstatistik zu. Sie wurde durch die Einführung des Unfallversicherungsgesetzes von 1884 ein fester Bestandteil der Verwaltungsaufgaben. Auch dieser Beitrag widmet sich nicht den individuellen Schicksalen der Arbeitsunfallopfer, sondern explizit dem statistischen Material zu Arbeitsunfällen und darin dem Umgang mit Unfalltoten. Welche Rolle kam den Zahlenwerken zu? Wer erstellte die Statistiken? Und welche strategische oder ganz praktische Absicht motivierte hierzu? Dieser Beitrag klärt zunächst die Entwicklung der Unfallstatistik im Kaiserreich, die hier als Sammelbegriff verschiedener Erhebungen zu verstehen ist, und fragt dabei nach den Akteuren und deren Umgang mit der Statistik sowie den daraus hervorgehenden gesellschaftlichen Dynamiken und Prozessen, um so zu einer Gesamtbewertung zu gelangen.
1. Frühe Unfallstatistiken im Kaiserreich Für das Verwaltungswesen des Kaiserreichs gewannen Statistiken im Allgemeinen an Bedeutung. Exemplarisch für deren Relevanz steht die Gründung des Kaiserlichen Statistischen Amtes 1872.1 Auch wenn es noch keine flächendeckende Erfas-
1
Vgl. Kaiserliches Statistisches Amt: Statistik des Deutschen Reichs.
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sung der Unfallopfer gab, fanden doch einige Aktivitäten auf diesem Gebiet statt. Im Zusammenhang mit der sozialen Frage fiel immer wieder das Schlagwort der »Arbeiterstatistik«, deren Ziel es war, die Probleme der proletarischen Schichten zu beschreiben und zu beheben. Ein Bestandteil der Statistiken war die Erfassung der Arbeitsunfälle und ihrer Opfer. Unterschiedliche Akteure hatten schon vor Einführung der Unfallversicherung 1884 für Datenmaterial und veröffentlichte Unfallstatistiken gesorgt: Für Preußen etwa existierte eine allgemeine Unfallstatistik, die jedoch noch nicht explizit gewerbliche Unfälle kennzeichnete und als relativ unzuverlässig galt.2 Im preußischen Bergbau wurden seit einem Erlass des Berggesetzes von 1865 zumindest schon die schweren Verletzungen und tödlichen Unfälle erfasst. Sie mussten bei den Revierbeamten angezeigt werden.3 Sonderstatistiken wurden zudem zu den berüchtigten Dampfkessel-Explosionen erhoben, die als Inbegriff der Gefahren der Industrialisierung galten.4 Ein besonderes Augenmerk kam diesen zu, weil sie auch außerhalb der Fabrikmauern wahrgenommen wurden und Schaden anrichteten. Für die übrigen Gewerbezweige gab es lokal begrenzte, unregelmäßige und lückenhafte Erfassungen von Unfällen. So finden sich in den Jahresberichten der Fabrikinspektoren in den 1870er-Jahren bereits Erhebungen zu Unfallverletzten und -toten. Besondere Einblicke bieten die Jahresberichte, deren Veröffentlichung Theodor Lohmann, Referent im preußischen Handelsministerium, ab 1874 vorantrieb. Bei diesen Publikationen handelte es sich nicht um nüchterne standardisierte Berichte, sondern um tiefgehende Einblicke in Arbeits- und Lebenssituationen. Die Fabrikinspektoren beschrieben darin, gestützt auf Erfahrungen und eigenen Erhebungen, die gefährlichen Arbeitsbedingungen in Bezug auf Unfälle und Berufskrankheiten. Dabei fokussierten sie auf bestimmte Gewerbe oder Beschäftigtengruppen wie Frauen oder Lehrlinge oder auch soziale Aspekte wie Wohnbedingungen. Sie versuchten, Lösungsansätze wie Schutzvorrichtungen und -maßnahmen ins Gespräch zu bringen. Die Berichte wurden breit rezipiert und »lieferten Politikern und Journalisten jeglicher politischen Couleur quasi amtliches Material über die Zustände in den Fabriken, das man gerne und ausgiebig auswertete«.5 Auch Unfallstatistiken waren fester Bestandteil des Berichtswesens. Ein Beispiel für eine umfassende Statistik zu Arbeitsunfällen und Unfalltoten lieferte 1876 der preußische Fabrikinspektor für den Regierungsbezirk Breslau. Die Zahlen waren dem Jahresbericht in einem ausfaltbaren Bogen beigelegt. Nebenstehend abgebildet ist eine Zusammenstellung für die Provinz Hannover, ebenfalls von 1876. Leicht
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Vgl. Bödiker: Unfallstatistik, S. 9; Mucke: Verunglückungen, S. 3–5. Vgl. o.V.: Allgemeines Berggesetz, S. 45. Vgl. o.V.: Dampfkessel-Explosionen. Ayaß: Quellensammlung, 1. Abt., Bd. 3, S. XXXI.
Sebastian Knoll-Jung: Unfalltote und Unfallstatistik im Deutschen Kaiserreich
zu erkennen, bekam die Kategorie des »tödtlichen Erfolgs« hier mehr Raum und eine zentrale Stellung. Sie strukturierte die Tabelle (siehe Tab. 1).
Tab. 1: Ursachen der Unfälle.
Quelle: Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten: Jahres-Berichte, S. 188, aus: Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten (Hg.): Jahres-Berichte der Fabriken-Inspektoren für das Jahr 1877, Berlin 1878.
Hintergrund für die Erhebung der Unfallzahlen war der Paragraf 107 der Gewerbeordnung von 1869, der Gewerbetreibende dazu verpflichtete, auf eigene Kosten »alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Betriebsstätte zu thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit nothwendig sind«.6 Diese gesetzliche Regelung findet sich im Übrigen in einem Teil der Gewerbeordnung – betitelt: »Gewerbegehülfen, Gesellen, Lehrlinge, Fabrikarbeiter«7 –, welche einleitend die freie Übereinkunft der Gewerbetreibenden mit ihren genannten Angestelltengruppen betont. Dies erklärt wohl auch die recht offen gehaltene Verpflichtung zum Gesundheitsschutz. Damit diese noch sehr vage formulierte Anforderung eine Basis zu konkreten Handlungen der eingesetzten Fabrikinspektoren nach sich ziehen konnte, also vor 6 7
Norddeutscher Bund: Bundes-Gesetzblatt, S. 270. Ebd.
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allem zur Feststellung der Gefahrenquellen, kam es zur Erfassung des Arbeitsunfallgeschehens. Ein Runderlass des preußischen Handelsministers Dr. Heinrich Achenbach vom 30. Juni 1873 initiierte diese mit folgender Begründung: »Für die weiteren Fortschritte in der Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen muß zunächst eine feste Grundlage durch fortlaufende Ermittlung der tatsächlichen Verhältnisse gewonnen werden.«8 Dazu wurden die preußischen Regierungsbezirke veranlasst, eine jährliche Übersicht über alle Unfälle mit einer Arbeitsunfähigkeit von mindestens acht Tagen zu erstellen. Gemeldet werden sollten diese von den Ortspolizeibehörden in den Bezirken.9 Da diese Regelung zu großen Verzögerungen führte, wurden die Ortspolizeibehörden 1876 mittels einer Zirkular-Verfügung angewiesen, Unfälle unmittelbar nach Eintritt mittels Meldekarten an die Regierungen der Bezirke zu übermitteln. In der praktischen Umsetzung erwies sich dieses Verfahren jedoch als unzureichend. Die Meldungen blieben unvollständig und fehlerhaft. Eine Ministerial-Verfügung sorgte 1876 dafür, dass die bei der Regierung gesammelten Meldungen den Fabrikinspektoren mitgeteilt werden sollten. Dies umfasste zunächst lediglich jährliche Zusammenstellungen.10 Der Fabrikinspektor für Hannover bemängelte diese Vorgehensweise im Jahresbericht ganz offen: »Leider haben die bloßen statistischen Zusammenstellungen, selbst wenn sie absolut richtig wären, für den Fabriken-Inspektor wenig Nutzen. An Unglücksfällen soll er lernen, worauf er sein Augenmerk [zu] richten hat, um deren Wiederholung soviel wie möglich zu verhüten, nicht allein in den betreffenden Werken, sondern in allen ähnlichen Anlagen der ganzen Provinz. Hierzu ist jedoch erforderlich daß der Fabriken-Inspektor möglichst schnell nach dem geschehenen Unfalle den Ort der That besichtigt.«11 Daher suchten manche der Fabrikinspektoren den direkten Weg und sorgten dafür, dass sie »zur schnellen Orientierung« eine Ausführung der Meldekarten von den Polizeibehörden unmittelbar zugesandt bekamen.12 Sie konnten, da die Meldekarten die betroffenen Unternehmen und Unfallursachen beinhalteten, konkrete Präventivmaßnahmen ableiten und auf lokale Bedingungen angepasste Schutzmaßnahmen ergreifen. So etwa in Oppeln, wo der entsprechende Beamte die Meldepflicht mit Nachdruck bewarb. Er habe »vielfach Gelegenheit gehabt, die Herstellung vorbeugender Schutzmaßregeln zur Verhütung von Unfällen in ähnlichen Anlagen herbeizuführen«.13 8 9 10 11 12 13
Ayaß: Quellensammlung, 1. Abt., Bd. 3, S. 177. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 187. Ebd., S. 188. Ebd., S. 295. Ebd., S. 143f.
Sebastian Knoll-Jung: Unfalltote und Unfallstatistik im Deutschen Kaiserreich
Dieses Übergehen des langwierigen Behördenwegs und das Fehlen geregelter Verfahrensweisen eröffnete Handlungsspielräume, die von Region zu Region und individuell unterschiedlich genutzt wurden, um Akzente auf dem Feld des Arbeiterschutzes zu setzen.14 In ihren jährlichen Berichten sprachen sich die Fabrikinspektoren für eine umfassende Meldepflicht und eine zentrale Unfallstatistik aus. Der präventive Nutzen dieser Maßnahmen lag auf der Hand. Stellenwert und praktischen Nutzen der statistischen Erfassung von Arbeitsunfällen belegen auch das Einsetzen einer praxisnahen Verwissenschaftlichung sozialer Zusammenhänge der Arbeitswelt.15 Deren Umsetzung erfolgte wiederum hauptsächlich durch die Fabrikinspektoren. Ohne gesetzliche Grundlage, auf Eigeninitiative, stellten sie Statistiken zusammen und führten Rechenoperationen damit aus. Für den Regierungsbezirk Frankfurt/Oder erstellte der zuständige Beamte 1877 etwa einen Branchenvergleich und beschrieb ihn wie folgt: »Der Grad ihrer Gefährlichkeit lässt sich bestimmen nach dem Verhältnis ihrer Unfälle zu ihrer Arbeiterzahl [,] d.h. die Mühlen-Industrie ist 15 mal so gefährlich wie die Textilindustrie und 3 mal so gefährlich wie die Landwirthschaft, oder die Gefahr […] bei diesen 3 Industrien verhält sich zueinander: […] Textil: Landwirthschaft: Mühlen = 1:5:15.«16 Zwar bemerkte der Verfasser kritisch, dass ein längerer Zeitraum und ein »ausgedehnter Kreis der Beobachtung« nötig sei, um »brauchbare Durchschnittszahlen zu erlangen«. Dennoch sah er schon auf Basis seines Zahlenmaterials die bestehenden Gefahrenklassen der damaligen privatwirtschaftlichen Unfallversicherungsgesellschaften als falsch an.17 Als wichtig merkte er jedoch an, dass die Statistik Fingerzeige gebe, »welche Beschäftigungen, welche Maschinen und Maschinentheile die gefährlichsten und wo die Anbringung von Schutzmitteln am nothwendigste sein wird«.18 Unfallverletze und -tote dienten als mahnende Beispiele, aus denen die Fabrikinspektoren konkrete Verbesserungen des Arbeitsschutzes ableiteten. In deren Logik wurden die Opfer in positivem Sinne funktionalisiert, um Missstände zu erkennen und möglichst zu beheben. Die Beamten handelten dabei weitgehend auf eigene Initiative im Rahmen der ihnen offenstehenden Handlungsspielräume. Die erfassten und statistisch aufgearbeiteten Unfallmeldungen bildeten die Grundlage hierzu. Die Ableitung von präventiven Schutzmaßnahmen erfolgte dabei weniger 14 15 16 17 18
Hierbei handelt es sich um den zeitgenössisch verwendeten Begriff. Zu dessen Definition und Genese vgl. Knoll-Jung: Schlachtfeld, S. 93–97. Vgl. Raphael: Verwissenschaftlichung. Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten: Jahres-Berichte 1877, S. 64f. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66.
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auf Grundlage wissenschaftlich fundierter Methoden als vielmehr intuitiv. Es fehlte noch weitgehend an sicherheitstechnischem Bewusstsein und entsprechenden Ausbildungen, auch wenn es schon umfangreiche Fachliteratur zu Schutzvorrichtungen gab.19 Ingenieure achteten bei ihren Konstruktionen noch nicht selbstverständlich auf den Unfallschutz. Erst viel später setzte sich ein Verständnis hierfür durch, welches sich etwa an der langen Debatte bis zur Einführung eines Maschinenschutzgesetzes ablesen lässt.20 Als größtes Hindernis einer zuverlässigen Unfallstatistik erkannten und benannten die Fabrikinspektoren, dass eine gesetzliche Anzeigepflicht durch die Unternehmerseite fehle. Hier bestand eine große Unzuverlässigkeit. Der Fabrikinspektor aus Hannover konstatierte etwa, dass in kleineren Städten und Orten, »wo jeder jeden kennt«, weit mehr Meldungen erfolgten als aus abgelegenen Werken und aus Großstädten. Als Abhilfe gegen dieses »Vertuschen« hielt er eine gesetzliche Meldepflicht für notwendig.21 Als Motive der Unternehmer wurden Geheimnistuerei, Misstrauen, Angst vor Strafen und gerichtlicher Bestrafung genannt.22 Der bereits erwähnte Theodor Lohmann vom preußischen Handelsministerium engagierte sich hier. Es entstanden ab 1876 einige progressive Reformpläne, darunter eine Revision der Gewerbeordnung mit Einführung einer Meldepflicht, die es wegen der ablehnenden Haltung Bismarcks zu präventivem Arbeiterschutz nicht zur Gesetzesvorlage schaffte.23 Auch ein Verweis des Handelsministers auf das Bestehen von Meldepflichten in England und der Schweiz half nicht weiter.24 Weitere Versuche einer Einführung eines Unfallmeldegesetzes beziehungsweise eines Unfallanzeigegesetzes seit Februar 1879 scheiterten am Widerstand Bismarcks.25 Im Übrigen wird dessen fundamentale Ablehnung von Maßnahmen zum Arbeiterschutz in der Forschung unmittelbar auf das Handeln eines konkreten Fabrikinspektors zurückgeführt. Der Beamte für Pommern, Robert Hertel, hatte in zwei kleinen Papierfabriken im Besitz Bismarcks in Varzin mehrfach Sicherheitsmängel beanstandet. Seitdem verfolgte der Reichskanzler dessen Wirken kritisch und lehnte als Konsequenz, jedwede Ausdehnung des Arbeiterschutzes im Kaiserreich ab.26 Dies zeugt von der Handlungsmacht der Fabrikinspektoren, von denen zumindest einige die wenigen Paragrafen zum Arbeiterschutz mit Leben füllten und ihre Spielräume nutzten.
19 20 21 22 23 24 25 26
Eines der frühen Werke ist: Pütsch: Sicherung. Vgl. Weber: Technik, S. 123–134; Poser: Museum, S. 12. Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten: Jahrbuch-Berichte 1877, S. 188. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. Ayaß: Quellensammlung, 1. Abt., Bd. 3, S. XXII. Vgl. ebd., S. 550. Vgl. ebd., S. 688. Vgl. Ayaß: Bismarck; Ayaß: Quellensammlung, 1. Abt., Bd. 3, S. 450–452; Machtan: Kreissägen.
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Die Fabrikinspektoren in Preußen waren drei Ministerien unterstellt: dem Ministerium für Handel, dem für Unterrichtsangelegenheiten und dem für Inneres. Die Aufgabe dieser Behörden bestand vor allem darin, die dann zu überwachenden Zirkularverfügungen zu erlassen. Eine führende Rolle übernahm das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, das auch ein eigenes Ressort für die Fabrikinspektion bildete.27 Die berufliche Herkunft der Fabrikinspektoren lag vor allem in technischen Berufen, sie rekrutierten sich aus Baubeamten, Bergassessoren, Ingenieuren und Chemikern.28 Dieser Akteursgruppe kommt auf dem Feld des Arbeitsschutzes große praktische Bedeutung zu, auch wenn die Gesetzgebung weitgehend stagnierte. Von der älteren Forschung blieb dies weitgehend übersehen, weil sie sich in ihrer Bewertung auf die Person und Position Bismarcks konzentrierte. Verschiedene Akteure verfolgten unterschiedliche Absichten mit der Unfallstatistik und agierten mit eigenen Handlungslogiken: Unternehmer hatten kaum Interesse an einer Erfassung der Unfälle; sie vermieden Meldungen aus Angst vor Strafen. Bei den Ortspolizeibehörden fehlten oft Kenntnis und Verständnis und als treibende Kraft engagierten sich vor allem die Fabrikinspektoren. Notwendigkeit und Durchsetzung von Unfallmeldungen gelangten so auf das Tableau staatlicher Akteure mit Gesetzgebungsbefugnissen. Auch wenn diese nicht am präventivfeindlichem Gatekeeper Bismarck vorbeikamen, legten sie doch eine Grundlage für das Unfallversicherungsgesetz.
2. Der Weg zum Unfallversicherungsgesetz Der Unfallstatistik kam im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsprozesses zur Unfallversicherung eine tragende Rolle zu. Hintergrund war die unzureichende Gesetzeslage der Entschädigung der Unfallopfer. Das Haftpflichtgesetz von 1871 ermöglichte, dass Unfallopfer nur dann eine Entschädigung erhielten, wenn diese auf dem Prozessweg dem Unternehmer eine Schuld am Unfall nachweisen konnten. Dies war oft nicht möglich, weil Unfallursachen schwer feststellbar waren oder die Betroffenen juristische Auseinandersetzungen scheuten. So blieb ein Großteil der Unfallopfer der Armenfürsorge überlassen. Die Mängel des Gesetzes sorgten damit für hohen Reformdruck.29 Um diese Situation erfassen zu können und darauf basierend Reformvorhaben anzustoßen, musste belastbares Zahlenmaterial generiert werden. Eine Denkschrift zur Revision des Haftpflichtgesetzes, die 1878 im Handelsministerium 27 28 29
Vgl. Buck-Heilig: Gewerbeaufsicht, S. 293. Vgl. ebd., S. 174–199; außerdem zum Personal in Preußen: Karl: Fabrikinspektoren. Vgl. Knoll-Jung: Schlachtfeld, S. 52–56.
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zirkulierte, empfahl, die statistischen Verhältnisse näher festzustellen.30 Der Entwurf für ein Unfallanzeigegesetz von 1879 sollte explizit dazu dienen, brauchbares Material für eine Haftpflichtrevision zu liefern.31 Auch eine Grundlage für eine vollständige allgemeine Unfallstatistik wurde in der Behörde diskutiert, unter anderem mit Ernst Engel, dem Direktor des Preußischen Statistischen Büros.32 Das Gesetzesvorhaben wurde auf Erlass Bismarcks 1880 allerdings angehalten.33 Tenor blieb dennoch, dass eine genaue Unfallstatistik Voraussetzung für eine Unfallversicherung sei.34 In den Vorarbeiten zum Unfallversicherungsgesetz ergaben sich immer wieder konkrete Fragen, zu welchen statistisches Material zu Arbeitsunfällen herangezogen wurde. So wurde von 1880 an bei der Berechnung von Prämien und Gefahrentarifen auf die Zahlen der privaten Versicherungsbranche zurückgegriffen. Bei diesem privatwirtschaftlichen Anbieter hatten sich Unternehmen gegen Zahlungen aufgrund des Haftpflichtgesetzes versichert.35 Schließlich mündeten die Bemühungen in der Erstellung einer temporären Unfallstatistik für das gesamte Reich. Ein ausgiebigeres statistisches Material wurde für die Berechnung der Prämien als notwendig erachtet.36 Ein vom Reichskanzler selbst verfasstes Rundschreiben vom 11. Juli 1881 initiierte die Erhebung der Unfallstatistik. Um eine möglichst vollständige Beteiligung der Unternehmen zu erreichen, wurden auch die Unternehmerverbände aufgefordert, auf eine Teilnahme ihrer Mitglieder hinzuwirken. In der praktischen Durchführung wurden sogar die Polizeibehörden instruiert, die Listen einzusammeln und dabei auf die Richtigkeit der Angaben zu achten.37 Eine Erhebung fand über vier Monate von August bis November 1881 statt. Sie schloss alle Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten ein sowie unabhängig davon alle Mühlen, Steinbrüche, Gruben und die mit Dampfkraft arbeitenden Betriebe.38 Auf einem Formular zu verzeichnen waren Zahl und Folge der Unfälle sowie Geschlecht und Altersklasse der Verunfallten. Die Ergebnisse dieser Enquete arbeitete Tonio Bödiker, der spätere Präsident des Reichsversicherungsamts, der obersten Behörde und Spruchinstanz der Sozialversicherung, im Auftrag des Reichsamts des Innern auf. In einem Beiheft zu den Monatsheften zur Statistik des Deutschen Reichs wur-
30 31 32 33 34 35 36 37 38
Vgl. Tennstedt/Winter: Quellensammlung, 1. Abt., Bd. 2, S. 62. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 94–99. Vgl. ebd., S. 149–152. Vgl. ebd., S. 393. Vgl. ebd., S. 100–104. Vgl. Tennstedt/Winter: Quellensammlung, 2. Abt., Bd. 2, T. 1, S. 13. Vgl. Bödiker: Unfallstatistik, S. 4–7. Vgl. Tennstedt/Winter: Quellensammlung, 2. Abt., Bd. 2, T. 1, S. 14.
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de die Aufgabe, »deren Lösung durch die so eingeleitete Statistik herbeigeführt oder vorbereitet werden sollte«,39 zusammengefasst: »1. die Gewinnung eines zuverlässigen Materials in Betreff der Zahl der Unfälle und ihrer Folgen: Tod, Invalidität, vorübergehende Erwerbsunfähigkeit, sowie in Betreff des Alters der beschäftigten Arbeiter; 2. die Gewinnung eines Einblicks in das Gefahrenverhältnis der verschiedenen Betriebe zu einander; 3. die Berechnung der aus der Unfallversicherung resultierenden Belastung der Betriebe bezw. des Reichs; 4. die Ermittlung des Umfangs, welchen die Unfallversicherung schon jetzt gewonnen hat, und, soweit möglich, die Beantwortung der Frage, ob die Versicherung gegen einen nachweisbaren Einfluss auf die Zahl der zur Anmeldung gelangenden Unfälle ausübt.«40 In der folgenden Argumentation aus der Unfallstatistik heraus standen an erster Stelle die »Unfälle mit tödtlichem Ausgang«. In der Erhebung betraf dies von 1.957.548 Arbeiterinnen und Arbeitern in vier Monaten 651 männliche Arbeiter und 11 weibliche Arbeiterinnen. In einer weiteren Rechenoperation wurden diese dann auf das ganze Jahr hochgerechnet, also mit 3 multipliziert. Mit Methoden der Wahrscheinlichkeitsberechnung wurde zudem folgendes Ergebnis präsentiert: Man könne »999 gegen 1 wetten, dass künftige Beobachtungen auf 100.000 Personen 105 bis 137 tödtliche Unfälle und 85 bis 113 Invaliditätsfälle in Folge von Verunglückung ergeben werden«.41 Das Zahlenmaterial diente der Bildung von Gefahrenklassen zur Einordnung der Betriebe, aber auch der zu erwartenden Entschädigungsleistungen. Bei dieser Berechnung ergab sich ebenfalls, dass ein Invaliditätsfall dreimal mehr Kosten verursachen würde als ein tödlicher Unfall.42 Die hier gewonnenen Erkenntnisse trugen wesentlich zur weiteren Ausgestaltung des Unfallversicherungsgesetzes bei. Davon zeugt auch ein Bericht des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher an Bismarck aus dem Jahr 1882, in welchem die Zahlen der Erhebung zentraler Bestandteil sind.43 Einblicke über die statistische Verteilung der Unfallfolgen, unterteilt in »Tod«, »Invalidität« und »vorübergehende Erwerbsunfähigkeit«, 39 40 41 42 43
Bödiker: Unfallstatistik, S. 7. Ebd. Ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Tennstedt/Winter: Quellensammlung, 2. Abt., Bd. 2, T. 1, S. 183–194.
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bildeten eine wichtige Grundlage für die Berechnung der Kosten. Die Statistik ließ zudem Schlüsse über Unfallrisiken verschiedener Betriebsarten zu, aus denen sich ein Ordnungssystem für deren unterschiedliche Belastung bilden ließ. Die Ergebnisse waren ein Argument für die Bildung korporativer Versicherungsverbände als Träger der Unfallversicherung.44 Die Bedeutung, die Unfallstatistiken im Entwicklungsprozess einnahmen, belegt auch die intensive wissenschaftliche Diskussion darum, dokumentiert etwa durch eine umfangreiche Publikation des Statistikers Johann Richard Mucke, der auf die Mängel der preußischen Unfallstatistik hinwies.45 Im langwierigen Gesetzgebungsverfahren zum Unfallversicherungsgesetz von 1884 wurde die Unfallstatistik also in erster Linie als praktischer Leitfaden verwendet. Grundsätzlich lieferte sie die Argumentationsgrundlage für die Notwendigkeit des Gesetzes, vor allem aber eine umfassende Datenbasis für die Berechnung von Gefahrenklassen und Entschädigungssätzen, die wesentlich zur inhaltlichen Ausgestaltung der Verfahrensweisen dienten und nicht zuletzt bot es Ansatzpunkte für politische Debatten um die soziale Frage und die Unfallproblematik im Besonderen. Konkrete Präventivmaßnahmen wurden aus der Statistik indes noch nicht abgeleitet. Die Unfallversicherung etablierte nach ihrer Einführung erst schrittweise ein System, zunächst basierend auf den Unfallverhütungsvorschriften.46 Die erhobenen und veröffentlichten Zahlen bildeten so einerseits die Berechnungsgrundlage im Gesetzgebungsverfahren, boten aber andererseits auch einen Angriffspunkt als Spiegel der harten Arbeitsbedingungen und Gesundheitsgefahren vieler Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese doppelte Rolle sollte der Unfallstatistik auch nach der Einführung des Unfallversicherungsgesetzes zukommen. In dieser mehrfachen Rolle zeigt sich die zentrale Bedeutung als Baustein der Sozialversicherungsgesetzgebung und als sozialpolitisches (Mess-)Instrument. In der Sozialversicherungsgeschichtsschreibung findet dieser Einfluss allerdings bisher nur wenig Beachtung.
3. Unfallstatistik unter dem Unfallversicherungsgesetz von 1884 Wohl auch aufgrund der Erfahrungen mit der Unfallstatistik im Entstehungsprozess wurde nach Einführung der Unfallversicherung von Beginn an eine umfangreiche Statistik zu Unfällen und Entschädigungsleistungen veröffentlicht. Federführend dafür war das Reichsversicherungsamt, die oberste Spruchinstanz der So-
44 45 46
Ebd., S. 184f. Vgl. Mucke: Verunglückungen. Vgl. Knoll-Jung: Schlachtfeld, S. 173–185; Knoll-Jung: Maschinenschutz.
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zialversicherung.47 Laut Gesetzestext sollte dieses alljährlich Rechnungsergebnisse vorlegen.48 Zu diesem Zweck wurden in den Amtlichen Nachrichten des Reichsversicherungs-Amts die »Nachweisungen der gesamten Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften«, also jener branchenmäßig organisierten Selbstverwaltungsorgane der Unternehmen, die als Träger der Unfallversicherung fungierten, abgedruckt. Die erste Rechnungsperiode bildete das vierte Quartal 1885, das erste vollständig erfasste Jahr ist 1886. Das Zahlenmaterial hatte jeweils einen Umfang von zunächst 150 und ab der Jahrhundertwende dann 200 Seiten. Entgegen dem Titel handelte es sich nicht nur um Geschäftsbilanzen, sondern um eine umfassende statistische Übersicht der Tätigkeit der Berufsgenossenschaften, die neben Ausgaben für Renten, Unfallverhütung und Verwaltung sowie der Einnahmen auch detailliert die Unfallarten und Unfallfolgen auf Basis der erstatteten Unfallanzeigen auflistete. Aus diesen Daten lassen sich auch über die Unfallentwicklung hinaus Veränderungen der wirtschaftlichen, technischen und politischen Rahmenbedingungen ablesen, wie fortschreitende Industrialisierung, technische Innovationen, zunehmende Mechanisierung, Elektrifizierung und Rationalisierung. Die Aufteilung der Berufsgenossenschaften ermöglicht zudem Vergleichsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Branchen. Die Unfallstatistik brachte auch einige Schwächen mit sich. Die Zahl der gemeldeten Unfälle wies Unschärfen auf, da einige Unternehmen der Meldepflicht trotz Strafandrohung nicht nachkamen. Zudem führten lange Entschädigungsverfahren zu Verzerrungen, weil Unfälle erst dann gezählt wurden, sobald Entschädigungen gezahlt wurden.49 Verbesserungen wurden etwa in Form der Vollarbeiterrechnung eingeführt. Um den Faktor Arbeitszeit, insbesondere die unterschiedlichen saisonalen Arbeitszeiten mancher Branchen, wie dem Baugewerbe, gegenüber ganzjährig betriebenen Gewerben in der Statistik zu berücksichtigen, ging man ab 1903 dazu über, mit sogenannten »Vollarbeitern« zu rechnen, für welche 300 Arbeitstage oder Schichten angenommen wurden.50 Gerade die tödlichen Unfälle bildeten einen verlässlichen Indikator der Unfallentwicklung, wenn auch zu berücksichtigen ist, dass Massenunglücke, wie etwa die Bergbaukatastrophe von Radbod 1908 mit 350 Toten, für große Ausschläge sorgten.51 Zu den jährlichen Rechnungsergebnissen veröffentlichte das Reichsversicherungsamt zudem 1887, 1897 und 1907 Sondererhebungen, die sich unter anderem dem Gesichtspunkt der Schuldfrage widmeten. In der Weimarer Republik nahm die detaillierte Berichterstattung und die Vergleichbarkeit der Zahlen ab. Zum einen sorgte die Verkleinerung des Reichsgebiets
47 48 49 50 51
Zu dieser Behörde vgl. Tennstedt: Reichsversicherungsamt. Vgl. § 77 des Unfallversicherungsgesetzes. RGBl. 1884, Berlin 1885, S. 99. Vgl. Ottow: Untersuchung, S. 16. Amtliche Nachrichten 1902, S. 8. Vgl. Trischler: Arbeitsunfälle, S. 112.
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zur Auflösung einiger Berufsgenossenschaften und die Inflation zu teilweisen Lücken für die Jahre 1922 und 1923, zum anderen gab es nach einer Gesetzesreform von 1925, die nun auch Berufskrankheiten und Wegeunfälle in die Unfallversicherung miteinschloss, einen neuen Erhebungsbogen. Einher ging diese Ausweitung des Leistungsspektrums mit einer Einschränkung der transparenten Datenveröffentlichung, die erst in der Bundesrepublik teilweise wieder zurückgenommen wurde.52 Trotz einiger Unschärfen stellte die veröffentlichte Unfallstatistik des Kaiserreichs eine hohe Transparenz her und ermöglichte nicht nur versicherungsmathematische und statistische Arbeiten der Wissenschaft, sondern auch die öffentliche Diskussion der Daten. Die Veröffentlichungspraxis stellte dabei weit mehr als nur eine bürokratische Pflicht dar. Das relativ unabhängige Reichsversicherungsamt füllte die Aufgabe der Veröffentlichung der Rechnungsergebnisse in eigensinniger Weise mit Leben, indem sie hohe Transparenz und eine ausführliche Gründlichkeit als Maßstab anlegte. So führte die Publikation auch zu Handlungsdruck für das Aufgabenfeld Unfallverhütung und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen.53 An der Entwicklung der Unfallstatistik im Kaiserreich lassen sich drei wesentliche Dynamiken festmachen:
a.) Unfallstatistik in der Verwaltungspraxis Sowohl die unfallstatistischen Erhebungen vor Einführung der Unfallversicherung als auch die ausführlichen Veröffentlichungen danach waren primäre Bestandteile staatlicher Verwaltungspraktiken. Im Verwaltungskontext diente die Unfallstatistik, wie aufgezeigt, vor Einführung der Unfallversicherung vor allem als Argumentations- und Berechnungsgrundlage. Den staatlichen Akteuren diente sie vornehmlich zum praktischen Einsatz für ganz konkrete Zwecke, etwa der Umsetzung präventiver Maßnahmen oder als Material für Gesetzesarbeit. Nach 1884 wurde die Unfallstatistik zu einer verstetigten administrativen Aufgabe. Erfassung und statistische Bearbeitung erfolgten in beiden Kontexten mit großer Gründlichkeit und die vorgenommenen Rechenoperationen und Präsentationsformen zeugen von einem innovativen Umgang mit den Zahlen. Dass dabei das Wissen um die Bedeutung einer vollumfänglichen Erfassung der Arbeitsunfälle erhalten blieb, lag auch an Toni Bödiker, der sowohl die Zahlen von 1881 aufarbeitete als auch an den Gesetzentwürfen beteiligt war. Gerade die transparente und schonungslose Veröffentlichung stellte mehr als einen Verwaltungsakt
52 53
Vgl. Knoll-Jung: Schlachtfeld, S. 331f. Zur Entwicklung der Unfallverhütung im Kaiserreich vgl. ebd., S. 165–185; Guinnane/Streb: Incentives. Für die weitere Entwicklung vgl. Knoll-Jung: Maschinenschutz.
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dar: In Umfang und Detailtreue wurde die Unfallstatistik zu einer sozialen Berichterstattung in der Tradition der sozialreformerischen Publikationen, etwa des Vereins für Socialpolitik. Im Vergleich zu diesen konnten sie als »eigenes« staatliches Erzeugnis ihre Wirkung besser entfalten. So wurden sowohl frühe als auch verstetigte Unfallstatistiken Ausgangspunkt für sozialreformerische Dynamiken.54 Insbesondere die transparente Veröffentlichungspraxis überrascht aus heutiger Sicht, entspricht aber dem zeitgenössischen Umgang. Denn obwohl gerade die Todeszahlen sehr plakativ politisch instrumentalisiert wurden, fand keine Verheimlichung oder Beschönigung statt. Im Gegenteil, die Zahlen wurden auch von anderen staatlichen Stellen genutzt, wie etwa in einem Beiheft des Reichs-Arbeitsblatts, herausgegeben 1904 vom Kaiserlichen Statistischen Amt unter dem Titel Atlas und Statistik der Arbeiterversicherung, worin die Informationen sogar grafisch aufgearbeitet wurden.55 Mit den Statistiken wurde für das deutsche Sozialversicherungssystem geworben, etwa auf Weltausstellungen oder auf der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden 1911. Dort wurde in einer Sonderausstellung die deutsche Arbeiterversicherung gewürdigt. Auf statistisch-grafischen Tafeln wurden unter anderem auch die tödlichen Unfälle von 1909 auf 1000 Versicherte gezeigt.56 Eine häufig verwendete allegorische Darstellung bestand darin, die Arbeiterversicherung als Baum darzustellen, wie unten zu sehen ist, mit eingearbeiteten Zahlen zu den Ausgaben, darunter auch die Hinterbliebenenrenten der Unfallversicherung (siehe Abb. 1). In der Verwaltungspraxis blieben die Schicksale der dort erfassten Unfalltoten trotz ihrer Funktionalisierung für die Sozialreform und Unfallverhütung jedoch weiterhin nicht mehr als anonyme Zahlenkohorten. Für Mitgefühl war ihrem Wesen nach kein Platz in der Statistik.
54 55 56
Vgl. Knoll-Jung: Schlachtfeld, S. 331–348. Vgl. Kaiserliches Statistisches Amt: Atlas. Vgl. o.V.: Arbeiterversicherung.
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Abb. 1: Gustav Tischer, Die Deutsche Arbeiter-Versicherung.
Quelle: o.V.: Arbeiterversicherung, B. 1, aus: o.V.: Die Deutsche Arbeiterversicherung Katalog der Sonderausstellung der Kranken-, Unfall- u. Invalidenversicherung, Berlin 1911.
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b.) Unfallstatistik und Verwissenschaftlichungsprozesse Neben den Verwaltungspraktiken dienten die verschiedenen Unfallstatistiken des Kaiserreichs auch der wissenschaftlichen Nutzung. Beide Bereiche überschneiden sich und haben Gemeinsamkeiten: Die Statistiken schufen nicht nur Problemwissen für gesellschaftliche Veränderungen und Reformbedarf, sondern konkretes Handlungswissen darüber, in welchen Branchen und Betrieben Unfallverhütungsmaßnahmen dringend geboten waren. Die Unfallstatistik diente der Wissensproduktion für die frühe Unfallforschung. Die statistischen Erfassungen fungieren, wie beschrieben, als Basis für das Ableiten präventiver Maßnahmen, seien sie normativer Art, etwa Unfallverhütungsvorschriften, oder ingenieurswissenschaftliche Sicherheitstechnik. Es handelte sich bei dieser Anwendung um eine frühe Form der Unfallforschung, ohne dass sie sich so genannt hätte.57 Darüber hinaus zeigen die Einbindung und enge Zusammenarbeit mit dem Kaiserlichen Statistischen Amt und dem Königlich Preußischen Statistischen Bureau, den zunehmenden Stellenwert statistischen Wissens und von Anwendungen. Die Forschung arbeitet das zusammengestellte statistische Material regelmäßig auf. Dafür stehen die zahlreichen und zunehmenden Publikationen sowie die vielen aufkommenden einschlägigen statistischen, medizinischen und sozialpolitischen Fachzeitschriften.58 Soziale Problemlagen wurden in der Regel statistisch nachgewiesen und diskutiert. Eine Verwissenschaftlichung zeigt sich auch in versicherungsmathematischen Berechnungen, bei der Entwicklung der Gefahrenklassen im Gesetzgebungsprozess oder in der späteren Praxis. Diese stellen frühe Beispiele von Probabilisierungsprozessen und -praktiken dar.59 Hier wurde zudem auch die privatwirtschaftliche Expertise der Versicherungsgesellschaften genutzt. Die Verwissenschaftlichungsprozesse der Unfallstatistik fanden also auf einer breiten gesellschaftlichen Basis statt und nicht eingeengt in eine wissenschaftliche Fachdisziplin.
c.) Politisierung der Unfallstatistik Mit der Veröffentlichung der Unfallstatistiken einher ging auch ihre politische Instrumentalisierung. Nach ihrem Erscheinen lösten sie regelmäßig Debatten aus. Die Arbeiterbewegung verwendete die Zahlen gerne als politisches Kampfmittel.
57 58
59
Sie entwickelte sich als eigenständige Forschungsrichtung erst ab den 1950er-Jahren. Vgl. Hoyos: Unfall- und Sicherheitsforschung. Beispiele mit explizitem Bezug zur Arbeiterstatistik sind etwa: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik, seit 1889 oder Zeitschrift für Soziale Medizin, Medizinalstatistik, Arbeiterversicherung, seit 1906. Für die Schweiz hat diese untersucht: Lengwiler: Risikopolitik.
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Gerade die Unfalltoten wurden oft herangezogen. Kommentierungen erfolgten häufig in der Arbeiterpresse. So betitelte die sozialdemokratische Leipziger Volkszeitung 1905 einen Artikel, der die Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften kommentierte, mit den Worten »Vom Schlachtfeld der Arbeit«.60 Der Vergleich der dort erwähnten Unfalltoten mit Kriegsgefallenen verdeutlicht, wie politisch und symbolkräftig aufgeladen eine nüchterne Statistik bewertet werden konnte. Auch im Reichstag fanden heftige Diskussionen über die Unfallstatistiken statt. Außerdem zogen Abgeordnete die Zahlen immer wieder als Argumentationsgrundlage heran. So etwa der christliche Gewerkschafter Franz Behrens bei einer Interpellation zum Grubenunglück von Radbod 1908: »Das Jahr 1908 war überhaupt ein Unglücksjahr für die Bergarbeiter; denn fast Monat für Monat wird uns ein größeres Unglück gemeldet, und die Zahlen der amtlichen Unfallstatistik weisen ja erschreckende Höhen auf. Das Jahr 1907 brachte weit über 92 000 Unfälle mit 1743 Getöteten im Bergbau.«61 Die Zahl der Unfalltoten inszenierten die Redner dabei wirkmächtig und erzeugten so Aufmerksamkeit für soziale Probleme. Die Statistiken waren Indikator für die aus den Arbeitsbedingungen hervorgehende soziale Sprengkraft. Durch die mediale Präsenz und die politischen Debatten entstand Handlungsdruck, der sich in Reformprozessen der Unfallversicherungsgesetzgebung äußerte. Aus der Rezeption der Unfallstatistik gingen so wichtige Diskussionen um Arbeitsbedingungen und Arbeitssicherheit hervor. Trotz dieser regelmäßigen politischen Instrumentalisierung, insbesondere der Unfalltoten, richtete sich die Hauptkritik der Arbeiterbewegung weniger auf die hohen Unfallraten als auf die Entschädigungspraxis der Unfallversicherung mit ihren Ungerechtigkeiten. Dies belegt auch eine gewisse Akzeptanz dieses Zweiges der Sozialversicherung. Es lag auch daran, dass Unfälle unabhängig vom Verursacher entschädigt wurden und so Konfliktpotenzial entfiel.62 Gerade die oben geschilderte Transparenz der veröffentlichten Unfallstatistik raubte der Arbeiterbewegung in gewissem Maße auch Angriffsfläche für ihre Kritik. Einige Gewerkschaften gingen in den 1910er-Jahren daher dazu über, eigene Erhebungen für bestimmte Berufsgruppen oder Branchen durchzuführen, so etwa der Holzarbeiter- sowie der Metallarbeiter-Verband. Die Argumentation in den Publikationen erfolgte dabei weniger aus statistischem Material als aus Erfahrungsberichten und schockierendem Bildmaterial.63 Diese Erhebungen verstanden sich 60 61 62 63
o.V.: Schlachtfeld, S. 4. Verhandlungen des Reichstages, S. 5676. Vgl. Knoll-Jung: Schlachtfeld, S. 278–282. Vgl. Vorstand des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes: Arbeitsverhältnisse; Deutscher Holzarbeiter-Verband: Lebensgefahren.
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nicht als Konkurrenz zur Unfallstatistik oder als Zeichen des Misstrauens in die Zahlen. In gewissem Maße sind sie eher als Ausdruck und Positionierung der Gewerkschaften als eigenständiger Akteur auf dem Feld des Arbeitsschutzes zu verstehen.64
4. Schluss Als Resümee können die drei aus der Entwicklung der Unfallstatistik im Kaiserreich geschilderten Dynamiken dahingehend zusammengefasst werden, dass Verwaltungspraxis, wissenschaftliche Arbeit und politische Aufarbeitung ineinandergriffen und sich gegenseitig stark beeinflussten. Voraussetzung für Forschung und Debatten war die Institutionalisierung der Unfallstatistik in Form ihrer transparenten Veröffentlichung. Unbestritten kam der Unfallstatistik mit ihrem wichtigen Bestandteil der Todeszahlen für die Entfaltung präventiver Mittel und im Gesetzgebungsprozess wie auch in Reformprozessen eine bedeutende Rolle zu. Dahingehend kann ihr eine Agency im Sinne einer großen Wirkungsmacht zugesprochen werden. In die Statistiken eingebunden, konnten so auch die anonymen Unfalltoten Handlungspotenziale generieren. Das statistische Material hatte letztlich für die gesamte Wirkungsgeschichte der Unfallversicherung einen zentralen Stellenwert. Wissenschaftsgeschichtlich sind diese Aspekte noch unterbeleuchtet und auch die Wirtschaftsgeschichte hat sich dem Zahlenmaterial der Unfallversicherung noch nicht ihren Potenzialen entsprechend gewidmet.
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Vgl. Knoll-Jung: Schlachtfeld, S. 121–128.
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Teil II: Institutionen des Todes
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Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tab. 1: »Ursache der Unfälle«, Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten (Hg.): Jahres-Berichte der Fabriken-Inspektoren für das Jahr 1877, Berlin 1878, S. 188. Abb. 1: Werk von Gustav Tischer (1877–1945), in: o.V.: »Die Deutsche Arbeiter-Versicherung«, in: Die Deutsche Arbeiterversicherung Katalog der Sonderausstellung der Kranken-, Unfall- u. Invalidenversicherung, Berlin 1911, B. 1.
Latenz der Liste Ordnung und Störung in der organisierten Sterbebegleitung Niklas Barth, Katharina Mayr, Andreas Walker und Sophie Gigou
Sterben hat sich in einer funktional differenzierten Gesellschaft systematisch aus privaten Bezügen herausgelöst und wurde in organisierte Kontexte überführt – es ist damit Gegenstand eines professionellen »death brokering«.1 Daten zu Sterbeorten zeigen, dass sich zwei Drittel aller Todesfälle in Organisationen und unter professioneller Behandlung ereignen.2 War ein vormodernes Sterben vor allem durch religiöse Deutungen und Rituale bestimmt, bekommt das moderne Sterben seine spezifische Form durch dessen Anschlussfähigkeit an organisierte Routinen der medizinisch-professionellen Krankenbehandlung.3 Und damit sind Sterbeprozesse heute auch Gegenstand professionell zu verantwortender Entscheidungen. Entscheiden muss man nur, wenn man prinzipiell auch anders handeln könnte.4 Wie ein Sterbeprozess heute behandelt wird, gestaltet sich oftmals als eine Abfolge unterschiedlicher Statuspassagen und Krankenkarrieren, etwa wenn in Organisationen darüber entschieden werden muss, ob ein*e Patient*in nach der Stabilisierung auf der Palliativstation nun in ein Hospiz überstellt wird, ob unter Anleitung eines spezialisierten Teams für ambulante Pflege die Versorgung zu Hause erfolgen kann oder ob der Wechsel von der Kranken- zur Sterberolle womöglich noch einmal revidiert wird. Insbesondere der Übergang zum 20. Jahrhundert stellt historisch eine Wende in der gesellschaftlichen Einbettung des Sterbens dar.5 Hier kommt es zu einer Ko-Evolution von Bürokratisierung und Professionalisierung des Umgangs mit Tod und Sterben auf struktureller Ebene, etwa in der Leichenbeschau und dem Führen von Sterbeverzeichnissen, die dem Anschluss des Sterbens an medizinische, rechtliche und ökonomische Fragen Vorschub leisten, sowie
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Timmermans: Death Brokering; Parsons: The Social System, S. 444. Vgl. Dasch u.a.: Place of death. Vgl. Fischer: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Der Autor beschreibt eine »Entzauberung« des Sterbens, die sich in dessen Säkularisierung, Technisierung, Professionalisierung, aber auch Individualisierung äußert. Vgl. Luhmann: Zur Komplexität von Entscheidungssituationen. Vgl. Fischer: Geschichte des Todes in der Neuzeit, S. 9.
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gleichzeitig zur Ausbildung einer flankierenden Semantik der Organisationskritik des Sterbens. Die zentralen Topoi einer Organisationskritik des Sterbens sind um 1900 bereits voll entwickelt. Rilkes Beobachtungen des massenhaften Sterbens im Krankenhaus sind vielleicht nicht nur dessen prägnantester Ausdruck, sondern sie sind bis heute stilprägend für weite Teile der Gesellschaft wie auch für die thanato-soziologische Reflexion über das organisierte Sterben: »Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig.«6 Im Zentrum von Rilkes Beschreibungen des Sterbens im Krankenhaus um 1900 steht das Sterben des Individuums in der anonymen Masse. Rilkes Modernitätskritik des Sterbens plausibilisiert sich über die Kritik an der instrumentellen Rationalität der Fabrik, der Anonymität der Verwaltung und der Verfremdung von Einzelschicksalen zur statistischen Größe. Das Sterben in der Moderne gerinnt aus dieser Perspektive zu einem einsamen und verwalteten Sterben unter Fremden im Krankenhaus.7 Insofern finden wir hier letztlich die klassischen Motive moderner Bürokratiekritik.8 Die Einbindung des Sterbens in medikalisierte und organisierte Routinen sowie seine statistische Erfassung sorgen nämlich für ein »Unbehagen«,9 das sich gerade in (sic!) der Leistungsfähigkeit arbeitsteiliger, professioneller und darin moderner Kranken- und Sterbeversorgung zeigt. Armin Nassehi sieht die »Quelle« für dieses »Unbehagen« der Gesellschaft10 in einem »Latenzverlust«11 von Ordnung. Die moderne Gesellschaft erlebe sich selbst als permanente Krise, weil sie über die Leistungsfähigkeit funktionaler Differenzierung eine enorme Dynamik, Komplexität und damit stetige Optionssteigerungen ausbilde, gleichzeitig aber daran scheitere, zentrale Konflikte, Krisen und Probleme dieser Gesellschaft zu lösen (zum Beispiel soziale Ungleichheit, die Klimakrise, der Tod als existenzielles Problem). Die Modernität der modernen Gesellschaft besteht also gerade darin, dass Handlungskoordinierung sowie Bedeutungen kontingent werden und aus der latenten Geltung der (religiösen) Tradition heraustreten, gleichzeitig aber Erfolg wie auch Scheitern gesellschaftlicher Problemlösungsversuche als solche sichtbar werden. Erst wenn soziale Ordnung also als sozial gemachte Ordnung aus der Latenz ihrer Geltung hervortritt, macht es Sinn, dass sich eine Gesellschaft auf ihre eigenen Pathologien hin beobachtet und gleichzeitig an sich selbst den Anspruch der Perfektion formuliert. Der Umgang mit Tod und Sterben in der modernen Gesellschaft steht geradezu mustergültig für dieses Spannungsverhältnis von struktureller
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Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 713. Vgl. Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden. Vgl. Müller/Barth: B wie Bürokratische Tugenden. Nassehi: Unbehagen. Ebd., S. 51. Ebd., S. 271.
Barth/Mayr/Walker/Gigou: Latenz der Liste
Leistungsfähigkeit und dem Unbehagen an der eigenen Überforderung im Lösen selbsterzeugter Probleme12 – und exakt auf dieses Spannungsverhältnis zielt letztlich auch schon Rilkes Modernitätskritik. Spätestens seit den 1960er-Jahren hat sich diese Kritik dann interessanterweise selbst professionalisiert. Zunächst übten Hospizbewegung sowie später die sich ausdifferenzierende Palliativmedizin Kritik an diesen Formen der organisierten Sterbebegleitung und damit des verwalteten Sterbens im Krankenhaus.13 Anstatt den Tod nur als medizinische Niederlage begreifen zu können sowie kommunikativ zu bemänteln und zu camouflieren, hat man über das Ideal des »guten Sterbens«14 einerseits versucht, dem individuellen Sterben einen eigenen Ort der Behandlung zu geben. Andererseits sollten damit dem Sterben auch eine eigene Sprache sowie angemessene Bewusstseins- und Kommunikationsmöglichkeiten aufseiten der Sterbenden gegeben werden.15 Auch wenn der Tod sich weiterhin unüberwindbar durch ein epistemologisches Erfahrungs-16 und Behandlungsdefizit auszeichnet, so sollte sich nun zumindest das Sterben kommunikativ verflüssigen und damit auch besser durch professionelle Akteur*innen gestalten und damit auch im Sinne des Ideals des guten Sterbens durch alle Beteiligten erleben lassen. Mit der Institutionalisierung von stationären Hospizen, Palliativstationen und der ambulanten Palliativversorgung hat sich deshalb auch ein Ideal des guten Sterbens etabliert. »Gute« Sterbeverläufe gestalten sich heute nicht nur schmerzbefreit, bewusst und im Beisein der Angehörigen, sondern sie zeichnen sich idealerweise auch durch einen »ruhigen« Verlauf aus, der von Phasen der Agonie genauso befreit ist wie von einem zu langen Leiden. Die Organisation eines »guten« Sterbens erfordert nicht nur eine medizinisch-pharmakologisch-technische Infrastruktur und einen organisatorischen Rahmen, der seine multiprofessionelle Einbettung steuert. In der organisierten Sterbebegleitung wird eine ganzheitliche und multiperspektivische, also medizinische, pflegerische, psychologische, soziale und spirituelle, Versorgung der Sterbenden verfolgt, mit dem Ziel, den ganzen Menschen in den Blick zu bekommen. Auf Seiten der Patient*innen soll am Ende des Sterbeverlaufs möglichst die Akzeptanz des eigenen Sterbens und somit ein bewusstes Erleben des eigenen Sterbeprozesses stehen. Als spezialisierte Orte für das Sterben treten Palliativstationen und Hospize an, den konkreten Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, sodass Sterbende nicht nur
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Vgl. ebd., S. 322. Vgl. Glaser/Strauss: Interaktion mit Sterbenden; Sudnow: Organisiertes Sterben. Vgl. Zimmermann: Acceptance of dying; Mc Namara/Waddell/Colvin: The Institutionalization Of The Good Death. Vgl. Saake/Nassehi/Mayr: Gegenwarten von Sterbenden; Nassehi u.a.: Sterben braucht Latenz. Vgl. Macho: Todesmetaphern, S. 26.
