Das Steuerrecht als Schranke der Freiheit des Kapitalverkehrs (Art. 58 EGV) [1 ed.] 9783896448705, 9783896731333

Der Autor untersucht die Stellung und den Charakter dieser Vorschrift im System der Kapitalverkehrsfreiheit. Er geht dab

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German Pages 326 Year 2001

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Das Steuerrecht als Schranke der Freiheit des Kapitalverkehrs (Art. 58 EGV) [1 ed.]
 9783896448705, 9783896731333

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Das Steuerrecht als Schranke der Freiheit des KapitalVerkehrs (Art. 58 EGV)

Schriftenreihe Recht + Wirtschaft

Band 1

Falk Loose

Das Steuerrecht als Schranke der Freiheit des Kapitalverkehrs (Art. 58 EGV)

Verlag Wissenschaft & Praxis

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Loose, Falk: Das Steuerrecht als Schranke der Freiheit des Kapital Verkehrs (Art. 58 EGV) / Falk Loose. - Sternenfels : Verl. Wiss, und Praxis, 2001 (Schriftenreihe Recht + Wirtschaft - Bd. 1) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2001 ISBN 3-89673-133-5

ISBN 3-89673-133-5

® Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2001 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

Alle Rechte Vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver­ wertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim­ mung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfälti­ gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbei­ tung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Vorwort

Die in den Artt. 56 ff. EG-Vertrag geregelte Kapitalverkehrsfreiheit ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, das Steuerrecht in Art. 58 EG-Vertrag unter be­ stimmten Voraussetzungen als zulässige Schranke dieser Grundfreiheit vorzuse­ hen. Diese Berücksichtigung der direkten Steuern im Rahmen einer Grundfreiheit findet sich trotz der gegenüber den anderen Grundfreiheiten zeitlich verzögerten Entwicklung nur bei der Kapitalverkehrsfreiheit. In der vorliegenden Arbeit wird zunächst die Stellung und der Charakter des Art. 58 EG-Vertrag im System der Kapitalverkehrsfreiheit untersucht. Im zweiten Teil werden die deutschen Vor­ schriften zur Körperschaftsteueranrechnung bzw. zum neuen Halbeinkünftever­ fahren und zur Kapitalertragsteuer auf ihre Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrs­ freiheit und vor allem mit Art. 58 EGV überprüft.

Die vorliegende Arbeit wurde nach ihrer Einreichung im März 2000 im Februar 2001 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Nach Einreichung der Arbeit in Kraft getretene Geset­ zesänderungen, insbesondere das Steuersenkungsgesetz, sowie veröffentlichte Li­ teratur und Rechtsprechung wurden bis Mai 2001 berücksichtigt.

Mein herzlicher Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Herm Prof. Dr. Markus Heintzen, für die vorbildliche Betreuung der Arbeit. Einen so engagierten Doktorvater würde ich jedem Doktoranden wünschen. Herm Prof. Dr. Joachim Schulze-Osterloh danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens.

Meinen Eltern möchte ich an dieser Stelle für meine Förderung und alles, was sie bisher für mich getan haben, danken. Ohne ihre Unterstützung wäre dieses Pro­ dukt meiner geistigen Arbeit nicht möglich gewesen.

Berlin, im Juni 2001

Falk Loose

Inhaltsübersicht

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INHALTSÜBERSICHT Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

Kapitel 1: Einleitung

Kapitel 2: Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung A. Systematik des Art. 58 EGV I. ’’Schutzbereich-Schranken-Verhältnis” zwischen Art. 56 und Art. 58 EGV II. Innere Systematik des Art. 58 EGV III. Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV - Rechtsbruchverhinderungsklausel IV. Ergebnis B. Anwendung des Art. 58 EGV in der EuGH-Rechtsprechung I. ’’Avoir fiscal” II. "Bachmann” III. "Safir” IV. Erkenntnisse aus der Nachbetrachtung der EuGH-Rechtsprechung V. ’’Verkooijen” Kapitel 3: Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf ausgewählte Vorschriften des deutschen Steuerrechts A. Körperschaftsteuer I. System der Körperschaftsteueranrechnung II. Der besondere Steuersatz für beschränkt Körperschaftsteuerpflichtige gemäß § 23 Abs. 3 KStG a.F B. Kapitalertragsteuer I. Die Kapitalertragsteuer im deutschen Einkommensteuergesetz II. Der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission zur Zinsbesteuerung

Kapitel 4: Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

Literaturverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS Abkürzungsverzeichnis.......................................................................................... 19 Kapitel 1: Einleitung........................................................................................... 21 Kapitel 2: Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung.............................................................. 27 A. Systematik des Art. 58 EGV...........................................................................30 I. ’’Schutzbereich-Schranken-Verhältnis” zwischen Art. 56 und Art. 58 EGV....................................................................................... 30 1. Art. 56 Abs. 1 EGV - Geltungsbereich der Kapitalverkehrs­ freiheit - ’’Schutzbereich”............................................................ 31 a) Sachlicher Geltungsbereich......................................................... 31 aa) Definition des ’’Kapitalverkehrs”.......................................... 31 bb) Begriff der Beschränkungen................................................. 33 (1) Definition in der Literatur............................................... 34 (2) Bisherige EuGH-Rechtsprechung...................................36 (3) Stellungnahme.................................................................. 38 (4) Beschränkungen in Steuergesetzen............................... 41 cc) Konkurrenzen mehrerer betroffener Grundfreiheiten.........42 (1) Parallele Anwendbarkeit der Kapitalverkehrs­ freiheit.........................................................................43 (2) Exklusive Anwendbarkeit einer Grundfreiheit aufgrund eines Anwendungsvorrangs..................... 44 (a) Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit......... 44 (b) Kapital Verkehrs- und Dienstleistungsfreiheit......... 47 (3) Einschränkung der möglichen parallelen Anwend­ barkeit......................................................................... 48 (a) Unmittelbarer oder mittelbarer Eingriff in die einschlägigen Grundfreiheiten........................... 48 (b) Stärkere Sachnähe einer Grundfreiheit.................... 49 (4) Kumulative Anwendbarkeit............................................ 52 (a) Bei Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit... 52 (b) Bei Kapitalverkehrs- und Dienstleistungs­ freiheit.................................................................. 53 dd) Ergebnis...................................................................................55 b) Personeller Geltungsbereich........................................................55 aa) Keine Beschränkung auf EU-Ansässige.............................. 56

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Inhaltsverzeichnis

bb) Beschränkung auf ’’Staatszugehörige” von EUMitgliedstaaten................................................................. 57 cc) Schutz von Kapitalgebern und -empfängem....................... 59 dd) Ergebnis...................................................................................60 2. Art. 58 EGV - ’’Schranke” derKapitalverkehrsfreiheit....................61 a) Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV - ein Rückschritt gegenüber dem bisherigen Liberalisierungsniveau?..................................... 61 b) Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV - Einordnung der ’’Unberührt­ heitsklausel” in die Systematik der Grundfreiheit.............. 62 aa) Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als ’’Bereichsausnahme”............. 63 bb) Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als eingriffsrechtfertigende ’’Schranke”..............................................................................64 cc) Ergebnis...................................................................................66 c) Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV - Konstitutiver Charakter der Eingriffsrechtfertigung für kapitaleinkünftebezogene Stcuemormen......................................................................... 67 aa) Keine Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation bei ’’unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort” - deklaratorischer Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV................................................................................69 bb) Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation bei kapitalcinkünftebezogenen Steuemormen - konstitutiver Cha­ rakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV............................... 70 d) Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV - ein materieller, kein formeller Rechtfertigungsgrund.............................................................73 e) Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV und die Erklärung im Anhang des Unionsvertrages..................................................................... 76 f) Ergebnis......................................................................................... 78 3. Abschließender Charakter der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV fur kapitalverkehrsbeschränkende Steuemormen.......... 79 a) Duales System der Rechtfertigung für unterschiedslos an­ wendbare, kapitalverkehrsbeschränkende Regelungen..... 79 aa) Übertragung der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung auf die Kapitalverkehrsfreiheit.................................................. 80 bb) Dogmatische Einordnung der ’’zwingenden Erforder­ nisse” des Allgemeininteresses..................................... 81 b) Kapitalverkehrsbeschränkende Steuemormen keine unterschiedslos anwendbaren Regelungen......................... 83

Inhaltsverzeichnis

II. Innere Systematik des Art. 58 EGV........................................................ 83 1. Begriffe des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV.............................................. 84 a) ’’Wohnort”...................................................................................... 84 b) ’’Kapitalanlageort”.........................................................................87 aa) ’’Kapitalanlageort” - tatsächlicher, wirtschaftlicher Investitionsort des Kapitals............................................. 88 bb) ’’Kapitalanlageort” - Ort der Ansässigkeit des Kapital­ nehmers ............................................................................ 90 c) ’’Steuerpflichtige”........................ 92 2. Art. 58 Abs. 2 EGV - ’’Schrankenerweiterung”.............................. 94 3. Art. 58 Abs. 3 EGV - ”Schranken-Schranke”..................................94 a) Bedeutung des Art. 58 Abs. 3 EGV............................................95 b) Die begrenzenden Kriterien........................................................ 96 aa) ’’Willkürliche Diskriminierung”........................................... 96 bb) ’’Verschleierte Beschränkung”.............................................. 97 c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - Erweiterung der aus­ drücklichen ’’Schranken-Schranke”...................................... 98 III. Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV - Rechtsbruchverhinderungs­ klausel...................................................................................................99 IV. Ergebnis...................................................................................................... 101 B. Anwendung des Art. 58 EGV in der EuGH-Rechtsprechung........................102 I. ’’Avoir fiscal"............................................................................................. 104 1. Sachverhalt........................................................................................... 104 2. Entscheidung desEuGH...................................................................... 105 3. Der Fall ’’avoir fiscal"bei Anwendung der Artt. 56 ff. EGV.......... 106 a) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV............................................................................. 107 b) Rechtfertigung durch die "Schranke" - Art. 58 Abs. 1 lit.aEGV................................................................................ 111 aa) Formelle Einhaltung der "Schranke"................................... 111 bb) Materieller Rechtfertigungscharakter der "Schranke"....... 112 c) "Schranken-Schranke" - Art. 58 Abs. 3EGV............................. 112 aa) Kohärenz des Steuerrechts....................................................113 bb) Gefahr der Steuerflucht......................................................... 116 4. Ergebnis............................................................................................... 118 II. "Bachmann"................................................................................................ 118 1. Sachverhalt........................................................................................ 118 2. Entscheidung des EuGH.................................................................. 119

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Inhaltsverzeichnis

3. Kritik..................................................................................................... 121 a) Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit................................. 121 aa) Nachrangigkeit der Kapitalverkehrsfreiheit aufgrund der größeren Sachnähe der Dienstleistungsfreiheit..... 122 bb) Geringere Sachnähe der Kapitalverkehrsfreiheit................ 123 cc) Gleichrangige Sachnähe der Kapitalverkehrsfreiheit........ 123 b) Bindung der Dienstleistungsfreiheit an die Kapitalver­ kehrsliberalisierung................................................................ 125 4. Der Fall ’’Bachmann” bei Anwendung der Artt. 56 ff. EGV..........128 a) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV............................................................................. 128 b) Rechtfertigung durch die ’’Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV................................................................................ 129 aa) Formelle Einhaltung der ’’Schranke”.................................... 129 bb) Materieller Rechtfertigungscharakter der ’’Schranke”....... 130 c) ’’Schranken-Schranke” - Art. 58 Abs. 3 EGV.............................131 aa) Kohärenz des Steuerrechts..................................................... 131 (1) Zulässiges Regelungsziel - indirekte Anerkennung durch Art. 58 Abs.1 lit. a EGV................................. 132 (2) Anwendung des Kohärenzkriteriums auf den Sach­ verhalt..........................................................................133 bb) Steuerliche Gerechtigkeit....................................................... 135 5. Ergebnis............................................................................................... 137 III. ’’Safir”....................................... 138 1. Sachverhalt...........................................................................................138 2. Entscheidung des EuGH.................................................................... 141 3. Kritik.................................................................................................... 143 4. Der Fall ’’Safir” bei Anwendung der Artt. 56 ff. EGV....................144 a) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV.................. 145 b) Rechtfertigung durch die ’’Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV................................................................................ 146 aa) Formelle Einhaltung der ’’Schranke”.................................... 146 bb) Materieller Rechtfertigungscharakter der ’’Schranke”....... 146 c) ’’Schranken-Schranke” - Art. 58 Abs. 3 EGV.............................147 aa) Kohärenz des Steuerrechts..................................................... 147 (1) Inhalt der Kohärenz des schwedischen Steuerrechts.... 148 (2) Vergleich mit dem Kohärenzargument im Fall ’’Bachmann"............................................................... 149 (3) Verhältnismäßigkeit des Kohärenzkonzeptes............... 150

Inhaltsverzeichnis

bb) Wirksame steuerliche Kontrolle........................................... 152 5. Ergebnis................................................................................................ 152 IV. Erkenntnisse ausder Nachbetrachtung der EuGH-Rechtsprechung......153 V. "Verkooijen".............................................................................................. 154 1. Sachverhalt.......................................................................................... 154 2. Entscheidung des EuGH................................................................... 156 3. Kritik.................................................................................................... 160

Kapitel 3: Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf ausgewählte Vorschrif­ ten des deutschen Steuerrechts.................................... 167 A. Körperschaftsteuer......................................................................................... 169 I. System der Körperschaftsteueranrechnung..............................................170 1. Das noch geltende Körperschaftsteuersystem und Artt. 56 ff. EGV.................................................................................. 172 a) Nichtgewährung des Anrechnungsguthabens an Steuer­ ausländer ................................................................................ 175 aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV............................................................................ 175 (1) Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation des unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtigen hinsichtlich der inländischen Körperschaftsteuer.. 176 (2) Unterschiedliche Behandlung durch die deutschen Steuemormen............................................................177 (3) Diskriminierung durch Zusammenwirken von Quellen- und Wohnsitzstaat..................................... 177 (a) Wohnsitzstaatsverantwortung aufgrund des son­ stigen Verstoßes gegen das Quellenstaatsprinzip... 179 (b) Wohnsitzstaatsverantwortung aufgrund der Übertragbarkeit der Wohnsitzstaatsverant­ wortung im Rahmen der juristischen Doppelbe­ steuerung auf die wirtschaftliche Doppelbe­ lastung......................................................................... 181 (c) Kritik an der Wohnsitzstaatsanrechnung...............183 bb) Ergebnis.................................................................................. 185 b) Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer bei Steuerinländem................................................................ 185 aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV.....................................................................186

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Inhaltsverzeichnis

bb) Rechtfertigung durch die ’’Schranke” Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV................................................ 189 (1) Formelle Einhaltung der ’’Schranke”.............................. 189 (2) Materieller Rechtfertigungscharakter der ’’Schranke”.........................................................................190 cc) ’’Schranken-Schranke” - Art. 58 Abs. 3 EGV...................... 190 (1) Inhalt der Kohärenz der Steuerrechtsordnung.............. 191 (2) Verhältnismäßigkeit der Kohärenzargumente.............. 193 (a) Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat..................... 193 (aa) Geeignetheit zur Erreichung des Regelungs­ ziels............................................................................193 (bb) Erforderlichkeit zur Erreichung des Regelungs­ ziels............................................................................194 (cc) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne................... 198 (b) Wettbewerbsverzerrende Wirkung auf das Körperschaftsteuersystem des Quellenstaates....... 199 dd) Ergebnis................................................................................... 200 c) Möglichkeit der ausländischen Körperschaft zur Vermitt­ lung eines Anrechnungsguthabens für im Inland erwirt­ schaftete Gewinne........................................................................ 200 aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV..................................................................... 201 bb) Rechfertigung durch die ’’Schranke”- Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV....... ................................................................. 201 cc) ’’Schranken-Schranke” - Art. 58 Abs. 3 EGV...................... 202 (1) Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat........................... 203 (2) Fehlen der Möglichkeit zur Erhebung von Quellen­ steuer........................................................................... 204 (3) Technische Schwierigkeiten für den Wohnsitzstaat bei der Ermittlung des Anrechnungsguthabens...... 205 (a) Inhalt des Rechtfertigungsgrundes.......................... 205 (b) Verhältnismäßigkeit.................................................. 208 dd) Ergebnis...................................................................................209 d) Möglichkeit der inländischen Körperschaft zur ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen KörperschaftSteuer an den inländischen Anteilseigner............................ 209 aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV............................................................................ 209

Inhaltsverzeichnis

bb) Rechtfertigung durch die ’’Schranke” Art. 58 Abs. Hit. a EGV................................................ 213 (1) Formelle Einhaltung der ’’Schranke”............................. 213 (2) Materieller Rechtfertigungscharakter der ’’Schranke”........................................................................ 215 cc) ’’Schranken-Schranke" - Art. 58 Abs. 3 EGV.................... 216 (1) Fiskalische Lastengerechtigkeit zwischen Wohn­ sitz- und Quellenstaat...................................................... 216 (2) Technische Schwierigkeiten für den gleichzeitigen Sitz- und Wohnsitzstaat bei der ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaft­ steuer........................................................................... 220 dd) Ergebnis................................................................................... 224 2. Das Halbeinkünfteverfahren nach dem Steuersenkungsgesetz und Artt. 56 ff. EGV.................................................................... 225 a) Einhaltung des Art. 56 Abs. 1 EGV durch das Halbein­ künfteverfahren des Steuersenkungsgesetzes...........................226 aa) Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung bei ausländischen Dividenden und Steuerausländem.............. 227 bb) Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung bei Weiterausschüttung ausländischer Gewinne an Steuer­ inländer durch inländische Kapitalgesellschaften....... 229 cc) Ergebnis...................................................................................232 b) Kritik an dem Halbeinkünfteverfahren des Steuersenkungs­ gesetzes....................................................................................232 aa) Nachteile der Gesetzesänderungen....................................... 233 (1) Keine vollständige Vermeidung der wirtschaft­ lichen Doppelbelastung der Dividenden................. 233 (2) Regressive Wirkung der Kombination von definiti­ ver Körperschaftsteuer und Halbeinkünfteverfahren - ein Fremdkörper im System der progressiven Ein­ kommensteuer............................................................ 237 (3) Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität der Gewinnverwendung.................................................. 240 bb) Vorteile der Gesetzesänderungen......................................... 241 c) Ergebnis........................................................................................ 242 II. Der besondere Steuersatz für beschränkt Körperschaftsteuer­ pflichtige gemäß § 23 Abs. 3 KStG a.F............................................ 242 1. Die Vorschrift des § 23 Abs. 3 KStG a.F. und Artt. 56 ff. EGV.... 243

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Inhaltsverzeichnis

a) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV.............................................................................243 b) Rechtfertigung durch die ’’Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV............................................................................... 244 c) ’’Schranken-Schranke” - Art. 58 Abs. 3 EGV........................... 245 aa) Kohärenz des Steuerrechts.................................................... 245 bb) Das Ausschüttungsverhalten ausreichend berücksichti­ gender ’’Mischsteuersatz”................................................247 d) Ergebnis........................................................................................248 2. Aufhebung des § 23 Abs. 3 KStG und Artt. 56 ff. EGV................ 248 B. Kapitalertragsteuer......................................................................................... 249 I. Die Kapitalertragsteuer im deutschen Einkommensteuergesetz............ 251 1. Die deutsche Kapitalertragsteuer des Steuerausländers und Artt. 56 ff. EGV............................................................................ 253 a) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV................... ......................................................... 255 b) Rechtfertigung durch die ’’Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV............................................................................... 256 c) ’’Schranken-Schranke” - Art. 58 Abs. 3 EGV............................ 257 aa) Vermeidung der Steuerhinterziehung.................................. 257 bb) Vermeidung technischer Schwierigkeiten für die Steuerverwaltung................................................................... 259 cc) Kohärenz des Steuerrechts.................................................... 260 d) Ergebnis zur deutschen Kapitalertragsteuer des Steuer­ ausländers............................................................................... 262 2. Die in- und ausländische Kapitalertragsteuer des Steuerin­ länders und Artt. 56 ff. EGV....................................................... 262 a) Kapitalertragsteuer auf Zinsen (Zinsabschlagsteuer)............... 263 b) Behandlung der ausländischen Kapitalertragsteuer.................. 267 aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV............................................................................ 268 (1) Anrechnungspflicht und Kapitalverkehrsfreiheit......... 269 (2) Anrechnungsformel und Kapitalverkehrsfreiheit......... 270 (a) Grenze des anteiligen'deutschen Einkommen­ steuerbetrages (ordinary credit)......................... 274 (b) Pro-Staat-Begrenzung (per-country-limitation)..... 277 bb) Ergebnis zur Behandlung der ausländischen Kapital­ ertragsteuer....................................................................... 278 3. Ergebnis............................................................................................... 279

Inhaltsverzeichnis

II. Der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission zur Zinsbe­ steuerung ............................................................................................ 279 1. Inhalt des RL-Vorschlags.................................................................. 280 a) Anwendungsbereich.................................................................... 281 aa) Persönlicher Anwendungsbereich........................................ 281 bb) Räumlicher Anwendungsbereich..........................................282 cc) Sachlicher Anwendungsbereich............................................ 283 b) Koexistenzmodell.........................................................................284 aa) System der Information.........................................................284 bb) System der Quellensteuer..................................................... 285 c) Verhandlungen mit Drittländern.................................................286 d) Umsetzung der Richtlinie........................................................... 287 2. Beitrag zur Verwirklichung der Kapitalverkehrsfreiheit und Harmonisierungswirkung auf die EU-Zinsbesteuerung.......... 287 a) Beitrag zur Kapitalverkehrsfreiheit - Richtlinienkompetenz der EU.......................................................................................... 287 b) Harmonisierungswirkung - Unstimmigkeiten des RL-Vorschlags...................................................................... 290 3. Folgen für den Kapitalertragsteuerabzug bei Steuerausländem in Deutschland.............................................................................. 293 a) Vorschriften des deutschen Steuerrechts....................................293 b) Regelungen der DBA mit den EU-Mitgliedstaaten................... 296 4. Ergebnis............................................................................................... 297 5. Änderungen für einen zukünftigen RL-Vorschlag aufgrund der jüngsten Schlußfolgerungen des ECOFIN-Rats..........................297

Kapitel 4: Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen.............................. 303 Literaturverzeichnis............................................................................................... 309

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Abkürzungsverzeichnis

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ABI. Abs. Abschn. a.F. Anm. Art. AStG Aufl. Bardiv. Bd. BFH BGBl. BStBl. BT-Drs. B. v. BVerfG bzw. ca. DBA d.h. Div.einkünfte ECOFIN-Rat EG EGV EK ESt EStG EU EuGH Fn. GG ggfHrsg. i.d.R. i.V.m. KSt KStG

Amtsblatt Absatz Abschnitt alter Fassung Anmerkung Artikel Außensteuergesetz Auflage Bardividende Band Bundesfinanzhof Bundesgesetzblatt Bundessteuerblatt Bundestags-Drucksache Beschluß vom Bundesverfassungsgericht beziehungsweise circa Doppelbesteuerungsabkommen das heißt Dividendeneinkünfte Europäischer Rat Wirtschaft und Finanzen Europäische Gemeinschaften EG-Vertrag Eigenkapital Einkommensteuer Einkommensteuergesetz Europäische Union Europäischer Gerichtshof Fußnote Grundgesetz gegebenenfalls Herausgeber in der Regel in Verbindung mit Körperschaftsteuer Körperschaftsteuergesetz

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max. m.w.N. n.F. Nr. OECD-MA Rdnr. Rz. S. S. Sig. steuerpfl. StSenkG u.a. Urt. v. vgl. z.B.

Abkürzungsverzeichnis

maximal mit weiteren Nachweisen neuer Fassung Nummer OECD-Musterabkommen Randnummer Randziffer (bei EuGH-Entscheidungen) Seite (bei Fundstellen) Satz (in Gesetzesangaben) Sammlung steuerpflichtig Steuersenkungsgesetz unter anderem Urteil vom vergleiche zum Beispiel

Einleitung

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Kapitel 1: Einleitung Der Kapitalverkehr innerhalb der Europäischen Union (EU) hat mit dem Eintrit in die Währungsunion am 1. Januar 1999 weiter an Attraktivität gewonnen. Auf grund des durch die Euro-Einführung bedingten Wegfalls der Wechselkurs Schwankungen zwischen einem Großteil der EU-Währungen ist die grenzüber schreitende Kapitalanlage innerhalb der Union nicht länger mit dem Risiko teil weiser Gewinneinbußen durch den Wertverlust der Anlagewährung verbunden Daher wird der EU-inteme Kapitalverkehr zunehmen, und der bereits mit den Maastricht-Vertrag im Jahr 1993 auf primärrechtlicher Ebene festgeschriebener Freiheit des Kapitalverkehrs kommt eine wachsende Bedeutung zu. Schon vor dei Euro-Einfuhrung stammten im ersten Halbjahr 1998 in Deutschland 90% de! ausländischen Anlagekapitals aus EU-Ländern, während fast 62 % der deutscher Direktinvestitionen in die EU flossen1. Diese Zahlen dokumentieren die Rolle, die der EU-inteme Kapitalverkehr für Deutschland im Rahmen der internationaler Kapitalströme spielt.

Die Investitionsentscheidung mit dem Ziel der optimalen Anlage des Kapital! wird durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt, die eine Investition behinderr oder begünstigen können (z.B. Rechtsordnung und -Sicherheit im Anlageland Ausgestaltung der Kapitalanlage hinsichtlich Risiko und Ertragsaussichten) Aufgrund des Wegfalls des Wechselkursrisikos mit der Euro-Einfuhrung hat da! Steuerrecht der EU-Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewonnen. Die Besteuerung der Kapitalanlagen mit ihrer ertragsmindemder Wirkung beeinflußt die Kapitalbewegungen innerhalb des Binnenmarktes in er­ heblicher Weise. Andererseits findet sich im EG-Vertrag (EGV) keine eindeutige die EU berechtigende Kompetenz zur Harmonisierung der direkten Steuern2, sc daß die Ausgestaltung des Steuerrechts in dieser Hinsicht weitgehend in dei alleinigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleibt, die dies als essentieller Bestandteil ihrer souveränen Finanzpolitik betrachten. Während Art. 93 EGV eir Harmonisierungsgebot für die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und füi sonstige indirekte Steuern normiert, ’’soweit diese Harmonisierung für die ErVgl. Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums vom 06.09.1998, zitiert nach der Frankfurter Allgemeine! Zeitung vom 09.09.1998, S. 13. Vgl. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, S. 51 ff. Rdnr. 3.62; zu den Schwierigkeiten der Harmonisie rung der Untemehmensbesteuerung in Europa: Lang, Besteuerung der Unternehmen in Staaten der Europäi sehen Union, in: Lang (Hrsg.), Untemehmensbesteuerung in EU-Staaten, S. 295 ff.; Wiedow, Steuerharmoni sierung bei den direkten Steuern: Stand, Perspektiven, Auswirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen, in Lehner/Thömmes u.a., Europarecht und Internationales Steuerrecht, S. 45 ff.

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Einleitung

richtung und das Funktionieren des Binnenmarktes ... notwendig ist”, findet sich für die Harmonisierung der direkten Steuern keine vergleichbare Bestimmung. Im Gegenteil nimmt Art. 95 Abs. 2 EGV die Bestimmungen über die Steuern aus­ drücklich aus dem vereinfachten Beschlußverfahren nach Artt. 95 i.V.m. 251 EGV aus, so daß nur der einstimmige Ratsbeschluß nach Art. 94 EGV für ihren Erlaß in Betracht kommt. Lediglich in Art. 293 Teilstrich 2 EGV, der die Mit­ gliedstaaten zur Einleitung von Verhandlungen zur Beseitigung der Doppelbe­ steuerung innerhalb der Gemeinschaft verpflichtet, findet sich ein Hinweis auf die direkten Steuern, da sie bei Erhebung auf dieselben Einkünfte durch zwei Fisci die Doppelbesteuerung bedingen.

Trotz dieser Situation einer fehlenden eindeutigen Harmonisierungskompetenz der EU auf dem Gebiet der direkten Steuern und der lediglich bestehenden all­ gemeinen Ermächtigung in Art. 94 EGV3 unterliegen die Vorschriften der Mit­ gliedstaaten zu den direkten Steuern einem europarechtlichen Rechtmäßig­ keitsmaßstab. Die Regelungen des Steuerrechts müssen mit dem Gemeinschafts­ recht und somit vor allem mit den Grundfreiheiten des EG-Vertrages zu verein­ baren sein4. Kraft ihrer unmittelbaren innerstaatlichen Wirkung mit Vorrang je­ denfalls vor einfachem Gesetzesrecht nehmen die Grundfreiheiten auf das Steuer­ recht der Mitgliedstaaten unmittelbar Einfluß. Die steuerrechtlichen Vorschriften, die grenzüberschreitende Kapitalanlagen betreffen, sind daher an der in den Artt. 56 ff. EGV geregelten Kapitalverkehrsfreiheit zu messen. Bei dem Rechtmäßig­ keitsmaßstab der Kapitalverkehrsfreiheit stößt man jedoch auf eine Besonderheit, die sie von allen anderen Grundfreiheiten unterscheidet. Das Steuerrecht der Mitgliedstaaten wird in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV ausdrücklich als mögliche Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit berücksichtigt. Die Norm regelt die im Rahmen dieser Grundfreiheit geltende, begrenzte5 Zulässigkeit der ’’einschlägigen Vorschriften [des mitgliedstaatlichen] Steuerrechts, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln". Auf diese Weise wird das Steuerrecht in im EGV einmaliger Weise im Normengefüge einer Grundfreiheit verankert. Die Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV schränkt die in Art. 56 Abs. 1 EGV statuierte Freiheit des Kapitalverkehrs ein, indem sie bestimmte mitgliedstaatliche Steuemormen für zulässig erklärt. 3

4

5

Vgl. Matzka, Das österreichische Steuerrecht im Lichte der Freiheit des Kapital Verkehrs, 1998, S. 23; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, S. 51 ff. Rdnr. 3.62; siehe auch Sondervorschrift für Steuerrecht in Art 95 Abs. 2 EGV. Vgl. u.a. EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 257 Rz. 21 (Schumacker); Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-118/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1925 Rz. 21 (Safir). Vgl. Art 58 Abs. 3 EGV.

Einleitung

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Dies wirft die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehende Frage auf, inwieweit das mitgliedstaatliche Steuerrecht eine ’’Schranke” der Freiheit des Kapitalverkehrs darstellen kann. Die so definierte Problemstellung impliziert sowohl die Untersu­ chung des ”Schranken’’-Charakters des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, als auch dei Reichweite der ’’Schranke”, die möglicherweise in Art. 58 Abs. 3 EGV ihre Gren­ zen findet. Das erste Ziel dieser Arbeit ist es, zum besseren Verständnis des Art. 58 EGV als für das Ausmaß der Kapitalverkehrsfreiheit zentrale Vorschrift beizutragen. Die Beleuchtung der Norm soll sie von der Kritik entlasten, die sie bereits vor ihrem Inkrafttreten als "Zeichen für politische Unkultur’’6 bezeichnete Die Untersuchung ist darauf ausgerichtet, den in der Vorschrift angesprochener Zusammenhang zwischen Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit genauei aufzuklären und so diese Grundfreiheit insgesamt zu erhellen, zu der die Recht­ sprechung des EuGH - trotz Konkretisierungsbedarfs gerade zu Art. 58 EGV7 ■ noch ”in den Kinderschuhen steckt”8.

Die bisher im Vergleich zu den anderen Grundfreiheiten geringe EuGH-Rechtsprechung zur Kapitalverkehrsfreiheit erklärt sich daraus, daß die primärrechtli­ che Liberalisierung des Kapitalverkehrs erst mit dem Inkrafttreten des MaastrichtVertrages geregelt wurde. Vor diesem Zeitpunkt fanden sich die Bestimmunger zum freien Kapitalverkehr in den Artt. 67 - 73 des EG-Vertrages. Durch Art. 61 Abs. 1 EGV wurde den Mitgliedstaaten im Bereich des Kapitalverkehrs in Gegensatz zu den anderen Grundfreiheiten nur eine bedingte Liberalisie­ rungspflicht9 auferlegt, die schrittweise durch Richtlinien des Rates konkretisier! werden sollte. Erst im Jahr 1988 trat in diesem Bereich die KapitalverkehrsRichtlinie10 in Kraft, welche die grundsätzliche Freiheit des Kapitalverkehrs zwi­ schen den Gebietsansässigen in den Mitgliedstaaten vorsah. Diese auf der Ebene des Sekundärrechts geregelte Liberalisierung wurde später durch die Einfügung der Artt. 73 a bis h in den EG-Vertrag11 im Zuge des Vertrages von Maastricht au! primärrechtlicher Ebene übernommen. Bis dahin billigte der EuGH aufgrund dei

6 7

8 9 10 11

So Rädler, Vorstellungen des EG-Sachverständigenausschusses zur Untemehmensbesteuerung (Ruding-Aus schuß), in: Herzig (Hrsg.), Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme in den EU-Staaten, S. 1,3. Vgl. Seidel, Recht und Verfassung des Kapitalmarktes als Grundlage der Währungsunion, in: Gedächtnis Schrift Grabitz, S. 763,772. Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 26. Vgl. "Soweit es für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist,...” in Art. 67 Abs. 1 EGV. ABI. EG 1988 Nr. L 178, S.5. Jetzt Art. 56-60 EGV.

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Einleitung

eingeschränkten Liberalisierungspflicht nach Art. 67 Abs. 1 EGV a.F. der Kapitalverkehrsfreiheit keine unmittelbare Wirkung zu12.

Der EuGH hat Mitte letzten Jahres zu einigen entscheidenden Fragen, die in dieser Arbeit untersucht werden, im Rahmen seiner “Verkooijen“-Entscheidung Stellung genommen13. Das Urteil erging drei Monate nach Fertigstellung und Ein­ reichung dieser Arbeit. Es findet jedoch im Rahmen der Veröffentlichung inso­ weit Berücksichtigung als der Überblick über die EuGH-Rechtsprechung in Ka­ pitel 2 Teil B um das “Verkooijen“-Urteil erweitert wird. Darüber hinaus wird bei der Erörterung bestimmter Fragen auf ihre inhaltsgleiche oder aber abweichende Beurteilung durch den EuGH hingewiesen.