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eine Nummer, ein austauschbarer Name, ein Vermerk in einer Akte sind. Doch das Sterben von Menschen ist auch auf Palliativstationen und in Hospizen notwendigerweise Routine, denn in ihrer professionell-arbeitsteiligen und entscheidungsbasierten Struktur sind beides Organisationen, die tagtäglich mit der Versorgung und der Pflege Sterbender beschäftigt sind.17 Wir möchten in diesem Beitrag einen kleinen und vermeintlich unscheinbaren Organisationsaspekt in der Behandlung des Sterbens hervorheben. Um Sterbeprozesse im Sinne des Ideals des »guten Sterbens« zu gestalten, nutzen auch diese Organisationen Listen, um Sterbeprozesse professionell zu behandeln und zu gestalten. Listen finden sich hier buchstäblich in jedem Aspekt, der dem Organisationsbedarf unterliegt: Es gibt Listen der Bewohner*innen oder Patient*innen, Dienstpläne, Medikationspläne, Menüpläne, tägliche To-do-Listen, Verlaufskurven, Pflegedokumentation, Übergabelisten sowie Wartelisten, die die Aufnahme in ein Hospiz regeln. In unserem Beitrag möchten wir also Listenpraktiken in der organisierten Sterbebegleitung untersuchen.18 Wir beginnen mit einer medientheoretischen Einordnung der Liste als Technik (2). Daran schließen sich einige knappe Ausführungen zur Datenerhebung und zum methodologischen Hintergrund der Auswertung an (3). Wir zeigen, wie effizient Listen als Techniken Ordnung in die modernen Praktiken des Sterbens bringen (4), um im nächsten Schritt herauszuarbeiten, wie Listen wiederum als Störung im Hinblick auf Ziele des »guten Sterbens« auftreten beziehungsweise wie diese Störungen bearbeitet und aufgefangen werden. Wir arbeiten dabei auf die These hin, dass sich Listenpraktiken im Kontext der Sterbebegleitung ein spezifisches Bezugsproblem stellt: Listen funktionieren in der organisierten Sterbebegleitung gewissermaßen zu gut. Sie ermöglichen eine effiziente Verwaltung des Todes. Das ist für die Herstellung eines »guten Sterbens« aber heute Lösung und Problem zugleich. Unser Beitrag schließt deswegen damit, am Fall der Liste eine Paradoxie aufzuzeigen, die für das organisierte Sterben in der Moderne konstitutiv ist.
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Vgl. Mayr u.a.: Organized Rituals. Wir beziehen uns dabei auf die Daten und Ergebnisse des DFG-Projekts »Vom ›guten‹ Sterben. Akteurskonstellationen, Perspektivendifferenzen, normative Muster« unter der Leitung von Prof. Dr. Christof Breitsameter (Moraltheologie), Prof. Dr. Armin Nassehi und Dr. Irmhild Saake (Soziologie). Homepage: www.gutes-sterben.uni-muenchen.de. Das gesamte Forschungsteam dankt den beforschten Einrichtungen und den Menschen, die während des Erhebungszeitraums dort gearbeitet und gelebt haben. Sie haben diese Studie erst möglich gemacht. Weiterhin möchten wir der DFG für die Projektförderung danken (DFG Projektnummer: 343373350).
Barth/Mayr/Walker/Gigou: Latenz der Liste
1. Die Medialität der Listentechnik Listen sind als Untersuchungsgegenstände in den Kultur- und Sozialwissenschaften heute fest etabliert.19 Jack Goody hat sowohl eine Typologie der Liste herausgearbeitet als auch gezeigt, dass sich Listen durch eine spezifische mediale Logik auszeichnen.20 Indem im Medium der Liste einzelne Elemente untereinander angeschrieben werden, werden diese Elemente in einen Raum der Ordnung und der Beziehung gebracht, der sich der Performanz der Schrift, wie auch interaktiver Mündlichkeit gleichermaßen entzieht. Denn die Logik der Liste, so Goody, liege in ihrer Diskontinuität und sie etabliere damit ein Prinzip der De- und Re-Kontextualisierung.21 Listen isolieren einzelne Elemente aus ihrem Kontext und abstrahieren sie zunächst von ihren Kontextbedingungen. Und damit ordnen Listen ihre Elemente in einem neuen Zusammenhang an. Über die Operation der de-kontextualisierenden Aufzählung gelingt es Listen, Komplexität zu reduzieren. Darin kann man die Liste als eine Ordnungstechnik verstehen. Niklas Luhmann fasst die Funktion von Technik als »funktionierende Simplifikation« zusammen,22 die letztlich Kommunikation suspendiert und Reflexivität und Konsens überflüssig macht, weil technisch funktioniert, was sich bewährt hat. Das können wir schon daran erkennen, dass wir beim Benutzen weder unseres Toasters noch unseres Computers, unserer Sprache oder unserer Ergebnis-Liste von Google wissen müssen, wie diese Technik jeweils funktioniert. Im Gegenteil gilt sogar: Würden wir beim Sprechen bei jedem Wort hinterfragen, ob die symbolische Übereinkunft der Zeichen tatsächlich Verstehen beim Alter Ego produziert – wir könnten uns nicht mehr über die Sprache verständigen. Die »Unzuhandenheit«23 der Dinge und der Technik resultiert aus ihrem funktionierendem Gebrauch selbst. Und umgekehrt mündet das praktische Wissen um ihre stetig gelingende Anwendung in einen lebensweltlichen Vertrauensvorschuss, sodass ihr Wirkprinzip nicht
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Die in den Science Studies vorbereitete Re-Justierung auf den Eigensinn der Dinge hat in den vergangenen Jahren eine ungeheure Erfolgsgeschichte erlebt, wodurch auch Listen vermehrt in den Blick gerieten. Die Unterscheidung von Erzählen und Aufzählen kann heute als Leitunterscheidung in der Untersuchung der medialen Logik der Liste gelten, vgl. Stäheli: Das Soziale als Liste; Contzen: The Limits of Narration; Schaffrick/Werber: Die Liste, paradigmatisch). Insbesondere Urs Stäheli kommt dabei ein entscheidendes Verdienst zu, vgl. Stäheli: Listing the global; Ders.: Das Soziale als Liste, Ders.: Indexing – The politics of invisibility. Für einen Überblick über unterschiedliche Formen, Kontexte und die Medialität der Liste, vgl. Barth/Wagner: Die Medialität der Liste. Vgl. Goody: The Domestication of the Savage Mind; Goody: Woraus besteht eine Liste? Vgl. Goody: Woraus besteht eine Liste?, S. 384; Stäheli: Das Soziale als Liste, S. 96. Luhmann: Soziologie des Risikos, S. 97. Heidegger: Sein und Zeit, S. 73.
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weiter hinterfragt werden muss. Die Latenz der Technik ist also gerade notwendige Bedingung für ihr reibungsloses Funktionieren. Marc Berg hat für die Medizinsoziologie in diesem Zusammenhang zum Beispiel gezeigt, wie Patient*innenakten als Technik und Medien gleichzeitig in Erscheinung treten.24 Das ärztliche Auflisten von Symptomen und Therapieentscheidungen ordnet das unbestimmte somatische Rauschen erst zu einer anschlussfähigen medizinischen Botschaft. Auch medizinhistorisch fungieren Listen als spezifische paper technology25 und als Schreibverfahren, die exzerpieren und klassifizieren, Beobachtungen und Fallgeschichten ordnen, Kategorien und Begriffe in Beziehungen setzen und so zuallererst ein medizinisches Objekt hervorbringen.26 Listen fungieren also als Ordnungstechnik, indem sie kommunikative Anschlussselektionen medizinischer Praxis strukturieren. Diese listenförmigen Tableaus sind aber nicht einfach schlichte Repräsentation einer medizinischen Praxis. Sie funktionieren auch als Medien, weil die spezifische Logik der Patientenakte einen medizinischen Fall nicht einfach nur abbildet, sondern überhaupt erst symbolisch als Fall und operativ als kommunikative Adresse erzeugt.27 Wir werden im Folgenden nun herausarbeiten, wie den Listen der organisierten Sterbebegleitung kommunikativ jeweils Eigenschaften zugerechnet werden, wie sie also als Technik und als Medium in Erscheinung treten.
2. Datenmaterial und Methodologie Um die Nutzung von Listen in der Organisation eines »guten Sterbens« zu untersuchen, nehmen wir in diesem Beitrag Bezug auf Material aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt »Vom ›guten Sterben‹. Akteurskonstellationen, Perspektivendifferenzen, normative Muster«. In diesem Projekt untersuchen wir aus einem gesellschaftstheoretischem Blick die verschiedenen Perspektiven, die sich um das Ideal des »guten Sterbens« auf Palliativstationen und in Hospizen kristallisieren. Um diese Perspektivendifferenzen zu ermitteln, führten wir einerseits 147 leitfadengestützte, problemzentrierte Experteninterviews mit professionellen und ehrenamtlichen Akteur*innen sowie mit Patient*innen, Bewohner*innen und Angehörigen. Andererseits fertigten wir Feldethnografien an – etwa 20 Beobachtungsprotokolle von Übergaben, Fallbesprechungen, Teamsitzungen etc. Wir haben insgesamt sieben Institutionen beforscht (fünf Hospize, zwei Palliativstationen), alle Einrichtungen befanden sich
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Vgl. Berg: Practices of reading and writing. Vgl. Hess/Mendelsohn: Fallgeschichte, Historia, Klassifikation. Vgl. Bowker/Star: Sorting things out. Vgl. ebd.
Barth/Mayr/Walker/Gigou: Latenz der Liste
in einem vorwiegend städtischen Einzugsgebiet verteilt über ganz Deutschland. Konfessionell gebundene und nicht-gebundene Institutionen halten sich im Sample in etwa die Waage. Als theoretische Grundlage für die Analyse dieser Daten diente eine praxistheoretisch und empirisch geöffnete Lesart der Luhmannschen Systemtheorie. Die Interviewtranskripte und Beobachtungsprotokolle wurden mit Hilfe eines methodisch sparsamen Vorgehens ausgewertet, welches die je unterschiedlichen Einschränkungen von Kontingenzspielräumen zur Rekonstruktion kommunikativer Bezugsprobleme sichtbar machen möchte.28 Folgt man einer systemtheoretischen Begriffsbestimmung, nach der Organisationen als Systeme sich entlang der Differenz von selbst- und fremdzugerechneten Entscheidungen schließen, so wird deutlich, dass die Medialität der Liste geradezu den Operationen der Organisation und deren Selbstbeobachtung als Entscheidungsgeschichte inhärent ist. Organisationen produzieren Listen, man könnte sogar sagen, Organisationspraktiken sind listenförmig. Und das gilt gleichermaßen für Palliativstationen wie auch für Hospize.
3. Listenpraktiken in der professionellen Sterbebegleitung 3.1 Die Effizienz der Liste Eine ganze Reihe von Listen, die in Hospizen und auf Palliativstationen geführt werden, reagieren auf die arbeitsteilige Organisation der pflegerischen und ärztlichen Versorgung der Bewohner*innen und Patient*innen.
Patient*innen- und Bewohner*innenlisten: Kontinuität der Diskontinuität Auch wenn in den meisten Hospizen das Prinzip der Bezugspflege herrscht, also eine bestimmte Pflegekraft nur für bestimmte Bewohner*innen zuständig ist, wird dennoch im Schichtsystem gearbeitet, sodass sich das Personal in der Betreuung abwechselt und die Diskontinuität von Anwesenheit in der Pflege miteinkalkuliert werden muss – und das aufseiten der professionellen Akteur*innen wie auch der Bewohner*innen. Patient*innen- und Bewohner*innenlisten koordinieren deshalb Bezug und Kontinuität der Versorgung. Diese Listen liegen oft in unterschiedlichen Formen vor, etwa in Papierform in den Akten, als Flipchart oder als Magnettafel.
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Vgl. Nassehi/Saake: Kontingenz – methodisch verhindert oder beobachtet?; wir müssen an dieser Stelle aus Platzgründen auf detaillierte Angaben zu Forschungsfrage, Datensatz, Methode und Methodologie verzichten, die wir aber in anderen Publikationen dargestellt haben (vgl. Saake/Nassehi/Mayr: Gegenwarten von Sterbenden; Mayr/Barth: Interaktionen mit Sterbenden). Vgl. zudem: www.gutes-sterben.uni-muenchen.de.
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Und sie sind stets an einer gut sichtbaren Stelle des Stationszimmers ausgehängt. Wir zitieren aus einem Beobachtungsprotokoll aus einem Hospiz: Das Stationszimmer grenzt direkt an die Zimmer der Bewohner*innen an. Darin finden sich eine kleine Anrichte zur Medikamentenvorbereitung, zwei Computer für die Dokumentation sowie ein kleiner Besprechungstisch. Rechts neben der Tür ist ein Flipchart befestigt. An dieses Flipchart sind mit kleinen Magneten die Namen der aktuellen Bewohner*innen nach Zimmern gepinnt. Die Namen sind mit abwaschbaren Filzstift auf das Plastik des Magnets geschrieben. Die Magnete selbst sind ganz verschmiert vom vielen Überschreiben. Über die Namen ist zudem der behandelnde Arzt bzw. die behandelnde Ärztin geklebt. Mit Hilfe der Magnete entstehen zimmerbezogene Kurzbeschreibungen mitsamt den anfallenden Aufgaben: »Neue Medikamentierung«; »Bezugsfertig«. Einem externen Beobachter sagen sie aber auch: hier wird routinemäßig gestorben. (GH, 7.5.18) Patient*innenlisten dienen hier dem Hospizpersonal dazu, einen schnellen Überblick über aktuell aufgenommene Bewohner*innen und ihre Zuordnung zu den Zimmern des Hospizes zu erlangen. Die Zimmernummern, so hält das Beobachtungsprotokoll fest, sind in diesem Hospiz untereinander in aufsteigender Reihenfolge aufgelistet, daneben werden die Magnete mit den Namen der aktuellen Bewohner*innen gepinnt. Über zusätzliche Kurzcodierungen (»Neue Medikamentierung«) lassen sich wichtige Arbeitsabläufe bewohner*innenabhängig koordinieren. Internen Beobachter*innen, wie etwa einer Pflegkraft oder einer Stationsärztin, stiften diese Listen also die Möglichkeit der schnellen räumlichen Orientierung sowie der Koordination von Handlungsabläufen und damit ein nicht weiter zu problematisierendes oder zu hinterfragendes Routinehandeln. Die Bewohner*innenlisten funktionieren hier als Ordnungstechnik zur sachlichen, sozialen sowie zeitlichen Synchronisierung unterschiedlicher Akteur*innen. Für einen externen Beobachter (hier dem Feldforscher) wird über die mit abwaschbarem Filzstift beschrifteten und deshalb ganz verschmierten Magnete mit den Namen der (ehemaligen) Bewohner*innen aber auch sichtbar, dass im Hospiz eine hohe Fluktuation an Bewohner*innen herrscht. Diese revidierbaren Patient*innenlisten machen auf die Kontinuitäten des Diskontinuierlichen, auf den steten Wechsel von Ein- und Auszug, also: auf das kontinuierliche Versterben von Bewohner*innen, aufmerksam. Anhand dieser Listen wird auch sichtbar, dass das Sterben der Bewohner*innen erwartbar zur Organisationsroutine gehört.
Übergabelisten: Ent-/Individualisierung von Sterbenden Im Folgenden betrachten wir das Beobachtungsprotokoll einer stationären Übergabe in einem Hospiz. Die hier protokollierte Interaktionssequenz orientiert sich
Barth/Mayr/Walker/Gigou: Latenz der Liste
an einer Übergabeliste, die Bewohner*innen des Hospizes nach Zimmernummern aufführt. Wir zitieren aus dem Beobachtungsprotokoll: Alle Pflegekräfte versammeln sich um die Krankenakten der Bewohner*innen und gehen sie Zimmer für Zimmer durch. Das Prozedere ist stark standardisiert. Pfleger Pérez29 beginnt: »Zimmer 21. Fr. Hoffmann.« Alle blicken kurz auf das Flipchart, um sich zu versichern. »Bekannt?« Die kommende Schicht antwortet regelrecht im Chor: »Bekannt.« Herr Pérez fährt fort: »Gestern gebrochen, Durchfall, die Nacht war ruhig, wir wissen aber nicht, was geholfen hat. Schläft jetzt. Hat heute Pflege abgelehnt, das Essen aber drin behalten; Tochter hat hier übernachtet; vierstündig Morphin.« Man solle ihr Zitrone und Crushed Ice anbieten, das würde sie mögen. Aber, so erinnert sich der Pfleger, auch das hätte sie eigentlich wieder erbrochen. Heute Abend komme ihr Ehemann, ergänzt Pérez, dann könne der das mit dem Essengeben probieren. Kurze Pause. Die Akte von Fr. Hoffmann scheint zu Ende. […] Die Liste der Bewohner*innen ist damit abgehandelt. (GH 7.5.18) Routiniert werden jeweils die aktuelle Medikation, die akuten Symptome und die derzeitigen Versorgungsanlässe, gemäß der Bewohner*innenliste sichtbar am Flipchart, Zimmer für Zimmer abgehandelt und gespeicherte Informationen aus der Patientenakte dazu verlesen. Die listenförmige Anordnung von Bewohner*innen schafft für die Pflegekräfte somit den Zweck der Orientierung, auf wen sie in welcher Versorgungslage treffen werden, und gibt ihnen Handlungsoptionen vor, was bei welchem*r Bewohner*in noch zu erledigen ist: »Medikamentengabe«, »Abführen«, »Essen«, »Mobilität«. Diese Codierungen der Liste sorgen in einem strengen zeitlichen Rahmen der Übergabe effizient für Orientierung, auch weil die Pflicht zur vermehrten Dokumentation, zum Zwang der schriftlichen Listenführung also, Zeit benötigt, deren Knappheit dann gerade wieder durch die Effizienz der Liste versucht wird zu bearbeiten. Um diese Codierungen der Listeneinträge herum gruppieren sich die Erzählungen von den Verwandtschaftsbeziehungen, den Essenswünschen und der Stimmungslage, die, sollte sie eine psychotherapeutisch relevante Dimension erreichen, auf einem gesonderten Bogen vermerkt wird. Dabei entindividualisiert der routinierte, medizinisch-pflegerische, allgemein sachliche Blick die Patient*innen und Bewohner*innen, indem er sie in ein Ordnungsschema fügt, das Aktionsräume für die Pflegenden bereitstellt, die dadurch von Reflexion entlastet werden. Gleichzeitig werden die Patient*innen durch die Schilderungen ihrer Vorlieben, Stimmungslagen und Verwandtschaftsbeziehungen, aber auch je nach Bedürfnis problematisiert – und darin individualisiert. In der routinierten Listung standardisierter Aspekte wird überhaupt erst eine Person hervorgebracht, auf die dann weiter kommunikativ 29
Alle Beobachtungsprotokolle und Interviews wurden streng anonymisiert. Die aufgeführten Namen von Personen oder Einrichtungen sind allesamt Alias-Namen.
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eingegangen werden kann. Dabei ordnet die aufzählende Struktur der Liste unterschiedliche Patient*innen angesichts der Gleichzeitigkeit der Bedürftigkeit und der daraus resultierenden Ansprüche nacheinander an, was wiederum überhaupt erst die Bearbeitung sachlicher Pflegeaspekte erlaubt. In folgendem Beispiel wird besonders sichtbar, wie Listen der professionellen Sterbebegleitung als Technik der schriftlichen Informationsspeicherung und -verarbeitung dienen. In einem Organisationsalltag, der stark durch die Flüchtigkeit von Interaktionssituationen geprägt ist, werden so zeitfeste Formen über die schriftliche Kategorisierung geschaffen. Auch ärztliche Übergaben folgen diesem Muster zeitlicher Strukturierung. Das Beobachtungsprotokoll von einer Palliativstation führt nun eine Eigenzeit listenförmiger Aufzählung vor: Dr. Brinker: »Frau Stamm. Frau Stamm ist eine Neuaufnahme. Mammakarzinom als Vorgeschichte. Nun wieder Krebspatientin, Pankreaskarzinom. Schwach, Sterbewunsch. Keine Familie. Ein Bekannter hat die Vorsorgevollmacht. […]« Dr. Anders fragt nach: »Aber sie ist nicht metastasiert?« Dr. Brinker: »Doch. Gestern hat sie keine Novalgintropfen bekommen. Will sie nicht regelmäßig, sondern nach Bedarf einnehmen.« Dr. Anders: »Können wir ja erklären, dass das keinen Sinn macht. Ich würd’s ihr versuchen zu erklären.« Dr. Brinker: »Ich besprech‹ das nochmal! Herr Stenz: Wieder auferstanden! Nicht orientiert, aber gut führbar.« Es geht wirklich im Eiltempo Schlag auf Schlag. Kaum ist ein*e Patient*in besprochen, wird auch schon der oder die nächste aufgerufen. Als laienhafter Zuhörer fällt es da schwer, nicht den Anschluss zu verlieren. (JKH 27.11.18) Für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte als interne Beobachter*innen lassen sich durch dieses listenförmige Abarbeiten der Patient*innen Effizienzgewinne realisieren, welche ihrerseits auf die organisationsimmanente Verknappung von Zeit reagieren. Erst durch die Entlastung von Reflexionserfordernissen aufseiten der Ärztinnen und Ärzte, durch das De-Kontextualisieren der Patient*innen aus ihren dichten Biographien und deren Re-Kontextualisieren in der flachen Logik der Listenaufzählung, können überhaupt erst Routinen zur Verfügung gestellt werden, um Sterbende in einem hochdifferenzierten, komplexen und von steten Zeitbudgets geprägten Organisationsalltag zu behandeln. Für die behandelnden Ärzt*innen bleibt diese Logik der Liste latent, da sie strukturnotwendige Routinen erzeugt und selbst in diese eingebettet ist. Die Effizienz der Liste ist im Moment der Besprechung nicht hinterfragbar und muss auch nicht hinterfragt werden. Deutlich zeichnet sich in diesem Verfahren ein Beschleunigungseffekt ab, der den Akteur*innen selbst kaum transparent ist, den/die protokollierende*n Feldforscher*in aber geradezu überfordert: Externen Beobachter*innen, hier dem/der Feldforscher*in, fällt an dieser Stelle gewissermaßen der hohe Takt der Liste auf, über den die Komplexität der Beschreibung stark redu-
Barth/Mayr/Walker/Gigou: Latenz der Liste
ziert wird und somit hohe Komplexitätsgrade in der Versorgung erreicht werden. Über solche listenförmigen Praktiken werden sachlich und zeitlich behandelbare Bewohner*innen und Patienten*innen als kommunikative Adressen erzeugt. Die Effizienzgewinne dieses Vorgehens bleiben im Organisationsalltag größtenteils latent.
Selektionen der Warteliste: Personenzentriertheit und das Dilemma der »Not der Anderen« Hospizplätze sind knapp und diese Knappheit erzwingt Selektionen in der Frage, wer einen Hospizplatz bekommt – und wer nicht. Listen werden deshalb auch als »Kampffeld«30 beschrieben und damit soll darauf hingewiesen werden, dass das Anfertigen von Listen mit proto-»politischen« Praktiken des Ein- und Ausschlusses dessen einhergeht, was als Eintrag auf der Liste Platz findet.31 Als zentrale Technik des Bearbeitens des Überhangs von Anfragen gegenüber den verfügbaren Hospizplätzen ist das Führen von Wartelisten institutionalisiert. Nach welchen Selektionskriterien steht ein Eintrag auf einer Liste? Wer entscheidet über diese Selektionskriterien? Und wie lange beanspruchen sie zum Beispiel Geltung beziehungsweise sind sie revidierbar? In der folgenden Schilderung der Aufnahmeleitung eines Hospizes wird deutlich, was solche Wartelisten leisten und welche Folgen das wiederum für die Selektivität des Zugriffs auf mögliche zukünftige Sterbende hat: »[E]s gibt sozusagen Anmeldungen an einem Tag, da haben wir fünf oder sechs gleichzeitig an einem Tag Anmeldungen hier bei uns, die dann auf der Warteliste sind, wo überall dieser MDK32 -Bogen auch vorliegt. […] Das heißt für ganz viele Leute: Bekommen die nicht einen Hospizplatz, gehen die ins Krankenhaus, weil sozusagen da irgendwie das System zusammenbricht. Insofern hatte ich sozusagen schon nach einer gewissen Wichtigkeit oder einer Priorisierung gesucht gehabt. Nach einer Zeit hab ich gemerkt, und es gab einmal ein Gespräch, ein längeres, mit dem Sozialdienst, das sind ja meine, sozusagen meine Werte. Und die haben da eigentlich nichts zu suchen, weil alle Menschen, die hier sozusagen auf der Warteliste, haben ein Anrecht auf einen Hospizplatz. Insofern bin ich dazu dann relativ zügig übergegangen, wirklich chronologisch abzutelefonieren.« (Hospizleitung) Das Hospiz steht als Organisation vor dem Problem, über Bedürfnisse und Ansprüche unterschiedlicher Anfragen zu entscheiden, wobei diese Entscheidungen nur sukzessive, also in einem zeitlichen Nacheinander bearbeitet werden können. Die 30 31 32
Goody: Woraus besteht eine Liste?, S. 147. Vgl. Stäheli: Indexing – The politics of invisibility. Medizinischer Dienst der Krankenversicherung.
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ursprüngliche Strategie der Aufnahmeleitung nach Bedürftigkeit zu priorisieren, erzeugt angesichts der Differenziertheit und Gleichzeitigkeit der Anspruchsberechtigten hohe Begründungslasten. Der gewissermaßen entindividualisierende, depersonalisierende Effekt einer nüchternen, weil chronologisch geordneten Liste hingegen schafft diesbezüglich Entlastung. Paradoxerweise konterkariert diese Praxis die Aufforderung der Hospizbewegung, der »Mensch« müsse im Mittelpunkt aller hospizlichen Bemühungen stehen. Hier wird der konkrete Mensch vielmehr dezentriert angesichts der einschränkenden Tatsache, dass dieses Ideal ja für alle anderen Sterbenden ebenso gelten müsse. Die schlichte Chronologie der Liste bietet eine komplexitätsreduzierende, reflexivitätsentlastende Form der Ordnungsbildung, die nicht nur die Versorgung in der Organisation, sondern auch den Zugang zur Versorgung im Hospiz reguliert. Im Folgenden berichtet die Leitung eines anderen Hospizes, wie in dieser Organisation Wartelisten über aufzunehmende Bewohner*innen geführt werden: »Und wir haben das hier aber sehr eng miteinander, sozusagen, in der Kommunikation geregelt, dass wir eine Anfragenliste führen, die aufgeteilt ist in akute Anfragen, mittelfristige Anfragen, langfristige Anfragen, und wir uns immer gegenseitig, wie man ja so schön sagt, updaten über diese Anfragenliste, wer steht jetzt gerade wirklich aus der jeweils persönlichen Sicht sehr weit oben. Das ist, glaub ich, ganz wichtig, weil man selber ja in bestimmten Anfragesituationen auch eine emotionale Beziehung zu manchen Menschen aufbaut, und vielleicht manchmal dann ein bisschen blind gegenüber der Not der anderen ist, sodass wir uns da, glaub ich, doch immer auch versuchen, gegenseitig zu regulieren […].« (Hospizleitung) Zunächst einmal zeigt sich, dass die Warteliste hier über die Differenzierung der zeitlichen Dauer des Aufenthalts, also im Hinblick auf die vom Hospiz kalkulierte verbleibende Lebenszeit des beziehungsweise der Anfragenden geführt wird. Eine Warteliste verzweigt sich so »in akute Anfragen, mittelfristige Anfragen, langfristige Anfragen«. Auch hier ist die individuelle Bedürftigkeit der Sterbenden nur bearbeitbar vor dem Hintergrund »der Not der anderen«. Die Ausweitung von Selektionskriterien dient dabei der Herstellung von möglichst gleichberechtigten Selektionskriterien. Diese Gleichberechtigung soll sich aber auch durch eine Individualisierung der Selektionskriterien, das Einkalkulieren »einer persönlichen Sicht« und durch die »emotionale Beziehung« als Selektionsgrund realisieren lassen. Diese personalisierten Wartelisten sollen also einerseits eine Geltung beanspruchen, die sich kontextübergreifend realisiert, andererseits aber permanent revidierbar sein, indem sich die Listenschreibenden in ihren Selektionskriterien »gegenseitig regulieren«. Als Technik machen diese Listen Kommunikation und Reflexion zunächst überflüssig, um dann aber in einer Art Vorläufigkeit der Liste Ausgangspunkt für
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weitere Prozesse der Deliberation und der kommunikativen Verflüssigung fester Selektionskriterien zu sein. Das Anlegen unterschiedlicher Listen und das Wechseln unterschiedlicher Selektionskriterien lässt sich damit als eine Technik begreifen, der es gelingt, die Institutionalisierung von Dauerreflexion33 mit der Notwendigkeit der Entscheidung der Selektion bestimmter aufnahmeberichtigter Anfragen zu vermitteln. Die Logik der Aufzählung erscheint hier permanent änderbar, sodass diese Listen einmal als flache Listen ohne starke hierarchische inhärente Ordnungsprinzipien geführt werden (ähnlich eines Ratings zur Aufnahme ins Hospiz) – dann aber wieder die Form eines hierarchischen Rankings annehmen können, wenn Fragen der sachlichen Indikation dominieren. Die Selektionslogik der Liste fällt zwar auch den professionellen Hospizleitungen auf, indem deren Aufzählungslogik sich als kontingent darstellt, funktioniert aber als Technik der Listenführung störungsfrei und kann somit im Hinblick auf Entscheidungen latent bleiben.
3.2 Störungen der Liste: Sinnüberschüsse und Latenzverlust In den bisherigen Analysen stießen wir auf Listen als Ordnungstechniken, die als Techniken latent bleiben, indem sie effizient und routiniert funktionieren. In den folgenden Passagen stoßen wir auf Störungen der Liste, wenn diese für die professionellen Akteur*innen selbst als Technik im Arbeitsalltag sichtbar werden. In der nun zitierten Interviewpassage empört sich eine Palliativmedizinerin über das mangelnde Feingefühl einer Kollegin, die mit ihrer »Agenda« einerseits die Verabschiedung einer anderen Kollegin stört, zum anderen aber auch den »guten« Umgang mit dem Sterben: »Unsere Ernährungstherapeutin hatte heut ihren letzten Tag, die ist jetzt in nem Studienprojekt und ähm wir waren am Schluss von unserer Teambesprechung, da haben wir uns nochmal bedankt bei ihr, wie toll, und auch der Kuchen und, überhaupt, wie schade es ist, dass sie nicht da ist, und da war das noch in Gang, da sacht die [ärztliche Kollegin; Anm. der Autor*innen]: ›Aber wir wollen doch noch der Toten gedenken!‹ […] Die hat noch was auf ihrer To-Do-Liste, ›das ham wer noch nich gemacht‹, weil am Anfang, dieses Gedenken der Toten, die Liste vorzubereiten, ist Aufgabe der Sozialarbeiterin, die war noch – was weiß ich – auf dem Klo oder sonst wo, und was ich absolut unwürdig finde, wenn dieses Gedenken der Toten sich so realisiert, dass alle dasitzen und grübeln und eigentlich gar keine Ahnung mehr haben, wer eigentlich gestorben ist, weil es so viel war, oder so wenig, oder keiner da war, das ist nicht würdig! So, das ist einfach nur peinlich, das führt die Unfähigkeit, würdevoll mit Tod und Sterben zu führen, so vor Augen. […] Des war einfach so zum Abarbeiten.« (Palliativmedizinerin)
33
Vgl. Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?
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Sichtbar wird in diesem Ausschnitt zweierlei: einerseits das Lösungspotenzial von Listen. Andererseits aber auch deren Störungspotenzial. In einem organisierten Kontext, in dem routinemäßig gestorben wird, gestaltet sich das Erinnern ohne die vorbereitete Liste schwierig, weil es sich bei den Verstorbenen eben letztlich doch um Fremde handelt. Organisationen, in denen teilweise mehrere Menschen täglich sterben, müssen standardisierende Techniken der Listenführung nutzen, um überhaupt ein Erinnern zu ermöglichen. Listen erzeugen als Memotechnik ein soziales Gedächtnis der Organisation. Gleichzeitig soll der Umgang mit dem Tod möglichst wenig einem listenförmigen Abarbeiten gleichkommen, das einem Beobachter oder einer Beobachterin mitkommunizieren könnte, hier werde das Sterben lediglich »würdelos« verwaltet. Die entscheidende Frage ist: Wer kann dieses Störungspotenzial eigentlich sehen? Systemtheoretisch gewendet ist das die Frage nach einer Beobachterposition und deren Kontexturen. Im reflektierenden Interview kann die Palliativmedizinerin das Verhalten der Kollegin als taktlos und unwürdig beobachten, weil sie im Moment des Erzählens von zeitlichen und sachlichen Zugzwängen entlastet ist. Im Alltag auf Station ist aber auch das Erinnern der Verstorbenen eingelassen in Versorgungsroutinen und -strukturen, die vor allem durch Knappheit geprägt sind (der Zeit, der Aufmerksamkeit etc.). Steckt man mitten in Arbeitsroutinen, wird das Routinehafte der Routine, hier der Listentechnik, gar nicht sichtbar, sondern bleibt latent. Aus diesem Schutz der Latenz wird die Praxis der Listenführung aber enthoben, sobald ein*e Beobachter*in anwesend ist, der beziehungsweise die gewissermaßen nichts weiter zu tun hat, als zu beobachten. In der Ex-Post-Rationalisierung im Interview nimmt diese Beobachterposition die Ärztin selbst ein. Und erst sobald die Listentechnik ihrer Latenz enthoben wurde, kann man darin einen symbolischen Sinnüberschuss erkennen, der die Liste als Verwaltungstechnik des Sterbens sichtbar macht. Für Störungen der Liste anfällig sind vor allem rituell gerahmte Formen. Mit Thomas Macho lässt sich dieser Zusammenhang zwischen Ritual und Routine folgendermaßen beschreiben: »Gerade weil Rituale [also] anfangen und aufhören, können sie als Unterbrechungen wirken.«34 Gleichzeitig müssen solche Rituale organisiert und in den Alltag eingefügt werden. Dieser Widerspruch scheint auch in einem wöchentlichen teaminternen Gedenken der Verstorbenen auf: Peter: Ich hab zu wenig gelbe Zettel, ist es ok, wenn ich die Liste nehm?« Allgemeine stumme Zustimmung. Üblicherweise werden die Namen der Verstorbenen auf gelben Post-its notiert und nicht von einer Liste abgelesen. Heute geht es aber auch so. Wieder soll für jede Verstorbene und jeden Verstorbenen ein Teelicht entzündet werden, das Feuerzeug geht aber nicht und Peter muss erst einmal ein
34
Macho: Das zeremonielle Tier, S. 14.
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neues holen, bevor er die erste Kerze anzündet. Peter: »Frau Brandl! …wer weiß was?« Martina: »Wenn ihr Hans da war, dann war sie immer ruhig, dann hat sie kaum lautiert.« Wenn ihr Mann nicht dagewesen sei, habe sie oft nach ihm gerufen. Stephanie bemerkt, dass die Eheleute aber nicht immer nett miteinander umgegangen seien. Martina zeigt aber Verständnis: »Na, ja… nach 47 Ehejahren! Da ist man nicht immer nett.« Peter: »Frau Brandl. Wir lassen Sie gehen«, mit Blick auf die Liste: »Frau Müller!« Laura: »Die haben wir schon letzte Woche verabschiedet.« Kurioserweise handelt es sich bei der Frau um die Bewohnerin, die mir schon bei der Verabschiedung in der Woche zuvor so unbekannt vorkam und zu der auch niemand eine spezielle Erinnerung beitragen konnte. »Ach, so!«, Peter fährt auf der Liste fort. (GH, 22.5.18) Das gemeinsame Erinnern wird in dieser Situation zunächst vor ganz banale technische Störungen gestellt. Um den Eindruck eines zu standardisierten listenförmigen Abarbeitens zu vermeiden, sollen in diesem Hospiz normalerweise Post-its anstatt Listen genutzt werden. Die Gleichzeitigkeit der sichtbaren Namen auf den Postits soll symbolisch eine Gleichheit markieren, die als Inversion jedweder hierarchischen Warteliste gerade keine Bevorzugung des einen vor dem anderen Verstorbenen mehr zulassen soll. Gerade in Kontexten, in denen explizit auf Reflexion gesetzt wird, wie der Verabschiedung von Verstorbenen, werden kommunikative Formen genutzt, die zumindest mit der Ästhetik der Liste brechen, auch wenn sie diese funktional in Anspruch nehmen. Aus Mangel an Post-its werden in dieser konkreten Situation aber doch der Reihe nach die Namen der Verstorbenen von der Liste verlesen und das routinierte Erinnerungsritual kurz gestört. Das rituelle Erinnern wird ein zweites Mal gestört, als sichtbar wird, dass eine konkrete Bewohnerin offenbar bereits schon einmal verabschiedet wurde und zudem niemand der Anwesenden etwas über die Verstorbene weiß. Rituelle Formen des organisierten Erinnerns haben die Funktion, eine Organisationgeschichte zu erzeugen, die Kontexturen aufspannt, in denen über das individuelle Erinnern ein legitimes Vergessen der Organisation ermöglicht werden kann.35 In dieser Passage wird aber sichtbar, wie über diese Formen des Erinnerns nicht nur Individualität, sondern auch Fremdheit und Anonymität kommunikativ hergestellt werden. Entgegen des Ideals des »guten Sterbens« scheidet die Verstorbene hier nicht als »ganzer Mensch« und biografisch dichte Person, sondern als nüchterner und vergleichsweise »anonymer« Eintrag in einer Liste der Verstorbenen aus der Organisation aus, an den sich niemand mehr erinnern kann. Für reflexive und individuellere Formen des Erinnerns bleibt in der Situation kaum mehr Zeit und so wird diese Irritation schnell wieder in Organisationsroutine
35
Vgl. Mayr u.a.: Organized Rituals.
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überführt, da noch weitere Namen von Verstorbenen auf der Liste stehen und erinnert werden müssen. Der symbolische Sinnüberschuss solcher Störungen wird so also kommunikativ bearbeitet: Durch die Zugzwänge der Routine selbst, durch die Vermeidung einer Ästhetik der Liste, durch die Kritik an der »Unfähigkeit« der Kollegin im würdevollen Umgang mit dem Sterben oder durch die Darstellung der Liste als unabgeschlossenen Reflexionsprozess können Störungen kommunikativ wieder in die Latenz der Organisationsroutine absinken.
4. Fazit: Organisationsroutinen als Problem und Lösung des Sterbens Unsere Ergebnisse zeigen, dass unterschiedliche Listen als Ordnungstechniken in der Organisation des Sterbens genutzt werden.36 Listen können als »boundary objects«37 begriffen werden, über die innerhalb der Organisation unterschiedliche Informationen, Rollen und Zeithorizonte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Listen werden im Sinne eines instrumentellen Kalküls systematisch genutzt, um Kommunikation (im Sinne der Konsensaushandlung) zu suspendieren und Kontingenzen des Entscheidens zu domestizieren. In der Sachdimension strukturieren sie Entscheidungen, in der Sozialdimension etablieren sie Rollenerwartungen (zum Beispiel Kranken-/Sterberolle) und in der Zeitdimension sequenzieren sie Status-, Orts- und Rollenwechsel. In dieser Hinsicht wird das Listenführen auch als »Kulturtechnik der Synchronisation«38 in Organisationen genutzt, um An- und Abwesenheit, Entscheidungsprozesse und deren Reflexivierung sowie die Arbeitsteilung unterschiedlicher Akteur*innen zu koordinieren. Vor allem aber gelingt es über das Anlegen und Führen von Listen, die Diskontinuität menschlichen Lebens mit der Kontinuität organisatorischer Praxis zu vermitteln. So können über Listen organisatorische und professionelle Routinen der Sterbeversorgung hervorgebracht werden. Als Technik werden Listen genutzt, um Ordnung, Routinen, Erwartbarkeit und Standardisierbarkeit herzustellen.39 Der operative Alltag der Organisation ist von Zugzwängen, Knappheit und Routinen geprägt. Und er ist darin von einer Reflexion auf die Organisationsform des Sterbens weitestgehend entlastet. Umgekehrt gilt sogar, dass die Organisation eines »guten Sterbens« strukturell davon abhängig ist, dass sich Routinen und latente Muster des organisatorischen Entscheidens ausbilden lassen. Denn Organisationsroutinen bedürfen schon aus logischen Gründen eines Latenzschutzes, um überhaupt reflexivitätsentlastende und damit Effektivität erzeugende Routine sein
36 37 38 39
Vgl. Brückner/Wolf: Die Listen der Organisation. Star/Griesemer: Institutional Ecology. Vgl. Macho/Kassung (Hg.): Kulturtechniken der Synchronisation. Vgl. Berg/Timmermans: The Gold Standard.
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zu können. Um also als Organisation handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben, müssen Kontingenzen des Entscheidens nicht nur im Einzelfall, sondern vielmehr auf struktureller Ebene invisibilisiert werden. Die Organisation des Sterbens kann überhaupt erst auf Basis latenter Entscheidungsroutinen störungsfrei gelingen.40 Man könnte sogar sagen, »Sterben braucht Latenz«, weil nur so das unlösbare Problem des Sterbens zumindest bearbeitet werden kann.41 Unsere ethnografischen Beobachtungen in Hospizen und auf Palliativstationen zeigen aber auch, was passiert, wenn diese organisationale Infrastruktur des Entscheidens ihren Latenzschutz verliert. Greifen wir noch einmal das Beispiel der ritualisierten und institutionalisierten »Verabschiedungen« auf, dann wird sichtbar, dass hier die geradezu toxische Symbolik der Liste explizit gemieden wird. Einerseits ist eine schriftliche Fixierung der Namen der Verstorbenen hilfreich – sonst würden womöglich nicht alle erinnert. Die instrumentelle Rationalität des Listenführens ermöglicht somit erst ein Andenken an die Vielzahl der in der Organisation Verstorbenen, die sonst relativ anonym aus der Organisation austreten würden. Andererseits darf diese Effizienz der Listentechnik gerade »im Abarbeiten« Verstorbener nicht zu sichtbar werden, sondern muss latent bleiben, um nicht einer Verdachtshermeneutik Vorschub zu leisten. Und auch in den Beispielen, die auf den operativen Alltag der Organisation zielen, stört die Technik der Liste zunächst nicht, denn hier sind akute Handlungsprobleme der Versorgung oftmals dringlich, oder es ist einfach keine Zeit oder kein Bedarf dafür vorhanden, die Technizität der organisatorischen Versorgung explizit zu machen. In der nachträglichen Reflexion, etwa im Team-Meeting und in ethischen Fallbesprechungen oder vor Publikum, vor allem natürlich vor Angehörigen, die zum Beispiel zu Besuch ins Hospiz kommen, oder vor Forscher*innen in Interviews, wird die Technik der Listenführung dann kommunikativ thematisierbar – und darin als Technik sichtbar.
40
41
Es war zunächst Robert K. Merton, der eine »epistemologische Aufwertung der Latenz« vorangetrieben und darin gegenüber einem psychoanalytisch entlarvenden Verständnis die Funktion von Latenz betont hat (vgl. Merton: Manifest and Latent Functions). Bei Talcott Parsons erfüllt dann ›Kultur‹ als gesellschaftliches Subsystem die Funktion der »latent pattern maintenance«. Er liefert damit ein Erklärungsschema dafür, wie Ordnung, Muster und Routinen erst über ihre kulturelle Latenz möglich werden (vgl. Parsons: The Social System). Niklas Luhmann bezieht Parsons Frage nach den latenten Bedingungen des Bestands sozialer Systeme dann auf Kommunikationsprozesse, die »einen Begleitschutz durch Latenz benötigen«, um sich zu stabilisieren (Luhmann: Selbstreferenz, S. 26). Exakt auf diesen kommunikativen Begleitschutz durch Latenz stellt auch eine funktionalistische Medientheorie ab. Medien, so auch eine zentrale Annahme der Medientheorie, bleiben in ihrem praktischen Vollzug unsichtbar, solange sie funktionieren, und konstituieren darin störungsfrei Formen der Kommunikation (vgl. Krämer: Die Heteronomie der Medien, S. 226; Barth: Gesellschaft als Medialität, S. 70–119 und 266–269). Nassehi u.a.: Sterben braucht Latenz; vgl. Nassehi: Unbehagen, S. 255–288; 320–325.
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In beiden Beispielen wird damit aber die Organisationsroutine der Organisation selbst sichtbar und somit produziert die Liste als Medium auch einen symbolischen Sinnüberschuss in der Kommunikation mit, denn nun kann der Verdacht aufkommen, in diesen Listen realisiere sich schlicht die massenhafte Verwaltung des Sterbens. Symbolisch steht die Liste für Arbeitsteilung, Effizienz und Routine und damit für die eingangs dargestellte Semantik der Organisationskritik, die sich ab 1900 für eine Kritik am Sterben im Krankenhaus herausbildet und bis in den Versorgungsalltag in Hospizen und Palliativstationen von heute nachwirkt. Listen funktionieren in der organisierten Sterbebegleitung also gewissermaßen wirklich zu gut: Die Diskontinuität menschlichen Lebens kann in der Moderne systematisch nur mit Hilfe der Kontinuität organisatorischer Techniken bearbeitet werden, was für die Herstellung eines »guten Sterbens« Lösung und Problem zugleich ist. Die Ergebnisse des DFG-Forschungsprojekts »Vom guten Sterben« zeigen, wie die Organisation des Sterbens im Sinne des Ideals des »guten Sterbens« auf Palliativstationen und in Hospizen ausgesprochen gut gelingt. Insofern formuliert unser Beitrag keine Kritik am organisierten Sterben. Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass nicht zuletzt professionelle Akteur*innen in diesen Organisationen selbst ein Unbehagen an ihren eigenen Organisationsroutinen entwickeln. Das wird insbesondere in solchen Passagen unseres Materials deutlich, in denen professionelle Akteur*innen der Sterbeversorgung ihre eigenen, an Listen orientieren Arbeitsroutinen als »peinlich«, »würdelos« und beschämend begreifen. Gemäß dem Ideal des »guten Sterbens« darf der Tod des beziehungsweise der Einzelnen nicht als Routine sichtbar werden, sondern Palliativstationen und Hospize wollen und müssen gerade der Individualität eines sterbenden Menschen gerecht werden.42 Unsere Ergebnisse können deshalb womöglich selbst entlastend wirken, wenn sie zeigen, dass der Tod des beziehungsweise der Einzelnen in diesen Organisationen gerade nur deshalb keine Routine sein kann, weil er innerhalb der Organisation vor allem Routine ist. Darin liegt die moderne Paradoxie des organisierten Sterbens.
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42
Hospize und Palliativstationen unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Organisationen, deren Organisationszweck gerade in der Ausbildung individueller Personen liegt, etwa Schulen oder Universitäten.
Barth/Mayr/Walker/Gigou: Latenz der Liste
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Teil III: Tod in Krieg und Revolution
Kriegsgefallenenlisten – erläutert am Beispiel der Schlachtjahrzeiten in den eidgenössischen Orten Oliver Landolt †
Schlachtjahrzeiten sind kirchliche Memorialgedächtnisse für die in Schlachten gefallenen Angehörigen respektive Vorfahren. Vor allem spätmittelalterliche Kommunen, speziell im Raum der heutigen Schweiz, richteten solche Gedächtnisstiftungen ein, die dann jährlich am jeweiligen Jahrestag des kriegerischen Ereignisses mit besonderen sakralen Feierlichkeiten, bisweilen sogar mit speziellen Wallfahrten begangen wurden.1 Neben der Schilderung der kriegerischen Ereignisse in den Gottesdiensten wurden die Schlachtjahrzeiten schon bald – aber nicht immer – mit Listen der Gefallenen ergänzt, deren Namen innerhalb der sakral-liturgischen Handlungen auch verlesen wurden. Diese Tradition wurde in einzelnen, beim katholischen Glauben verbleibenden Regionen der Innerschweiz teilweise bis in die Gegenwart hinein fortgeführt.2 Zum Teil waren solche Schlachtjahrzeiten sogar mit Prozessionen auf die ehemaligen Schlachtfelder verbunden: Noch heute werden in der sogenannten Näfelserfahrt, einer jährlich jeweils am ersten Donnerstag im April ritualisiert durchgeführten Prozession auf das ehemalige Schlachtfeld in Näfels, die Namen der in der 1388 stattgefundenen Schlacht Gefallenen verlesen.3 Noch prominenter ist wohl das sogenannte Sempacher Schlachtjahrzeit in Erinnerung an die Schlacht bei Sempach 1386,4 wobei starke Veränderungen in der Durchführung dieses Ereignisses seit Beginn des 21. Jahrhunderts vorgenommen wurden, weil diese in traditionellen Formen durchgeführten Festivitäten durch rechtsextreme Kreise instrumentalisiert und zunehmend politisiert wurden. Durch eine 1
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Allgemein zu den eidgenössischen Schlachtjahrzeiten: Kreis: Schlachtjahrzeiten. Neuerdings hierzu: Hugener: Buchführung, S. 171–294. Siehe auch Landolt: Eidgenössisches »Heldenzeitalter«, S. 77–84, mit einer Eingliederung der Schlachtjahrzeiten als Teil der militärischen Erinnerungskultur in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Vgl. Henggeler: Schlachtenjahrzeit, S. 185 (Lungern, Kanton Obwalden). Zur Näfelserfahrt: https://www.lebendige-traditionen.ch/tradition/de/home/traditionen/n aefelser-fahrt.html, Zugriff: 26.02.2022. Allgemein zum Sempacher Schlachtjahrzeit die verschiedenen Beiträge in: Sempacher Schlachtjahrzeit in Geschichte und Gegenwart.
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Teil III: Tod in Krieg und Revolution
Neugestaltung der Feierlichkeiten konnte diese politische Fehlentwicklung aber weitgehend gestoppt werden.5 Die Festivitäten rund um die Schlacht am Morgarten von 1315 wurden, nachdem diese in der Frühen Neuzeit beinahe in Vergessenheit gerieten, vor allem im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts stark erweitert (unter anderem mit Schützenwettkämpfen).6 Für die Ausbildung eines eidgenössischen wie insbesondere auch schweizerischen Geschichtsbewusstseins in populären Formen waren solche Schlachtjahrzeiten von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Schlachtjahrzeiten sind im Bereich der alten Eidgenossenschaft gemäß allgemeiner Forschungsansicht »die früheste Form volkstümlicher Geschichtsvermittlung«, womit »die Kriegsgeschichte zum eigentlichen Rückgrat des eidgenössischen Geschichtsbewusstseins« geworden sein soll.7 Vor allem über die Forschungen des Einsiedler Benediktinerpaters Rudolf Henggeler (1890–1971) wurde die Bedeutung der Schlachtjahrzeiten für den Raum der Zentralschweiz besonders bekannt,8 wobei es aber auch in anderen Regionen der heutigen Schweiz solche Schlachtjahrzeiten gab.9 Mit der Einführung der Reformation brach diese Tradition in den zum protestantischen Glauben übertretenden eidgenössischen Kommunen aber ab.10
1. Gefallenenlisten in der militärischen Erinnerungskultur Dabei muss allerdings festgehalten werden, dass diese in rituellen Formen durchgeführte Totenmemoria keineswegs ein rein eidgenössisches respektive im schweizerischen Raum feststellbares Brauchtum war, sondern dieses Phänomen sich
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Vgl. Schmutz: Millionen, S. 215–219. Vgl. Sutter: Gedenken. Marchal: »Alten Eidgenossen«, S. 317. Schon Henggeler: Jahrzeitbücher, S. 41, bemerkt, dass diese »Schlachtberichte […] für unsere Vorfahren sozusagen der einzige Geschichtsunterricht (waren), den sie bekamen. Da wurde Jahr für Jahr die Kriegsgeschichte der Eidgenossenschaft verlesen, da hörte man von den alten Kämpfen und Schlachten, und das prägte sich tief in das Gemüt und Herz unseres Volkes ein, umsomehr, wenn dann bei den Gefallenen auch die aus der eigenen Familie und Geschlecht Umgekommenen verlesen wurden.« Vgl. Henggeler: Schlachtenjahrzeit. Zur Biografie Henggelers: Jäggi: Henggeler, Rudolf. Auch die 1916 erschienene Edition des Urner Staatsarchivars Eduard Wymann (1870–1956) zum Schlachtjahrzeit des Landes Uri war eine wichtige Grundlagenarbeit (Wymann: Schlachtjahrzeit). Zur Biografie Wymanns: Gisler-Jauch: Wymann, Eduard. Siehe insbesondere die Untersuchungen zu Bern: Hugener: Buchführung, S. 174–216. Eine eigentliche Ausnahme blieb der Länderort Glarus, wo zwar die Mehrheit der Bevölkerung den reformierten Glauben annahm, aber eine starke katholische Minderheit an den Feierlichkeiten in der Erinnerung an die Schlacht bei Näfels 1388 festhielt. Mit einem kurzen Unterbruch zwischen 1639 und 1655, während der das evangelische Lager der Näfelserfahrt fernblieb, lässt sich eine Kontinuität der Durchführung der Feierlichkeiten feststellen (Müller: Näfelser Fahrtfeier).
Oliver Landolt: Kriegsgefallenenlisten
auch in anderen Regionen Europas und ebenso zu verschiedenen Zeiten ermitteln lässt.11 Insbesondere die Praxis des Erstellens von Gefallenenlisten lässt sich sogar bis in die Antike zurückverfolgen: So erfuhren die im Dienst griechischer Poleis in Schlachten gefallenen Krieger eine besondere Verehrung in ihren kommunalen Gemeinschaften.12 Die beinahe listenartige Erfassung von gefallenen Kämpfern, insbesondere von solchen mit einem höheren sozialen Status, ist auch aus der Zeit des Frühmittelalters dokumentiert.13 Listen gefallener Kämpfer, vor allem von hohen Adligen, aber vereinzelt auch solche von niedrigeren sozialen Rängen, sind insbesondere in der chronikalischen Überlieferung auch aus dem Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England dokumentiert.14 Aus dem Raum der heutigen Schweiz und der angrenzenden Gebiete sind vor allem aus der Zeit des Spätmittelalters die überlieferten Listen der adligen Gefallenen auf habsburgischer Seite in der Schlacht bei Sempach von 1386 bekannt, die in unterschiedlichen Versionen, teilweise schon kurz nach dem militärischen Ereignis, entstanden sind und auch in zahlreiche chronikalische Darstellungen Eingang gefunden haben.15 Diese Gefallenenlisten dienten, geordnet nach sozialem Rang und regionaler Herkunft der gefallenen Adligen, ursprünglich vor allem auch propagandistischen Zwecken, indem das Haus Habsburg nach der verheerenden Schlachtenniederlage bei Sempach seine herrschaftlichen Ansprüche im Raum der heutigen Schweiz weiterhin aufrechterhielt.16 Die am frühesten überlieferten Sempacher Gefallenenlisten beschränkten sich ausschließlich auf die gefallenen adligen Kämpfer, während
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Für den Raum des heilig-römischen Reiches: Graf: Schlachtengedenken in der Stadt; Graf: Schlachtengedenken im Spätmittelalter. Verwiesen sei auch auf die Internetpräsenz von Klaus Graf zu diesem Thema: https://rwth-aachen.academia.edu/KlausGraf, Zugriff, 04.04.2022. Vgl. Schröder: Polis; Arrington: Inscribing Defeat. Vgl. Scharff: Kämpfe, S. 201–203. Siehe als Beispiel die im Februar 880 stattgefundene sogenannte »Normannenschlacht«, in welcher zahlreiche hochrangige sächsische Adlige gefallen waren und in den Annales Fuldenses verzeichnet wurden (Annales Fuldenses, S. 94). Vgl. Courroux: What Types, S. 138–140; siehe auch Prietzel: Tod, S. 66. Eine Zusammenstellung der einzelnen, längeren oder kürzeren Gefallenenliste bei: Liebenau: Schlacht, S. 102–104 (Nr. 3), S. 104f. (Nr. 4), S. 112 (Nr. 18), S. 116–120 (Nr. 22), S. 123f. (Nr. 31), S. 126–137 (Nr. 37), S. 139 (Nr. 43), S. 139f. (Nr. 44), S. 140 (Nr. 45), S. 140f. (Nr. 46), S. 141–144 (Nr. 48), S. 152–154 (Nr. 54), S. 158–161 (Nr. 65), S. 161 (Nr. 66), S. 163f. (Nr. 70), S. 164–166 (Nr. 72), S. 170f. (Nr. 81), S. 172f. (Nr. 84), S. 173f. (Nr. 85), S. 179–187 (Nr. 95), S. 187–189 (Nr. 97), S. 190–193 (Nr. 98), S. 198–201 (Nr. 102), S. 203–205 (Nr. 106), S. 206–208 (Nr. 110), S. 210 (Nr. 113), S. 211f. (Nr. 117), S. 212–216 (Nr. 118), S. 222–226 (Nr. 128), S. 227–231 (Nr. 129), S. 233–236 (Nr. 132), S. 236f. (Nr. 133), S. 238–241 (Nr. 134), S. 253–263 (Nr. 147), S. 266–269 (Nr. 152), S. 271–286 (Nr. 155), S. 289–295 (Nr. 163), S. 296–300 (Nr. 166), S. 300f. (Nr. 167), S. 302 (Nr. 168), S. 303 (Nr. 170), S. 306f. (Nr. 175), S. 307–309 (Nr. 178), S. 309f. (Nr. 180), S. 310f. (Nr. 182), S. 311–318 (Nr. 183), S. 322 (Nr. 191), S. 323 (Nr. 192), S. 326f. (Nr. 201), S. 328 (Nr. 202). Vgl. Koller: Schlacht; siehe auch Krieb: Totengedenken.
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die sozial niedriger gestellten Angehörigen des habsburgischen Heeres – wenn überhaupt – nur summarisch erwähnt werden. So sind in der schon kurz nach der Schlacht entstandenen sogenannten »Frankfurter Verlustliste« nacheinander die »Herren« (Herzog Leopold III., Grafen), die »ritter« sowie die »edelknecht« in sozial absteigender Hierarchie verzeichnet, wobei verschiedentlich bei den Edelknechten nur die Anzahl und die Herkunft, nicht aber die Namen der einzelnen Gefallenen vermerkt werden, sondern sich gelegentlich der Zusatz findet, »die man nit nemen kunt«.17 Allerdings variierten diese verschiedenen Sempacher Gefallenenlisten je nach Region der Entstehung sehr unterschiedlich, indem verschiedentlich die regional gefallenen Adligen innerhalb der erhaltenen Listen namentlich erwähnt werden beziehungsweise sehr viel ausführlicher sind. In den Jahrzeitbüchern der einzelnen Orte finden sich dann tatsächlich aber immer wieder auch die Namen der in der Schlacht bei Sempach gefallenen »gewöhnlichen« Stadtbewohner. So nennt beispielsweise das um 1500 erneuerte Jahrzeitbuch des Chorherrenstiftes St. Mauritius in Zofingen die Namen der gefallenen Stadtbewohner, wobei sogar die Berufe der einzelnen Kriegsopfer erwähnt werden (»institor«, »panicida«, »calcifex«, »sutor«, »carnifex«, »aurifaber«, »faber«, »hospes«, »agricola«).18 Auch auf eidgenössischer Seite gibt es Listen von in der Schlacht bei Sempach Gefallenen, wobei diese allerdings zumeist aus späterer Zeit stammten. Eine wohl private Stiftung war diejenige des in der Schlacht gefallenen Petermann von Gundoldingen, ehemaliger Luzerner Schultheiss und Oberbefehlshaber der Luzerner Truppen im Sempacherkrieg. An ihn wird in mehreren Jahrzeitstiftungen erinnert.19 Die wohl älteste erhaltene Liste von eidgenössischen Kämpfern in der Sempacher Schlacht ist diejenige, die der Luzerner Melchior Russ († als Söldner in den Diensten Uris am 22. Juli 1499 im Gefecht bei Rheineck) in seinen um 1482 entstandenen chronikalischen Aufzeichnungen überliefert.20 Das Schlachtjahrzeit von Uri, das eine Liste der Urner Gefallenen bei Sempach aufführt, stammt von 1489.21 Die Einrichtung des Schwyzer Schlachtjahrzeits für die Gefallenen bei Sempach ist nicht datiert, wobei die ältesten Jahrzeitbücher aus dem Land Schwyz, in welchen Gefallenenlisten des Sempacherkrieges erhalten sind, aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts überliefert sind.22 Zum Teil beruhen die Angaben in diesen Jahrzeitbüchern auf älteren, 17 18 19
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Liebenau: Schlacht, Nr. 3, S. 102–104. Liebenau: Schlacht, Nr. 67, S. 347. Das Original dieses Jahrzeitbuches wird vermisst; es existieren nur Abschriften aus der Zeit um 1800 (Hugener: Buchführung, S. 387). Vgl. Henggeler: Schlachtjahrzeit, S. 266 (Jahrzeitbuch, um 1455, des Benediktinerklosters im Hof in Luzern); ebd., S. 266 (Jahrzeitbuch, ca. Ende 13. Jahrhundert, des Franziskanerklosters in Luzern); ebd., S. 267 (Jahrzeitbuch, um 1518, des Franziskanerklosters in Luzern); Liber Anniversariorum (Benediktinerinnenkloster Engelberg, 14. Jahrhundert), S. 377. Vgl. Vonarburg Züllig: Melchior Russ, T. 62; Egloff: Russ. Vgl. Henggeler: Schlachtjahrtzeit, S. 9f. Vgl. ebd., S. 66–69.
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heute nicht mehr erhaltenen Jahrzeitbüchern, die in die neuen Bücher – manchmal nicht ohne Fehler – kopiert wurden.23 Manchmal mussten die Angaben sogar aus dem Gedächtnis rekonstruiert werden, wie dies im Falle des 1566 neuangelegten Jahrzeitbuchs von Appenzell überliefert ist; ein älteres Jahrzeitbuch fiel 1560 beim Dorfbrand von Appenzell den Flammen zum Opfer.24 Vielleicht mögen die Listen von in Schlachten gefallenen Adligen – so wie diejenige aus der Schlacht bei Sempach 1386 – ursprünglich Pate gestanden haben bei der Entstehung ähnlicher Gefallenenlisten in den einzelnen Orten der heutigen Schweiz. Allerdings gibt es aus dem kommunalen Bereich ebenfalls schon früh solche Listen: Aus der Stadt Bern ist eine Schlachtjahrzeit mit der Nennung verschiedener gefallener Stadtbewohner erhalten, die im Gefecht bei der Schosshalde 1289 gegen das königliche Heer König Rudolfs von Habsburg ihr Leben verloren hatten.25 Ebenso wurden die Namen von im sogenannten Guglerkrieg von 1375 getöteten Bernern im Jahrzeitbuch der Deutschordenskommende und damaligen Pfarrkirche der Aarestadt verzeichnet.26 Ein Verzeichnis mit 31 gefallenen Stadtbewohnern ist ebenfalls aus der damals unter habsburgischer Herrschaft stehenden Stadt Baden, die im Gefecht bei Dättwil gegen Zürcher Truppen 1351 getötet worden waren, überliefert. In der Folge stiftete die Stadt ein jeweils am Stefanstag (26. Dezember), dem Jahrestag des kriegerischen Ereignisses, gefeiertes Schlachtjahrzeit.27 Neben der besonderen Verehrung der Toten, die im Dienste ihrer kommunalen Gemeinschaft im Krieg gefallen waren, spielten aber auch andere Gründe eine Rolle für solche Schlachtjahrzeiten inklusive der beigefügten Gefallenenlisten. So dürfte vor allem die spirituelle Fürsorge für die Kommunen – ähnlich wie die soziale Verantwortung für die Hinterbliebenen von Kriegsgefallenen28 – ebenfalls ein Grund für die Einrichtung von Schlachtjahrzeiten gewesen sein.29 Schließlich 23
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Siehe z.B. das Jahrzeitbuch von Küssnacht, wo ein Ortsunkundiger, Niklaus Diedenheim, mit der Erneuerung des Küssnachter Jahrzeitbuchs im Jahre 1639 betraut war (Kälin: Jahrzeitbuch). Diedenheim soll gemäß den Angaben im Küssnachter Jahrzeitbuch fürstlich murbachischer Stadtschreiber gewesen sein. Vgl. Hugener: Gefallene Helden, S. 17–19. Vgl. Hugener: Buchführung, S. 192f. Zu diesem militärischen Ereignis: Landolt: Schosshalde. Die Berner mussten eine eigentliche Sühnestiftung für den im Gefecht auf Seiten des königlichen Heeres gefallenen Grafen Werner von Homberg wie auch andere gefallene Adlige leisten (Berner-Chronik des Conrad Justinger, S. 34). Vgl. Annales Bernenses, S. 274. Siehe hierzu Hugener: Buchführung, S. 204f. Die Namen der Gefallenen sind aufgeführt bei Fricker: Geschichte, S. 61f. Siehe hierzu z.B. die durch die Stadt Luzern am 29. Februar 1476 in der Zeit der Burgunderkriege gemachte Verordnung der »Fürsorge für die Waisen der im Kriege gefallenen Bewohner von Stadt und Landschaft sowie für die Verwundeten und ihre Kinder« (SSRQ LU I/3, Nr. 138, S. 162–164). Siehe hierzu Graf: Schlachtgedenken, S. 88.
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waren die in der Schlacht Gefallenen den besonders gefürchteten jähen Tod – ohne Sterbesakramente – gestorben; nach der damaligen Auffassung konnten diese nur durch die Gebete und guten Werke der Lebenden aus dem Fegefeuer errettet werden.30 So sahen sich auch die kommunalen Gemeinschaften in Verantwortung genommen, die Finanzierung des Seelenheils der in Schlachten Gefallenen zu übernehmen: Beispielsweise finanzierte das Land Schwyz nach Ende des sogenannten Alten Zürichkriegs (1436–1450) eine allgemeine Schlachtjahrzeit für die in diesem Krieg Gefallenen in allen »lütkilchen« des Landes Schwyz (Arth, Steinen, Sattel, Schwyz, Muotathal, Morschach), wobei jährlich 18 Pfund »von unnßers gemeinen lanndts stüren und bruchen« gezahlt wurden und dieses Schlachtjahrzeit jeweils am Fridolinstag (6. März) gefeiert wurde. In späterer Zeit wurden in dieses Schlachtjahrzeit auch weitere Gefallene aus weiteren Kriegszügen (ferner Eroberung des Thurgaus 1460, Sundgauerzug 1468, Burgunderkriege 1476, Schlacht bei Giornico 1478) aufgenommen. Ebenso wurden nach dem Ende des Schwabenkriegs 1499 die Kriegsgefallenen dieses Krieges in dieses jährliche Schlachtjahrzeit miteingeschlossen, wobei auf Landeskosten die Jahrzeit um 6 Pfund aufgebessert wurde.31 Während das Land Schwyz mehrere Schlachtjahrzeiten innerhalb des Jahres für verschiedene Kriegszüge feierte,32 kannten andere eidgenössische Orte beziehungsweise Pfarreien häufig nur ein Schlachtjahrzeit pro Jahr, nicht selten den sogenannten »Zehntausendrittertag« (22. Juni),33 verschiedentlich aber auch den »Fridolinstag« (6. März).34
2. Schlachtjahrzeiten in der historischen Überlieferung Auch in chronikalischen Darstellungen wurden immer wieder Kriegsgefallenenlisten integriert: In seiner als Augenzeuge verfassten Chronik über den sogenannten Alten Zürichkrieg vermerkte der damalige Schwyzer Landschreiber Hans Fründ († um 1469) in einer Liste die Namen der Schwyzer Gefallenen im Gefecht vom 22. Mai
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Vgl. Tremp: Wie fromm, S. 28. Jahrzeitbuch der Pfarrkirche St. Martin, S. 122–130. Siehe die Zusammenstellung in: Ebd., S. 45f. Zum Schlachtjahrzeit des »Zehntausendrittertags«: Landolt: Eidgenössisches »Heldenzeitalter«, S. 79f. Der »Fridolinstag« (6. März) war der Jahrestag der Schlacht bei Ragaz (6. März 1446), das letzte größere Ereignis des sogenannten Alten Zürichkriegs. Insbesondere in der angehörigen Landschaft des Landes Schwyz, der March, wurde der Fridolinstag als allgemeine Schlachtjahrzeit gefeiert vgl. Henggeler: Schlachtenjahrzeit, S. 98f. (Pfarrei Altendorf), S. 102–104 (Pfarrei Galgenen), S. 116f. (Pfarrei Lachen), S. 144f. (Pfarrei Wangen). Die March wie auch die Höfe, eine während des Alten Zürichkriegs eroberte Landschaft des Länderortes Schwyz, waren Hauptschauplätze dieser militärischen Auseinandersetzungen (Landolt: Land Schwyz).
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1443 bei Freienbach.35 Zumindest summarisch notierte Fründ auch die Namen der prominenten Gefallenen auf der zürcherischen Seite wie insgesamt auch die Zahl der übrigen Zürcher Gefallenen.36 Wie aus dem Ende seiner Chronik hervorgeht, hatte Fründ sich auch vorgenommen, die »namen die so in dem vergangnen krieg umbkomen sind vor und nach usserm land ze Swytz, sy sigent gesin lantlüt, oder ire söldner« zu verzeichnen. Das Verzeichnis dieser gefallenen Schwyzer Landleute beziehungsweise ihrer Söldner fehlt allerdings in der Chronik.37 In beinahe akribischen Formen verzeichnete der Glarner Chronist Aegidius Tschudi (1505–1572) in seinem Chronicon Helveticum wiederholt Listen mit den Gefallenen der einzelnen Schlachten, wobei Tschudi diese vor allem aus Jahrzeitbüchern und Schlachtjahrzeitrodeln aus Innerschweizer und Glarner Pfarreien kopierte (Morgarten 1315,38 Laupen 1339,39 Sempach 1386,40 »mordnacht« zu Weesen 1388,41 Näfels 1388,42 Arbedo 1422,43 Freienbach 1443,44 Gefecht am Hirzel 1443,45 St. Jakob an der Sihl 1443,46 St. Jakob an der Birs 1444,47 zu Eglisau sowie Erschlagene und Hingerichtete 1446,48 Belagerung von Waldshut 146849 ).
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Vgl. Chronik des Hans Fründ, S. 132, Nr. 128: »Diss sind dera namen, die uf der von Swytz teil ze Fryenbach umbkament.« Vgl. Chronik des Hans Fründ, S. 132, Nr. 127: »und bliben da der vyenden, die ze tod erschlagen wurdent, herr Albrecht von Landenberg, ritter, der schultheiss von Raperswyl und sin sun, und dann ander by inen, das man der vyenden xL. in ein grub leit, die was gemacht ze Fryenbach uf Grützen; dera waren vier ertrunken.« Summarisch zählte Fründ auch die prominenten Gefallenen auf Zürcher Seite beim Gefecht vor der Stadt Zürich am 22. Juli 1443 auf (ebd., S. 158, Nr. 153). Auffällig ist in Fründs Chronik verschiedentlich das »Bodycounting« der Kriegsgefallenen; siehe zum Beispiel (ebd., S. 137f.). Allgemein zum »Bodycounting« im Mittelalter: Gagné: Counting the Dead. Chronik des Hans Fründ, S. 293. Vgl. Tschudi: Chronicon Helveticum, Teil 3, 356 (namentlich aufgezählt werden einzig die aus Uri Gefallenen). Daneben einzelne prominente Gefallene auf Habsburgs Seite. Vgl. Tschudi: Chronicon Helveticum, Teil 4, S. 283. Vgl. Tschudi: Chronicon Helveticum, Teil 6, S. 184–187 (die Gefallenen aus den eidgenössischen Orten Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Glarus) u. S. 187–191 (die auf Seite Habsburgs umgekommenen Adligen). Vgl. ebd., S. 238f. Vgl. ebd., S. 253–255 (Gefallene aus Glarus, Uri und Schwyz). Vgl. Tschudi: Chronicon Helveticum, Teil 9, S. 110–112 (Gefallene aus Uri, Unterwalden und Glarus). Vgl. Tschudi: Chronicon Helveticum, Teil 11, S. 122 (Gefallene aus Schwyz). Vgl. ebd., S. 128f. (Gefallene aus Unterwalden und Uri). Vgl. ebd., S. 170 (Gefallene aus Schwyz). Vgl. ebd., S. 295–297 (Gefallene aus Glarus); S. 297f. (Gefallene aus Schwyz); S. 298 (Gefallene aus Uri und Unterwalden). Vgl. ebd., S. 431 (Erschlagene und Hingerichtete aus Uri). Vgl. Tschudi: Chronicon Helveticum, Teil 13, S. 433 (Gefallene aus Unterwalden).
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Die in den Jahrzeitbüchern respektive den Schlachtjahrzeiten überlieferten Listen von Kriegsgefallenen waren mit hoher Wahrscheinlichkeit keineswegs vollständig; dieser Tatsache waren sich auch die damaligen Zeitgenossen bewusst. Im Schlachtjahrzeit für Schwyzer Gefallene in den Mailänderkriegen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, gefeiert jeweils am ersten Montag im Juni, wird nach der Aufzählung von Kriegsgefallenen aus den einzelnen Schwyzer Vierteln folgendes festgehalten: »Hieby so gedennckenndt mir ouch aller dero, so die unnßeren ußerthalb lanndes verloren hanndt, ouch sollenndt mir nit vergeßen aller dero, von Altten Orten und verwantten gemeiner Eydgnoschafft verloren hanndt, dero namen der ewygen wyßheytt unverborgen. Gott welle sy all barmhertziglichen übersehen und sy trösten unnd mitt ewyger seligkeit begaben, amen.«50
3. Der Schlachtentod der Vorfahren – soziales Kapital für das »Vaterland« und für die »Familienehre« Einerseits fanden diese in Kriegszügen und Schlachten Gefallenen im Rahmen der in mittelalterlicher Zeit entwickelten Totenmemoria in traditionellen Formen eine besondere Erinnerung; andererseits wurden diese Toten durch die Nachfahren für das »Vaterland« wie auch für die »Familienehre« speziell verehrt.51 Gerade Letzteres wurde durch die politischen Führungsschichten innerhalb der einzelnen kommunalen Gemeinwesen für ihre eigenen Interessen bisweilen auch in besonderer Weise instrumentalisiert. Denn häufig erscheinen Vorfahren dieser politischen Führungsschichten auf diesen Gefallenenlisten und dokumentieren auf diese Weise die besondere Verbundenheit dieser gesellschaftlichen Eliten mit dem Gemeinwesen. Die Nachfahren akkumulierten hiermit soziales Kapital aus dem Schlachtentod ihrer Vorfahren.52 Wie aus verschiedenen Beispielen hervorgeht, müssen solche Gefallenenlisten deshalb auch »gefälscht« worden sein, indem Vorfahren solcher bedeutenden Familien in diese Listen aufgenommen wurden. Besonders bekannt ist dies im Falle der Nidwaldner Familie Winkelried: Der in der Schlacht bei Bicocca 1522 gefallene Söldnerführer und Ritter Arnold Winkelried war wohl das Vorbild für den sagenhaft überlieferten Arnold von Winkelried, der sich angeblich in der Schlacht bei Sempach 1386 in die habsburgische Lanzenphalanx stürzte und so »den Seinen eine Gasse machte«.53 Überliefert ist der Name Winkelried als Held der Schlacht bei 50 51 52 53
Jahrzeitbuch der Pfarrkirche St. Martin, S. 163. Siehe hierzu für die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Eidgenossenschaft im besonderen: Hugener: Gefallene Helden; Büsser: Besondere Tote. Siehe auch Sonderegger: Zum eigenen und zum Nutzen anderer, S. 230. Sprichwörtlich gewordene Redewendung, die sich auf eine angebliche Aussage Winkelrieds bezieht und bereits im Sempacherlied erwähnt wurde [Anm. durch die Herausgebenden].
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Sempach erstmals im sogenannten »Halbsuterlied«, aufgenommen in die zwischen 1532 und 1536 entstandene Liederchronik des aus Zug stammenden Werner Steiner (1492–1542).54 Ein eindrückliches Zeugnis über die »Fälschung« von Kriegsgefallenen ist auch aus dem Anniversar von Pleiv im Lugnez (Kanton Graubünden) bekannt: Dort sind 24 Personen verzeichnet, die angeblich in der Schlacht an der Calven, während des sogenannten Schwabenkriegs 1499, gefallen sein sollen. Eine genauere prosopografische Untersuchung dieser Gefallenenliste zeigt allerdings, dass nur ein Teil dieser Männer tatsächlich in dieser militärischen Auseinandersetzung gefallen war. Die meisten der Genannten hatten sich zwar an der Schlacht beteiligt, waren aber auch noch nach 1499 in öffentlichen Ämtern tätig, hatten also dieses kriegerische Ereignis überlebt. Vielleicht verehrte man in späterer Zeit diese Leute, wie dies der aus dem Kanton Graubünden stammende Historiker Martin Bundi (1932–2020) vermutet, wegen ihrer Tapferkeit im Krieg.55 Eher zu vermuten ist, dass diese Personen der lokalen Führungsschicht respektive ihre Nachkommen ihr bleibendes Andenken zur Steigerung des familiären Ansehens innerhalb der kommunalen Gemeinschaft durch einen solchen Eintrag im Jahrzeitbuch verewigen wollten. Liturgisch sollte auf diese Weise immer wieder an das durch diese den Eliten angehörenden Familien erbrachte Opfer den nachfolgenden Generationen vergegenwärtigt werden. Diese Praxis war wohl auch bei den Urner Gefallenen in der Schlacht bei Morgarten 1315 – wie diese im Urner Schlachtjahrzeit von 1489 aufgeführt werden – der Fall.56 Die in der Schlacht bei Morgarten 1315 angeblich als Kriegsgefallene erwähnten Urner entpuppen sich beim genaueren Quellenstudium nämlich als Angehörige bedeutender Geschlechter, wobei insbesondere der als »ritter« bezeichnete Heinrich von Hospenthal wie auch Cuonrat von Beroldingen und Rüdi Fürst als zu diesen Familien gehörende Personen identifiziert werden können. Die von Hospenthal waren ein ursprünglich ritteradliges Geschlecht aus dem Urserental, das im 13. und 14. Jahrhundert politisch einflussreich war, aber nach 1400 diesen Einfluss allmählich verlor und auch sozial abstieg.57 Die von Beroldingen hingegen lassen sich zwar schon seit dem 13. Jahrhundert nachweisen, machten allerdings erst im 15. Jahrhundert einen steilen sozialen und politischen Aufstieg durch.58 Die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts urkundlich nachweisbare Familie Fürst gehörte zur bäuerlichen Oberschicht Uris und verfügte über politischen Einfluss; insbesondere die
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Das Lied selber ist eine Kompilation aus verschiedenen Liedtexten, von denen die ältesten Textteile sich bis ins späte 15. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Siehe hierzu Suter: Arnold Winkelried, S. 35–40. Vgl. Bundi: Calven, S. 241. Vgl. Henggeler: Schlachtjahrzeit, S. 8. Fryberg: Hospental, von. Vgl. Kälin: Beroldingen, von.
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Urschweizer Befreiungstradition wies diesem Geschlecht im sogenannten Weissen Buch von Sarnen, entstanden in den 1470er-Jahren, eine besondere Bedeutung zu.59 Ob die im Urner Schlachtjahrzeit erwähnten Kriegsgefallenen jemals gelebt haben oder ein reines Phantasieprodukt waren, entzieht sich unseren Kenntnissen. Schon Wilhelm Oechsli (1851–1919) hielt das »Verzeichnis der am Morgarten gefallenen Urner für apokryph.«60
4. Fazit Kriegsgefallenenlisten stellen insgesamt eine interessante, aber nicht immer einfach zu interpretierende, bis in die Antike sich zurückverfolgende Quellengruppe dar. Zu den verschiedensten Fragestellungen lassen sich vielfältige Informationen gewinnen, wobei der unterschiedliche Umgang mit Leben und Tod durch die Gesellschaft(en) im Laufe der Zeiten einer besonderen Betrachtung unterzogen werden kann. Diese Listen nahmen in der militärischen Erinnerungskultur von Gemeinschaften eine wichtige Rolle ein: Die in den Listen verzeichneten Kriegsgefallenen hatten vor allem in der Selbstwahrnehmung der einzelnen Gemeinschaften und speziell auch in den Familien, denen diese gefallenen Vorfahren angehörten, eine besondere Funktion. Das durch die Vorfahren auf dem Schlachtfeld erbrachte »Opfer« konnte für solche Familien eine Art soziales Kapital darstellen, das unter Umständen politisch durch die Nachfahren zum eigenen »Ruhm« genutzt werden konnte.
Bibliografie Gedruckte Quellen Annales Bernenses (Chronica de Berno), in: Georg Heinrich Pertz (Hg.): Annales aevi Suevici, Bd. 2 (Monumenta Germaniae Historica SS, Bd. 17), Hannover 1861, S. 271–274. Annales Fuldenses sive Annales Regni Francorum Orientalis ab Einhardo, Ruodolfo, Meginhardo Fuldensibus Seligenstadi, Fuldae, Mogantiaci conscripti cum continationibus Ratisbonensi et Altahensibus, hg. v. Georg Heinrich Pertz (MGH SS rer. Germ. 7), Hannover 1891. Die Berner-Chronik des Conrad Justinger, hg. v. G. Studer, Bern 1871.
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Vgl. Das Weiße Buch von Sarnen, S. 13. Zur Familie Fürst: Stadler, Fürst. Oechsli: Anfänge, S. 197, Anm. 2.
Oliver Landolt: Kriegsgefallenenlisten
Die Chronik des Hans Fründ, Landschreiber zu Schwytz, hg. v. Christian Immanuel Kind, Chur 1875. Henggeler, Rudolf: Das Schlachtenjahrzeit der Eidgenossen nach den innerschweizerischen Jahrzeitbüchern (Quellen zur Schweizer Geschichte, Abt. II: Akten, Bd. 3), Basel 1940. Das Jahrzeitbuch der Pfarrkirche St. Martin, Schwyz, bearb. v. Franz Auf der Maur (Die Jahrzeitbücher des Kantons Schwyz, Bd. 1), Schwyz 1999. Liber Anniversariorum (Benediktinerinnenkloster Engelberg, 14. Jahrhundert), in: Franz Ludwig Baumann (Hg.): Necrologia Germaniae, Bd. 1: Dioeceses Avgvstensis, Constantiensis, Cvriensis (Monumenta Germaniae Historica Necr., Bd. 1), Berlin 1888, S. 374–382. Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, Abt. III: Die Rechtsquellen des Kantons Luzern. Erster Teil: Stadtrechte, Bd. 3: Stadt und Territorialstaat Luzern. Satzungen, Eidbuch, Stadtrechtbuch und andere normative Quellen (1461–1489), bearb. von Konrad Wanner (abgekürzt: SSRQ LU I/3), Basel 2005. Tschudi, Aegidius: Chronicon Helveticum, 3. Teil, bearb. v. Bernhard Stettler (Quellen zur Schweizer Geschichte, NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. VII/3), Basel 1980. – Chronicon Helveticum, 4. Teil, bearb. v. Bernhard Stettler (Quellen zur Schweizer Geschichte, NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. VII/4), Basel 1983. – Chronicon Helveticum, 6. Teil, bearb. v. Bernhard Stettler (Quellen zur Schweizer Geschichte, NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. VII/6), Basel 1986. – Chronicon Helveticum, 9. Teil, bearb. v. Bernhard Stettler (Quellen zur Schweizer Geschichte, NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. VII/9), Basel 1992. – Chronicon Helveticum, 11. Teil, bearb. v. Bernhard Stettler (Quellen zur Schweizer Geschichte, NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. VII/11), Basel 1996. – Chronicon Helveticum, 13. Teil/2. Hälfte, bearb. v. Bernhard Stettler (Quellen zur Schweizer Geschichte, NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. VII/13), Basel 2000. Das Weiße Buch von Sarnen, bearb. v. Hans Georg Wirz (Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Abt. III: Chroniken, Bd. 1), Aaarau 1947. Wymann, Eduard: Das Schlachtjahrzeit von Uri. Im Auftrage der hohen Landesregierung als Andenken an die sechste Jahrhundertfeier der Schlacht am Morgarten und zur Erinnerung an die 1316 zu Uri ausgefertigten Bundesbriefe, Altdorf 1916.
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Teil III: Tod in Krieg und Revolution
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Teil III: Tod in Krieg und Revolution
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Gefallen und geordnet Die Beisetzung der Berliner Märzgefallenen von 18481 Moisés Prieto
Am 22. März 1848 trug die Stadt Berlin ihre 183 vom preußischen Militär auf den Barrikaden getöteten Kämpfer*innen zu Grabe. Die meisten von ihnen gehörten dem Kleinbürgertum oder dem Proletariat an.2 Doch auch Angehörige des Großbürgertums hatten sich an der Revolution beteiligt.3 Manfred Gailus relativiert in diesem Sinne: »Nicht Gehrock und Zylinderhut beherrschten das Bild an und auf der Barrikade, sondern die flache Proletariermütze, die leinene Blouse und der Arbeitskittel.«4 Diese Bemerkung steht in direktem Kontrast zu den zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen des späteren Trauerzuges, wo die Attribute ›bourgeoiser‹ Symbolik den öffentlichen Raum dominierten (siehe zum Beispiel Abb. 1). Die schwarz-rot-goldenen Trikoloren und die Trauerflore zierten die Särge während des Trauerzuges an jenem Tag. Doch inwiefern schmückte sich nicht auch das (Groß-)Bürgertum mit den Särgen toter Kämpfer*innen? Inwiefern versuchte es nicht, etwas vom ›Heldentum‹ der Verstorbenen abzubekommen?
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Für die fruchtbaren Diskussionen zum Thema bin ich Nina Kreibig und Christoph Hamann zu großem Dank verpflichtet. Ebenfalls danke ich Bärbel Holtz und Klaus Tempel für die nützlichen Hinweise bei der Recherche im Geheimen Staatsarchiv (Preußischer Kulturbesitz). Vgl. Hoppe/Kuczynski: Schichtenanalyse, S. 200–205; Hachtmann: Berlin 1848, S. 178. Für eine gründliche Diskussion über Bürgertum im 19. Jahrhundert verweise ich hier auf Kocka: Bürgertum, insbes. S. 11–19. Gailus: »Pöbelexcesse«, S. 12.
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Teil III: Tod in Krieg und Revolution
Abb. 1: Neuruppiner Bilderbogen. Leichenbegängniß der am 18–19 März gefallenen Freiheitskämpfer, Neuruppin, 1848.
Quelle: Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.-Nr.: IV 61/1341 S.
Eine Möglichkeit, dieser Frage nachzugehen, bietet sich durch eine Annäherung an den Begriff der Ordnung, der in der zeitgenössischen Publizistik mal als Antithese zu Revolution, mal als moderierendes Konzept verwendet wird. Am 11. März 1848 berichtete die Berliner Vossische Zeitung folgendermaßen über eine Volksversammlung, die am Abend des 9. März stattgefunden hatte: »Alle diese Reden athmeten zwar das Princip des Fortschritts, aber lediglich des in den Schranken der Ordnung und des Gesetzes begründeten Fortschritts. Ermahnungen zur Eintracht und zum Schutze des Eigenthums und der Person wurden daher überall vorangestellt und von der Menge auch mit einstimmigem Beifall angenommen. Nur keine Emeute, dies schien das allgemeine Loosungswort der Versammlung zu sein, welche überhaupt trotz der so nahe liegenden Verführung eine bewunderungswürdige Ruhe und Würde entwickelte. […] Die Redner, meist junge gebildete Männer, hatten ihre Vorträge völlig parlamentarisch geordnet.«5 Die im Artikel mit Nachdruck betonte Ordnung zeugt von der Absicht, jeglichen Anschein von Umsturz und Rebellion aus dem Weg zu räumen. Entgegen diesem
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Vossische Zeitung, Nr. 60, 11.03.1848.
Moisés Prieto: Gefallen und geordnet
Ausdruck von ausgesprochener Loyalität und Gehorsam, hatten auch die zwei vorangegangenen »Zeltenversammlungen« eine bedeutsame Wirkung. »Weit über den unmittelbaren Teilnehmerkreise rüttelten sie große Teile der Berliner Bevölkerung auf«, schreibt Rüdiger Hachtmann.6 Indessen kann der wiederholte Verweis auf Ordnung in der Zeitung als Gegendiskurs zu den Nachrichten aus Frankreich verstanden werden, wo zwei Wochen zuvor im Zuge der Februarrevolution die Zweite Republik ausgerufen worden war.7 Als eine Woche später, am 18. März, erbitterte Barrikadenkämpfe das Bild der Berliner Straßen prägten, blieb von der postulierten Ordnung kaum etwas übrig. Auslöser für die Straßengefechte war ironischerweise eine Loyalitätskundgebung der Berliner Bevölkerung gewesen, die sich für die Gewährung von Pressefreiheit und die Einberufung des Vereinigten Landtages zum Stadtschloss begeben hatte, um König Friedrich Wilhelm IV. zu danken. Das Drama begann, als an jenem Nachmittag seitens des preußischen Militärs zwei unabsichtliche Schüsse fielen.8 Der Rest ist Geschichte. Ordnung ist ein menschliches Bedürfnis. Es beschreibt einen Zustand der Stabilität und der Sicherheit. Durch diese Bewandtnis kann es als Antithese zu Chaos oder zu Freiheit, aber auch zu Gewalt verstanden werden, obschon paradoxerweise zum Zwecke der Ordnung auf Gewalt rekurriert werden kann. Ordnung lässt sich schwer definieren und gut nuancieren. Man kann aus einer Ordnung ausbrechen wollen, sie bekämpfen ohne dabei Ordnung an sich abzulehnen. Zygmunt Bauman schreibt in Moderne und Ambivalenz: »Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte – und der Gründe – all dessen, was nicht assimiliert werden kann – nach der Delegitimierung des Anderen.«9 Die Revolution von 1848 mit ihren Barrikadenmomenten stellt in vielerlei Hinsicht eine Krise der Ordnung dar. Gerade die Tatsache, dass Vertreter*innen sämtlicher sozialer Gruppen gemeinsam auf den Barrikaden standen, und die darauffolgende Inszenierung einer »fast mythische[n] Einheit des Volkes«10 zeigen die Weglassung von Grenzen als Ordnungsbruch im Sinne Baumans.11 Im Zusammenhang mit der Berliner Märzrevolution von 1848 und ihren Gefallenen drückte sich das Streben nach Ordnung in vielfältiger Erscheinung aus. Die erste davon erkennt man in den unterschiedlichen Totenlisten, die für den internen (sprich bürokratischen) oder öffentlichen (sprich politischen) Gebrauch erstellt wurden. Die Erhebung der Gefallenenzahlen, der Versuch, die Leichen zu identifizieren, 6 7 8 9 10 11
Hachtmann: Berlin 1848, S. 130. Vgl. ebd., S. 120–125; Gildea: Barricades, S. 84. Vgl. Hachtmann: Berlin 1848, S. 152–156; Hettling: Begräbnis, S. 95; Hettling: Die Toten, S. 58f.; Laser u.a.: Friedhof, S. 18–21. Bauman: Moderne, S. 21. Hettling: Totenkult, S. 26; vgl. Hachtmann: Berlin 1848, S. 139, 174 und 179; Hoppe/Kuczynski: Schichtenanalyse, S. 203–205. Vgl. Dreßen: Gesetz, S. 88.
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schreibt sich in eine althergebrachte Praxis ein, die Verstorbenen beim Namen zu nennen.12 Im Sinne eines homerischen Heldenkults stellt Sabine Mainberger fest: »Es [das Heraufbeschwören der Toten] ruft das Vergangene, das wie die Toten Teil des Kosmos und der aktuellen Wirklichkeit ist, herbei, d.h. es läßt nur eine Schranke zwischen Gegenwart und Vergangenheit fallen und für einen Augenblick die Toten zu den Lebenden kommen.«13 Die Liste mit ihren Einträgen schafft aber auch die Illusion von Kontrolle über den Tod; sie ist deshalb auch ein Ausdruck der behördlichen Macht der Listenverfasser über die Ohnmacht der Eingetragenen und Nicht-Eingetragenen. Ein weiterer Ausdruck von Ordnung dringt in den öffentlichen Raum ein. Hier wird der lange Umzug der Särge vom Gendarmenmarkt bis zum Friedrichshain über das Stadtschloss zu einer Performance der Ordnung, zu einer Choreografie, die zugleich feierlich und dramatisch sein will. Mehr als das: Der Zug der Särge wird zu einer nicht-verbalen Liste, die sich vor dem Balkon des Königs hinzieht, der durch das Entblößen des Hauptes Respekt und Kenntnisnahme zollt. Die dritte Ordnungserscheinung ist die eigentliche »An-Ordnung« der Särge und Gräber in wohldefinierten Sektionen auf dem ad hoc errichteten Friedhof der Märzgefallenen als Abschluss des ersten Aktes der Märzrevolution in Berlin.
1. Kriterien der Ordnung Wie sehr sich weite Teile der Berliner Bevölkerung nach dem früheren Ordnungszustand sehnten, lässt sich in der kollektiven Bittschrift an den Polizeipräsidenten in Berlin, Julius von Minutoli, erkennen: »Die unterzeichneten Bürger Berlins von der Ueberzeugung durchdrungen, daß das Militair nicht nur zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Ruhe wesentlich beiträgt, sondern auch besonders dem Gemeinwohl der Stadt dadurch förderlich ist, daß der Bürger weniger als bisher durch den Dienst für die öffentliche Sicherheit abgehalten wird, seiner Berufsgeschäften abzuliegen, schließen sich dem bereits wiederholt ausgesprochenen Wunsche an, daß Sr. Majestät befehlen mögen, daß einige Regimenter Linientruppen wieder in Berlin einrücken.«14
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Vgl. Laqueur: Work, S. 375; siehe auch Goltermann: Opfer, S. 32–43. Mainberger: Kunst des Aufzählens, S. 274. Bittschrift an den Polizei-Präsidenten J. v. Minutoli, 28.03.1848, Geheimes Staatsarchiv (Preußischer Kulturbesitz) (GStA PK), VI. HA. Nachlass Julius von Minutoli, Nr. 3, Bl. 4.
Moisés Prieto: Gefallen und geordnet
Unter den Unterzeichneten finden sich unterschiedliche Professionen, vom Kleidermacher und »Cigarrenfabrikanten« bis hin zu einem Porzellanmacher. Es ist ein Wunsch nach Ordnung, der sich selbst geordnet in zwei Spalten manifestiert. Eine Woche davor waren die knapp zweihundert Gefallenen ebenfalls einem systematischen und vielfältigen Ordnungsregime unterworfen worden. Adolf Wolff (1819–1878) beschreibt in seiner Berliner Revolutionschronik den ›Werdegang‹ der toten Barrikadenkämpfer*innen, wie folgt: »Die Leichen der (bürgerlichen) Gefallenen waren zunächst in die benachbarten Häuser des Kampfplatzes gebracht worden. Von dort wurden sie in verschiedene Kirchen, ein Theil, auf Veranlassung des Königs, in bestimmte Räume des königlichen Schlosses geschafft. An letzteren Orten wurden die Leichen gereinigt, bekleidet und zum größten Theile in Särge gelegt. In der Nacht vom 20sten zum 21sten waren alle diese Särge nach der Neuen Kirche auf dem Gendarmenmarkte gebracht worden; etwa vierzig Leichen, für die noch keine Särge hatten angefertigt werden können, wurden anfangs noch auf den freien Raum vor dem Altare nebeneinander gelegt.«15 Hier stellen wir fest, wie ›bürgerlich‹ im Sinne von ›zivil‹ vornehmlich als Abgrenzung zum Soldatenstand verwendet wird. Die Beschreibung des logistischen (Mehr-)Aufwands, wonach die Leichen zuerst in die Kirchengemeinden, zu denen die Verstorbenen gehört hatten, dann aber in die Neue Kirche auf dem Gendarmenmarkt untergebracht wurden, deckt sich mit der Erzählung von August Braß’ Berlin’s Barrikaden.16 Es folgt bei Wolff ein wörtliches Zitat aus der Vossischen Zeitung. Hier ist die Rede von… »eine[m] unbeschreiblich erschütternden Anblick, als man diese ungeheure Masse von Leichen und Särgen vor sich sah. Gegen Morgen, heißt es weiter, entwickelten sich hier eine Reihe von Scenen, welche auch die geschickteste Feder vergeblich zu beschreiben suchen würde. Angstvolle Mütter, Töchter, Bräute, die seit Beendigung des Kampfes ihre Männer, Söhne, Brüder, Geliebten vermißt hatten, traten in die Kirche, suchten unter den Reihen der Todten, mit stierem trockenem Auge umher, endlich erkannten sie in dem dämmernden Morgenlichte die Züge der Gestorbenen. Ein Angstschrei und sie stürzten Händeringend neben den Todten nieder. Von Minute zu Minute erneuerte sich diese Scene. Ein junger Geistlicher, welcher im vollen Ornat neben den Leichen stand, war zuletzt ganz erschöpft von dem mühevollen Werke der Tröstung«.17
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Wolff: Revolutionschronik, Bd. 1, S. 302. Vgl. Braß: Berlin’s Barrikaden, S. 113f. Wolff: Revolutionschronik, Bd. 1, S. 302; vgl. Vossische Zeitung, 24.03.1848.
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Beim besagten »jungen Geistlichen« dürfte es sich nicht um den damals 48-jährigen Pastor Adolph Sydow gehandelt haben, von dem später die Rede sein wird. Seine Tochter Marie verfasste 1885 eine Biografie über ihn. Die Überführung der Leichen in die Neue Kirche wirkt in ihrer Ausführung unter anderem als gezielt forensischer Akt zur Quantifizierung und Identifizierung18 der noch namenlosen Gefallenen: »Es galt in erster Linie die Zahl der Todten festzustellen. Man beschloß, dieselben aus der ganzen Stadt an einen Ort zu bringen und erwählte dazu die Neue Kirche auf dem Gensdarmenmarkt. Dort wurden sie auf Stroh niedergelegt, und Sydow hatte das schwere Amt, während dreier Tage, dort, wo er gewohnt war sich mit seiner Gemeinde zu erbauen, nun unter oft herzzerreißendem Jammer, aufzurichten und zu trösten.«19 Schon bald wurde die Frage nach der Bestattung der toten Kämpfer*innen aufgeworfen. Dieser Angelegenheit nahm sich ein ad hoc gebildetes Bestattungskomitee an, das aus Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung bestand.20 Letztere Institution hatte auf Geheiß des Komitees beschlossen, Soldaten und Barrikadenkämpfer*innen gemeinsam zu Grabe zu tragen und zu bestatten.21 Ein entsprechendes behördliches Plakat besagte und rechtfertigte in diesem Sinne: »Bürger! Im Kriege ist jeder Bürger Soldat! Soldaten! Im Frieden ist jeder Soldat Bürger! Bürger und Soldaten! Umarmen wir uns als Brüder desselben Vaterlandes und erweisen unsern gefallenen Mitbrüdern gemeinschaftlich die letzte Ehre. Ein Friedhof umfasse die Leichen der Gefallenen und ein einiger Trauerzug, Bürger und Soldaten Arm in Arm sei ihr Geleite. Derselbe Frieden, der die Gefallenen im Grabe vereint, möge die Lebenden umschließen.«22 Hier stellt man fest, wie Versöhnung zum Zwecke der Ordnung als Befriedung beabsichtigt wird. Dies wiederum würde auf Kosten einer anderen Ordnung geschehen, also jener Ordnung, die Opfer von Tätern – wobei diese Rollenzuweisung je nach Adressaten variabel ist – und die Zivilisten von Militärs unterscheidet. Die Barrikadenkämpfe und ihre Toten stellten in vielerlei Hinsicht eine Krise dar, also eine Situation, die eine Entscheidung erforderte, etwa über den Begräbnisort und die Würdigung der Verstorbenen. Wie Anja Hamann, Nina Kreibig und Katja Martin schreiben, »wohnen Krisen sowohl eine Drohung als auch ein Versprechen
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In der Tat konnten bis auf 25 Gefallene alle identifiziert werden. Vgl. Hachtmann: Berlin 1848, S. 173. Sydow: Sydow, S. 101. Vgl. Hachtmann: Berlin 1848, S. 214; Hettling: Totenkult, S. 20f. Vgl. Hachtmann: Berlin 1848, S. 214f. Zit. Wolff: Revolutionschronik, Bd. 1, S. 304.
Moisés Prieto: Gefallen und geordnet
auf eine neue Ordnung inne, die die Instabilität als sicher erachteter Ordnungssysteme anzuzeigen vermag«.23 Nicht nur die spezifische Umbruchssituation des »tollen Jahres«, sondern überhaupt die Umbruchsepoche der »Sattelzeit« lieferten den Handlungsraum für Entscheidungen und Muster mit weit reichenden Folgen. Die Empörung kam von beiden Seiten: Für das Bürgertum hätte eine gemeinsame Bestattung das ›Heldentum‹ der Gefallenen verschmäht und die Revolution negiert.24 »[D]as Volk wollte eine Entweihung des Andenkens seiner Märzhelden« verhindern,25 heißt es in einer zeitgenössischen Chronik. Doch auch der Armeeführung war eine derartige posthume Fraternisierung mit den Revolutionären ein Dorn im Auge.26 Das Bestattungskomitee musste schließlich die Vorstellung eines gemeinsamen Begräbnisses aufgeben. Diese Frage wurde im Jahre 1850 neu aufgerollt, als ein sich in Briefen ausgetragener Disput zwischen dem Berliner Oberbürgermeister Franz Christian Naunyn und dem ehemaligen Polizeipräsidenten Minutoli über die Verantwortung der involvierten Beteiligten unter anderem für die getrennte Beisetzung von Militärs und Zivilisten entfachte.27 Die Gefallenenlisten, wie sie für oder im Auftrag des Komitees erstellt wurden, wurden dementsprechend an dem Kriterium der zivilen Opfer orientiert. In der Tat zirkulierten in dieser Zeit zahlreiche Totenlisten, welche versuchten, den Verstorbenen und den ihren Verletzungen erlegenen Verwundeten gerecht zu werden. Manche Listen sind nicht namentlich und dienen beispielsweise dazu, Rechnung über die von der Stadtkasse bezahlten Särge zu führen.28 Andere hingegen zeigen jene forensische Absicht, die Identität der Leichen erkennbar zu machen, wie das Verzeichniß der in der Neuen Kirche am 20., 21., und 22. Maerz 1848 recognoscirten Leichen.29 Die unnachvollziehbare Reihenfolge der Anträge und die genutzten Kriterien – Vorund Zunahme, Stand, Wohnung/Straße – zeigen den Makulatur- und PalimpsestCharakter dieser Abschrift. Zu den 122 Einträgen wurden 13 weitere hinzugefügt. Deutlich elaborierter ist hingegen die Nachweisung der nachträglich an den erhaltenen Wunden verstorbenen und bestatteten Freiheitskämpfer, die zusätzlich zu den genannten Kriterien zwischen »Todestag« und dem »Datum des Todesscheins« unterscheidet. Weitere Spalten fragen nach der jeweiligen Parochie, dem Begräbnisplatz – wo bei nahezu allen »Friedrichshain« steht –, Tag und Stunde der Beerdigung sowie der »Anweisung zur Verabfolgung eines Sarges, Sterbehemdes und Mittel-Lei23 24 25 26 27 28 29
Hamann/Kreibig/Martin: Hinführung, S. 31. Vgl. Hettling: Begräbnis, S. 98f. Die Gegenwart, Bd. 2, S. 573. Vgl. Hachtmann: Berlin 1848, S. 215; Minkels: 1848 gezeichnet, S. 164–167. Vgl. Minkels: 1848 gezeichnet, S. 247–252. Vgl. Nummerisches Verzeichniß der bis 29.03.[1848] Abends ausgefüllten Grabstellen, o. D., Landesarchiv Berlin (LAB), A Rep. 001–02, GB Nr. 2441, Bl. 37. Vgl. Verzeichniß der in der Neuen Kirche am 20., 21., und 22. Maerz 1848 recognoscirten Leichen vom 18./19. Maerz 1848, o. D., LAB, A Rep. 001–02, GB Nr. 2441, Bl. 63–66.