Das zweite Ziel der Arbeit besteht darin, die deutschen Vorschriften zur Körper­ schaftsteuer und zur Kapitalertragsteuer, die den grenzüberschreitend agierenden Kleinanleger14 betreffen, auf ihre Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit zu untersuchen. Hier soll die besondere Bedeutung des Art. 58 EGV für die Europa­ rechtmäßigkeit von kapitalverkehrsbezogenen Steuervorschriften der Mit­ gliedstaaten nachgewiesen werden. Die Europarechtstauglichkeit des deutschen Körperschaftsteuersystems wurde wegen des ihm zugrundeliegenden Anrech­ nungsverfahrens bereits seit einiger Zeit bezweifelt15. So wurde das grundsätzlich nur noch im Jahr 2001 geltende körperschaftsteuerliche Vollanrechnungs­ verfahren in den ’’Brühler Empfehlungen zur Reform der Untemehmensbesteue­ rung”, die die Grundlage des zum 01.01.2001 in Kraft getretenen sogenannten Steuersenkungsgesetzes16 bilden, in These II. 1. als '’europarechtlich bedenklich” eingestuft17. Es gibt daher einigen Aufklärungsbedarf über die Europa­ rechtstauglichkeit des deutschen Körperschaftsteuersystems. Neben dieser Pro­ blematik wirft für den grenzüberschreitend agierenden Kapitalanleger auch die auf seine Kapitaleinkünfte erhobene Kapitalertragsteuer einige Fragen zur Ver­ einbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit auf, die einer eingehenden Untersu­ chung bedürfen.

12 13 14 15 16 17

Vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.1981, Rs. 203/80, Sig. 1981, S. 2595, 2614 Rz. 10 f. (Casati); Urt. v. 31.01.1984, verb. Rs. 286/82 und 26/83, Sig. 1984, S. 377,405 Rz. 30 (Luisi und Carbone). EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720 ff. Vgl. Begründung für die Beschränkung auf den Kleinanleger: Einleitung zu Kapitel 3. Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505. Gesetz vom 23.10.2000, BGBl. 2000 I, S. 1433. Vgl. Abdruck der ’’Brühler Empfehlungen" in FR 1999, S. 580, 581.

Einleitung

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Der Gang der Untersuchung zur Erreichung der formulierten Ziele gestaltet sich folgendermaßen: Der Hauptteil gliedert sich in einen europarechtlichen Abschnitt (Kapitel 2), in dem Art. 58 EGV als zentrale Norm für die Reichweite der Kapital­ verkehrsfreiheit beleuchtet wird, und einen durch das deutsche Steuerrecht und das Europarecht bestimmten Abschnitt (Kapitel 3), in dem die deutschen Vorschriften zur Körperschaft- und Kapitalertragsteuer auf ihre Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit untersucht werden. Das Kapitel 2 teilt sich in die Betrachtung der Systematik des Art. 58 EGV (Teil A) und die Anwendung der Norm in der EuGH-Rechtsprechung (Teil B) auf. Dabei legt Teil A durch die Beleuchtung des Art. 58 EGV in seinem Verhältnis zur Schutznorm des Art. 56 EGV und in seiner inneren Systematik den Grundstein für die nachfolgenden Un­ tersuchungen in Teil B und Kapitel 3. Zunächst wird in Teil B das entwickelte Verständnis des Art. 58 EGV für eine kritische Betrachtung der bisherigen EuGHRechtsprechung zu kapitalverkehrsrelevanten Steuervorschriften und eine erneute Prüfung der zugrundeliegenden Sachverhalte am Maßstab der Kapital­ verkehrsfreiheit genutzt.

In Kapitel 3 bilden dann die deutschen Vorschriften zur Körperschaft- und Kapi­ talertragsteuer die Grundlage der auf die Kapitalverkehrsfreiheit ausgerichteten Untersuchung. Es wird die Situation eines grenzüberschreitend agierenden Kleinanlegers untersucht, der sowohl als Steuerinländer als auch als Steueraus­ länder von den deutschen Normen zur Körperschaft- und Kapitalertragsteuer betroffen sein kann. Bei der Beleuchtung des Körperschaftsteuersystems wird in Abschnitt A. I. neben der schwerpunktmäßigen Betrachtung der grundsätzlich noch im Veranlagungszeitraum 2001 geltenden Rechtslage (Teil 1) auch die steuerrechtliche Situation nach dem Steuersenkungsgesetz (Teil 2) erörtert, um bereits einen Ausblick auf die Änderungen zu geben. In Abschnitt A. II. wird dar­ über hinaus aus dem Anlaß des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/200218 der besondere Steuersatz für beschränkt Körperschaftsteuerpflichtige gern. § 23 Abs. 3 KStG a.F. im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit untersucht. Der zweite Teil des Kapitels 3 ist kapitalertragsteuerlichen Vorschriften gewidmet, die einen Bezug zur Kapitalverkehrsfreiheit aufweisen (Abschnitt B. I.). Im Bereich der Kapitalertragsteuer gibt es auf europarechtlicher Ebene seit dem 4. Juni 1998 einen Richtlinienvorschlag der EU-Kommission zur Gewährleistung eines Minimums an effektiver Besteuerung von Zinserträgen innerhalb der Ge­ meinschaft19. Dieser wird in Abschnitt B. II. im Hinblick auf seinen Beitrag zur 18 19

BGBl. 19991, S. 402 ff. ABI. EG Nr. C 212 v. 08.07.1998, S. 13 ff; KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS) mit Begründung und Erläuterungen der Kommission.

26

Einleitung

Verwirklichung der Kapitalverkehrsfreiheit und seine Harmonisierungswirkung sowie seine Folgen für den deutschen Kapitalertragsteuerabzug bei Steueraus­ ländem erörtert (Abschnitt B. IL).

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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Kapitel 2: Art. 58 EGV - Systematik und An­ wendung in der Rechtsprechung Bevor mit der Untersuchung der bisherigen EuGH-Rechtsprechung zu kapital­ verkehrsbezogenen Steuemormen und ausgewählter deutscher Steuervorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit20 begonnen werden kann, muß zunächst der Inhalt der Vorschrift des Art. 58 EGV und ihre Rolle im System der Kapitalverkehrsfreiheit dargestellt werden. Erst durch die Klärung verschiede­ ner umstrittener Fragen in diesem Bereich läßt sich ein Verständnis des Art. 58 EGV entwickeln, das ihn als Prüfungsmaßstab auf die genannten EuGH-Sachverhalte und die deutschen Steuervorschriften anwendbar macht. Die Arbeit ist in den grundlegenden Ausführungen zur Kapitalverkehrsfreiheit vorrangig auf die mögliche Beeinträchtigung der Grundfreiheit durch mitgliedstaatliche Steuemormen ausgerichtet. Umfassende Untersuchungen der Kapitalver­ kehrsfreiheit, die jedoch dem Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Steuerrecht eher geringe Aufmerksamkeit widmeten, wurden bereits von anderer Seite geleistet21. Es werden daher hier die bereits gewonnenen Ergebnisse unter Berücksichtigung der neuen umfangreichen Literatur und Rechtsprechung einer eigenen Stellungnahme zugrundegelegt, die ein Prüfungsschema zur Untersuchung von Steuemormen im Lichte der Kapitalverkehrsfreiheit liefert.

20

21

Auf die Untersuchung der Zahlungsverkehrsfreiheit wird nachfolgend aus drei Gründen verzichtet Erstens geht der Zahlungsverkehr, aufgrund seiner Definition als Übertragung von Geldmitteln zur rechtsgeschäftli­ chen Erfüllung einer Schuld (vgl. Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art 73 b Rdnr. 2), meist mit dem Austausch von Waren oder Dienstleistungen einher, so daß die Bedeutung der Zahlungsverkehrsfreiheit hinter die Waren­ oder Dienstleistungsfreiheit zurücktritt. Zweitens ist der Zahlungsverkehr gern. Art. 56 Abs. 2 EGV in gleicher Weise liberalisiert wie der Kapitalverkehr, so daß die hier gewonnenen Erkenntnise zur ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit auch für die Zahlungsverkehrsfreiheit gelten. Drittens weist das hier im Mittelpunkt stehende Recht der direkten Steuern vorrangig einen Bezug zur Kapitalverkehrsfreiheit auf, wogegen sein Verhältnis zur Zahlungsverkehrsfreiheit zu vernachlässigen ist Honrath, Umfang und Grenzen der Freiheit des KapitalVerkehrs: Die Möglichkeiten zur Einführung einer Devisenzwangsbewirtschaftung in der Europäischen Union, 1998; Kimms, Die Kapitalverkehrsfreiheit im Recht der europäischen Union, 1996; jüngst sehr ausführlich zu allen Aspekten J.C.W. Müller, Kapitalver­ kehrsfreiheit in der Europäischen Union, 2000.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Im Mittelpunkt der Untersuchung werden die beiden folgenden Vorschriften des EGV stehen:

Art 56 EGV [Freier Kapital- und Zahlungsverkehr]

(1) Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mit­ gliedstaaten und dritten Ländern verboten.

Art 58 EGV [Einzelstaatliche Beschränkungen]

(1) Artikel 56 berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten,

a) die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlage­

ort unterschiedlich behandeln, b) die unerläßlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen ge­

gen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, insbesonde-

dere auf dem Gebiet des Steuerrechts ..., zu verhindern,...

(2) Dieses Kapitel berührt nicht die Anwendbarkeit von Beschränkungen des Niederlassungsrechts, die mit diesem Vertrag vereinbar sind.

(3) Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Maßnahmen und Verfahren dür­ fen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschlei­ erte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs im Sinne des Artikels 56 darstellen.

Das Steuerrecht der Mitgliedstaaten findet in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV durch die Anwendbarkeit der ’’einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts, die Steuer­ pflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln”, Berücksichtigung. Daneben steht den Mitgliedstaaten nach Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV das Recht zu, die unerläßlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Vorschriften des Steuerrechts zu

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

29

verhindern22. Diese Aufnahme des Steuerrechts in die Vorschriften der Kapital­ verkehrsfreiheit stellt im Regelungssystem der Grundfreiheiten eine interessante Neuheit dar. Bis zum Maastricht-Vertrag wurde das Steuerrecht in keine der Normierungen einer Grundfreiheit ausdrücklich aufgenommen. Der Stellenwert dieser erst- und einmaligen Aufnahme in Art. 58 Abs. 1 EGV wird deutlich, wenn man die sonstige europarechtliche Regelung direkter Steuern vor Augen hat. Aufgrund der beschränkten Möglichkeiten der Harmonisierung der direkten Steuern auf europäischer Ebene23 kommt den Grundfreiheiten des EGV für die gerichtliche Überprüfung direkter Steuern bei grenzüberschreitenden Sachver­ halten eine bedeutende Rolle zu24. Dies dokumentiert die mittlerweile umfang­ reiche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur direkten Besteuerung durch die verschiedenen Mitgliedstaaten25. Die Berücksichtigung des Steuerrechts im System einer Grundfreiheit kann daher großen Einfluß auf die zukünftige Rechtsprechung zu steuerrechtlichen Sachverhalten haben, bei denen die Kapitalverkehrsfreiheit berührt wird. Trotz fehlender Rechtsetzungs­ kompetenz erhält die EU damit über den EuGH Einfluß auf das Recht der direkten Steuern in den Mitgliedstaaten26. Angesichts dieser Situation gebührt der Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV eine intensive Betrachtung, die sich mit dem ’’Eindringen” des Steuerrechts in eine Grundfreiheit auf der Ebene des EGVertrages und den Folgen für die zukünftige Rechtsprechung zur Kapitalverkehrs­ freiheit beschäftigt. Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV, der den Mitgliedstaaten das Recht einräumt, die unerläßlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Vorschriften des Steuerrechts zu verhindern, wird ebenfalls erörtert27. Seine Betrachtung erfolgt jedoch kurz und unabhängig von seiner Wechselwirkung zu Artt. 56 Abs. 1 und 58 Abs. 3 EGV, da er nur die mitgliedstaatlichen Maßnahmen zur Verhinderung des Verstoßes gegen 22 23

24 25

26

27

Vgl. dazu später Kapitel 2 A. III. Vgl. Honrath, C. II. 3. a) aa), S. 81; Kimms, Erster Teil IX. 4. d), S. 93 ff.; Matzka, österreichisches Steuer­ recht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 21 ff.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, S. 5 Iff, Rdnr. 3.62. Vgl. Nachweise in Fn. 4. Vgl. EuGH, Urt. v. 26.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273 ff. (avoir fiscal); Urt v. 08.05.1990, Rs. C175/88, Sig. I 1990, S. 1779 ff. (Biehl); Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 ff. (Bachmann); Urt. v. 26.01.1993, Rs. C-l 12/91; Sig. I 1993, S. 429 ff. (Werner); Urt. v. 03.07.1993, Rs. C-390/91, Sig. I 1993, S. 4017 ff. (Commerzbank); Urt. v. 12.04.1994, Rs. C-l/93, Sig. I 1994, S. 1137 ff. (Halliburton); Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225 ff. (Schumacker); Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493 ff. (Wielockx); Urt. v. 27.06.1996, Rs. C-107/94, Sig. I 1996, S. 3089 ff. (Asscher); Urt. v. 15.05.1997, Rs. C-250/95, Sig. I 1997, S. 2471 ff. ;Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897 ff. (Safir); Urt. v. 12.05.1998, Rs. C-336/96, Sig. I 1998, S. 2793 ff. (Gilly). Vgl. zur Zuständigkeit des EuGH in steuerrechtlichen Sachverhalten, denen handelsbilanzrechtliche Vorfragen zugrundeliegen: Schulze-Osterloh, ZGR 1995, S. 171, 177 f.; ders., DStZ 1997, S. 281, 285 f; kritisch zu dem Entscheidungsstil und zu der mangelnden Spezialisierung des EuGH: Schulze-Osterloh, ZIP 1996, S. 1453, 1456 f. Vgl. Kapitel 2 A. III.

30

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Steuemormen zuläßt, die gegenüber diesen Vorschriften auf einer sekundären, d.h. ihre Durchsetzung sichernden28, Ebene angesiedelt sind. Während durch die Bestimmungen des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, der Diskriminierungen auf dem Ge­ biet des Kapitalverkehrs aus steuerlichen Gründen zuläßt, materielles Recht ge­ setzt wird, geht es bei Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV um flankierende Maßnahmen (wie Kontrollmaßnahmen) zur Gewährleistung der materiellen Vorschriften des Steu­ errechts der Mitgliedstaaten29. Die Ergebnisse zu Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gelten jedoch ebenfalls für die sogenannte Rechtsbruchverhinderungsklausel des Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV.

A. Systematik des Art. 58 EGV Die folgende Betrachtung der Systematik des Art. 58 EGV gliedert sich in drei Bereiche. Es wird zuerst die Relevanz der Vorschrift im Regelungskomplex der Kapitalverkehrsfreiheit untersucht30, wobei dies eine Auseinandersetzung mit dem Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit voraussetzt. Nach dieser Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Schutzbereich des Art. 56 EGV und seiner ’’Schranke” in Art. 58 EGV wird die innere Systematik der ’’Schranke” be­ leuchtet31. Schließlich wird auf die sogenannte Rechtsbruchverhinderungsklausel des Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV eingegangen.

I.

"Schutzbereich-Schranken-Verhältnis" zwischen Art. 56 und Art. 58 EGV

Die steuerrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten haben einen starken Ein­ fluß auf die erwerbswirtschaftliche Betätigung in der Europäischen Union. Daher wurden in der Vergangenheit bei grenzüberschreitenden Sachverhalten verstärkt die Grundfreiheiten des EG-Vertrages zur Erreichung einer gerichtlichen Über­ prüfung von mitgliedstaatlichen Steuemormen herangezogen32 - ein Weg, der auch in Zukunft noch häufiger beschritten werden wird. Für den Kapitalanleger in der Europäischen Union, der sich durch steuerrechtliche Vorschriften eines Mit­ 28 29 30 31 32

Vgl. Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 22: “Die unerläßlichen Maßnahmen gegen Zuwiderhandlungen sollen anderen Rechtsnormen zum Durchbruch verhelfen; So Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art 73 d Rdnr. 23. Erörterung erfolgt aus dem gerade geschilderten Grund beschränkt auf Art 58 Abs. 1 lit. a EGV. Beschränkung auf Art. 58 Abs. 1 lit a EGV, vgl. Fn. 30. Vgl. Fn. 25.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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gliedstaates in seiner Investitionsentscheidung behindert fühlt, ist zunächst der Geltungsbereich der europarechtlichen Kapitalverkehrsfreiheit von besonderem Interesse, der nachfolgend parallel zur deutschen Grundrechtsdogmatik als ’’Schutzbereich” bezeichnet wird. Danach stellt sich für ihn die Frage nach den Grenzen der Grundfreiheit, also den ’’Schranken” i.S.d. Grundrechtsdogmatik. Für die hier untersuchten steuerrechtlichen Vorschriften bedeutet dies die Unter­ suchung von Inhalt und Wirkung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV.

1.

Art. 56 Abs. 1 EGV - Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit ’’Schutzbereich”

Für die Heranziehung des Art. 56 Abs. 1 EGV als ’’Schutznorm” gegen mitglied­ staatliche Steuervorschriften ist sein sachlicher und personeller Geltungsbereich ausschlaggebend. Ersterer wird durch die Fragen nach der Definition des Kapital­ verkehrs, der Reichweite des Begriffs der ’’Beschränkungen” i.S.d. Norm und der Stellung dieser Grundfreiheit zu den anderen bestimmt. Der personelle Geltungs­ bereich legt fest, welche persönlichen Voraussetzungen für die Eröffnung der Kapitalverkehrsfreiheit erfüllt sein müssen.

a)

Sachlicher Geltungsbereich

aa) Definition des ’’Kapitalverkehrs” Der Terminus ’’Kapitalverkehr” wird weder in den alten Regelungen der Artt. 67 ff. EWGV33 noch in den neuen Bestimmungen der Artt. 56 ff. EGV defi­ niert34. Die Vorstellung der Vertragsparteien vom ’’Kapitalverkehr” läßt sich aller­ dings der Nomenklatur zu den Kapitalverkehrs-Richtlinien35 entnehmen. Im An­ hang zur Richtlinie werden beispielhaft36 Transaktionen aufgelistet, die unter die Kapitalverkehrsfreiheit fallen. Die Kapitalverkehrs-Richtlinie37 wurde durch den 33

34 35 36

37

Bestimmungen gern. Art 73 a EGV mit dem Maastricht-Vertrag außer Kraft gesetzt; mittlerweile durch den Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997, Gesetz vom 8. April 1998, BGBl. II S. 386, aus dem Vertragstext ge­ strichen. Zum Hintergrund Kimms, Zweiter Teil I.2.c), S. 146 f. Zuletzt Anhang I der Richtlinie 88/361 des Rates vom 24.6.1988 zur Durchführung von Art. 67 EWGV, ABI. EG 1988 Nr. L 178, S.5. Hahn/Follak, Kapital- und Zahlungsverkehr, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Kapitel F.II Rdnr. 6; Kiemel, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (G/T/E), EGV, Art. 73 b Rdnr. 2; Ohler, WM 1996, S. 1801; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 7. ABI. EG 1988 Nr. L 178, S. 5.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Maastricht-Vertrag nicht aufgehoben; ihr kommt daher eine fortbestehende Be­ deutung zu. Sie gilt weiterhin als Interpretationsgrundlage zur Erfassung und Klassifizierung des Kapitalverkehrs, soweit sie nicht gegen die vorrangigen Artt. 56 ff. EGV verstößt33.

Der EuGH hat in seiner bisherigen kapitalverkehrsbezogenen Rechtsprechung auf eine umfassende Definition des Terminus ’’Kapitalverkehr” verzichtet und sich statt dessen auf einzelfallorientierte Beiträge zu seiner Abgrenzung beschränkt39.

Dagegen wird in der Literatur vielfach versucht, eine Definition des Kapitalver­ kehrs zu liefern. Nach herrschender Auffassung ist Kapitalverkehr die einseitige Wertübertragung in Form von Sach- oder Geldkapital, die regelmäßig zugleich eine Vermögensanlage darstellt40.

Diese Definition ist auf Kritik gestoßen, die sich an der ’’Einseitigkeit” der Wert­ übertragung stört41. Die Autoren verweisen darauf, daß aufgrund des Zinsrück­ flusses bzw. des Erwerbs eines Grundstücks- oder Anteilseigentums auch beim Kapitalverkehr eine zweiseitige Wertübertragung vorliege.

Diese Kritik ist angesichts des juristischen Verständnisses von dem Begriff "ein­ seitig” nachvollziehbar. Sie verkennt jedoch das Ziel dieser Begriffswahl, die eine Abgrenzung zum Waren- und Dienstleistungsverkehr ermöglichen soll. Darauf ausgerichtet liegt der ’’Einseitigkeit” offenbar mehr ein wirtschaftliches, als ein juristisches Verständnis zugrunde. Zudem erfolgt diese wirtschaftliche Betrach­ tung im Hinblick auf das Interesse der agierenden Person. Aus der wirtschaftli­ chen Sicht des Kapitaltransferierenden kann der Begriff der ’’einseitigen Wert­ übertragung” eine überzeugende Abgrenzung zwischen Kapitalverkehr und Wa38

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40

41

EuGH, Urt v. 16.03.1999, Rs. C-222/97, noch nicht in der amtlichen Sammlung, Rz. 21 (Trümmer-Mayer); Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EGV, Art. 56 Rdnr. 9; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art 73 b Rdnr. 2; Ohler, WM 1996, S. 1801; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 a Rdnr. 4. EuGH, Urt. v. 11.11.1981, Rs. C-203/80, Sig. 1981, S. 2595 ff. (Casati); Urt v. 31.01.1984, Rs. C-286/82 u. 26/83, Sig. 1984, S. 377 ff. (Luisi und Carbone); Urt v. 24.06.1986, Rs. C-l57/85, Sig. 1986, S. 2013 ff. (Brugnoni/Ruffinengo); Urt. v. 14.07.1988, Rs. C-308/86, Sig. 1988, S. 4369 ff. (Lambert); Urt v. 23.02.1995, Rs. C-358/93 u. C-416/93, Sig. I 1995, S. 361 ff. (Bordessa). Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EGV, Art. 56 Rdnr. 9; Hahn/Follak, Kapital- und Zahlungsverkehr, Kapitel F.II, Rdnr. 6; Kiemel, in: G/T/E, EGV Art. 67 Rdnr. 1; Ress, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 67 Rdnr. 10; Ress/Ukrow, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtigkeit S. 24; R.H. Weber, in: Lenz, EGV, Art. 56 Rdnr. 5. Freitag, EWS 1997, S.186, 187; Ohler, WM 1996, S. 1801, 1805; Seidel, Rechtliche Grundlagen eines ein­ heitlichen Kapitalmarktes in der EG, FS Lukes, S. 575, 578.

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ren- und Dienstleistungsverkehr ermöglichen. Im Falle des Waren- oder Dienst­ leistungsverkehrs steht bei wirtschaftlicher Betrachtung die direkte Realisierung der Gegenleistung, also die Zweiseitigkeit der Wertübertragung, im Vordergrund. Dagegen kommt es aus ökonomischer Sicht des Kapitaltransferierenden beim Kapitalverkehr auf die Kapitalanlage selbst als Möglichkeit der Kapitalnutzung an, also z.B. auf die Erlangung des Grundstücks- oder Anteilseigentums als notwendige Voraussetzung der angestrebten Gegenleistung. Der Zweck der Ka­ pitalanlage, d.h. Wertsteigerung, Zins- oder Dividendenrückfluß, wird sich dagegen für den Kapitalanleger erst zukünftig, aber nicht unmittelbar mit der Kapitalübertragung realisieren. So zeigt sich, daß die ’’Einseitigkeit der Wertübertragung” als Abgrenzungskriterium eine nicht zu verkennende Bedeu­ tung hat.

Der Begriff bleibt jedoch angesichts des klassischen juristischen Verständnisses von ’’Einseitigkeit” ungünstig gewählt, da man die angestrebte Abgrenzung besser durch die vorrangige Kapitalnutzung (Kapitalverkehr) bzw. durch das vorrangige Erlangen einer direkten, den Zweck des Zahlungsflusses unmittelbar rea­ lisierenden Gegenleistung (Waren-/Dienstleistungsverkehr) durchfuhren kann42. Es wird daher als Ergebnis hier folgende Definition vorgeschlagen:

’’Kapitalverkehr ist die aus wirtschaftlicher Sicht vorrangig auf Kapitalnut­ zung, nicht auf direkte Gegenwertrealisierung gerichtete Übertragung von Sach- oder Geldkapital.”

bb) Begriff der Beschränkungen Für den Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit kommt dem Begriff der "Be­ schränkungen” in Art. 56 Abs. 1 EGV eine bedeutende Rolle zu. Neben der Kapi­ talverkehrsdefinition eröffnet oder verwehrt er den Zugang zu dieser europarecht­ lichen "Schutznorm”.

Die Wirkung des hier untersuchten Steuerrechts auf Kapitalanlageentscheidungen eines EU-Bürgers ist leicht ersichtlich: der Bürger wird sich immer an der steuerlichen Behandlung seiner Einkünfte orientieren und bei Vergleichbarkeit der anderen entscheidungslenkenden Faktoren die Kapitalanlage mit der gering­ 42

Ähnlich Freitag, EWS 1997, S. 186, 187.

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sten steuerlichen Belastung bevorzugen. Angesichts dieses Interesses kommt der europarechtlichen Überprüfbarkeit von direkten Steuemormen am Maßstab der Artt. 56 ff. EGV eine besondere Bedeutung zu. Diese Möglichkeit ist aber nur eröffnet, wenn Steuervorschriften Beschränkungen des Kapitalverkehrs i.S.d Art. 56 Abs. 1 EGV darstellen können.

Der EGV selbst enthält keinen Hinweis darauf, was unter ’’Beschränkungen” des Kapitalverkehrs zu verstehen ist. Sinn und Zweck des Vertrages gebieten es, den Begriff weit auszulegen, um Art. 56 EGV zur vollen Wirksamkeit (effet utile) zu verhelfen.

(1) Definition in der Literatur

In der Literatur wird das Verbot des Art. 56 EGV so verstanden, daß jede Be­ schränkung des grenzüberschreitenden Transfers von Kapital, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Kapitalinhaber oder -geber und unabhängig von einer gleichartigen Behinderung inländischer Kapitalbewegungen, untersagt wird43. Die ’’Beschränkung” umfaßt als Unterfall die Diskriminierung44, die nach ständiger Rechtsprechung des EuGH vorliegt, wenn zwei vergleichbare Sachverhalte zum Nachteil des einen unterschiedlich behandelt werden oder zwei nicht vergleich­ bare Sachverhalte zum Nachteil des einen gleich behandelt werden45. Die vor dem Maastricht-Vertrag bestehende Unterscheidung in Art. 67 Abs. 1 EGV a.F. zwi­ schen Beschränkungen des Kapitalverkehrs und Diskriminierungen wird durch Art. 56 Abs. 1 EGV46 aufgegeben, nachdem die Diskriminierungen schon unter Art. 67 Abs. 1 EGV a.F. nur als wichtigste Kategorie von Beschränkungen und nicht als von den Beschränkungen gesonderte Verhaltensweise einzuordnen waren47.

In der Literatur hat sich für den Umfang der verbotenen Beschränkungen ein be­ stimmtes Verständnis herausgebildet, das für die in dieser Arbeit erfolgende Be­ 43

44

45 46 47

Schön, Europäische Kapitalverkehrsfreiheit und nationales Steuerrecht, in: Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, S. 743, 755. Hahn/Follak, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Kapitel F.II., Rdnr. 11; Honrath, C. I., S. 64; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 b Rdnr. 14, Art. 73 d Rdnr. 12; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 15; jüngst Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 506. Vgl. EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. 1 1995, S. 225, 259 Rz. 30 (Schumacker). Nach dem Maastricht-Vertrag noch Art. 73 b Abs. 1 EGV. Vgl. Ress/Ukrow, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtigkeit, S. 33.

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trachtung von Steuervorschriften eine Grundvoraussetzung darstellt. Dies ist die Auffassung, daß neben direkten Beschränkungen auch indirekte/mittelbare Hemmnisse des Kapitalverkehrs vom Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit erfaßt werden48. Nur aufgrund dieser Erkenntnis ist die hier durchgefuhrte Unter­ suchung möglich, da Steuervorschriften niemals im Sinne einer direkten Be­ schränkung den Kapitaltransfer über die Grenze untersagen oder behindern wer­ den. Statt dessen verringern sie nur die ertragsbestimmte Attraktivität einer grenz­ überschreitenden Kapitalanlage und beschränken so indirekt/mittelbar den Kapi­ talverkehr.

Zur Begründung für die Erfassung von indirekten Beschränkungen des Kapital­ verkehrs wird die im Bereich des Warenverkehrs entwickelte Dassonville-Formel herangezogen49. Hiernach ist jede ’’Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die ge­ eignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern”50, verboten. Für die Übertragung der Dassonville-Formel auf den Kapitalverkehr lassen sich zwei überzeugende Argu­ mente vortragen. Einerseits kann bei Heranziehung der Dassonville-Formel unter dem Aspekt der ’’Maßnahmen mit gleicher Wirkung”51 darauf hingewiesen werden, daß diese in den Warenverkehrsregelungen der Artt. 28, 29 EGV veran­ kerte Klausel vom EuGH auch im Bereich der Niederlassungs- und Dienstlei­ stungsfreiheit angewandt wird52. Andererseits spricht die Ähnlichkeit in der Sy­ stematik der Vorschriften zum Warenverkehr und zum Kapitalverkehr im EGV für eine parallele Anwendung der Dassonville-Formel53. Die beiden Grundfrei­ heiten sind durch einen weitgehend gleichen Aufbau charakterisiert. Vorangestellt wird sowohl in Artt. 28, 29 EGV als auch in Art. 56 EGV das grundsätzliche Be­ schränkungsverbot, auf das in Art. 30 EGV und Art. 58 EGV in vergleichbarer Weise die Ausnahmen folgen. Besondere Ähnlichkeit besitzen auch gerade diese 48

49

50 51 52

53

Honrath, C. I. 1., S. 67; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 b Rdnr. 5; Kimms, Zweiter Teil II. 2. a), S. 183; Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 65; Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 506 f.; Peters, EC Tax Review 1998, S. 1, 8; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 11 f. (unter dem Aspekt der "Maßnahmen gleicher Wirkung"); dies., Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtig­ keit, S. 32; R.H. Weber, in: Lenz, EGV, Art 56 Rdnr. 14; S. Weber, EuZW 1992, S. 561, 563; wohl auch Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EGV, Art. 56 Rdnr. 19 f. Grundmann, EWS 1990, S. 214, 215; Honrath, C. I. 1., S. 66 f.; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 b Rdnr. 11 f. (unter dem Aspekt der "Maßnahmen gleicher Wirkung"); dies., Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtigkeit, S. 31 f. mit ausführlicher Begründung für die Übertragung der Dassonville-Formel; 5. Weber, EuZW 1992, S. 561, 563. EuGH, Urt. v. 11.07.1974, Rs. C-8/74, Sig. 1974, S. 837,852 (Dassonville). Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 11 f. EuGH, Urt. v. 04.12.1986, Rs. C-252/83, Sig. 1986, S. 3713, 3748 f.; Urt. v. 04.12.1986, Rs. C-205/84, Sig. 1986, S. 3755,3803; Urt. v. 04.12.1986, Rs. C-206/84, Sig. 1986, S. 3817, 3850. Honrath, C. I. 1., S. 67; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 11.

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Ausnahmen, die beide unter anderem ’’aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt sind”54. Schließlich ist auch die Grenze der Ausnahmen in Art. 30 S. 2 EGV und Art. 58 Abs. 3 EGV fast vollständig identisch bestimmt, wonach diese weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels bzw. freien Kapitalverkehrs darstellen dürfen.

Diese Parallelität der Ausgestaltung des Waren- und Kapitalverkehrs spricht für die Übertragbarkeit der Dassonville-Formel auf den Kapitalverkehr. Daher ließe sich mit der Literatur annehmen, daß das Beschränkungsverbot des Art. 56 EGV alle Maßnahmen der Mitgliedstaaten erfasse, die den Kapitalverkehr unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell behindern. Fraglich ist aber, ob diese Definition auch vor der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zur Kapitalver­ kehrsfreiheit Bestand haben kann.

(2) Bisherige EuGH-Rechtsprechung

Der EuGH hat sich bisher zur Kapitalverkehrsfreiheit im Unterschied zu den an­ deren Grundfreiheiten seltener geäußert. Die Sicht auf die Reichweite der ’’Be­ schränkungen” im Sinne der Kapitalverkehrsfreiheit wurde besonders durch die ”Bachmann”-Entscheidung des EuGH55 geprägt, die in ihrer Argumentation später von den Generalanwälten in ihren Schlußanträgen aufgegriffen wurde56.

Der Entscheidung lag ein steuerrechtlicher Sachverhalt zugrunde: Herm Bach­ mann, einem in Belgien ansässigen deutschen Staatsangehörigen, wurde bei der Einkommensteuerveranlagung durch die belgische Steuerbehörde der Abzug in Deutschland gezahlter Versicherungsbeiträge von seinen in Belgien zu versteu­ ernden Einkünften verwehrt. Nach der einschlägigen Vorschrift des belgischen Steuerrechts war der Abzug nur für Beiträge vorgesehen, die ”an einen in Belgien anerkannten Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit” bzw. ”in Belgien” gezahlt wurden. Der EuGH befaßte sich in seiner Entscheidung umfassend mit der Ar­ beitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit. Zum Kapitalverkehr, der 54 55 56

Art. 30 S. 1 EGV und Art 58 Abs. 1 lit. b 3. Fall EGV. EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 ff. (Bachmann). Generalanwalt (GA) Elmer, in: EuGH, Urt v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955, 3960 Rz. 8 f. (Svensson/Gustavsson); GA Tesauro, in: EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1902 Rz. 12 (Safir).