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chenwagens«.30 In dem »Übergang« von der vorherigen zu dieser Liste erkennen wir eine »ausserordentliche Ordnung«, welche die Verstorbenen taxonomisch als »Märzgefallene« oder ähnlich kennzeichnet und physisch auf eine neu angelegte Begräbnisstätte bestattet. Die nächste Liste weist einen offiziellen Charakter auf. Als handschriftliche Tabelle ist sie wie die vorherigen auch nicht für die Augen der Öffentlichkeit gedacht. Als alphabetische Reinschrift suggeriert sie auf den ersten Blick die Idee der Vollständigkeit und des Wunsches nach einem endgültigen Abschluss. Sie enthält »alle bisher polizeilich gemeldeten, am 18. und 19. d. M. gefallenen und späterhin an ihren Wunden verstorbenen Freiheitskämpfer«.31 Diese Uebersicht besteht aus 176 Einträgen, wovon der Letzte Ernst Zinna geweiht ist.32 Demgegenüber entstanden auch gedruckte Listen für die Öffentlichkeit mit Randverzierungen aus der Trauerikonografie oder jene, die in der Zeitung abgedruckt oder öffentlich auf Litfaßsäulen angebracht wurden.33 In einem Zustand der revolutionären Euphorie, der auch zu einem großen Teil mit Ungewissheit verbunden war, rekurrierten unterschiedliche Akteure für unterschiedliche Zwecke auf die Darstellungsform der Liste. Das vornehmlich aus eher konservativen Mitgliedern bestehende Bestattungskomitee,34 das Polizei-Präsidium, aber auch berufliche Verbände, wie die »Gesellenschaft der vereinigten Buchbinder«,35 produzierten ihre Toten-Verzeichnisse. Doch anders als bei den staatlichen Akteuren dienen diese gedruckten Listen dem Gedenken im Sinne einer symbolischen Wiederholung zwecks Wiedererzeugung der »durch das Opfer evozierte[n] Kraft«.36 In der Produktion und dem Konsum der Liste treffen, je nach Adressaten, das Faktische und das Pathetische aufeinander. Gleichwohl verweist diese Dichotomie auf eine andere Gegenüberstellung: das weitestgehend nüchterne Administrative versus das vorbildhaft Didaktische, welches kommenden Generationen weitergegeben werden soll. In diesem Zusammenhang gab es auch durchaus eine Zusammenarbeit, etwa als die Polizei F. W. Deichmann, dem Vater eines Märzgefallenen, ihre Liste zur Vervollständigung des Verzeichnisses der Grabstellen zu Verfü-
30 31 32 33 34 35 36
Nachweisung der nachträglich an den erhaltenen Wunden verstorbenen und bestatteten Freiheitskämpfer, o. D., LAB, A Rep. 001–02, GB Nr. 2441, Bl. 68–72. Uebersicht der in Berlin gefallenen Freiheitskämpfer, 1. April 1848, LAB, A Rep. 001–02, GB Nr. 2441, Bl. 73–78. Zinnas Alters- und Standesangabe lautet hier »15« bzw. »Knabe« (Hoppe/Kuczynski: Schichtenanalyse, 267f.). Vgl. Verzeichniß der an den Märztagen in Berlin Gefallenen, o. D., LAB, F Rep. 310, GB Nr. 383b; Vossische Zeitung, Nr. 71, 24.03.1848. Vgl. Hachtmann: Berlin 1848, S. 214. Vgl. Dem Andenken unserer am 18. Maerz 1848 im Kampfe für die Freiheit gefallenen Brüder, 18.03.1850, LAB, F Rep. 310, GB Nr. 119b. Hettling: Totenkult, S. 11.
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gung stellte.37 In jedem Fall handelt es sich hier um praktische Listen, weil sich ihre Einträge auf echte »Gegenstände« – die Leichen der Märzgefallenen – beziehen und weil sie wirklich nur diese Gegenstände beinhalten. Die laufende Ergänzung der Liste macht diese allerdings wandelbar, was für eine Mischform im Sinne einer poetischen Liste spricht.38
2. In Ordnung und Würde Es war auch das Bestattungskomitee, das den Friedrichshain als Begräbnisplatz für die gefallenen Barrikadenkämpfer*innen sowie die Strecke des Umzuges vom Gendarmenmarkt bis zum Beisetzungsort bestimmte.39 Die Grablegung wurde für den 22. März disponiert. An jenem Mittwoch um 14 Uhr begann der feierliche Leichenzug in einer Stadt, die mit schwarz-rot-goldenen Trikoloren und mit Trauerfloren geschmückt war. Die Vossische Zeitung berichtete einen Tag später Folgendes: »Überall sah man die Gewerke und Corporationen, die Abtheilungen der Bürgergarde, der Schützen, der Studirenden, zusammentreten, sich ordnen und nach ihrem Bestimmungsort abmarschiren. Alles in der größten Ordnung, in feierlicher Stille, imponirend durch die unübersehbaren Massen, die sich zusammensetzten.«40 In der Tat betrug die Anzahl der Teilnehmenden über 20.000 Personen. Der Festzug dauerte insgesamt vier Stunden und erstreckte sich über 7,5 km.41 Ruhe und Ordnung werden im selben Artikel wiederholt betont, während der Hinweis auf die »reichen Uniformen« der Schützengilde einen martialischen Eindruck erwecken. Als die ersten Särge das Stadtschloss erreichten, trat Friedrich Wilhelm IV. auf dem Balkon auf und entblößte sein Haupt.42 Der Historiker Manfred Hettling interpretiert des Königs Auftreten in Uniform als eine Parteiergreifung für das Militär. Ferner schreibt er, »daß fast keine Uniformen zu sehen waren und kaum Orden, daß nur Auszeichnungen für die Teilnahme an den Feldzügen von 1813 getragen wurden. Das Erscheinungsbild wurde dominiert durch die schwarze Kleidung der Menschen. […]
37 38 39 40 41 42
Vgl. Laser u.a.: Friedhof, S. 55f. Vgl. Eco: Liste, S. 113. Vgl. Hettling: Totenkult, S. 21. Vossische Zeitung, Nr. 70, 23.03.1848. Vgl. Hettling: Begräbnis, S. 106f. Vgl. ebd., S. 105.
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Schwarzer Rock und Zylinder statt der Uniform bei den sonstigen, vom Militär geprägten Umzügen bestimmten das Äußere.«43 Und wirklich zeigen die zeitgenössischen Bilder des Trauerumzuges ebendieses bürgerliche Tenue, was Ulrike Döcker »die ›Uniform‹ des Bürgers« seit dem frühen 19. Jahrhundert nennt.44 Dies wirft die Frage auf, inwiefern man hier eine bürgerliche Aneignung eines eigentlich militärischen Formats erkennen kann. Nicht von ungefähr heißt es in einer anderen Quelle in Bezug auf die Ehrerbietung durch den König: »Es war die erschütterndste Revue, die je ein König abgehalten.«45 Dies suggeriert das Leichenbegängnis als militärische Parade sui generis.46 Auch der Abschluss der Trauerfeier untermauert diese Interpretation, wenn »die Ehrensalven der Schützengilde« zur Sprache kommen.47 Der minutiös organisierte Trauerzug, bestehend aus wohldefinierten Abschnitten wie unterschiedlichen Innungen, Körperschaften, Stadtverordneten, Vertretungen der Geistlichkeit, Bürgergarde, Schützengilde und Frauen wird zu einer Apotheose der Ordnung.48 Die Feier mit ihrer Choreografie präsentiert sich als inszenierte und performative Liste, die sich im öffentlichen Raum entfaltet und diesen dominiert. Die Särge – die allermeisten davon mit dem Namen des oder der Verstorbenen versehen – wurden zu »passierenden« Listeneinträgen. Doch dieser Liste kommt noch ein weiteres Attribut zu. Unter den zahlreichen Zuschauern befand sich auch der Maler Adolph Menzel (1815–1905), der die Aufbahrung auf dem Gendarmenmarkt in einem bedeutenden Gemälde verewigte.49 In einem Brief an seinen Freund Carl Heinrich Arnold berichtet er über seine Eindrücke beim Vorbeiziehen der Särge: »ich [sic!] habe den Trauerzug nach einander von verschiedenen Orten aus beobachtet, und namentlich auch lange dem Schlosse gegenüber. […] Die Züge waren auch endlos. ich [sic!] machte einen weitläufigen Gang durch umliegende Straßen, kam wieder auf den Schloßplatz, und noch immer bewegten sich neue Fahnen, neue Särge, tönte neue Musik von der Schloßfreiheit herauf.«50 43 44 45 46 47 48 49 50
Ebd., S 107. Döcker: Ordnung, S. 139 (Herv. i. O.); vgl. Hachtmann: Die Revolution von 1848, S. 28. Die Gegenwart, Bd. 2, S. 574. Vgl. Mainberger: Kunst, S. 241; Belknap: The List, S. 11. Die Gegenwart, Bd. 2, S. 574; vgl. Braß: Berlin’s Barrikaden, S. 119. Vgl. Die Gegenwart, Bd. 2, S. 573f.; Braß: Berlin’s Barrikaden, S. 116–119; Wolff: Berliner Revolutionschronik, Bd. 1, S. 315–328. Vgl. Forster-Hahn: Aufbahrung, S. 221–232. Brief von Adolph Menzel an Carl Heinrich Arnold, Berlin, 23. März 1848, aus: Menzel, Adolph: Briefe, hg. v. Claude Keisch/Marie Ursula Riemann-Reyher, 4 Bde., Bd. 1: 1830 bis 1855 (Quellen zur deutschen Kunstgeschichte vom Klassizismus bis zur Gegenwart, Bd. 6), München 2009, S. 248.
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Menzels Kommentar vermittelt den Eindruck einer unendlichen Liste, einer Prozession, die sich ewig hinzieht,51 einer »Endlosschleife von Särgen«, die den Eindruck bewirkt, die Zahl von 183 weit zu übersteigen. Die Idee einer nach oben offenen Aufzählung der Toten wird zusätzlich von der Feststellung untermauert, dass es zusätzlich Verwundete gab, die »noch immer nachsterben«.52
3. »Und so stehen die Särge.«53 Menzel, der zwar den Gefallenen den gebührenden Respekt zollt, aber in der Unordnung »den schlimmsten Feind des Bürgertums« erkennt,54 beschrieb im selben Brief auch die Anordnung der Särge auf dem frisch eingeweihten Friedhof. Er verzichtete jedoch auf eine wörtliche Umschreibung, sondern skizzierte das Muster des Grundrisses.55 Fehlten wohl dem Meister die Worte dafür, sodass er auf sein ›Metier‹ zurückgreifen musste? Die Gestaltung der neu angelegten Grabstätte auf einer Anhöhe im Friedrichshainer Park dürfte sicherlich einige Zeitzeugen beeindruckt haben. Auffallend ist die Karree-Struktur,56 die an eine Gefechtsformation erinnert, wie sie noch im 19. Jahrhundert üblich war. Betrachtet man die zeitgenössische Grafik von Wilhelm Loeillot (siehe Abb. 2), so suggeriert diese gar eine Bastion,57 also eine Festungsanlage. Die gefallenen Märzkämpfer*innen wurden hier reihenweise beerdigt (siehe Abb. 3). Die gedruckte Liste von Deichmann, deren Erlös für die Anfertigung von Grabkreuzen gedacht war, zeigt ebendiese Struktur. Das Verzeichnis ist zweigeteilt: Zuerst werden die eigentlichen Märzgefallenen aufgelistet. Der zweite Teil ist denjenigen geweiht, »welche später an ihren Wunden verstorben sind und in der äusseren Reihe begraben liegen«.58 Auffallend sind hier die absichtlich offen gebliebenen Grabstellen. Nach welchen Kriterien die Reihen oder Abteilungen zusammengesetzt wurden, lässt sich aus dem vorhandenen Material nicht eruieren. So ist in der VII. Abteilung der Advokat August Carl Wenzel neben einem Webergesellen und einem pensionierten Wachtmeister begraben.59 Sydow pflichtet dieser
51 52 53 54 55 56 57 58 59
Vgl. Eco: Liste, S. 17; siehe auch die Prozession auf S. 138f. Brief von A. Menzel an C. H. Arnold, Berlin, 23. März 1848, in: Menzel: Briefe, Bd. 1, S. 248. Ebd. Gaehtgens: Revolution, S. 102f. Vgl. Brief von A. Menzel an C. H. Arnold, Berlin, 23. März 1848, in: Menzel: Briefe, Bd. 1, S. 246. Vgl. Hettling: Totenkult, S. 35. Nicht von ungefähr trug die Stelle, wo der Friedhof angelegt wurde, den Namen »Kanonenberg« (Kitschun: Friedhof, S. 62). Vollständiges Verzeichniß von sämmtlichen im Friedrichs-Haine Beerdigten, Berlin [1849], S. 11, aus: LAB, A Rep 001–02, GB Nr. 2442. Ebd., S. 9; vgl. Hoppe/Kuczynski: Schichtenanalyse, S. 265.
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ständeübergreifenden Beisetzung in seiner Grabrede bei: »Ehre jedem Stande, und jeder gerechten Forderung gerechte Rücksicht.«60
Abb. 2: Wilhelm Loeillot, Friedrichshain. Begräbnis und Einsegnung der am 18. und 19. März Gefallenen, Berlin, 1848.
Quelle: Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.-Nr.: VII 65/249 w.
60
Zit. Sydow: Sydow, S. 107.
Moisés Prieto: Gefallen und geordnet
Abb. 3: Ottomar Erdmann, »Plan vom Friedrichshaine bei Berlin«, Berlin, 1848.
Quelle: Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.-Nr.: IV 59/579 S b.
Es galt in der Rede des Predigers, die Versöhnung und Eintracht zu fördern und die Gewalt zu bändigen.61 Wenn die Gräber die Grenze zwischen Ständen aufhoben, so nivellierte Sydow rhetorisch auch jene zwischen Opfern und Tätern: »[A]ber den braven Gegner, der mit seiner Einsicht und seinem Gewissensurtheil noch in dem gegnerischen System gebunden ist, sollen wir ehren und nicht hassen.«62 Dies wurde durch den gemeinschaftsbildenden Verweis auf die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 noch deutlicher gemacht: »Wofür unsere Väter in den großen Kriegen unserer Freiheit gestritten, was mehr oder weniger durch die Unbill der Herrscher und durch die Ungunst der Zeiten uns vorenthalten und verkümmert worden, es ist jetzt errungen, daß wir es bewachen, daß wir es nicht von Neuem verlieren, daß wir es nun ordnungsmäßig ausgestalten.«63 61 62 63
Vgl. Hettling: Die Toten, S. 60; Hachtmann: Berlin 1848, S. 217. Zit. Sydow: Sydow, S. 105. Ebd., S. 107.
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Durch die Anspielung auf 1813/15 wird die unliebsame Idee des Bürgerkrieges aus dem Weg geschafft; stattdessen wird ein vergangener Krieg gegen einen gemeinsamen Feind heraufbeschworen. Zwei Tage später, als Antwort auf die Beisetzung auf dem Friedrichshain, wurde ein Manifest der Bürgerwehr verfasst. Gefordert wurde nun eine ähnliche Ehrerbietung für die gefallenen Soldaten: »Es drängt uns, unsere Stimme mit unserem hochherzigen Könige für den Wahlspruch zu vereinigen: Vergeben und Vergessen, Frieden mit allen Söhnen des Vaterlandes. Das Grab, welches sich über unsere theuren Helden geschloßen hat, hat jeden Haß und allen Bruderzwist für immer beschloßen. Das Duell ist beendigt! Wir verlangen, daß unserem Heere die versöhnte Bruderhand gereicht werde. Das Heer, aus dem Volke erwachsen, aus dem großen Freiheitskampfe der Jahre 1813/15 hervorgegangen, wird, wie es den Ruhm und die Größe Preußens befestigt hat, vielleicht bald berufen sein, die Sicherheit des großen einigen deutschen Vaterlandes gegen äußere Feinde zu schützen. Ehre auch den, ihrem Eide treu gefallenen Soldaten! Wir verlangen daher auch für sie ein ehrenvolles Begräbniß mit dem Gefolge des Volkes.«64 Erneut treffen wir auf den Hinweis auf die Befreiungskriege als mythische Geburtsstunde des Heeres. Durch die Negierung von Grenzziehungen, etwa zwischen Volk und Heer oder zwischen den »ihrem Eide treu gefallenen Soldaten« und den »theuren Helden« der Barrikaden, wird wiederholt rhetorisch eine Ordnung aufgehoben, um die Ordnung schlechthin zu festigen. Die diskursiv artikulierte Un-Ordnung durch Versöhnung wird so über die Ordnung durch Gewalt gesetzt.
4. Schlussbetrachtung In den hier vorgelegten Quellen lässt sich der Wunsch erkennen, die Revolution in ihre Schranken zu weisen, sie zu kanalisieren, um Chaos und Anarchie zu verhindern.65 Karl Griewank erklärte 1950 diesen Zustand mit folgenden pointierten Worten: »Die besitzenden und gebildeten Großbürger sahen mit Grauen auf die sozialen Mächte der Tiefe, auf alle Massenbewegungen und radikalen Gleichheitswünsche; sie ersehnten einen Staat der bürgerlichen Ordnung, der das Eigentum
64 65
Begräbnis der März-Gefallenen, Teilnahme der Bürgerwehr, 24. März [1848], GStA PK, VI. HA, Nachlass Julius von Minutoli, Nr. 3, Bl, 3. Vgl. Nipperdey: Deutsche Geschichte, 1800–1866, S. 605; Hachtmann: Stand, S. 87f.
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garantierte und auch dem Arbeitgeber seine Waffen gegen unbotmäßige Arbeiter lieh.«66 Unter diesem Gesichtspunkt kann man sich fragen, ob am 22. März 1848 nicht bloß 183 Revolutionär*innen, sondern die Revolution schlechthin zu Grabe getragen wurde oder zumindest inwieweit eine solche Absicht vorhanden war. Listen trugen jedenfalls auf ihre Art zu diesem Kanalisierungsvorhaben bei. Sie speicherten quantitatives und qualitatives Wissen über das Ausmaß der Gewalt gegen die zivilen Opfer und lieferten die Grundlage für bestimmte Handlungen und zementierten die Berliner Märzrevolution als lokalen Erinnerungsort. Das Streben nach Ordnung artikulierte sich auch durch die Aneignung martialischer Symbolik, Choreografie und Rituale. Bereits der (kurzlebige) Aufruf des Bestattungs-Komitees mit seiner Gleichsetzung von Bürger und Soldat und der Forderung nach einem gemeinsamen Begräbnis zeigt dieses Vorhaben. Überhaupt stellt die Verwendung des Begriffs »Gefallene« für zivile Opfer eine Würdigung derselben und einen bemerkenswerten taxonomischen Paradigmenwechsel dar, zumal diese Bezeichnung ausschließlich für auf dem Schlachtfeld getötete Soldaten gedacht war.67 Die Hinweise auf die Befreiungskriege in der Predigt Sydows und im Schreiben der Bürgerwehr beteuern dies zusätzlich. Die Prozession mit den Särgen, also ein Trauer-Defilee, an dem auch uniformierte und bewaffnete Verbände teilnahmen, erhält den Anschein einer Militärparade von Toten. Der Auftritt des Preußen-Königs in Uniform – eine ohnehin typische Aufmachung für einen Monarchen des 19. Jahrhunderts auch für nicht-militärische Anlässe – ist hier vermutlich nicht primär als Parteiergreifung für sein Heer zu verstehen, sondern als Ehrerbietung für seine trauernden Mitbürger. Die Ehrensalven auf dem Friedhof, ein typisches Element militärischer Trauerrituale, unterstreicht zusätzlich den martialischen Charakter der Trauerfeier. Generell stellte die Idee des neu angelegten Friedhofs, anstelle der Bestattung der einzelnen Opfer im jeweiligen »organisch« gewachsenen parochialen Kirchhof einen Bruch dar. Dass offenbar versucht wurde, den zivilen Märzgefallenen posthum einen Kombattanten-Status anzuerkennen, untermauert die Interpretation der Friedrichshainer Grabstätte als Soldatenfriedhof ante litteram und der besonderen Art. Gerade dieser Aspekt sowie die zahlreichen diskursiven Verweise auf 1813/15 suggerieren eine Deutung des Friedhofs als Gegen-Dispositiv zum 1821 auf »dem höchsten Punkt in der nächsten Umgebung von Berlin« errichteten Nationaldenkmal für die Befreiungskriege.68 Selbst in dieser konträren Betrachtung eines Denkmals für gefallene Soldaten gegenüber einem solchen für durch Soldatenhand
66 67 68
Griewank: Ursachen, S. 506. Vgl. Hettling: Weichenstellungen, S. 34–36. Siegesdenkmal, S. 3.
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Gefallene lässt sich das Martialische als verbindendes Element beider Monumente erkennen. So schrieb das Bürgertum die Märzgefallenen in ein glorreiches Repertoire ›deutschen Heldentums‹ ein. Die dazu verwendete Sprache, war eine herkömmliche und wohlbekannte: die Sprache der Kriegstoten.
Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Geheimes Staatsarchiv (Preußischer Kulturbesitz), VI. HA, Nachlass Minutoli, Julius von, Nr. 3: Organisation der Bürgerwehr, Rapporte, Statut. Landesarchiv Berlin, A Rep. 001–02, Magistrat der Stadt Berlin, Generalbüro, Nr. 2441 und 2442. – F Rep. 310, Sammlung Revolution von 1848/49, Generalbüro, Nr. 383b und 119b.
Gedruckte Quellen Braß, August: Berlin’s Barrikaden. Ihre Entstehung, ihre Vertheidigung und ihre Folgen, Berlin 1848. Die Gegenwart. Eine encyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte für alle Stände, 12 Bde., Bd. 2, Leipzig 1849. Menzel, Adolph: Briefe, hg. v. Claude Keisch/Marie Ursula Riemann-Reyher, 4 Bde., Bd. 1: 1830 bis 1855 (Quellen zur deutschen Kunstgeschichte vom Klassizismus bis zur Gegenwart, Bd. 6), München 2009. Das Siegesdenkmal auf dem Kreuzberge bei Berlin: Errichtet 1821 – umgebaut 1879, Berlin [1880]. Sydow, Marie: Dr. Adolf Sydow. Ein Lebensbild, Berlin 1885. Wolff, Adolf: Berliner Revolutionschronik. Darstellung der Berliner Bewegungen im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen, 3 Bde., Bd. 1, Berlin 1851.
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– Die Toten und die Lebenden. Der politische Opferkult 1848, in: Christian Jansen/ Thomas Mergel (Hg.): Die Revolutionen von 1848/49. Erfahrung – Verarbeitung – Deutung, Göttingen 1998, S. 54–74. – Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung, in: Ders./ Jörg Echternkamp (Hg.): Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung, München 2013, S. 11–42, doi.org/10.1524/9783486717228.11. Hoppe, Ruth/Kuczynski, Jürgen: Eine Berufs- bzw. Klassen- und Schichtenanalyse der Märzgefallenen 1848 in Berlin, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Teil IV (1964), S. 200–276. Kitschun, Susanne: Der Friedhof der Märzgefallenen – Entwicklung einer nationalen Gedenkstätte, in: Christoph Hamann/Volker Schröder (Hg.): Demokratische Tradition und revolutionärer Geist, Freiburg i.Br. 2010, S. 61–69, doi.org/10.1007/978-3-86226-327-1_4. Kocka, Jürgen: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert: europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: Ders. (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, München 1988, S. 11–76. Laqueur, Thomas W.: The Work of the Dead. A Cultural History of Mortal Remains, Princeton 2015, doi.org/10.1515/9781400874514. Laser, Kurt u.a.: Der Friedhof der Märzgefallenen im Berliner Friedrichshain – die Begräbnisstätte der Opfer zweier Revolutionen, Berlin 2015. Mainberger, Sabine: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Bd. 22), Berlin/New York 2003, doi.org/10.1515/9783110903430. Minkels, Dorothea: 1848 gezeichnet. Der Berliner Polizeipräsident Julius von Minutoli, Berlin 2003. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte, 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, doi.org/10.17104/9783406704635.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Neuruppiner Bilderbogen, Leichenbegängniß der am 18.–19. März gefallenen Freiheitskämpfer, Neuruppin, 1848. Lithographie; 34,00 cm x 42,00 cm. Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.-Nr.: IV 61/1341 S. Abb. 2: Wilhelm Loeillot, Friedrichshain. Begräbnis und Einsegnung der am 18. und 19. März Gefallenen, Berlin, 1848. Lithographie, getönt, auf Papier, 30,00 cm x 40,00 cm. Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.-Nr.: VII 65/249 w, Reproduktion: Michael Setzpfandt, Berlin.
Moisés Prieto: Gefallen und geordnet
Abb. 3: Ottomar Erdmann, »Plan vom Friedrichshaine bei Berlin«, Berlin, 1848. Papier; Lithographie, 45,00 cm x 55,90 cm. Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.-Nr.: IV 59/579 S b.
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Der Krieg und ein Ordnungsversuch: Die ersten Verlustlisten 1914 Jan-Martin Zollitsch
»Vorgestern las ich zum erstenmal eine Verlustliste«, hielt der damals in München wohnende Philologe Victor Klemperer am 15. August 1914 in seinem Tagebuch fest.1 Die erste amtliche Verlustliste war am 9. August über die halbamtliche Nachrichtenagentur WTB (Wolffsches Telegraphen-Bureau) verbreitet worden und hatte Eingang in die Presse gefunden. Am 14. August folgte die zweite, die dritte am 17., die vierte am 18., die fünfte am 19. und so erhöhte sich der Veröffentlichungsrhythmus weiter bis zeitweise, etwa am 1. Oktober, mehrere Verlustlistenausgaben am selben Tag erschienen. Vor allem jedoch wuchs der Umfang der Verlustlisten: Hatte die erste Verlustliste noch weniger als eine Seite ausgemacht, so füllte die dritte bereits vier Seiten. Sechs Wochen später sollte sich die 36. Preußische Verlustliste über 45 Seiten erstrecken. Kein Wunder, dass zu diesem Zeitpunkt eine Überforderung mit diesem nach langen Friedensjahren ungewohnten Format eingesetzt hatte und die Dimensionen des Sterbens und des Leids immer unermesslicher erschienen: In der »Endlosigkeit der Verlustlisten« sah der liberale Publizist Theodor Wolff laut Tagebucheintrag vom 27. September denn auch einen Grund für die allgemeine Abkehr von der anfänglichen »siegeslaut[en]« Zuversicht.2 »Nun kam die Enttäuschung«, stellte gleicherweise Friedrich Siegmund-Schultze, der in Berlin sozial engagierte evangelische Theologe, einen Zusammenhang her zwischen dem »beängstigende[n] Wachsen der Verlustlisten« und dem »etwa Mitte September« einsetzenden Stimmungsumschwung.3 Mit den Listen wuchsen auch die Zweifel; »das Bewußtsein, daß von den Behörden nicht alles gesagt wurde«, wie Siegmund-Schultze kritisch in seinem Rückblick auf »Haltung und Stimmung von Berlin-Ost während der ersten Kriegsmonate« (März 1915) bemerkte. Die Gefühlslage änderte sich. Die sich konstituierende Kriegsgesellschaft fand in den fortan kriegsbestimmenden Modus des ›Durchhaltens‹. »Man ist durch die vielen Verlustlisten und die haufenweisen Todesanzei1 2 3
Klemperer: Curriculum, S. 190. Wolff: Tagebücher, S. 100. Siegmund-Schultze: Stimmung Berlin-Ost, S. 116.
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gen mit dem militärischen Kreuz wie immunisiert gegen jedes Mitgefühl für den einzelnen«, schlug sich diese Überforderung und Abstumpfung bereits am 21. September (1914) bei Klemperer nieder.4 Anhand der zitierten Aussagen über Verlustlisten und ihre Bedeutung wird ein kurzer Zeitbogen erkennbar, der sich als eine steile Eskalationskurve beschreiben lässt, ausgehend vom Erscheinen der ersten Verlustlisten Mitte August und ihrer durchschlagenden Wirkung. »Verlustliste! Dieses Wort war uns bisher kaum geläufig; aber binnen wenigen Wochen ist es so vielen so schmerzlich vertraut geworden«, hieß es bezeichnenderweise in einer evangelischen Predigt.5 Eine Vielzahl solcher Predigten, Gedichte und Artikel, die sich dem neuen Format widmeten und häufig kriegsapologetische Deutungshilfen enthielten, begleitete das Aufkommen der Verlustlisten. Eine gängige Strategie bestand in der Umdeutung von Verlust in Gewinn, von Tod in Leben. »So wollen wir die langen Listen lesen, die unsre Verluste melden«, lautete die ›Lektürehilfe‹ des evangelischen Pfarrers Otto Zurhellen vom 23. August: »Hart klingt das immer wiederkehrende Wort: tot. Aber wir wissen, sie sterben dem Herrn und leben in ihm.«6 Noch plakativer wurde die sinnstiftende Umdeutung in der Umkehrung zur »Gewinnliste«: »[D]ie Verlustliste ist Gewinnliste. Die darin stehen,/Zogen das köstlichste Los, fanden den herrlichsten Preis«, hieß es in einem der vielen »Verlustliste« betitelten Gedichte.7 Diese und weitere deeskalative Bemühungen sorgten schließlich dafür, dass das Format der Verlustlisten spätestens Ende September in den Hintergrund gedrängt wurde, wobei neben den einsetzenden Zensurmaßnahmen auch die Mischung aus allgemeiner Überforderung und Achselzucken eine Rolle spielte. »Das Publikum hat sich daran gewöhnt und erträgt es mit Phlegma«, konstatierte Wolff am 5. Oktober.8 Sieben Monate später zeigte der Blick in die Morgen-Ausgabe des von Wolff geleiteten Berliner Tageblatts vom 13. Mai 1915, dass sich auch das Schlagwort der »Gewinnliste« abgenutzt hatte: Auf Seite 18 füllten dort erst die Zahlenkolonnen der »Lotterie-Gewinnliste« mehr als zwei Spalten, bis sich daran in der dritten Spalte die ebenso endlos und wahllos erscheinenden Zahlenreihen der 222. Verlustliste anschlossen (»An der preußischen Verlustliste Nr. 222 sind folgende Truppenteile beteiligt: Infanterie usw.: […] Grenadier- bzw. Infanterie- bzw. Füsilierregimenter Nr. 1, 2, 5 (s. auch Ersatzinfanterieregiment Gropp), 9, 11, 14, 16, 24, 26, 27, 28, 30, 32, 38, 40, 41, 43, 47 […], 173, 175.«).9
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Klemperer: Curriculum, S. 210. Verlustlisten. Ein Trostwort, S. 3. Zurhellen: Verlustlisten, S. 47. Vorwerk: Verlustliste; siehe auch Verlustlisten: Ein Trostwort, S. 7. Wolff: Tagebücher, S. 103. Lotterie-Gewinnliste, in: Berliner Tageblatt, 13.05.1915 (Morgen-Ausgabe) o. S. [S. 18]; 222. Verlustliste, in: ebd.
Jan-Martin Zollitsch: Der Krieg und ein Ordnungsversuch: Die ersten Verlustlisten 1914
Abb. 1: »Lotterie-Gewinnliste« neben der Meldung über die »222. Verlustliste« (Ausschnitt unpaginierte S. 18 des Berliner Tageblatts vom 13.05.1915).
Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 2° Ztg 1950.
Dieses Aufeinandertreffen illustriert beispielhaft die Eingewöhnung der Kriegsgesellschaft des Kaiserreichs in die Dimensionen des massenhaften Sterbens sowie auch die immer abstrakter und chiffrierter werdenden offiziellen Verlautbarungen über die eigenen Verluste.
1. Fokus und Forschungsstand Verlustlisten gab es schon in den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71. Sie erschienen im amtlichen Königlich Preußischen Staats-Anzeiger und unterschieden sich kaum von jenen, die ab 1914 veröffentlicht werden sollten. Auch von einem »Central-Nachweise-Büreau« war 1870/71 bereits die Rede. Dass es sich bei dieser Unternehmung um ein Novum handelte, nämlich einer »Aufgabe, […] welche gegenwärtig zum ersten
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Male, seitdem Kriege geführt worden sind, ihrer Lösung entgegengeführt werden soll«, hob der Vorstand in einer Mitteilung vom 25. Juli 1870 hervor.10 Voraussetzung für diese Herausforderung war das Entstehen eines gesellschaftlichen Bewusstseins für die Erinnerungswürdigkeit jedes einzelnen getöteten Soldaten in den Kriegen des 19. Jahrhunderts. Svenja Goltermann spricht von einer »neue[n] öffentliche[n] Sichtbarkeit« des soldatischen Sterbens, insofern Zeitungen begannen Verlustlisten abzudrucken, Hinterbliebene Anspruch auf Fürsorge erhoben und der Staat ein gesteigertes Interesse an der Erfassung medizinischer Daten zeigte.11 Ohne diese langen Linien ist, wie Goltermann betont, der mit dem Ersten Weltkrieg einhergehende »Ordnungsversuch« nicht zu erklären.12 Nicht nur die amtlichen Verlustlisten aus dem Ersten Weltkrieg stellen ein noch weitgehend unerforschtes Quellengenre dar.13 Auch über das Zentralnachweisebüro, das mit der Erstellung der Verlustlisten beauftragt war, »ist leider nicht sehr viel bekannt«.14 Die Überlieferung seiner 1919 eingerichteten Nachfolgeinstitution, dem Zentralnachweiseamt für Kriegerverluste und Kriegergräber, ging im Zweiten Weltkrieg verloren.15 Was die Verlustlisten selbst angeht, ist die Überlieferungssituation ebenfalls weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. So wurden die Verlustlisten als Reihe des Armee-Verordnungsblatts veröffentlicht, das seit 1867 vom Preußischen Kriegsministerium herausgegeben wurde, erschienen aber auch – ab der zweiten Verlustliste – als Beilagen zum amtlichen Presseorgan des Deutschen Reichs (und Preußens), dem Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger (fortan Reichs- und Staatsanzeiger). Während letztere sich unter der seit dem 11. September 1914 bestehenden Bezeichnung »Deutsche Verlustlisten« als eigenständiges Medium etablierten, blieb der Begriff bei der Auslieferung der Verlustlisten durch das Armee-Verordnungsblatt weit weniger präsent und schaffte es auch nie in den Titelkopf. Bekannt gemacht hatte die Bezeichnung eine Mitteilung des Kriegsministeriums vom 7. September 1914, die hervorhob, dass in ihnen »die Verluste der gesamten deutschen Armee und der deutschen Flotte« versammelt seien – und nicht etwa nur der preußischen Armee.16 Sowohl was die Überlieferung in Archiven und Bibliotheken als auch was die retrodigitalisierte17 Bereitstellung angeht, sind Lücken, mitunter im Detail auch Unstimmigkeiten, feststellbar. Für die10 11 12 13 14 15 16 17
Königlich Preußischer Staatsanzeiger, 28.07.1870, S. 2924. Goltermann: Opfer, S. 22 und S. 63. Ebd., S. 29. Vgl. zuletzt Bondzio: Soldatentod, S. 312, Anm. 127. Artinger: Illustrierte Verlustlisten, S. 108. Vgl. Ulrich u.a.: Volksbund, S. 73, Anm. 3. Armee-Verordnungsblatt 48, H. 28 (08.09.1914), S. 334. Der Reichs- und Staatsanzeiger wird von der Universitätsbibliothek Mannheim als Digitalisat bereitgestellt: https://digi.bib.uni-mannheim.de/periodika/reichsanzeiger. Die als Beilagen erschienenen Verlustlisten sind jedoch oft nicht vorhanden. Die vom Armee-Verordnungsblatt
Jan-Martin Zollitsch: Der Krieg und ein Ordnungsversuch: Die ersten Verlustlisten 1914
sen Beitrag wurden alle Jahrgänge der durch das Armee-Verordnungsblatt veröffentlichten Verlustlisten durchgesehen, wie sie im Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin überliefert sind. Die Digitalisate wurden nur punktuell zum Vergleich herangezogen. Der Frage nach dem Niederschlag der Verlustlisten in der Presse wurde hingegen fast ausschließlich auf der Grundlage von digitalisierten Zeitungsausgaben nachgegangen. Der Fokus dieses Beitrags liegt auf den ersten Verlustlisten und der skizzierten Erregungskurve bis zu ihrem Abflachen. Die einzelnen Abschnitte behandeln das Zentralnachweisebüro (2.), die erste Verlustliste und ihre Wiedergabe in der Presse (3.) sowie die Frage der Reaktionen, die die Verlustlisten im August und September 1914 hervorriefen (4.). In einem Ausblick (5.) werden abschließend die Ausweitung und Ausdifferenzierung der Verlustlisten sowie die Einschränkung ihrer medialen Verbreitung im ersten Kriegshalbjahr 1914 umrissen.
2. Das Zentralnachweisebüro Die ersten Verlustlisten waren Mitte August noch auf eine aufgeregt-unsortierte, fiebrige Gesellschaft getroffen, gezeichnet von Gefühlsschwankungen und Überschussreaktionen. »Ich bin über den ganzen Gang der Ereignisse, über den ganzen Gefühlszustand bei uns eigentlich immer gleichzeitig verzweifelt und entzückt«, drückte Klemperer diesen Zustand am selben Tag, an dem er zum ersten Mal die Verlustlisten erwähnte (15. August), in seinem Tagebuch aus.18 Der Blick in die Presse bot in der Tat ein widersprüchliches Bild an Gerüchten und Dementi, Aufrufen zur Gewalt und zur Besonnenheit, euphorischen Schlagzeilen von den Fronten und lokalen Schreckensnachrichten im Kleingedruckten. »Die Straße schwirrt von Gerüchten, man rennt förmlich in sie hinein, wenn man das Haus verläßt«, hieß es im sozialdemokratischen Offenbacher Abendblatt am 18. August.19 Wenn Klemperer in München auf die Straße trat, rannte er nicht nur in Gerüchte, sondern begegnete auch den Verlustlisten: »Ich kam an der stillen Gruppe vorüber, die täglich in der Ludwigstraße vor dem Kriegsministerium steht. Dort wird Auskunft über Verluste erteilt; es ist schon die zehnte Liste erschienen«, notierte er am 28. August.20 Wer die Verlustlisten sichten wollte, musste also nicht unbedingt eine Zeitung aufschlagen, sondern konnte dies auch am Gebäude des Bayerischen Kriegsministeriums tun, an dessen Wänden die Listen angeschlagen waren. Genauer gesagt handelte
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veröffentlichten Verlustlisten sind als Digitalisate über die Wielkopolska Digital Library (Poznań) abrufbar: https://www.wbc.poznan.pl/dlibra/publication/182816. Klemperer: Curriculum, S. 190. Es soll…, in: Offenbacher Abendblatt, 18.08.1914, S. 5. Klemperer, Curriculum, S. 198.
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es sich um ein »Nachweisebureau«, das im Kriegsministerium eingerichtet worden war, um »Anfragen über den Verbleib von Angehörigen der Armee« zu bearbeiten, wie eine Bekanntmachung des Bayerischen Kriegsministeriums vom 7. August mitteilte.21 Entsprechend der Gliederung des deutschen Heeres liefen die Fäden im Preußischen Kriegsministerium in Berlin zusammen, wo kurz nach Kriegsbeginn ein »Zentral-Nachweisebureau« eingerichtet worden war. Weitere Nachweisebüros entstanden in Dresden und Stuttgart und damit für das sächsische und das württembergische Heer.22
Abb. 2: Aushang der Verlustlisten an der Außenwand des Zentralnachweisebüros in der Dorotheenstraße in Berlin (vermutlich aufgenommen in den ersten Kriegsmonaten 1914).
Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. II7242.
Gemäß Ziffer 321 der geltenden Kriegs-Sanitätsordnung von 1907 lauteten die Vorgaben an ein im Kriegsfall einzurichtendes »Zentral-Nachweisebureau« »Auskunftserteilung« und »Sammlung und Veröffentlichung der Verlustlisten«.23 Der
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Verordnungs-Blatt des Königlich Bayerischen Kriegsministeriums, H. 30 (08.08.1914). Vgl. Ulrich u.a.: Volksbund, S. 33. Kriegs-Sanitätsordnung, S. 86f.
Jan-Martin Zollitsch: Der Krieg und ein Ordnungsversuch: Die ersten Verlustlisten 1914
Großteil der Anfragen traf wohl auf dem Postweg ein, wobei bestimmte Anfragepostkarten (»rosa Karten«) zu verwenden waren, die portofrei befördert wurden.24 »Im übrigen kann in München zur Abgabe der Anfragen auch ein am Gebäude des Kriegsministeriums (Ludwigstraße) angebrachter und besonders bezeichneter Briefkasten benützt werden«, war der erwähnten Bekanntmachung des Bayerischen Kriegsministeriums vom 7. August außerdem zu entnehmen. Würde ein einzelner Briefkasten am Gebäude des Kriegsministeriums das Volumen der dort persönlich eingeworfenen Anfragen fassen können? Kamen im Kriegsverlauf weitere Briefkästen hinzu? Jedenfalls wuchs die Zahl der Mitarbeiter*innen in der Berliner Zentrale von anfangs 193 auf fast dreitausend bei Kriegsende.25 Dies war notwendig, um, wie es in einer Evaluation der Tätigkeit des »Zentral-Nachweisebüreaus« von 1929 hieß, mit der »ungeahnte[n] Ausdehnung des Krieges« und den damit einhergehenden »unvorhergesehenen Anforderungen an die Gesamtdurchführung des Nachweiswesens« mitzuhalten.26 Neunzig Millionen »Kartothekkarten«27 allein für Preußen wurden demnach in Berlin erstellt. Der Proliferation der Verluste entsprach so der mitwachsende Ordnungsversuch; im Detail eine »vielfach eintönige Arbeit«, die »ermüdend wirkte«, wie der retrospektive Tätigkeitsbericht nicht umhin kam zu bemerken.28 Neben der schriftlichen Anfrage bestand die Möglichkeit, das Zentralnachweisebüro in Person aufzusuchen (»nach Art des Postschalterdienstes«).29 Die Verlustlisten selbst waren, wie erwähnt, an den Außenmauern der Nachweisebüros angeschlagen – auch wenn diese Aushangpraxis laut Kai Artinger bald wieder eingestellt wurde30 –, lagen öffentlich aus – wofür laut Innenministerium Landräte, Magistrate und Polizei Sorge zu tragen hatten31 – und waren außerdem im Postabonnement zu beziehen. Dieses Angebot richtete sich anfangs wohl durchaus auch an die breite Bevölkerung. So beschloss im September 1914 etwa der Gemeindekirchenrat der Neuköllner Martin-Luther-Kirche, die Verlustlisten zu abonnieren, um diese nach den Namen von Gemeindemitgliedern zu durchsuchen, die dann anschließend im Gemeindeblatt wiedergegeben werden sollten.32 Insgesamt ist zu den die Verlustlisten betreffenden Rezeptionsweisen noch vieles ungewiss. Von einem großen An24
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Reichs- und Staatsanzeiger, H. 211 (08.09.1914). Siehe auch die Hinweise in der Presse, etwa: Ein Zentralnachweisbüro, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, 11.08.1914 (Zweites Blatt der Abendausgabe), S. 615. Vgl. Artinger: Illustrierte Verlustlisten, S. 109; Ulrich u.a.: Volksbund, S. 33. Geschichtsübersicht des Zentral-Nachweisebüreaus, S. 6. Ebd., S. 17, Anm. 1. Ebd., S. 6. Zentralauskunftstelle über Kriegsverluste, in: Offenbacher Abendblatt, 10.08.1914, S. 2. Vgl. Artinger: Illustrierte Verlustlisten, S. 101. Vgl. Reichs- und Staatsanzeiger, H. 200 (26.08.1914). Vgl. Hirschmüller: Gefallenen, S. 10.
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sturm auf das Zentralnachweisebüro ist aber auszugehen: Es fand sich »mit Anfragen überhäuft, die zu beantworten es gar nicht in der Lage ist«, war am 13. September einer amtlichen, in der liberalen Frankfurter Zeitung abgedruckten Meldung zu entnehmen.33
Abb. 3: Aufnahme aus dem Zentralnachweisebüro in Berlin.
Quelle: Österreichisches Staatsarchiv, AT-OeStA/KA BS IWK Fronten Bundesgenossen, 501.
3. Die erste Verlustliste und ihre Wiedergabe in der Presse Die erste Verlustliste (»Verlustliste Nr. 1«) wurde noch ohne Datum durch das Armee-Verordnungsblatt veröffentlicht.34 Sie enthielt 65 Namen. Von diesen wurden 28 als »tot«, 26 als »verwundet«, neun als »vermißt«, einer als »verletzt« und einer als »gefangen« gemeldet. Bereits die erste Verlustliste führte so eine ganze Bandbreite an möglichen Verlustformen vor Augen. Aufgeteilt in drei Spalten und gegliedert nach ihrem Truppenteil füllten die 65 Namen eine halbe Seite. Den Anfang machten in der ersten Spalte die Meldungen vom Infanterie-Regiment Nr. 18 mit dem Eintrag: »G r a b o w s k i, Gefreiter, 7. Komp. – tot.« Am Ende der dritten Spalte endete die erste Verlustliste mit einem Eintrag vom Feldartillerie-Regiment Nr. 57: 33 34
Die Verlustlisten, in: Frankfurter Zeitung, 13.09.1914 (Zweites Morgenblatt), S. 2. Armee-Verordnungsblatt: Verlustliste Nr. 1.
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»H i l b c k, Leutnant d. R., Sturz mit dem Pferde – beide Handgelenke verletzt.« Trotz ihrer Übersichtlichkeit – verglichen gerade mit den sehr viel längeren Listen, die noch folgen sollten – machte die Liste einen recht uneinheitlichen Eindruck. Ein Standard in der Formatierung der einzelnen Einträge war noch nicht zu erkennen: Teils waren die Vornamen mit angegeben, in den meisten Fällen jedoch nicht; teils fanden sich Angaben zum Geburtstag und -ort beziehungsweise der Herkunft (»aus Untermarxgrün i. Sa.«) des Genannten, oft jedoch nicht, teils waren Details zur Verwundung (»verwundet, linker Oberarm, Knochensplitter«) angefügt, jedoch keineswegs durchweg. Auch die Verwendung von Abkürzungen erscheint nicht konsequent (»geb.«, »geboren«). Ein kursorischer Blick in die Presse zeigt, dass fast alle der (über zwanzig) gesichteten Zeitungstitel in ihren Ausgaben vom 10., 11., 12. oder 13. August die 65 Namen von Grabowski bis Hilbck abdruckten. So brachten etwa die Altonaer Nachrichten, das Berliner Tageblatt, die Frankfurter Zeitung, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung (Berlin) und die Vossische Zeitung (Berlin) die Namen auf ihrer Titelseite.35 Im Innenteil fand sich die Liste in den Badischen Neuesten Nachrichten (Mannheim), der Berliner Börsen-Zeitung, der Berliner Morgenpost, dem Demminer Tageblatt (Mecklenburg-Vorpommern), dem Jenaer Volksblatt, der Kölnischen Zeitung, der Königsberger Hartungschen Zeitung, dem Leipziger Tageblatt, dem Oberschlesischen Wanderer (Gleiwitz/Gliwice), dem Vorwärts (Berlin) und dem Wiesbadener Tagblatt.36 Die hier
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Die erste amtliche Verlustliste, in: Altonaer Nachrichten, 10.08.1914 (Morgen-Ausgabe); Die erste amtliche Verlustliste, in: Berliner Tageblatt, 10.08.1914 (Montags-Ausgabe); Die erste Verlustliste, in: Frankfurter Zeitung, 10.08.1914 (Abendblatt), S. 1f.; Die erste Verlustliste, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 11.08.1914 (Erste Ausgabe); Die erste Verlustliste, in: Vossische Zeitung, 10.08.1914 (Montags-Ausgabe). Die erste Verlustliste, in: Badische Neueste Nachrichten, 10.08.1914 (Abendblatt), S. 2; Namentliche Liste von Gefallenen und Verwundeten aus Gefechten unserer Grenzschutztruppen, in: Berliner Börsen-Zeitung, 10.08.1914 (Abend-Ausgabe), S. 2; Fürs Vaterland gefallen, in: Berliner Morgenpost, 10.08.1914; Die erste deutsche Verlustliste, in: Demminer Tageblatt, 12.08.1914; Die erste Verlustliste, in: Jenaer Volksblatt, 12.08.1914 (Erstes Blatt); Verlustliste Nr. 1, in: Kölnische Zeitung, 10.08.1914 (1 Uhr-Ausgabe); Die Ersten auf dem Felde der Ehren, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, 13.08.1914 (Morgenausgabe); Die erste Verlustliste, in: Leipziger Tageblatt, 10.08.1914 (Morgen-Ausgabe), S. 3; Die erste amtliche Verlustliste, in: Der oberschlesische Wanderer, 12.08.1914; Die erste Verlustliste, in: Vorwärts, 10.08.1914; Die erste amtliche Verlustliste, in: Wiesbadener Tagblatt, 11.08.1914 (Morgen-Ausgabe), S. 2. In den Badischen Neuesten Nachrichten, in der Frankfurter Zeitung, im Oberschlesischen Wanderer und im Wiesbadener Tagblatt wurde der Name »Hilbck« als »Hilbek« wiedergegeben, in der Leipziger Zeitung als »Hilbok«. In der Kölnischen Zeitung wurde die Liste um Angaben zu Herkunft und Art der Verwundung gekürzt. Im Oberschlesischen Wanderer wurde außerdem die Reihenfolge der Liste geändert, sodass »die Verluste der oberschlesischen Regimenter« am Anfang standen.
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präsentierte Auswahl an Zeitungstiteln kann wohl keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben; allein schon, da ihr die Online-Verfügbarkeit retrodigitalisierter Zeitungsausgaben als Kriterium zugrunde liegt. Dennoch deutet die Auswahl darauf hin, dass die 65 Namen der ersten Verlustliste eine große Reichweite erlangten. Besonders national aufgeladen war die Wiedergabe in der auflagenstarken Berliner Morgenpost, allein schon durch die Wahl der Überschrift (»Fürs Vaterland gefallen«). In einem den Namen vorangestellten Absatz wurde zudem die spätere Monumentalisierung bereits vorbereitet: »Sie sind nicht umsonst den Soldatentod gestorben. Ihre Namen stehen mit ehernem Griffel in die Tafel der Kämpfer für Deutschlands Freiheit und Einheit eingegraben!« Vom »Dank des Vaterlandes« und der »unvergängliche[n] Ehre« der Toten sprach auch das Berliner Tageblatt. Was hier aber vor allem durchklang, war der starke Eindruck, den das Format der Verlustlisten gemacht hatte: So hieß es in der Abendausgabe vom 10. August in Bezug auf die »amtliche Verlustliste, die wir heute morgen veröffentlicht haben«, dass sie »erschütternd in der Knappheit ihrer Sprache« sei. Diese Erschütterung sollte nach dem Willen der Zeitung nun instrumentalisiert werden, um das Werk der Kriegsfürsorge anzukurbeln: »Wenn es eines Hebels bedürfte, um die mächtig anschwellende Woge der allgemeinen Hilfsbereitschaft noch gewaltiger zu machen, um den Verwundeten Pflege, den Witwen und Waisen Linderung zu gewähren: schon die erste Verlustliste wird diese schöne Kraft in sich bergen.«37 In den Blättern, in denen die Namen nicht abgedruckt wurden, fanden sich oft immerhin noch Zusammenfassungen der ersten Verlustliste, so etwa in der Freiburger Zeitung (fehlerhaft: »Infanterieregiment 18: 3 Tote«),38 im Nassauer Boten aus Limburg (»Infanterie-Reg. 18. (Garnison Osterode-Ostpr.): 2 Mann tot«)39 und im mecklenburgischen Malchower Tageblatt, wo es fälschlicherweise hieß: »Die Liste weist 38 Tote und 35 Verwundete auf.«40 Im nur zweimal in der Woche erscheinenden Amper-Boten aus Dachau fand sich am 19. August nicht mehr als der kurze Hinweis, dass in der ersten Verlustliste »eine verhältnismäßig sehr große Zahl von toten Offizieren« aufgeführt sei.41 Als Beispiel nannte das Blatt sodann einen »Generalmajor v. Wussow«, dessen Name tatsächlich jedoch erst in der zweiten Verlustliste enthalten war. Noch geringer fiel der Niederschlag der ersten Verlustliste im Offenbacher Abendblatt, der Passauer DonauZeitung und der Rosenheimer Zeitung aus: In allen drei Blättern fand sich nur ein über die WTB verbreiteter Text abgedruckt, der so etwas wie ein offizielles ›Framing‹
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Ehre den Toten!, in: Berliner Tageblatt, 10.08.1914 (Abend-Ausgabe). Verlustliste aus den Grenzschutz-Gefechten, in: Freiburger Zeitung, 11.08.1914 (Morgenblatt). Erste Verlust-Liste, in: Nassauer Bote, 11.08.1914. Die erste deutsche Verlustliste von der Ostgrenze, in: Malchower Tageblatt, 12.08.1914. Kriegsnachrichten, in: Amper-Bote, 19.08.1914.