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zu diesem Zeitpunkt nur sekundärrechtlich durch die Kapitalverkehrs-Richtlinie57, nicht aber auf der Ebene des EGV vollständig liberalisiert war58, führte der EuGH folgendes aus:

’’Bestimmungen wie die [der belgischen Steuemorm] verstoßen nicht gegen die Artikel 67 und 106 EWG-Vertrag. Insoweit genügt der Hinweis darauf, daß Artikel 67 Beschränkungen nicht untersagt, die nicht den Kapitalver­ kehr betreffen, sondern sich mittelbar aus Beschränkungen anderer Grundfreiheiten ergeben, und daß Bestimmungen, wie sie vor dem nationa­ len Gericht im Streit stehen, die Zahlung von Versicherungsbeiträgen, die an Versicherer in einem anderen Mitgliedstaat zu leisten sind, ebensowenig hindern wie die Leistung dieser Zahlung in der Währung des Mitgliedstaats, in dem der Versicherer niedergelassen ist.”59

Diese Ausführungen des EuGH können so verstanden werden, daß indirekte/mittelbare Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs nicht vom Geltungs­ bereich der Kapitalverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 56 EGV erfaßt sind, weil sie den grenzüberschreitenden Kapitaltransfer weder erschweren noch verhindern. In diesem Sinne wurde die ”Bachmann’’-Entscheidung offenbar auch von den Gene­ ralanwälten in ihren Schlußanträgen zu zwei späteren Entscheidungen aufgefaßt60. Im ”Svensson/Gustavsson”-Fall wurde den Klägern eine staatliche Zinsvergütung für ein Wohnungsbaudarlehen von den luxemburgischen Behörden verwehrt, da der Kredit nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, ’’bei einem im Großherzogtum Luxemburg zugelassenen Kreditinstitut” aufgenommen worden war. Der General­ anwalt Elmer sprach sich hier gegen die Einschlägigkeit der Kapitalverkehrsfrei­ heit aus, da die umstrittenen Rechtsvorschriften ’’nicht als solche grenzüberschrei­ tende Bewegungen des Kapitals, das aufgrund der Darlehensaufnahme ausgezahlt wird, verhindern oder erschweren”61. Dabei verwies er als Begründung auch auf die ergangene Entscheidung im Fall "Bachmann”.

57 58 59 60

61

Richtlinie 88/361 des Rates vom 24.06.1988 zur Durchführung von Art. 67 EWGV, ABI. EG 1988 Nr. L 178, S. 5. Vgl. Art. 67 EGV a.F. EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 285 Rz. 34. GA Elmer, in: EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955, 3960 Rz. 8 f. (Svensson/Gustavsson); GA Tesauro, in: EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1906 f. Rz. 17 f. (Safir). Vgl. GA Elmer, in: EuGH, Urt v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955, 3960 Rz. 8 f. (Svensson/Gustavsson).

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Interessanterweise zog der EuGH in der ”Svensson/Gustavsson”-Entscheidung entgegen den Schlußanträgen des Generalanwalts sowohl die Kapitalverkehrsfrei­ heit als auch die Dienstleistungsfreiheit als Prüfungsmaßstab heran62. Er führte aus, daß die Bindung der Zinsvergütung an die Darlehensaufnahme bei einer im Inland ansässigen Bank geeignet ist, ’’die Interessenten (Darlehensnehmer) davon abzuschrecken, sich an in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Banken zu wenden, so daß diese Bestimmungen ein Hindernis für den Verkehr von Kapital wie Bankdarlehen darstellen”63. Der EuGH verzichtete hier ersichtlich auf die Notwendigkeit direkter Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit durch er­ schwerende oder verhindernde Maßnahmen, sondern ließ bereits Bestimmungen mit ’’abschreckender” Wirkung, die die Kapitalaufnahme/-anlage unattraktiver machen, genügen. Auf diese Weise dehnte er den Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit auch auf indirekte Beschränkungen aus.

Die Entscheidungen in den Fällen ’’Bachmann” und ’’Svensson/Gustavsson” ste­ hen folglich auf erste Sicht im Widerspruch zueinander, was den EuGH dem Vorwurf einer wenig kohärenten Rechtsprechung aussetzen würde. Diese Pro­ blematik erkannte auch Generalanwalt Tesauro im Verfahren der ”Safir”-Entscheidung, der den ihm vorliegenden Sachverhalt wieder im Sinne der ”Bachmann”Entscheidung bewertete64. Der EuGH nahm jedoch in seinem nachfolgen­ den Urteil die Möglichkeit zur Klarstellung des Anwendungsbereichs der Kapi­ talverkehrsfreiheit nicht wahr. Er begnügte sich damit festzustellen, daß im Hin­ blick auf den nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit über den Verstoß gegen Art. 56 EGV nicht entschieden werden brauche65. In gleicher Weise ließ er die Abgrenzung zwischen Kapitalverkehrs- und Dienstlei­ stungsfreiheit in seiner ”Ambry”-Entscheidung offen66.

(3) Stellungnahme Die ”Bachmann”-Entscheidung ist hinsichtlich ihres Aussagegehalts zur Erfas­ sung indirekter Beschränkungen des Kapitalverkehrs durch die Kapitalverkehrs­ freiheit falsch verstanden worden. Der EuGH lehnte, wie im folgenden gezeigt wird, nicht die Möglichkeit indirekter Beschränkungen des Kapitalverkehrs ab, 62 63 64 65 66

EuGH, Urt V. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955,3975 Rz. 10 f. EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955, 3975 Rz. 10. GA Tesauro, in: EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1905ff. Rz. 14 ff. (Safir). EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1929 Rz. 35 (Safir). EuGH, Urt. v. 01.12.1998, Rs. C-410/96, Sig. I 1998, S. 7875, 7904 Rz. 40 (Ambry).

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sondern traf seine Aussage auf der Ebene des Konkurrenzverhältnisses mehrerer Grundfreiheiten, in deren ’’Schutzbereich'’ eingegriffen wird.

Dies ergibt sich aus einer dogmatischen Untersuchung der in Art. 56 EGV gere­ gelten Kapitalverkehrsfreiheit. Es wird dazu auf Begriffe der deutschen Grund­ rechtsdogmatik zurückgegriffen. Ein richtiges Verständnis der ”Bachmann”-Entscheidung, aber auch der Kapitalverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV insge­ samt, eröffnet sich über folgende Begriffe: ’'Schutzbereich’’ der Kapitalverkehrs­ freiheit, Eingriff in den ’’Schutzbereich” und Konkurrenzen mehrerer einschlägi­ ger Grundfreiheiten.

Der ’’Schutzbereich” der Kapitalverkehrsfreiheit kann nicht nur mittels des Be­ griffs ’’Kapitalverkehr” bestimmt werden. Durch die Formulierung ’’Beschränkun­ gen des Kapital Verkehrs” wird der Eingriff in den ’’Schutzbereich” so in Art. 56 Abs. 1 EGV integriert, daß nur eine eingriffsbezogene Ermittlung des ’’Schutzbe­ reichs” möglich ist. Diese enge Beziehung zwischen ’’Schutzbereich” und Ein­ griff, die es erforderlich macht, den Schutzbereich gelegentlich schon mit Blick auf den Eingriff zu bestimmen, wird in der deutschen Grundrechtsdogmatik im Falle faktischer Grundrechtsbeeinträchtigungen allgemein anerkannt67. Es wird von einem eingriffsbezogenen oder ’’funktionalen” Schutzbereich des Grundrechts gesprochen68. Bei Übertragung der Lehre vom eingriffsbezogenen ’’Schutzbereich” aus der Grundrechtsdogmatik auf die europarechtlichen Grund­ freiheiten ergibt sich, daß mit der Frage nach der Erfassung indirekter/mittelbarer Beschränkungen des Kapitalverkehrs durch Art. 56 EGV gleichzeitig die nach dem erfaßten mittelbaren Eingriff in den '’Schutzbereich” der Kapitalverkehrsfrei­ heit verbunden ist.

Die Antwort lautet mit der h.M.69, daß die ’’Beschränkungen” des Kapitalverkehrs auch indirekte/mittelbare und potentielle Hemmnisse umfassen. Dies bedeutet gleichzeitig, daß auch ein mittelbarer Eingriff in den ’’Schutzbereich” des Art. 56 EGV für die Betroffenheit der Kapitalverkehrsfreiheit ausreicht. Diesen Aussagen 67

68 69

BVerfG, B. v. 12.10.1977, BVerfGE 46, S. 120, 137 f.; BVerwG, Urt. v. 18.10.1990, BVerwGE 87, S. 37, 43; BVerwG, Urt v. 27.03.1992, BVerwGE 90, S. 112, 121; Discher, JuS 1993, S. 463, 466; Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 6 III. 1. c), Rdnr. 236 f. Discher, JuS 1993, S. 463,466; Schwerdtfeger, § 32 I., Rdnr. 447. Honrath, C. I. 1., S. 67; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 b Rdnr. 5; Kimms, Zweiter Teil II. 2. a), S. 183; Pe­ ters, EC Tax Review 1998, S. 1, 8; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 11 f.; R.H Weber, in: Lenz, EGV, Art. 56 Rdnr. 14; S. Weber, EasZN 1992, S. 561, 563.

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steht die ”Bachmann”-Entscheidung70 nicht entgegen. In der Entscheidung spricht der EuGH von ’’Beschränkungen, die nicht den Kapitalverkehr betreffen, sondern sich mittelbar aus Beschränkungen anderer Grundfreiheiten ergeben”71. Er sagt damit nichts über indirekte/mittelbare Beschränkungen der Kapitalverkehrs aus, sondern über die nur mittelbare Wirkung auf den Kapitalverkehr, die aus Beschränkungen einer anderen Grundfreiheit resultiert. Die Formulierung des EuGH muß losgelöst von der Unmittelbarkeit der Beschränkung/des Eingriffs im Sinne einer nachrangigen Betroffenheit des Kapitalverkehrs gegenüber einer vorrangig betroffenen anderen Grundfreiheit verstanden werden72. Der EuGH trifft daher seine Aussage nicht auf der Ebene des Eingriffs in den '’Schutzbereich”, sondern der des Konkurrenzverhältnisses mehrerer betroffener Grundfreiheiten. Im Sinne einer klaren Dogmatik hätte seine Formulierung fol­ gendermaßen lauten müssen:

’’Die Kapitalverkehrsfreiheit untersagt nicht Beschränkungen, die vorrangig nicht den Kapitalverkehr betreffen, sondern sich nur nachrangig aus Be­ schränkungen anderer vorrangig betroffener Grundfreiheiten ergeben.”

Nach dieser Erkenntnis muß in einem weiteren Schritt das Konkurrenzverhältnis zwischen der betroffenen Kapitalverkehrsfreiheit und einer anderen ebenfalls be­ rührten Grundfreiheit untersucht werden.

Vorher ist noch ein weiteres wichtiges Argument für die Erfassung indirekter/mittelbarer Beschränkungen durch die Kapitalverkehrsfreiheit zu nennen. Es ergibt sich aus einer Vorschrift im Regelungssystem der Artt. 56 ff. EGV. Art. 58 Abs. 1 EGV bestimmt, daß die Kapitalverkehrsfreiheit nicht das Recht der Mit­ gliedstaaten berührt, spezielle Vorschriften des materiellen Steuerrechts zu erlas­ sen bzw. unerläßliche Maßnahmen im Steuerverfahrensrecht zu ergreifen. Diese Norm hätte unter der Annahme, daß die Kapitalverkehrsfreiheit indirekte Be­ schränkungen nicht erfaßt, keinen Regelungsgehalt und wäre überflüssig. Den Vorschriften des Steuerrechts eines Mitgliedstaates kommt niemals eine kapital­ verkehrserschwerende oder -verhindernde Wirkung zu, da sie lediglich bestimmte Kapitalanlagen aus ertragsorientierter Sicht unattraktiver machen. Die 70 71 72

EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 ff. EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 285 Rz. 34. Vgl. zur “Nachrangigkeit0 der Kapitalverkehrsfreiheit Saß, FR 2000, S. 1270, 1271; jüngst zur “Nachran­ gigkeit“ der Kapitalverkehrsfreiheit gegenüber der Niederlassungsfreiheit: EuGH, Urt. v. 08.03.2001, verbun­ dene Rs. C-397/98 und C-410/98, Rz. 75 (bisher nur auf der Website des EuGH veröffentlicht).

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Steuemormen stellen daher immer nur indirekte Beschränkungen des Kapitalver­ kehrs dar und wären bei der genannten Annahme niemals vom ’’Schutzbereich” der Kapitalverkehrsfreiheit erfaßt73. Aufgrund der fehlenden Einschlägigkeit des ’’Schutzbereichs” wären die Vorschriften des Art. 58 Abs. 1 EGV ohne Rege­ lungsgehalt74. Dies stünde dem Verständnis der Vertragspartner des MaastrichtVertrages entgegen, die Art. 58 EGV bewußt in das System der Kapitalverkehrs­ freiheit aufgenommen haben. Dieser Widerspruch liefert ein weiteres Argument für die Erfassung indirekter Beschränkungen durch die Kapitalverkehrsfreiheit.

Im Ergebnis ist für den ’’Schutzbereich” der Kapitalverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV festzuhalten, daß auch indirekte/mittelbare und potentielle Beschrän­ kungen des Kapitalverkehrs erfaßt werden. Ein mittelbarer Eingriff in den ’'Schutzbereich” genügt, um die Einschlägigkeit der Kapitalverkehrsfreiheit zu begründen.

(4) Beschränkungen in Steuergesetzen

Aufgrund der Erfassung mittelbarer Eingriffe in die Kapitalverkehrsfreiheit kön­ nen Beschränkungen i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV auch durch steuerliche Normen eintreten75. Die eine Beschränkung begründenden nachteiligen steuerlichen Kon­ sequenzen, die für einen Steuerausländer oder für eine ausländische Kapitalanlage eines Steuerinländers im Inland eintreten76, können dabei sowohl an den grenzüberschreitenden Akt des Kapitaltransfers anknüpfen als auch aus der Be­ steuerung der Innehabung oder der Erträge von Kapitalvermögen resultieren77. Die Erfassung von Dividendenzahlungen als Erträge der Kapitalanlage durch die Kapitalverkehrsfreiheit wurde vor kurzem vom EuGH bestätigt78. Eine unmittel­ bare Belastung des Kapitaltransfers stellten in Deutschland die mittlerweile ab­ geschaffte Gesellschaftsteuer und die Börsenumsatzsteuer dar79. Jetzt können sich 73 74 75

76 77 78 79

Vgl. Peters, EC Tax Review 1998, S. 4, 8. Vgl. zur Zulassung steuerrechtlicher Vorschriften als indirekte Beschränkungen des Kapitalverkehrs durch Art 58 Abs. 1 lit. a EGV: Juillard, in: FS HugoJ. Hahn, S. 177, 182. Vgl. Brinkmann, Der Einfluß des Europäischen Rechts auf die Untemehmensbesteuerung, 1996, S. 60; Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 506 f.; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 4; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 756; R.H. Weber, in: Lenz, EGV, Art. 56 Rdnr. 6. Zur Voraussetzung der Benachteiligung grenzüberschreitender Sachverhalte filr das Vorliegen einer Be­ schränkung: Matzka, Österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 69. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 757. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 722 Rz. 29 (Verkooijen). Abgeschafft durch Art. 4 des Finanzmarktförderungsgesetzes vom 22.02.1990, BGBl. I 1990, S. 152, 167 f.

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Beschränkungen des Kapitalverkehrs vor allem aus der deutschen Besteuerung der Innehabung sowie der Erträge des angelegten Kapitalvermögens ergeben. Dabei ist die entscheidende Frage bei der Prüfung einer Steuemorm, ob sie sich sachlich als Benachteiligung gerade des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs darstellt. Der Gang einer solchen Untersuchung zur Feststellung eines Eingriffs in die Kapitalverkehrsfreiheit wird unten bei der Betrachtung der EuGH-Rechtsprechung80 und der ausgewählten deutschen Vorschriften zur Körperschaft- und Ka­ pitalertragsteuer81 deutlich.

cc) Konkurrenzen mehrerer betroffener Grundfreiheiten An die Feststellung eines Eingriffs in den '’Schutzbereich” der Kapitalverkehrs­ freiheit schließt sich im Falle eines gleichzeitigen Eingriffs in den ’’Schutzbe­ reich” einer anderen Grundfreiheit die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis82 der beiden betroffenen Grundfreiheiten an. Dabei beschränkt sich die Betrachtung der Konkurrenzen im folgenden auf die Abgrenzung der Kapitalverkehrsfreiheit von der Niederlassungsund Dienstleistungsfreiheit. Konkurrenzen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und Warenverkehrsfreiheit bereiten weniger Pro­ bleme83. Der Kapitalverkehr wird meist nur ein Annex des Freizügigkeitsrechts sein, z.B. beim Immobilienerwerb zum Zwecke des eigenen Wohnens. Die gleichzeitige Einschlägigkeit der Warenverkehrsfreiheit wird durch die Abgren­ zung des Sachkapitals von der Ware ausgeschlossen.

Grundlage der folgenden Untersuchung ist, daß sich die Beschränkungen der Grundfreiheiten aus steuerrechtlichen Vorschriften ergeben. Die Lösung der Kon­ kurrenzen ist notwendig, da sich der ’'Schutzbereich” und die "Schranken" der Grundfreiheiten unterscheiden84. So liberalisiert die Kapitalverkehrsfreiheit auch den Kapitalverkehr zwischen EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten, wogegen die Liberalisierung in den anderen Grundfreiheiten nur auf den Binnenmarkt ausge­ richtet ist. Die Kapitalverkehrsfreiheit beinhaltet mit Art. 58 Abs. 1 EGV auf­

80 81 82 83 84

Vgl. Kapitel 2 B. Vgl. Kapitel 3. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 749, spricht von "tatbestandlicher Konkurrenz” der Grundfreiheiten. Vgl. Freitag, EWS 1997, S. 186, 189; Ohler, WM 1996, S. 1801, 1803. GA Tesauro, in: EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1904 Rz. 16 f.; Ohler, WM 1996, S. 1801, 1803; S Weber, EuZW 1992, S. 561, 564.

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grund der Berücksichtigung des Steuerrechts der Mitgliedstaaten eine spezielle, im Regelungssystem der Grundfreiheiten auffällige ’’Schranke”85.

(1) Parallele Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit

Der EuGH ist in seiner bisherigen Rechtsprechung von einer parallelen Anwend­ barkeit einerseits der Vorschriften über den Kapitalverkehr und andererseits derje­ nigen über die Dienstleistungs- bzw. Niederlassungsfreiheit ausgegangen86. Dies wurde durch eine gute Übersicht über die Rechtsprechung zu diesem Zusammen­ hang in den Schlußanträgen des Generalanwalts Alber in der Rechtssache ’’Baars” dokumentiert87. Diese Rechtsprechung beruht darauf, daß die Vorschriften über den Kapitalverkehr nur in solchen Fällen die parallele Anwendung anderer Grundfreiheiten ausschließen, in denen es um Maßnahmen geht, die in spezifischer Weise die Kapitalströme regeln. Liegt jedoch nur eine mittelbare Be­ troffenheit der Kapitalströme dadurch vor, daß die Ausübung einer wirtschaftli­ chen Aktivität in einem anderen Mitgliedstaat erschwert wird, so ist auch die für die jeweilige Aktivität geltende Grundfreiheit (Dienstleistungs/Niederlassungsfreiheit) einschlägig88. Ein generelles Ausschlußverhältnis zwi­ schen den Vorschriften über den Kapitalverkehr und anderen Grundfreiheiten wie es die niederländische Regierung jüngst in dem noch nicht entschiedenen Fall ’’Baars”89 annehmen wollte - ist wohl mit der EuGH-Rechtsprechung nicht zu ver­ einbaren. Der Gerichtshof hat in den Rechtssachen ’’Svensson/Gustavsson”90, ’’Parodi"91, ’’Ambry’’92 und ’’Konle”93 die parallele Anwendung der Vorschriften über den Kapitalverkehr und anderer Grundfreiheiten für möglich gehalten. Er hat jedoch bisher keine deutlichen Kriterien für die Abgrenzung der Kapitalver­ kehrsfreiheit von der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit aufgestellt. Leider hat der EuGH diese Möglichkeit - trotz der ausführlichen Aufbereitung des Problems durch den Generalanwalt - auch in der mittlerweile entschiedenen Rechtssache ’’Baars“ nicht wahrgenommen, da er nach der Feststellung eines 85 86 87 88

89 90 91 92 93

S.o. Einleitung zu Kapitel 2. GA Alber, Schlußanträge vom 14.10.1999, Rs. C-251/98 (Baars), noch nicht in der amtlichen Sammlung, vollständiger Abdruck auf der Internet-Seite des EuGH, teilweise abgedruckt in IStR 1999, S. 754 ff., Rz. 15. Vgl. Fn. 86, Rz. 16-21. Vgl. Fn. 86, Rz. 15; EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955, 3975 f. Rz. 8 ff. (Svens­ son/Gustavsson). Vgl. Fn. 86. EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955 ff. EuGH, Urt v. 09.07.1997, Rs. C-222/95, Sig. I 1997, S. 3899 ff. EuGH, Urt. v. 01.12.1998, Rs. C-410/96, Sig. I 1998, S. 7875 ff EuGH, Urt. v. 01.06.1999, Rs. C-302/97, noch nicht in der amtlichen Sammlung.

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nicht zu rechtfertigenden Eingriffs in die Niederlassungsfreiheit aufgrund der vorgelegten Fragestellungen zur Kapitalverkehrsfreiheit nicht mehr Stellung nehmen mußte94. Daher besteht die nachfolgend geschilderte Diskussion in der Literatur über die exklusive Anwendbarkeit einer Grundfreiheit fort.

(2) Exklusive Anwendbarkeit einer Grundfreiheit aufgrund eines Anwendungsvorrangs

Der parallelen Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit neben der Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit könnten jedoch Vorschriften des EG-Vertra­ ges entgegenstehen, die eine exklusive Anwendbarkeit einer der Grundfreiheiten aufgrund eines Anwendungsvorrangs festlegen. Diese mögliche Lösung des Konkurrenzverhältnisses der Kapitalverkehrsfreiheit muß im folgenden in zwei Richtungen betrachtet werden: hinsichtlich der Niederlassungs- und der Dienst­ leistungsfreiheit.

(a) Kapitalverkehrs*- und Niederlassungsfreiheit

Im Zusammenhang eines möglichen Anwendungsvorrangs der einen oder anderen Grundfreiheit können zwei Vorschriften aus dem jeweiligen Regelungskomplex der Niederlassungs- bzw. Kapitalverkehrsfreiheit helfen. Zum einen regelt Art. 43 Abs. 2 EGV, daß ’’vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr” die Niederlassungsfreiheit u.a. die Gründung von Unternehmen umfaßt. Zum anderen bestimmt Art. 58 Abs. 2 EGV, daß das Kapitel über den Kapital- und Zahlungsverkehr nicht die Anwendbarkeit von Beschränkungen des Niederlas­ sungsrechts, die mit diesem Vertrag vereinbar sind, berührt.

Der Inhalt dieser Vorschriften wird in der Literatur sehr unterschiedlich interpre­ tiert. Ein Teil der Literatur liest Art. 43 Abs. 2 EGV im Niederlassungrecht als grundsätzlichen Vorbehalt zugunsten des Vertragskapitels über den Kapitalver­ kehr, wodurch die für eine Niederlassung notwendigen Investitionen nicht nach Artt. 43 ff. EGV, sondern nach den Artt. 56 ff. EGV zu behandeln seien95. Danach 94 95

Vgl. EuGH, Urt. v. 13.04.2000, Rs. C-251/98, JZ 2000, S. 942, 944 Rz. 42. Eckhoff, in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 19 Rdnr. 35; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 16; Troberg, in: G/T/E, EWGV, Art. 52 Rdnr. 8.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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würde immer bei gleichzeitiger Betroffenheit der Kapitalverkehrs- und Niederlas­ sungsfreiheit ein Anwendungsvorrang zugunsten der Kapitalverkehrsfreiheit bestehen. Dieses Ergebnis könnte überzeugen, wenn sich allein Art. 43 Abs. 2 EGV mit dem Konkurrenzverhältnis der beiden Grundfreiheiten auseinander­ setzte. Mit dem Maastricht-Vertrag ist aber auch im Kapitel der Kapitalverkehrs­ freiheit mit Art. 58 Abs. 2 EGV eine Vorschrift integriert worden, die sich mit der Vernetzung der beiden Grundfreiheiten beschäftigt.

Die Bestimmung des Art. 58 Abs. 2 EGV, wonach das Kapitel des KapitalVer­ kehrs die Anwendbarkeit von Beschränkungen des Niederlassungsrechts, die mit dem EGV vereinbar sind, nicht berührt, ist in der Literatur unterschiedlich inter­ pretiert worden. Teilweise wird in Art. 58 Abs. 2 EGV ein Rückverweis auf die Vorschriften des Niederlassungsrechts gesehen, der aufgrund der Verweisung des Art. 43 Abs. 2 EGV zu einer unendlichen juristischen Verweisungsspirale führe96. Dieses Problem wird von den dies vertretenden Autoren auf der Ebene der Spezialität einer Grundfreiheit mit dem Ergebnis ihrer exklusiven Anwendbarkeit gelöst. Eine andere Auffassung spricht sich für einen grundsätzlichen An­ wendungsvorrang der Kapitalverkehrsfreiheit aus97. Hier wird Art. 58 Abs. 2 EGV teilweise in den Anwendungsbereich der Vorschrift einschränkender Weise so interpretiert, daß im Rahmen von einzelstaatlichen Maßnahmen, die sowohl die Niederlassungs- als auch die Kapitalverkehrsfreiheit berühren, grundsätzlich ein Vorrang zugunsten der Artt. 56 ff. EGV besteht, es sei denn, die Mitgliedstaaten stützen ihre Maßnahmen auf die Schutzziele der Artt. 45 bzw. 46 EGV98.

Diese Ansichten (Anwendungsvorrang der Kapitalverkehrsfreiheit und endlose juristische Verweisungsspirale) können nicht überzeugen. Dies ergibt sich einer­ seits bei der Untersuchung der Formulierung ’’vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr” in Art. 43 Abs. 2 EGV, andererseits aus dem Zusammenspiel dieser Vorschrift mit Art. 58 Abs. 2 EGV. Ein "Vorbehalt” zugunsten der Kapitalverkehrsfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit ihrem ’’Vorrang”. Der ’’Vorbehalt” eröffnet nur den Zugang zur Kapitalverkehrsfreiheit als gleichzeitig möglichem Prüfungsmaßstab, ohne damit auch den Vorrang dieser Grundfreiheit begründen zu wollen. Gegen die Gleichsetzung von ’’Vorbehalt” und ’’Vorrang” 96 97

98

Ohler, WM 1996, S. 1801, 1802; Freitag, EWS 1997, S. 186, 190, der den Verweis in Art. 58 Abs. 2 EGV als allein auf Art. 43 Abs. 2 EGV ausgerichtet betrachtet (S. 188 r. Sp.). Kimms, Zweiter Teil I. 2. a) bb), S. 141; wie auch: Eckhoff, in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 19 Rdnr. 35; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 16; Troberg, in: G/T/E, EWGV, Art. 52 Rdnr. 8. Kimms, Zweiter Teil 1.2. a) bb), S. 141.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

spricht vor allem die Entstehungsgeschichte des Art. 43 Abs. 2 EGV. Er war be­ reits Inhalt des EWG-Vertrages und bestand somit schon zu einem Zeitpunkt, als die Kapitalverkehrsfreiheit auf primärrechtlicher Ebene noch nicht vollständig liberalisiert und ihr Inhalt von der ’’Notwendigkeit für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes” abhängig war". Es ist nicht vorstellbar, daß die Vertrags­ staaten die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit von der in ihrem Inhalt primärrechtlich unzureichend konkretisierten Kapitalverkehrsfreiheit abhängig machen wollten, weil die Folgen eines derartigen Vorrangs wegen der Ausgestaltung durch Sekundärrecht nicht absehbar waren.

Die abzulehnende Vorrangstellung der Kapitalverkehrsfreiheit wird auch bei Be­ trachtung des Zusammenwirkens der Artt. 43 Abs. 2 und 58 Abs. 2 EGV deutlich. Ihr jeweiliger Regelungsgehalt ist auf unterschiedlichen Ebenen in der Systematik der Grundfreiheiten angesiedelt: Art. 43 Abs. 2 EGV betrifft den Geltungsbereich der Grundfreiheit, wogegen Art. 58 Abs. 2 EGV die Schrankenebene regelt. In Art. 43 Abs. 2 EGV wird auf der Schutzbereichsebene die Möglichkeit einer gleichzeitigen Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit eröffnet. Dagegen trifft Art. 58 Abs. 2 EGV seine Aussage, die aufgrund der gleichzeitigen Anwend­ barkeit beider Grundfreiheiten notwendig wird, auf der Schrankenebene, indem er die zulässigen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit in die Prüfung der Kapitalverkehrsfreiheit integriert. Insoweit kann Art. 58 Abs. 2 EGV nur dann ein eigener Regelungsgehalt zukommen, wenn keine Vorrangigkeit, sondern eine Gleichrangigkeit der beiden Grundfreiheiten besteht. Setzte man ’’Vorbehalt” mit ’’Vorrang” gleich, müßte mangels Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit auch keine Aussage zu ihren ’’Schranken” getroffen werden. Art. 58 Abs. 2 wäre dann überflüssig100. Diese notwendige Klarstellung zu den ’’Schranken” der beiden Grundfreiheiten erklärt auch, warum Art. 58 Abs. 2 EGV keine Verweisungsspirale entstehen läßt. Er sorgt nur für die Einbeziehung der ’’Schranken” der Niederlassungfreiheit in die Kapitalverkehrsfreiheit.

Im Ergebnis ergibt sich aus dem Vorbehalt in Art. 43 Abs. 2 EGV und dem ’’Schrankentransfer” in Art. 58 Abs. 2 EGV, daß im Falle der kumulativen Ein­ schlägigkeit der Kapitalverkehrs- und der Niederlassungsfreiheit keine der beiden Art. 67 Abs. 1 EGV a.F. lautete: "Soweit es für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist, beseitigen die Mitgliedstaaten untereinander während der Übergangszeit schrittweise alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs in bezug auf Berechtigte, die in den Mitgliedstaaten ansässig sind, und heben alle Diskriminierungen auf Grund der Staatsangehörigkeit oder des Wohnorts der Parteien oder des Anlageorts auf. 100 Vgl. Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 507.

99

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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aufgrund eines Anwendungsvorrangs exklusiv anwendbar ist101. Jede Grundfrei­ heit schützt eine andere inhaltliche Dimension desselben Vorgangs - die Nieder­ lassungsfreiheit die Ausübung eines Berufs, die Kapitalverkehrsfreiheit den Transfer geldwerter Güter.

(b) Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit

Bei der Klärung eines möglichen Anwendungsvorrangs einer der beiden Grund­ freiheiten läßt sich im Falle von Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit nur auf eine Vorschrift rekurrieren. Art. 51 Abs. 2 EGV bestimmt, daß die Liberalisie­ rung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgefuhrt wird. Dieser Vorschrift kam bis zur vollständigen primärrechtlichen Liberalisierung des Kapitalverkehrs mit dem Maastricht-Vertrag eine besondere Bedeutung zu. So hat der EuGH in einer älteren Entscheidung102 eine die Einzahlung von Spareinlagen behindernde steuerrechtliche Maßnahme deshalb als nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßend angesehen, weil diese Ka­ tegorie von Kapitalverkehr zum damaligen Zeitpunkt noch nicht liberalisiert war103. Nach dem Maastricht-Vertrag ist der primärrechtliche Standard der Libe­ ralisierung jedoch in beiden Grundfreiheiten gleich.

Es ließe sich, gestützt auf die ”Van Eycke/ASPA”-Entscheidung des EuGH104, an­ nehmen, daß in Anbetracht des Art. 51 Abs. 2 EGV ein grundsätzlicher Vorrang der Kapitalverkehrsfreiheit bestünde. Dagegen sprechen aber die ’’Bachmann”Entscheidung, in der die Dienstleistungsfreiheit angesichts der fehlenden Aus­ führungen zu Art. 51 Abs. 2 EGV wohl als nicht nachrangig betrachtet wurde105, und die ”Svensson/Gustavsson”-Entscheidung, in der die beiden Grundfreiheiten gleichrangig nebeneinander geprüft wurden106. In den jüngeren Entscheidungen ’’Parodi”107, ’’Ambry”108 und ’’Safir”109 ging der EuGH ebenfalls von einer paral101 Vgl. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 749. 102 EuGH, Urt. v. 21.09.1988, Rs. 267/86, Sig. I 1988, S. 4769,4793 Rz. 22 ff. (Van Eycke/ASPA). 103 Es galt Anlage I Liste D der Ersten Richtlinie des Rates vom 11.05.1960 zur Durchführung des Art 67 EWGV bzw. Anlage I Liste C in der Fassung der Richtlinie 86/566/EWG des Rates vom 17.11.1986 zur Änderung der Ersten Richtlinie. 104 EuGH, Urt. v. 21.09.1988, Rs. 267/86, Sig. 1988, S. 4769 ff. 105 EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 285 Rz. 34. 106 EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995,S. 3955, 3975 Rz. 10 f. 107 EuGH, Urt. v. 09.07.1997, Rs. C-222/95, Sig. I 1997, S. 3899 ff. 108 EuGH, Urt. v. 01.12.1998, Rs. C-410/96, Sig. I 1998, S. 7875 ff.

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leien Anwendbarkeit der beiden Grundfreiheiten aus110. In den letzten beiden Urteilen ließ er lediglich aufgrund der bereits bestehenden nicht zu rechtfertigen­ den Verletzung der Dienstleistungsfreiheit die Prüfung der Kapitalverkehrsfrei­ heit offen111.

Es läßt sich trotz der Formulierung in Art. 51 Abs. 2 EGV kein grundsätzlicher Vorrang der Kapitalverkehrsfreiheit annehmen. Der Inhalt des Art. 51 Abs. 2 EGV kann parallel zu Art. 43 Abs. 2 EGV nur so interpretiert werden, daß bei der Prüfung der Dienstleistungsfreiheit im Falle von Bank- oder Versicherungslei­ stungen der Regelungskomplex der Artt. 56 ff. EGV zu beachten ist, d.h. vor allem die zulässigen ’’Schranken” der Kapitalverkehrsfreiheit auch Beschrän­ kungen der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen können. Die beiden Grundfrei­ heiten sind daher gleichrangig nebeneinander anwendbar112.

(3) Einschränkung der möglichen parallelen Anwendbarkeit

Trotz des Mangels des Anwendungsvorrangs der Kapitalverkehrs-, Niederlas­ sungs- oder Dienstleistungsfreiheit und der resultierenden grundsätzlichen Mög­ lichkeit ihrer parallelen Anwendbarkeit läßt sich in vielen Fällen anhand der nach­ folgend dargestellten Kriterien die exklusive Anwendbarkeit einer der gleichzeitig einschlägigen Grundfreiheiten begründen.

(a) Unmittelbarer oder mittelbarer Eingriff in die einschlägigen Grund­ freiheiten

Als einfachstes Kriterium zur Lösung des Konkurrenzverhältnisses zwischen ver­ schiedenen betroffenen Grundfreiheiten kann die Art des Eingriffs, also die Un­ terscheidung in unmittelbare und mittelbare Eingriffe in den '’Schutzbereich”, die­ nen. Danach ist i.d.R. die Grundfreiheit vorrangig, in die unmittelbar eingegriffen wird, wogegen die durch einen mittelbaren Eingriff betroffene zurücktreten

109 110 111 1,2

EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897 ff. Vgl. GA Alber, Schlußanträge vom 14.10.1999, Rs. C-251/98, Fundstelle in Fn. 86, Rz. 15, 18,20. Vgl. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1929 Rz. 35 (Safir). Im Ergebnis ebenso Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 754.