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zur ersten Verlustliste enthielt.42 Die darin ausgewiesenen Verluste könne »[m]an […] vielleicht schon erheblich [finden]«, aber sie seien notwendig und angemessen gewesen zum »Schutz unserer preußischen Provinzen«, belehrte darin Walter Nicolai, vorgestellt als »Leiter der Presseabteilung des Großen Generalstabs«, die Presse. An dieser Stelle scheint ein Detail auf: Die ersten amtlich per Verlustliste gemeldeten Verluste auf deutscher Seite betrafen preußisch-russische Gefechte im Osten und damit einen Kriegsschauplatz, der in der retrospektiven Wahrnehmung vom Topos der Westfront überlagert ist. Der erste Name der Liste etwa, genannter Gefreiter Grabowski, kam der Regimentsgeschichte zufolge am 5. August bei einem Gefecht bei Brodau/Brodowo im Kreis Soldau/Działdowo, damals Ostpreußen, ums Leben.43
4. Reaktionen auf die ersten Verlustlisten: Schock und Einordnung Um den nicht geringen »Eindruck« zu zerstreuen, »den die langen Verlustlisten auf die Bevölkerung machen«, sah sich die Frankfurter Zeitung am 22. August dazu veranlasst, ihren Leser*innen mitzuteilen, dass die Verlustlisten »auch alle geringfügigen Verwundungen verzeichnen«.44 Noch dazu würden sich die darin enthaltenen schlechten Nachrichten »häufig« als unzutreffend herausstellen, wie das Blatt einen Monat später im Lokalteil mitteilte, »indem schon als tot Gemeldete nur verwundet sind und zahlreiche als vermißt Gemeldete, die oft als gefallen betrachtet werden, sich bei ihren Truppenteilen wieder einfinden«.45 Was als Hoffnungsschimmer gemeint war, stärkte vermutlich nicht unbedingt das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit dieses Formats. Vielmehr lassen die Aussagen auf eine herrschende Unruhe und Unsicherheit in der Bevölkerung schließen. Die Wirkung der Wiedergabe der Verlustlisten in den Zeitungen kann wohl kaum bildgewaltiger beschrieben werden als in den ersten Sätzen einer evangelischen »Dorf-Kriegspredigt« vom 13. September: »Liebe Gemeinde! Die Landtrauer hat nun überall eingesetzt, wie ein bedrückender Landregen. Zuerst waren es bloß ein paar große, blutige Regentropfen; wir erinnern uns der ersten kurzen Verlustlisten vom zweiten Drittel des August; dann kam’s von Tag zu Tag flutartiger, jeden Tag viele Spalten, viele Seiten. Jede neue
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Vgl. Was bisher erreicht wurde, in: Offenbacher Abendblatt, 11.08.1914, S. 6; Unsere Erfolge und die Lügen des Auslandes, in: Rosenheimer Anzeiger, 12.08.1914, S. 2; Nur Wahrheit!, in: Donau-Zeitung, 12.08.1914, S. 4. Vgl. Meyer: Infanterie-Regiment Nr. 18, S. 5f. Die Verlustlisten, in: Frankfurter Zeitung, 22.08.1914 (Abendblatt), S. 3. Verlustlisten, in: Frankfurter Zeitung, 24.9.1914 (Zweites Morgenblatt), S. 2.
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Zeitung ist wie eine geöffnete Schleuse: in Strömen rauscht das deutsche Blut daher […].«46 Der Bischof von Rottenburg nannte die Verlustlisten die »Partitur dieser gewaltigen Trauersymphonie«, die der Krieg angestimmt habe, »von Tausenden durchstudiert mit angstvollem Herzklopfen«.47 Die Einordnungen der Verlustlisten in kriegsapologetischer oder zumindest konsolatorischer Absicht liefen zumeist auf erwartbare theologische Topoi hinaus. Erkennbar war der Versuch, eine Richtung aus der Unordnung und Orientierungslosigkeit (»der grause Wirrwarr«)48 zu weisen. Vor dieser Kanalisierung stand jedoch die Schwierigkeit, das noch wenig vertraute Phänomen der Verlustlisten diskursiv zu fassen, was zu einer mitunter widersprüchlichen Fülle an Gleichsetzungen und Sprachbildern führte. Ein Beispiel: Für den evangelischen Pfarrer Emil Ott stellte das Erscheinen der Verlustlisten für die Daheimgebliebenen eine unvermittelte Konfrontation mit ›der Wirklichkeit‹ dar: »Und dann kam die Wirklichkeit. Das schicksalhafte, verfügungsmäßige, richterspruchartige ›Tot‹ der Verlustlisten.«49 Eine Erfahrung von ebensolcher existenzieller Bedeutung markierte das Aufkommen der Verlustlisten auch für den katholischen Theologen Otto Wecker. Jedoch wählte er eine andere Verknüpfung und sprach vom »Jenseits«, das in den Verlustlisten »zu greifbar in unser Leben herein[ragt]«.50 So symbolisierten die Verlustlisten bei Wecker nicht ein Format der Ordnungsstiftung – als welches es bei Ott verstanden werden kann (›richterspruchartig‹) –, sondern standen für den Verlust von Ordnung. »Die Übergänge sind verwischt. In unserm Denken und Beten für euch draußen jedenfalls: wir wissen ja keinen Augenblick, ob wir euch diesseits oder jenseits der Scheidelinie zu suchen haben«, führte Wecker den Gedanken weiter. In diesem nicht unbedingt auf der Hand liegenden theologischen Problem – betete man für Lebende oder für Tote? – wird das bange Hoffen der Angehörigen und die Unwissenheit über den Status der im Felde befindlichen Liebsten greifbar. Dabei ist bemerkenswert, dass der Verfasser seine These über das ›Verwischen‹ der Grenzen »zwischen Leben und Tod« ausgerechnet mit dem Medium der Verlustlisten in Verbindung setzte; diesem also nicht die Eindeutigkeit zugestand, die es doch eigentlich suggerierte (außer die Angabe lautete auf ›vermisst‹). Dieser Umstand erinnert an die bereits von der Frankfurter Zeitung propagierten Zweifel an der, um Ott aufzugreifen, ›richterspruchartigen Wirklichkeit‹ der Verlustlisten. »Nehmt denn und lest!«, lautete (ungeachtet dessen) die Aufforderung in Ulrich Rauschers Verlustlistengedicht, das am 20. September auch auf der Titelseite
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Kirn: Predigt (13.09.1914), S. 16. von Keppler: Unsere toten Helden, S. 3. Ott: Das religiöse Erlebnis, S. 4. Ebd. Wecker: Krieg, S. 11.
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der Frankfurter Zeitung wiedergegeben wurde.51 »Namen und Namen und Namen. Daneben:/Tot – verwundet – vermißt. Und die Zahl/Des Regiments. – Erzengel schweben«, nahm es in den weiteren Versen quasi die Kadenz des über die Listen eilenden-verweilenden Auges auf, die Lektüreerfahrung dieser ›Partituren‹ des Krieges. »Namen. Namen. Spalten auf Spalten./Karg. Schmucklos. In schmerzlichen Reihn«, hieß es ganz ähnlich in Julius Berstls ebenfalls »Verlustliste« betitelten Gedicht.52 Nahmen die »Spalten« und »Reihn« bereits die anstehende Transposition in Gräberreihen auf Soldatenfriedhöfen und Namensreihen auf Kriegsdenkmälern vorweg? Handelte es sich also bereits um einen in den Verlustlisten gefestigten Konnex von Tod und Ordnung? Oder überwog nicht doch in manchen Zeilen ein Moment der Unordnung, wenn etwa bei Rauscher von »Schatten« die Rede war oder bei Berstl von »[d]unkle[n] Kolonnen, ohne Zahl«, die »sich müd’ erheben«? Die Begegnung mit den Toten aus den Verlustlisten – »Aber aus Namen werden Gestalten./Sie drängen zum stummen Stelldichein.« (Berstl) – hatte hier indes noch mehr etwas Freundliches und Geordnetes, noch nichts von der bedrohlichen Heimsuchung der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften durch ein nicht mehr zu überblickendes »Schattenheer«, von der Elisabeth Domansky als Hypothek in Bezug auf die Weimarer Republik gesprochen hat.53 Als Beispiel für eine dezidierte Bekräftigung des Ordnungsprinzips und der egalitären Form der Anerkennung, die (zumindest theoretisch) im Format der Verlustlisten zum Ausdruck kamen, kann die Predigt eines anonym gebliebenen evangelischen Pfarrers (»Pfr. E. K.«) angeführt werden: »Millionenheere stehen im Felde, und doch ist jeder einzelne sorgfältig aufgezeichnet in der Liste. Selbstverständlich, denken wir, sie haben ja alle fürs Vaterland ihr Leben eingesetzt; für uns haben sie sich geopfert, dann werden sie’s doch auch noch wert sein, daß ihre Namen gebucht werden.«54 Dieser Konnex von Tod und Ordnung wurde sodann als Heilsversprechen präsentiert: »Wenn nun bei der Leitung des Millionenheeres eine menschliche Ordnung jeden einzelnen verzeichnet hat, wieviel mehr wird denn der Vater im Himmel, der Allgegenwärtige und Allwissende, der nichts vergißt und für jeden ein Herz hat, sie alle, alle im Auge behalten.«55
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Rauscher: Verlustlisten. Berstl: Verlustliste. Domansky: Der Erste Weltkrieg, S. 319. Verlustlisten. Ein Trostwort, S. 4. Ebd., S. 4f.
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5. Ausblick auf die weiteren Verlustlisten des Jahres 1914 Der erste Name der ersten Verlustliste (Grabowski) tauchte in der zweiten Verlustliste noch einmal auf, diesmal mit Vornamen (Paul). Wieso ist nicht ersichtlich, denn sein Zustand hatte keine Änderung erfahren (»tot«).56 Weiterhin machte die Verlustliste einen uneinheitlichen Eindruck. Bei zwei als vermisst gemeldeten Soldaten vom Ulanen-Regiment Nr. 8 wurde per Sternchen angemerkt: »Sollen gefallen sein.« Hinzu kam, dass unter den 103 Namen der zweiten Verlustliste eine »Berichtigung der Verlustliste 1« angefügt war. Demnach war beim Infanterie-Regiment Nr. 156 nicht »Ignatz Franz Schubert« getötet worden sondern »August Jos. Krawietz«. Ab der dritten Verlustliste, die von Wolff als »die erste ausführliche«57 bezeichnet wurde, etablierte sich ein mehr oder weniger feststehender Standard für die Reihenfolge der Angaben in den einzelnen Einträgen: Rang, Name, Geburtsort, Zustand. Dennoch waren auch in der Folge weiterhin Abweichungen zu bemerken. Manche Einträge fielen etwa deutlich knapper aus (»Reservist Krüpper – tot.«). Mit der zehnten Verlustliste (26. August) wurde schließlich erkennbar, dass es sich bei den bisher ausgewiesenen Verlusten nur um jene der »Königlich Preußischen Armee« gehandelt hatte, tauchten doch nun auch erstmals Verluste der bayerischen, sächsischen und württembergischen Armeen auf. Während die Verlustlisten immer länger wurden, differenzierten sie sich also gleichzeitig auch immer weiter aus. Ihre mediale Verbreitung erfuhr hingegen bald Einschränkungen: »Es ist unmöglich, bei dem bis auf das äußerste beschränkten Raume unseres Blattes die immer umfangreicher werdenden Listen zu veröffentlichen«, schrieb das Offenbacher Abendblatt am 19. August 1914.58 Die Selbstbeschränkung ging in diesem Fall der Zensur voraus, traf die Presse doch kurz darauf eine Verfügung des Kriegsministeriums vom 27. August: »Die Verlustlisten dürfen in den Zeitungen nicht mehr in ihrem ganzen Umfange abgedruckt werden.«59 Es ging darum, »einen niederdrückenden Einfluß auf die Volksstimmung durch die täglich länger werdenden Verlustlisten zu vermeiden«.60 Fortan waren nur noch Auszüge gestattet, die das »lokale[] Interesse[]« bedienten, also etwa Truppenteile betrafen, die im engeren Verbreitungskreis ihren Standort hatten. Diese Einhegung der ausufernden Verlustlisten in der Presse erfolgte keineswegs von einem Tag auf den anderen, wie etwa ein Blick in die Septemberausgaben der Frankfurter Zeitung zeigt. Die dort erstmals am 21. September auftauchende Rubrik »Aus den Verlustlisten« lässt sich dann bis zum 10. Februar 1915
56 57 58 59 60
Armee-Verordnungsblatt: Verlustliste Nr. 2. Wolff: Tagebücher, S. 81 (17.08.1914). Die vierte Verlustliste ist heute herausgekommen, in: Offenbacher Abendblatt, 19.08.1914, S. 5. Zensurverfügungen, S. 11. Ebd.
Jan-Martin Zollitsch: Der Krieg und ein Ordnungsversuch: Die ersten Verlustlisten 1914
nachweisen. Passend dazu heißt es in Sebastian Bondzios Dissertation zur Kriegswahrnehmung in Osnabrück, dass »die Verlustlisten im Frühjahr 1915 aus den Zeitungen [verschwanden]«.61 Stichproben haben allerdings ergeben, dass in anderen Zeitungen Verlustlistenauszüge auch über 1915 hinaus wiedergegeben wurden. Auf eine Einschränkung des im August noch beworbenen postalischen Bezugs der Verlustlisten ließ hingegen eine Bekanntmachung des Kriegsministeriums vom 16. Dezember 1914 schließen: »Da jetzt angenommen werden kann, daß die amtlichen Einrichtungen zur zuverlässigen und möglichst schnellen Bekanntgabe der Verluste im gegenwärtigen Kriege (öffentliches Auslegen der gesamten Deutschen Verlustlisten und von Auszügen aus ihnen bei den Landratsämtern, Königl. Polizeiverwaltungen usw. sowie Bekanntgabe der die einzelnen Kreise betreffenden Verluste durch die Kreisblätter) überall bekannt geworden sind und sich eingebürgert haben, liegt kein Grund mehr dazu vor, die Deutschen Verlustlisten auch weiterhin unter dem Selbstkostenpreise abzugeben.«62 Der Krieg war länger geworden als gedacht, ebenso die Verlustlisten, weshalb nun auch der Vertrieb der Verlustlisten angepasst werden musste. »Die Verlustlisten werden teurer«, berichtete Ende Dezember 1914 die Osnabrücker Zeitung.63 Die Aufregung darüber schien sich jedoch in Grenzen zu halten. Die Frage war eher, wohin mit der ›Papierflut‹, für die das Format der Verlustlisten im ersten Halbjahr des Krieges bereits gesorgt hatte? Das Sächsische Kriegsministerium machte wohl nicht umsonst Mitte Dezember 1914 bekannt, wohin »Wünsche auf Herabsetzung der Anzahl der preußischen sowie der sächsischen Verlustlisten« zu richten seien.64 »Die deutschen Verlustlisten brauchen nicht aufbewahrt werden«, hatte das Bayerische Kriegsministerium bereits Anfang Oktober mitgeteilt.65 Drei Jahre später, im Herbst 1917, schränkte das Kriegsministerium in Berlin die Versendung der vom Armee-Verordnungsblatt ausgelieferten Verlustlisten stark ein. Hintergrund war hier wohl die Papierknappheit. Auch wurden die Dienststellen angewiesen, alte Verlustlisten »der Papierwirtschaft wieder nutzbar zu machen«.66 Dieser bezeichnende Umstand kann vielleicht noch einmal andeuten – ähnlich des eingangs genannten Beispiels der der »Lotterie-Gewinnliste« nachgeordneten
61 62 63 64 65 66
Bondzio: Soldatentod, S. 343. Armee-Verordnungsblatt: Verlustlisten (282. Ausgabe), S. 3747. Hinweis: Die Verlustlisten enthielten erst ab dem 11.09.1914 Seitenzahlen. Zit. n. Bondzio: Soldatentod, S. 316. Königlich Sächsisches Militär-Verordnungsblatt 23, H. 50 (15.12.1914), S. 257. Verordnungs-Blatt des Königlich Bayerischen Kriegsministeriums, H. 43 (03.10.1914). Armee-Verordnungsblatt 51, H. 48 (29.09.1917), S. 474.
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Teil III: Tod in Krieg und Revolution
Verlustlistenübersicht im Berliner Tageblatt vom 13. Mai 1915 –, um was für ein ephemeres Format es sich bei den Verlustlisten letztlich handelte; wie kurz auch die Erregungskurve war, die mit ihrem wirkmächtigen medialen Auftauchen im August 1914 ihren Anfang genommen hatte. Bereits im zweiten Kriegsmonat, da sich die Kriegsgesellschaft des Kaiserreichs als solche im Zeichen des ›Durchhaltens‹ konstituiert hatte, verstummte vorerst die offensichtliche Erklärungsbedürftigkeit, die das serielle Erscheinungsbild und vor allem der schnell anwachsende Umfang der Verlustlisten in der Öffentlichkeit hervorgerufen hatte. Weniger als entscheidende Maßnahme in dieser Hinsicht denn als pragmatisch aufgefasste Anpassung an die neuen Verhältnisse (und den gestiegenen Umfang der Verlustlisten) sind wohl die Zensurbestimmungen zu werten, die fortan die Ausbreitung der Verlustlisten beschränkten. Als dieser Konsens (›Burgfrieden‹) jedoch im Frühsommer 1917 aufbrach, kamen auch die Verlustlisten wieder zur Sprache. »Die Verlustlisten haben sich fortgesetzt zu ihrem Nachteil verändert«, beklagte sich etwa der SPD-Abgeordnete Georg Schöpflin am 4. Mai 1917 im Reichstag über den Wegfall der Angabe des Truppenteils in den Listen, wodurch das Auffinden von Angehörigen bisweilen erschwert werde.67 Der in den Verlustlisten zum Ausdruck kommende ›Ordnungsversuch‹ blieb bis über das Kriegsende hinaus Teil der Kriegsanstrengungen, eingefordert durch eine Kriegsgesellschaft, die das möglichst genaue Verzeichnen aller einzelnen ›Opfer‹ dieses Krieges erwartete. Die letzte Ausgabe der Verlustlisten erschien schließlich am 14. Oktober 1919. »Damit Erscheinen eingestellt«, ist auf dem Exemplar der Berliner Staatsbibliothek klein mit Bleistift vermerkt.
Bibliografie Quellen Geschichtsübersicht des Zentral-Nachweisebüreaus (1929), Bundesarchiv, PH 2/463, https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/5654ecb4-a0ea-433d -8d01-9c5c45740a2c. Altonaer Nachrichten (August 1914). Amper-Bote (August 1914). Armee-Verordnungsblatt (Jg. 1914 bis 1918). Armee-Verordnungsblatt: Verlustlisten (Jg. 1914 bis 1919). Badische Neueste Nachrichten (August 1914).
67
Verhandlungen Reichstag (04.05.1917), S. 3056.
Jan-Martin Zollitsch: Der Krieg und ein Ordnungsversuch: Die ersten Verlustlisten 1914
Berliner Börsen-Zeitung (August 1914). Berliner Morgenpost (August 1914). Berliner Tageblatt (Jg. 1914). Demminer Tageblatt (August 1914). Der oberschlesische Wanderer (August 1914). Deutscher Reichsanzeiger und Königlich Preußischer Staatsanzeiger (Jg. 1914 bis 1918). Donau-Zeitung (August 1914). Frankfurter Zeitung (Jg. 1914 bis 1915). Freiburger Zeitung (August 1914). Jenaer Volksblatt (August 1914). Kölnische Zeitung (August 1914). Königlich Preußischer Staatsanzeiger (Jg. 1870). Königlich Sächsisches Militär-Verordnungsblatt (Jg. 1914). Königsberger Hartungsche Zeitung (August 1914). Leipziger Tageblatt (August 1914). Malchower Tageblatt (August 1914). Nassauer Bote (August 1914). Norddeutsche Allgemeine Zeitung (August 1914). Offenbacher Abendblatt (Jg. 1914). Rosenheimer Anzeiger (August 1914). Verordnungs-Blatt des Königlich Bayerischen Kriegsministeriums (Jg. 1914). Vorwärts (August 1914). Vossische Zeitung (August 1914). Wiesbadener Tagblatt (August 1914). Berstl, Julius: Verlustliste, in: Deutscher Heldentod. Gedichte vom Opfermut im Felde und daheim 1914/1915, Stuttgart 1915, S. 8f. Klemperer, Victor: Curriculum Vitae. Erinnerungen eines Philologen 1881–1918. Zweites Buch: 1912–1918, hg. v. Walter Nowojski, Berlin 1989. Kirn, Bernhard: Predigt am 13. September 1914, in: Ders.: In unsers Herrgotts Schützengraben. Neue Dorf-Kriegspredigten, 3. Aufl., Reutlingen o.J. [1914], S. 16–20. Kriegs-Sanitätsordnung vom 28. September 1907. Ergänzter Neudruck vom Jahre 1914, München 1914. Meyer, Werner: Das Infanterie-Regiment von Grolman (1. Posensches) Nr. 18 im Weltkriege, Berlin 1929. Ott, Emil: Das religiöse Erlebnis des Krieges, in: Ders.: Religion, Krieg und Vaterland, München 1915, S. 1–8. Rauscher, Ulrich: Verlustlisten, in: Frankfurter Zeitung, 20.09.1914 (Erstes Morgenblatt), S. 1.
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Teil III: Tod in Krieg und Revolution
Siegmund-Schultze, Paul: Haltung und Stimmung von Berlin-Ost während der ersten Kriegsmonate, in: Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft, H. 5 (März 1915), S. 113–127. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session. Bd. 309. Stenographische Berichte. Berlin 1917. Verlustlisten. Ein Trostwort für die Leidtragenden in unserer Kriegszeit, Dinglingen o.J. [1915]. von Keppler, Paul Wilhelm: Unsere toten Helden und ihr letzter Wille, Freiburg i.Br. 1915. Vorwerk, Dietrich: Verlustliste, in: Ders.: Hurra und Halleluja. Kriegslieder, Schwerin 1914, S. 24. Wecker, Otto: Der Krieg und das religiöse Leben, o.O. [Mönchengladbach] o.J. [1915]. Wolff, Theodor: Tagebücher 1914–1919. Der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen des Chefredakteurs am »Berliner Tageblatt« und Mitbegründers der »Deutschen Demokratischen Partei«. Erster Teil, hg. v. Bernd Sösemann, Boppard am Rhein 1984. Zurhellen, Otto: Verlustlisten, in: Ders.: Kriegspredigten, hg. v. Else ZurhellenPfleiderer, Tübingen 1915, S. 40–48. Zusammenstellung von Zensurverfügungen des Kriegsministeriums, des Stellv. Generalstabs und der Oberzensurstelle des Kriegspresseamts, Berlin 1916.
Literaturverzeichnis Artinger, Kai: Die weißen Flecken hatten ein Gesicht. Illustrierte Verlustlisten und das Berliner Nachweisebüro im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 59, H. 1 (2000), S. 99–114. Bondzio, Sebastian: Soldatentod und Durchhaltebereitschaft. Eine Stadtgesellschaft im Ersten Weltkrieg, Leiden u.a. 2020. Domansky, Elisabeth: Der Erste Weltkrieg, in: Lutz Niethammer u.a.: Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Frankfurt a.M. 1990, S. 285–319. Goltermann, Svenja: Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne, Frankfurt a.M. 2017. Hirschmüller, Peter: Die Gefallenen der Martin-Luther-Gemeinde im Ersten Weltkrieg, in: Ursula Bach (Hg.): Leben im Umfeld der Martin-Luther-Kirche im Ersten Weltkrieg, o.O. [Berlin] 2015, S. 10–17. Ulrich, Bernd u.a.: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Entwicklungslinien und Probleme, Berlin 2019.
Jan-Martin Zollitsch: Der Krieg und ein Ordnungsversuch: Die ersten Verlustlisten 1914
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: »Lotterie-Gewinnliste« neben der Meldung über die 222. Verlustliste« (Ausschnitt unpaginierte S. 18 des Berliner Tageblatts vom 13.05.1915). Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 2° Ztg 1950. Dank an Christoph Albers. Abb. 2: Aushang von Verlustlisten an der Außenwand des Zentralnachweisebüros in der Dorotheenstraße in Berlin (vermutlich aufgenommen in den ersten Kriegsmonaten 1914), Fotograf*in: k. A. Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. II7242. Abb. 3: Aufnahme aus dem Zentralnachweisebüro in Berlin. Quelle: Österreichisches Staatsarchiv, AT-OeStA/KA BS IWK Fronten Bundesgenossen, 501/ Fotograf*in: k. A.
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Teil IV: »…ein Meister aus Deutschland«
Die doppelte Buchführung Die (un-)dokumentierte Erfassung des Todes in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern Andreas Kranebitter und Bertrand Perz
1. Einleitung Arnold Schönberg zählte zu den ersten Komponisten, die sich nach 1945 mit den Verbrechen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern beschäftigten. Als er 1947 in seinem Stück A survivor from Warsaw die Erinnerung an den Holocaust und seine Opfer vertonte, hatte er in dem etwa sieben Minuten langen Stück an zentraler Stelle auf die Zählappelle in den Lagern Bezug genommen. »Then I heard the sergeant shouting: ›Abzählen!‹/They started slowly and irregularly: one, two, three, four/›Achtung!‹ the sergeant shouted again,/›Rascher! Nochmal von vorn anfangen!/In einer Minute will ich wissen,/wieviele ich zur Gaskammer abliefere!/Abzählen!‹«1 Wie Götz Aly und Karl Heinz Roth in ihrem Buch Die totale Erfassung betonen, hatte Schönberg in diesem kurzen Stück »die merkwürdige Genauigkeit hinter den monströsen Naziverbrechen thematisiert«.2 Die frappierende Häufigkeit, mit der sich die Thematik in der Memoirenliteratur Überlebender in verschiedensten Variationen findet, zeugt von der Bedeutung, die ihr die Täter selbst gegeben hatten. Es war, so die These von Aly und Roth, »nicht die Ideologie von Blut und Boden, auch nicht das bis Ende 1942 durchgehaltene Prinzip von Kanonen und Butter, mit denen die Nationalsozialisten ihre Macht festigten und ihre Verbrechen bewerkstelligten – es waren nackte Zahlen, Lochkarten, statistische Expertisen und Kennkarten. Jede Marsch- und Arbeitskolonne existierte zunächst als Zahlenkolonne, jeder Vernichtungsaktion ging die Erfassung voraus, die Selektion an der Rampe beendete die Selektion auf dem Papier«.3
1 2 3
Schönberg: A survivor from Warsaw; vgl. Tramsen: Schweigen in der Musik; vgl. zum Folgenden auch Kranebitter: Zahlen als Zeugen, S. 120–160. Aly/Roth: Die restlose Erfassung, S. 7. Ebd.
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Teil IV: »…ein Meister aus Deutschland«
Die totale Erfassung und die dabei produzierte Flut an Dokumenten ermöglichten nicht zuletzt ihre grundsätzliche historiografische Aufarbeitbarkeit: Die nationalsozialistischen Verbrechen geschahen allzu oft nicht nur vor der eigenen Haustür, sie wurden auch in vielfältiger Weise dokumentiert. Die Überlieferung dieser Dokumentation – trotz aller teils mehr, teils weniger erfolgreichen Versuche der Täter, sie mit den Vernichteten selbst zu vernichten4 – macht revisionistische Versuche der Leugnung dieser Verbrechen so verblüffend naiv: Die Möglichkeit, von den Verbrechen zu wissen, ist ebenso universal, wie die Quellen verfügbar sind. Ein genauerer Blick vermag allerdings zu zeigen, dass nicht alle Verbrechen an allen Gruppen und nicht zu allen Zeiten »restlos erfasst« wurden, wie die beiden oben angeführten Zitate suggerieren. Eine penible Dokumentation ging etwa mit dem euphemistisch als »Euthanasie« bezeichneten Krankenmord einher, der zwischen 1938 und 1941 Zehntausenden kranken (oder besser: ärztlich als »krank« begutachteten) Menschen das Leben kostete. Die »gigantische staatliche sanktionierte Fälschungsmaschinerie«,5 die an erster Stelle der Täuschung von Angehörigen diente, bedingte dabei die groß angelegte staatliche Erfassung. Nur die Beurkundung der Sterbefälle mit fingierten Todesursachen durch Standesämter, die Beisetzung beziehungsweise der Versand der Urnen mit der vermeintlichen Asche der Getöteten über verschiedene Postämter, kurz: nur die umfassende Erfassung ermöglichte den umfassenden Fälschungsversuch – der aufgrund zahlreicher Unstimmigkeiten eben nicht gelang und durch den Status als offenes Geheimnis, das auch zu einzelnen Protesten führte, Hitler 1941 dazu veranlasste, die Tötungsaktion (offiziell) einzustellen. Angehörige hatten zuweilen zwei Urnen, Todesbeurkundungen noch lebender Kranker oder Bescheinigungen mit praktisch unmöglichen Todesursachen erhalten, etwa Blinddarmentzündungen von Angehörigen, denen der Blinddarm längst entfernt worden war.6 Im Unterschied zur NS-Euthanasie war bei der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ab Sommer 1941 eine namentliche Erfassung der Getöteten nicht vorgesehen. Geleugnet wurde nicht nur der Massenmord selbst, sondern der Tod an sich. Die Beurkundung eines »natürlichen« Todes von Millionen durch Massenerschießungen, in Gaswagen und Vernichtungslagern Ermordeten wäre für die NS-Behörden weder herstellbar noch glaubhaft darstellbar gewesen. Die Ermordeten wurden daher in der Regel nur zahlenmäßig erfasst, ihr Tod weder Angehörigen noch indirekt damit befassten Behörden bekannt gegeben. Ihre Leichen mussten daher spurlos verschwinden.7 Nicht nur sollten durch diese komplette
4 5 6 7
Vgl. Welzer: Verweilen beim Grauen; Fuchs u.a. (Hg.): »Das Vergessen«. Perz: Tod ohne Ritual, S. 163. Vgl. z.B. Noack: NS-Euthanasie, S. 27; Klee: »Euthanasie« im NS-Staat, S. 154–159. Zunächst wurden die Leichen in Massengräbern begraben, die später wieder zwecks Spurenbeseitigung geöffnet wurden. Erst in Auschwitz-Birkenau war ab 1943 die Tötung durch Gift-
Andreas Kranebitter und Bertrand Perz: Die doppelte Buchführung
Verschleierung des Massenmordes potenzielle Opfer so lange wie mögliche getäuscht werden, der Holocaust sollte vor allem vor der deutschen Bevölkerung wie der internationalen Öffentlichkeit verborgen bleiben. Zwar konnte der Krieg als Deckmantel dienen, letztlich war der Holocaust aber trotz Tarnsprache und aufwändiger Täuschungsmanöver sogar in der deutschen Gesellschaft ein »offenes Geheimnis«.8
2. Die doppelte Buchführung der Konzentrationslager Die Erfassung des Todes in den Konzentrationslagern unterschied sich sowohl von den Praktiken des Krankenmordes als auch vom Holocaust, was aus ihrer Multifunktionalität für die NS-Herrschaft resultierte. Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, nach 1933 zunächst zur politischen Gegnerbekämpfung eingerichtet, um die Machtübernahme der Nationalsozialisten abzusichern, entwickelten sich in den zwölf Jahren NS-Herrschaft zu einem gigantischen Repressionsapparat, der der Durchsetzung politischer, sozialpolitischer, rassistischer, militärischer wie ökonomischer Interessen diente.9 Die genaue namentliche Erfassung aller in die Konzentrationslager eingewiesenen Personen wurde von Anfang an praktiziert und auch nach Kriegsbeginn so fortgesetzt, als die überwiegende Zahl an Menschen aus den von Deutschland besetzen Gebieten in die Konzentrationslager deportiert wurde. Erfolgte die Erfassung zunächst aus sicherheitspolizeilichen Motiven, so verlangte die zunehmende Bedeutung der wirtschaftlichen Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge, die schon vor Kriegsbeginn in Steinbrüchen und Ziegeleien begann und ab Mitte des Krieges zum Arbeitseinsatz hunderttausender Häftlinge in der Bau- und Rüstungswirtschaft führte, eine nochmals daran angepasste Buchführung in den Lagern. Die Inspektion der Konzentrationslager (IKL), später als Amtsgruppe D in das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (SS-WVHA) integriert,10 erfasste die Häftlinge der Konzentrationslager daher äußerst detailliert. »Häftlings-Personal-Karten« vermerkten die wesentlichen für die Haft relevanten Informationen wie etwa
8 9 10
gas mit der Verbrennung der Leichen der Ermordeten in Großkrematorien direkt gekoppelt. Vgl. Angrick: »Aktion 1005«. Bajohr/Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Vgl. die rezente Gesamtdarstellung von Wachsmann: KL. Das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, am 1. Februar 1942 durch Zusammenlegung der SS-Hauptämter »Haushalt und Bauten« und »Verwaltung und Wirtschaft«, vormals Verwaltungsamt-SS, entstanden, übernahm am 16. März 1942 die Leitung der KZ von der Inspektion der Konzentrationslager (IKL), die als »Amtsgruppe D« in das WVHA eingegliedert wurde. Vgl. dazu u.a. Tuchel: Die Inspektion; Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung; Morsch/Ohm (Hg.): Die Zentrale des KZ-Terrors.
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Teil IV: »…ein Meister aus Deutschland«
Einweisungsdatum und Häftlingskategorie, Nationalität und Häftlingsnummer, Überstellung aus oder in andere Lager sowie zentrale Personendaten wie Name, Geburtsdatum und -ort, Religionszugehörigkeit oder Wohnorte von Angehörigen. Dazu kamen – wie in der polizeilichen Erfassung üblich – rund ein Dutzend auf den Körper bezogene Personen-Beschreibungskriterien. Die Karteikarten erlaubten aber auch Angaben zu Charaktereigenschaften oder zur körperlichen Verfassung. Angeführt werden konnten überdies verhängte Lagerstrafen. Ausführlich erfasst wurden vor allem Qualifikationen der Häftlinge wie Sprachkenntnisse, Ausbildungen, erlernte und ausgeübte Berufe wie auch der Einsatz in spezifischen Arbeitskommandos im Lager.11 So detailliert die Erfassung der eingewiesenen Personen aus Gründen der Machtausübung erfolgte, so sehr wurden sie im Alltag der Lager auf ihre Häftlingsnummer, über sichtbare farbige Winkel und wenige Buchstaben auf ihre Einweisungskategorie und nationale Herkunft reduziert und damit »vom Menschen zur Nummer« gemacht, was von Häftlingen auch als klare Strategie der Dehumanisierung wahrgenommen wurde. Mit dem Funktionswandel der Konzentrationslager und dem überwiegenden Einsatz der Häftlinge in der Kriegswirtschaft ab 1942/43 bekam die Frage der beruflichen Qualifikation und damit der Möglichkeit einer gezielten Verwendung in bestimmten Produktionsbetrieben dominante Bedeutung bei der Buchführung. Eine aufwändige Erfassung auf dem modernsten Stand der Technik sollte für das SS-WVHA gewährleisten, über die stets wachsende Zahl an KZ-Häftlingen zu verfügen, sie gewissermaßen als Verschubmasse zwischen den einzelnen Konzentrationslagern hin- und hertransportieren zu können. Äußerst umfangreich waren die zu Papier gebrachten Informationen, die zwischen den Arbeitseinsatzabteilungen der KZ und dem Statistischen Zentralinstitut in Berlin ausgetauscht wurden und sämtliche »Veränderungen« (also etwa Überstellungen zwischen den Konzentrationslagern, »Abgänge« wie Flucht- oder Todesfälle) mittels HollerithTechnik zentral erfassen wollten.12 Auf eigenen »Häftlingskarten« notierten die in den Schreibstuben der einzelnen Lager eingerichteten Hollerith-Abteilungen wirtschaftlich relevante Daten der Deportierten. Im Vergleich zur »Häftlings-Personal-Karte« fielen sowohl die sicherheitspolizeiliche Erfassung der körperlichen Merkmale als auch das Aufschreiben des Namens der Deportierten weg, was sie
11 12
Die Häftlingskarteien der Konzentrationslager werden in verschiedenen Archiven aufbewahrt, einen guten Online-Zugriff bieten die Arolsen Archives (https://arolsen-archives.org). Die maschinelle Datenverarbeitung mittels Hollerith-Technik war mit der Deutsche Hollerith Maschinen Gesellschaft (DEHOMAG) verbunden, einem Tochterunternehmen der International Business Machines (IBM). Die Debatte um die Rolle von IBM im Holocaust wurde von einer Publikation von Edwin Black ausgelöst (vgl. Black: IBM und der Holocaust); zur kritischen Rezeptions-Geschichte des Buches vgl. u.a. Allen: Stranger than Science Fiction.
Andreas Kranebitter und Bertrand Perz: Die doppelte Buchführung
damit auch bürokratisch zur Nummer degradierte. Die erhobenen wirtschaftlichen Daten registrierte man nun aber bis ins letzte Detail – vom Arbeitseinsatz im jeweiligen KZ bis zum dritten Nebenberuf, wobei die über 6000 Berufe etwa in über 400 Nummern kodiert wurden.13 Allerdings war schon die »Datenqualität« dieser Berufserfassung durch die Lagerrealität begrenzt, hatten doch viele der Gefangenen schnell gelernt, dass die Angabe von im Lager begehrten Qualifikationen, so diese nicht sofort überprüft wurden, eine Strategie der Überlebenssicherung darstellte. Vor allem aber war das Erfassungssystem angesichts der Schnelligkeit der Veränderungen in den Konzentrationslagern zu kompliziert und schwerfällig und hinkte den historischen Entwicklungen damit hinterher, um letztlich kläglich zu scheitern. »Der Verwaltungs- und Zeitaufwand, der betrieben werden musste, um eine Änderung im Häftlingsstand schließlich in die Lochkartei zu übertragen«, schreibt der Historiker Christian Römmer für ein gedenkstättenübergreifendes Forschungsprojekt zu dieser Kartei, »war enorm: Ausfüllen einer Überstellungsliste im Abgangslager, Ergänzung dieser Überstellungsliste im Zugangslager, Heraussuchen der entsprechenden Häftlingskarten, Aussortieren der dazugehörigen Lochkarten, Anfertigen neuer Lochkarten. Von der tatsächlichen Überstellung eines Häftlings bis zu dem Zeitpunkt, an dem seine Daten in der Zentralkartei auf den aktuellen Stand gebracht worden waren, müssen mehrere Wochen vergangen sein. Diese Informationen waren dann – beim Ausmaß der Häftlingsbewegungen im Herbst 1944 und der hohen Zahl der Todesopfer – schon lange nicht mehr aktuell.«14 Die Schnelligkeit der Veränderungen resultierte vor allem aus dem Massensterben und der aktiven wie passiven Vernichtungspolitik in den Konzentrationslagern. Verwaltungstechnisch waren die Konzentrationslager kein »extraterritoriales« Hoheitsgebiet, auch wenn das die SS von Anfang an so sehen wollte. Wollten die KZ-Verwaltungen lokalen Grund pachten oder erwerben, mussten Pacht- und Kaufverträge ordnungsgemäß verbucht werden. Beim Erwerb besaß die SS keine Vorrechte gegenüber anderen Interessenten, wenn es etwa um Grundstücke ging, die zu als gesetzlich unteilbar bestimmten »Erbhöfe[n]« gehörten.15 Kam es zu Todesfällen in den Lagern, mussten sie den Standesämtern der umliegenden Gemeinden gemeldet werden, die wiederum eine Reihe weiterer Behörden zu informieren hatten, etwa das Amt, das die Geburt des Verstorbenen vermerkt
13 14 15
Vgl. Ibel: Digitalisierung der Häftlingskartei, S. 172. Römmer: Digitalisierung der WVHA-Häftlingskartei, S. 21. Vgl. z.B. für die KZ Mauthausen und Gusen Haunschmied: Zur Landnahme der Schutzstaffel, S. 166–168; Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen, S. 84.
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Teil IV: »…ein Meister aus Deutschland«
hatte, Verwahrungsstellen, Finanzämter oder Vormundschaftsgerichte.16 Obwohl die Standesämter im Verdachtsfall dazu verpflichtet gewesen wären, Sterbefälle untersuchen zu lassen, wenn Unfall, Mord oder Selbstmord nicht ausgeschlossen werden konnten, kam es so gut wie nie dazu, dass sie die Angaben der Politischen Abteilungen der Lager überprüft hätten. Die SS richtete dennoch ab 1939 sukzessive eigene Standesämter in den Konzentrationslagern ein, das erste entstand am 1. April 1939 im KZ Buchenwald.17 Sie sorgten bei der Beurkundung der Sterbefälle für eine großangelegte Verschleierung der Zahl der Toten gegenüber anderen Institutionen. Angesichts massiv steigender Todeszahlen gab Reichsführer SS (RFSS) Heinrich Himmler den Lagern beziehungsweise deren Standesämtern in einem Erlass vom Mai 1943 klare Vorgaben, wie die Ausstellung der Sterbeurkunden künftig geschehen sollte: »[D]ie Numerierung der Sterbeurkunden darf nicht laufend erfolgen, sondern wie folgt: I 1 bis I 185, sodann II 1 bis II 185, sodann III 1 bis III 185, sodann IV 1 bis IV 185 usw. so daß nur die Höchstzahl 185 aufscheint. Auf diese Art kann die jeweilige Zahl der im laufenden Jahr eingetretenen Todesfälle nicht ersichtlich gemacht werden.«18 Neben der verwaltungsmäßigen Überprüfung der Richtigkeit von Angaben zu Sterbefällen hatte zunächst auch die Justiz die grundsätzliche Verpflichtung, in Verdachtsfällen von strafrechtlich relevanter körperlicher Gewalt und insbesondere von Tötungen zu ermitteln. Auch diese Zuständigkeit der Justizbehörden endete nicht schlagartig mit dem 30. Jänner 1933 oder an den Toren der Konzentrationslager. Bis Ende März 1934 lagen allein in Preußen 2250 unerledigte Verfahren gegen SA-Mitglieder und 420 gegen SS-Mitglieder, mehrheitlich wegen Misshandlungen und Tötungen in den frühen Konzentrationslagern, vor.19 Roland Freisler, damals noch Ministerialdirektor im preußischen Justizministerium, erkannte die Brisanz der Ermittlungen der lokalen Staatsanwaltschaften und gründete zu politischen Kontrollzwecken und zur Konfliktvermeidung mit der NSDAP schon im Juli 1933 die »Zentralstaatsanwaltschaft«. Selbst diese Behörde ermittelte noch längere Zeit wegen Tötungen etwa in den Lagern Bredow, Hohenstein, Fuhlsbüttel oder Dachau. Erst im Juli 1939 erreichte Himmler von Hitler, nach dem Vorbild der Wehrmachtsgerichtsbarkeit eigene SS-Gerichte einzurichten, die für Strafsachen mit Beteiligung 16
17 18 19
Vgl. Maruhn: Staatsdiener im Unrechtsstaat, S. 229. Siehe zur Erfassung der Toten der Konzentrationslager generell Paczuła: Schreibstuben im KL Auschwitz; Kranz: Die Erfassung der Todesfälle; Lambertz: The Urn and the Swastika. Vgl. Maruhn: Staatsdiener, S. 230; Steinbacher: Dachau, S. 127. Schreiben des RFSS an das SS-WVHA, 26.05.1943, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (AMM), P/16/29. Vgl. auch Tuchel: Inspektion, S. 114. Vgl. Gruchmann: Justiz im Dritten Reich 1933–1940, S. 164.
Andreas Kranebitter und Bertrand Perz: Die doppelte Buchführung
von höheren SS-Mitgliedern zuständig sein sollten.20 Mit der »Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände in besonderem Einsatz« wurden am 17. Oktober 1939 schließlich KZ-Verbrechen der »normalen« Gerichtsbarkeit entzogen, die Meldung von »Erschießungen auf der Flucht« endete etwa im KZ Flossenbürg mit diesem Monat.21 Die Einbindung der KZ-Verwaltungen in den nationalsozialistischen Staat, das heißt die bürokratischen Verpflichtungen der SS gegenüber anderen Verwaltungseinheiten, war also vor allem in der Frühphase des Konzentrationslagersystems intensiv und wurde von der SS zunehmend erfolgreich zurückgedrängt beziehungsweise reduziert. Der Grad der Verselbständigung, das heißt die von Beginn an angestrebte Extraterritorialität der Lager, nahm zu. Dennoch blieben die Konzentrationslager bis zu ihrer Befreiung keine autarken (Rechts-)Räume, auch und gerade was den in ihnen vollzogenen Massenmord betrifft. Zum einen hatten die einzelnen Lager eine dichte Berichtspflicht gegenüber den zentralen Stellen in Berlin. So wurden über Funk in sehr kurzen Abständen »unnatürliche Todesfälle«, wie die berüchtigten »Erschießungen auf der Flucht«, und generell die aktuellen Todeszahlen an die IKL beziehungsweise das SS-WVHA gemeldet.22 Zum anderen wurden Todesmeldungen weiterhin an verschiedenste private und öffentliche Einrichtungen geschickt, die damit bestens informiert waren. In den Standesämtern blieben etwa, wie im Fall des KZ Auschwitz, »Zweitbücher« der Sterbebücher erhalten, die weiterhin an die Kreisverwaltungen abzugeben waren.23 Vor allem war die SS gegenüber der Wehrmacht berichtspflichtig. So mussten sämtliche Todesfälle reichsdeutscher Häftlinge monatlich an die Wehrbezirkskommandos gemeldet werden, um diesen die Administration der Erfassung von Wehrpflichtigen zu ermöglichen.24 Zugleich standen die Lagerverwaltungen mit der Wehrmacht auch in ständigem Kontakt, was sowjetische Kriegsgefangene in Konzentrationslagern betraf.25 Die Lagerkommandanturen sandten umfangreiche Todeslisten von Häftlingen aber auch an zivile Institutionen. So hatte die nach der Besetzung Polens im Generalgouvernement errichtete Filiale der Creditanstalt (CA) in Krakau eine eigene KZ-Abteilung eingerichtet, über die vor allem Unterstützungszahlungen von Polinnen und Polen, deren Angehörige in Konzentrationslager deportiert worden waren, nach dem Transfer von Złoty in Reichsmark an einzelne Lager überwiesen wurde. Nachdem diese Zahlungen ihre Empfänger oft nicht erreichten, weil sie bereits in
20 21 22 23 24 25
Vgl. ebd., S. 654. Ebd., S. 655f. Schulte: London war informiert, S. 207–227. Vgl. Maruhn: Staatsdiener, S. 233. Vgl. dazu etwa für das KZ Mauthausen Holzinger: Einleitung. Vgl. umfangreich dazu Otto/Keller: Sowjetische Kriegsgefangene.
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den Lagern ums Leben gekommen waren, wurden von den KZ-Verwaltungen die Gelder über die CA Krakau wieder an die Angehörigen rücküberwiesen. Die Lager schickten dazu die entsprechenden Namenslisten mit den Namen der toten Häftlinge. Die CA Krakau unterhielt mit insgesamt 13 großen Lagern von Auschwitz über Buchenwald bis Mauthausen derartige Geschäftsbeziehungen.26 Die Meldungen von Todesfällen an andere Institutionen wie an Angehörige von Gefangenen machte es für die Konzentrationslager und ihre Zentrale in Oranienburg notwendig, die Todesursachen so anzugeben, dass diese immer rechtskonform im Sinne des herrschenden Rechtes im NS-Staat waren. Daher gab es grundsätzlich zwei getrennt geführte Totenbücher in den Lagern: jenes für die »natürlichen Todesfälle« und jenes für die »unnatürlichen Todesfälle«. Im ersteren waren alle Todesfälle mit tatsächlichen oder fingierten Todesursachen angeführt, von der tödlichen Lungenentzündung bis zum plötzlichen Kreislaufkollaps. Unter »unnatürliche Todesfälle« wurden alle jene Verstorbenen verzeichnet, deren Tod offensichtlich gewaltsam stattgefunden hatte. Darunter fielen zahllose Morde an Häftlinge, begangen durch SS-Angehörige. Das Verschulden musste für die SS aber grundsätzlich beim Verstorbenen liegen. Jeder Mord im Lager, so er wie bei der Verabreichung tödlicher Spritzen durch Ärzte nicht anders getarnt werden konnte, konnte daher nur als Unfall oder mit Begründungen wie »Erschießung auf der Flucht« oder »Freitod« angegeben werden. Nur die von den Sicherheitsbehörden angeordneten »Exekutionen« konnten als mit dem NS-Recht übereinstimmende Tötungen so verzeichnet werden. Mit der Einführung der Hollerith-Erfassung wurden auch die Todesfälle in den Lagern auf dieses Lochkartensystem übertragen. Konnte diese Erfassung schon generell nicht mit der Geschwindigkeit der Veränderungen der Häftlingsgesellschaft in den Lagern mithalten, so ergab sich in Bezug auf die Todesfälle ein weiteres Problem für die SS. Die Kontroll- beziehungsweise Steuerungsinteressen standen im Widerspruch zu den Verschleierungsinteressen bei den Todesursachen. Zwar konnten die Todesfälle erfasst werden, die meist fingierten Todesursachen lieferten der SS-Zentrale aber alles andere als ein realistisches Bild der tatsächlichen Gründe für den massenhaften Tod in den Lagern und damit keine Informationen, die als Basis für eine gezielte Steuerung der Sterblichkeit in den Lagern hätte dienen können. Die unterschiedlichen und sich letztlich widersprechenden Funktionen der Konzentrationslager, an vorderster Stelle Repression und ökonomische Ausbeutung, spiegelten sich auch in den Widersprüchen und Grenzen der Aufzeichnungssysteme in den Konzentrationslagern, obwohl die SS bei der Dokumentation durchaus funktionale Flexibilität praktizierte. Wurde der Tod der meisten im KZ umgekommenen Personen verzeichnet, wich die SS bei manchen Gruppen wie auch Einzelpersonen von 26
Enigl/Janny: Das grauenvolle Geheimnis der CA; vgl. Loose: Kredite für NS-Verbrechen, S. 347–350.
Andreas Kranebitter und Bertrand Perz: Die doppelte Buchführung
dieser Praxis ab, wenn Todesfälle komplett geheim gehalten werden sollten. Dies gilt für Vernehmungen mancher Gestapo-Häftlinge, die diese in den Bunkern der Konzentrationslager durch Angehörige der Politischen Abteilungen vernehmen ließ und die dabei ums Leben kamen. Nicht erfasst wurden in der Endphase der Lager zum Teil jene Häftlinge, die in Todesmärschen etwa ins KZ Mauthausen getrieben wurden, oder auch sowjetische Kriegsgefangene, die die Wehrmacht »aussonderte« oder als »geflohen und nicht wiederergriffen« bürokratisch verschwinden und in Mauthausen als »K-Häftlinge« ermorden ließ.27 Die größte Gruppe nicht namentlich erfasster Deportierter waren die in das KZ Auschwitz deportierten Jüdinnen und Juden, die sofort an der Rampe für die Tötung in den Gaskammern in Auschwitz-Birkenau selektiert wurden. Sie wurden vor ihrer Ermordung gar nicht mehr als Lagerhäftlinge »in den Stand« aufgenommen, hier griff die Verschleierungspraxis, die auch sonst den Holocaust charakterisierte. Bei sogenannten »Nacht-undNebel-Häftlingen«, das heißt Menschen, die wegen Widerstandshandlungen in den westlichen und nördlichen Besatzungsgebieten heimlich verschleppt wurden, erhielten die Angehörigen auch bei Hinrichtungen oder im Todesfall keinerlei Verständigung.
3. Widerstand und Eigen-Sinn: die Erfassungspraktiken und die Deportierten In den Erinnerungen der Überlebenden spielt die überbordende Bürokratie der Konzentrationslager eine herausragende Rolle. Von der Registratur bei der Ankunft im Lager über das tägliche Appellstehen bis zur Unzahl an Formularen, die beim Aufsuchen des Krankenreviers auszufüllen waren – die Erfassungspraxis wurde in den allermeisten Fällen als schikanös erlebt, als Teil einer beabsichtigten umfassenden Erniedrigungsprozedur. In einem der frühesten Exilberichte über die Lager schrieb der 1939 aus dem KZ Dachau entlassene ungarisch-österreichische Journalist Max Georg Koganowsky: »On the second day after my arrival at the camp we were taken back to the barracks after the roll-call. The block clerk, right-hand man of the block-elder – drew up another register of our names and other personal data. Nowhere did I find as much red tape as in the Dachau camp.«28 Diese regelrechte Erfassungswut stand für den Psychologen Viktor Frankl in seltsamem Kontrast zur völligen Gleichgültigkeit gegenüber dem Erfassten, wenn Tote mit auf Transporte geschickt wurden, damit die Zahl stimmte. »Gab es einen Toten, so mußte er mit dazu: die Liste mußte stimmen! Die Liste ist das Wichtigste, der Mensch nur so weit wichtig, als er eine Häftlingsnummer hat, buchstäblich nur mehr eine Nummer 27 28
Vgl. dazu Kaltenbrunner: Flucht aus dem Todesblock. Karst: The Beasts of the Earth, S. 53.
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darstellt. Tot oder lebendig – das gilt hier nicht mehr; das ›Leben‹ der ›Nummer‹ ist irrelevant.«29 Die Verschleierungsabsicht der Todesfälle auf Seiten der SS produzierte einen Verwaltungsaufwand, den sie unter Rückgriff auf KZ-Häftlinge zu bewältigen versuchte. Zahlreiche Überlebende bezeugten, dass sie tagtäglich Dokumente zu fälschen hatten. Irene Schwarz, Schreiberin in der Politischen Abteilung im KZ Auschwitz, erinnerte sich wie andere an eine fast schon mechanische Datenfälschung, die mit der Beurkundung der Todesfälle einher ging: »Die Todesstunde mußte angegeben werden, denn die Anweisung erlaubte nur einen Todesfall alle zwei Minuten, der Morgen- und Abendappell bildete den Rahmen unseres Zeitplans. Die Bezeichnungen waren so mechanisch wie jene auf einer militärischen Zahlliste. ›Um 7 Uhr 2 nach dem Abendappell starb der holländische jüdische Häftling X an Lungenentzündung. Um 7 Uhr 4 starb der polnische jüdische Häftling Y an Tuberkulose auf der Lagerstraße‹ usw. usw. Die Schreiberinnen konnten jegliche Zeit und irgendeine der 34 vorgeschriebenen Krankheiten für den Tod des Opfers wählen. Üblicherweise zogen sie Herzversagen vor, weil das kurze deutsche Wort es erleichterte, die Quoten zu erfüllen.«30 Durch derartige Praktiken einer Verwaltung, die sich durch Verschleierung selbst verkomplizierte, entstand eine Schicht an Schreiberinnen und Schreibern in allen Abteilungen der KZ-Verwaltung, die paradoxerweise wiederum selbst ein Interesse an der Verkomplizierung der Erfassungspraxis haben musste, um so viele der begehrten Schreibposten zu schaffen wie möglich.31 Die Aufblähung des »Erfassungsapparates« lag im Interesse zahlreicher KZ-Häftlinge und vor allem ihrer Funktionärsschicht, um die Zahl relativ behüteter und die Überlebenschancen drastisch steigernder Innenkommando-Posten zu erhöhen. Diese waren ein seltenes Gut und in weiterer Folge wesentlicher Teil einer die Handlungsspielräume der Deportierten bekräftigenden Schattenökonomie der Häftlingsgesellschaft. Die komplizierte Erfassungspraxis produzierte damit eine Schicht sogenannter Funktionshäftlinge, die selbst Teil des Gewaltapparates wurden. Zugleich schuf deren Privilegierung aber auch die Bedingungen von Widerstand. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf Geschehnisse durch Sabotage von Daten, die Eventualität, diese Daten zu fälschen, schuf wenn auch noch so geringe Handlungsspielräume für Funktionshäftlinge, die zu bürokratischen Experten avancierten. Für den am Aufbau des Widerstandskomitees im Mauthausen-Außenlager Ebensee wesentlich be29 30
31
Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen, S. 88. Irene (Irka) Schwarz (geb. Anis) (New York, USA), in: Shelley (Hg.): Schreiberinnen des Todes, S. 33–42, hier S. 35; vgl. auch Langbein: Die Stärkeren, S. 64; Lingens: Gefangene der Angst, S. 144; Lemordant: Pathologie Concentrationnaire, S. 22f. Vgl. Langbein: Menschen in Auschwitz, S. 29.
Andreas Kranebitter und Bertrand Perz: Die doppelte Buchführung
teiligten Drahomír Bárta, der die Entstehung des Widerstands in den Lagern generell in den kleinen und alltäglichen Praktiken der gegenseitigen Hilfe verortete, bildete die Möglichkeit zur Datenfälschung geradezu Ausgangspunkt und Voraussetzung des illegalen Widerstands.32 Datenfälschungen waren integrale Bestandteile des Lagerwiderstands. Für das KZ Mauthausen bezeugen Ernst Martin, Lagerschreiber des Standortarztes, und Ladislaus Szücs, Häftlingsarzt im Außenlager Melk, diese Form von »Sabotage«, die der Nachwelt die NS-Verbrechen bezeugen sollten. Martin vermerkte über den Zeitraum von zwei Jahren bei allen Verstorbenen, die er im Auftrag der SS als »natürliche« Todesfälle abzuschreiben hatte, obwohl sie ermordet wurden, einen Punkt hinter dem Geburtsort.33 Zu Kriegsende erhielten diese Dokumente eine besondere Bedeutung: Versuchte die SS, sie als Belege ihrer Verbrechen zu vernichten, so wurde die Rettung der gefälschten Dokumente zur letzten Widerstandshandlung per se, da nur sie ebenso die juristische Verurteilung der Täter wie ein Gedenken an die Toten ermöglichen konnte.34
4. Fazit Die Praxis der Erfassung der Sterbefälle in den Konzentrationslagern unterschied sich wegen ihrer mehrfachen Funktionen, die sie für den NS-Staat zu erfüllen hatten, vom namentlich beurkundeten Krankenmord auf der einen und dem meist spurlosen Verschwinden der Holocaust-Opfer auf der anderen Seite. Sie stand an der Schwelle zwischen einem Verbrechen, das im Sinne einer scheinbaren rechtlichen Legalität noch gerechtfertigt und legitimiert werden sollte, und dem umfassenden entgrenzten Massenmord jenseits aller Logiken der Legitimierung. Resultierte aus ersterem eine umfassende Fälschungsabsicht, so bedeutete Letzteres auch das aktenmäßige Vernichten und Verschwindenlassen. In den Konzentrationslagern bestanden diese beiden Funktionen für verschiedene Gruppen von Deportierten und verschiedene Zeiten nebeneinander, wurden nicht selten aber auch vermischt. In der Literatur wird oft erwähnt, dass die Beurkundung der Todesfälle und die Versendung von Urnen gewissermaßen eine Normalität vorspielen sollten. Jan Lambertz hat jüngst zurecht darauf hingewiesen, dass diese These der Aufrechterhal32
33 34
»Wenn sich in diesen Dingen die Schreibstube mit dem Arzt verband, konnte man, je nach Notwendigkeit, verschiedene Verwechslungen der Toten mit den Lebenden organisieren. Vor allem aber konnte man so – im Interesse derjenigen, die versteckt bleiben sollten – Namen vertauschen.« (Bárta: Zur Geschichte der illegalen Tätigkeit, S. 111). Vgl. Martin: Bericht; Szücs: Zählappell, S. 67f. Vgl. dazu u.a. Verein für Gedenken und Geschichtsforschung in österreichischen KZ-Gedenkstätten/Andreas Kranebitter (Hg.): Gedenkbuch.
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tung einer Normalität nicht bedenkt, dass gerade für die jüdischen Opfer der Konzentrationslager mit der (noch dazu verzögerten) Versendung von Urnen und deren Beisetzungspflicht zahlreiche jüdische Rituale gebrochen wurden und damit kaum von »Normalität« zu sprechen ist.35 Die Normalitätsthese bezieht sich tatsächlich mehr auf die Perspektive des erfassenden Staates als auf dessen Opfer. Lambertz tendiert demgegenüber dazu, in der bürokratischen Erfassungsprozedur der Lager eine Politik der kalkulierten Einschüchterung zu vermuten.36 Ein genauer Blick auf die Praxis des »pervasive institutional dissonance, concealment alongside careful record-keeping«37 scheint uns allerdings mehr Ergebnis einer Institution zu sein, die als permanenter Ausnahmezustand eben an der Schwelle zwischen einer vermeintlich »ganz normalen Institution«38 und einer Vernichtungseinrichtung liegt und damit widersprüchlich agiert. Der Philosoph Giorgio Agamben hat die nationalsozialistischen Konzentrationslager als »permanenten Ausnahmezustand« verstanden. Für Agamben (wie für Carl Schmitt und Walter Benjamin) ist der Ausnahmezustand zunächst die Suspendierung des Rechts durch den Souverän.39 Er ist damit aber nicht einfach nur ein »rechtsfreier« Raum oder eine neue Gegen-Ordnung wie eine Diktatur, sondern die Schwelle zwischen beiden, eine »Zone der absoluten Unbestimmtheit zwischen Anomie und Recht«.40 »Die Suspendierung der Norm bedeutet nicht ihre Abschaffung, und die Zone der Anomie, die sie einrichtet, ist nicht ohne Bezug zur Rechtsordnung.«41 Die widersprüchlichen Erfassungspraktiken der Lager stehen paradigmatisch für diese Zone der Unbestimmtheit zwischen Norm und Anomie, die Lager verstetigen diese Doppelfunktion und werden als dauerhaftes Provisorium konstitutiver Teil der NS-Gesellschaft. Mit Alf Lüdtke und Michael Wildt kann Agambens Bild des Ausnahmezustands auf historisch-empirischer Ebene praxeologisch fruchtbar gemacht werden:42 »Der Ausnahmezustand ist […] nicht bloß eine staatsrechtliche Konstruktion, die nur dann herrscht, wenn er verfassungsgemäß ausgerufen wird. Sondern der Ausnahmezustand ist gewissermaßen in den Alltag polizeilichen Handelns eingelas-
35 36 37 38
39 40 41 42
Lambertz: The Urn, S. 77–95. Vgl. ebd., S. 91. Ebd., S. 94. Vgl zur These der »ganz normalen Organisationen« im Holocaust, die wiederum auf Christopher Brownings These der »ganz normalen Männer« anspielt (Browning: Ganz normale Männer), Kühl: Ganz normale Organisationen. Vgl. Agamben: Ausnahmezustand, S. 58. Ebd., S. 69. Ebd., S. 33. Vgl. Lüdtke/Wildt: Einleitung.
Andreas Kranebitter und Bertrand Perz: Die doppelte Buchführung
sen, wenn vor Ort in konkreten Situationen entschieden wird, was zur Beibehaltung oder Herstellung von Sicherheit ›notwendig‹ ist. ›Kurzer Prozess‹ kann auch im Kleinen gemacht werden.«43 Die Erfassungspraktiken in den KZ können als Sinnbild dieses »Kleinen« des Ausnahmezustands verstanden und untersucht werden. Sie sind es, von der SS ebenso »von oben« verbürokratisiert wie von den Deportierten der Lager »von unten« verkompliziert, die die Spezifik der Konzentrationslager erst »gemacht« haben.
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43
Ebd., S. 21.
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Steinbacher, Sibylle: Dachau. Die Stadt und das Konzentrationslager in der NS-Zeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft (Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte, Bd. 5), 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1993. Szücs, Ladislaus: Zählappell. Als Arzt im Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1995. Tramsen, Eckhard: Schweigen in der Musik, in: Bettina Bannasch/Allmuth Hammer (Hg.): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah, Frankfurt a.M. 2004, S. 281–292. Tuchel, Johannes: Die Inspektion der Konzentrationslager 1938–1945: Das System des Terrors, Berlin 1995. Verein für Gedenken und Geschichtsforschung in österreichischen KZ-Gedenkstätten/Andreas Kranebitter (Hg.): Gedenkbuch für die Toten des KZ Mauthausen und seiner Außenlager, Bd. 1: Kommentare und Biografien, Wien 2018. Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016. Welzer, Harald: Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust, Tübingen 1997.
»Die Kreuzform ist ein Ergebnis der Statistik« Listen in Heimrad Bäckers nachschrift Sophie Liepold
In Heimrad Bäckers nachschrift, deren beiden Teile 1986 und 1997 erschienen, wird Sprachmaterial des NS-Terrors zitiert, montiert und mittels konkret-poetischer Bearbeitung dokumentiert. Listen als bürokratische Planungs- und Steuerungsinstrumente der nationalsozialistischen Organisation sind einerseits Gegenstand der nachschrift; andererseits stellen Listen ein zentrales literarisches Verfahren Bäckers dar, indem sie oftmals erst durch Montage des vorgefundenen Materials, das aber bereits listenartiges Potenzial aufweist, entstehen: 20. 4. hitlers geburtstag. exekution 20. 4. hitlers geburtstag. herzinjektionen verabreicht 20. 4. hitlers geburtstag. exekution1 Die infame Kombination der Ereignisse – der Geburtstag des »Führers« und Exekutionen in den Jahren 1942, 1943 und 1944 – spürt Bäcker in den Quellen selbst auf und verstärkt durch sein dokumentarisches Verfahren und die typografische Anordnung die konkreten Formen, die im Material schon angelegt sind. Die Quellen weist Bäcker in einem Anmerkungs- und Literaturapparat mitsamt der Seitenangabe aus. Damit attestiert die nachschrift den zitierten Texten jedoch keine Beweiswürdigkeit einer historischen Realität, sondern präpariert vielmehr sprachliche und bürokratische Ordnungsmuster heraus, die auf Seiten der nationalsozialistischen Verbrechen zu finden sind. Diese erstrecken sich bis in die Texte der historiografischen und juristischen Aufarbeitung und provozieren damit eine Sprachreflexion. Entgegengestellt werden den subjektlosen bürokratischen Formen Zeugnisse von Opfern und Überlebenden der Shoah; so heißt es am Beginn der nachschrift 2: »es kann sein, daß man uns nicht töten wird und uns erlauben wird, zu leben«.2 Nicht zuletzt greift Bäcker in seiner Werkstatt selbst auf registraturähnliche, listenhafte Hilfsmittel zurück, wenn er Zitate, Quellen und Schlagworte des NS-Terrors in 1 2
Bäcker: nachschrift, S. 72 – im Folgenden unter der Sigle n I und Seitenzahl ausgewiesen. Der vorliegende Beitrag hält sich an die typographischen Besonderheiten der nachschrift. Bäcker: nachschrift 2, S. 5 – im Folgenden unter der Sigle n II und Seitenzahl ausgewiesen.
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Registerheften ordnet, sortiert und zu einem Verweissystem der nachschrift werden lässt. Bäcker, der 1925 in Wien geboren wurde, war ab 1938 Mitglied der Hitlerjugend und trat mit 18 Jahren der NSDAP bei. Von 1941 bis 1943 arbeitete er als Volontär für die Linzer Tages-Post, bis 1945 schließlich als Mitarbeiter der Presse- und Fotostelle der HJ-Gebietsführung Oberdonau.3 Die jahrzehntelange Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen stellt letztlich auch eine lebenslange Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit dar; als Versuch, die eigene Schuld und den persönlichen Irrtum aufzuarbeiten.
1. Vernichtungsbürokratie: Akten und Listen Der Massenmord an europäischen Jüdinnen und Juden, die Verfolgung und Vernichtung politischer Gegnerinnen und Gegner, sexueller und ethnischer Minderheiten sowie behinderter und kranker Menschen im Nationalsozialismus wurde durch eine totalitär agierende Staatsverwaltung vorbereitet und realisiert. Bereits Max Weber sprach der Bürokratie in seiner idealtypischen Beschreibung als moderne, rationale, aktenbasierte Herrschaftsausübung gewisse Tendenzen zur Totalisierung zu: »Eine einmal voll durchgeführte Bürokratie gehört zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden.«4 Im Unterschied zur »altmodischen bürokratischen Herrschaft«, die sich auf die »Lenkung der äußeren Geschicke ihrer Untertanen« begrenzte, greift die »totalitäre Bürokratie« – so Hannah Arendt – konsequent und brutal auch in alle anderen Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger ein.5 Damit entsteht eine neue Staatsform, die sich durch Terror auszeichnet, beinahe alle Freiheiten beschneidet sowie die politische Sphäre und damit den Ort des Handelns zerstört. Bürokratie agiert im Nationalsozialismus als »Regime der Verordnungen«,6 Politik wird durch Verwaltung ersetzt. Dadurch entsteht ein »bisher unbekannte[r] Verbrechertypus«,7 der auch eine neue Form des Verbrechens hervorbringt: »administrative massacres«, dessen Bezeichnung Arendt aus dem englischen Imperialismus übernimmt und als »Verwaltungsmassenmord«8 prägt. Die totalitäre Herrschaft umschließt die Menschen durch das »eiserne Band des Terrors«; der letzte Schritt besteht darin, Individuen in vollkommen beherrschbare Wesen zu transformieren.9 Konzentrations- und Vernichtungslager sind Arendt
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Zur Biografie Bäckers vgl. Bäcker: Über mich, S. 89; Reichmann: Heimrad Bäcker, [o. S.]. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 569. Arendt: Elemente und Ursprünge, S. 520. Ebd., S. 516. Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 57. Ebd., S. 58. Arendt: Elemente und Ursprünge, S. 958.
Sophie Liepold: »Die Kreuzform ist ein Ergebnis der Statistik«
zufolge in diesem Zusammenhang brutale und menschenverachtende »Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist«.10 So schreibt der französische Sozialist und Überlebende des KZ Buchenwald David Rousset: »Die langen, stillen Reihen der Erhängten lösen nur mäßige Furcht aus. Die auf Dauer gestellte, zur Daseinsform gemachte Folter hingegen eine Angst von ganz anderer Kraft. […] Der Tod verblasst, der Terror aber triumphiert.«11 Auch die KZ-Häftlinge mussten Schreib- und Registrierungsarbeiten übernehmen und bildeten ein von der NS-Lagerverwaltung hierarchisch eingeteiltes »Führungspersonal«, welches für die »innere Bürokratie« der Vernichtungs- und Konzentrationslager verantwortlich war und dabei etwa die aktenmäßige Buchführung von Personenstandsregistern anzulegen hatte und dieses laufend aktualisieren musste.12 Bäcker zitiert an einer Stelle aus der eidesstattlichen Erklärung eines ehemaligen KZ-Häftlings von Auschwitz III (Monowitz), der angibt, Leiter der »Schreibstube« gewesen zu sein und von der Häftlingskartei berichtet, die von 1942 bis 1945 geführt wurde: »die kartei der toten war ungleich größer als die der lebenden.« (n I, 127) Die bürokratische Herrschaft, die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik im nationalsozialistischen Staat konnte auf die »Bereitwilligkeit ganz gewöhnlicher Dienststellen«13 zählen. Strukturiert wurde der dezentralisierte Vernichtungsprozess durch die Aufeinanderfolge von »administrativen Maßnahmen«, die durch den Einsatz von »gewöhnlichen Beamten« in etablierten Behörden realisiert wurden.14 Die Vernichtungsbürokratie entwickelte sich demnach aus dem bereits bestehenden Beamtenapparat. Komplexe und interpretationsoffene Befehlsschemata, die gleichzeitig auf Eigeninitiative setzten, die Zergliederung von Weisungsbefugnissen und Verschlüsslungen von Zuständigkeiten haben maßgeblich zur Eskalation der Gewalt im Nationalsozialismus beigetragen; die von Hitler radikal formulierten Prinzipien wurden von untergeordneten Einheiten ausgelegt und spezifiziert.15 So ging etwa der Enteignung der Jüdinnen und Juden in Deutschland eine antisemitische Steuerpolitik voraus, die darin gipfelte, dass Finanzbeamte und -beamtinnen auch die letzten Spuren des bürgerlichen Lebens von deportierten Jüdinnen und Juden tilgten – und sich damit wesentlich und aktiv an der Vernichtungspolitik beteiligten.16 Dass die wirtschaftliche Ausbeutung der Jüdinnen und Juden auch nach deren Ermordung fortgesetzt wurde, zeigt eine Passage aus der nachschrift,
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Ebd., S. 907. Rousset: KZ Universum, S. 62f. Vgl. ebd., S. 59 und S. 55. Hilberg: Anatomie, S. 82. Ebd., S. 86. Vgl. van Laak: Schreibtischtäter, S. 302. Vgl. Kuller: Bürokratie, S. 12 und S. 18.
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die aus den Richtlinien des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts vom 26. September 1942 stammt: unbeschadet der zu erwartenden gesamtanordnung hinsichtlich verwertung des beweglichen und unbeweglichen besitzes der umgesiedelten juden wird hinsichtlich des eingebrachten gutes, das künftig in allen anordnungen als diebes-, hehler- und hamstergut zu bezeichnen ist, schon jetzt folgendes bestimmt: (n I, 69) Bäcker isoliert die beklemmende Ankündigung, die er mittels Kleinschreibung und Kursivsetzung bearbeitet und lässt sie mit einer Aposiopese enden: Damit bricht das Zitat bewusst vor der Aufzählung der entscheidenden Konsequenzen ab. Das nationalsozialistische paperwork zur Vorbereitung des industriellen Massenmords wurde dadurch organisiert, dass eine Unterkategorie zu Jüdinnen und Juden in fast jedem Ressort eingeführt und die Verfolgung und Vernichtung zur alltäglichen Routinearbeit wurde. Wie Raul Hilberg zeigt, diente dies nicht nur dazu, den »Verwaltungsmassenmord« und seine Vorbereitung möglichst effektiv zu gestalten, sondern auch, den Vernichtungsprozess zu tarnen, auf Kennzeichnung zu verzichten und seine Nachvollziehbarkeit zu erschweren.17 In der Endphase waren schließlich keine Befehle mehr notwendig, da jeder und jede Bescheid wusste, was zu tun war;18 in den letzten Kriegswochen ging die SS-Bürokratie schließlich dazu über, die Aktenberge der Vernichtung so gut wie möglich zu beseitigen, um die Gräueltaten zu vertuschen.19 Doch um die Vernichtung überhaupt durchführen zu können, benötigte man zuvor Daten: und diese wurden systematisch erhoben. Nach 1933 wurde durch Mithilfe der Polizei, der Gesundheits- und Sozialverwaltung sowie des »Statistischen Reichsamts« binnen weniger Jahre ein System errichtet, das durch Statistiken, Meldegesetze und Krankenakten eine möglichst vollumfassende Registrierung der Bevölkerung sicherstellen sollte. Neben den Volkszählungen (1933 und 1939) führte das NS-Regime das Arbeitsbuch, das Gesundheitsstammbuch, die Meldepflicht, die Volkskartei und die Personenkennziffer ein.20 Die Erfassungstechniken wurden stetig weiterentwickelt und perfektioniert; so etwa durch die HollerithZählmaschine, die auf Lochkarten basierte und von der Deutschen Hollerith Maschinen Gesellschaft (Dehomag) für das Reichsamt und deren Bedürfnisse optimiert wurde. Eingesetzt wurde die neue Tabelliermaschine bei der Volkszählung 1939, ab 1942 auch von der SS zur »Rassenerfassung« und 1943/44 bei der Datenerfassung von
17 18 19 20
Vgl. Hilberg: Anatomie, S. 89f. Vgl. ebd., S. 84. Vgl. Arendt: Eichmann, S. 331. Vgl. Aly/Roth: Die restlose Erfassung, S. 12.
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KZ-Häftlingen.21 Außerdem führten die statistischen Bestrebungen des »Dritten Reichs« in den Jahren von 1933 bis 1939 zu einer Verdopplung des Personals, es wurden mehr statistische Institutionen gegründet und die Zähl- und Sortiermaschinen modernisiert; der Präsident der Deutschen Statistischen Gesellschaft Friedrich Zahn bekannte sich 1941 dazu, der »nationalsozialistischen Bewegung […] nicht bloß politische und wirtschaftliche, sondern auch wissenschaftliche Soldaten« zur Verfügung zu stellen.22 Wie schon Weber proklamierte, sind es Akten, die der Bürokratie zugrunde liegen: »Die moderne Amtsführung beruht auf Schriftstücken (Akten), welche in Urschrift oder Konzept aufbewahrt werden, und auf einem Stab von Subalternbeamten und Schreibern aller Art.«23 Akten als Medien der Verwaltung operieren durch Übertragen und Speichern, während sich zwischen diesen »Akten-Handlungen« etliche weitere schriftliche Manipulationen im Inneren der Akten finden.24 Wenn Akten an ein totalitäres Machtregime wie jenes des Nationalsozialismus geknüpft sind, werden die Ermordungen, deren systematische Vorbereitung und ihr administrativer Aufwand zu den Akten genommen, während gleichzeitig die Akten diesen Vernichtungsprozess und dessen Gelingensbedingungen selbst abbildet. Die totalitäre Schriftmacht und die »To-do«-Logik der Liste können im Extremfall auch ex post über Leben und Tod der Menschen entscheiden. Dies zeigt sich, wenn Bäcker aus einer Empfehlung an diejenigen, die die KZ-Totenbücher zu schreiben hatten, zitiert. Falsche Einträge im Register konnten nämlich nicht nur in den Akten, sondern auch in der Realität durch die Eliminierung des betreffenden Menschen richtiggestellt werden: wenn der blockschreiber irrtümlicherweise eine nummer mit dem vermerk verstorben versieht, kann solch ein fehler später einfach durch die exekution des nummernträgers korrigiert werden (n II, 124) Als »Aufzeichnungsapparate« versammeln die autorlosen Akten nicht nur die zu speichernden Handlungen, sondern – in Form von und durch Listen – ihren eigenen Workflow: »Listen programmieren den Lauf der Akten nicht nur, sondern dokumentieren ihn uno actu auch, wenn sie den Vollzug von Amtshandlungen vermerken. […] Die Akte enthält sich selbst als Ablauf.«25 Damit sind es Listen, die genea-
21 22 23 24 25
Vgl. ebd., S. 22–26. Ebd.: Zahn zit.n. Aly/Roth: Die restlose Erfassung, S. 19. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 552. Vgl. Vismann: Akten, S. 11. Vismann: Akten, S. 23.
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logisch betrachtet als »Grundoperation jeder Verwaltung«26 die Beschaffenheit von Akten prägen. Die hierarchische Befehlsstruktur der Bürokratie zeigt sich an den formalen Eigenschaften und Techniken ihrer »Aufschreibesysteme«, die wiederum selbst durch eine Rangordnung funktionieren: »Jeder Aktenvermerk enthält indirekt einen Befehl.«27 Listen kommt in der NS-Bürokratie eine entscheidende Rolle zu, wenn die von der SS und dem Reichsinnenministerium erstellten Namenslisten von Jüdinnen und Juden Grundlage jeglicher Vernichtungsaktionen und deren Vorbereitung darstellen und deren Daten selbst erst durch eine »Ergänzungskarte« bei der Volkszählung 1939 erhoben wurden.28 Dies ist eine Kernaufgabe von Listen, deren Wert sich daraus ergibt, Übergabeprozesse zu bewerkstelligen.29 Listen sind dabei als bürokratische Formen selbst identitätslos und entstehen erst durch vielfältige Operationen von Addition und Subtraktion.30
2. Die Listen der nachschrift In den bürokratischen und reduktiven Texten des nationalsozialistischen Regimes zeigt sich die »Herrschaft des Niemand«,31 die in den Zitaten der nachschrift deutlich wird. Bäcker zitiert aus Akten, Erlässen, Verordnungen und Richtlinien der NS-Bürokratie; aus Zeitungsmeldungen, Briefen und Tagebüchern; aus Verhören der juristischen Aufarbeitung, historiografischen Forschungsarbeiten und kombiniert dies mit Zeugnissen von Opfern, in Form von Wandinschriften und Überlebendenberichten. Er beschränkt sich auf die Technik des Zitats, denn: »Das Geschehene spricht sich in dem, was aktenkundig wurde, aus[.]«32 Als »offene Zitate« werden diese erst durch die Quellenangabe als solche erkennbar und ermöglichen dadurch einen doppelten Fokus, nämlich auf das Material und die Sprache als Medium.33 Die Quellen von Bäcker sind disparat; zitiert er aus bürokratischem Material, reflektiert er dabei die Schriftmacht und wie diese die Massenvernichtung ermöglicht beziehungsweise realisiert hat, mit. Daraus ergibt sich ein spezifisches Verhältnis von Präsentation und Repräsentation, die nachschrift ist »eine erkenntnisbildende Mimesis an die Sprache und die Tatsache des Holocaust«34 zugleich. Die Listen des
26 27 28 29 30 31 32 33 34
Ebd., S. 20. Ebd., S. 23. Vgl. Aly/Roth: Die restlose Erfassung, S. 32. Vgl. Vismann: Akten, S. 22. Vgl. Stäheli: Indexing, S. 22. Arendt: Eichmann, S. 59. Bäcker: Widerspiegelung, S. 60. Vgl. Pickford: Heimrad Bäcker’s ›System nachschrift‹, S. 64–67. Eder: Eine arbeitsteilige Sprache?, S. 267.
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Nationalsozialismus werden durch Bäckers Zitiertechnik als konkretes und dokumentarisches Sprachmaterial ausgestellt. Sein Schreibverfahren zielt darauf ab, bestimmte Formen bereits in dem Ausgangsmaterial aufzuspüren um damit, wie er sagt, einen »Dokumentbestand aufzugreifen, der schon konkrete Formen bildet, die man nur noch herüberholen muß«.35 Die sprachliche fällt in der nachschrift mit der institutionellen Wirklichkeit zusammen – und somit nimmt das Verfahren Bäckers einen Sonderstatus in der konkreten Poesie ein, die, im Gegensatz zu Bäckers Rückgriff auf bereits bestehendes Material und dessen Bedeutung, programmatisch an der Entsemantisierung und damit an einer neuen Sprache arbeitet.36 Bäckers Poetik zeichnet sich durch verschiedene Reproduktionsverfahren aus, ohne jedoch das Material gänzlich unbearbeitet zu lassen. Durch Abschrift, Kleinschreibung und Montage leistet die nachschrift eine Sprachreflexion, die sich nicht zuletzt durch die Übertragung in das »System nachschrift«37 ergibt. Listen werden in der nachschrift dadurch zum Gegenstand und poetischen Verfahren. Gerade in der Form der Liste wird jene Gleichzeitigkeit eingelöst, die Bäcker durch »die Sprechenden« und »die Sprechenden im System nachschrift«38 behauptet. Die Liste als »totales Paradigmenkonstrukt« erhält ihren Zusammenhang dadurch, dass sie sich zumeist einem einheitlichen Paradigma verschreibt, wobei auch dieses geordnet oder chaotisch gestaltet sein kann.39 Schon die Anfänge der Listenforschung attestieren der Form Diskontinuität und Kontinuität zugleich; die einzelnen Elemente einer Liste können auf unterschiedliche Weise geordnet werden, werden jedoch – je nachdem, in welche Richtungen sie gelesen werden – von einem Anfang und Ende begrenzt.40 Listen übernimmt Bäcker entweder direkt aus dem Ausgangsmaterial, wie etwa Namenslisten von Todesopfern (n I, 41) oder er montiert listenartige Elemente aus Diagrammen und Grafiken zu vereinheitlichten Aufzählungen: erwärmung durch herzdiathermie erwärmung durch zwei frauen erwärmung durch frauen (ausgeübter coitus) erwärmung durch eine frau erwärmung durch 2 lichtkästen mit 16 elektrischen birnen (n I, 77) Bäcker zitiert hier aus dem Anhang eines nationalsozialistischen Zwischenberichts für Unterkühlungsversuche an Häftlingen im KZ Dachau im Jahr 1942, der in den
35 36 37 38 39 40
Veichtlbauer/Steiner: ›Die Wahrheit des Mordens.‹, S. 86. Vgl. Eder: Sprachskepsis in der Literatur?, S. 19–34. Bäcker: Dokumentarische Dichtung, S. 45. Ebd. Cotten: Nach der Welt, S. 23f. Vgl. Goody: Woraus besteht eine Liste?, S. 349.
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Akten der Nürnberger Prozesse abgedruckt ist, und entnimmt den Grafiken nur die Überschriften, um sie als Liste in der nachschrift zu zitieren.41 Aus dem gleichen Bericht, der die Aufzeichnungen zu den Menschenversuchen wiedergibt, formt er eine vertikale Liste mit Zeitangaben, welche die Überlebensdauer der Unterkühlungsversuche mit tödlichem Ausgang dokumentieren: 66 min 87 min 106 min 74 min 65 min 65 min 53 min 70 min 5 min 66 min 87 min 65 min (n I, 79) Die einzelnen Angaben löst Bäcker aus der Tabelle; dadurch ergibt sich eine Anordnung, die den Ablauf der Versuche darstellt. Diese Aufzählung bedarf keiner Rahmung, keiner Überschrift und keiner Kategorie; allein durch die Form der Liste wird ein Zusammenhang suggeriert, der sich durch den Quellenapparat bestätigen lässt und den einzelnen Eintrag in den Vordergrund rückt: »Gerade weil die Rubrik fehlt, die es erlaubt hätte, sich unter ein Allgemeines zu subsumieren […], können sie in ihrer Einzelheit hervortreten.«42 Das Prinzip der Liste als Gegenpol zu narrativen Strukturen43 wird bei Bäcker radikalisiert, indem es zur zentralen Form in der nachschrift wird. »Was über Listen ausgesagt werden kann, gilt auch für Akten. Denn Listen sind ein ›core set of files‹. Im Kern werden Akten von ihnen regiert. Listen programmieren die Entstehung von Akten: vorgeschriebene Schrittfolgen, als Liste anschreibbare und abzuarbeitende Geschäftsanweisungen,«44 heißt es bei Cornelia Visemann. Diese Aktenoperationen, die sich in Listen nachvollziehen lassen und in Listen konkretisieren, lassen sich anhand der Zitate in der nachschrift beobachten: So etwa bei Listen von für Jüdinnen und Juden verbotene Ausflugsziele (n I, 10), Gerichtsurteilen, die als Konsequenz bei der Nichteinhaltung von antisemitischen Verboten folg-
41 42 43 44
Vgl. IMT, S. 591–607. Frey/Martyn: Listenwissen, S. 90. Vgl. etwa Schaffrik/Werber: Die Liste, paradigmatisch, S. 305–307. Vismann: Akten, S. 22.
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ten (n I, 12–13) oder Kategorisierungs- und Kennzeichnungspflichten der jüdischen Identität (n I, 9). Bäcker zitiert Deportationslisten der »Sonderzüge« (n II, 56, 63, 66), Listen faschistischer Verbände (n I, 95), Listen von Urteilsvollstreckungen (n I, 83), Kilometerlisten von Todesmärschen (n I, 112–113), Todeszeitpunkte in Minutenangaben nach »medizinischen« Versuchen an Gefangenen (n I, 79) oder die durchschnittliche Überlebensdauer in Konzentrationslagern (n I, 86). Die meist kurz gehaltenen Textpassagen kontrastieren die neunzehneinhalb Seiten lange Auflistung von Morden in den Gaskammern (n II, 102–121). Die Serialität des nationalsozialistischen Massenmords wird damit auch formal schlagend: Durch die asyntaktische Form der Liste kann jederzeit ein neues Element zu den bereits bestehenden hinzugefügt werden; und »jeder Abschnitt einer Sequenz kündigt bereits eine weitere Folge an«.45 In der nachschrift werden Listen als das grundlegende Instrument des »Verwaltungsmassenmords« gezeigt, die in jeglichen Bereichen der nationalsozialistischen Buchführung eingesetzt werden. Bäcker zitiert etwa die durchschnittliche Lebensdauer der Häftlinge des KZ Mauthausen-Gusen: 1940 ungefähr 6 monate 1941 ungefähr 6 monate 1942 ungefähr 6 monate 1943 ungefähr 8 monate 1944 ungefähr 12 monate 1945 sank die lebensdauer wieder beträchtlich (n I, 89) Die aufzählenden Einträge der nachschrift rücken den Fokus auf die einzelnen Elemente der Liste und gleichzeitig auf die Liste an sich. Da Listen demnach immer auf eine Unabschließbarkeit verweisen, ermöglicht es dieses formale Charakteristikum der nachschrift, sowohl auf die ermordeten Individuen als auch auf den Massenmord Bezug zu nehmen. Das entspricht Robert Belknaps Verständnis einer Liste: »Each unit in a list possesses an individual significance but also a specific meaning by virtue of its membership with the other units in the compilation […].«46 Die von Bäcker durch Kürzungen, Aussparungen und Montage bearbeiteten Zitate stellen kein leeres Spiel der Formen dar, sondern rekurrieren auf die totalitäre Schriftmacht und die »To-do«-Logik der Liste. Mit zwei Rubriken ausgestattet verdeutlicht die leere Liste mit der Überschrift »GETÖTET«/»NICHT GETÖTET« (n II, 29) diese gewaltvolle Agency und Endgültigkeit einer Listenführung im NS-Regime, die über Leben und Tod entscheidet. Es ist einer der wenigen Einträge, die keine genaue Quellenangabe erfahren, sondern nur mit »Konkretion« (n II, 239) kommentiert wird und 45 46
Bronfen/Frey/Martyn: Vorwort, S. 7. Belknap: The List, S. 15.
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damit auf die grundsätzliche Operation des Nationalsozialismus verweist. Die diskursive Macht der Liste entfaltet sich durch das literarische Verfahren der Aussparung und der Montage. Durch die serielle Darstellung, horizontal und vertikal, werden die listenförmigen Texte auch als Grafik lesbar, es ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Schrift und der leeren Seite. Die Serialität als zentrales Format der nachschrift zeigt dabei die Serialität des Mordens.47 In Bäckers Programm geht es um Singularitäten, wie es in einer Notiz aus seinem Nachlass heißt: »Zu Nachschrift: Einzelheiten. Keine Geräuschkulissen. Keine Horizonte.«48 Die Fragmente und listenartigen Formate sind es, die dadurch die »Einzelheiten« wieder in Beziehung zur Masse setzen, ohne jedoch für die nachschrift in Anspruch zu nehmen, die Gesamtheit der Vernichtung und der Verbrechen darzustellen. Damit kontrastiert die Serie nicht einfach kategorisches Denken per se, sondern zeigt »eine andere Logik, in der das Singuläre im Modus des Pluralen erfahren wird«.49 Die Listen der nachschrift reflektieren in ihren Einträgen die häufig unsichtbar bleibende »Politik der Liste«50 als bürokratische Darstellungsform, indem die prekäre Frage, wie das einzelne Element der Liste überhaupt auf die Liste gesetzt werden konnte und rekurriert dabei auf die Lebensbedrohlichkeit der Listenführung im Nationalsozialismus. In der nachschrift verfolgt Bäcker eine Verbindung von Dokumentation und Konkretion, die er in seinem programmatischen Text konkrete dichtung aus dem Jahr 1973 konstatiert: »zur erweiterung der künstlerischen mittel gehört die visuelle formulierung eines textes.«51 Darin bringt er seinen erweiterten Literaturbegriff auf folgende Formel: »text und bild sind eins.«52 Dieses Diktum löst Bäcker ein, wenn er in der nachschrift eine Todesstatistik abbildet, die per Zufall ein Kreuz bildet (n I, 33, vgl. Abb. 1). Die grafische Anordnung auf der Seite entsteht in der nachschrift nicht durch artistische Manipulationen am Ausgangsmaterial, sondern ist in diesem bereits angelegt (vgl. Abb. 2) und wird jedoch erst durch das konkret-dokumentarische Verfahren sichtbar gemacht.
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Vgl. Kämper: Schuldperspektiven, S. 17. Bäcker: Nachlass, ÖLA 214/03, 8/149. Die Zitate aus dem Nachlass werden in diplomatischer Umschrift wiedergegeben. Frey/Martyn: Listenwissen, S. 101. Vgl. Stäheli: Indexing, S. 15f. Bäcker: konkrete dichtung, S. 86. Ebd.
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Abb. 1: Heimrad Bäcker: nachschrift.
Quelle: Heimrad Bäcker: nachschrift, S. 33.
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Abb. 2: Statistik zu Ermordungen im Vernichtungslager Sobibor, 1942.
Quelle: Rückerl, Adalbert (Hg.): NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse, S. 155.
Bäcker kommentiert den Eintrag folgend: »Steigerung der Zahl der Getöteten vom 2. 4. – 1. 6. 1942, Sobibor. Die Kreuzform ist ein Ergebnis der Statistik.« (n I, 134) Durch minimale Eingriffe in das Ausgangsmaterial, nämlich indem Bäcker das Zitat aus seinem Kontext löst, die Einzeleinträge zentriert, durch Kleinschreibung vereinheitlicht und auf der leeren Seite platziert, wird die Liste als Kreuzform eindeutig. Listen werden schließlich auch als »formally organized block of information«53 bezeichnet; damit stehen sie formal immer schon in einem Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Bild und werden in der nachschrift häufig in dieser Ambiguität dargestellt. Durch die Montage der Zitate gilt als Ziel nicht, ein Gesamtbild der Shoah abzubilden, sondern die Unvollständigkeit der Zitate und Quellen wird zum zentralen Gestaltungselement und zeigt sich in den fragmentarischen Zitaten und der Platzierung auf der größtenteils leeren Seite. Die Statistik entnimmt Bäcker jedoch keinem Archivmaterial, sondern juristischer Aufarbeitungsliteratur, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die im Zuge der Strafprozesse der NS-Verbrechen zahlreich zusammengetragenen Dokumente einer breiteren Öffentlichkeit sowie der Forschung zugänglich zu machen.54 Damit stellt sich die Frage nach dem Status der Quellen der nachschrift, die zumeist nicht aus archivarischem Material, sondern aus dem Bestand von Bibliotheken zitiert und dadurch auch die Ubiquität
53 54
Belknap: The List, S. 15. Vgl. Rückerl: NS-Vernichtungslager, S. 19f.
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bürokratischer Formen in der Aufarbeitung zur Disposition stellt. Werden Aufzählungen aus Tabellen zur Veranschaulichung der Massenvernichtung aus historiografischer Forschung wie etwa Raul Hilbergs Die Vernichtung der europäischen Juden (1961) zitiert, ist oftmals ohne die Quellenangaben nicht nachvollziehbar, ob die Passage aus NS-Bürokratie oder Aufarbeitungsliteratur stammt (etwa n I, 21, 24, 29).55 In einer Notiz in seinem Nachlass formuliert Bäcker sein literarisches Programm in diesem Sinne auch als Kritik an den »unzureichende[n] Methoden« der »Darstellung (Niederschrift, Prozeß etc)«.56
3. Registerhefte als Ordnungs- und Verweissystem Listen finden sich jedoch nicht nur in der publizierten nachschrift, in der Bäcker die in dem zitierten Material angelegten Listen herauspräpariert und – seinem Gegenstand geschuldet – zu einem regelrechten Stilmittel werden lässt, sondern auch auf der Ebene der Textgenese. Am Beginn seines Schreibverfahrens stehen Bücherlisten, die es abzuarbeiten gilt.57 Listen übernehmen in der Textgenese nicht selten präliterarische Funktionen und stehen damit an der Schwelle zwischen Werk und Rezeption.58 In Form von drei überlieferten »Registerheften« hat Bäcker für sein dokumentarisches Schreiben schließlich ein Verwaltungs- und Verweissystem angelegt, das einerseits Quellen und Zitatfragmente alphabetisch ordnet und auffindbar macht und andererseits dadurch schon eine Vorsortierung und Auswahl der konkreten Textteile vornimmt. Wie der Nachlass von Heimrad Bäcker, der an der nachschrift ohne Computer arbeitete,59 zeigt, konsultierte er als erstes Bücher, die annotiert und von etlichen Kopien, Abschriften und Fotokopien gewisser Textpassagen komplementiert wurden. Bäckers dokumentarisch-konkretes paperwork zeigt sich besonders deutlich an den drei Registerheften, die sich in seinem Nachlass finden. Das Registerheft zur nachschrift 2 verzeichnet mittels Incipits alphabetisch geordnete Zitate, die Bäcker samt kurzer Quellenangabe mit Seitenzahl in das Heft einträgt (vgl. Abb. 3).60
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Vgl. dazu Altan: »nachschrift« und die Zitate. Bäcker: Nachlass, ÖLA 214/03, 2/149. Vgl. ebd., 8/149. Vgl. Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 12. Vgl. Veichtlbauer/Steiner: ›Die Wahrheit des Mordens‹, S. 86. Vgl. Bäcker: Registerheft zur »nachschrift 2«, ÖLA 214/03, 8/149.
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Abb. 3: Registerheft zur nachschrift 2.
Quelle: Nachlass Heimrad Bäcker (ÖLA 214/03, 8/149).
Als Hilfsmittel zur Textarbeit versammelt das Registerheft mögliche Zitate für die nachschrift. Vorangegangen ist dieser Arbeit die Beschaffung des Materials und die Auswahl gewisser Textpassagen, die Bäcker in dem Verzeichnis dokumentiert. So liegt die Erklärung nahe, dass sich der bibliografische Apparat – der im zweiten Teil der nachschrift um ein Inhaltsverzeichnis, das mit den jeweiligen Zitatanfängen besteht, ergänzt wird – aus diesem Registerheft herleiten lässt. Das Registerheft zur nachschrift 2 besteht aus anschreibbaren und abzuarbeitenden Listen, die zumindest eine erste (noch in alphabetischer Reihenfolge gestellte) Auswahl der Zitate aufzeichnet. Ein weiteres Registerheft aus Bäckers Nachlass verzeichnet nationalsozialistische Ausdrücke für Deportationen, Ermordungen und deren administrative Zwischenstufen. Nach ihrem Anfangsbuchstaben geordnet stellt dieses mit Rubrica betitelte Registerheft nicht nur eine Dokumentation der codierten Sprachformen und Begriffe der bürokratischen Gewalt dar.61 Durch die lexikalische Liste werden die einzelnen Elemente zur Disposition gestellt – und als verknüpfte Folge ergeben sich damit auch Probleme der Klassifizierung,62 die Bäcker thematisiert, wenn er
61 62
Vgl. Bäcker: Registerheft »Rubrica«, ÖLA 214/03, 15/149. Vgl. Goody: Woraus besteht eine Liste?, S. 369.
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Begriffe wie folgende nennt: »AUSDÜNNEN«, »ABBEFÖRDERUNG«, »AUSBRENNEN«, »AUSROTTUNGSERLEICHTERUNGEN«, »ABLIQUIDIERT« oder »AUSGEWANDERT WERDEN«.63 In bearbeiteter Form wird die Wörtersammlung mit »Alphabet des Faschismus«64 betitelt und verweist damit auf die Gewalt, die bereits in der Sprache angelegt ist. Die nationalsozialistischen »Sprachregelungen« stellen durch die Zusammenstellung Bäckers schließlich einen bereits bearbeiteten Fundus an Material zur Verfügung, den er auch weiterhin nutzt. So zitiert Bäcker in seinem 1994 erschienenen Text Widerspieglung Teile des Registerhefts: Das Alphabet des deutschen Faschismus setzt sich aus Wörtern des Todes zusammen. Aber die Wörter des Todes sprechen nicht vom Tod, sondern vom AUSGEWANDERT WERDEN / vom DURCHSCHLEUSEN / von BEFRIEDIGUNGSAKTION / vom BEREINIGEN / vom DESINFISZIEREN / von ENTWESUNG / vom GESAMTANFALL / vom GROSSEN AUFTRIEB / von JUDENABFERTIGUNG / von J-AKTION / von JOT-TRANSPORTEN / vom KINDERABSCHUB / vom PAZIFIZIEREN / vom SONDERREISEZUGVERKEHR / von SONDERUNTERBRINGUNG / von SB, nämlich SONDERBEHANDLUNG / von VF, nämlich VERGASUNGSFAHRZEUG, und handeln davon, daß DIE LADUNG zu den Türen des Gaswagens drängt.65 Den »Wörtern des Todes«, die Bäcker in Widerspiegelung anführt, fügt er keine Quellen hinzu; sämtliche davon sind im Rubrica-Registerheft verzeichnet, auch hier fehlt zumeist und im Gegensatz zum Registerheft der nachschrift 2 eine Quellenangabe. Beide Registerhefte sind undatiert; Bäckers jahrzehntelange Recherchetätigkeit für das Projekt beginnt jedoch bereits im Jahr 1968 und markiert damit den Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Thema. Einige der alphabetisch geordneten Begriffe finden sich auch in der nachschrift: Etwa der Ausdruck »AUSROTTUNGSERLEICHTERUNGEN« aus dem Rubrica-Heft wird in der nachschrift 2 auf einer leeren Seite zitiert (n II, 88). Gegenübergestellt ist dem Eintrag auf der nächsten Seite folgender: GASZEIT GASDICHTMACHUNG GASEINSTRÖMGERÄT (n II, 88) Auch die beiden zuerst genannten Begriffe finden sich in dem Registerheft wieder. Gleichwohl, ob das Rubrica-Registerheft vor oder nach der Entstehung des Texts Widerspiegelung entstanden ist, liegt es nahe, dass die alphabetische Ordnung des Registers als Verfahren seine Spuren in gewissen Einträgen der nachschrift und deren Hilfsmitteln hinterlassen hat. In Ausnahmefällen bricht Bäcker das Muster des Annotierens eines Einzelbegriffs im Registerheft, etwa in einem Eintrag unter der Ru63 64 65
Bäcker: Registerheft »Rubrica«, ÖLA 214/03, 15/149. Bäcker: Widerspiegelung, S. 61. Ebd.
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brik »IJ«. Viermal schreibt Bäcker das Wort »IUSTIFIZIERT«66 untereinander. Damit hebt sich diese Aufzeichnung deutlich von den Eintragungen der restlichen Seite ab (vgl. Abb. 4).
Abb. 4: Rubrica-Registerheft.
Quelle: Nachlass Heimrad Bäcker (ÖLA 214/03, 15/149).
Die Struktur des Registerhefts provoziert also ein Brechen mit den selbstauferlegten Regeln, in der die Materialsammlung entsteht und bietet erste Möglichkeiten, die Zitate, etwa durch Wiederholungen, zu verfremden und zu formen. In der nachschrift findet sich der Eintrag in veränderter Form wieder, indem unter der Überschrift »justifiziert« eine seitenfüllende, vertikale Liste von signum citationis folgt (n II, 132). Die im Buchwesen als »Zitatzeichen« benannte Setzung bedeutet die Wiederholung einer vorangegangenen Zeile;67 damit nimmt der Eintrag in der nachschrift auf die aktenmäßige Erfassung der Ermordeten Bezug. Indem Bäcker die Namen jener russischen Kriegsgefangenen, die nach ihrer Ermordung im Jahr
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Bäcker: Registerheft »Rubrica«, ÖLA 214/03, 15/149. Vgl. Golpon: Unterführungszeichen, [o. S.].
Sophie Liepold: »Die Kreuzform ist ein Ergebnis der Statistik«
1942 in das »Totenbuch« des KZ Mauthausen eingetragen werden, weglässt, verweist er auf die anonymen Opfer. Deren Tötung wird in der nationalsozialistischen Buchhaltung nur noch durch Zeichenfolgen dokumentiert, die Menschen werden auch auf dem Papier ausgelöscht. In der nachschrift 2 wird die im Rubrica-Heft ausformulierte Wiederholung als Zeichen fortgeführt und auf die Wiederholung des Wortes verzichtet. Auch in einem weiteren Text, Bäckers 1989 erschienener Montage von Text und Fotografien mit dem Titel EPITAPH, findet sich eine weitere Variation: die Liste mit der Überschrift und den Wiederholungszeichen wird dreimal nebeneinandergestellt, die Wiederholung damit wiederholt.68 Die sprachlichen Reste werden in der nachschrift zu Bruchstücken ihrer Wirklichkeit. Wenn in der Philosophie »nach Auschwitz« etwa Giorgio Agamben die Frage nach einer möglichen Zeugenschaft und ihrer Archivierbarkeit problematisiert und eine Lücke im Archiv identifiziert, da die »›vollständigen Zeugen‹ […] kein Zeugnis abgelegt haben und kein Zeugnis hätten ablegen können«,69 so thematisiert die nachschrift dieses Problem, indem sie die subjekt- und autorlosen Schriftstücke der Täterschaft und damit die zu den Akten genommenen Gräueltaten in den Fokus rückt. »›Tod‹ manifestiert im Sprachschutt, Schmerz zu Schutt geworden; ein Dezimalpunkt«,70 heißt es in einer Notiz aus Bäckers Nachlass. Ausgangspunkt für Bäckers »Beschreibung des Dritten Reichs«71 ist schließlich seine eigene Biografie: Die »erloschene Möglichkeit, sich darzustellen«72 resultiert aus seiner eigenen nazistischen Vergangenheit und Schuld. Somit sieht sich Bäcker nur noch in der Lage, auf bestehendes Material zurückzugreifen und dieses zu montieren, bis hin zu einem Selbstzitat: Seine eigene Buchbesprechung einer Hitler-Biografie, die er im Mai 1942 in der Linzer Tages-Post veröffentlicht hat, führt er in der nachschrift als ein Beispiel »gefährlicher, imbeziler Verehrungswut« (n I, 137) an. In einem kurzen Entwurf in seinem Nachlass schreibt er schließlich rückblickend: »Viel später wird er sich (und jenen, die er in einem zweifelhaften Zustand liebte und nicht in Frage stellte) auf die Schliche kommen, aber da würde es für immer zu spät sein […].«73 Das dritte Registerheft hätte die Grundlage für die nachschrift 3 geliefert, an der Bäcker bis zu seinem Tod gearbeitet hat und die unvollständig geblieben ist.74 Listen finden sich demnach auf drei verschiedenen Ebenen: in der nachschrift selbst, in dem von Bäcker zitierten Material und in den Hilfsmitteln des literarischen Schreibverfahrens. Somit können Listen bereits in der Textgenese als Gestaltungs- und
68 69 70 71 72 73 74
Vgl. Bäcker: EPITAPH, S. 37. Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 30. Bäcker: Nachlass, ÖLA 214/03, 15/149. Bäcker: Nachlass, ÖLA 214/03, 8/149. Ebd. Vgl. Bäcker: Nachlass, ÖLA 214/03, 8/149. Vgl. Bäcker: Registerheft zur »nachschrift 3«, ÖLA 214/03, 10/149.
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Dispositionsmerkmal der nachschrift verstanden werden; der listenartige Charakter der Registerhefte hat nicht zuletzt den Aufbau der nachschrift und vor allem ihren speziellen Quellen- und Anmerkungsteil maßgeblich beeinflusst. Listenförmige Formate sind in der nachschrift nicht nur Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen »Verwaltungsmassenmord«, sondern werden durch das Verfahren Bäckers zur zentralen Darstellungsform und bereits davor als Hilfsmittel für das Schreibverfahren produktiv.