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muß113. Dieser Lösungsansatz klingt wohl in der "Bachmann’’-Entscheidung des EuGH an114. Dieses Konzept wird in vielen Fällen zu überzeugenden Ergebnissen fuhren, in denen der Eingriffscharakter bei den beiden einschlägigen Grundfrei­ heiten unterschiedlich ist. Liegt ein unmittelbarer Eingriff sowohl in die Kapi­ talverkehrsfreiheit als auch in die Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit vor, so sind beide Grundfreiheiten parallel anwendbar115.

Im Falle der in dieser Arbeit untersuchten Steuervorschriften bietet das Kriterium des Eingriffscharakters aber keine Lösung des Konkurrenzverhältnisses. Die steu­ erlichen Regelungen eines Mitgliedstaates stellen nicht nur einen mittelbaren Ein­ griff in die Kapitalverkehrsfreiheit dar, sondern haben auch auf die Nieder­ lassungs- und Dienstleistungsfreiheit immer nur eine mittelbar beschränkende Wirkung. Sie fuhren nicht zu einer direkten Erschwerung oder Verhinderung der Niederlassung oder Dienstleistung, sondern machen sie nur, genauso wie die grenzüberschreitende Kapitalanlage, aus ertragsorientierter Sicht unattraktiver. Dies wurde anscheinend in der ”Bachmann”-Entscheidung vom EuGH verkannt, da in diesem Fall aufgrund der steuerlichen Vorschriften ein mittelbarer Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit, aber auch in die Dienstleistungsfreiheit vorlag. Bei mittelbaren Eingriffen in beide Grundfreiheiten könnte daher nach dem Kriterium des Eingriffscharakters nur von einer parallelen Anwendbarkeit beider Grundfreiheiten ausgegangen werden.

(b) Stärkere Sachnähe einer Grundfreiheit

Eine weitere Möglichkeit zur Ermittlung der ausschließlich anwendbaren Grund­ freiheit ist die Suche nach derjenigen, die zu dem gegebenen Sachverhalt eine stärkere Sachnähe aufweist. Dieses Kriterium lag wahrscheinlich noch eher als die Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Eingriffen in die Grund­ freiheiten der ”Bachmann”-Entscheidung des EuGH zugrunde116. Dieses in der deutschen Grundrechtsdogmatik entwickelte Kriterium117 läßt sich aufgrund des ähnlichen Normzwecks und der vergleichbaren Struktur von Grundrechten und 113 Vgl. die regelartige Zusammenfassung der Lösung des Konkurrenzverhältnisses bei GA Alber, SchluDanträge vom 14.10.1999, Rs. C-251/98, Fundstelle in Fn. 86, Rz. 26. 114 EuGH, Urt. v. 28.01.1992 - Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,285 Rz. 34. 115 Vgl. GA Alber, SchluDanträge vom 14.10.1999, Rs. C-251/98, Fundstelle in Fn. 86, Rz. 30. 116 Vgl. ausführlich zum Kriterium der Sachnähe in der "Bachmann"-Entscheidung: Kapitel 2 B. II. 3. a). 117 Vgl. zum Kriterium der Sachnähe im Falle der Konkurrenz mehrerer Grundrechte: BVerfG, B.v. 15.06.1983, BVerfGE 64, S. 229, 238 f.; B.v. 04.10.1983, BVerfGE 65, S. 104, 112 f.; Dreier, GG, Vorb. Rdnr. 97 m.w.N.; Jarass/Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1, Rdnr. 18.

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Grundfreiheiten auf letztere übertragen. Das Kriterium der stärkeren Sachnähe charakterisiert dabei die für die Untersuchung des Sachverhalts inhaltlich passen­ dere Grundfreiheit.

Diese inhaltliche Zuordnung ist in der Literatur von verschiedenen Autoren ver­ sucht worden. Sie knüpfen teils an den Zweck der beschränkenden Maßnahme118, teils an den Zweck des Kapitaltransfers an119. Nach dem ersten Abgrenzungskon­ zept bestimmt sich die exklusive Anwendbarkeit einer Grundfreiheit danach, ob die Beschränkung einen ’’monetären” oder ’’nicht-monetären” Charakter auf­ weist120. Bei einer ’’monetären” Beschränkung wäre allein die Kapitalverkehrs­ freiheit, sonst die Niederlassungsfreiheit anwendbar. So ließe sich im Falle einer grenzüberschreitenden Untemehmensbeteiligung auf die Ausrichtung der be­ schränkenden mitgliedstaatlichen Norm auf die aktive, d.h. im Interesse der un­ ternehmerischen Einflußnahme erfolgende Beteiligung bzw. die passive Beteili­ gung im Sinne einer Portfolioinvestition abstellen121. In diesem Zusammenhang wurde jüngst bei einer in die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit ein­ greifenden Steuernorm, die sich nur auf die Kapitalbeteiligung als Alleingesell­ schafter bezog, der Vorrang der Niederlassungsfreiheit als sachnähere Grundfrei­ heit angenommen122.

Das Konzept, nach dem die sachnähere und damit vorrangige Grundfreiheit an­ hand des Zwecks der streitgegenständlichen Norm identifiziert werden soll, ist jedoch nur in Einzelfällen, nicht aber als Regel nutzbar. Der Sinn und Zweck einer beschränkenden Norm läßt sich vor allem bei den in dieser Arbeit unter­ suchten mitgliedstaatlichen Steuervorschriften selten eindeutig bestimmen123. So ist z.B. bei einer gedachten mitgliedstaatlichen Steuemorm, nach der Dividenden­ ausschüttungen auf aus dem EU-Ausland zugeflossenem Eigenkapital gegenüber aus dem Inland zugeflossenem Kapital höher besteuert werden, ihre ’’monetäre” oder ’’nicht-monetäre” Ausrichtung nicht eindeutig. Der Zweck der Beschränkung kann sowohl rein kapitalorientiert als auch protektionistisch zur Abwendung 118 Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 60; Kimms, Zweiter Teil I. 2. a) bb), S. 139; ähnlich GA Alber, Schlußanträge vom 14.10.1999, Rs. C-251/98, Fundstelle in Fn. 86, Rz. 32; wohl auch S. Weber, EuZW 1992, S. 561,565. 119 Ohler, WM 1996, S. 1801, 1804 f. 120 Vgl. Kimms, Zweiter Teil I. 2. a) bb), S. 139. 121 Vgl. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 750 f., der ab einer Beteiligung von 25 % am Gesellschaftskapital allerdings von einer kumulativen Anwendbarkeit der Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit ausgeht. 122 Vgl. GA Alber, Schlußanträge vom 14.10.1999, Rs. C-251/98, Fundstelle in Fn. 86, Rz. 32. 123 Dies eingestehend Kimms, Zweiter Teil I. 2. a) bb), S. 139.

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übermäßiger ausländischer Beteiligungen lassungsfreiheit ausgerichtet sein.

und

somit

auf

die

Nieder­

Der zweite Vorschlag, der zur Ermittlung der stärkeren Sachnähe einer Grundfrei­ heit auf den Zweck des Kapitaltransfers abstellt, fragt nach dem im Vordergrund stehenden Interesse des Kapitaltransferierenden124. Im Falle der Konkurrenz der Kapitalverkehrsfreiheit mit der Niederlassungsfreiheit wird die Frage gestellt, ob die Investition zur Ausübung unternehmerischen Einflusses oder ohne dieses Interesse als reine Kapitalanlage erfolgt. Bei Konkurrenz mit der Dienstleistungs­ freiheit wird untersucht, ob die Dienstleistung oder die Kapitalanlage im Vorder­ grund steht.

Auch dieses Kriterium ist in vielen Fällen wenig hilfreich. Zunächst beinhaltet der Zweck der Investition die subjektive Vorstellung des Investors, wodurch er als Abgrenzungskriterium für die stärkere Sachnähe einer Grundfreiheit ungeeignet ist125. Darüber hinaus läßt sich der Zweck oft nicht eindeutig bestimmen. Im Falle der Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit muß selbst eine Kontrollrechte erwir­ kende prozentuale Untemehmensbeteiligung nicht unbedingt vom Interesse des unternehmerischen Einflusses getragen sein. Es kann hier trotzdem die Kapitalan­ lage Hauptinteresse des Investors sein126. Bei der Abgrenzung zur Dienstlei­ stungsfreiheit ist z.B. im Falle einer Kapitallebensversicherung nicht eindeutig, ob der Versicherungsschutz als Dienstleistung oder die Kapitalanlage im Vordergrund steht.

Im Ergebnis kann die stärkere Sachnähe einer Grundfreiheit zwar in Einzelfällen dazu dienen, die ausschließlich anwendbare Grundfreiheit zu ermitteln. Als grundsätzliches Kriterium kommt sie bei Steuervorschriften mit Eingriffswirkung in die Kapitalverkehrsfreiheit und eine weitere Grundfreiheit jedoch nicht in Betracht. Es bleiben daher gerade im steuerrechtlichen Bereich viele Fälle der kumulativen Anwendbarkeit der Grundfreiheiten.

124 Ohler, WM 1996, S. 1801, 1804. 125 Honra/Ä, C. II. 4. a), S. 111. 126 Zum umgekehrten Fall: Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 60: "Der Erwerb einer Minderheitsbeteili­ gung dagegen kann dann sowohl Direktinvestition als auch Niederlassung sein, wenn der Investor die faktische Kontrolle über das Unternehmen erhält"

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

(4) Kumulative Anwendbarkeit

Die häufige kumulative Anwendbarkeit bei steuerrechtlichen Vorschriften macht es erforderlich, auf den Inhalt und die Folgen der kumulativen Heranziehung der Grundfreiheiten einzugehen. Die kumulative Anwendbarkeit der zwei betroffenen Grundfreiheiten, also die Anwendung der Kapitalverkehrsfreiheit jeweils neben der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, beruht auf dem Grundgedanken, daß jede der beiden Grundfreiheiten eine andere inhaltliche Dimension desselben Vorgangs schützt127. Die Niederlassungsfreiheit schützt die Ausübung eines Berufs, die Kapitalverkehrsfreiheit den Transfer geldwerter Güter. Die Dienstleistungsfreiheit ist eine personenbezogene Freiheit, bei der es um die subjektive Berechtigung zur Erbringung entgeltlicher, grenzüberschreitender Leistungen geht. Die Kapitalverkehrsfreiheit als objektbezogener Tatbestand schützt den abstrakten Werttransfer im Interesse einer optimalen Kapitalanlage. Es läßt sich häufig, vor allem bei steuerrechtlichen Regelungen, kein Vorrang einer dieser Schutzrichtungen für den zu untersuchenden Sachverhalt bestimmen. Der betroffene EU-Bürger kann sich daher gleichzeitig auf beide Grundfreiheiten oder aber nur auf eine der beiden berufen128.

Die kumulative Anwendbarkeit der Grundfreiheiten hat durch das Zusammenspiel der verweisenden Vorschriften129 bestimmte Folgen für die einzelne Grundfrei­ heitsprüfung.

(a) Bei Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit

Bei diesen beiden Grundfreiheiten sorgt, wie bereits oben beschrieben, die Vor­ schrift des Art. 58 Abs. 2 EGV für eine Erweiterung der ’’Schranken” der Kapital­ verkehrsfreiheit, indem auch zulässige Beschränkungen der Niederlassungs­ freiheit als ’’Schranken” Anwendung finden130.

127 Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 749 (für Niederlassungsfreiheit), 754 (für Dienstleistungsfreiheit); Honrath, C. II. 4. a), S. 109. 128 Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 750; Honrath, C. II. 4. a), S. 109. 129 Art. 43 Abs. 2, Art. 58 Abs. 2, Art 51 Abs. 2 EGV. 130 Vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EGV, Art. 58 Rdnr. 13; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 32; Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 88; R.H Weber, in: Lenz, EGV, Art 58 Rdnr. 9.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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Nicht geregelt ist dagegen der umgekehrte Fall, daß die Vorschriften über die Ka­ pitalverkehrsfreiheit eine Beschränkung zulassen, die nach den Normen der Nie­ derlassungsfreiheit nicht zulässig ist. Die Ansichten, die dazu in der Literatur ver­ treten werden, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nach einer Ansicht setzt sich die Niederlassungsfreiheit durch, d.h. die Beschränkungen der Kapital­ verkehrsfreiheit, insbesondere Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, gehen ins Leere, wenn auch die Niederlassungsfreiheit einschlägig ist131. Die Gegenmeinung geht dage­ gen davon aus, daß in diesen Fällen die Beschränkungsmöglichkeiten der Kapi­ talverkehrsfreiheit aufgrund des in Art. 43 Abs. 2 EGV geregelten Vorbehalts durchdringen132.

Aufgrund der hier vertretenen These vom Fehlen eines Anwendungsvorrangs133 zugunsten einer Grundfreiheit mit der Folge ihrer kumulativen Anwendbarkeit stehen auch die Beschränkungsmöglichkeiten der Kapitalverkehrs- und Nieder­ lassungsfreiheit nebeneinander, so daß sich die ’’Schranken” der Kapitalver­ kehrsfreiheit faktisch auch bei der Niederlassungsfreiheit durchsetzen134. Folglich muß die in dieser Arbeit untersuchte ’’Schranke” des Art. 58 EGV auch bei der Niederlassungsfreiheit berücksichtigt werden.

(b) Bei Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit

Im Zusammenhang dieser beiden Grundfreiheiten stellen sich die gleichen Fra­ gen. Sind zulässige Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit auch bei der Prü­ fung der Kapitalverkehrsfreiheit zu berücksichtigen? Kann die ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit auch Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit recht­ fertigen?

Zur ersten Frage wird teilweise im Schrifttum vertreten, daß aufgrund einer analo­ gen Anwendung des Art. 58 Abs. 2 EGV eine Übertragung der ’’Schranke" der Dienstleistungsfreiheit ins Kapitalverkehrsrecht möglich ist135. Dies wird von an­ 131 132 133 134

135

Bachmann, EC Tax Review 1995, S. 237, 239; Saß, EWS 1998, S. 347, 348; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 752. Kimms, Zweiter Teil I. 2. a) bb), S. 140; Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505,509. Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (2) (a). Ebenso Herzig, Körperschaftsteuersystem und Europäischer Binnenmarkt, in: Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, S. 627, 632; Honrath, C. II. 4. a), S. 110; Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S.51 f. Kimms, Zweiter Teil I. 2. b) bb), S. 146; S. Weber, EuZW 1992, S. 561, 565.

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derer Seite mit überzeugender Begründung abgelehnt136. Neben dem entgegenste­ henden Wortlaut des Art. 58 Abs. 2 EGV spricht vor allem Art. 51 Abs. 2 EGV gegen eine derartige Übertragung. Er koppelt den Grad der Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich an den Grad der Liberalisierung des Kapitalverkehrs, was eine umgekehrte Richtung der Schrankenerweiterung bei der Kapitalverkehrsfreiheit ausschließt. Aufgrund dieser Koppelung, die die Dienstleistungsfreiheit durch ihre Abhängigkeit von der Kapitalverkehrsfreiheit zurückstehen läßt, wäre eine Schrankenerweiterung bei der Kapitalverkehrsfreiheit nur in ausdrücklicher Form möglich. Diese ist jedoch nicht erfolgt.

Auch das Argument der Parallelität der Grundfreiheiten137 und somit der Ver­ gleich mit der Konkurrenz von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit kön­ nen nicht für eine parallele Schrankenübertragung aus der Dienstleistungsfreiheit in das Kapitalverkehrsrecht sprechen. Der Niederlassungsfreiheit liegt aufgrund der Dauerhaftigkeit des Aufenthalts und der erhöhten Integration in den Niederlassungsstaat ein gegenüber der Dienstleistungsfreiheit erhöhtes Schutz­ bedürfnis aus der Sicht des Niederlassungsstaats zugrunde. Diese bei der Dienst­ leistungsfreiheit anders geartete Situation schließt es aus, ihre ’’Schranken” über eine analoge Anwendung des Art. 58 Abs. 2 EGV, der allein die Niederlassungs­ freiheit erwähnt, in die Kapitalverkehrsfreiheit mit einzubeziehen.

Folglich finden zulässige Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit keine Berücksichtigung. Art. 58 Abs. 2 EGV ist nicht analog anwendbar.

Die zweite Frage, ob die ’’Schranken” des Kapitalverkehrs auch Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen, ist dagegen positiv zu beantworten138. Der Inhalt des Art. 51 Abs. 2 EGV wird hier parallel zu Art. 43 Abs. 2 EGV so interpretiert, daß bei der Prüfung der Dienstleistungsfreiheit im Falle von Bankund Versicherungsleistungen der Regelungskomplex der Artt. 56 ff. EGV zu be­ achten ist139. Dies bedeutet, daß die zulässigen ’’Schranken” der Kapitalverkehrs­ freiheit auch Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen können. Es 136 Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 18 f. 137 S. Weber, EuZW 1992, S. 561,565. 138 Ebenso Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 754 jedoch mit anderer Begründung über Art 51 Abs. 2 EGV; a.A. De Bont, EC Tax Review 1995, S. 136, 139, der die Schranke des Art 58 Abs. 1 lit. a EGV als auf die Kapitalverkehrsfreiheit beschränkt betrachtet. 139 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (2) (b).

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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muß daher die ’’Schranke” des Art. 58 EGV auch bei der Dienstleistungsfreiheit Berücksichtigung finden. Dies hat auch zur Folge, daß der EuGH in der ’’Safir”Entscheidung vor Feststellung der nicht zu rechtfertigenden Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit die Kapitalverkehrsschranken hätte prüfen müssen140.

dd) Ergebnis Die Kapitalverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV erfaßt indirekte/mittelbare und potentielle Beschränkungen des Kapitalverkehrs141. Die hier untersuchten Steuervorschriften können daher an der Kapitalverkehrsfreiheit gemessen werden. Im Falle der gleichzeitigen Betroffenheit der Niederlassungs- oder Dienst­ leistungsfreiheit neben der Kapitalverkehrsfreiheit können bei steuerrechtlichen Vorschriften beide Grundfreiheiten kumulativ Anwendung finden. Bei dieser kumulativen Anwendung sind die ’’Schranken” der Niederlassungfreiheit gemäß Art. 58 Abs. 2 EGV bei der Prüfung der Kapitalverkehrsfreiheit zu berücksich­ tigen, die ’’Schranken” der Dienstleistungsfreiheit dagegen mangels analoger Anwendung des Art. 58 Abs. 2 EGV nicht. Umgekehrt können die ’’Schranken” der Kapitalverkehrsfreiheit sowohl Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit als auch solche der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen.

b)

Personeller Geltungsbereich

Neben dem sachlichen Anwendungsbereich ist zur Geltendmachung der Europa­ rechtswidrigkeit einer kapitalverkehrsbeschränkenden nationalen Steuervorschrift der personelle Geltungsbereich des Art. 56 EGV von Bedeutung. Es stellt sich also die Frage, wer Berechtigter der Kapitalverkehrsfreiheit ist.

Der personelle Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit ist in der Literatur noch umstritten. Früher war im EGV vorgesehen, daß die Kapitalverkehrsfreiheit nur von solchen Personen in Anspruch genommen werden konnte, die im Ge­ meinschaftsgebiet ansässig sind. Art. 67 EGV a.F. bestimmte:

140 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1929 Rz. 34 f. 141 Vgl. zur Reichweite des Beschränkungsverbots bei der Arbeitnehmerfireizügigkeit und Niederlassungsfreiheit Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342,343 f.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

’’Soweit es für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist, beseitigen die Mitgliedstaaten untereinander ... alle Beschränkungen des Ka­ pitalverkehrs in bezug auf Berechtigte, die in den Mitgliedstaaten ansäs­ sig sind,...”

Im Vergleich dazu verbietet der neue Art. 56 EGV "alle Beschränkungen des Ka­ pitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern". Art. 67 EGV wurde gemäß dem mit dem Maastricht-Vertrag eingefuhrten Art. 73 a EGV außer Kraft gesetzt und mittlerweile im Zuge des Vertrages von Amsterdam142 aus dem EGV gestrichen.

aa) Keine Beschränkung auf EU-Ansässige

In der Literatur wurde teilweise, vielleicht noch unter dem Eindruck des Art. 67 EGV a.F., vertreten, daß Art. 56 EGV nur Personen berechtige, die innerhalb der Europäischen Union ansässig sind143. Danach wäre z.B. ein deutscher Staatsange­ höriger bei seiner Auswanderung in ein Drittland auch seiner Rechte aus der Ka­ pitalverkehrsfreiheit beraubt.

Dies kann aus verschiedenen Gründen nicht überzeugen. Der Grad der Liberali­ sierung des Kapitalverkehrs ist mit den im Jahr 1994 neu eingefuhrten Rege­ lungen der Artt. 56 ff. EGV144 umfassend erweitert worden. Die Neuregelung in Art. 56 EGV beseitigt in deutlicher Abkehr von Art. 67 EGV a.F. und auch im Unterschied zu einer Begünstigung in Abhängigkeit von der Staatsangehörigkeit (vgl. z.B. Art. 43 EGV) nicht nur Beschränkungen "in bezug auf Berechtigte, die in den Mitgliedstaaten ansässig sind”, sondern ’’alle Beschränkungen des Kapital­ verkehrs zwischen den Mitgliedstaaten”145. Die Freiheit ist daher auf das Kapital selbst und nicht auf den Kapitalleistenden oder -empfangenden ausgerichtet146. Bezweckt ist der Abbau aller Hindernisse für den freien Kapitalverkehr und nicht bloß eine ’’Gebietsansässigengleichbehandlung”147. Dem Art. 56 EGV liegt inso­ weit eine kapitalverkehrsorientierte, nicht eine personenbezogene Betrach­ Vertrag von Amsterdam vom 02.10.1997, Gesetz vom 8. April 1998, BGBl. II S. 386. R.H. Weber, in: Lenz, EGV, 1. Auf!., Art. 73 b Rdnr. 18 , mittlerweile anders in der 2. Auf]., Art 56 Rdnr. 24. Damals noch Art. 73 a fl. FGV. Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 28. Eckhoff, in: Bleckmann, Europarecht, § 21 II. 1. f), S. 626 Rdnr. 1711; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 b Rdnr. 13; Schweitzer/Hummer, Europarecht § 14 V. 1., S. 369 Rdnr. 1212. 147 Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art 73 b Rdnr. 13; S. Weber, EuZW 1992, S. 561, 563. 142 143 144 145 146

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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tungsweise zugrunde. Folglich ist die Berechtigung aus der Kapitalverkehrs­ freiheit nicht an die Ansässigkeit in einem EU-Staat gekoppelt148.

bb) Beschränkung auf "Staatszugehörige" von EU-Mitgliedstaaten

Es schließt sich die Frage an, ob die Berufung auf die Kapitalverkehrsfreiheit die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU voraussetzt oder ob insbeson­ dere angesichts der Liberalisierung des Kapitalverkehrs mit Drittländern in Art. 56 Abs. 1 EGV auch Staatsangehörige eines Nicht-Mitgliedstaates berechtigt sind. Im Falle der juristischen Personen ist in gleicher Weise fraglich, ob die Be­ rechtigung aus der Kapitalverkehrsfreiheit eine der Staatsangehörigkeit ver­ gleichbare Bindung an einen EU-Mitgliedstaat erfordert.

Mangels einer ausdrücklichen Regelung zum personellen Geltungsbereich der Ka­ pitalverkehrsfreiheit in den Artt. 56 ff. EGV kann eine Antwort nur durch die all­ gemeine Untersuchung der persönlichen Berechtigung aus den Grundfreiheiten des EGV gegeben werden. Vor dem Maastricht-Vertrag gab es im EGV keine aus­ drückliche Regelung zum Kreis der aus den Freiheitsrechten des Binnenmarktes berechtigten Personen. Mit Inkrafttreten des Unionsvertrages wurde jedoch Art. 17 Abs. 2 EGV149 aufgenommen, der bestimmt, daß die Unionsbürger, also gemäß Art. 17 Abs. 1 EGV150 die Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, die im EGV vorgesehenen Rechte und Pflichten haben. Mit ’’Rechten” sind nach h.M. subjektive Rechtspositionen aus dem gesamten primären und sekundären Ge­ meinschaftsrecht sowie den vom Europäischen Gerichtshof herausgebildeten Rechtsgrundsätzen gemeint151. Angesichts der Existenz der Grundfreiheiten vor Inkrafttreten des Art. 17 Abs. 2 EGV war jedoch schon zuvor anerkannt, daß die Grundfreiheiten den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zustehen152. Für die Freizügigkeitsrechte (Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit) wurde dies dem Diskriminierungsverbot des 148 Eckhoff, in: Bleckmann, Europarecht, § 21 II. 1. f), S. 626 Rdnr. 1711; Schweitzer/Hummer, Europarecht, § 14 V. 1., S. 369 Rdnr. 1212; R.H Weber, in: Lenz, EGV, Art. 56 Rdnr. 24. 149 Damals Art. 8 Abs. 2 EGV. 150 Damals Art. 8 Abs. 1 EGV. 151 Bleckmann, Europarecht, § 1 V. 2., S. 32, Rdnr. 52 f.; Cloos/Reinesch/Vignes/Weyland, Le Traitö de Maastricht, 2. Aufl., 1994, S. 168; Haag, in: G/T/E, EGV, Art. 8 Rdnr. 9; Hilf, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 8 Rdnr. 54; Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., § 4 Rdnr. 212, S. 93; Schweitzer/Hummer, Europarecht, § 9 C., S. 255 Rdnr. 819; Streinz, Europarecht, § 2 III. 3. f), S. 20 Rdnr. 54; a.A.: Constantinesco/Gautier, EGV, Art 8 Rdnr. 23; Kaufmann-Bühler, EGV, Art. 8 Rdnr. 5. 152 H.G. Fischer, Die Unionsbürgerschaft, IV. 3., S. 12: ’'klarstellender” Charakter des Art. 17 Abs. 2 EGV (da­ mals Art. 8 Abs. 2 EGV); Hilf, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 8 Rdnr. 54.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Art. 12 Abs. 1 EGV153 entnommen154. Der Begriff der Staatsangehörigkeit ist dabei im Sinne der ’’Staatszugehörigkeit” zu verstehen, der als Oberbegriff auch juristische Personen einschließt, deren Bindung an einen Mitgliedstaat sich nach Maßgabe des Art. 48 Abs. 1 EGV, also durch Sitz, Hauptverwaltung oder Haupt­ niederlassung in der EU, ergibt155.

Nach dieser allgemeinen Betrachtung der Berechtigung aus den Grundfreiheiten stünde die Kapitalverkehrsfreiheit den ’’Staatszugehörigen” der EU zu. Es ist je­ doch fraglich, ob diese allgemeine Aussage für alle Grundfreiheiten auch den per­ sonellen Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit in dieser Weise begrenzt. Zweifel können sich daraus ergeben, daß das Diskriminierungsverbot in Art. 12 Abs. 1 EGV auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungs- und Dienst­ leistungsfreiheit ausgerichtet ist, bei denen es sich um personenbezogene Grundfreiheiten handelt. Eine solche Orientierung auf personenbezogene Rechte klingt auch in Art. 17 Abs. 2 EGV an, der die Unionsbürgerrechte der Artt. 18 21 EGV neben die bisherigen Rechte stellt. Dagegen handelt es sich bei der Ka­ pitalverkehrsfreiheit, wie bei der Warenverkehrsfreiheit, um eine objektbezogene Grundfreiheit, die nicht, wie die Freizügigkeitsrechte, die agierende Person in den Vordergrund stellt, sondern die Freiheit des Kapitals selbst, also des Objekts der Transaktionen, ausspricht156.

Dieser Unterschied der objektbezogenen Grundfreiheiten rechtfertigt es, den Kreis der Berechtigten der Kapitalverkehrsfreiheit nicht auf die ’’Staatszugehöri­ gen” der Mitgliedstaaten zu beschränken. Mangels einer perso-nenbezogenen An­ knüpfung in der Kapitalverkehrsfreiheitsnorm des Art. 56 Abs. 1 EGV kann diese Grundfreiheit weder durch Art. 17 Abs. 2 EGV noch durch das personenorien­ tierte Diskriminierungsverbot des Art. 12 Abs. 1 EGV in seinem personellen Geltungsbereich begrenzt werden. Parallel zur Warenverkehrsfreiheit, bei der die Berechtigung von Drittstaatsangehörigen im Falle der rechtmäßigen Einführung der Ware in einen Mitgliedstaat anerkannt ist157, kann sich ein Drittstaatsan­ gehöriger, dessen Kapital rechtmäßig in die EU eingeführt und hier angelegt

153 Art 6 Abs. 1 EGV a.F. 154 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 6 Rdnr. 32; Geiger, EGV, Art. 6 Rdnr. 5; Zuleeg, in: G/T/E, EGV, Art 6 Rdnr. 15. 155 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 6 Rdnr. 32; Geiger, EGV, Art. 6 Rdnr. 6. 156 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. b) aa) m.w.N. 157 Bleckmann, Europarecht, § 1 V. 2., S. 32, Rdnr. 54; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 6 Rdnr. 35; Zuleeg, in: G/T/E, EGV, Art. 6 Rdnr. 16.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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wurde, auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen158. Allein dieses Verständnis des personellen Geltungsbereichs der Kapitalverkehrsfreiheit wird dem Ziel dieser Grundfreiheit gerecht, das in der EU vorhandene Kapital unabhängig von der Na­ tionalität des Eigners dem Wirtschaftsprozeß zur möglichst effektiven Verwen­ dung zur Verfügung zu stellen. Aufgrund des sachlichen Geltungsbereichs des Art. 56 Abs. 1 2. Fall EGV, der Kapitalverkehrsbeschränkungen auch bei Drittstaatsbeteiligung verbietet, kann sich ein Drittstaatsangehöriger auf die Ka­ pitalverkehrsfreiheit auch beim Kapitaltransfer in die EU aus einem Drittland be­ rufen. Dies gilt jedoch einerseits nur unter dem Vorbehalt des Art. 57 EGV. An­ dererseits kann sich der Drittstaatsangehörige nur gegen Kapitalverkehrsbe­ schränkungen durch die Mitgliedstaaten, nicht aber durch das Drittland auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen, da sich die Geltung des EGV nur auf die Mit­ gliedstaaten erstreckt.

cc) Schutz von Kapitalgebern und -empfängern

Zuletzt schließt sich für den personellen Geltungsbereich des Art. 56 EGV die Frage an, ob dieser allein die Kapitalverkehrsfreiheit aktiv nutzende Personen, also Kapitaltransferierende, schützt oder ob er auch Kapitalempfänger berechtigt. Eine Beschränkung im erstgenannten Sinne würde z.B. dem Darlehensnehmer zum Zeitpunkt der Kreditüberweisung oder der Versicherungsgesellschaft zum Zeitpunkt der Prämienzahlung die Berufung auf die Kapitalverkehrsfreiheit verwehren.

Ein Ausschluß der Kapitalempfänger von der Berechtigung aus Art. 56 EGV ist abzulehnen. Dies ergibt sich zum einen aus der bereits dargestellten verkehrs­ orientierten Sichtweise des Art. 56 Abs. 1 EGV, nach der im Vordergrund der Li­ beralisierung das Kapital selbst und nicht der Kapitalleistende oder -empfangende steht159. Zum anderen spricht dafür der Vergleich zur Dienstleistungsfreiheit, bei der neben dem Dienstleistenden auch der Dienstleistungsempfänger zur Berufung auf die Grundfreiheit berechtigt ist. Der EuGH läßt insoweit den Dienstleistungs­ empfänger die Grundfreiheit eher als ’’objektives Recht”160 heranziehen161, ohne 158 Vgl. Eckhoff, in: Bleckmann, Europarecht, § 21 II. 1. f), S. 626 Rdnr. 1711; Ohler, WM 1996, S. 1801, 1806; Schweitzer/Hummer, Europarecht, § 14 V. 1., S. 369 f. Rdnr. 1212; Streinz, Europarecht, 3. Auf!., 1996, § 14 I. 2., S. 256 Rdnr. 742; R:H. Weber, in: Lenz, EGV, Art. 56 Rdnr. 24; i.A. Dautzenberg, IStR 1997, S. 39,42. 159 Vgl. Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 b Rdnr. 13; S. Weber, EuZW 1992, S. 561, 563. 160 D.h. als für den Dienstleistungsverkehr objektiv geltende Norm im Unterschied zu einem subjektiven Recht, auf das sich nur der Berechtigte berufen kann.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

die subjektive Berechtigung genau zu prüfen. Schließlich spricht für die hier vertretene Auffassung die ”Svensson/Gustavsson”-Entscheidung des EuGH162, in der dieser sich aufgrund der Klage des Darlehensnehmers mit der Kapital­ verkehrsfreiheit auseinandersetzte.

dd) Ergebnis Der personelle Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit erstreckt sich auf alle natürlichen und juristischen Personen unabhängig von ihrer Ansässigkeit in der EU und ihrer Staatsangehörigkeit, deren Kapital rechtmäßig innerhalb der EU oder zwischen einem Drittland und der EU transferiert wird163. In letzterem Fall ist der Vorbehalt des Art. 57 EGV und die Geltung des EGV nur gegen Maß­ nahmen der Mitgliedstaaten zu beachten.

Unabhängig von dem beschriebenen personellen Geltungsbereich der Kapitalver­ kehrsfreiheit ist für das in dieser Arbeit untersuchte Steuerrecht als “Schranke" der Kapitalverkehrsfreiheit darauf hinzuweisen, daß der Staatsangehörigkeit von natürlichen Personen im Steuerrecht keine Bedeutung zukommt. Die Vorschriften der Steuergesetze knüpfen an die unbeschränkte bzw. beschränkte Steuerpflicht an (vgl. § 1 Abs. 1 EStG), welche sich bei natürlichen Personen nach dem Wohnsitz (vgl. § 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalt (vgl. § 9 AO), nicht aber nach der Staatsangehörigkeit bestimmt. Dagegen kann die "Staatszugehörigkeit" bei juristischen Personen schon von Bedeutung sein. Die unbeschränkte Steuer­ pflicht knüpft hier an eine Geschäftsleitung oder einen Sitz im Inland an (vgl. § 1 Abs. 1 KStG). Es kommt danach auf den Mittelpunkt der geschäftlichen Oberlei­ tung (vgl. § 10 AO) bzw. den durch Gesetz, Gesellschaftsvertrag oder Satzung bestimmten Sitz einer juristischen Person (vgl. § 11 AO) an. Der unter Einhaltung des inländischen Rechts begründete Sitz kann schon als Erfüllung des Kriteriums der "Staatszugehörigkeit" verstanden werden.