Bibliografie Primärliteratur Bäcker, Heimrad: konkrete dichtung, in: Die Künstlervereinigung MAERZ 1913–1973, Linz 1973, S. 84–86. – nachschrift, hg. und mit einem Nachwort von Friedrich Achleitner, 3., verbesserte und korrigierte Aufl., Graz/Wien 2018 [1986]. – EPITAPH, Linz 1989. – Dokumentarische Dichtung, in: protokolle, H. 2 (1992), S. 43–45. – Widerspiegelung, in: Die Rampe 3 (1994), S. 59–63. – nachschrift 2, hg. v. Friederich Achleitner, Linz 1997. – Über mich, in: Thomas Eder/Klaus Kastberger (Hg.): Heimrad Bäcker. Die Rampe. Porträt (2001), S. 89. – Teilnachlass. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. ÖLA 214/03. – Registerheft »Rubrica«, ÖLA 214/03, 15/149, [o.J.]. – Registerheft zur »nachschrift 2«, ÖLA 214/03, 8/149, [o.J.]. – Registerheft zur »nachschrift 3«, ÖLA 214/03, 10/149, [o.J.].
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Sophie Liepold: »Die Kreuzform ist ein Ergebnis der Statistik«
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Bäcker, Heimrad [1986]: nachschrift, hg. und mit einem Nachwort von Friedrich Achleitner, 3., verbesserte und korrigierte Aufl., Graz/Wien 2018, S. 33. © Literaturverlag Droschl. Abb. 2: Rückerl, Adalbert (Hg.): NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno, Frankfurt a.M. 1977, S. 155. © dtv Verlag. Abb. 3: Bäcker, Heimrad: Registerheft zur nachschrift 2, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Nachlass Heimrad Bäcker (ÖLA 214/03), Schachtel 8/149. © Thomas Eder. Abb. 4: Bäcker, Heimrad: Rubrica-Registerheft, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Nachlass Heimrad Bäcker (ÖLA 214/03), Schachtel 15/149. © Thomas Eder.
Sophie Liepold: »Die Kreuzform ist ein Ergebnis der Statistik«
Abbildungen und Zitate aus dem Nachlass Heimrad Bäcker mit freundlicher Genehmigung des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek und von Thomas Eder.
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Tabu als Handlungsraum Die Suizidstatistik der DDR1 Udo Grashoff
Die DDR hatte eine der höchsten Suizidraten der Welt. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) reagierte auf dieses potenzielle Skandalon nicht mit Manipulation der Statistiken, sondern mit Geheimhaltung. Die Zahlen wurden jährlich in der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik (SZVS) erfasst und dann an das Institut für medizinische Statistik und Datenverarbeitung weitergeleitet, wo die Mortalitätsstatistik erstellt wurde. Dabei galten die Klassifizierungskriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Wie mehrere retrospektive Nachzählungen gezeigt haben, bildeten die Statistiken die Entwicklung der Suizidhäufigkeit in der DDR adäquat ab.2 Zugleich waren Debatten um die Suizidrate der DDR stark tabuisiert. Um die Agency verschiedener Akteure in der Tabuzone ausloten zu können, wird in diesem Aufsatz ein erweiterter Tabubegriff verwendet. Dieser erweiterte Tabubegriff, der Kern und Peripherie von Tabus unterscheidet und den ich an anderer Stelle ausführlich erläutert habe, konzentriert sich nicht nur auf das Verschwiegene im Kern, sondern unterstreicht auch die Vielfalt der Kommunikationspraktiken, mit denen Tabuthemen in der Peripherie der »Verbotszone« angesprochen werden können.3 Das staatlich verfügte Verschweigen der Suizidrate führte nicht zu einem Verschwinden des Themas, vielmehr rangen drei Akteursgruppen um Nutzung und Interpretation der Suizidstatistik: SED-Funktionäre, Kritiker*innen der Diktatur und Mediziner*innen. Deren Strategien stehen im Fokus dieses Aufsatzes. Dabei wird gezeigt, dass die politisch motivierte Tabuisierung der Suizid-Thematik durch die SED mit dazu beitrug, dass Kritiker*innen des Systems die Höhe der Suizidrate einseitig politisch interpretierten, was auch hieß, dass auf beiden Seiten der Kontroverse der 1
2 3
Das empirische Fundament dieses Aufsatzes geht auf meine 2006 veröffentlichte Dissertation »In einem Anfall von Depression« zurück. Ich habe mich noch einmal an die Primärquellen gesetzt und das Material unter dem Blickwinkel der Agency im Tabu-Raum systematisch neu interpretiert. Vgl. Grashoff: In einem Anfall, S. 31. Zur gleichen Einsicht kommt Ellen von den Driesch: Unter Verschluss. Vgl. Grashoff: Political Taboos.
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gleiche Irrtum zu beobachten war. Im Kontrast dazu suchten und fanden Mediziner*innen Handlungsspielräume innerhalb dieser Kultur der politischen Tabuisierung, um zu den tatsächlichen Ursachen und Faktoren, die Suizidalität beeinflussen, vorzudringen.
1. Schaffung und Aufrechterhaltung des Tabus Suizid ist in der modernen Zivilisation im Allgemeinen ein Tabu, aber in der DDR bestand zusätzlich zum anthropologischen Meidungsgebot ein politisches SuizidTabu.4 Um Letzteres geht es in diesem Aufsatz. Die hohe Suizidrate der DDR bildete den Kern des aus politischen Motiven tabuisierten Diskursbereiches.5 Das Verbot hat eine Entstehungsgeschichte und unterlag Veränderungen. In einer ersten Phase, die von 1949 bis 1962 währte, war die Haltung der SED-Führung durch Indifferenz gekennzeichnet. Die SED-Führung überließ das Thema, wenn es überhaupt angesprochen wurde, einigen wenigen Wissenschaftler*innen. Die einzige administrative Entscheidung wurde im September 1956 getroffen. Das erste Statistische Jahrbuch der DDR enthielt die Suizidraten der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR der Jahre 1946 bis 1955. Die Offenlegung der hohen Suizidraten geschah in der Phase des politischen »Tauwetters« im Ostblock. Förderlich für die Veröffentlichung dürfte gewesen sein, dass die ostdeutsche Suizidrate seit 1946 um ein Viertel gesunken war. Hier schien sich ein suizidpräventiver Effekt der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft anzudeuten. Diese Hoffnung hatte bereits 1954 der Sozialhygieniker Erwin Marcusson geäußert: »Mit der Zunahme der wirtschaftlichen Sicherheit in einer neuen Gesellschaftsordnung, unter anderem auch durch die Befreiung der Frauen, verschwinden viele der menschlichen Konfliktmomente, und der Selbstmord wird zu einer Seltenheit.«6 Allerdings stieg die Suizidrate der DDR bald wieder an. Die Zwangskollektivierung im Frühjahr 1960, der Mauerbau 1961 und die Einführung der Wehrpflicht 1962, aber auch die Überalterung der Bevölkerung als Folge des Exodus von über drei Millionen überwiegend jungen Menschen in den Jahren vor dem Mauerbau, könnten dazu beigetragen haben. Angesichts dessen hielt Ministerpräsident Willi Stoph Anfang 1963 eine »Brandrede« vor leitenden Statistiker*innen und verfügte, die Zahlen geheim zu halten.7 Wissenschaftliche Arbeiten wurden mit Geheimhaltungs-Vermerken versehen. Westlichen Presseberichten zufolge gab die SED-Führung paral-
4 5 6 7
Vgl. Felber: Das Suizidtabu. Vgl. Grashoff: Kern und Peripherie. Marcusson: Sozialhygiene, S. 76. Vgl. Interview Wolfgang Kühn: 2002; Regierung der DDR, Veröffentlichung von Angaben, zit. in: Merkel: Epidemiologie, S. 92.
Udo Grashoff: Tabu als Handlungsraum
lel auch Anweisungen an Standesämter, Ärzte, S-Bahn-Personal, Gasversorger sowie Zeitungen, die darauf abzielten, das Thema Suizid aus dem Diskurs zu tilgen.8 Damit war die Kernzone des Tabubereichs geschaffen. In den folgenden drei Jahrzehnten blieben die Suizidstatistiken der DDR geheim. Eine Ausnahme bildeten die an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldeten Suizidraten der Jahre 1969 und 1970.9 Wer genau diese Zahlen an die WHO gemeldet hat, ist unklar, es muss sich um eine staatliche Institution gehandelt haben. Die kurzzeitige Lockerung der Geheimhaltung, die sich in den 1970er-Jahren nicht fortsetzte, fiel mit Bemühungen der DDR um internationale Anerkennung zusammen. Sie korrespondierte zudem mit einem Absinken der registrierten Suizidhäufigkeit; das dürfte die Bereitschaft der DDR zur Offenlegung der Zahlen begünstigt haben. Zugleich war es bis 1977 möglich, für wissenschaftliche Zwecke Zugang zu statistischem Material über Suizide zu erhalten beziehungsweise solches zu erheben. Das änderte sich, als das SED-Politbüro – zum einzigen Mal in seiner Geschichte – das Suizidgeschehen thematisierte.10 Nun wurden die letzten potenziell undichten Stellen beseitigt.11 Das Politbüro wurde offenbar vor allem von der Sorge um das internationale Prestige der DDR getrieben. Nachdem der SED-Staat 1973 in die UNO aufgenommen worden war und in den folgenden Jahren umfassende diplomatische Anerkennung erreicht hatte, sollte die hohe Suizidrate unter keinen Umständen bekannt werden. Einem ehemaligen Mitarbeiter der Abteilung Gesundheitspolitik des Zentralkomitees der SED zufolge hätten sich die Funktionäre dafür geschämt, dass die Suizidrate der DDR nach so vielen Jahren Sozialismus immer noch so hoch war, da ihrer Überzeugung nach Suizide zu den Übeln der kapitalistischen Gesellschaft gehörten. Und sie hätten geglaubt, dass sachliche Diskussionen angesichts der sensationshungrigen Westmedien keine Chance gehabt hätten.12 Möglicherweise war auch das Vertrauen in die eigenen argumentativen Fähigkeiten erschüttert, nachdem im Vorjahr ein Versuch, das Thema offensiv anzugehen, schiefgegangen war. Im August 1976 hatte sich der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz öffentlich selbst verbrannt. In einem den Pfarrer diffamierenden Artikel hatte die SED-Parteizeitung Neues Deutschland unter anderem behauptet: »Es erscheint im Zusammenhang mit unserem Thema nicht überflüssig, daß es die BRD ist, die in der internationalen Selbstmordstatistik ganz weit oben steht, auch bei Selbstmorden durch Selbstverbrennung.«13 Diese Tatsachenverdrehung war in 8 9 10 11 12 13
Vgl. Verzweiflung durch SED-Willkür. Vgl. Statistisches Jahrbuch, jeweils S. 34*. Vgl. Archiv der Stiftung Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch), DY 30, J IV 2/2 A 2073, Bl. 11. Vgl. Willi Stoph an Leiter der SZVS, 20.06.1977, in: Bundesarchiv Berlin (BArch Berlin), DC 20, 13015. Vgl. Interview Eckehard Wetzstein, 16.08.2001. A. Z.: Du sollst nicht.
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kirchlichen Kreisen auf Skepsis gestoßen. »Sie erwähnen die internationale Selbstmordstatistik, um einem anderen Staat Vorhaltungen zu machen. Sie sagen nicht, wo wir in dieser Statistik stehen«, schrieb ein Pfarrer in einem Leserbrief.14 Auf einer Sitzung der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg bemerkte ein Sitzungsteilnehmer: »Die Ärzte in der DDR wissen, daß die DDR in dieser Frage führend ist. Es wird schon mit Absicht hierzu im Jahrbuch der DDR nichts mehr gesagt.« Angesichts dessen sei es »blödsinnig, dass ausgerechnet die BRD die höchste Selbstmordziffer haben soll.«15 In der Bundesrepublik nahm die Frankfurter Allgemeine Zeitung die »selbstgefällige Bemerkung der SED-Parteizeitung« zum Anlass, »nun um genauen Aufschluß zu bitten« und insistierte: »Wer von drüben mit der Selbstmordzahl hierzulande polemisiert – ob man es tut, ist eine Frage des Geschmacks –, muß die Selbstmordhäufigkeit in der DDR ebenfalls nennen.«16 Nachdem sich die SED-Führung ein propagandistisches Eigentor geschossen hatte, blieb nur noch die Geheimhaltung, um das Gesicht zu wahren. In der Folgezeit schickte die SZVS die jährlichen Suizidzahlen nur noch an den Gesundheitsminister und den Ministerpräsidenten.17 Ein vertrauliches Papier des Gesundheitsministeriums widmete dem Thema im Jahr 1987 einen einzigen Satz: »Die Selbstmordhäufigkeit ist in der DDR weiterhin relativ hoch.«18 Das genügte als Begründung für die fortgesetzte Geheimhaltung der Statistiken.
2. Suizidrate als Ausdruck gesellschaftlicher Missstände Die Suizidrate der DDR rückte in den Fokus westlicher Journalist*innen, nachdem die SED am 13. August 1961 die Schließung der Grenze zu Westberlin verfügt hatte. Berichte aus dem Osten Berlins erweckten den Eindruck, dass »die Kurve der Selbstmorde« seit der Grenzschließung »steil angestiegen« war.19 »Selbstmord und Selbstmordversuche vorwiegend älterer Menschen, die durch die Mauer über Nacht von ihren liebsten Angehörigen getrennt worden waren, haben in Ost-Berlin in den ersten Monaten nach dem 13. August fast wie eine Epidemie gewütet«, hieß es in einer Publikation des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen.20 14 15 16 17 18
19 20
Desel: Oskar Brüsewitz, S. 77f. BArch, MfS, HA XX/4, Nr. 2921, Bl. 74. Me.: Streit um Selbstmorde. Vgl. Statistisches Bundesamt, DDR-Statistik, S. 298. Information über die Entwicklung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung der DDR und Schlußfolgerungen für die Entwicklung des Gesundheitsschutzes, März 1987, in: BArch Berlin, DQ 1, 12194. Siegmund: Selbstmordforschung, S. 566. Pfeideler: Tragödien im geteilten Berlin.
Udo Grashoff: Tabu als Handlungsraum
Ein Journalist der Zeitung Die Welt mutmaßte, »daß die Höhe der Selbstmordquote ein Indikator ist für die Intensität, mit der sich Menschen allen Tendenzen der Nivellierung noch zu widersetzen und zu entziehen wissen« und rückte Suizid damit in die Nähe von Widerstand.21 Insgesamt dominierte bei Kritikern der SED jedoch die Deutung des Suizids als Ausdruck sozialer Pathologie. Seit 1961 galt es bei Kritiker*innen der SED als ausgemacht, dass die politischen Verhältnisse die hohe Suizidrate verursacht hatten. Im Gravitationsfeld des Tabus war es nicht immer nötig, explizit Schuldvorwürfe zu erheben, oft wurden diese automatisch mitgedacht, wenn etwa Hermann von Berg, Verfasser eines Manifestes der Opposition, das 1978 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel abgedruckt wurde, fragte: »Warum hat die DDR Weltspitze bei Ehescheidungen, Selbstmordraten und Alkoholmißbrauch?« Als ein Theologieprofessor Anfang September 1976 in der Leipziger Nikolaikirche erwähnte, dass »die Ehescheidungsziffern steil ansteigen sowie die Kriminalität, die Selbstmorde und der Alkoholismus immer mehr zunehmen«, bekam diese Äußerung vor dem Hintergrund der Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz sowie durch die Anwesenheit ausländischer Gäste in der Kirche politische Brisanz.22 Auch der Liedermacherin Bettina Wegner, die im gleichen Monat bei einem Konzert in Wismar mehrere Lieder über Tod und Selbsttötung im Programm hatte, genügten Andeutungen; Wegner erklärte, sie hätte über den Umweg Ungarn erfahren, dass die DDR eine sehr hohe Suizidrate hat. Demgegenüber äußerte der Dissident Robert Havemann im Interview mit einer französischen Zeitung explizit, für die hohe Suizidrate der DDR seien »ökonomische und politische Gründe« verantwortlich.23 Die Geheimhaltungspolitik der SED machte es westlichen Autor*innen schwer, verlässliche Aussagen über die Höhe der Suizidrate zu treffen. Nur wenige Autoren schafften es, sich Zahlen »über den Umweg wissenschaftlicher Tagungen und der Weltgesundheitsorganisation« zu beschaffen.24 Besonders clever war der bundesdeutsche Statistiker Leutner. Seine »per exclusionem und nach Abzug der Gewaltverbrechen (Mord, Totschlag) sowie der unbestimmten Verletzungen« aus den Angaben des Statistischen Jahrbuchs der DDR für das Jahr 1975 berechneten »ungefähren Zahlen« lagen nur geringfügig niedriger als die tatsächlichen Werte.25 Die Verschärfung der Geheimhaltung im Jahr 1977 beendete das Katz- und Mausspiel um die Daten. In der Folgezeit gelangten keine Suizidzahlen mehr in die BRD. Als beispielsweise die Bonner Suizidforscherin Homa Seidel-Aprin während der Arbeit an ihrer
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Wolff: Selbstmord. Staatsarchiv Leipzig (StAL), Bezirkstag/Rat des Bezirks (BT/RdB) Leipzig, Abt. Kirchenfragen, Nr. 20740. Interview Havemann, zit. in: Oschlies: Jugendselbstmorde, S. 7. Schiller: Selbstmordgesellschaft, S. 118. Leutner: Vergleich der Lebenserwartung, S. 43.
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1980 fertig gestellten Dissertation die DDR-Psychiater Karl Seidel und Ehrig Lange um Mitteilung aktueller Suizidraten bat, erhielt sie keine Antwort.26 Angesichts des Verschweigens sah der britische Publizist Timothy Garton Ash das eigentliche Problem weniger in der Höhe der Suizidrate als in deren Tabuisierung. »Das Thema Selbstmord in Ost-Berlin ist ein klassischer Fall des ›Weil-nichtsein-kann-was nicht-sein-darf‹-Denkens«, schrieb er im Jahr 1981: »In der Weigerung der DDR-Behörden, die Existenz eines Problems auch nur zu beachten, sehe ich eine weit vernichtendere Anklage gegen ihr System als in der Selbstmordrate an sich.«27 Im Schatten des Tabus blieben Irrtümer nicht aus. So glaubte der Redakteur beim Deutschlandfunk Karl Wilhelm Fricke, es sei eine »Tatsache, daß der DDRStrafvollzug eine offenbar hohe Quote an versuchten oder vollendeten Suiziden ausweist«.28 Das war ein Irrtum, tatsächlich war die Suizidrate in bundesdeutschen Gefängnissen drei- bis viermal höher als in der DDR. Nur wenige Publizisten gingen soweit, die Statistiken bewusst zu manipulieren. So behauptete Konstantin Pritzel, ein ehemaliger Mitarbeiter des Ostbüros der SPD, in einem Aufsatz im Jahr 1977 irreführend, dass es »eine Parallele zwischen den Fortschritten im sozialistischen Aufbau und der Steigerung der Selbstmordrate« gegeben hätte.29 Wie Pritzel waren auch andere westliche Autoren überzeugt, »daß der triste DDR-Rekord menschlichen Notstandes umweltbedingt ist, seine Ursachen gerade auf jene gesellschaftliche Ordnung einer Kopie des Sowjetsystems zurückzuführen sind, in der angeblich die ›tiefen humanitären Anliegen‹ der Menschheit verwirklicht werden.«30 Behutsamer bei der Interpretation der DDR-Suizidrate agierte Joachim Schiller, der die Höhe der Suizidrate nicht pauschal dem politischen System anlastete, aber dennoch spekulierte: »Daß die allgemeine Suizidrate für die DDR nach 1970 von 30,5 auf 36,2 (1974) anwuchs und inzwischen sicherlich eher noch höher liegt, bestärkt freilich die Vermutung, daß es Zusammenhänge zwischen den politischen Rahmenbedingungen und der Höhe der Selbstmordrate geben kann.«31 Die übertriebene Aufladung der Suizidrate mit politischer Bedeutung durch SED-Funktionäre wie auch deren Kritiker*innen bewirkte eine Blickverengung. Letztere betonten den Zusammenhang zwischen Suiziden und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch deshalb besonders, weil er von der Partei- und Staatsführung der DDR absolut verleugnet wurde – Vertuschung und Enthüllung folgten der grundsätzlich gleichen, fehlgehenden Prämisse.
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Vgl. Seidel-Aprin: Zum Selbstmordgeschehen, S. 28. Garton Ash: »Und willst du nicht«, S. 67. Fricke: Menschen- und Grundrechtssituation, S. 82. Pritzel: Der Selbstmord, S. 1111f. DDR hält traurigen Rekord, abgedruckt in: Seidel-Aprin: Zum Selbstmordgeschehen, S. 78. Schiller: Selbstmordgesellschaft, S. 118.
Udo Grashoff: Tabu als Handlungsraum
Im Unterschied dazu waren Motive und Praxis der mit der Suizidproblematik befassten Mediziner*innen vielschichtiger. Im Auf und Ab von Verschärfungen und Lockerungen der Restriktionen der SED-Führung eröffneten sich für Psycholog*innen und Psychiater*innen, die sich der Suizidforschung und -prävention widmeten, Handlungsspielräume. Sie verfolgten dabei vier Strategien: Entpolitisierung, Regionalisierung, ideologische Rückversicherung und, in seltenen Fällen, partiellen Tabubruch.
3. Entpolitisierung Die im Herbst 1956 offengelegten Suizidstatistiken lösten wenige Reaktionen aus; die politische Brisanz, die darin steckte, wurde aber rasch bemerkt. So glaubte der westdeutsche Bevölkerungswissenschaftler Roderich von Ungern-Sternberg die hohe Suizidrate der DDR damit erklären zu können, dass »die Lebensverhältnisse in der Ostzone schwieriger sind als in der Bundesrepublik«.32 Er führte allerdings eher soziale als politische Faktoren an, wie beispielsweise die Emanzipation ostdeutscher Frauen als mutmaßliche Ursache für das Ansteigen von deren Suizidrate. Auch der Magdeburger Psychiater Karl Parnitzke suchte die Erklärung für die hohe Suizidrate der Frauen »in ihrer stärkeren Beteiligung an der Erwerbstätigkeit und der Gleichstellung in der gesellschaftlichen Ordnung«.33 Der emeritierte Medizinprofessor W. F. Winkler aus Dresden las aus den Zahlen gar eine geschwächte Widerstandsfähigkeit gegen suizidale Impulse bei zunehmendem Konfliktreichtum ab. In einem Vortrag glaubte er die »weltanschauliche Umstellung« im Zuge des Aufbaus des Sozialismus sowie die damit verbundenen »Verluste und Neuordnung sozialer Bindungen« in der DDR dafür verantwortlich machen zu können.34 Die hohe Alterssuizidalität gab ebenfalls Anlass zu Schuldzuweisungen an die SED: »Tatsächlich zeigt die Statistik, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Selbstmorde in der DDR zu Lasten des Regimes geht«, hieß es 1963 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel. »Die Altersklasse der über 70jährigen […] wird im deutschen Arbeiterparadies als ziemlich nutzlos angesehen. Ergebnis: In der Sowjetzone nehmen sich von hunderttausend Menschen dieses Alters 93 das Leben – ein nie zuvor erreichter Prozentsatz.«35 Diese Behauptung erweckte den Eindruck eines massiven Anstiegs der Suizidrate. Tatsächlich fand im Verlauf des 20. Jahrhunderts lediglich eine Angleichung der Geschlechter statt. So stieg zwar die Suizidrate der Frauen
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von Ungern-Sternberg: Selbstmordhäufigkeit, S. 200. Parnitzke: Bemerkungen zum Selbstmordgeschehen, S. 403. Winkler: Über den Wandel, S. 135. Selbstmord. Krankheit zum Tode, S. 32.
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im Alter zwischen 60 und 80 Jahren in den drei sächsischen DDR-Bezirken im Vergleich zum Königreich Sachsen an, bei den Männern jedoch sank sie. Insgesamt fiel die Suizidrate der Menschen im Alter zwischen 60 und 80 Jahren von ca. 90 Suiziden pro 100.000 Einwohner und Jahr zu Beginn des Jahrhunderts auf ca. 70 Mitte der 1980er-Jahre.36 Zur Widerlegung der Schuldzuweisungen an die SED wiesen junge DDR-Sozialhygieniker wie Alexander Lengwinat und Reinhard Cordes darauf hin, dass in den Gebieten, die nach 1945 die DDR bildeten, bereits im 19. Jahrhundert eine hohe Suizidneigung registriert wurde.37 Seither wurden in den mit den Territorien von DDR und BRD korrespondierenden Gebieten Suizidraten ermittelt, die sich etwa um den Faktor 1,5 unterschieden. Ein zusätzliches Argument gegen eine Erklärung der Höhe der Suizidrate durch aktuelle Lebensbedingungen bot die Situation im geteilten Berlin: In den 1950er-Jahren waren die Suizidraten im Ost- und Westteil trotz unterschiedlicher politischer Systeme nahezu gleich. Auch den Mutmaßungen hinsichtlich der Frauenerwerbstätigkeit als Suizidursache trat Lengwinat entgegen.38 Sein Hauptargument war, dass der Schwerpunkt der Suizide der Frauen bei den Rentnerinnen lag. Die Erkenntnis, dass die hohe Suizidrate der DDR nicht als Beleg für »die Existenz systemimmanenter Selbstmordmotivationen«39 taugte, wurde in der Folgezeit auch von bundesdeutschen Autor*innen übernommen.40 So betonte eine 1966 in Hamburg veröffentlichte Dissertation, dass »die höhere Selbstmordziffer im östlichen Deutschland auch schon vor der Aufspaltung und vor dem Bau der Mauer bestand«, und bemerkte zudem, dass die Suizidrate der DDR unter den korrespondierenden Werten der Vorkriegszeit lag.41 Zehn Jahre später räumte auch der Publizist Wolf Oschlies ein, dass die langfristig hohen Suizidraten »den Sozialismus von dem Odium, die Menschen in den Freitod zu treiben«, entlasten würden.42 Selbst die Zeitung Die Welt würdigte Lengwinats Untersuchung in einem sachlichen Artikel.43 Die Strategie der Entpolitisierung war also in gewissem Maße erfolgreich. Allerdings sorgte die Geheimhaltung der Statistiken nach dem Mauerbau dafür, dass erneut politische Faktoren als Suizidursachen diskutiert wurden. In der Tat war ab etwa 1960 eine Trendumkehr erfolgt, die Suizidrate der DDR stieg bis Mitte
36 37 38 39 40 41 42 43
Zahlen aus: Kürten: Statistik des Selbstmords, S. 118f.; Statistisches Bundesamt (www.gbebund.de). Vgl. Lengwinat: Vergleichende Untersuchungen; Cordes: Die Selbstmorde in der DDR. Vgl. Lengwinat: Vergleichende Untersuchungen, S. 875. Oschlies: Selbstmorde in der DDR, S. 54. Vgl. Amelunxen: Der Selbstmord, S. 54; Hopp: Untersuchungen, S. 554. Harmsen [Hg.]: Sozialhygienische Analyse, S. III. Oschlies: Selbstmorde in der DDR, S. 41. Vgl. Wolff: Selbstmord.
Udo Grashoff: Tabu als Handlungsraum
der 1960er-Jahre an. Angesichts dessen schrieb der Suizidforscher Erich Müller aus Leipzig: »Bestimmt hat die neue Gesellschaftsordnung in der DDR dazu beigetragen, dass einige suicidauslösende Probleme, die insbesondere die jüngeren Jahrgänge betroffen haben, wie Arbeitslosigkeit, Schulden, uneheliche Gravidität nicht mehr existieren. Durch die Teilung Deutschlands sind jedoch für die ältere Generation einige konfliktreiche Probleme hinzugekommen, die bei willensschwachen Menschen den Selbsterhaltungstrieb erheblich herabsetzen können.«44 Die eben erst etablierte Entpolitisierung des Suizid-Diskurses begann somit bereits wieder zu bröckeln.
4. Regionalisierte Suizidprävention Durch die Geheimhaltung der Suizidraten entzog die SED epidemiologischen Studien die Grundlage.45 Möglich war jedoch immer noch, das Suizidproblem auf lokaler Ebene zu analysieren, wobei sich zeigte, dass die Suizidraten nach dem Mauerbau angestiegen waren. Die Reaktion auf diese Erkenntnis waren regionale Initiativen zur Verhinderung von Suiziden. So entstanden in Dresden und Brandenburg Betreuungsstellen für Suizidgefährdete. In mehreren Bezirken kam es zur systematischen Erfassung von Suizidversuchen, um Maßnahmen zur Suizidprophylaxe abzuleiten.46 Die SED-Diktatur erwies sich hierbei nicht nur als Hemmschuh, sondern hatte auch förderliche Seiten. Selbstbewusst schrieb der Psychiater Helmut F. Späte an die Verantwortlichen im Bezirk Potsdam, dass »die hohe Suizidrate nicht mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR zusammenhängt« und dass »wir das Problem nicht aus der Welt schaffen können, wenn wir die Unterlagen verschließen«.47 Späte bezeichnete die »epidemiologische Durchforschung des entsprechenden Territoriums«, eine »verläßliche Morbiditäts- und Mortalitätsstatistik« sowie die Kennzeichnung der individuellen und sozialen »prädisponierenden Faktoren unter […]
44 45
46 47
Müller: Der Suicid, S. 60. In den Jahren 1959–61 erschienen sechs epidemiologische Aufsätze, 1962–64 waren es noch drei, 1965–67 wurden keine epidemiologischen Aufsätze mehr zum Thema Selbsttötung publiziert. Vgl. Leonhard/Matthesius: Zu suizidalen Handlungen, S. 136; Schulze: Selbstmord und Selbstmordversuche, S. 17; Telefonat Prof. Hans Berndt, 12.07.2001. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 401, BT/RdB Potsdam, Nr. 8072, Bl. 171 und 186.
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den Bedingungen unserer Gesellschaftsordnung« als »notwendigste Voraussetzungen« für eine umfassende Prophylaxe.48 Damit erreichte er den Zugang zu Suizidstatistiken auf lokaler Ebene. Auch viele andere Mediziner ermittelten die Zahlen eigenständig, basierend auf Kooperationen mit der lokalen Kriminalpolizei oder gerichtsmedizinischen Instituten.49 Die Erfassung von Suizidversuchen geschah zumeist problemlos. Die Beschwerden eines Arztes aus Havelberg, der sich aus Datenschutzgründen weigerte, Suizidversuche zu melden, und sich deshalb an den Kreisarzt und das Gesundheitsministerium wandte, bildeten eine seltene Ausnahme.50 Auch die beiden Verfasser einer Studie zu suizidalen Handlungen in der DDRHauptstadt profitierten von kurzen Dienstwegen in der Diktatur. Rainer Leonhardt und Rolf Matthesius hatten Zugriff auf die Daten der gesamten Suizidfälle der Jahre 1970 bis 1974 und wurden bei ihrer Arbeit vom Generalstaatsanwalt, dem Stadtrat für Gesundheits- und Sozialwesen, von den Rettungsstellen der vier größten Krankenhäuser sowie von der Volkspolizei unterstützt.51 Die Geheimhaltungsvorschriften setzten jedoch der epidemiologischen Erforschung regionaler Unterschiede enge Grenzen. Eine Studie von Späte zur Suizidhäufigkeit in bestimmten Wohngebieten in Brandenburg verdeutlicht das. Da die Suizidraten tabu waren, wurde lediglich konstatiert, dass eine höhere Quote von Suiziden im Landkreis und eine höhere Quote nichtletaler Suizidversuche in der Stadt vorlag, ohne Zahlen zu nennen.52 Klartext war nur in geheim gehaltenen Arbeiten möglich, wie etwa in der Dissertation von Leonhardt und Matthesius. Bemerkenswerterweise konnten die Verfasser ihre Ergebnisse zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber in Anwesenheit zahlreicher Funktionäre vorstellen, erreichten also zumindest eine Teilöffentlichkeit. Zudem erhielt die SED-Bezirksleitung Berlin im März 1978 eine 18-seitige Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse.53
5. Ideologische Rückversicherung Es ist bezeichnend für das kommunikative Klima in der DDR, dass selbst in Qualifikationsschriften, die mit Geheimhaltungsvermerken versehen wurden, unangenehme Wahrheiten selten benannt wurden. Auch hier noch versuchten Suizidforscher*innen die empirische Datenlage mit ideologischen Dogmen zu harmonisie48 49 50 51 52 53
Späte: Suizidprophylaxe, S. 1298. Vgl. Seidel: Suicid im höheren Lebensalter, S. 54f. Vgl. Briefwechsel des Gesundheitsministeriums (1975), in: BArch Berlin, DQ 1, 12006. Vgl. Leonhardt/Matthesius: Zu suizidalen Handlungen. Vgl. Späte: Wohngebiet. Vgl. Interview Dr. Rolf Matthesius, Potsdam, 22.11.2000 sowie Dr. Rainer Leonhardt, Berlin, 30.11.2000.
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ren. So betonte die Sozialhygienikerin Marita Schulze, dass Suizide prinzipiell »Ausdruck der allgemeinen Krise des Kapitalismus« seien, bevor sie die hohe Suizidrate der DDR thematisierte.54 Schulze versuchte, die bittere Wahrheit dadurch zu neutralisieren, indem sie zur Erklärung nur auf das historische Erbe verwies und den Anstieg der Suizidraten nach dem Mauerbau nicht diskutierte. Noch einen Schritt weiter ging der Militärmediziner Bernd-Joachim Gestewitz, der in seiner Dissertation die Tatsachen verdrehte, um den Eindruck zu erwecken, dass »die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR wohl eher einen positiven Einfluß auf das Selbstmordgeschehen genommen haben muß«. Die Manipulation der Statistik illustriert die Tiefenwirkung der SED-Diktatur, in der das Benennen unangenehmer Wahrheiten selbst hinter verschlossenen Türen vermieden wurde.55 Ideologische Rückversicherung musste aber nicht zwangsläufig auf Sabotage der Faktizität hinauslaufen, wie Leonhardt und Matthesius demonstrierten. Zwar nahmen die Autoren Bezug auf die ideologischen Vorgaben und paraphrasierten das SED-Parteiprogramm: »Die tätige Solidarität zwischen den Menschen wird immer mehr bestimmendes Element der Beziehungen.« Zugleich aber konstatierten sie, dass »die seit Jahrzehnten zumindest gleichbleibend hohe Anzahl suizidaler Handlungen in der DDR und ihrer Hauptstadt« einen »Widerspruch« zur Ideologie darstelle.56 Abgesichert durch affirmative Sprachhülsen brachten sie den Kern des Tabus zur Sprache. Aber nicht nur das, im Ergebnisteil wurde die hohe Suizidrate sogar als Positivum präsentiert. Die Verfasser hatten etwa 20 Prozent über den »offiziellen« Zahlen der SZVS liegende Suizidzahlen ermittelt und folgerten angesichts dieser im internationalen Vergleich geringen Dunkelziffer: »Die im internationalen Vergleich hohen Suizidzahlen in der DDR und ihrer Hauptstadt sind zum großen Teil auf die vollständige Erfassung der Suizide zurückzuführen und so auch als Ausdruck der großen Rechtssicherheit in unserer Republik zu werten.«57
6. Vereinzelte Tabubrüche Gegen die Geheimhaltung der Suizidstatistiken erhob die Sozialhygienikerin Marita Schulze in ihrer Dissertation im Jahr 1969 die Forderung nach Zugangsmöglichkeiten ausgewiesener Experten: »Es ist kein ›enges Spezialistentum‹, wenn eine solche Forderung an die dafür verantwortlichen Staatsfunktionäre gestellt wird, dafür zu sorgen, daß im Zeitalter der Anwendung immer besserer Aufbereitungsmaschinen,
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Schulze: Eine sozialhygienische Studie, S. 35. Vgl. Gutachten von Oberst Bousseljot, Oberst Fanter und Oberstleutnant Schmechta, in: Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA) Freiburg, VA-01, 39687, Bl. 32–49. Leonhardt/Matthesius: Zu suizidalen Handlungen, S. 8. Ebd., S. 162f.
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solche Zahlen und Fakten geordnet für die Wissenschaft ›abfallen‹.«58 Offenbar wurde es in der Folgezeit so gehandhabt; die Suizidzahlen wurden dem Gesundheitsministerium, den Medizinstatistischen Büros der Räte der Bezirke sowie drei weiteren Institutionen des Gesundheitswesens zur Verfügung gestellt.59 Bereits zuvor war es einzelnen Wissenschaftlern gelungen, die Geheimhaltung zu unterlaufen. So konnten Ärzte dem Fachblatt Deutsches Gesundheitswesen im Jahr 1966 die politisch brisante Information entnehmen, dass die DDR-Suizidraten nach dem Mauerbau bis 1963 leicht angestiegen waren.60 Auch danach herrschte im medizinischen Bereich ein lockerer Umgang mit den Zahlen vor. So eröffnete Helmut F. Späte seinen Vortrag auf dem Jahreskongress der Akademie für Ärztliche Fortbildung 1972 mit der Angabe, dass suizidales Verhalten »unserem Volk jährlich etwa 5000 Menschenleben kostet«.61 Karl Seidel publizierte seine Forschungsergebnisse im westlichen Ausland, wobei er die hohe Suizidrate der untersuchten sächsischen Region keineswegs verschwieg.62 Die Verschärfung der Geheimhaltung der Suizidstatistiken ab 1977 erschwerte solche Tabubrüche. Als beispielsweise bekannt wurde, dass der Gerichtsmediziner Prof. Friedrich Wolff einen Vortrag über das Suizidgeschehen in Magdeburg in den letzten 100 Jahren halten wollte, wurde ihm per Anruf aus dem Gesundheitsministerium »nahegelegt, diesen Vortrag nicht zu halten«. Zwar referierte Wolff dennoch am 9. Februar 1982 vor Ärzten, Kriminalisten und Juristen, verzichtete jedoch darauf, »die Suizidproblematik auch publizistisch weiter zu verfolgen«.63 Ein Psychologe aus Leipzig, der seine Forschungsergebnisse bei seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik mitnahm und dort veröffentlichte, berichtete über frustrierende Erlebnisse mit einer Bezirksstaatsanwältin, die keine Suizidstatistiken herausgab, was bei dem Psychologen die Befürchtung weckte, dass er seine Arbeit in der DDR nicht würde veröffentlichen können.64 Die Verschärfung der Geheimhaltung bewirkte einen Rückgang der Forschung »hinter den Kulissen«. Waren in den Jahren 1969 bis 1977 immerhin drei große epidemiologische Studien über das Suizidgeschehen in der DDR fertiggestellt worden, so konnten solche Studien in den Jahren 1977 bis 1984 überhaupt nicht mehr erarbeitet werden.65 58 59
60 61 62 63 64 65
Schulze: Selbstmordziffer, S. 107f. Vgl. Information des amtierenden Leiters der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Dr. Hartig, über die Erfassung, Organisation und Aufbereitung der Todesursachenstatistik, Berlin, 13.06.1977, in: BArch Berlin, DC 20, 13015. Vgl. Oehmisch/Gerhardt: Die Entwicklung der Sterblichkeit. Späte: Suizidprophylaxe in der Praxis, S. 403. Vgl. Seidel: Die eigenständige innere Dynamik. Prof. em. Dr. Friedrich Wolff an den Autor, 26.09.2001. Vgl. Schulze: Selbstmord und Selbstmordversuch, S. 8f. Vgl. Jacobasch: Wissenschaftliche Suizidliteratur, S. 61.
Udo Grashoff: Tabu als Handlungsraum
Erst gegen Ende der 1980er-Jahre kam es wieder zu einem leichten Aufschwung der Suizidforschung, wobei auch epidemiologische Regionalstudien entstanden. Deren Ergebnisse unterlagen aber der Geheimhaltung. Zwar hieß es in einer Dissertation aus dem Jahr 1987 selbstbewusst: »Die Erfassung und Bearbeitung epidemiologischer Daten ist eine Voraussetzung für die klare Erkenntnis aller mit der Suizidproblematik in Zusammenhang stehenden Fragen und zugleich Grundlage jeder Tendenzanalyse. Insofern ist nicht einzusehen, daß in der DDR keine Suizidziffern veröffentlicht werden, während es in anderen sozialistischen Ländern wie der ČSSR durchaus üblich ist.«66 Dazu kam es nicht. In DDR-Fachzeitschriften füllten stattdessen bundesdeutsche Suizidologen die Leerstelle; beispielsweise erschien – in Ermangelung eigener epidemiologischer Veröffentlichungen – im August 1989 ein Artikel über die Epidemiologie des Suizids von dem Mannheimer Suizidforscher Heinz Häfner.67
7. Fazit Das Tabuthema »Suizid« eröffnete einen Handlungsraum, in dem verschiedene politische Akteure das Thema im Sinne ihrer ideologischen Vorurteile zum Gegenstand kommunikativer Strategien machten. Bei dem Unterfangen, das Tabu zu attackieren beziehungsweise zu verteidigen, unterlagen jedoch alle politischen Akteure einer Selbsttäuschung. Glaubten Dissident*innen und westliche Publizist*innen, das SED-Regime wegen der hohen Suizidrate anklagen zu können, fürchteten SED-Funktionäre, an den Schuldvorwürfen könne etwas dran sein. Damit überschätzten beide den Einfluss politischer Rahmenbedingungen auf die Höhe der Suizidrate. Die SED brachte sich durch das Verschweigen und die Behinderung epidemiologischer Forschung um die Erkenntnis, dass die in der DDR ab 1950 Geborenen kaum noch häufiger Suizid begingen als die vergleichbaren westdeutschen Altersgruppen. Damit entging der SED ein mögliches Argument zugunsten des sozialistischen Projektes. Obwohl im Jahr 1988 die niedrigste Suizidrate seit dem Bestehen der DDR registriert wurde, gelangten die Statistiken erst Anfang März 1990 an die Öffentlichkeit.68 Komplementär zur SED erlagen auch Dissident*innen und Westjournalist*innen einer Täuschung. Die Geheimhaltung wurde als indirektes Schuldeingeständnis der Herrschenden gewertet. Spekulationen und Schuldzuweisungen an die 66 67 68
Slusariuk: Untersuchung über Umfang und Ursachen, S. 56. Vgl. Häfner: Epidemiologie. Der Artikel erwähnt die relativ hohen Suizidraten der 15- bis 24Jährigen der DDR. Vgl. Casper: Mortalität.
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SED-Führung bewirkten eine fortwährende Aufladung der Suizidrate mit politischer Bedeutung, sie untermauerten die im Kern irreführende Annahme, dass die Höhe der ostdeutschen Suizidrate ein Maß für soziale und politische Defizite der DDR darstellen würde. Tatsächlich bestimmten individuelle Rahmenbedingungen wie familiäre Verhältnisse, moralische Normen, Alter und Krankheit die Höhe der Suizidrate viel stärker als politische Repression oder soziale Umbrüche. Zwar ist aus der historischen Suizidforschung bekannt, dass auch Veränderungen der Lebensbedingungen »den Kreis der Suizidenten erweitern und in dem Maße, wie der äußere Druck zunimmt, auf psychisch immer stabilere Individuen ausdehnen« können. Diese Veränderungen müssen aber nach Jean Baechler »massiv und brutal« sein: »Sie müssen massiv sein, um auf eine beliebige Population einwirken zu können und nicht nur auf jenen Teil von ihr, den wir die konstitutionellen Suizidenten genannt haben. Vor allem aber müssen sie brutal sein, um die Anpassung der ›normalen‹ Individuen an die neuen Bedingungen zu verhindern.«69 Solche Ereignisse gab es in der DDR kaum, der letzte massive Anstieg der Suizidrate ereignete sich in Ostdeutschland zu Kriegsende 1945. Repressive Politik, so während der Zwangskollektivierung im Frühjahr 1960 und nach dem Mauerbau, schlug sich nur geringfügig in den Statistiken nieder. Die überzogene Politisierung der Suizidstatistik erzeugte schwierige Rahmenbedingungen für die mit der Erforschung und Prävention befassten Mediziner der DDR. Zum einen machten die meisten Psychiater*innen und Psycholog*innen aus ihrer prinzipiellen Loyalität zum Sozialismus keinen Hehl, zum anderen mussten sie aus rein fachlichem Interesse gezielte, begrenzte und kontrollierte Tabubrüche anstreben. Mit Strategien wie Entpolitisierung, Regionalisierung und ideologischer Rückversicherung versuchten sie, vorhandene Handlungsspielräume zu nutzen. Nachdem die SED Anfang 1963 die Veröffentlichung der Suizidstatistik unterbunden hatte, mussten Mediziner*innen um den heißen Brei herumreden oder damit leben, dass der Zugang zu Daten nur bei strikter Geheimhaltung gewährt wurde, was zur Wirkungslosigkeit der eigenen Forschungen führte. Dennoch versuchten Psychiater wie Helmut F. Späte, die Grenzen des Möglichen auszutesten, indem sie zum Beispiel statt Relativzahlen absolute Zahlen verwendeten. Dabei waren die medizinischen Aktivitäten auf Fachzeitschriften, Sammelbände und Dissertationen beziehungsweise Habilitationen beschränkt. Während bundesdeutsche Mediziner*innen vor allem seit den 1970er-Jahren mehrere Monografien publizierten, erschien in der DDR keine einzige Monografie über die Suizidproblematik, geschweige denn eine populärwissenschaftliche Darstellung. Zudem verschwanden viele Dissertationen in den Bibliotheken in einem nur mit Sondergenehmigung zugänglichen Bereich, dem sogenannten »Giftschrank«, und konnten 69
Baechler: Tod, S. 236.
Udo Grashoff: Tabu als Handlungsraum
von Kollegen kaum rezipiert werden.70 Manche Arbeiten mit hohem Geheimhaltungsgrad wurden nicht einmal mehr bibliothekarisch erfasst, sodass sie praktisch aufhörten zu existieren.71
Bibliografie Ungedruckte Quellen Archiv der Stiftung Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch), DY 30, J IV 2/2 A 2073. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 401, BT/RdB Potsdam, Nr. 8072. Bundesarchiv Berlin (BArch Berlin), DC 20, 13015. BArch Berlin, DQ 1, 12006 und 12194. BArch, MfS, HA XX/4, Nr. 2921. Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA) Freiburg, VA-01, 39687. Staatsarchiv Leipzig (StAL), Bezirkstag/Rat des Bezirks (BT/RdB) Leipzig, Abt. Kirchenfragen, Nr. 20740. Statistisches Bundesamt (www.gbe-bund.de).
Mündliche Quellen und E-Mails Interview Dr. Rolf Matthesius, 22.11.2000. Interview Dr. Rainer Leonhardt, 30.11.2000. Telefonat Prof. Hans Berndt, 12.07.2001. Interview Eckehard Wetzstein, 16.08.2001. Prof. em. Dr. Friedrich Wolff an den Autor, 26.09.2001. Interview Wolfgang Kühn, 2002.
Gedruckte Quellen A. Z.: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden, in: Neues Deutschland, 31.08.1976. Amelunxen, Clemens: Der Selbstmord. Ethik – Recht – Kriminalistik, Hamburg 1962. [Anonym] DDR hält traurigen Rekord, in: Rheinische Post, 15.07.1978. [Anonym] Interview Robert Havemann, in: Le Monde, 21.01.1978, S. 1 und 7. [Anonym] Selbstmord. Krankheit zum Tode, in: Der Spiegel 17 (1963) 5, S. 32–44. 70 71
Vgl. Wolle: Die heile Welt, S. 149f. Vgl. Jacobasch: Wissenschaftliche Suizidliteratur, S. 61–63.
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[Anonym] Verzweiflung durch SED-Willkür. Viele ältere Ostberliner sehen keinen Ausweg mehr, in: Die Welt, 27.10.1964. Cordes, Reinhard: Das Selbstmordgeschehen in der DDR im gesamtdeutschen und internationalen Rahmen, Diss. HU Berlin 1963. – Die Selbstmorde in der DDR im gesamtdeutschen und internationalen Vergleich, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 58 (1964), S. 985–992. Desel, Jochen: Oskar Brüsewitz. Ein Pfarrerschicksal in der DDR, Lahr-Dinglingen 1991. Fricke, Karl Wilhelm: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR, 2. Aufl., Köln 1986. Garton Ash, Timothy: »Und willst du nicht mein Bruder sein …« Die DDR heute, Hamburg 1981. Häfner, Heinz: Epidemiologie von Suizid und Suizidversuch, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 41, H. 8 (1989), S. 449–475. Harmsen, Hans [Hg.]: R. Oehm: Sozialhygienische Analyse der unterschiedlichen Selbstmordverhältnisse unter besonderer Berücksichtigung der Bundesrepublik Deutschland, der »DDR« und West-Berlin, Hamburg 1966. Hopp, Anna-Dorothea: Untersuchungen zu Suicid und Suicidversuch, in: Psychologische Beiträge IX, H. 4 (1967), S. 536–587. Kürten, Oscar: Statistik des Selbstmords im Königreich Sachsen, Leipzig 1913. Lengwinat, A[lexander]: Vergleichende Untersuchungen über die Selbstmordhäufigkeit in beiden deutschen Staaten, in: Das deutsche Gesundheitswesen 16, H. 19 (1961), S. 873–878. Leonhard, Karl: Psychologische Entwicklung zum Selbstmord, in: Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie 9 (1959), S. 8–17. Leonhardt, Rainer/Matthesius, Rolf: Zu suizidalen Handlungen in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, Diss. HU Berlin 1977. Leutner: Vergleich der Lebenserwartung und ausgewählter Todesursachen in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland 1975, in: Hans Harmsen [Hg.]: Aktuelle Bevölkerungsfragen in Ost und West, in der DDR und in der Bundesrepublik, Hamburg 1978, S. 35–46. Marcusson, E[rwin]: Sozialhygiene. Grundlagen und Organisation des Gesundheitsschutzes, Leipzig 1954. Me.: Streit um Selbstmorde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.11.1976. Merkel, Ivett: Zur Epidemiologie der Suizide auf dem Gebiet der DDR und der Bundesrepublik Deutschland von 1950 bis 1992, Diss. HU Berlin 1996. Müller, Erich: Der Suicid unter Berücksichtigung der Situation in der Stadt Leipzig, Diss. Leipzig 1963. Oehmisch, W./Gerhardt, W.: Die Entwicklung der Sterblichkeit in der DDR in den Jahren 1953–1963, in: Deutsches Gesundheitswesen 21, H. 3 (1966), S. 126f.
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Epilog: Der Tod in der Gegenwart
Listen und Schatten Ordnung, Trauer und die Aufzeichnung von Todesfällen Thorsten Benkel
»Ganz transparent ist nur das Tote.« (Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft)
1. Emergenz Listen, Tabellen, Verzeichnisse, Tafeln, Taxonomien… Den Künsten der Kategorisierung, Verzeichnung, Speicherung und Verarbeitung liegt die durch Hegel sprichwörtlich gewordene List der Vernunft inne, denn sie transportieren Güter, Ideen, Informationen, vielleicht sogar Werte am Leitfaden einer überzeitlichen, im besten Fall aus sich selbst heraus verständigen Sachlichkeit. Die Genese der Liste spielt kaum eine Rolle angesichts ihrer Auskunftspotenzialität, welche sich, prinzipiell zukunftsoffen, immer genau dann zu einer konkreten, aber eben auch flüchtigen Erkenntnis verdichtet, wenn sie entsprechend konsultiert wird. Als scheinbar passives Hilfsmittel, das der Einsortierung von Vorkommnissen, Tatbeständen, Namensbesitzern und so weiter dient, bedeutet die Liste nicht mehr als das, was man ihr zuweisend einschreibt beziehungsweise aus ihr interessehalber abliest. Auflistungen sind, so betrachtet, im Grunde Emergenzphänomene: Das Ganze ist hier mehr als die einzelne Komponente. Separate Zeilen mögen auf Daten, Feststellungen, Ereignisse, auf gewissermaßen ›Empirisches‹ hinweisen, die gesamte Liste jedoch schwebt über den beobachtbaren Dingen. Sie ist also auch eine transzendentale Errungenschaft, weil sich mit ihr arbeiten, weil sie sich ergänzen lässt und weil sie möglicherweise – hier kommt es aber auf die semantische Komponente an – ad infinitum fortgesetzt werden kann. Die Seele der Liste wiederum ist die Ordnung, der es zwar im Alltagsleben ständig an den bildersprachlichen Kragen geht – fast überall ist es in irgendeiner Hinsicht unordentlich, chaotisch, undurchdringlich, manchmal sogar schmuddelig –, die aber im Rahmen und in Diensten der sauberen Auflistung allgegenwärtig, stabil, ja zukunftssichernd operiert.
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Epilog: Der Tod in der Gegenwart
Nun ist Ordnung in Form der explizit sozialen Ordnung einer der zentralen Begriffe, um die herum sich die Entwicklung der gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich entstehenden Wissenschaft vom Für-, Mit- und Gegeneinander-Handeln der Menschen rankt, nämlich der Soziologie. Wie gesellschaftliche Ordnung möglich ist, wieso also – in der einfachsten Deutungsvariante – Menschen eigene Interessen zugunsten der Gemeinschaft zurückstellen, um durch den Verzicht auf Vorteile zu mehr Vorteilen zu gelangen, ist eine nicht unbeantwortbare, aber doch unabschließbare Frage, denn sie stellt sich angesichts gesellschaftlicher Transformationsprozesse (wie etwa Säkularisierung, Modernisierung, Individualisierung, Digitalisierung und dergleichen mehr «-ungs«) immer wieder neu. Vor allem aber stellt sie sich aufgrund des eigenwilligen Umstandes, dass das soziale Leben zwar vom Tod bedrängt zu sein scheint, während die Gesellschaft selbst offenkundig nicht stirbt. Nachfolgend wird den Spuren des Ordnungserzeugungsbetriebs im Angesicht des Todes nachgegangen, die sich in Verzeichnissen, amtlichen Dokumenten und dergleichen auffinden lassen. Das Ziel ist eine soziologische Annäherung an die ordnungsstiftendene Kraft, die solchen Auflistungen inne liegt.1 Nahezu jeder Todesfall wird einzig im sozialen Nahraum der verstorbenen Person thematisiert, das heißt in erster Linie: betrauert. Die Menge der affektiv Mitbetroffenen ist überschaubar. Todbringende Dramen größeren Ausmaßes regen zu kollektivem Bedauern an, das aber nicht unbedingt einzelnen Toten, sondern der Tragödie an sich gilt. Prominente Tote mobilisieren für gewöhnlich eine deutlicher sichtbare Anteilnahme für die Person selbst, doch auch die dabei aufbrandenden Wellen der Trauerartikulation (und ihrer symbolischen Pendants) klingen früher oder später ab.2 Auf der Gesellschaftsebene wird all dies gut verdaut: Das Gefüge bleibt üblicherweise stabil, gleich, wen es erwischt.3 Kein Wunder also, dass das Ende des Lebens heutzutage folglich auf sehr unterschiedliche Weisen diskursfähig gemacht wird (oder gerade nicht), und kein Wunder, dass die individuelle, im Heidegger-Jargon: die »jemeinige« Todesangst sich gar und gar nicht wie ein kollektives, sondern wie ein je eigenwilliges Problem anhört. Die Einsicht, dass es den anderen genauso geht (»Die Quote der Betroffenheit liegt bei 100 %«, so 1 2 3
Zur soziologischen Dimension entsprechender Einsortierungsmuster vgl. generell Heintz/ Wobbe: Praktiken. Vgl. Gall Myrick/Fitts Willoughby: Role; Radford/Bloch: Grief. Allenfalls quantitative Eruptionen könnten sich als ernsthafte gesellschaftliche Destabilisierungen auswirken – Kriege beispielsweise, die über längere Dauer hinweg das Wertgefüge in Frage stellen (vgl. Joas: Kriege) oder Naturkatastrophen wie das Massensterben im Kontext des Erdbebens und Tsunamis im indischen Ozean gegen Ende des Jahres 2004 (vgl. Bronisch u.a.: Crisis). Auch diese beiden Varianten des Alltagseinbruchs gelten allerdings nicht als Schicksalsschläge individueller Opfer, sondern als gesamtgesellschaftliche Problemlagen, und dahinter verschwindet die Subjektivität der Toten, wie zuletzt und anhaltend die Coronapandemie nahelegt (anschaulich für die Situation in Italien: Solomon u.a.: Denial).
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Armin Nassehi4 ), beherbergt wenig Trost. »Ein jeder stirbt für sich allein« heißt es diesbezüglich bei Hans Fallada, und das ist gegenwärtig eine unverändert gültige Problemanzeige. Sorgen und Befürchtungen im Vorhinein beziehungsweise Abschiedsschmerz und das Gefühl des Weltzusammenbruchs im Nachgang des Todes einer geliebten Person mögen zwar »grundsätzliche« Vorkommnisse sein, mit denen jede*r früher oder später zu rechnen hat, und um kulturelle Facetten handelt es sich obendrein, da der Umgang mit all diesen Erwartbarkeiten und auch das Gefühlserleben schließlich nicht vollends subjektiv ausfallen. Im Fall lebensweltlicher Betroffenheit hilft das Wissen über entsprechende Normen, Muster und Strukturen ohnehin den Hinterbliebenen ebenso wenig weiter wie den Toten; es interessiert allenfalls Spezialist*innen beziehungsweise Menschen mit einer Faszination für das Morbide. Die persönliche Betroffenheit und das kaum je hinterfragte, nur selten reflektierte Bild vom allgemeinen Sterbenmüssen sind kulturell sehr unterschiedlich gestaltet, das aber ist unproblematisch, solange die Erfahrung des Ersteren nicht Letzteres überschattet. Wenn das nun aber doch passiert, wenn also ein Verlust im unmittelbaren Umfeld zu beklagen ist, überlagern sich gewissermaßen die Frequenzen. Die Hinterbliebenen, die hintergründig wissen, dass ›so etwas‹ passieren kann und wird, stürzen in eine spezifische Sinnwelt der Trauer beziehungsweise werden passiv in sie hineingezogen.5 Für eine unberechenbare Weile ist der Tod, genauer: ist das nun eingetretene Nicht-Leben das dominierende Thema ihres Lebens. Nach dieser Zeitspanne drängt die Alltäglichkeit das Trauerempfinden allmählich wieder zurück, zumindest in den meisten Fällen.6 Der Tod ist, von gelegentlichen Reminiszenzen unterbrochen, für die meisten Menschen dann weitgehend wieder das, was er vorher war: ein selten thematisiertes Hintergrundphänomen des menschlichen Lebens, mit dem sie zwar in Berührung gekommen sind (ich spreche diesbezüglich von »Todesnähe«7 ), das aber dennoch oft behandelt wird, als sei es weiterhin ›lebensfern‹ – bis der nächste Alltagseinbruch sich ereignet. Auf einer anderen Ebene, der Ebene der Liste, sind »die vielen Tode«8 niemals etwas anderes als abstrakte Einträge in einer ergänzungsoffenen Aufreihung. Dass
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Nassehi: Vorwort, S. 9. Vgl. Benkel: Trauer; Schützeichel: Sinnwelten. Ausnahmen bilden psychologisch relevante Zustände wie etwa das Prolonged-Grief-Syndrom, das dann gilt, wenn die Trauerempfindung ein geradezu pathologisches Niveau aufweist. Dies wirft indes die Frage auf, nach welchen Kriterien zwischen ›gesunder‹ und ›kranker‹ Trauer zu differenzieren wäre – oder anders gesagt, ob sich mit normativen(!) Mitteln (und zumal im Bereich der Medizin) folglich so etwas wie ein Konzept ›guter Trauer‹ etablieren lässt. Vgl. Lund: Deconstructing; Steltzer u.a.: Grief. Benkel: Strukturen, S. 277. Schiefer: Tode.
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Gesellschaften durch ihre »Integrationsstruktur« gewissermaßen ›nach unten offen‹ sind,9 bezieht sich ursprünglich auf den Umstand, dass Menschen ihren Kindern – die zugleich hinsichtlich sozialer Positionen ihre Nachfolgenden sein werden – die vorherrschenden Werteprinzipien der jeweiligen Gesellschaft auf ausdifferenzierte Weise vermitteln. Nach unten offen ist aber auch die Liste der Verstorbenen, in die sich diese Kinder sukzessive einreihen lassen. Krankenhaussterbezahlen (mittlerweile ohne, mit, durch, bald vielleicht auch: trotz Pandemie), Friedhofbelegungsverzeichnisse, Suiziddaten, Kremationsraten und so weiter sind unterschiedliche Varianten für je spezifische Todes(verarbeitungs)kontexte, die immanent unterschiedslos in die amtliche Gesamtstatistik (üblicherweise: der Todesfälle eines Kalenderjahres) einbezogen werden. Welchem Zweck dient es, dass Regierungen, Institutionen oder einzelne Personen in Form einer Auflistung von Todesfällen beziehungsweise Todesumständen in der Organisationsform einer Auflistung nachvollziehbar vergegenwärtigen, dass das, was ohnehin geschieht, nun einmal geschieht? Es lässt sich argumentieren, dass der in Tabellenform eingefangene Todesfall sich qua Eintragung in das Verzeichnis in den geordneten Doppelgänger des stets individuellen, von einem je konkreten sozialen Umfeld bezeugten Lebensendes verwandelt. Sterben ist häufig eine schmerzhafte, schmutzige, die Körpersäfte involvierende10 und die nicht-medizinischen Zeug*innen, die Angehörigen – wenn es sie denn gibt – oft nachhaltig prägende Angelegenheit. Die affektive Betroffenheit der Angehörigen entspricht einer sehr persönlichen, intimen Empfindung, die aber faktisch zurückgeht auf die soziale Prägung entsprechender Emotionen im Zuge der Sozialisation.11 Trauer und Verlustschmerz fühlen sich – übrigens nicht nur am Lebens-, sondern mitunter auch schon bei einem Beziehungsende12 – gleichwohl so an, als wären sie die innerliche Gegenthese zu jeglicher kollektiven Norm, denn die Gefühlsregungen federn die erlittene Erschütterung nicht ab, sondern intensivieren sie mitunter noch. Mit anderen Worten, der eigentlich ordnungsstiftende, weil Solidarität und Zusammenhalt forcierende Kulturmechanismus des Trauerns – traditionell eingerahmt durch entsprechende Rituale und Zeremonien – ist als Ordnungszusammenhang nicht »fühlbar«. Zumindest gilt dies unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft, die auch bezüglich der Diskursfelder Sterben, Tod und Trauer längst individualisiert zu sein scheint.13
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Popitz: Normen, S. 102. Vgl. Benkel: Fließende, S. 74f. So bereits Durkheim: Formen, S. 532; vgl. Durkheim: Selbstmord, S. 239. Vgl. Schröter: Abschied. Vgl. Meitzler: Existenzbastelei.
Thorsten Benkel: Listen und Schatten
2. Flüchtigkeit Unter Individualisierungsbedingungen wird Gesellschaft von einzelnen Akteuren jeweils selbsttätig realisiert. Losgelöst von deterministischen Zwängen, die ehedem durch unbewegliche Variablen wie Heimat, Herkunft, Nationalität und so weiter auferlegt wurden, sind sie auf ihre (Wahl-)Freiheit zurückgeworfen, den verblassten traditionellen Gemeinschaftskonzepten posttraditionale Vergemeinschaftsformen gegenüberzustellen, deren Merkmale unter anderem temporäre Gültigkeit, Unverbindlichkeit und Oberflächlichkeit sein können, nicht aber sein müssen.14 Die Individualität ist die entscheidende Steuerungsressource für das Lavieren durch die Angebotsvielfalt, die moderne Gesellschaften diesbezüglich offerieren. Bekannt geworden ist Ulrich Becks Formulierung, wonach der Einzelne »sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften und so weiter zu begreifen [hat]«.15 Mit dem Ende des Lebens endet keineswegs die Zuschreibung von Individualität, die zwar nicht den Kern der Individualisierung ausmacht – Beck nennt die Vorstellung einer damit assoziierten größeren Autarkie »pure Ideologie«16 –, die aber doch einen entscheidenden Bestandteil des Diskurses darstellt, denn Individualität ist das Produkt einer auf dem sozialen Parkett eingerichteten Konstruktion. Wenn ein Mensch verstirbt, bleibt er als parasoziale Projektionsfläche erhalten, an seine soziale Adresse können Wünsche und Verwünschungen, Ansprüche und die Bitte um ein Zeichen oder einen Ratschlag gerichtet werden. Zeitgemäßer sind allerdings Arbeiten am postmortalen Ich durch fremde Hände, beispielsweise über die Einrichtung (und mögliche spätere Umgestaltung) der Grabstätte oder über OnlineRepräsentationen der verstorbenen Person, die im Internet vollends zu einem beherrschten und daher den Designinteressen der Hinterbliebenen servil ergebenen Image verkommt.17 Zweifellos liegt im digitalen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer viel positives Potenzial, das künftig gewiss ausgiebig ausgetestet, an seine Grenzen gebracht und darüber hinweg gehoben werden wird. Für den Augenblick bleibt festzuhalten, dass die Bilder der Verstorbenen, ob nun im Fotoalbum oder auf dem Bildschirm des Notebooks, den Angehörigen Freiräume geben, um ihre Gefühlswelt auszuschmücken. Dies ist der entscheidende Vorteil der Individualisierung des Lebensendkontextes, die sich gemäß eigener empirischer Untersuchungen seit etwa Mitte der 1990er nachzeichnen lässt, und zwar insbesondere im sepul-
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Dazu ausführlich: Hitzler/Honer/Pfadenhauer: Gemeinschaften. Beck: Risikogesellschaft, S. 217. Beck: Individualisierung, S. 180. Vgl. Benkel: Gedächtnis.
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kralkulturellen Bereich von Zentraleuropa.18 Eine diesbezüglich schon vor einigen Jahren getroffene Feststellung kann mittlerweile als bestätigt angesehen werden: »Offenbar braucht der Tote kein Knochenlager mehr; Erinnerung fühlt sich an keine Friedhofs- oder Grabadresse gebunden. Die letzte Ruhestätte unseres Zeitalters findet sich ohnehin auf keinem Friedhof, sondern verstärkt im Internet.«19 Mit der Abtrennung von tradierten (und eben auch materiellen) Formgebungen für das Gedenken wird das Trauern ›befreit‹. Die Ausgestaltung der Rituale, die es herkömmlich umgeben, wird da, wo daran überhaupt noch festgehalten wird, zunehmend zum Interpretationsgegenstand, um dessen exklusive Deutung sich die Hinterbliebenen bemühen. Der zeremonielle Charakter, der den Weltabschied begleitet, ist also flexibel geworden und verspricht künftig noch nachgiebiger, noch anpassungsfähiger zu werden. Hierin lässt sich eine Figuration des von dem britischen Soziologen Zygmunt Bauman ausgegebenen ›Programms‹ einer flüchtigen Moderne erkennen.20 Da unter den Bedingungen des durchgreifenden Spätkapitalismus Waren, Leistungen, selbst Menschen »flüssig« werden (im Original ist von »liquid modernity« die Rede), ist Adaptivität eine positive, jedoch erzwungene Eigenschaft. Wenn alles sich anpasst, wenn alles spontan verändert und neu justiert werden kann, dann dominiert der Geist der Effizienz, dann siegt doch wieder die Rationalität. Präferiert wird, was einfach konsumierbar, um die Ecke gelegen, spontan und ohne tiefere Ansprüche auskommt, trotzdem aber Glück und Zufriedenheit verspricht. Das dergestalt Flüssige lässt unverdauliche Nicht-Adaptierbarkeiten zurück, an die kaum mehr angeschlossen wird: Überflüssiges. Mit dem »stahlharten Gehäuse«, das auf asketischen Werken basiert und bestimmten Gütern langfristig eine repressive Macht verleiht, wie Max Weber 1905 vorausschauend verfasste,21 scheint die Liberalisierung von Handlungsusancen und schon gar das Aufbrechen von »Emotionsnormen«22 auf den ersten Blick nichts zu tun zu haben. Flüchtigkeit, wie Bauman sie begreift, steht schließlich auch für Stabilitätsverlust, folglich werden selbst angestammte Ordnungen rissig. Tatsächlich wird das, was nicht im Fluss ist und stattdessen widerständig das effiziente Dahinfließen blockiert, eher weggeschwemmt, als in die Effizienzlogik integriert. Insofern ist Trauer, die vollkommen selbstbestimmt und individualistisch in der Eigenregie der Angehörigen liegt, kein Gewinn für alle Beteiligten, sondern auch ein Verlust an Gemeinschaftssinn und mehr noch: ein Zugeständnis an die Verwertungslogik einer oberflächlich gewordenen Gesellschaft. Die fließende Flüchtigkeit
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Vgl. Benkel: Verwaltung; Benkel: Erinnern. Macho: Sterben, S. 4. Vgl. Bauman: Moderne. Weber: Ethik, S. 153. Dazu generell Sauerborn/Scheve: Emotionen, S. 155.
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steht als Metapher für den Weg des geringsten Widerstandes. Ein ähnliches Bild bieten die Verlagerungen des Umgangs mit dem Lebensende in den Binnenraum der Privatheit – jenes letzten stabilen Refugiums solidarischer Zuneigung. Die soziale Konnotation jedweder Ritualität verliert ihre Bedeutung, wenn die Abschiednahme nach dem Tod beinahe vollständig abgetrennt wird von jener sozialen Sphäre, in der sich der/die Sterbende zu Lebzeiten, mindestens aber im letzten Lebensabschnitt platziert sah. Die Verdichtung der Trauergemeinde auf einen Kern eingeschworener significant others erscheint als eine Bewegung, die zwischen der emotional verbundenen Gruppe (das heißt Partnerschaft, Familie, Freundesclique) und der davon weitgehend unberührten Kollektivebene radikal differenziert.23 Einerseits offen für individuelle Aneignungen, sind individualisierte Trauerund auch Bestattungsformate zugleich anfällig für Kommodifizierungstendenzen oder zumindest dafür, in den von Bauman beschworenen Sog der flüchtig-flüssigen Oberflächenanpassung an thematisch andere, dominante, trendhafte Diskursfelder zu gelangen. In der bald gewonnenen, bald erkämpften Freiheit steckt, wie bereits Beck gesehen hat, eine negative Schattierung, gegen die die vermeintlich antiquierten Modelle der gemeinschaftlichen, somit auch aber de-individuierten Umgangsweisen mit einem Todesfall noch abgeschottet war. Um ein Richtig oder Falsch, um ein Besser oder Schlechter kann es dabei aber nicht gehen, denn Kulturen – weder solche der Bestattung und des Todes noch solche jeglicher anderer Couleur24 – lassen sich nicht nach einem Kriterienkatalog der erfüllten oder ausstehenden Heilsbringungen bewerten. Die Zeiten geschichtsphilosophischer Visionen sind, ob dies nun pessimistisch oder zustimmend quittiert wird, längst25 vorbei. Aber es gibt ja noch die Liste. Wenn ein Mensch stirbt und dieser Tod seinen Weg in die einschlägigen Verzeichnisse findet, so ist dieser Vorgang von allen persönlichen Bezugnahmen auf diesen Einzelfall für gewöhnlich bereinigt. Der Geist der Sachlichkeit regiert. Zuschreibungen, gar Gefühlstiefen haben keinen Platz. Ein wenig ist das, und so ähnlich hat Weber es in einem seltenen Anfall des Prophezeiungsbedürfnisses auch gesehen, durchaus ein Hörigkeitsgehäuse – denn gleich, wie tragisch ein Tod und/oder das korrespondierende Leben gewesen sein mögen, in einem entsprechenden Verzeichnis sind derlei Komponenten höchstens interessant, wenn es für sie eine eigene Spalte mit eigener Operationalisierungslogik gibt, wenn also Schrecken und Schock über Umstände und Geschehnisabläufe sich radikal kom23
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Eine derart dichotome Trennung schiebt Übergangsfelder, in denen sich Kollegen, Nachbarn, entferntere Bekannte usw. befinden, in einen undefinierten Graubereich ab. Damit entstehen im Trauerfall neue Komplexitäten: Sollen sie über den Todesfall informiert werden? Aus der Gegensicht: Soll man kondolieren? Trauer empfinden wird zu einer normativen Frage, die ausgehandelt werden muss, ohne dass per se klar wäre, wer hier die Verhandlungen zu führen hätte. Zum Spannungsfeld der Sepulkral- und anderer Kulturen näher Benkel: Nachhall. Siehe bereits Löwith: Weltgeschichte.
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plexitätsreduziert in Daten verwandeln lassen. Dieser Akt käme einer Purifizierung gleich, bei der das Irritierende, die leibhaftige Erfahrung, in eine sortierungsfähige Codierung transformiert würde, an der auf den ersten Blick nichts mehr erschreckt. Man könnte solche Vorstellungen positivistisch nennen, aber besser passt das Etikett »post-positivistisch«, denn es geht schließlich nicht darum, dass am Ende Bilanz gezogen wird und ein verwertbares Ergebnis herauskommt. Auch die herkömmlich vorhandenen Listen von Todesvorkommnissen, von Todesdiagnosen, von Todesumständen und anderen Ereignissen sind nicht dafür da, für Verhaltensumstellungen oder zur Ausbildung gesellschaftsstabilisierender Programme zu sensibilisieren beziehungsweise zu motivieren. Die Daten sind vielmehr stets der Spiegel ihrer Benutzungskontexte: Wird schlichtweg nur eingetragen und gespeichert, sind die Einträge im Verzeichnis nur ›Zahlen‹. Die Auflistung lässt sich aber durchaus mit der Intention heranziehen, daraus ›etwas zu machen‹, und das meint meistens: Praxisübertragungen zu konstruieren, die als Bindeglied zwischen der Listenwelt und der diese Liste umkreisenden Restwelt fungieren könn(t)en. Die Liste legt aber nichts davon aus sich heraus nahe. Konkret gesprochen, kann nachgelesen werden, wie viele zivile Opfer die Nazizeit, der Stalinismus, der Jugoslawien-Konflikt, der Terroranschlag von 9/11 oder der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gekostet haben. Man kann, wenn die Liste das hergibt, einzelne Namen und Altersangaben ablesen und somit angesichts des Verzeichnisses nachvollziehen, beispielsweise wie viele Kinder jeweils gewaltsam gestorben sind. Die Betroffenheit, die mit dieser Lektüre einhergeht, ist ein Effekt, der sich aus dem Umstand der Datensammlung per se ergibt – ein lupenreiner Emergenzeffekt mit großer gesellschaftlicher Bedeutung. Der Transfer vom Ablesen der Eintragung zur subjektiven, wie breit auch immer intersubjektiv geteilten Empfindung (ganz zu schweigen von Anschlussphänomenen wie Gedenkritualen, Sanktionen, Appellen und so weiter) ist aber nicht das Saatgut der Liste, sondern die Frucht der Auseinandersetzung mit ihr.
3. Lebens- und Todesferne »Was nur durch unser Denken objektiv zusammengefasst wird (z.B. […] statistische Begriffe: die Kölner Toten des Jahres 1914), ist kein soziologischer Gegenstand«, schreibt der Exponent der frühesten Form von Wissenssoziologie, Max Scheler.26 In den vorliegenden Sinnzusammenhang übersetzt heißt das: Aus dem bloß angesammelten, hier: für statistische Zwecke aufsummierten Verstorbenenverzeichnis ergibt sich keine in der Sache liegende ›objektive‹ Substanz, denn dies wäre bereits ein Produkt deutenden Verstehens. Insofern liegt – für Scheler – kein soziologischer Gegenstand vor, denn was es mit einer Gesellschaft macht, dass sie 1914 just diese, 26
Scheler: Wissensformen, S. 52.
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keine anderen, und nicht mehr und nicht weniger tote Kölner zu betrauern hatte, erschließt sich nicht aus der Datenrecherche heraus und auch nicht aus der reflexiven Befassung mit dem Dokument. Die Trauernden und Gedenkenden tauchen in gesonderten Listen auf (Kondolenzbücher, Traueranzeigen, Online-Memorialseiten und dergleichen mehr), das Gemeinschaftsstiftende dieser knappen, flüchtigen Eintragungsverzeichnisse ist allerdings kein nachhaltig prägendes, sondern ein nur mehr temporäres Kernkriterium: Niemand würde es für ein zentrales und bewahrenswertes Persönlichkeitsmerkmal erachten, traurig zu sein. Lebendigkeit konterkariert in ihrer vielfachen Anschlussfähigkeit und Polykontexturalität den dominanten, alles weitere überstrahlenden Aspekt des Totseins, der die Totenliste zu einer Art negativer Vergemeinschaftungsanzeige macht. Die Verstorbenen des heutigen wie des gestrigen Tages und überhaupt aller Tage sind schließlich nicht darin vereint, dass ihr Totsein ihnen etwas wie ein »Gruppencharisma«27 verleiht. Sie sind individuelle Tote, aber das weist die Liste nicht nach. Die Individualität ihres Lebens und die Singularität ihres Sterbens sind zementiert in den Erinnerungen und Bezugnahmen ihrer Angehörigen und in materiellen Hinterlassenschaften – und just so, als postmortale Individuen, wird ihrer gedacht. Eine »Gemeinschaft der Toten« ist als lyrische Umschreibung, in religiöser Bildersprache28 oder als euphemistische Metapher (etwa für den Friedhof) zulässig, in sozialer Hinsicht aber ist jede Grabstätte der einsamste Ort der Welt. Aufzeichnungen über Todesfälle benötigen jemanden, der sie anfertigt. Vollautomatische Erkenntnissysteme, die den Übergang zwischen Leben und Nicht-Leben diagnostizieren, sind jenseits des Menschen bislang nicht in Sicht. Das Lebensende ist vielmehr traditionell eine Angelegenheit, die in den Zuständigkeitsbereichen von Medizin, Recht und Religion verhandelt wird. Während der öffentliche Eindruck häufig bestimmt sein dürfte vom Gefühl einer relativ unstrittigen Grenzziehung zwischen zwei polarisierenden Zuständen, die sich noch dazu ›eindeutig‹ bestimmten lassen, sind (überwiegend in akademischen Zirkeln) tatsächlich zahlreiche Kontroversen zu verzeichnen: Der aufgeklärte Diskurs über die Schwelle des Todes ist keineswegs abgeklärt.29 27 28
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Elias: Gruppencharisma. Beispielsweise drängt sich im Lukas-Evangelium (20, 27–40) im Zusammenhang mit einer Frau, die mit mehreren Brüdern verheiratet war, nachdem diese der Reihe nach verstorben sind, die Frage nach dem ehelichen Stand auf, den dieser Personenkreis bei der Auferstehung hätte. Der Messias löst das Problem durch den Verweis auf die Lebendigkeit dieser Gemeinschaft, die die Lebenden aber nicht erkennen können, weil die Toten nur für Gott lebendig sind. Fazit der Episode nach dieser Erklärung gemäß Lukas: »Und man wagte nicht mehr, ihn etwas zu fragen.« Siehe z.B. Schlich/Wiesemann: Hirntod; Lindemann: Grenzen; Nieder/Schneider: Grenzen; Benkel/Meitzler: Leben.
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Die als Sprösslinge wissenschaftlicher Ausdifferenzierungen entstandenen Sachlichkeitsdoktrinen der beiden erstgenannten Felder, des Rechts und der Medizin, machen es dem Letztgenannten, der Religion, seit geraumer Zeit schwer, denn für eine gesellschaftlich als unanfechtbar geltende Festlegung zumindest über körperliche Zustände – und just hier ist der Tod zu verorten – sind transzendentalistische Beigaben überflüssig geworden. Anders formuliert, der Tod wird im Medium des Körpers gestorben, welches vom Konzept der Seele erkenntnistheoretisch abgetrennt worden ist.30 Listen für jenseitige Seelenzustände sind somit nicht nur überflüssig, sondern unmöglich, denn in Verzeichnissen treten seelische Beschaffenheiten höchstens im engen Korsett psychologischer Befunde auf – und selbst hier ist die ›Seele‹ mittlerweile nur mehr ein Bestandteil eines spezifischen, eher in der Alltagssprache auffindbaren Begriffsarsenals, zu dem Ausdrücke wie Charakter, Befindlichkeit, Gemüt und so weiter gehören. Die Seele hat den Todesdiskurs verlassen, allemal den ärztlichen und juristischen.31 Im Todesreich gibt es folglich nichts zu verzeichnen, abgesehen von gewissen Science-Fiction-Fantasien und jenseitsvisionären ›Eingebungen‹, die weißmachen wollen, dass die hinter der Todesbarriere gelegene Sphäre ähnlich strukturiert ist wie diejenige davor, was zumindest Befremdungsbefürchtungen jenseitsgläubiger Sterbender abfedern dürfte.32 Der Personalstab, der Totenlisten pflegt, ist einerseits im rechtlichen, etwa im standesamtlichen Kontext zu suchen (etwa bezüglich des Sterberegisters gemäß dem Personenstandsgesetz) und operiert andererseits im medizinischen Bereich. Auf einer höherliegenden Erhebungsebene wird das Verzeichnete statistisch aufbereitet; dies findet in weiterer Ferne zu der relativen Todesnähe statt, in der sich Krankenhaus- oder Rettungsdienstpersonal befinden. Die Handhabung des Todesfalls im amtlichen Sektor ist bereits wesentlich abstrakter angelegt, da hier nicht der tote Körper, sondern eine darauf bezogene Bescheinigung für die Wirklichkeit des Verstorbenseins bürgt.33 Daneben gibt es Binnenauswertungen innerhalb von Berufsgruppen, die mit der »Totenfürsorge«34 befasst sind. Wie Ivan Illich schon in den 1970er-Jahren anmerkte, sind somit die Zuständigkeiten für das Todesproblem dem familiären Umfeld der Verstorbenen entrissen: »Sterben und Tod sind unter das institutionelle Management von Ärzten und Leichenbestattern geraten.«35 Im
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»Eine Seele braucht man doch nur, wenn man an einem Weiterleben nach dem Tod interessiert ist, und nur dafür.« (Luhmann: Behandlung, S. 58.) Zu den unterhaltsamen Experimentalversuchen, die Seele zu ›beweisen‹, d.h. sie zu beobachten, zu fotografieren, zu wiegen usw. siehe Fisher: Weighing. Dazu generell Schäfer/Schuhmann: Gläubige. Näher dazu Knopke: Todesdokumente. Herzog/Fischer: Totenfürsorge. Illich: Entschulung, S. 19.
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Rahmen der Behandlungen unter dem abgeschotteten Regime eingeweihter Expert*innen verlieren die menschlichen Überreste ihre sichtbare Präsenz und gehen damit endgültig ihrer Menschlichkeit verlustig; sie werden zum Problem, mit dem zwar pietätvoll umgegangen werden soll, das aber nicht mehr gegenwärtig sein darf. Je weiter die Leiche räumlich und zeitlich von der Liste entfernt ist, desto professionalisierter läuft die Erhebung und Weiterverarbeitung der sie erfassenden Datenmenge ab. Bei der Verabschiedung gesundheitspolitischer Maßnahmen, wie sie die Coronapandemie zahlreich und öffentlichkeitswirksam erfordert hat, scheint im Datenmaterial als Verwaltungsmehrwert wiederum die emergente Qualität auf: Aus der Menge der Einzelfallbetroffenheiten lässt sich die Schwere der Veränderungen beziehungsweise der Einschränkungen ableiten und legitimieren, ohne dass dafür eine einzige Leiche sichtbar gemacht werden muss.36 Auf diese Weise sind die tabellarischen Aufzeichnungen zu Tod und Sterben selbst ebenso todes- wie lebensfern. Ihr ontologischer Status oszilliert zwischen den vermeintlich so unzweideutigen Stadien Leben und Nicht-Leben. Als materielles Ding ist die Liste sicherlich kein »evokatives Objekt«,37 denn es muss erst durch Anwendung ›aktiviert‹ werden – und nicht bereits durch den Deutungsakt, den manche darin erkennen wollen würden, dass dieser ›Text‹ gelesen wird. Als Schrift auf Papier oder Pixel auf dem Monitor übt das Verzeichnis keinen Reiz aus, als Gegenstand einer produktiven Verarbeitung kann es aber immerhin dadurch bestechen, dass es Einsichten ermöglicht, sofern man es entsprechend zu decodieren weiß. Solche Einsichten können beispielsweise in der Erkenntnis bestehen, dass Gesellschaften sich demografisch verändern. Während in Deutschland und anderen Staaten die Mortalitätsrate gegenwärtig ungefähr circa 1 Prozent der Gesamtbevölkerung betrifft, fällt die Geburtenrate wesentlich geringer aus. Geht es um Überalterung und die korrespondierende Fertilitätsrate kann die Liste der Todesfälle argumentativ verwendet werden, um zu vermitteln, weshalb der Faktor Zuwanderung beim langfristigen Erhalt der gesellschaftlichen Stabilität mithelfen kann, denn dadurch wird das Phänomen des länger werdenden Lebens (das indes in vielen Fällen eher ein Phänomen der Sterbensverlängerung ist) und des fehlenden Nachwuchses wenigstens partiell relativiert. Auch Prognostizierbarkeit spielt eine 36
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Die ›Ersterfassung‹ von Todesfällen ist hingegen vom Rekurs auf tote Körper nicht ablösbar. Deren relative Unsichtbarkeit in der westlich orientierten Gegenwartsgesellschaft kann somit nicht allein als Effekt von antrainierter Tabuisierung bzw. von Ekelempfindungen und von der unterschwelligen Verhütung etwaiger Memento-mori-Evokationen erklärt werden, sondern könnte auch an der fehlenden institutionellen Bearbeitbarkeit des ›Datums Leiche‹ liegen. Tote Körper sind von unterschiedlichem Informationswert; wo ihnen jegliche Information abzugehen scheint, fehlt auch das Interesse an Sichtbarkeit. Siehe Meitzler: Anfang; vgl. aber auch Macho/Marek: Sichtbarkeit. Im Sinne von Turkle: Objects.
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Rolle. Im Alltagsdiskurs ist wenig bekannt, dass die Zahl aller Suizident*innen in Deutschland gegenwärtig deutlich die kumulierte Menge derer übertrifft, die durch Tötungsdelikte, Verkehrsunfälle und Drogenkonsum sterben. Die Effekte der bereits angeschnittenen Pandemie (die unter dem Stichwort ›Übersterblichkeit‹ medial kursieren) werden ebenfalls dank entsprechenden Datensammlungen evident. All diese Faktoren lassen sich volkswirtschaftlich38 (bisweilen auch politisch39 ) auswerten und einsetzen. Als quantitative Hilfsmittel fungieren sie als Bausteine von Ordnungskonstruktionen, deren Garant Verwaltungsapparate sind. Kliniken, Bestattungsgewerke, Behörden und Ministerien, Dienstleister*innen und viele andere Sektoren profitieren von der Einarbeitung dieses Bausteins in den bürokratischen Überbau des gesellschaftlichen Lebens. Dadurch, dass sich Daten über Sterbensvorkommnisse sammeln und sukzessive nutzen lassen, um etwas anders zu machen, als getan würde, wenn die Einsicht fehlen würde, sickert folglich eine buchstäbliche Berechenbarkeit wenn auch nicht in die Auflistung selbst, so doch in ihr diskursives Umfeld ein. Dies vollzieht sich als leises Hintergrundrauschen in institutionellen Settings, von denen »der gesellschaftliche Jedermann«40 wenig erfährt, weil er davon für gewöhnlich auch wenig wissen möchte. Die Beobachtung der Todesfrequenz und ihr vorgelagert: der Sterbendenzahlen, wie es sie zumindest für Palliativstationen in Hospitälern, für Hospize und andere Varianten stationärer Versorgung gibt, gewährleistet also eine gänzlich ›unmorbide‹, weil auf sachlicher Distanz eingestellte Verfahrensweise mit dem unschönen Umstand, dass aktive lebendige Körper sich in passive verrottende Leichen verwandeln. Vielleicht ist auch dies ein Ausdruck der Todesverdrängung, von der immer wieder die Rede ist, von der aber »gar keine Rede sein [kann]«, da vielmehr »von einer Verwissenschaftlichung, Politisierung, Ökonomisierung, Medikalisierung, Juridifizierung usw.« gesprochen werden müsste.41 Seine Integration in diese vielschichtigen gesellschaftlichen Bereiche verdankt der Tod seiner Aufschreibbarkeit – seiner Verwandlungsfähigkeit in die Spalten einer Liste. Es ist dies der Tod, der der emotionalen Belastung auf den Schultern der Hinterbliebenen enthoben ist und der auch ansonsten keinen epistemologischen Ballast kennt, weil in erster Linie zu zählen scheint, dass er sich so und nicht anders, in dieser oder jener benennbaren Konstellation unter diesen oder jenen einkreisbaren Umständen ereignet hat. Es ist, mit anderen Worten, ein komplexitätsschwacher, just dadurch aber aussagefähiger Tod, der sich logistisch einfangen lässt. Die naheliegenden Assoziationen mit Trauer, Abschied, Schmerz, Krankheit oder auch
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Vgl. Sen: Mortality. Vgl. Gaber: Sterblichkeit; Kremp: Politik. Berger/Luckmann: Konstruktion, S. 16. Nassehi: Geschlossenheit, S. 301.
Thorsten Benkel: Listen und Schatten
nur Prozessualität bleiben außen vor im geordneten Gehäuse der Datensammlung. Umgekehrt sind die nüchternen Verzeichnisaspekte eines Todesfalls für Angehörige eine ärgerliche Last, die nicht auch nur ansatzweise dem entspricht, was sie im Angesicht ihres Verlusts für maßgeblich halten dürften. Die Verwaltung des Todes tritt wie der Schatten des von Affekten begleiteten Austritts einer Person aus ihrem sozialen Umfeld in Erscheinung. Sie ist ein Merkmal der Modernisierung, denn sie findet sich dort, wo Gesellschaften das Moment der Selbstorganisation zu systematisieren versuchen. Und sie ist der institutionalisierte Versuch, dem Ordnungsverlust, den der »Kommunikationsunterbrecher Tod«42 mit sich bringt, eine Rückwendung in die Sprache der Sachlichkeit und Stabilität zur Seite zu stellen. Seine schattenhafte Existenz trennt den verwalteten Tod von seinem schmerzhaft realen Gegenbild, dem erlittenen Tod; es handelt sich sozusagen um eine Theorie-Praxis-Kluft eigenen Zuschnitts. Zugleich verleiht der Tod in den Zeilen und Spalten der korrespondierenden Listen den Toten etwas, das ihnen zu Lebzeiten fehlte, ohne dass es trostspendend sein dürfte: Nach dem Versterben schwindet die Ungleichheit. Niemandes Tod wird anders aufgeführt als die Regeln es verlangen, denn niemand ist toter als der andere.
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42
Luhmann: Funktion, S. 230.
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Epilog: Der Tod in der Gegenwart
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Epilog: Der Tod in der Gegenwart
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Dank
Die Herausgeber*innen dieses Sammelbandes sind zahlreichen Personen und Institutionen zu großem Dank verpflichtet. Den Beitragenden danken wir an erster Stelle für ihre bereichernden Texte, für das Vertrauen in dieses Projekt und ihre Geduld während der Herstellung. Unser Partnerverlag transcript, namentlich Frau Mirjam Galley, hat sich durch eine gute Betreuung, hilfreiche Ratschläge und eine unkomplizierte Kommunikation ausgezeichnet. Für die großzügige finanzielle Unterstützung in derart schwierigen Zeiten sind wir der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Stiftung Deutsche Bestattungskultur sowie unserem dortigen Ansprechpartner Herrn Simon Walter sehr verbunden. Mit der ASV Bestattungen GmbH konnten wir einen generösen Sponsor dieser Reihe gewinnen und damit eine finanzielle Absicherung auch der zukünftigen Publikationen erreichen. Hier danken wir insbesondere Herrn Stephan Hadraschek für seine guten Ratschläge und die hilfreiche Unterstützung. Frau Bärbel Holtz von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sind wir für ihr wohlwollendes Gutachten des Projektes verpflichtet. Auch der wissenschaftliche Beirat dieser Reihe hat maßgeblich zum Gelingen des vorliegenden Bandes beigetragen. Für die Wahrung der Qualität der Texte sei noch die wertvolle Arbeit der Gutachter*innen im Peer Review-Verfahren erwähnt. Das arbeitsintensive Lektorat übernahm Frau Sünje Knutzen. Zuletzt danken wir Frau Priska Landolt, die es ermöglicht hat, den Beitrag von Herrn Oliver Landolt posthum in diesem Sammelband erscheinen zu lassen. Nina Kreibig, Thomas Macho und Moisés Prieto
Zu den Autor*innen
Dr. Niklas Barth ist Akademischer Rat a. Z. am Institut für Soziologie der LudwigMaximilians-Universität München. Von Juli bis Oktober 2022 war er Visiting Fellow an der Yale University. 2019 wurde er mit der Arbeit Gesellschaft als Medialität. Studien zu einer funktionalistischen Medientheorie an der LMU München promoviert. Niklas Barth interessiert sich für Medien- und Gesellschaftstheorie, digitale Öffentlichkeiten, Thanato-, Medizin- und Kultursoziologie sowie qualitative Forschung. PD Dr. Thorsten Benkel ist Akademischer Oberrat für Soziologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau. Er arbeitet zur Soziologie von Körper, Sexualität, Recht und Religion. Daneben leitete er bislang vier empirische Forschungsprojekte im Kontext von Sterben, Tod und Trauer. Er ist ferner Gründungsmitglied des Arbeitskreises Thanatologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und gibt die Schriftenreihe »Thanatologische Studien« sowie das Jahrbuch für Tod und Gesellschaft heraus. Sophie Gigou, B.A. studiert im Master Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2018 bis 2022 war sie im DFG-Projekt »Vom ›guten Sterben‹. Akteurskonstellationen, normative Muster, Perspektivendifferenzen« tätig. Ihr Studien- und Forschungsinteresse gilt in erster Linie der Medizin- und Thanatosoziologie. PD Dr. Udo Grashoff hat ein naturwissenschaftliches (Biochemie) und ein geisteswissenschaftliches Studium (Geschichte/Literatur) abgeschlossen. 2006 promovierte er zu »Selbsttötungen in der DDR« und lehrt seit 2008 an der Universität Leipzig. Von 2014 bis 2020 war er als DAAD-Lecturer am University College London tätig. Grashoffs Forschungsschwerpunkte sind alltags- und sozialgeschichtliche, oft mit einem Tabu belegte Themen der Geschichte der DDR und des »Dritten Reiches«. 2019 hat er sich zum Thema »Verrat im kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime« habilitiert.
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Ordnungen des Todes
Dr. Sebastian Knoll-Jung promovierte zu Prävention, Ursachen und Folgenbewältigung von Arbeitsunfällen in Kaiserreich und Weimarer Republik an der Universität Mannheim, gefördert durch das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Zur Zeit beschäftigt er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Bamberg mit der Wirkungsgeschichte des Förderprogramms »Humanisierung des Arbeitslebens«, das von 1974 bis 1989 zahlreiche betriebliche Reformprojekte in der Bundesrepublik anstieß. ORCID-ID: 0000-0002-9163-7255. Dr. Andreas Kranebitter, Soziologe und Politikwissenschaftler, ist seit April 2023 wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien. Jüngste Publikation: Die Konstruktion von Kriminellen. Die Inhaftierung von »Berufsverbrechern« im KZ Mauthausen (Wien 2023). ORCID-ID: 0000-0002-5164-3271. Dr. Philipp Krauer ist wissenschaftlicher Archivar im Staatsarchiv des Kantons Schwyz. Von 2017 bis 2021 promovierte er an der ETH Zürich. Er hat einen Master in Geschichte und Philosophie des Wissens von der ETH und einen Bachelor in Allgemeiner Geschichte und Deutscher Sprach- und Literaturwissenschaft von der Universität Zürich. Seine Forschungsinteressen umfassen Global-, Kolonialund Wissensgeschichte. Er ist außerdem Mitinitiant des public-history-Projektes »zh-kolonial.ch«. Nina Kreibig, Dr. phil., Studium der Ur- und Frühgeschichte, Anthropologie und Alten Geschichte in Göttingen. Promotion: 2020 an der Humboldt-Universität zu Berlin zur Kultur- und Sozialgeschichte der Berliner Leichenhäuser des 19. Jahrhunderts. Zurzeit: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt um die vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen des Hauses Wittelsbach in der Weimarer Republik. Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem: Sepulkralkultur, Emotionsgeschichte, Raumtheorie und Erinnerungskultur. ORCID-ID: 0000-0001-5076-0129. Dr. Oliver Landolt, *1966 †2023, Studium der Allgemeinen Geschichte, der Neueren Deutschen Literatur und der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Zürich. Wissenschaftliche Assistenzen an den Mittelalterlehrstühlen der Universität Zürich (Prof. Dr. Hans Jörg Gilomen) und Bern (Prof. Dr. Rainer C. Schwinges). Wissenschaftlicher Archivar im Staatsarchiv des Kantons Schwyz. 2021 bis 2023 Stadtarchivar von Schaffhausen. Redaktor des wissenschaftlichen Jahrbuchs Der Geschichtsfreund. Sophie Liepold ist Doc-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Doktorandin am Institut für Germanistik an der Universität Wien. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Verhältnis von Gegenwartsliteratur und
Zu den Autor*innen
Literaturarchiv. Von 2020–2021 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des FWFProjekts »Sigmund Freud. Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Teil 1«. Sie studierte Deutsche Philologie an der Universität Wien und der Humboldt-Universität zu Berlin und schloss ihr Studium 2020 mit einer Arbeit über Heimrad Bäcker ab. Katharina Mayr, geb. in Dachau, hat Soziologie, Psychologie und BWL an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin in den DFG-geförderten Projekten »Übersetzungskonflikte« und »Vom guten Sterben« beschäftigte sie sich seit mehreren Jahren mit der professionellen Bearbeitung von Sterbeprozessen in Organisationen. Derzeit forscht sie zu den Folgen der Coronapandemie in der Langzeitpflege. Wiebke Sophie Nissen, Kulturhistorikerin, Lehrerin, Jahrgang 1962, lebt in Heide, Schleswig-Holstein und promoviert an der Universität Hamburg zum Thema »Sterbefälle und Todesursachen in den Küstengebieten Dithmarschens 1874–1957 auf der Basis archivalischer Quellen«. Dr. Bertrand Perz, Univ. Prof. am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismus, Konzentrationslager, Zwangsarbeit, Holocaust, Verkehrs- und Baugeschichte. Rezente Publikation: gemeinsam mit Gabriele Hackl u. Alexandra Wachter (Hg.): Wasserstraßen. Die Verwaltung von Donau und March 1918–1955, Wien 2020. ORCID-ID: 0000-0002-3577-6197. Moisés Prieto ist assoziierter Forscher am Historischen Institut der Universität Bern. Er studierte Romanistik und Geschichte an der Universität Zürich, wo er 2013 in Geschichte promovierte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Diktaturforschung in der Moderne, die Geschichte der Emotionen und der Migration. Seine Forschung brachte ihn unter anderem nach Oxford und Berlin. Er ist Autor von Zwischen Apologie und Ablehnung und von Narratives of Dictatorship in the Age of Revolution. ORCID-ID: 0000-0003-4323-3341. Stephan Scholz ist promovierter Historiker und Privatdozent am Institut für Geschichte der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Er arbeitet als wissenschaftlicher Redakteur am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Migrationsgeschichte und Erinnerungskultur sowie Totengedenken im Kontext von Flucht- und Vertreibungsprozessen. Publikationsliste auf https://uol.de/stephan-scholz/publik ationen. ORCID-ID: 0000-0002-9756-5491. Dr. Andreas Walker, M.mel. ist seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter am ADG Scientific – Center for Research and Cooperation e.V. Zuvor war er von 2010 bis
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Ordnungen des Todes
2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Lehrstühlen für Moraltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultäten in Bochum, Münster und München. Er studierte Philosophie, Psychologie, Politikwissenschaften und Publizistik in Hamburg, Nizza und Wien und Medizin-Ethik-Recht in Halle (Saale). Jan-Martin Zollitsch ist seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts (Prof. Dr. Birgit Aschmann) der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem Promotionsprojekt zur Frage exzessiver, illegitimer Gewalt deutscher Soldaten im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und damit Teil der DFG-Forschungsgruppe »Militärische Gewaltkulturen«.
Register
A Agamben, Giorgio, 228, 249 Aids-Tote, 22 Arbeitsunfälle, 117, 118, 121, 124, 128, 294 Arendt, Hannah, 234 B Bäcker, Heimrad, 233–236, 238–242, 244–250 Badoglio, Pietro, 21 Barrikaden, 175, 177, 179, 180, 183, 188 Bauman, Zygmunt, 32, 177, 280, 281 Belknap, Robert E., 241 Benjamin, Walter, 228 Berlin, 22, 30, 33, 34, 65, 69, 86, 103, 104, 106, 112, 113, 175, 177, 178, 189, 195, 199–201, 203, 209, 210, 220, 223, 258, 260, 262, 264 Bern, 52, 81, 82, 88–90, 92, 93, 165 Bills of mortality, 22 Bismarck, Otto von, 122–125 Borneo, 46, 53 BRD, 257–259, 262 Bürgertum, 175, 181, 185, 190 Bürokratie, 25, 33, 43, 44, 54, 56, 64, 128, 138, 177, 221, 223, 225, 226, 228, 233–238, 242, 245, 246, 286 Büsum, 69, 75–77
C Canetti, Elias, 16 Cholera, 15, 27 Coronapandemie, 15, 16, 28, 276, 285 D DDR, 257–268 Deutsches Kaiserreich, 33, 117, 122, 128, 131, 133, 197, 210 Disdéri, Eugène, 25, 26 Dithmarschen, 61–64, 67, 68 Dortmund, 81, 82, 88–94 Durkheim, Emile, 22 E Eco, Umberto, 18, 25, 85, 109 Eidgenossenschaft, siehe Schweiz Emergenz, 275, 282 Erster Weltkrieg, 24, 34, 47, 198 Ertrunkene, 22, 62, 65, 66, 73, 75–77, 83 F Femizid, 29 Flüchtlinge, 81, 82, 85, 87, 92, 94 Flüchtlingspolitik, 81, 82, 85, 90, 95 Franco, Francisco, 20 Freisler, Roland, 222 Freitod, siehe Suizid Friedrich Wilhelm IV, König von Preußen, 177, 183
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Ordnungen des Todes
G Gedenkpraktiken, 81, 82 grief activism, 81, 88, 95 Große Pest von London (1665/66), 22 H Himmler, Heinrich, 222 Hitler, Adolf, 218, 222, 233, 235, 249 Hollerith, 220, 224, 236 Holocaust, 34, 217, 219, 223, 225, 227, 233, 234, 236, 238, 241, 244, 250 J Java, 46, 53 K Keller, Gottfried, 53, 54 Kiel, 65 Kohlhaase, Wolfgang, 25 Konzentrationslager, 25, 217, 219–229, 234, 235, 237, 239, 241, 249 Kriegsgefallene, 54, 56, 132, 161, 163–170, 189, 204, 205, 208 L Leichenhäuser, Berliner, 30, 33, 103, 104, 106, 109, 112–114 Liste Definition einer, 19 der Westgoten-Könige, 20 poetische, 34, 109, 183 praktische, 109, 113, 114, 183 Lüdtke, Alf, 228 Luhmann, Niklas, 141, 143, 153 M Macho, Thomas, 150 Mainberger, Sabine, 18, 19, 107, 109, 112, 178 Märzgefallene, 175, 178, 182, 183, 185, 189, 190
Märzrevolution, 175, 177, 178, 189 Menzel, Adolph, 184, 185 Mittelmeer, 81, 83, 90, 91, 96 Moderne, 138, 140, 154, 280 Mord, 66, 222, 224, 241, 242 Mussolini, Benito, 21 N Nationalsozialismus, 23–25, 77, 78, 217–219, 222, 223, 233–239, 241, 242, 246, 247, 249, 250, 282 Niederländisch-Ostindien, 43, 49, 56 Nordsee, 63, 64 NS-Euthanasie, 218 O Ordnung bürgerliche, 180, 183, 185, 188 soziale, 31, 35, 138, 256, 260, 263, 264, 276 Osterhammel, Jürgen, 21 P palliative care, 137, 139, 140, 142, 143, 146, 149, 150, 153, 154, 286 Pest, 15, 22, 27 Peterloo Massaker, 20 R Rosas, Juan Manuel de, 24 S Scheintod, 105, 109 Schlachtjahrzeiten, 34, 161, 162, 164–166, 168–170 Schleswig-Holstein, 61, 63, 64, 77 Schmitt, Carl, 228 Schweiz, 33, 34, 43–47, 49, 52, 54, 81, 89, 91, 94, 122, 161–166 Scott, Walter, 20 Selbstmord, siehe Suizid
Register
Sempach, Schlacht bei, 163–165, 167–169 Shoah, siehe Holocaust Söldner, 32, 43–50, 52–56, 164, 167, 168 Stalinismus, 24, 282 Statistik, 87, 113, 117, 118, 121, 124–127, 129, 131–133, 236, 242, 244, 255, 258, 260, 265, 278 Sterbebegleitung, 137, 139, 140, 142, 143, 146, 154 Sterbebücher, 61–63, 65–69, 71, 73, 75–77, 223
T Textgenese, 245, 249 Totengedenken, 19, 22, 24, 29, 33, 81, 82, 87, 91, 94, 149, 150, 182, 227, 280 Trauer, 75, 81, 109, 189, 275–278, 280, 281, 286 U Ukrainekrieg, 15, 68, 282 Unfallstatistik, 15, 33, 117, 118, 121–129, 131–133 Unfalltote, 117, 118, 129, 132, 133 Unfallversicherungsgesetz, 123–126, 132
Suizid, 15, 17, 21, 22, 25, 29–31, 35, 66, 72, 105, 110, 111, 224, 255–257, 259–268, 278, 286
V Verlustlisten, 195–199, 201, 204–209 Vormärz, 21
Suizidforschung, 261, 267, 268
W Waterloo, Schlacht von, 20 Weimarer Republik, 24, 69, 127 Wildt, Michael, 228 Winkelried, Arnold, 168
Suizidprävention, 30, 35, 261, 263, 268 Suizidstatistik, 255, 257, 258, 261, 264–266, 268 Sumatra, 46, 47, 55 Sydow, Adolph, 180, 185, 187, 189 Systemtheorie, 143
Z Zentralnachweisebüro, 198, 199, 201, 202 Zivilgesellschaft, 81, 82, 90, 95 Žižek, Slavoj, 29
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