161

EuGH, Urt v. 28.01.1992 - Rs. C-204/90, Sig. I 1992, 249, 284 Rdnr. 31; Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1928 Rdnr. 30; in beiden Urteilen berief sich der Dienstleistungsempfänger auf die Grundfreiheit. 162 EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955 ff. 163 Ebenso Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 56.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

2.

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Art. 58 EGV - ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit

Die Betrachtung des ’’Schutzbereichs” der Kapitalverkehrsfreiheit kommt zu dem Ergebnis, daß gegen Steuervorschriften der Mitgliedstaaten, die grenzüberschrei­ tende Kapitaltransaktionen berühren, der Schutz der Kapitalverkehrsfreiheit eröff­ net ist und sich jede natürliche und juristische Person, die innergemeinschaftschaftliche oder aus einem Drittland in die EU erfolgende, grenzüberschreitende Kapitaltransfers tätigt, auf sie berufen kann. Im nächsten Schritt ist es erforder­ lich, sich mit der auf Steuemormen ausgerichteten Grenze der Kapitalverkehrs­ freiheit, also mit Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als ihrer ’’Schranke”, auseinanderzuset­ zen. Erst das Verständnis der ’’Schranke” ermöglicht, im Teil B dieses Kapitels und im Kapitel 3 die Vereinbarkeit verschiedener Steuervorschriften mit Art. 58 EGV zu untersuchen.

a)

Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV - ein Rückschritt gegenüber dem bisherigen Liberalisierungsniveau?

Die Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV bestimmt, daß Art. 56 EGV, der die Kapitalverkehrsfreiheit regelt, ’’nicht das Recht der Mitgliedstaaten berührt, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behan­ deln”. Die Sonderstellung und Diskussionswürdigkeit dieser mit dem MaastrichtVertrag eingeführten Norm wird deutlich, wenn man ihren Regelungsgehalt mit dem zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens vorhandenen Liberalisierungsniveau des Kapitalverkehrs vergleicht.

Vor der Einführung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV war der Kapitalverkehr durch die Kapitalverkehrs-Richtlinie164 auf sekundärrechtlicher Ebene so weitgehend liberalisiert, daß die Mitgliedstaaten gemäß Art. 1 der Richtlinie zur Beseitigung der Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Gebietsansässigen in den Mitgliedstaaten verpflichtet waren. Die Kapitalverkehrs-Richtlinie enthielt keine mit Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV vergleichbare Ausnahme Vorschrift. Zudem be­ stimmte Art. 67 Abs. 1 EGV a.F. auf primärrechtlicher Ebene, daß ’’soweit es für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist, die Mitgliedstaaten ... alle Diskriminierungen auf Grund der Staatsangehörigkeit oder des Wohnorts 164 Richtlinie 88/361 des Rates vom 24.06.1988 zur Durchführung von Art. 67 EWGV, ABI. EG 1988 Nr. L 178, S. 5.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

der Parteien oder des Anlageorts aufheben.” Durch das Zusammenwirken des Art. 67 Abs. 1 EGV a.F. und des Art. 1 der Kapitalverkehrs-Richtlinie waren folglich auf sekundärrechtlicher Ebene "alle Diskriminierungen aufgrund des Wohnorts der Parteien oder des Anlageorts" verboten.

Es könnte angesichts dieser Situation eine primärgemeinschaftsrechtliche Rück­ nahme eines bereits sekundärrechtlich erreichten Liberalisierungsniveaus darstel­ len, wenn Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV den Mitgliedstaaten das Recht gibt, "die ein­ schlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln"165. Auf diese Weise könnte eine "Schranke" der Kapitalverkehrsfreiheit vorgesehen sein, deren Inhalt vorher durch das Zusammenwirken von Art. 67 EGV a.F. und Art. 1 der Kapitalverkehrs-Richtlinie ausdrücklich ausgeschlossen war. Fraglich ist daher, ob in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV ein Verstoß gegen den gemeinschaftli­ chen Besitzstand (acquis communautaire) gesehen werden kann166. Die Europäische Union ist gemäß Art. 3 EUV auf die "Wahrung und Weiterentwick­ lung des gemeinschaftlichen Besitzstands" ausgerichtet. Zum "acquis commu­ nautaire" gehört dabei auch die Kapitalverkehrs-Richtlinie von 1988167, so daß aufgrund der beschriebenen Gegensätze ein Verstoß in Betracht käme.

Dieses Problem läßt sich durch die nachfolgende genauere Betrachtung des Art. 58 EGV lösen. Die Untersuchung seines Regelungsgehalts und seiner Stel­ lung zu Art. 56 EGV wird die Frage nach dem durch seine Einführung eintreten­ den Rückschritt gegenüber dem bisherigen Liberalisierungsniveau des Kapitalver­ kehrs verneinen168.

b)

Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV - Einordnung der "Unberührtheitsklausel“ in die Systematik der Grundfreiheit

In einem ersten Schritt zum Verständnis der "Schranke" der Kapitalverkehrsfrei­ heit ist es erforderlich, die Stellung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV in der Systema­

165 Vgl. Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 5. 166 Für einen Verstoß und eine daraus folgende Reduktion des Anwendungsbereichs des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV auf den Kapitalverkehr zwischen der EU und Drittstaaten: Martin-Jimenez, EC Tax Review 1995, S. 78, 80. 167 Richtlinie 88/361 des Rates vom 24.06.1988 zur Durchführung von Art. 67 EWGV, ABI. EG 1988 Nr. L 178, S. 5. 168 Vgl. Ergebnis in Kapitel 2 A. I. 2. f).

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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tik der Grundfreiheit zu untersuchen. Die als "Unberührtheitskiauser169 bezeich­ nete Bestimmung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, wonach Art. 56 EGV, der den Grundsatz der Freiheit des Kapitalverkehrs regelt, "nicht das Recht der Mitglied­ staaten berührt, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln", wird in der Literatur unterschiedlich verstanden. Dabei hat die Interpretation entscheidende Folgen für den Regelungsgehalt des Art. 58 EGV. Die Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV wird teils als "Bereichsausnahme", teils als eingriffsrechtfertigende "Schranke" betrachtet. Das Verständnis als "Bereichsausnahme" hätte zur Folge, daß die in der Norm genannten, steuerrechtlich bedingten Beschränkungen aus dem Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit herausgenommen würden. Im Falle der eingriffs­ rechtfertigenden "Schranke" lieferte die Vorschrift dagegen eine Rechtfertigung für den Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit und unterläge dem die Rechtferti­ gung begrenzenden Verhältnismäßigkeitsprinzip.

aa) Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als "Bereichsausnahme" Es läßt sich Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als "Bereichsausnahme" der in Art. 56 Abs. 1 EGV geregelten Kapitalverkehrsfreiheit betrachten170. Das Wort "unbe­ rührt" in Art. 58 Abs. 1 EGV könnte darauf hinweisen, daß die in lit. a genannten Steuemormen grundsätzlich von der Kapitalverkehrsfreiheit in Art. 56 Abs. 1 EGV ausgenommen sind. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV sei keine Rechtfertigung für eine Diskriminierung durch eine mitgliedstaatliche Steuervorschrift, sondern defi­ niere durch eine legale Fiktion die unterschiedliche steuerliche Behandlung nach Wohn- oder Kapitalanlageort als nicht diskriminierend und nehme somit diese Steuervorschriften aus dem Anwendungsbereich des Art. 56 EGV heraus171. Dieser Charakter der Vorschrift als "Bereichsausnahme" und nicht als rechtferti­ gende "Schranke" wird damit begründet, daß Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV nicht in die 169 Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 4. 170 Vgl. De Boni, EC Tax Review 1995, S. 136, 139 f.; Eckhoff, in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 17 Rdnr. 15, S. 473: bestimmte "steuerliche Beeinträchtigungen der Freiheit des Ka­ pitalverkehrs sind gemäß Art. 73 d Abs. 1 Buchst a EGV zulässig und stellen darum keine Diskriminierun­ gen dar"; wohl auch Honrath, C. II. 3. a) aa), S. 80: "Art. 73 d Abs. 1 a EGV nimmt aus der Grundformel eines Verbots sämtlicher Kapitalverkehrsbeschränkungen die einschlägigen Vorschriften des nationalen Steu­ errechts heraus, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln." 171 De Bont, EC Tax Review 1995, S. 136, 140: "This provision does not contain a justification for a discrimi­ natory distinction in the legislation of the member state, but does prevent, through a legal fiction, that this dif­ ferent treatment is discriminatory."

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Begrenzung der ’’Schranken” in Art. 58 Abs. 3 EGV einbezogen sei. So erstrecke sich Art. 58 Abs. 3 EGV vom Wortlaut her nur auf die ”in den Absätzen 1 und 2 genannten Maßnahmen und Verfahren", wogegen sich Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV aber gerade auf Rechtsvorschriften und eben nicht auf "Maßnahmen und Verfah­ ren" beziehe172.

Ein weiteres Argument für den "Bereichsausnahme"-Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV173 ließe sich aus der 7. Erklärung im Anhang des Unionsvertrages174 entwickeln. Nach dieser ’’Stillstandserklärung’’ gilt das in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV genannte Recht zur Differenzierung nach dem unterschiedlichen Wohn­ oder Kapitalanlageort nur für Steuervorschriften, die Ende 1993 in Kraft waren. Es könnte dieser allein auf Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gerichteten Erklärung ent­ nommen werden, daß die mitgliedstaatlichen Steuervorschriften den anderen in Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV genannten einzelstaatlichen Beschränkungen nicht gleichgestellt sind. Daraus ließe sich schließen, daß nur die in Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV genannten Fälle Rechtfertigungsgründe darstellen, die einer Verhältnismä­ ßigkeitsprüfung i.S.d. Art. 58 Abs. 3 zugänglich sind. Dagegen wäre Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV eine "Bereichsausnahme’’ der Kapitalverkehrsfreiheit, die keine Rechtfertigungsprüfung ermöglicht. Allerdings wird das genannte Argument aus der 7. Erklärung dadurch abgeschwächt, daß die Erklärungen im Anhang des Uni­ onsvertrages nicht an der Verbindlichkeit des Vertrages teilhaben’75, sondern nur Mittel für dessen Interpretation sind.

bb) Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als eingriffsrechtfertigende ’’Schranke” Das geschilderte Verständnis des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als "Bereichsaus­ nahme" kann aus verschiedenen Gründen nicht überzeugen176. Erstens kann die in Art. 58 Abs. 1 EGV vorangestellte "Unberührtheit" durch Art. 56 EGV, die sich zudem auf alle in lit. a und b genannten Fälle bezieht, nur richtig interpretiert werden, wenn man dem Ende des Absatzes 1 besondere Aufmerksamkeit widmet. Als letzter Fall der Aufzählung wird dort das Recht zugestanden, "Maßnahmen zu 172 De Boni, EC Tax Review 1995, S. 136, 140. 173 Vormals Art. 73 d Abs. 1 lit. a EGV. 174 Wortlaut: "Die Konferenz bekräftigt, daß das in Art. 73 d Absatz 1 Buchstabe a des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft erwähnte Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, nur für die einschlägigen Vorschriften gilt, die Ende 1993 bestehen. Die Erklärung betrifft jedoch nur den Kapital- und Zahlungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten." 175 Vgl. dazu ausführlich: Kapitel 2 A. I. 2. e). 176 Ebenso Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 766.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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ergreifen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerecht­ fertigt sind”. Diese im Hinblick auf ein Allgemeininteresse sehr offene, am Ende der Aufzählung plazierte Rechtfertigungsklausel weist darauf hin, daß es sich auch bei allen vorher aufgezählten Fällen um verschiedene Rechtfertigungsgründe handelt. Die Klausel bildet als weitreichender Rechtfertigungsgrund, der einen großen Spielraum für die Subsumtion eröffnet, den Abschluß der detaillierten Aufzählung177. Daraus läßt sich schließen, daß auch dem in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV aufgegriffenen Fall eine RechtfertigungsWirkung für die vorliegende Kapitalverkehrsbeschränkung zukommt.

Zweitens kann der Ausnahmecharakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV nicht mit sei­ ner fehlenden Erfassung durch Art. 58 Abs. 3 EGV, also durch die "Schranke” der Rechtfertigungsgründe, begründet werden. Tatsächlich erstreckt sich der dritte Absatz nämlich auf alle in den Absätzen 1 und 2 genannten Fälle, ohne sich auf ’’Maßnahmen und Verfahren” zu beschränken178, was vor kurzem vom EuGH in seiner “Verkooijen“-Entscheidung bestätigt wurde179. Ein Absehen von der Recht­ fertigungsprüfung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips würde dem "effet utile” des Art. 58 Abs. 3 EGV zuwiderlaufen180. Diese Vorschrift will si­ cherstellen, daß die in den Absätzen 1 und 2 genannten Beschränkungen nicht grenzenlos zulässig sind, sondern darauf zu überprüfen sind, ob sie nicht "ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung" darstellen. Die mißlungene Wortwahl in Art. 58 Abs. 3 EGV, d.h. die scheinbare Begrenzung der Rechtfertigungsprüfung auf "Maßnahmen und Verfahren", ergibt sich wahrscheinlich aus der unbedachten Übernahme des Begriffs "Maßnahmen und Verfahren" aus Art. 4 Abs. 2 der Kapitalverkehrs-Richtlinie181, ohne daß die Formulierung dem erweiterten Anwendungsbereich der Art. 58 Abs. 1 und 2 EGV angepaßt wurde182. Der neue Art. 58 Abs. 1 erfaßt eben aufgrund von lit. a EGV gerade auch Steuerrechtsvorschriften und nicht nur untergesetzliche "Maßnahmen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechtsvorschriften zu verhindern". Die fehlende Anpassung wird ebenso durch den Bezug des Art. 58 Abs. 3 EGV auf Art. 58 Abs. 2 EGV dokumentiert. Von "Maßnahmen und 177 So auch Freitag, EWS 1997, S. 186, 194. 178 Freitag, EWS 1997, S. 186, 195; Honrath, C. II. 3. a) bb), S. 85; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 33; Kimms, Zweiter Teil II. 2. b) aa) bbb), S. 193; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 20; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 766. 179 EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 45. 180 So Schön, Kapitalverkehrsfreiheit S. 743, 766; ähnlich Knobbe-Keuk, EC Tax Review 1992, S. 22; beiden zustimmend Matzka, Österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 91 f. 181 Vgl. Nachweis in Fn. 57. 182 Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 766.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Verfahren” ist in Art. 58 Abs. 2 EGV nicht ausdrücklich die Rede. Vielmehr ist der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit gerade nicht auf unter­ gesetzliche Maßnahmen begrenzt, sondern erstreckt sich auch auf Gesetze, die eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellen.

Schließlich kann der Rechtfertigungscharakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV durch die Parallelität in der Systematik183 zwischen Art. 58 EGV und der Regelung des Art. 30 EGV im Warenverkehr bewiesen werden. Art. 30 S. 2 EGV verbietet par­ allel zu Art. 58 Abs. 3 EGV die ’’willkürliche Diskriminierung oder verschleierte Beschränkung”. Im Warenverkehr ist diese Klausel als Grenze der in Art. 30 S. 1 EGV verankerten Rechtfertigungsgründe anerkannt184. Dieses Verständnis kann, legitimiert durch die systematische Parallelität der beiden Grundfreiheiten, auf die Kapitalverkehrsfreiheit übertragen werden. Danach zählt Art. 58 EGV in seinem gesamten ersten Absatz parallel zu Art. 30 S. 1 EGV die eingriffsrechtfertigenden ’’Schranken” der Kapitalverkehrsfreiheit auf, welche ihre Grenze - ihre ’’Schran­ ken-Schranke” - in Art. 58 Abs. 3 EGV, parallel zu Art. 30 S. 2 EGV, finden.

cc) Ergebnis Folglich stellt Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV eine ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfrei­ heit dar, die durch Steuemormen begründete Eingriffe in die Grundfreiheit in spe­ ziellen Fällen rechtfertigt185. Den Charakter der Vorschrift als Rechtfertigungs­ grund hat der EuGH in seinem “Verkooijen“-Urteil bestätigt186. Bei der Rechtfer­ tigungsprüfung ist in einem zweiten Schritt Art. 58 Abs. 3 EGV als ’’SchrankenSchranke”, also als Grenze des Rechtfertigungsgrundes, zu berücksichtigen.

183 Parallelität im Aufbau der Normen. 184 Matthies/v. Borries, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 36 Rdnr. 8; Müller-Graff, in: G/T/E, EGV, Art 36 Rdnr. 46; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 344 Rdnr. 1130. 185 Ebenso Schön, Kapitalverkehrsfreiheit S. 743, 766; vgl. Eckhoff, in: Bleckmann, Europarecht § 21 II. 2., S. 626 Rdnr. 1713fT; Kimms, Zweiter Teil II. 2. b) aa), S. 187. 186 EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 45 ff.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

c)

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Art 58 Abs. 1 lit. a EGV - Konstitutiver Charakter der Eingriffsrecht­ fertigung für kapitaleinkünftebezogene Steuemormen

Nach der Erkenntnis über den eingriffsrechtfertigenden Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV stellt sich die Frage, ob dieser mit dem Maastricht-Vertrag eingefuhrten Eingriffsrechtfertigung für steuerrechtlich bedingte Kapitalverkehrs­ beschränkungen konstitutive oder lediglich deklaratorische Bedeutung zukommt. Die aufgeworfene Frage läßt Zweifel an dem Bedeutungsgehalt des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit entstehen, durch den nach Ansicht der überwiegenden Literatur erreicht wurde, daß die Mitgliedstaaten die Differenzierung im Steuerrecht nach Steuerinländem und -ausländem nicht ohne Harmonisierung der betreffenden direkten Steuern aufgeben müssen187.

Die Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV rechtfertigt einerseits aufgrund der zulässigen Differenzierung nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen die Unter­ scheidung zwischen Gebietsansässigen und -fremden im abkommensrechtlichen Sinn188, andererseits die unterschiedliche steuerliche Behandlung von in- und aus­ ländischen Kapitalanlagen eines ansässigen Steuerpflichtigen (Differenzierung nach dem Kapitalanlageort). Diese Rechtfertigungsgründe müssen vor dem Hin­ tergrund betrachtet werden, daß eine Diskriminierung und somit eine Beschrän­ kung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV189 durch eine Steuemorm nur dann gegeben ist, wenn Sachverhalte ungleich behandelt werden, obwohl die steuerliche Situation der Personen im Hinblick auf die anzuwendende Steuemorm grundsätzlich gleich liegt, oder wenn Sachverhalte trotz wesentlich verschiedener Ausgangslage gleich behandelt werden190. Bei der Prüfung der Vergleichbarkeit der steuerlichen Situa­ tion ist immer auf den Einzelfall, d.h. die konkret in Frage stehende

187 Vgl. Honrath, C. II. 3. a) aa), S. 80 f.; Kimms, Zweiter Teil II. 2. b) aa) aaa), S. 188; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 12; Peters, EC Tax Review 1998, S. 4, 5 f.; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 d Rdnr. 4; vgl. Deutscher Bundestag, Denkschrift zum Vertrag vom 07.02.1992 über die Europäische Union, BT-Drs. 12/3334 vom 01.10.1992, S. 81, 87 f. 188 Dazu ausführlich: Kapitel 2 A. II. 1. a). 189 ’’Diskriminierung" ist Unterfall der "Beschränkung"; vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) bb) und Everling, in: Wohlfahrt/Everling/Glaesner/Sprung, EWGV, Art. 67 Nr.5; Hahn/Follak, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirt­ schaftsrechts, Kapitel F.II., Rdnr. 11; Honrath, C. I., S. 64; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 b Rdnr. 14, Art 73 d Rdnr. 12; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 15; jüngst Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 506. 190 Vgl. ständige Rspr. des EuGH zu steuerrechtlichen Sach verhalten: EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 259 Rz. 30 (Schumacker); Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2515 Rz. 17 (Wielockx); ausführlich Hinnekens, European Taxation 1996, S. 286 ff.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

innerstaatliche Besteuerungsnorm, nicht aber auf einen Gesamtvergleich der steuerlichen Situation der beiden Personen abzustellen191.

Es sind bei der Vergleichbarkeitsprüfung verschiedene Fallkonstellationen denk­ bar. Die mitgliedstaatliche Steuemorm kann auf der einen Seite den Gebietsfrem­ den gegenüber dem Gebietsansässigen und die ausländische Kapitalanlage eines Gebietsansässigen gegenüber der inländischen eines anderen Gebietsansässigen benachteiligen. Dies sind die in der Praxis häufig auftretenden Konstellationen, da die Staaten sowohl ihre Gebietsansässigen als auch die inländischen Kapital­ anlagen steuerpolitisch fördern. Auf der anderen Seite kann die mitgliedstaatliche Steuemorm aber auch reziprok den Gebietsansässigen gegenüber dem Ge­ bietsfremden und die inländische Kapitalanlage gegenüber der ausländischen be­ nachteiligen, was jedoch in der Praxis selten vorkommt. Als weiterer Fall kommt in Betracht, daß zwei Gebietsfremde im Hinblick auf den gleichen steuerlichen Sachverhalt in einem Mitgliedstaat differenziert behandelt werden.

Die Voraussetzung jeder dieser Gegenüberstellungen ist die vergleichbare steuer­ liche Situation der Betroffenen. Diese ist gegeben, wenn die mitgliedstaatliche Steuerordnung in bezug auf Modalitäten und Voraussetzungen der Besteuerung eine prinzipielle Gleichbehandlung der beiden Steuerpflichtigen vorsieht192. Die objektive Situation der Betroffenen muß hinsichtlich der Besteuerung durch den Grundsatz einer Gleichbehandlung in bezug auf die grundlegenden Steuertatbe­ stände (z.B. gleiche Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlage) und die Besteuerungsfolgen (z.B. gleicher Einkommensteuertarif) charakterisiert sein, der nur im Einzelfall durchbrochen wird. Die grundsätzliche Gleichbehandlung und ihre nur unter besonderen Voraussetzungen zulässige Durchbrechung ist mit der aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Bindung des Gesetzgebers an die von ihm selbst statuierte Sachgesetzlichkeit vergleichbar.

191 Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 104 m.w.N. 192 Vgl. EuGH, Urt v. 26.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 305 Rz. 20 (avoir fiscal); Thömmes, in: Ge­ dächtnisschrift Knobbe-Keuk, S.795, 806.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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aa) Keine Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation bei ’’unterschiedli­ chem Wohnort oder Kapitalanlageort” - deklaratorischer Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV Es wird in der Literatur die Ansicht vertreten, daß bei Steuemormen, die nach dem unterschiedlichen Wohnort oder Kapitalanlageort der Steuerpflichtigen i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV differenzieren, keine Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation vorliege193. Dies lasse bereits die Voraussetzung einer Diskriminierung und somit einer Beschränkung des Kapitalverkehrs i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV ent­ fallen, so daß der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV lediglich klarstellen­ der, deklaratorischer Charakter zukomme. Die "Schranke” eröffne keine Aus­ nahmen vom Diskriminierungsverbot, die sich nicht auch schon nach den allge­ meinen Grundsätzen über die Diskriminierungsverbote nach der EuGH-Rechtsprechung herleiten ließen. Die Rechtslage nach der Einführung der ’’Schranke” entspreche daher der bereits vorher geltenden, nach der vom EuGH194 bereits im außersteuerlichen Bereich die Rechtfertigung von Kapitalverkehrsbeschränkun­ gen durch ’’zwingende Erfordernisse” des Allgemeininteresses anerkannt war195.

Dieser Auffassung der deklaratorischen Bedeutung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV liegen die Ausführungen des EuGH in den Entscheidungen ’’Schumacker” und ’’Wielockx” zugrunde196. Darin wurde klargestellt, daß beschränkt und unbe­ schränkt Steuerpflichtige sich in der Regel nicht in vergleichbaren steuerlichen Verhältnissen befinden197. Das Fehlen der Vergleichbarkeit der steuerlichen Situa­ tion wurde auf die Steuemormen übertragen, die Kapitaleinkünfte, und somit den Kapitalverkehr, betreffen und ebenfalls nach der Ansässigkeit der Steuer­ pflichtigen unterscheiden198. Danach mangele es bei jeder dieser Steuervor­ schriften an der Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation des Gebietsansässigen und -fremden, wodurch eine Diskriminierung als Unterform der Kapitalver­ kehrsbeschränkung ausscheide. Die nach Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zulässige Dif­ 193 Vgl. Dautzenberg, RIW 1998, S. 537, 541; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 767. 194 EuGH, Urt. v. 03.02.1993, Rs. C-148/91, Sig. I 1993, S. 487, 518 f. (Veronica) und insbesondere GA Tesauro in den zugehörigen Schlußanträgen, S. 509 f. Rz. 8. 195 Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 768. 196 Mit ausdrücklichem Verweis auf die Entscheidungen: Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 767; allgemein auf Verständnis des Diskriminierungsverbots, das sich aber aus diesen Entscheidungen ableitet, verweisend: Dautzenberg, RIW 1998, S. 537, 541. 197 EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 260 Rz. 31 ff. (Schumacker); Urt v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, S1g. I 1995, S. 2493, 2515 Rz. 18 f. (Wielockx); vgl. EuGH, Urt. v. 12.05.1998, Rs. C-336/96, Sig. I 1998, S. 2793, 2839 Rz. 49 (Gilly). 198 Vgl. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 767.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

ferenzierung nach dem Wohnort komme damit mangels Eingriffs in die Kapital­ verkehrsfreiheit gar nicht zur Anwendung. Die Norm besitze lediglich deklarato­ rische Bedeutung.

Bei der Differenzierung nach dem Wohnort ist der Gedankengang, der für die ge­ nannten Autoren zum deklaratorischen Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV fuhrt, erkennbar. Dagegen kann für den deklaratorischen Charakter der ebenfalls nach der ’’Schranke” zulässigen Differenzierung nach dem Kapitalanlageort, der ausdrücklich nur von einer Literaturstimme vertreten wird199, die zugrundelie­ gende Argumentationkette nicht dargestellt werden. Es fehlt hier an einer detail­ lierten Begründung für diese Auffassung.

bb) Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation bei kapitaleinkünftebezogenen Steuernormen - konstitutiver Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV

Die Auffassung von der Unvergleichbarkeit der steuerlichen Situation von Ge­ bietsansässigen und -fremden bei kapitaleinkünftebezogenen Steuemormen kann jedoch nicht überzeugen. Sie disqualifiziert den Bedeutungsgehalt des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV in einer nicht nachvollziehbaren Weise, weil sie aus den EuGHEntscheidungen ’’Schumacker”200 und "Wielockx”201 für kapitaleinkünftebezogene Steuemormen, wie nachfolgend begründet wird, unangebrachte Schlüsse zieht. Dabei übersieht sie die Feststellungen des EuGH zur Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation in der ’’Avoir Fiscal”-Entscheidung202.

Der EuGH hat in den Entscheidungen ’’Schumacker” und ’’Wielockx” seine Aus­ sage, daß sich im Hinblick auf direkte Steuern Gebietsansässige und -fremde in der Regel nicht in einer vergleichbaren steuerlichen Situation befinden203, zu per­ sonenbezogenen Steuemormen getroffen. Es ging hier um Vorschriften, die dem beschränkt Steuerpflichtigen einerseits den Splitting-Vorteil und die Einkom­ mensteuerveranlagung 204, andererseits den Abzug von Altersrücklagen von Vgl. Dautzenberg, RIW 1998, S. 537, 541. EuGH, Urt v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225 ff. EuGH, Urt v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493ff. Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 305 Rz. 20. EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225,260 Rz. 31 ff. (Schumacker); Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2515 Rz. 18 f. (Wielockx). 204 EuGH, Urt v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225ff. (Schumacker).

199 200 201 202 203

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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seinen Einkünften versagten205. Steuerrechtliche Vorschriften, die auf das Kapital als Einkunftsquelle gerichtet sind, wie zum Beispiel die Vorschriften zur Ka­ pitalertragsteuer oder zur Anrechnung der Körperschaftsteuer, und eine grenz­ überschreitende Kapitalanlage beschränken, haben dagegen im Vergleich mit personenbezogenen Steuemormen einen anderen Charakter, der eine Übertragung der EuGH-Rechtsprechung ausschließt. Bei personenbezogenen Steuemormen rechtfertigt es in der Regel die nur im Wohnsitzstaat bestehende gesellschaftliche Integration des Steuerpflichtigen und seine Nutzung staatlicher Leistungen (z.B. Infrastruktur), die Vergleichbarkeit in der steuerlichen Situation zwischen Gebietsansässigen und -fremden grundsätzlich abzulehnen. Sie ergibt sich hier nur dann, wenn der beschränkt Steuerpflichtige seine wesentlichen Einkünfte im Nicht-Wohnsitzstaat erzielt und auf diese Weise eine enge wirtschaftliche Bindung an diesen Staat hat206.

Dagegen ist bei Steuemormen, die die grenzüberschreitende Kapitalanlage be­ schränken, hinsichtlich des Steuerobjekts Kapital die Vergleichbarkeit der Si­ tuation des Gebietsansässigen und -fremden gegeben207. Es wurde einleitend klar­ gestellt, daß die Vergleichbarkeitsprüfimg im Hinblick auf eine einzelne Besteue­ rungsnorm, nicht aber durch einen Gesamtvergleich des Gebietsansässigen und -fremden vorzunehmen ist208. Daher muß für die Vergleichbarkeitsbetrachtung auf die Steuervorschriften zu Kapitaleinkünften, als eine von der Einkommensteuer erfaßte Einkunftsart, abgestellt werden. Die kapitaleinkünftebezogenen Steuemor­ men als objektorientierte Vorschriften (im Unterschied zu personenbezogenen Steuemormen) gehen von der grundsätzlich vergleichbaren steuerlichen Situation des Gebietsansässigen und -fremden und der in- und ausländischen Kapitalanlage eines Gebietsansässigen aus. So wird z.B. in Deutschland bei unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtigen in gleicher Weise auf die Ausschüttungen der inlän­ dischen Kapitalgesellschaft die Körperschaftsteuer mit gleichem Tarif erhoben (vgl. § 27 Abs. 1 KStG), und die Dividendeneinkünfte werden bei beiden Steuer­ pflichtigen mit der auf Bruttobasis berechneten Kapitalertragsteuer mit gleichem Tarif belastet (vgl. §§ 43 ff. bzw. 49 Abs. 1 Nr. 5 lit. a EStG). Die in- und ausländischen Kapitaleinkünfte unterfallen beide beim unbeschränkt Steuerpflichtigen nach dem Welteinkommensprinzip der inländischen Einkom­ mensteuer. Mit dem Ziel der Belastungsgleichheit für alle Einkunftsarten wird die 205 206 207 208

EuGH, Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493ff. (Wielockx). Vgl. EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225ff. (Schumacker). So auch Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 761. Vgl. oben Kapitel 2 A. I. 2. in Einleitung zu c); Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrs­ freiheit, S. 104 m.w.N.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Vorbelastung mit in- oder ausländischer Kapitalertragsteuer durch ihre An­ rechnung auf die Einkommensteuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG bzw. ent­ sprechender DBA-Vorschriften209 i.V.m. § 34 c Abs. 1 EStG berücksichtigt. Daher erfolgt grundsätzlich eine Gleichbehandlung der Gebietsansässigen und -fremden und der in- und ausländischen Kapitaleinkünfte des Gebietsansässigen in bezug auf Modalitäten und Voraussetzungen der Besteuerung210. Die steuerliche Situation ist in diesen Fällen folglich vergleichbar; die Grundvoraussetzung für die Feststellung einer Diskriminierung als Unterfall der Beschränkung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV211 somit gegeben. Die Unmöglichkeit der Übertragung der für personenbezogene Steuemormen fest­ gestellten Unvergleichbarkeit der steuerlichen Situation auf Kapitaleinkünfte ergibt sich auch aus der Unübertragbarkeit der zugehörigen Begründung der un­ terschiedlichen gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Bindung des Gebietsan­ sässigen und -fremden. Dieses Kriterium kann im Hinblick auf die Erzielung von Kapitaleinkünften durch Portfolioinvestitionen nicht für die Unvergleichbarkeit der Situation herangezogen werden. Für die Einkunftsquelle Kapital macht es im Gegensatz zu Einkünften aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit und aus Gewerbebetrieb für die steuerliche Situation keinen Unterschied, ob der Investor im Anlagestaat ansässig ist oder nicht. Die Portfolioinvestition geht nicht mit einer gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Bindung an den Anlagestaat einher. Folglich befinden sich gebietsansässige und -fremde Kapitalanleger auch aus diesem Grund im Hinblick auf die Einkunftsquelle Kapital in einer vergleichbaren steuerlichen Situation.

Aufgrund der Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation bei Gebietsansässigen und -fremden bzw. in- und ausländischen Kapitalanlagen können sich im Ergeb­ nis durch kapitaleinkünftebezogene Steuervorschriften Diskriminierungen und somit Beschränkungen i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV ergeben, die für die Vereinbar­ keit mit dem Europarecht einer Rechtfertigung bedürfen. An dieser Stelle kommt Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV eine konstitutive Bedeutung als Rechtfertigungstatbe­ stand zu. Nur die in ihm enthaltene Eingriffsrechtfertigung kann zur Zulässigkeit einer kapitalverkehrsbeschränkenden Steuemorm führen. Die ’’Schranke” der 209 Vgl. Art 23 A Abs. 2 OECD-MA. 2,0 Nach den gleichen Kriterien stellte der EuGH in der ’’Avoir fiscal"-Entscheidung die vergleichbare steuerliche Situation einer gebietsansässigen und einer gebietsfremden Gesellschaft fest: vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273,305 Rz. 20. 2,1 Vgl. Kapitel 2 A.I. l.a)bb).

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Kapitalverkehrsfreiheit eröffnet, wie nachfolgend ausgefiihrt wird212, den materi­ ellen Rechtfertigungsgrund, der hinter der Differenzierung nach Wohn- und Ka­ pitalanlageort des Steuerpflichtigen steht.

Es ist an dieser Stelle anzumerken, daß der EuGH sich mittlerweile213 in seiner “Verkooijen“-Entscheidung214 entgegen der hier vertretenen Auffassung für den deklaratorischen Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV ausgesprochen hat. Er stellt fest, daß schon vor Inkrafttreten der Norm nach der Rechtsprechung des Ge­ richtshofs nationale steuerrechtliche Regelungen der in der Vorschrift bezeich­ neten Art, die bestimmte Unterscheidungen, insbesondere nach dem Wohnort der Steuerpflichtigen vorsahen, mit dem Gemeinschaftrecht vereinbar waren, sofern sie auf Situationen angewendet wurden, die nicht objektiv vergleichbar215 oder durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses216, insbesondere die Kohärenz der Steuerregelung, gerechtfertigt waren217.

d)

Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV - ein materieller, kein formeller Rechtferti­ gungsgrund

Es stellt sich nach der Feststellung der konstitutiven Bedeutung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV die Frage, ob die ’’Schranke" als formeller oder materieller Rechtferti­ gungsgrund für Kapitalverkehrsbeschränkungen zu verstehen ist. Die Norm recht­ fertigt Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit, die aus mitgliedstaatlichen "Vorschriften des Steuerrechts, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohn­ ort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln", resultieren218. Angesichts dieses Wortlauts stellt sich die Frage, ob eine unterschiedliche steuerliche Be­ handlung von Kapitalanlegem allein durch ihren unterschiedlichen Wohn- oder Kapitalanlageort als formelles Kriterium gerechtfertigt werden kann219 oder ob der materielle (inhaltliche) Grund für die Differenzierung nach dem unterschiedlichen Wohn- oder Kapitalanlageort zu untersuchen ist220. Fraglich ist also zum Beispiel, ob eine gegenüber der Steuerinländerbehandlung erhöhte Grundsteuer für ein im 212 213 214 215 216 217 218 219 220

Kapitel 2 A. I. 2 c) bb). Nach Fertigstellung und Einreichung dieser Arbeit als Dissertation. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720 ff. EuGH verweist auf sein Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225 ff. (Schumacker). EuGH verweist auf sein Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 ff. (Bachmann). EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 43. Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. b) bb). Verständnis des Art. 58 Abs. 1 lit a EGV als formeller Rechtfertigungsgrund. Verständnis des Art. 58 Abs. 1 liL a EGV als materieller Rechtfertigungsgrund.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Eigentum eines Steuerausländers stehendes Grundstück als Kapitalanlageobjekt allein durch seinen anderen Wohnort als formelles Kriterium gerechtfertigt werden kann. Ist es nicht vielmehr erforderlich, daß aufgrund des anderen Wohn­ orts des Steuerausländers ein materieller (inhaltlicher) Grund gegeben ist, der die Differenzierung nach dem formellen Kriterium rechtfertigt?

In der Literatur scheint Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV teilweise als formelles Kriterium für eine Ausnahme von der Kapitalverkehrsfreiheit aufgefaßt zu werden221: bereits der unterschiedliche Wohn- oder Kapitalanlageort lasse die unterschiedliche Be­ handlung der Steuerpflichtigen zu. Diese vordergründige Betrachtung resultiert aus dem Verständnis, daß mit dem Steuervorbehalt des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, der in der Endphase der Verhandlungen über den Maastricht-Vertrag in den Text eingefiigt wurde, erreicht wurde, daß die Mitgliedstaaten die Differenzierung im Steuerrecht nach Steuerinländem und -ausländem nicht ohne Harmonisierung der betreffenden direkten Steuern aufgeben müssen222. Insoweit wird in der Norm eher eine Bereichsausnahme als, wie oben begründet223, eine Rechtfertigungsnorm gesehen.

Andere Autoren sehen in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV einen ’’Schutzgrund”, der Aus­ nahmen von der Kapitalverkehrsfreiheit zulasse224. Dadurch weisen sie daraufhin, daß die Vorschrift dem Schutz bestimmter Rechtsgüter dient. Sie machen jedoch, indem sie den unterschiedlichen Wohn- oder Kapitalanlageort als ’’Schutzgrund” nennen, nicht deutlich, daß nicht diese formale Unterscheidung das schützens­ werte Rechtsgut ist, sondern der materielle Hintergrund, auf dem diese Differen­ zierung beruht.

Es muß daher klargestellt werden, daß die Bedeutung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit darin liegt, den hinter der Diffe­ renzierung nach Wohn- und Kapitalanlageort stehenden materiellen Rechtferti­ gungsgrund heranzuziehen225. Aus sich heraus begründet ein unterschiedlicher 221 Freitag, EWS 1997, S. 186, 194; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 12. 222 Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 12; Deutscher Bundestag, Denkschrift zum Vertrag vom 07.02.1992 über die Europäische Union, BT-Drs. 12/3334 vom 01.10.1992, S. 81, 87 f. 223 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. b) bb). 224 Kimms, Zweiter Teil II. 2. b) aa) aaa), S. 188; ähnlich R.H. Weber, in: Lenz, EGV, Art. 58 Rdnr. 1. 225 Vgl. Ohler, WM 1996, S. 1801, 1807; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 d Rdnr. 4; Vanistendael, Common Market Law Review 1994, S. 293, 314; Züger/Matzka, SWI 1999, S. 117, 120; mittlerweile bestätigt durch EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 43 ff. (Verkooijen).

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Wohn- oder Kapitalanlageort noch keinen hinreichenden Rechtfertigungsgrund für eine Kapitalverkehrsbeschränkung226, dieser kann sich nur aus dem materiellen Hintergrund der Differenzierung ergeben. Der Verweis des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV auf den materiellen Grund für die Differenzierung wird aus folgenden zwei Aspekten deutlich227: der Parallelität der Grundfreiheiten und dem Zusammenspiel der Vorschrift mit ihrer ’’Schranken-Schranke” in Art. 58 Abs. 3 EGV.

Erstens zeigt die Betrachtung der Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in die ande­ ren Grundfreiheiten, daß immer materielle Gründe, nicht aber rein formelle, ge­ nannt werden. Bei Warenverkehrsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Nieder­ lassungsfreiheit finden sich in den Artt. 30 S. 1, 39 Abs. 3 und 46 Abs. 1 EGV als Rechtfertigung immer die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Ge­ sundheit. Dabei handelt es sich um inhaltlich überprüfbare Kriterien, die für die Eingriffsrechtfertigung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ermöglichen. Diese Pa­ rallelität von materiellen Rechtfertigungsgründen bei den drei genannten Grundfreiheiten spricht dafür, auch in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV den Verweis auf den materiellen Grund zu erblicken, der hinter der Differenzierung nach dem Wohnund Kapitalanlageort steht.

Zweitens erfordert die ’’Schranken-Schranke” in Art. 58 Abs. 3 EGV, in die eine Verhältnismäßigkeitsprüfung über den Begriff der ’’willkürlichen Diskriminie­ rung” mit einfließt, einen der differenzierenden steuerlichen Behandlung nach dem unterschiedlichen Wohn- oder Kapitalanlageort zugrundeliegenden mate­ riellen Rechtfertigungsgrund228. Das formelle Kriterium des unterschiedlichen Wohn- oder Kapitalanlageorts ermöglicht keine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Diese ist nur bei Heranziehung des zugrundeliegenden materiellen Interesses für die formelle Differenzierung möglich. Es bieten sich verschiedene materielle Gründe an, die die steuerliche Differenzierung nach dem Wohn- und Kapitalan­ lageort bestimmen. Zu nennen sind z.B. Steuergerechtigkeit, Vermeidung von Steuerhinterziehung oder Kohärenz des Steuersystems229. Das Zusammenspiel von Art. 58 Abs. 1 lit. a und Art. 58 Abs. 3 EGV verdeutlicht folglich, daß Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV für die Rechtfertigung von Beschränkungen auf den hinter der

226 Bachmann, RIW 1994, S. 849, 850. 227 Vgl. Ohler, WM 1996, S. 1801, 1807. 228 Vgl. Gammie/Brannan, Intertax 1995, S. 389, 399 f.; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 36 f.; Moss­ ner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 510 f. 229 Ohler, WM 1996, S. 1801, 1807; Vanistendael, Common Market Law Review 1994, S. 293,314.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Differenzierung nach Wohn- oder Kapitalanlageort stehenden materiellen Grund verweist.

Die Einordnung der Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als materiellen Rechtfertigungsgrund wird durch das “Verkooijen“-Urteil des EuGH bestätigt, in dem er im Rahmen dieser Norm die sachliche Rechtfertigung für die Kapitalver­ kehrsbeschränkung untersucht230.

Als Konsequenz dieses Verständnisses des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als materiel­ len Rechtfertigungsgrund wird in Punkt B dieses Kapitels und in Kapitel 3 bei der Untersuchung einzelner Steuervorschriften das materielle Interesse hinter der Dif­ ferenzierung nach dem unterschiedlichem Wohn- oder Kapitalanlageort bereits bei der ’’Schranke” angesprochen. Die ausführliche Auseinandersetzung mit dem materiellen Grund erfolgt jedoch erst bei der Prüfung der ’’Schranken-Schranke”, da erst ihre Untersuchung die genaue Beleuchtung des steuerlichen Interesses des Mitgliedstaates an der Differenzierung nach dem Wohn- und Kapitalanlageort erfordert.

e)

Art 58 Abs. 1 lit. a EGV und die Erklärung im Anhang des Unions­ vertrages

Abschließend muß für das Verständnis des Art. 58 EGV als ’’Schranke” der Kapi­ talverkehrsfreiheit die dem Steuervorbehalt in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zugehö­ rige 7. Erklärung im Anhang des Unionsvertrages untersucht werden. In dieser Erklärung zu Art. 73 d EGV a.F.231 heißt es232:

’’Die Konferenz bekräftigt, daß das in Art. 73 d Absatz 1 Buchstabe a des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft erwähnte Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwen­ den, nur für die einschlägigen Vorschriften gilt, die Ende 1993 bestehen. Diese Erklärung betrifft jedoch nur den Kapital- und Zahlungsverkehr zwi­ schen den Mitgliedstaaten.”

230 EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 ff. Rz. 45 ff. 231 Jetzt Art 58 EGV; vgl. Vertrag von Amsterdam, Übereinstimmungstabeile gern. Art. 12 im Anhang. 232 Schlußakte mit Erklärungen zum Vertrag über die Europäische Union.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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Der Aussagegehalt der Erklärung ist unbestritten. Die sog. "standstill-Klausel"233 trifft im Umkehrschluß die inhaltliche Aussage, daß eine steuerrechtliche Rege­ lung, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandelt, sofern sie nach dem 31.12.1993 in Geltung getreten ist, aufgrund von Art. 56 EGV verboten ist. Ein Mitgliedstaat kann allerdings auch nach dem 31.12.1993 solche steuerrechtlichen Vorschriften i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV weiterhin anwenden, die vor diesem Zeitpunkt bereits bestanden. Die erneute Einführung nach dem 31.12.1993 aufgehobener steuerrechtlicher Vor­ schriften ist dagegen unzulässig.

Während der Aussagegehalt der ’’standstill-Klausel” unbestrittten ist, ist die Rechtsnatur dieser 7. Erklärung im Anhang zum EUV jedoch ungeklärt. Derartige Erklärungen, die zur Gruppe der ’’uneigentlichen Ratsbeschlüsse" zu zählen sind, werden als Völkerrecht, sonstige Rechtsakte der Gemeinschaft oder als Mischform zwischen Gemeinschafts- und Völkerrecht bezeichnet234. Angesichts dieser Diskussion über die Rechtsnatur der Erklärungen ist ihre rechtliche Ver­ bindlichkeit von besonderem Interesse. Es stellt sich die Frage, ob sich ein Steu­ erpflichtiger, dessen Kapitalverkehrstransaktionen durch eine Steuemorm i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, die nach dem 31.12.1993 in Kraft gesetzt wurde, be­ schränkt werden, vor dem EuGH auf die 7. Erklärung im Anhang zum EUV be­ rufen kann.

Zu dieser Frage wird fast das gesamte denkbare Spektrum von Meinungen von der Unverbindlichkeit der "Erklärungen" bis zu ihrer vollen Justiziabilität vertre­ ten. Es wird aber überwiegend angenommen, daß die Stillstandserklärung keine rechtliche Verbindlichkeit besitzt235. Wie sich aus einem Umkehrschluß aus Art. 311 EGV ergibt, sind die "Erklärungen" allgemein kein Vertragsbestandteil des EGV236. Daraus werden verschiedene Konsequenzen gezogen, die aber die rechtliche Unverbindlichkeit der "Erklärungen" gemeinsam haben. Nach einer Ansicht stelle die Stillstandserklärung lediglich eine politische Bindung dar, einen verschärften Steuerwettbewerb in der Gemeinschaft zu vermeiden237. Es wird 233 Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 6. 234 Übersicht bei Honrath, C. II. 3. a) aa), S. 82 m. w. N. 235 Eckhoff, in: Bleckmann, Europarecht, § 21 II. 2. a) aa), S. 628 Rdnr. 1717 in Fn. 42; Honrath, C. II. 3. a) aa), S. 83 f.; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 17; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 6; vgl. Deutscher Bundestag, Denkschrift zum Vertrag vom 07.02.1992 über die Europäische Union, BT-Drs. 12/3334 vom 01.10.1992, S. 81, 88; a.A. Ohler, WM 1996, S. 1801,1807. 236 So auch Honrath, C. II. 3. a) aa), S. 83; a.A. Ohler, WM 1996, S. 1801, 1807. 237 Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 17.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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bezweifelt, daß der Steuerpflichtige sich auf diese ’’Selbstbeschränkung’’ außer­ halb des unmittelbar geltenden Vertragsrechts berufen könne238. Andere betrach­ ten die Stillstandserklärung als zumindest für die Auslegung des Vertrages ver­ bindlich und begründen dies mit Art. 31 Abs. 2 lit. a WVRK239.

Angesichts des gemäß Art. 311 EGV Fehlens der Vertragsbestandteilseigenschaft der 7. Erklärung zu Art. 58 EGV kommt ihr keine rechtliche Verbindlichkeit zu. Ansonsten würde das gemeinschaftliche Primärrecht in Art. 58 EGV durch eine nicht auf der rechtlichen Ebene des Vertrages liegende Norm eingeschränkt. Sollte eine zeitliche Befristung mit rechtlicher Verbindlichkeit im Interesse der Mitgliedstaaten gelegen haben, so hätten sie dies direkt in die Norm integrieren können, wie es z.B. in Art. 57 Abs. 1 EGV oder in Art. 73 c Abs. 1 EGV a.F. geschehen ist240. Folglich kann sich ein Steuerpflichtiger im Falle eines Rechts­ streits nicht auf die 7. Erklärung zu Art. 58 EGV berufen. Diese hat politische, aber keine europarechtliche Bedeutung und wird darum im weiteren nicht mehr berücksichtigt.

f)

Ergebnis

Der Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV kommt bei Eingriffen in die Kapital­ verkehrsfreiheit durch steuerrechtliche Vorschriften konstitutive Bedeutung als eingriffsrechtfertigende ’’Schranke” zu241. Sie legt die Eingriffsrechtfertigung für kapitalverkehrsbeschränkende Steuemormen fest, die aufgrund der Vergleich­ barkeit der steuerlichen Situation von Gebietsansässigen und -fremden bzw. inund ausländischen Kapitalanlagen bei kapitaleinkünfebezogenen Steuervor­ schriften notwendig ist. Die "Schranke” eröffnet den materiellen Grund (z.B. Kohärenz des Steuerrechts), der die Differenzierung nach dem Wohn- oder Kapi­ talanlageort bestimmt. Sie liefert daher einen materiellen Rechtfertigungsgrund, der durch die Anforderungen des Art. 58 Abs. 3 EGV begrenzt wird.

Das Liberalisierungsniveau des Kapitalverkehrs wurde angesichts des dargestell­ ten Verständnisses der "Schranke" als materielle Rechtfertigungsnorm mit engen, 238 239 240 241

Eckhoff, in: Bleckmann, Europarecht, § 21 II. 2. a) aa), S. 628 Rdnr. 1717 in Fn. 42. Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 6. Vgl. Honrath, C. II. 3. a) aa), S. 83 f. Anders mittlerweile der EuGH in seinem Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 43 (Verkooijen).

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in Art. 58 Abs. 3 bestimmten Grenzen nur gering verändert. Bereits nach der Rechtslage vor Einführung der ’’Schranke” konnten nach der EuGH-Rechtsprechung unterschiedslos anwendbare, kapitalverkehrsbeschränkende Regelungen durch ’’zwingende Erfordernisse” des Allgemeininteresses gerechtfertigt wer­ den242. Ein ähnlich strukturiertes Rechtfertigungssystem mit engen Grenzen (Art. 58 Abs. 3 EGV und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) wird durch Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV für steuerrechtliche Vorschriften eingeführt. Ein Verstoß gegen den ’’acquis communautaire” kann darin nicht gesehen werden.

3.

Abschließender Charakter der "Schranke" des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV für kapitalverkehrsbeschränkende Steuernormen

Zuletzt stellt sich bei der Betrachtung des ’’Schutzbereich-Schranken-Verhältnisses” zwischen Art. 56 EGV und Art. 58 EGV die Frage, ob für die in dieser Arbeit untersuchten Steuemormen neben der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV noch ungeschriebene Ausnahmen vom Beschränkungsverbot des Kapitalverkehrs Anwendung finden oder ob der Rechtfertigungsnorm in steuerrechtlicher Hinsicht ein abschließender Charakter zukommt.

a)

Duales System der Rechtfertigung für unterschiedslos anwendbare, kapitalverkehrsbeschränkende Regelungen

In der Literatur wird allgemein, d.h. ohne besonderes Augenmerk auf steuerrecht­ lich bedingte Kapitalverkehrsbeschränkungen, von einem dualen System der Be­ schränkungsrechtfertigung ausgegangen, das einerseits auf den ungeschriebenen ’’zwingenden Erfordernissen” des Allgemeininteresses und andererseits auf den Bestimmungen des Art. 58 EGV beruht243. Dem liegt die ”Veronica”-Entscheidung des EuGH zugrunde, in der er seine Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung auf die Kapitalverkehrsfreiheit übertrug.

242 Vgl. EuGH, Urt. v. 03.02.1993, Rs. C-148/91, Sig. I 1993, S. 487, 518 f. (Veronica) und insbesondere GA Tesauro in den zugehörigen Schlußanträgen, S. 509 f. Rz. 8. 243 Vgl. Kiemel, in: G/TIE, EGV, Art. 73 d Rdnr. 3; Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 94 f.; S. Weber, EuZW 1992, S. 561, 563.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

aa) Übertragung der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung auf die Kapitalver­ kehrsfreiheit Der EuGH verdeutlichte in seiner ”Veronica”-Entscheidung244, daß eine Paralle­ lität in der Grundstruktur der Grundfreiheiten nicht nur hinsichtlich des Schutzbe­ reichs der Grundfreiheiten, sondern auch hinsichtlich der zulässigen Beschrän­ kungen existiert. In dem Urteil übertrug er das in seinem ”Cassis-de-Dijon"-Urteil245 zum Warenverkehr entwickelte Konzept der ungeschriebenen Ausnahmen der Grundfreiheiten auf den Kapitalverkehr246. Nach dem ”Cassis-de-Dijon"-Urteil sind unterschiedslos anwendbare, warenverkehrsbeschränkende Regelungen zulässig, wenn diese einerseits notwendig und aus ’’zwingenden Erfordernissen” gerechtfertigt sind und andererseits keine Gemeinschaftsregelung besteht247. Zu den ’’zwingenden Erfordernissen” zählt der EuGH insbesondere eine wirksame steuerliche Kontrolle, den Schutz der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbrauchers, in einer späteren Entscheidung auch kulturelle Gründe248. Das Konzept der ’’zwingenden Erfordernisse” als unge­ schriebene Ausnahme der Grundfreiheiten zog der EuGH in der ”Veronica”-Entscheidung auch für den Kapitalverkehr heran, indem er aufgrund der verfolgten kulturellen Ziele die nationalen gesetzlichen Regelungen als mit der Kapitalver­ kehrsfreiheit vereinbar betrachtete249.

Die Anerkennung der ungeschriebenen ’’zwingenden Erfordernisse” des Allge­ meininteresses als Rechtfertigungsgründe für Kapitalverkehrsbeschränkungen ist aufgrund der Parallelität der Grundfreiheiten überzeugend, die eine Übertragung aus dem Warenverkehrsrecht auf die Kapitalverkehrsfreiheit ermöglicht250. Es kann daher grundsätzlich mit der Literatur von einem dualen System der Be­ schränkungsrechtfertigung ausgegangen werden. Die EuGH-Rechtsprechung in den Rechtssachen ”Cassis-de-Dijon” und ’’Veronica” macht aber deutlich, daß die ungeschriebenen ’’zwingenden Erfordernisse” nur bei unterschiedslos an­ wendbaren, kapitalverkehrsbeschränkenden Regelungen gelten, d.h. bei solchen EuGH, Urt. v. 03.02.1993, Rs. C-148/91, Sig. I 1993, S. 487 fT. EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Rs. C-120/78, Sig. 1979, S. 649 ff. Vgl. EuGH, Urt v. 03.02.1993, Rs. C-148/91, Sig. I 1993, S. 487, 518 ff. EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Rs. C-120/78, Sig. 1979, S. 649,662 Rz. 8 (Cassis-de-Dijon). EuGH, Urt v. 11.07.1985, verb. Rs. 60 u. 61/84, Sig. 1985, S. 2605, 2626 (Cin6töque/F6döration nationale des cinemas fran^ais). 249 EuGH, Urt v. 03.02.1993, Rs. C-148/91, Sig. I 1993, S. 487, 518 ff. 250 Vgl. Honrath, C. I. 3. b) aa), S. 73; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 3; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 b Rdnr. 30 f.; R.H Weber, in: Lenz, EGV, Art 58 Rdnr. 1; & Weber, EuZW 1992, S. 561, 563; a.A.: Eckhoff, in: Bleckmann, Europarecht, § 21 II. 2 c), S. 629 f. Rdnr. 1721.

244 245 246 247 248

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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die gleichermaßen auf in- und ausländische Personen bzw. Kapitalanlagen an­ wendbar sind251. Darauf wird nach der dogmatischen Einordnung der ’’zwingen­ den Erfordernisse” noch zurückzukommen sein.

bb) Dogmatische Einordnung der "zwingenden Erfordernisse" des Allge­ meininteresses

Die Anerkennung der ungeschriebenen Ausnahmen wirft die dogmatische Frage auf, ob die ’’zwingenden Erfordernisse” des Allgemeininteresses als eingriffs­ rechtfertigende ’’Schranke” auf gleicher Ebene wie Art. 58 Abs. 1 EGV einzuord­ nen sind oder ihre Bedeutung auf der Tatbestandsebene der Schutznorm des Art. 56 EGV liegt. Die Beantwortung dieser Frage entscheidet darüber, ob bei Vorliegen ’’zwingender Erfordernisse“ des Allgemeininteresses, die unter­ schiedslos anwendbare, kapitalverkehrsbeschränkende Regelungen rechtfertigen, überhaupt eine Heranziehung der „Schranke“ des Art. 58 Abs. 1 EGV in Betracht kommt.

Die ”Veronica”-Entscheidung des EuGH252 kann in diesem Zusammenhang nicht weiterhelfen, da zum Zeitpunkt der Entscheidung auf der Ebene des EGV keine ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit vorgesehen war und die bereits geltende Kapitalverkehrs-Richtlinie von 1988 lediglich die untergesetzlichen Maßnahmen, die jetzt in Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV vorgesehen sind, berücksichtigte253. Der EuGH konnte daher die ungeschriebenen ’’zwingenden Erfordernisse” als Rechtfertigungsgrund heranziehen, ohne ihre Wirkung notwendigerweise auf der ’’Eingriffs”- oder Schranken”-Ebene einordnen zu müssen.

In der Literatur werden die ’’zwingenden Erfordernisse” des Allgemeininteresses als Modifizierung des Tatbestandes des Art. 56 Abs. 1 EGV verstanden254. Dies wird teilweise deutlich ausgesprochen, indem die "zwingenden Erfordernisse” als ’’negative Tatbestandsmerkmale” des Art. 56 Abs. 1 EGV begriffen werden255. Bei

251 Vgl. Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 95. 252 EuGH, Urt v. 03.02.1993, Rs. C-148/91, Sig. I 1993, S. 487 ff. 253 Art 4 der Richtlinie 88/361 des Rates vom 24.06.1988 zur Durchführung von Art. 67 EWGV, ABI. EG 1988 Nr. L 178, S. 5. 254 Vgl. Honrath, C. I. 3. b), S. 75; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 3; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 30 f.; S. Weber, EuZW 1992, S. 561,563. 255 So Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 b Rdnr. 30.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

anderen Autoren werden sie undeutlicher als ’’Teil der Grundregel” des Art. 56 Abs. 1 EGV bezeichnet256.

Die überzeugende Argumentation für das Verständnis als Tatbestandsmodifizie­ rung des Art. 56 Abs. 1 EGV liefert die Systematik der Grundfreiheiten. In der ”Cassis-de-Dijon”-Entscheidung ordnet der EuGH bei der Warenverkehrsfreiheit die ’’zwingenden Erfordernisse” in den Bereich des Art. 28 EGV257 ein258. Er qua­ lifiziert diese Rechtfertigungsgründe gewissermaßen als Tatbestandsmerkmale des Art. 28 EGV, als ’’immanente Schranken” der Warenverkehrsfreiheit259. Diese systematische Einordnung geht damit einher, daß der EuGH Art. 30 EGV260 als Ausnahmevorschrift der Warenverkehrsfreiheit stets restriktiv ausgelegt hat261 und sich daher eine Ausweitung dieser Norm auf die "zwingenden Erfordernisse” verbot.

Die Parallelität der Grundfreiheiten rechtfertigt es, die systematische Einordnung der "zwingenden Erfordernisse" aus dem Warenverkehrsrecht in die Kapitalver­ kehrsfreiheit zu übernehmen262. Sie stellen dogmatisch negative Tatbestandsmerk­ male des Art. 56 Abs. 1 EGV dar, die bestimmte Kapitalverkehrbeschränkungen von dem Grundsatz der Kapitalverkehrsfreiheit ausnehmen. Eine Einordnung der "zwingenden Erfordernisse" auf der Ebene der rechtfertigenden "Schranken" ver­ bietet sich, da eine erweiternde Auslegung der Vorschriften der Artt. 57 f. EGV die Maxime einer engen Auslegung von vertraglichen Ausnahmebestimmungen263 untergraben würde. Dies gilt insbesondere, da die "Schranke" der Kapitalverkehrsfreiheit in Art. 58 Abs. 1 EGV aufgrund der Aufzählung spezieller Rechtfertigungsgründe z.B. mit Bezug zu Steuerrecht und Steuerverfahren einen gegenüber der "Schranke" des Warenverkehrs in Art. 30 EGV noch deutlicheren Ausnahmecharakter besitzt. Wird eine Ausweitung der "Schranke" bei Art. 30 EGV vom EuGH abgelehnt, so muß dies umso mehr für Art. 58 EGV gelten. Folglich sind die "zwingenden Erfordernisse" auf der Tatbestandsebene des Art. 56 Abs. 1 EGV und nicht auf der ’’Schrankenebene’’ des Art. 58 Abs. 1 EGV So S. Weber, EuZW 1992, S. 561,563; ähnlich Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 3. Art. 30 EGV a.F. Vgl. EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Rs. C-120/78, Sig. 1979, S. 649, 662 Rz. 6 ff. und 14. Schweitzer/Hummer, Europarecht, § 14 III. 3. c), S. 345 Rdnr. 1135. Art 36 EGV a.F. Vgl. EuGH, Urt. v. 19.12.1961, Rs. 7/61, Sig. 1961, S. 695, 720; Urt. v. 10.12.1968, Rs. 7/68, Sig. 1968, S. 633, 644; Urt. v. 14.12.1972, Rs. 29/72, Sig. 1972, S. 1309, 1318, Urt v. 17.06.1981, Rs. 113/80, Sig. 1981, S. 1625, 1637 f.; ständige Rechtsprechung. 262 Ebenso, mit Übersicht der Gegenargumente: Honrath, C. I. 3. b) aa), S. 74 f. 263 EuGH in ständiger Rspr., vgl. Fn. 261. 256 257 258 259 260 261

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einzuordnen. Im Falle unterschiedslos anwendbarer, kapitalverkehrsbeschrän­ kender Regelungen hat somit das Vorliegen ’’zwingender Erfordernisse“ des All­ gemeininteresses zur Folge, daß die Heranziehung der „Schranke“ des Art. 58 Abs. 1 EGV ausgeschlossen ist.

b)

Kapitalverkehrsbeschränkende Steuernormen keine unterschiedslos anwendbaren Regelungen

Es wurde gerade klargestellt, daß nach der EuGH-Rechtsprechung264 die unge­ schriebenen ’’zwingenden Erfordernisse” nur bei unterschiedslos anwendbaren, kapitalverkehrsbeschränkenden Regelungen gelten, d.h. bei solchen, die glei­ chermaßen auf in- und ausländische Personen bzw. Kapitalanlagen anwendbar sind265. Bei den hier untersuchten direkten Steuemormen ist eine Beschränkung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV aber ausschließlich aufgrund einer Diskriminierung, d.h. einer nicht sachgerechten unterschiedlichen Behandlung eines gebietsfrem­ den Kapitalanlegers gegenüber einem gebietsansässigen bzw. einer ausländischen Kapitalanlage gegenüber einer inländischen, denkbar. Daher sind kapital­ verkehrsbeschränkende Steuemormen gerade nicht unterschiedslos anwendbare Regelungen. Für sie scheiden somit die ’’zwingenden Erfordernisse” des Allge­ meininteresses als Rechtfertigungsgründe aus. Die "Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV hat folglich für steuerrechtlich bedingte Kapitalverkehrsbeschrän­ kungen abschließenden Charakter.

II.

Innere Systematik des Art. 58 EGV

Nach der umfassenden Betrachtung des ’’Schutzbereich-Schranken-Verhältnisses” zwischen Art. 56 und Art. 58 EGV folgt die Untersuchung der inneren Systematik des Art. 58 EGV. Sie bildet die zweite wichtige Grundlage für die Untersuchung von mitgliedstaatlichen Steuemormen am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit in Teil B dieses Kapitels und in Kapitel 3.

264 Vgl. EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Rs. C-120/78, Sig. 1979, S. 649 ff. (Cassis-de-Dijon); Urt. v. 03.02.1993, Rs. C-148/91, Sig. 1 1993, S. 487 ff. (Veronica). 265 Vgl. Kapitel 2 A. I. 3. a) aa).

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1.

Begriffe des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV

Die Anwendung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als Rechtfertigungsgrund für Kapi­ talverkehrsbeschränkungen setzt eine Definition der in der Norm verwendeten Begriffe voraus. Es ist daher eine Auseinandersetzung mit den Begriffen ’’Wohn­ ort”, ’’Kapitalanlageort” und ’’Steuerpflichtige" erforderlich.

a)

’’Wohnort”

Die Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV läßt eine unterschiedliche Behand­ lung von ’’Steuerpflichtigen” mit unterschiedlichem ’’Wohnort” zu. Es stellt sich die Frage, welches Begriffsverständnis dem "Wohnort” für eine korrekte Anwen­ dung der Norm zugrundezulegen ist.

Aufgrund der Tatsache, daß die differenzierende Behandlung von "Steuerpflichti­ gen" nach ihrem unterschiedlichen "Wohnort" in den mitgliedstaatlichen Steuer­ normen erfolgt, könnte ihnen auch die zugehörige Begriffsdefinition zu entneh­ men sein. Im deutschen Steuerrecht wäre danach der "Wohnsitz"-Begriff des § 8 Abgabenordnung (AO) heranzuziehen. Die Vorschrift bestimmt den "Wohnsitz" einer Person dort, "wo [sie] eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, daß [sie] die Wohnung beibehalten und benutzen wird".

Zweifel an einer Übernahme dieser Definition für den europarechtlichen Begriff des "Wohnorts" kommen aber dadurch auf, daß die differenzierende Behandlung von "Steuerpflichtigen" in den Mitgliedstaaten nicht an den unterschiedlichen "Wohnort", sondern an den weiteren Begriff der unbeschränkten bzw. be­ schränkten Steuerpflicht geknüpft wird. So schließt z.B. § 50 Abs. 5 S. 2 EStG die Körperschaftsteueranrechnung auf die Einkommensteuer für beschränkt "Steuerpflichtige" aus. Die Unterscheidung zwischen unbeschränkter und be­ schränkter Steuerpflicht stützt sich gemäß § 1 Abs. 1 und Abs. 4 EStG aber neben den "Wohnsitz" auf das Altemativkriterium des "gewöhnlichen Aufenthalts". Daneben würde die Gleichsetzung des gemeinschaftsrechtlichen "Wohnorts" und des mitgliedstaatlich bestimmten "Wohnsitzes" dazu führen, daß die "Schranke" des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV allein auf natürliche Personen zugeschnitten wäre. Juristische Personen besitzen nach nationalem Recht keinen "Wohnort", sondern ihre unbeschränkte oder beschränkte Steuerpflicht wird gemäß § 1 Abs. 1 KStG nach der Geschäftsleitung (vgl. § 10 AO) oder dem Sitz (vgl. § 11 AO) im Inland

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bestimmt. Bei der objektbezogenen Kapitalverkehrsfreiheit werden aus Art. 56 Abs. 1 EGV aber auch juristische Personen berechtigt266. Die ’’Schranke” in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV müßte sich daher an diesem personellen ’’Schutzbereich” orientieren.

Der Definition des ’’Wohnorts” muß aufgrund der Autonomie des Gemeinschafts­ rechts ein eigenes gemeinschaftsrechtliches Verständnis zugrundeliegen. Dafür spricht die gezielte Verwendung des Begriffs ’’Wohnort” in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV durch den Gemeinschaftsgesetzgeber im Unterschied zum mitglied­ staatlichen Begriff des "Wohnsitzes”267. Einen weiteren Grund dafür, daß Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV nicht das mitgliedstaatliche Verständnis des ’’Wohnsitzes” zu­ grundeliegen kann, liefert die allgemein bekannte Möglichkeit eines ’’Steuer­ pflichtigen”, gleichzeitig einen Wohnsitz in mehreren Staaten zu haben und damit auch in verschiedenen Staaten unbeschränkt steuerpflichtig sein zu können. Indem Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV die differenzierende Behandlung nach dem un­ terschiedlichen ’’Wohnort” zuläßt, erweckt er den Eindruck, als könne es im Sinne der Norm nur einen einzigen ’’Wohnort” des ’’Steuerpflichtigen" geben268. Da mehrere "Wohnsitze" eines Steuerpflichtigen möglich sind, ist mit "Wohnort" i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV ein Begriff gemeint, der die natürliche oder juri­ stische Person steuerrechtlich eindeutig einem einzigen Staat zuordnet. Dieses Verständnis eines einzigen "Wohnorts" jeder Person wird auch durch die spani­ sche Sprachfassung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV bestätigt, in der ausdrücklich die Unterscheidung nach den Kapitalanlageorten, aber nur nach dem Wohnort zugelassen wird269.

Der Anforderung eines einzigen "Wohnorts" und der genannten notwendigen Ausrichtung der "Schranke" am personellen Geltungsbereich der Kapitalver­ kehrsfreiheit wird nur der Begriff der "Ansässigkeit" der Doppelbesteuerungs­ abkommen270 gerecht. Der "Wohnort" i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV ist daher als abkommensrechtliche "Ansässigkeit" zu verstehen271. Die Vorschrift müßte bei Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. b) bb) zum personellen Geltungsbereich. Dautzenberg, RIW 1998, S. 537,539. Dazu ausführlich Herzig, Körperschaftsteuersystem und Europäischer Binnenmarkt, S. 627,639. Vgl. Dautzenberg, RIW 1998, S. 537, 538, der eine gute Übersicht über die verschiedenen Sprachfassungen liefert. 270 Vgl. stellvertretend Art. 4 des OECD-Musterabkommens. 271 Ebenso Dautzenberg, RIW 1998, S. 537, 539; Herzig, Körperschaftsteuersystem und Europäischer Binnen­ markt, S. 627, 639; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 767; ähnlich Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 d Rdnr. 4, die den ’’Wohnort” zwar als ’’gewöhnlichen Aufenthaltsort” definieren, damit aber ein Krite­ rium des Begriffs der ’’Ansässigkeit” in Art. 4 Abs. 2 lit. b OECD-Musterabkommen aufgreifen.

266 267 268 269

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präziserer Begriffswahl mitgliedstaatliche Steuemormen zulassen, ’’die Steuer­ pflichtige mit unterschiedlichem Ort der Ansässigkeit unterschiedlich behan­ deln”.

Die abkommensrechtliche Ansässigkeit wird nach den durch das innerstaatliche Recht der Vertragstaaten zu ermittelnden Begriffen272 des ’’Wohnsitzes”, des ’’ständigen Aufenthalts”, des ’’Ortes der Geschäftsleitung” einer Person oder ’’ei­ nes anderen ähnlichen Merkmals” bestimmt273, wodurch sowohl natürliche als auch juristische Personen erfaßt werden. Auf diese Weise wird durch das Ver­ ständnis des ’’Wohnorts” als ”Ort der Ansässigkeit” die ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV dem personellen Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit gerecht. Die abkommensrechtliche ’’Ansässigkeit” löst auch das Problem, daß für die Anwendung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV die steuerrechtliche Zuordnung einer Person zu einem einzigen Staat erfolgen muß. Die Vorschriften über die ’’Ansässigkeit” in den Doppelbesteuerungsabkommen enthalten Abgrenzungs­ kriterien, die im Ergebnis immer zur steuerrechtlichen Zuordnung einer Person zu einem einzigen Staat fuhren274. Die für das Abkommensrecht im Interesse der richtigen Anwendung der Verteilungsnormen eingefugten Kollisionsregeln (sog. ”tie-breaker”)275 ermöglichen so auch die Anwendung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV auf den einzelnen Sachverhalt, der die Feststellung vorausgehen muß, wel­ chen Staaten die unterschiedlich behandelten "Steuerpflichtigen” ’'steuerrechtlich zugehörig” sind.

Im Ergebnis ist mit dem Begriff ’’Wohnort” in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV die ab­ kommensrechtliche ’’Ansässigkeit” einer (natürlichen/juristischen) Person ge­ meint. Aufgrund ihrer Qualifizierung über die mitgliedstaatlichen Definitionen des "Wohnsitzes”, ’’ständigen Aufenthalts” oder "Ortes der Geschäftsleitung’’276 wird dieser Begriff jedoch durch das Recht Mitgliedstaaten mitbestimmt. Die in Kapitel 3 untersuchten Vorschriften des deutschen Einkommen- und Körper­ schaftsteuerrecht werden daher von Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV erfaßt, da sich die Unterscheidung zwischen unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht bei diesen Vorschriften nach den genannten Kriterien bestimmt277. 272 273 274 275 276 277

Lehner, in: Vogel, DBA, Art. 4 Rdnr. 8. Vgl. Art. 4 Abs. 1 OECD-Musterabkommen. Vgl. Art 4 Abs. 2 und Abs. 3 OECD-Musterabkommen. Lehner, in: Vogel, DBA, Art. 4 Rdnr. 9 a. Vgl. Art. 4 Abs. 1 OECD-Musterabkommen. Vgl. für das österreichische Steuerrecht: Matzka, Österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 84.

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b)

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"Kapitalanlageort"

Aufgrund des unterschiedlichen ’’Kapitalanlageortes” läßt Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV die unterschiedliche Behandlung der ’’Steuerpflichtigen" durch mitglied­ staatliche Steuemormen zu. Es kommt hier der Definition des ’’Kapitalanlageor­ tes’’ große Bedeutung zu, wie der folgende Fall illustriert:

Ein in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtiger Herr S hält Anteile an einer in den Niederlanden ansässigen Aktiengesellschaft, die ihre Gewinne zu fast hundert Prozent durch ihre in Deutschland belegene Betriebstätte erwirtschaftet. Die dem Aktionär zufließende Dividende ist um den niederländischen Körperschaftsteuer­ anteil, der unter Berücksichtigung der im Betriebstättenstaat gezahlten Ertragsteuer festgelegt wird, gemindert. Dieser wird dem in Deutschland un­ beschränkt Steuerpflichtigen gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG nicht auf die Ein­ kommensteuer angerechnet, da es sich um die Körperschaftsteuer einer gemäß § 2 KStG beschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Aktiengesellschaft handelt. Im Falle seiner anderen Aktienanlagen bei in Deutschland ansässigen Unternehmen kommt Herr S dagegen in den Genuß der Körperschaftsteueranrechnung gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG. Es stellt sich daher für ihn die Frage, ob seine steuerrechtlich unattraktivere grenzüberschreitende Kapitalanlage in den Niederlanden nicht einer europarechtlich unzulässigen Kapitalverkehrsbe­ schränkung unterliegt.

Die Beantwortung dieser Frage hängt allein von der Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV und im besonderen von der Definition des ’'Kapitalanlageortes’’ ab, da das Fehlen der Körperschaftsteueranrechnung bei der grenzüberschreitenden Ka­ pitalanlage aufgrund der oben erörterten Erfassung indirekter Hemmnisse278 eine Kapitalverkehrsbeschränkung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV darstellt. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV rechtfertigt den Eingriff, wenn die unterschiedliche Behandlung des "Steuerpflichtigen" auf der Unterschiedlichkeit der ’’Kapitalanlageorte’’ beruht. Eine Divergenz der ’’Kapitalanlageorte" besteht im geschilderten Fall dann, wenn einerseits die Niederlande, andererseits Deutschland als ’’Kapitalanlageort’’ betrachtet werden können. Dies ergibt sich nur bei Gleichsetzung des '’Kapitalanlageortes’’ mit dem Wohnort bzw. Sitz des Kapitalnehmers. Definiert man dagegen den ’’Kapitalanlageort’’ als den Ort, wo das Kapital tatsächlich in278 Kapitel 2 A. I. 1. a) bb).

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vestiv eingesetzt wird, so ergäbe sich ein anderes Ergebnis: Der tatsächliche In­ vestitionsort des Kapitals von Herm S läge in Deutschland, bei der Betriebstätte der niederländischen Aktiengesellschaft, so daß der ’’Kapitalanlageort”, wie im Fall der Kapitalanlagen bei in Deutschland ansässigen Unternehmen, Deutschland wäre und Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV mangels divergierenden ’’Kapitalanlageortes” als rechtfertigende ’’Schranke” nicht anwendbar wäre.

Angesichts dieser Situation stellt sich für die Definition des ’’Kapitalanlageortes” die Frage, ob dieser mit dem Wohnort bzw. Sitz des Kapitalnehmers gleichgesetzt werden kann oder ob der tatsächliche Investitionsort des Kapitals aus­ schlaggebend sein muß. Eine der wenigen Definitionen in der Literatur, wonach ’’Kapitalanlageort” der Ort ist, ”an dem das Kapital belegt ist oder angelegt wer­ den soll”279, ist in diesem Zusammenhang wenig aussagekräftig.

aa) ’’Kapitalanlageort” - tatsächlicher, wirtschaftlicher Investitionsort des Kapitals

Es läßt sich vertreten, daß der Ort, wo das Kapital letztendlich von der Gesell­ schaft, der der ’’Steuerpflichtige” das Kapital überlassen hat, wirtschaftlich einge­ setzt wird, der ’’Kapitalanlageort” ist280. Diese Definition stützt sich vor allem auf folgende zwei Argumente. Erstens würde die Gleichsetzung des ’’Kapitalanlageor­ tes” mit dem Wohnort bzw. Sitz des Kapitalnehmers eine Unterscheidung als Rechtfertigungsgrund für steuerliche Kapitalverkehrsbeschränkungen aufnehmen, die bei einem Vergleich von Art. 67 EGV a.F. und Art. 58 EGV nicht im Interesse der Vertragsstaaten gelegen haben kann281. Ein Blick auf Art. 67 EGV a.F. eröffnet, daß der Vertrag zwischen Diskriminierungen ’’aufgrund des Wohnorts der Parteien” und Diskriminierungen ’’aufgrund des Anlageortes” unterscheidet. Diese Differenzierung als Grundverständnis des Vertrages würde übergangen, wenn der ’’Kapitalanlageort” mit dem Wohnort/Sitz des Kapitalnehmers, der ’’Partei” i.S.d. Art. 67 EGV a.F. ist, gleichgesetzt würde. Die deutliche Un­ terteilung in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV nach der Rechtfertigung ’’durch den unter­ schiedlichen Wohnort” des ’’Steuerpflichtigen” und der ’’durch den unterschiedli­ chen Kapitalanlageort” des ’’Steuerpflichtigen” wäre überflüssig. Es hätte verein­ 279 Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 4. 280 So Dautzenberg, EWS 1997, S. 379, 381 ff.; ders., RIW 1998, S. 537, 539 f.; Herzig, Körperschaftsteuersy­ stem und Europäischer Binnenmarkt, S. 627, 641; zustimmend Matzka, Österreichisches Steuerrecht und Ka­ pitalverkehrsfreiheit, S. 85 f. 281 Dautzenberg, EWS 1997, S. 379, 381 f.

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fachend in der Norm gleich der Rechtfertigungsgrund des ’’unterschiedlichen Wohnorts der Parteien” vorgesehen werden können.

Insoweit würde die Gleichsetzung des ’’Kapitalanlageortes” mit dem Wohnort/Sitz des Kapitalnehmers der Intention des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, das in Art. 67 EGV a.F. ausgesprochene Diskriminierungsverbot nach dem ’’Wohnort der Parteien” nur in eingeschränktem Maße zurückzunehmen, entgegenstehen. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV will, indem er die unterschiedliche Behandlung nach dem ’’Wohnort des Steuerpflichtigen” zuläßt, nur eine Differenzierung nach dem ’’Wohnort” des Kapitalgebers erlauben, da nur der Kapitalgeber aufgrund seiner Kapitaleinkünfte ’’Steuerpflichtiger" im Sinne der Vorschrift ist. Eine Rechtferti­ gung nach dem ’’Wohnort” des Kapitalnehmers soll dagegen nicht vorgesehen werden.

Das zweite Argument für das Verständnis des ’’Kapitalanlageortes” als des tat­ sächlichen, wirtschaftlichen Investitionsort des Kapitals wird dem Wortlaut des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV in den fremdsprachlichen Fassungen des EGV ent­ nommen282. In der englischen und französischen Fassung heißt es, daß die ’’Steu­ erpflichtigen” in Abhängigkeit von ’’dem Ort, an dem das Kapital investiert wird”283, ungleich behandelt werden können. Aus dieser Passivformulierung, statt einer auf die ’’Steuerpflichtigen” bezogenen, im Aktiv verfaßten Aussage284, wird geschlossen, daß nicht der ’’Steuerpflichtige” im Sinne der Norm den ’’Kapi­ talanlageort” bestimme, sondern dieser erst durch den Kapitalnehmer festgelegt werde.

Insgesamt übt die hier dargestellte Auffassung berechtigte Kritik an der vereinfa­ chenden Gleichsetzung des ’’Kapitalanlageortes” mit dem Wohnort/Sitz des Kapi­ talnehmers, wobei im folgenden deutlich wird, daß die Argumente nicht zwingend sind. Vor allem spricht gegen den ’’Kapitalanlageort” als den tatsächlichen,

282 Dautzenberg, EWS 1997, S. 379,382; ders., RIW 1998, S. 537, 540. 283 Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV englische Fassung: "... distinguish between the tax-payers who are not in the same situation ... with regard to the place where their capital is invested" (vgl. für den Text R. Bieber (Ed.), Con­ stitutional law of the European Union, Baden-Baden 1996). - Französische Fassung: "... d’appliquer ... une di­ stinction entre les contribuables qui ne se trouvent pas dans la meme situation en ce qui conceme ... Ie lieu oft leurs capitaux sont investis" (Text bei R. Bieber, Droit constitutionnel de 1’Union Europ^enne, Baden-Baden 1996). 284 Die Steuerpflichtigen dürfen ungleich behandelt werden "in Abhängigkeit von dem Ort, an dem sie das Ka­ pital investieren."

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wirtschaftlichen Investitionsort der Mangel an Praktikabilität der mit dieser Defi­ nition ausgelösten Folge für die betroffenen Unternehmen.

bb) "Kapitalanlageort" - Ort der Ansässigkeit des Kapitalnehmers Die in der Praxis praktikablere Lösung ist die Definition des ’’Kapitalanlageortes” als Ort der Ansässigkeit des Kapitalnehmers, selbst wenn auf diese Weise der tat­ sächlichen, wirtschaftlichen Ermittlung eine Fiktion des ’’Kapitalanlageortes” vor­ gezogen wird.

Zunächst drängt sich durch die geäußerten Argumente nicht zwingend das Ver­ ständnis des ’’Kapitalanlageortes” als des tatsächlichen, wirtschaftlichen Investi­ tionsorts auf. Das Argument aus dem Vergleich von Art. 67 EGV a.F. und Art. 58 EGV ist nur dann überzeugend, wenn nachgewiesen werden kann, daß die Ver­ tragstaaten durch die Liste der Diskriminierungsverbote in Art. 67 EGV a.F. ab­ grenzbare, nebeneinander bestehende Diskriminierungstatbestände unterscheiden wollten. Der ’’Anlageort” könnte genauso der Vollständigkeit halber angefugt worden sein, ohne daß man sich der häufigen Überschneidung mit dem ’’Wohnort einer der Parteien”, nämlich des Kapitalnehmers, bewußt war.

Angreifbar ist auch das Argument aus den fremdsprachlichen Fassungen. Der Wahl der Passivformulierung285 die Intention eines bewußten, gezielten Verzichts auf eine im Aktiv verfaßte Aussage zugrundezulegen, ist eine gewagte These. Die Formulierung ”Ort, an dem das Kapital investiert wird” ist genauso offen wie der Begriff ’’Kapitalanlageort” selbst. Grundsätzlich klingt doch aber in allen sprachlichen Fassungen des EGV, und diese sind in ihrer Gesamtheit für die Auslegung heranzuziehen286, die Rolle des "Steuerpflichtigen” als Subjekt der ’’Wohnort- bzw. Kapitalanlageort”-Wahl an. Dies rechtfertigt es, auch den ’’Ka­ pitalanlageort” vom ’’Steuerpflichtigen” bestimmen zu lassen. Seine Einfluß­ möglichkeit auf die Investition beschränkt sich aber auf die Wahl des Kapital­ nehmers, da der Umgang mit dem überlassenen Kapital danach weitgehend in dessen ausschließlichem Machtbereich steht. Angesichts dieser Situation muß sich der vom "Steuerpflichtigen” gewählte '’Kapitalanlageort” mit dem Wohnort/Sitz des Kapitalnehmers bzw. - wie gleich gezeigt wird - mit dessen Ansäs­ sigkeit decken. 285 Übersetzt: "dem Ort, an dem das Kapital investiert wird". 286 Schön, Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 50 m.w.N.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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Das entscheidende Gegenargument gegen die erörterte Definition liefert das Feh­ len der Praktikabilität ihrer Folgen. Würde sich der ’’Kapitalanlageort” nach dem tatsächlichen, wirtschaftlichen Investitionsort bestimmen, müßte jeder Kapital­ nehmer, um die Anwendung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zu ermöglichen, allen Kapitalgebern den Investitionsort ihres Kapitals im einzelnen aufschlüsseln können. Dies mag bei kleineren Unternehmen, die sich in ihrer Tätigkeit auf we­ nige Orte beschränken, noch möglich sein. Bei den börsennotierten ’’Global Players” ist jedoch an eine derartige Zuordnung nicht zu denken. Dies gilt umso mehr noch für Kapitalanlagegesellschaften, die in ihren Fonds nach dem Prinzip der Risikostreuung in verschiedene internationale Kapitalgesellschaften inve­ stieren.

Bei den Regelungen zu diesen Investmentgesellschaften im Gesetz über Kapital­ anlagegesellschaften (KAGG) und im Auslandinvestment-Gesetz (AuslInvestmG) spiegelt sich die Unmöglichkeit des oben beschriebenen Verständnisses des ’’Ka­ pitalanlageortes” wider. So wird z.B. bei den Körperschaftsteueranrechnungsnor­ men allein bei der "unbeschränkten Steuerpflicht” der Kapitalgesellschaft ange­ setzt, von der Dividenden an die Kapitalanlagegesellschaft fließen (§§ 39 a i.V.m. 38 Abs. 2 KAGG). Es wird also auf den Sitz der Kapitalgesellschaft, die am Ende der Investitionskette Anteilsinhaber-Fondsgesellschaft-Kapitalgesellschaft steht, abgestellt, weil die Ermittlung des tatsächlichen, wirtschaftlichen Investitionsortes unmöglich ist. Gleiches ergibt sich bei ausländischen Investmentgesellschaften aus § 19 Abs. 1 AuslInvestmG, wonach für die Anrechnung ausländischer Abzugsteuem an ihre Erhebung im Ansässigkeitsstaat des ausländischen Investmentvermögens angeknüpft wird.

Dieses Gegenargument des Fehlens der Praktikabilität einer Gleichsetzung des ’’Kapitalanlageortes” mit dem tatsächlichen, wirtschaftlichen Investitionsort über­ zeugt. Es kann nicht angenommen werden, daß die Mitgliedstaaten im Jahr 1992 einer für die Kapitalverkehrsfreiheit wichtigen Vorschrift eine Fassung haben ge­ ben wollen, die unpraktikabel ist. Der ’’Kapitalanlageort” muß im Sinne des Wohnortes/Sitzes des Kapitalnehmers verstanden werden, da nur diese Lösung für die überwiegende Zahl der Sachverhalte praktikabel ist. Deswegen läßt sich auch akzeptieren, daß diese Definition einer Fiktion des ’’Kapitalanlageortes” gleichkommt, die in seltenen Einzelfällen, wenn das Unternehmen das überlas­ sene Kapital fast ausschließlich außerhalb ihres Sitzstaates für Investitionen einsetzt, eine eindeutige Divergenz zwischen tatsächlichem und fingiertem ”Ka­

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pitalanlageort" entstehen läßt. Für solche Extremfälle wäre gegebenenfalls an eine Korrektur zu denken, die sich in Deutschland nach § 42 Abgabenordnung richtet.

Der Ausgangsfall ist danach so zu lösen, daß der ’’Kapitalanlageort” des Herm S mit dem Sitz des Kapitalnehmers, d.h. hier mit dem Sitz der Aktiengesellschaft in den Niederlanden, gleichzusetzen ist. Für die unterschiedliche Behandlung der niederländischen Körperschaftsteuer, die im Unterschied zur Körperschaftsteuer inländischer Kapitalgesellschaften nicht gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG angerech­ net wird, bedeutet dies eine Differenzierung nach dem abweichenden Kapitalan­ lageort, der einerseits in den Niederlanden, andererseits in Deutschland liegt. Diese Konstellation fuhrt zur Anwendbarkeit der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, die die Kapitalverkehrsbeschränkung rechtfertigen kann. Es wäre bei der Prüfung der ’’Schranke” der materielle Grund der Differenzierung nach dem Kapitalanlageort und sein rechtfertigender Charakter unter Einhaltung der ’’Schranken-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV zu untersuchen. Die genaue Be­ leuchtung dieses Falls erfolgt unten287.

Die Anwendung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV setzt, wie beim "Wohnort” des ’’Steuerpflichtigen”288, auch beim ’’Kapitalanlageort’’ voraus, daß es immer nur einen und nicht mehrere gibt. Daher muß der ’’Kapitalanlageort” parallel zur ”Wohnort”-Bestimmung durch die abkommensrechtliche Ansässigkeit des Kapi­ talnehmers definiert werden. Erst dann läßt sich in schwierigen Fällen durch die Anwendung des entsprechenden Doppelbesteuerungsabkommens289 der ein­ schlägige ’’Kapitalanlageort” ermitteln.

c)

’’Steuerpflichtige”

Zuletzt stellt sich die Frage, wer die ’’Steuerpflichtigen” i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV sind. Bei den von der Kapitalverkehrsfreiheit erfaßten Kapitaltransaktionen können als mögliche ’’Steuerpflichtige” die Kapitalgeber und die Kapitalnehmer durch die Vorschrift gemeint sein. Der Begriff des ’’Steuerpflichtigen” in steuer­ rechtlichen Vorschriften ist kontextgebunden auszulegen; das heißt, er richtet sich danach, welche Personen in dem im Tatbestand beschriebenen Zusammenhang steuerbare Einkünfte erzielen. Bei der in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV geregelten 287 Vgl. Kapitel 3 A. I. l.b). 288 Vgl. Kapitel 2 A. II. l.a). 289 Vgl. Art. 4 OECD-Musterabkommen.

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Kapitalanlage ist es der Kapitalgeber, der in engem zeitlichen Zusammenhang zum Kapitaltransfer Einkünfte in Form von Zinsen, Dividenden oder realisierten Wertsteigerungen hat. Daher ist der Kapitalgeber, nicht aber der Kapitalnehmer ’’Steuerpflichtiger” i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV290.

Aus dieser Definition wird geschlossen, daß eine Unterscheidung nach dem Wohnsitz anderer Personen als des "Steuerpflichtigen”, also als des Kapitalge­ bers, durch die Norm ausgeschlossen ist291. Eine mitgliedstaatliche Steuemorm, die eine kapitalverkehrsbeschränkende Differenzierung in bezug auf den Kapi­ talschuldner vornehme, sei daher nicht erlaubt292. Als Beispiele werden Kapital­ anlagen bei Banken und Versicherungen genannt, bei denen bestimmte Vorteile staatliche Sparforderung, steuerliche Abzugsfähigkeit der Beiträge - an den Ver­ tragsabschluß mit inländischen Gesellschaften gebunden werden293. Begründet wird die europarechtliche Unzulässigkeit dieser Kapitalverkehrsbeschränkungen mit der Unanwendbarkeit der ’’Schranke" des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, da eine unterschiedliche Behandlung nicht nach den "Steuerpflichtigen", also Kapitalge­ bern, sondern nach den unterschiedlichen Kapitalschuldnem (inländische/ausländische Gesellschaft) stattfinde.

Diese aus der Definition der "Steuerpflichtigen" gezogene Schlußfolgerung be­ darf einer Klarstellung. Über die differenzierende steuerrechtliche Behandlung nach dem unterschiedlichen ’’Kapitalanlageort’’ der "Steuerpflichtigen" läßt Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV nämlich doch eine unterschiedliche Behandlung nach den Kapitalnehmem zu. Die Norm regelt die Zulässigkeit von Kapitalverkehrsbe­ schränkungen unter zwei verschiedenen Aspekten: entweder es erfolgt eine un­ terschiedliche Behandlung nach dem "Wohnort" oder nach dem "Kapitalanlageort" der "Steuerpflichtigen". Dabei schließt zwar die eine Rechtfertigungsalter­ native mit Bezug auf den "Wohnort" der "Steuerpflichtigen" eine Differenzierung nach den Kapitalschuldnem aus, da "Steuerpflichtige" im Sinne der Norm nur Kapitalgeber sind. Andererseits ist aber die andere Alternative mit Blick auf den "Kapitalanlageort’’ so zu verstehen, daß es auf den von dem "Steuerpflichtigen", also von dem Kapitalgeber, gewählten Ort der Ansässigkeit seines Kapitalneh­ 290 So auch Dautzenberg, EWS 1997, S. 379, 382; Herzig, Körperschaftsteuersystem und Europäischer Bin­ nenmarkt, S. 627, 638; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art 73 d Rdnr. 14. 291 So Herzig, Körperschaftsteuersystem und Europäischer Binnenmarkt, S. 627, 638; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 14. 292 Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art 73 d Rdnr. 14 (4.Aufl.); vorsichtiger in 5. Aufl., Art. 73 d Rdnr. 14: "dürfte nicht erlaubt sein"; deutlich: Matzka, Österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 79. 293 Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art 73 d Rdnr. 16.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

mers ankommt294. Auf diese Weise ergibt sich aus dem ’’Kapitalanlageort” der ’’Steuerpflichtigen" eine differenzierende Behandlung nach den Kapitalnehmem, welche im Fortgang der Prüfung des Art. 58 EGV an der "Schranken-Schranke" des Absatzes 3 zu messen ist.

2.

Art. 58 Abs. 2 EGV - ’’Schrankenerweiterung”

Bei der Betrachtung der inneren Systematik des Art. 58 EGV ist nur kurz auf seinen Absatz 2 einzugehen, wonach das Kapitalverkehrskapitel nicht die An­ wendbarkeit von Beschränkungen des Niederlassungsrechts berührt, die mit dem EGV vereinbar sind. Bei dieser Vorschrift handelt es sich, wie oben erörtert295, um eine Erweiterung der "Schranken" der Kapitalverkehrsfreiheit. Es sind aufgrund der oben festgestellten kumulativen Anwendbarkeit der beiden Grundfreiheiten die "Schranken" der Niederlassungsfreiheit auch bei der Prüfung der Ka­ pitalverkehrsfreiheit zu berücksichtigen. Daher kann eine Kapitalverkehrsbe­ schränkung, die zwar nicht von Art. 58 EGV gedeckt wird, durch Rechtferti­ gungsgründe der Niederlassungsfreiheit legitimiert werden. Allerdings ist die "Schranke" der Niederlassungsfreiheit an der "Schranken-Schranke" des Art. 58 Abs. 3 EGV zu messen.

Grundsätzlich beschränkt sich die "Schrankenerweiterung’’ durch Art. 58 Abs. 2 EGV auf das Niederlassungsrecht. Eine Ausweitung der "Schranke" auf die zuläs­ sigen Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit durch eine analoge Anwendung der Norm ist abzulehnen296.

3.

Art. 58 Abs. 3 EGV - ’’Schranken-Schranke”

Nach der Untersuchung der steuerrechtlichen "Schranke" der Kapitalverkehrsfrei­ heit in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV und der ’’Schrankenerweiterung’’ in Art. 58 Abs. 2 EGV wird es zuletzt erforderlich, sich Art. 58 Abs. 3 EGV zuzuwenden, um die Reichweite der Eingriffsrechtfertigung zu verstehen.

294 Vgl. Kapitel 2 A. II. 1. b) bb). 295 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (2) (a) und (4) (a). 296 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1 a) cc) (4) (b).

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

a)

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Bedeutung des Art. 58 Abs. 3 EGV

Art. 58 Abs. 3 EGV begrenzt die in den Absätzen 1 und 2 genannten Rechtferti­ gungsgründe für Kapitalverkehrsbeschränkungen, indem er die zusätzlichen Kri­ terien der ’’willkürlichen Diskriminierung” und der "verschleierten Beschrän­ kung" einfuhrt. Die Vorschrift beschränkt sich dabei trotz der Formulierung nicht auf "Maßnahmen und Verfahren", sondern bezieht auch Rechtsnormen in die Prü­ fung mit ein297. Daher werden auch die kapitalverkehrsbeschränkenden Steuer­ normen, die durch den Rechtfertigungsgrund des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV298 ge­ deckt sind, von Art. 58 Abs. 3 EGV erfaßt.

In der hier verwendeten, aus der deutschen Grundrechtsdogmatik entliehenen Ter­ minologie ist Art. 58 Abs. 3 EGV, der die in den vorhergehenden Absätzen ge­ nannten Rechtfertigungsgründe ("Schranken") begrenzt299, als "SchrankenSchranke" zu bezeichnen300. Diese bildet die abschließende Stufe in der Prüfung der Kapitalverkehrsfreiheit. Die "Schranken-Schranke" folgt auf die Feststellung eines Eingriffs in den ’’Schutzbereich’’ der Grundfreiheit und auf die Identifika­ tion einer einschlägigen eingriffsrechtfertigenden "Schranke". Sie unterzieht die "Schranke" der Untersuchung, ob sie eventuell eine "willkürliche Diskriminie­ rung" oder "verschleierte Beschränkung" der Kapitalverkehrsfreiheit zur Folge hat. Diese Dreiteilung des Prüfungsaufbaus der Grundfreiheit in Eingriff in den Schutzbereich, "Schranke" und "Schranken-Schranke" soll in Anlehnung an die deutsche Grundrechtsdogmatik die Grundlage der Untersuchung in Teil B dieses Kapitels und in Kapitel 3 bilden. Das Problem, daß die Untersuchung des Rechtfertigungsgrundes für eine Kapitalverkehrsbeschränkung fließend in die begrenzenden Kriterien der "willkürlichen Diskriminierung" und "verschleierten Beschränkung" übergeht301, wird durch eine Schematisierung gelöst. Die Prüfung der "Schranke" geht nicht über die Identifikation des einschlägigen Rechtferti­ 297 Vgl. ausführlich oben Kapitel 2 A. I. 2. b) bb); ebenso: Freitag, EWS 1997, S. 186, 195; Honrath, C. II. 3. a) bb), S. 85; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 33; Kimms, Zweiter Teil II. 2. b) aa) bbb), S. 193; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 20; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 766; a.A. De Bont, EC Tax Review 1995, S. 136, 140. 298 Dazu oben Kapitel 2 A. I. 2. b) bb). 299 Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 33: ’’Grenzen für die nach [Art. 58] zulässigen Maßnahmen"; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 20: "Grenzen der Ausnahmeklauseln"; vgl. zur Parallel­ vorschrift im Warenverkehrsrecht: Matthies/v. Borries, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 36 Rdnr. 8; Müller-Grajf, in: G/T/E, EGV Art. 36 Rdnr. 160 ff.; Streinz, Europarecht, § 12 III 3 b) aa), S. 269 Rdnr. 735 ff. 300 Vgl. zur gleichen Begriffswahl bei der Parallel Vorschrift im Warenverkehrsrecht: Allkemper/Jones, EWS 1993, S. 130,136. 301 Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 22; zur Parallelvorschrift im Warenverkehrsrecht: MüllerGraff, in: G/T/E, EGV Art 36 Rdnr. 171.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

gungsgrundes hinaus302. Die detaillierte Untersuchung der Rechtfertigung im Zusammenspiel mit ihren in Art. 58 Abs. 3 EGV genannten Grenzen erfolgt erst auf der Ebene der ’’Schranken-Schranke”. Dies ermöglicht es, sich mit dem Inhalt des Art. 58 Abs. 3 EGV nach Identifizierung aller möglichen Rechtfertigungs­ gründe auseinanderzusetzen.

b)

Die begrenzenden Kriterien

aa) "Willkürliche Diskriminierung"

Zum Begriff der ’’willkürlichen Diskriminierung” durch Kapitalverkehrsbeschrän­ kungen gibt es bisher keine Rechtsprechung des EuGH. Die Formulierung findet sich aber auch in der Parallelvorschrift zu Art. 58 Abs. 3 EGV im Warenverkehrs­ recht (Art. 30 S. 2 EGV), zu der sich der EuGH bereits geäußert hat303. Im Waren­ verkehrsrecht wurde der Begriff in Anlehnung an Art. XX des GATT, der ihn ebenfalls beinhaltet, aufgenommen304.

Eine ’’willkürliche Diskriminierung” liegt vor, wenn die Diskriminierung nicht durch anerkennenswerte sachliche Erfordernisse begründet ist, wenn sie also nicht auf objektiven Kriterien beruht305. Aufgrund dieser Definition werden im Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit durch Art. 58 EGV nicht alle Diskriminierungen, sondern nur die ’’willkürlichen” untersagt306. Art. 58 Abs. 3 EGV wurde besonders im Hinblick auf Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV erforderlich, der im Unterschied zu Art. 67 EGV a.F. bestimmte unterschiedliche Behandlungen zuläßt. Die ’’Schran­ ken-Schranke” soll durch das Verbot der ’’willkürlichen Diskriminierungen” be­ wirken, daß die aus steuerlichen Gründen nach Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gerecht­ fertigten Ausnahmen vom Beschränkungsverbot des Art. 56 Abs. 1 EGV von den nationalen Gesetzgebern nicht mißbraucht werden. Daher müssen die steuerlichen 302 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d) am Ende. 303 EuGH, Urt. v. 08.07.1975, Rs. 4/75, Sig. 1975, S. 843 ff. (Rewe); Urt. v. 14.12.1979, Rs. 34/79, Sig. 1979, S. 3795 ff. (Henn und Darby); Urt. v. 10.07.1980, Rs. 152/78, Sig. 1980, S. 2299 ff. (Kommission/Frankreich); Urt. v. 25.07.1991, Rs. C-l/90 und C-l76/90, Sig. I 1991, S. 4151 ff. (Aragonesa). 304 Müller-Graff, in: G/T/E, EGV Art. 36 Rdnr. 166; Peters, EC Tax Review 1998, S. 4, 10. 305 Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung im EG-Binnenmarkt, S. 67 f.; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 35; Kimms, Zweiter Teil II. 2. b) aa) bbb), S. 193; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 21; dies., Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtigkeit, S. 60; zur Parallel Vorschrift im Warenver­ kehrsrecht: Müller-Graff, in: G/T/E, EGV, Art. 36 Rdnr. 166; Streinz, Europarecht, § 12 III 3 b) aa), S. 269 Rdnr.735. 306 Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 68; Honrath, C. II. 3. a) bb) aaa), S. 87; Otto H. Jacobs, Inter­ nationale Untemehmensbesteuerung, S. 75.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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Diskriminierungen aus sachlichen, aus dem Steuerrecht ableitbaren Erfor­ dernissen geboten sein; ihre ’’Unerläßlichkeit”307 wird dagegen nicht gefordert308.

Die Formulierung in Art. 58 Abs. 3 EGV, wonach die Rechtfertigungsgründe der Absätze 1 und 2 kein ’’Mittel zur willkürlichen Diskriminierung” darstellen dür­ fen, wirft die Frage auf, ob eine Diskriminierungsabsicht des Mitgliedstaates vor­ liegen muß. Dies soll an dieser Stelle noch nicht erörtert werden, da sich die ähn­ liche Frage nach einer Behinderungsabsicht bei dem direkt anschließend behan­ delten Verbot der ’’verschleierten Beschränkung” stellt.

bb) ’’Verschleierte Beschränkung” Bei ’’verschleierten Beschränkungen” handelt es sich um Maßnahmen eines Mit­ gliedstaates, die als zulässige Maßnahmen i.S.d. Art. 58 Abs. 1 und 2 EGV getarnt sind, in Wirklichkeit aber eine Beschränkung des Kapital- und Zahlungsverkehrs darstellen309. ’’Verschleierte Beschränkungen” können sich daraus ergeben, daß sie im Hinblick auf den Zweck, der unter Heranziehung der Art. 58 Abs. 1 und 2 EGV vorgegeben wird, gar nicht erforderlich sind oder sie zwar dem Grunde nach berechtigt sind, aber das erforderliche Maß überschreiten. Dies wäre z.B. im Be­ reich der unterschiedlichen Behandlung von Steuerpflichtigen aufgrund des un­ terschiedlichen Wohn- oder Kapitalanlageortes der Fall, wenn der Ansässigkeits­ staat des Steuerpflichtigen für eine Kapitalanlage in einem anderen Mitgliedstaat durch steuerrechtliche Vorschriften umfangreiche und unzumutbare Anforderun­ gen an die erforderlichen Unterlagen aufstellte310. Im Steuerrecht kann aufgrund einer unterschiedlichen Behandlung, die von Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt wird, auch dann eine ’’verschleierte Beschränkung” vorliegen, wenn die Syste­ matik des Steuerrechts die Differenzierung nicht erfordert. Hier entsteht eine Überschneidung mit dem Kriterium der ’’willkürlichen Diskriminierung”, da auch dieses voraussetzt, daß die Systematik des Steuerrechts ein anerkennenswertes sachliches Erfordernis für die Diskriminierung liefert.

307 Vgl. "unerläßliche Maßnahmen" in Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV. 308 Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 36. 309 Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 39; Kimms, Zweiter Teil II. 2. b) aa) bbb), S. 193; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 21; dies., Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtigkeit, S. 61; abwei­ chend Honrath, C. II. 3. a) bb) bbb), S. 90, der "verschleierte Beschränkungen" nur bei indirekten Eingriffen in die Kapitalverkehrsfreiheit filr möglich hält; vgl. zur Parallel Vorschrift im Warenverkehrsrecht: MüllerGrajf, in: G/T/E, EGV, Art. 36 Rdnr. 170, 173. 310 Vgl. Honrath, C. II. 3. a) bb) bbb), S. 90.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Es stellt sich, wie bereits angesprochen, bei beiden Untersuchungskriterien die Frage, ob sie die Feststellung eines subjektiven Elements im Sinne einer Diskriminierungs- bzw. Behinderungsabsicht erfordern. Die Voraussetzung einer sol­ chen Absicht ist abzulehnen, da die ’’Schranken-Schranke” objektiv ausgestaltet sein muß und nicht von schwer feststellbaren subjektiven Aspekten abhängig sein darf. Dies wird für eine Diskriminierungsabsicht einhellig vertreten311. Um­ strittener ist das Erfordernis der Behinderungsabsicht312, wobei auch dieses auf­ grund des sich durch die Schwierigkeit der Nachweisbarkeit ergebenden Mangels an Praktikabilität abzulehnen ist313.

c)

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - Erweiterung der ausdrücklichen ’’Schranken-Schranke”

Zuletzt stellt sich bei der ’’Schranken-Schranke” die Frage, ob hier der Verhältnis­ mäßigkeitsgrundsatz zu berücksichtigen ist. Er wird in Art. 58 Abs. 3 EGV nicht ausdrücklich genannt. Andererseits bezeichnet Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV die nach ihm zulässigen Maßnahmen als ’’unerläßliche” Maßnahmen, wodurch in diesem einzelnen Rechtfertigungsgrund ein Teil des Verhältnismäßigkeitsgrund­ satzes direkt angesprochen wird314. Dies ließe theoretisch den Umkehrschluß zu, daß die anderen in Art. 58 Abs. 1 EGV genannten Rechtfertigungsgründe keiner Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen.

Eine solche Schlußfolgerung kann jedoch aus verschiedenen Gründen nicht über­ zeugen315. Erstens sprechen schon die Kriterien der "willkürlichen Diskriminie­ rung” und ’’verschleierten Beschränkung” in Art. 58 Abs. 3 EGV, wenn auch nicht unmittelbar, Verhältnismäßigkeitsmaßstäbe an, indem die Beschränkung durch anerkennenswerte sachliche Erfordernisse begründet sein muß, die nicht zur Ver­

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Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 35; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 d Rdnr. 21; zur Parallelvorschrift im Warenverkehrsrecht: Müller-Graff, in: G/T/E, EGV, Art 36 Rdnr. 166; GA Warner, in: EuGH, Urt v. 14.12.1979, Rs. 34/79, Sig. 1979, S. 3795, 3827. Dazu bei der Warenverkehrsfreiheit ausführlich Müller-Graff, in: G/T/E, EGV, Art. 36 Rdnr. 174 ff., mit um­ fangreichen weiteren Nachweisen in Fn. 368. Überwiegende Auffassung: Honrath, C. II. 3. a) bb) bbb), S. 90; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 22; im Warenverkehrsrecht für Beschränkungen durch die Mitgliedstaaten: Müller-Graff, in: G/T/E, EGV, Art. 36 Rdnr. 175. Vgl. Honrath, C. II. 3. a) bb) ccc), S. 91; Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 21; Kimms, Zweiter Teil II. 2. b) aa) aaa) (2), S. 190; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 7; vgl. zum gleichen Begriff in Art. 4 der Richtlinie 88/361, ABI. EG 1988 Nr. L 178, S. 5: Potacs, Devisenbewirtschaftung, S. 493. Ebenso Honrath, C. II. 3. a) bb) ccc), S. 91; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 d Rdnr. 23.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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schleierung des tatsächlichen Hintergrunds vorgeschoben sein dürfen316. Zweitens handelt es sich bei allen in Art. 58 Abs. 1 EGV genannten Aspekten, auch bei Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV317, um Rechtfertigungsgründe, so daß ihre Prüfung auch die Frage beinhalten muß, ob die Kapitalverkehrsbeschränkung für die Erreichung des in der Bestimmung genannten Zweckes erforderlich und in ihren Wirkungen angemessen ist. Auf diese Weise ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz regelmä­ ßig Inhalt der Rechtfertigung318. Drittens bildet das Verhältnismäßigkeitsprinzip einen allgemein anerkannten europäischen Rechtsgrundsatz, der bei allen Grundfreiheiten, also auch der Kapitalverkehrsfreiheit, einheitlich anzuwenden ist319.

Folglich fließt in die Prüfung der ’’Schranke-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein320. Im Rahmen seiner Prüfung ist zu­ nächst die gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit des mit der mitgliedstaatlichen Maßnahme verfolgten Ziels festzustellen. Danach ist zu untersuchen, ob die Maß­ nahme zur Erreichung des gesetzten Regelungsziels geeignet ist, ob neben ihr kein milderes, gleich geeignetes Mittel in Betracht kommt und ob der Regelungs­ zweck und der Eingriff in die Grundfreiheit in einem gerecht gewichteten Ver­ hältnis zueinander stehen (Angemessenheit der Maßnahme).

III. Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV - Rechtsbruchverhinderungsklausel

Außer in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV wird das Steuerrecht im Rahmen der Kapital­ verkehrsfreiheit auch in Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV erwähnt. Nach dieser Norm steht den Mitgliedstaaten unter anderem das Recht zu, die unerläßlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Vor­ schriften des Steuerrechts zu verhindern. Die Vorschrift ist am Wortlaut des Art. 4 der Kapitalverkehrsrichtlinie aus dem Jahr 1988321 orientiert322. Die sogenannte 316 Vgl. Honrath, C. II. 3. a) bb) ccc), S. 91; Kimms, Zweiter Teil II. 2. b) aa) bbb), S. 193; Schweitzer/Hummer, Europarecht, § 14 V. 3., S. 371, Rdnr. 1221; für die Parallelvorschrift im Warenverkehrsrecht: Lux, in: Lenz, EGV, Art. 36 Rdnr. 10; Streinz, Europarecht, § 12III3 b) aa), S. 269 Rdnr.737. 317 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. b) bb). 318 Vgl. Lux, in: Lenz, EGV, Art. 36 Rdnr. 10; Streinz, Europarecht, § 12 III3 b) aa), S. 269 Rdnr.737. 319 Honrath, C. II. 3. a) bb) ccc), S. 92; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art 73 d Rdnr. 23. 320 Ebenso Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapital Verkehrsfreiheit, S. 97; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 23; vgl. ausdrücklich für die Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit bei der Kapitalverkehrsfreiheit: Mitteilung der Kommission über bestimmte rechtliche Aspekte von Investitionen innerhalb der EU, ABI. EG 1997 Nr. C 220, S. 16. 321 Richtlinie 88/361 des Rates vom 24.06.1988 zur Durchführung von Art. 67 EWGV, ABI. EG 1988 Nr. L 178, S. 5.

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Rechtsbruchverhinderungsklausel323 soll vermeiden, daß der freie Kapitalverkehr zu einer Umgehung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften miß­ braucht wird. Die Norm hebt in diesem Zusammenhang die mitgliedstaatlichen Regelungen auf dem Gebiet des Steuerrechts und der Aufsicht über Finanzinsti­ tute hervor, ohne daß diese beiden Rechtsgebiete einen abschließenden Katalog der nach Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV schutzwürdigen Rechts- und Verwal­ tungsvorschriften darstellen würden.

Zu den mitgliedstaatlichen Maßnahmen die durch Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV erfaßt sind, zählen im Bereich der Steuern insbesondere Maßnahmen zur Bekämp­ fung von Steuerumgehung, Steuerflucht oder Steuerhinterziehung324. Die Norm bezieht sich nur auf ’’unerläßliche Maßnahmen”, wodurch der Verhältnismäßig­ keitsgrundsatz in den Tatbestand der Vorschrift ausdrücklich integriert wird325. Er gilt jedoch, auch ohne ausdrücklichen Hinweis, ebenfalls bei Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV326.

Bei den in Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV besonders betonten steuerrechtlichen Vorschriften ist darauf hinzuweisen, daß die Kommission nach Art. 6 Abs. 5 der Kapitalverkehrsrichtlinie aus 1988327 dem Rat bis zum 31.12.1988 Vorschläge un­ terbreiten sollte, die darauf abzielen, Gefahren von Steuerumgehungen, Steuer­ flucht und Steuerhinterziehung infolge der Unterschiede in den nationalen Rege­ lungen zur Besteuerung von Sparerträgen und in der Kontrolle der Anwendung dieser Regelungen zu beseitigen oder zu vermeiden. Der Rat sollte über diese Vorschriften bis zum 30.06.1989 einstimmig befinden328. Die Vorschläge sind damals nicht beschlossen worden329. Mittlerweile gibt es neue Maßnahmen und neue Richtlinienvorschläge der Kommission330, in deren Mittelpunkt die noch nicht vom Rat beschlossene Richtlinie zur Gewährleistung eines Minimums an 322 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.03.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Sig. I 1995, S. 361,385 Rz. 22 (Aldo Bordessa). 323 So R.H. Weber, in: Lenz, EGV, Art. 58 Rdnr. 5 (bereits in Art. 73 d Rdnr. 5 der Vorauflage); übernommen von Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 7. 324 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Rs.C-163/94, C-165/94 und C-250/94, Sig. I 1995, S. 4821, 4837 Rz. 22 (Sanz de Lera) unter Bezug auf EuGH, Urt. v. 23.03.1995, Rs. C-358/93 und C-416/93, Sig. I 1995, S. 361, 385 Rz. 21 f. (Aldo Bordessa); Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EGV, Art. 58 Rdnr. 8; Ress/Ukrow, in: Gra­ bitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 10; dies., Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtigkeit, S. 52. 325 Vgl. dazu und zur Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Kapitel 2 A. II. 3. c). 326 Vgl. Kapitel 2 A. II. 3. c). 327 Vgl. Nachweis in Fn. 321. 328 Vgl. Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 10. 329 Vgl. die gescheiterte Richtlinie zur einheitlichen Zinsbesteuerung, ABI. Nr. C 141 vom 07.06.1989, S. 5. 330 Dazu Nachreiner, DStZ 1999, S. 486,487.

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effektiver Besteuerung von Zinserträgen innerhalb der Gemeinschaft vom 4. Juni 1998331 steht332. Aufgrund der Schlußfolgerungen des ECOFIN-Rats vom 27. November 2000 wird aber auch dieser Richtlinienvorschlag einer erneuten Änderung unterliegen.

Die Rechtsbruchverhinderungsklausel des Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV stellt, wie Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, eine ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit dar. Sie unterliegt ebenfalls der ’’Schranken-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV. Zu den Maßnahmen im Sinne des Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV im Bereich des Steuer­ rechts liegt bisher keine Rechtsprechung des EuGH vor333. Auch in der Literatur sind Untersuchungen zu diesem Thema bisher rar geblieben334, da die Maßnahmen der Steuerbehörden meist am innerstaatlichen Verfassungs-, Steuer- und Straf­ recht gemessen werden335. Angesichts dieser Situation beschränkt sich die Be­ trachtung deutscher Steuemormen in Kapitel 3 auf den Prüfungsmaßstab des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV.

IV. Ergebnis

Die Untersuchung der Systematik des Art. 58 EGV hat gezeigt, welch große Be­ deutung dieser Vorschrift im Regelungskomplex der Kapitalverkehrsfreiheit zu­ kommt. Das ’’Schutzbereich-Schranken-Verhältnis” zwischen Art. 56 und Art. 58 EGV und die innere Systematik der ’’Schranke” haben zugleich die Sonderstel­ lung des Art. 58 EGV im System der Grundfreiheiten verdeutlicht. Die Vorschrift greift als erste ausdrücklich das Problem der Grundfreiheitsverletzung durch mitgliedstaatliche Steuemormen auf. Eine herausragende Stellung hat dabei die Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, die die in ihr genannten Steuemormen trotz ihres kapitalverkehrsbeschränkenden Charakters rechtfertigen kann336. Der Norm kommt für kapitaleinkünftebezögene Steuervorschriften konstitutive Be­ deutung als Eingriffsrechtfertigung zu337. Die Rechtfertigungsnorm wird jedoch 331 332 333 334 335 336 337

ABI. EG Nr. C 212 v. 08.07.1998, S. 13 ff.; KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS) mit Begründung und Erläuterungen der EG-Kommission. Ausführlich zu diesem Richtlinienvorschlag: Kapitel 3 B. II. Zuletzt zu Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV bei nicht steuerrechtlichem Sachverhalt: EuGH, Urt v. 14.03.2000, Rs. C54/99 (Association Eglise de scientologie). Vgl. Ditges/Graß, BB 1998, S. 1390 ff; Ress/Ukrow, Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtigkeit, S. 49 ff. Vgl. u.a. Hamacher, DB 1996, S. 2460 ff; Streck/Mack, BB 1995, S. 2137 ff; Streck/Peschges, DStR 1997, S. 1993 ff; Tipke, BB 1998, S. 241 ff; Wengert/Widmann, BB 1998, S. 22 ff. Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. b) bb) und d). Anders mittlerweile der EuGH in seinem Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 43 (Verkooijen).

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Art, 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

durch die in Art. 58 Abs. 3 EGV vorgesehene ’’Schranken-Schranke”, in die auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hineinzulesen ist, begrenzt.

B. Anwendung des Art. 58 EGV in der EuGH-Recht­ sprechung Diese Erkenntnisse über die Freiheit des Kapitalverkehrs und ihre wichtige ’’Schranke” in Art. 58 EGV werden im folgenden genutzt, um die bisherige EuGH-Rechtsprechung zu steuerrechtlich bedingten Kapitalverkehrsbeschrän­ kungen einer Prüfung zu unterziehen. Es gab bis Mitte letzten Jahres keine Ent­ scheidung des EuGH, die sich ausführlich mit dem Zusammenspiel der Artt. 56 und 58 EGV im Fall einer kapitalverkehrsbeschränkenden Steuemorm ausein­ andersetzt338. In seinem Urteil in der Rechtssache ’’Verkooijen”339 hat der EuGH nunmehr erstmals zu verschiedenen Fragen in diesem Zusammenhang genauer Stellung genommen. Dies wird zum Anlaß genommen, die vorliegende Untersu­ chung, die ursprünglich mehrere Monate vor Ergehen dieses Urteils fertiggestellt war, um eine Erörterung dieser Entscheidung zu erweitern.

Das bisherige Fehlen einer Auseinandersetzung mit dieser Thematik rührte daher, daß sich der EuGH mit grenzüberschreitenden Kapitalbewegungen vor der Libe­ ralisierung des Kapitalverkehrs durch die Kapitalverkehrsrichtlinie von 1988340 beschäftigte341, eine Prüfung des Art. 67 EGV a.F. und der Kapitalver­ kehrsrichtlinie im Falle unmittelbar betroffener anderer Grundfreiheiten aufgrund der nur bestehenden mittelbaren Betroffenheit der Kapitalverkehrsfreiheit für zurücktretend erachtete342 oder auf sie parallel zur arbeitserleichtemden Praxis des Bundesverfassungsgerichts angesichts einer bestehenden Verletzung einer

338 Vgl. Saß, StuW 1999, S. 164, 170 ff. mit Übersicht zu anhängigen Verfahren mit steuerrechtlichem und kapitalverkehrsrechtlichem Hintergrund. Zu den "Maßnahmen" nach Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV, die nicht das Steuerrecht betreffen, liegen dagegen Entscheidungen vor: EuGH, Urt. v. 23.03.1995, Rs. C-358/93 und C416/93, Sig. I 1995, S. 361, 385 Rz. 22 (Aldo Bordessa); EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94, Sig. I 1995, S. 4821 ff. (Sanz de Lera); sie werden hier aufgrund der Ausrichtung auf das Steuerrecht als Schranke der Kapitalverkehrsfreiheit nicht diskutiert. 339 EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720 ff. (Verkooijen). 340 Vgl. Nachweis in Fn. 321. 341 EuGH, Urt v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273 ff. (Avoir fiscal). 342 EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 ff. (Bachmann).

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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anderen Grundfreiheit verzichtete343. Die Auswahl der im folgenden untersuchten drei EuGH-Entscheidungen ’’avoir fiscal”344, ’’Bachmann”345 und ’’Safir”346 erfolgt unter dem Aspekt, daß allen drei Sachverhalten kapitalverkehrsrelevante Steuervorschriften zugrundelagen. Sie wird nunmehr durch das neu ergangene “Verkooijen“-Urteil erweitert.

Die Untersuchung der EuGH-Rechtsprechung in den ersten drei Urteilen wird im folgenden allein an der Kapitalverkehrsfreiheit, unter Verzicht auf die Prüfung der anderen Grundfreiheiten, ausgerichtet347. Es werden daher auch die Ausführungen des EuGH zu den anderen Grundfreiheiten nur dann erörtert, wenn sie mit der Ka­ pitalverkehrsfreiheit in Zusammenhang stehen. Dabei wird nach einem kritischen Blick auf die Entscheidungen, wie sie nach der damals geltenden Rechtslage ge­ troffen wurden, für alle Sachverhalte die Kapitalverkehrsfreiheit in ihrer aktuell vorliegenden gesetzlichen Ausgestaltung herangezogen und insoweit der zum Zeitpunkt der damaligen Urteile vorliegende Prüfungsmaßstab ersetzt. In der Be­ trachtung der drei Sachverhalte unter dem aktuellen Prüfungsmaßstab der Kapi­ talverkehrsfreiheit liegt die Neuerung und der Wert der nachfolgenden Untersu­ chung. Der Zweck dieser Nachbetrachtung der EuGH-Rechtsprechung liegt in einer kritischen Auseinandersetzung mit den bisherigen Urteilen und der Be­ antwortung der Frage, ob die entschiedenen Sachverhalte in Anbetracht des heutigen Prüfungsmaßstabs noch zu den gleichen Ergebnissen führen.

Im Anschluß an die Nachbetrachtung der drei Urteile wird das neu ergangene Urteil in der Rechtssache “Verkooijen“ erörtert.

343 EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897 ff. (Safir); jüngst Urt. v. 18.11.1999, Rs. C200/98, noch nicht in der amtlichen Sammlung, Rz. 30 (Gesellschaften X AB und Y AB/Riksskatteverket). 344 EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273 ff. (Avoir fiscal). 345 EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 ff. (Bachmann). 346 EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897 ff. (Safir). 347 Umfassende Untersuchung der EuGH-Rechtsprechung zu steuerrechtlichen Sachverhalten bei Bieg, Der Ge­ richtshof der Europäischen Gemeinschaften und sein Einfluß auf das deutsche Steuerrecht: dogmatische Grundlagen, verallgemeinerungsfähige Prinzipien und Auswirkungen der Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, Dissertation, Bayreuth, 1997; Weiser, Rechtsprechung und Rechtssetzung auf dem Gebiet der direkten Besteuerung in der Europäischen Union: Freistellung oder Anrechnung, Dissertation, Bremen, 1998.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

I.

"Avoir fiscal"

1.

Sachverhalt

Nach dem französischem Steuerrecht wurde zum Zeitpunkt der Klageerhebung Ende 1983 eine Steuer von 50 % auf sämtliche von steuerpflichtigen Gesellschaf­ ten und anderen juristischen Personen erzielten Gewinne erhoben (Körper­ schaftsteuer). Die Gesellschaften waren grundsätzlich unabhängig vom Ort ihres Sitzes oder dem Mittelpunkt ihrer Betätigung körperschaftsteuerpflichtig. Gemäß Art. 209 des Code general des impöts (CGI) wurden jedoch in diesem Rahmen nur Gewinne berücksichtigt, die von in Frankreich tätigen Unternehmen oder solchen Unternehmen erzielt wurden, deren Besteuerung durch ein Doppelbe­ steuerungsabkommen (DBA) Frankreich zugewiesen war.

Zur Vermeidung der Doppelbelastung348 der von den Gesellschaften ausgeschütte­ ten Einkünfte, die ein erstes Mal bei den Gesellschaften, die die Dividenden aus­ schütten, mit der Körperschaftsteuer belegt werden, und sodann ein zweites Mal bei den Empfängern durch Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer erfaßt werden, sah Art. 158 a des CGI eine als ’’avoir fiscal” (Steuerguthaben) bezeichnete Steuergutschrift zugunsten der Empfänger von Dividenden vor. Die Steuergut­ schrift entsprach der Hälfte der von der auschüttenden Gesellschaft tatsächlich gezahlten Beträge und wurde auf die zu zahlende Einkommen- bzw. Körper­ schaftsteuer des Empfängers angerechnet.

Allerdings wurde gemäß Art. 158 b des CGI das Steuerguthaben ’’nur Personen, die ihren tatsächlichen Wohnsitz oder ihren Sitz in Frankreich haben", gewährt. Der Erhalt der Steuergutschrift war für Personen ohne Ansässigkeit in Frankreich nach Art. 242c CGI nur im Falle entsprechender Regelungen in einem Dop­ pelbesteuerungsabkommen möglich. Aus den französischen Vorschriften ergab sich, daß zwar Gesellschaften und juristische Personen mit Sitz in Frankreich einschließlich der in Frankreich errichteten Tochterunternehmen ausländischer Gesellschaften in den Genuß der Regelung des Steuerguthabens gelangten, daß dieser Vorteil jedoch den in Frankreich gelegenen Agenturen und Zweignieder­ 348 Zur Abgrenzung Doppelbelastung/Doppelbesteuerung Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 441 Fn. 7 m.w.N.; Kluge, Das deutsche Internationale Steuerrecht, S. 9 ff.; Lehner, Die Beseitigung der Doppelbe­ steuerung innerhalb der Gemeinschaft, § 31 Rdnr. 2 ff; Riecker, Körperschaftsbesteuerung in der Europäi­ schen Union und das US-amerikanische Modell der Unitary Taxation, 1997, S. 35 f.; Schaumburg, Internatio­ nales Steuerrecht, § 12 Rdnr. 4, S. 587.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

105

lassungen von Gesellschaften mit Sitz im Ausland verweigert wurde. Nach einer Verwaltungsanordnung vom 30.07.1976 wurde das Steuerguthaben nicht für Di­ videnden gewährt, die von französischen Gesellschaften an ausländische Gesell­ schaften mit einer Niederlassung in Frankreich ausgeschüttet wurden, selbst wenn diese Dividenden sonst zu den in Frankreich besteuerten Einkünften dieser Niederlassung gehörten.

Die Kommission beantragte vor dem EuGH, im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 Abs. 2 EWGV349 festzustellen, daß die Französische Republik da­ durch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag, insbesondere gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 52 EWGV350, verstoßen hat, daß sie den in Frankreich gelegenen Zweigniederlassungen und Agenturen von in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Versicherungsgesellschaften nicht unter den glei­ chen Bedingungen wie französischen Gesellschaften ein Steuerguthaben gewährt hat. Die Kommission trug vor, die streitige französische Regelung verstoße aus zwei Gründen gegen Art. 52 EWGV351: sie diskriminiere EU-ausländische Ge­ sellschaften durch Versagung der Steuergutschrift352, und sie stelle eine indirekte Beschränkung für Nebenniederlassungen dar, da sie mit ihrer Voraussetzung zur Erlangung der Steuergutschrift faktischen Druck zur Gründung von Tochterge­ sellschaften ausübe353.

2.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH stellte, dem Antrag der Kommission entsprechend, fest, daß die Vor­ schrift des französischen Steuerrechts dadurch gegen Art. 52 EWGV354 verstieß, daß sie den in Frankreich gelegenen Zweigniederlassungen und Agenturen von Versicherungsgesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat nicht unter den gleichen Bedingungen wie Versicherungsgesellschaften mit Sitz in Frank­ reich ein Steuerguthaben für die von diesen Zweigniederlassungen und Agenturen bezogenen Dividenden französischer Gesellschaften gewährte355. Alle von der französischen Regierung für die Rechtmäßigkeit der Regelung vorgebrachten 349 Jetzt Art 226 Abs. 2 EGV. 350 Jetzt Art. 43 EGV. 351 Jetzt Art. 43 EGV. 352 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 288 ff. 353 Vgl. EuGH, Urt v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273,293 f. 354 Jetzt Art 43 EGV. 355 EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 307 Rz. 27 f.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Argumente lehnte der EuGH ab356. Insbesondere verwarf er das Argument der französischen Regierung, daß sich die Gebietsfremden und Gebietsansässigen in einer objektiv unterschiedlichen steuerlichen Situation befänden und somit die an diese Differenzierung anknüpfende Steuergutschrift keine Diskriminierung dar­ stellen könne357. Dazu führte der EuGH aus:

’’Auch wenn nicht völlig auszuschließen ist, daß eine Unterscheidung je nach dem Sitz einer Gesellschaft ... unter bestimmten Voraussetzungen auf einem Gebiet wie dem des Steuerrechts gerechtfertigt sein kann, so ist im vorliegen­ den Fall doch darauf hinzuweisen, daß die französischen Steuerbestimmungen in bezug auf die Festlegung der Besteuerungsgrundlage für die Festsetzung der Körperschaftsteuer keine Unterscheidung zwischen Gesellschaften mit Sitz in Frankreich und in Frankreich gelegenen Zweigniederlassungen und Agenturen von Gesellschaften mit Sitz im Ausland vornehmen.”358

”Da die streitige Regelung die Gesellschaften mit Sitz in Frankreich und die in Frankreich gelegenen Zweigniederlassungen und Agenturen von Gesellschaf­ ten mit Sitz im Ausland bei der Besteuerung ihrer Gewinne auf die gleiche Stufe stellt, kann sie sie nicht ohne Schaffung einer Diskriminierung im Rah­ men dieser Besteuerung hinsichtlich der Gewährung einer damit zusammen­ hängenden Vergünstigung, wie des Steuerguthabens, ungleich behandeln. Der französische Gesetzgeber hat nämlich dadurch, daß er die beiden Niederlas­ sungsformen im Rahmen der Besteuerung der von ihnen erzielten Gewinne gleichbehandelt, anerkannt, daß zwischen beiden Formen in bezug auf die Modalitäten und Voraussetzungen dieser Besteuerung kein Unterschied in der objektiven Situation besteht, der eine unterschiedliche Behandlung rechtferti­ gen könnte.”359

3.

Der Fall ’’avoir fiscal” bei Anwendung der Artt. 56 ff. EGV

Der EuGH untersuchte den ’’avoir fiscal”-Sachverhalt, wie von der Kommission beantragt, allein unter dem Aspekt eines Verstoßes gegen die Niederlassungsfrei­ heit. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung im Jahre 1983 war die Liberalisierung des 356 357 358 359

EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 305 ff. Rz. 21 ff. Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 291 f. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273,304Rz. 19. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273,305 Rz. 20.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

107

Kapitalverkehrs noch nicht weit vorangeschritten; die dritte Kapitalverkehrs­ richtlinie mit ihrer umfassenden Liberalisierungswirkung sollte erst fünf Jahre später erlassen werden360. Daher stellt es eine interessante Aufgabe dar, den Sachverhalt unter Heranziehung der später in Kraft getretenen, primärrechtlichen Vorschriften zur Kapitalverkehrsfreiheit, den Artt. 56 ff. EGV, zu untersuchen. Es wurde bereits in der Literatur in Frage gestellt, ob die ’’avoir fiscal”-Entscheidung des EuGH noch immer Gültigkeit besitzt361. Die Nachbetrachtung zu der Entscheidung kann zum besseren Verständnis der ’’Schranke” der Kapitalver­ kehrsfreiheit in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV beitragen.

a)

Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV

Gemäß Art. 56 Abs. 1 EGV sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwi­ schen den Mitgliedstaaten verboten. Für den ’’avoir fiscal”-Sachverhalt ergibt sich daher die Frage, ob die französische Steuerregelung, die den in Frankreich gelege­ nen Agenturen und Zweigniederlassungen von Gesellschaften mit Sitz im Aus­ land das anrechenbare Steuerguthaben verweigert, eine Kapitalverkehrsbe­ schränkung darstellt.

Zunächst erfordert dies das Vorliegen einer Kapitalverkehrstransaktion i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV, die, nach obiger Definition, eine aus wirtschaftlicher Sicht vorrangig auf Kapitalnutzung, nicht auf direkte Gegenwertrealisierung gerichtete Übertragung von Sach- oder Geldkapital voraussetzt362. Der Erwerb von Aktien französischer Kapitalgesellschaften durch Zweigniederlassungen und Agenturen im Ausland ansässiger Versicherungsgesellschaften363 stellt eine auf Ertragserzielung ausgerichtete Kapitalanlage dar, der aus wirtschaftlicher Sicht keine direkte Gegenwertrealisierung im Sinne eines Vorteils/Gewinns gegen­ übersteht. Eine Kapitalverkehrstransaktion ist daher gegeben.

Probleme bereitet jedoch die Feststellung des grenzüberschreitenden Charakters der Kapitalanlage, da die Aktien von den im Ausland tätigen Zweigniederlassun­ gen und Agenturen gehalten werden. Grenzüberschreitender Kapitalverkehr ist 360 361 362 363

Vgl. Nachweis in Fn.321. Vgl. Berlin, EC Tax Review 1993, S. 80, 94; De Bont, EC Tax Review 1995, S. 136, 138. Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) aa). Die Klage der Kommission beschränkte sich auf den Bereich der Versicherungsgesellschaften und damit eine Branche, in der die Ausübung der Tätigkeit im Ausland üblicherweise durch Zweigniederlassungen erfolgt, vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273,296 in Ziffer 1.

108

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nur dann gegeben, wenn die Kapitalanlage der im Ausland ansässigen Versiche­ rungsgesellschaft, die sich in Frankreich durch Zweigniederlassungen und Agenturen betätigt, zugerechnet werden muß. Bei Betrachtung der die Aus­ landsbetätigung der Versicherungsgesellschaft bestimmenden Vorschriften er­ weist sich die Kapitalanlage in Aktien französischer Kapitalgesellschaften tat­ sächlich als Investition der im Ausland ansässigen Gesellschaft. Zwei EG-Richt­ linien zur Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherungen364 und die zu ihrer Durchführung erlassenen französischen Rechtsvorschriften sehen für Versicherungsgesellschaften die Pflicht zur Bildung technischer Reserven vor, die durch Aktivwerte gedeckt werden müssen, ’’die gleichwertig, kongruent und im Tätigkeitsland belegen sind” bzw. ’’deren Wert in der gleichen Währung ver­ anschlagt ist oder die in dieser Währung realisierbar sind”365. Diese ’’Kongruenz­ regel” verpflichtet im Ausland ansässige Versicherungen, die sich durch Zweig­ niederlassungen und Agenturen auf dem französischen Markt betätigen, zur Deckung der technischen Reserven französische Aktien oder Schuldverschrei­ bungen zu erwerben. Die Kapitalanlage in Aktien französischer Kapitalgesell­ schaften erfolgt daher durch die im Ausland ansässige Versicherungsgesellschaft in Erfüllung der genannten Pflicht. Die ausländische366 Gesellschaft tätigt ihre Kapitalanlage im Interesse ihrer Betätigung auf dem französischen Markt für ihre französische Zweigniederlassung, welche die Aktienbestände zur Deckung ihrer technischen Reserven hält. Damit handelt es sich um eine grenzüberschreitende Kapitalanlage, auf die die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 56 Abs. 1 EGV anwendbar ist.

Als zweite Voraussetzung bedarf es einer Beschränkung des Kapitalverkehrs. Nach dem französischen Steuerrecht wird den Zweigniederlassungen von Gesell­ schaften mit Sitz im Ausland das anrechenbare Steuerguthaben verwehrt, wo­ durch sie auf die empfangenen Dividenden eine gegenüber inländischen Dividendenempfängem doppelt so hohe Steuer zahlen367. Dies macht die Kapitalan­ lage in französischen Aktien für die im Ausland ansässige Versicherungsgesell­ schaft, die, wie erörtert, zu dieser Kapitalanlage verpflichtet ist, steuerlich erheb­ lich unattraktiver als für eine französische Versicherungsgesellschaft. Es stellt 364 Erste Richtlinie 73/239 des Rates vom 24.07.1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschrif­ ten betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung, ABI. EG 1973, L 228, S. 3; erste Richtlinie 79/267 des Rates vom 05.03.1979 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Direktversicherung (Lebensversicherung), ABI. EG 1979, L 63, S. 1. 365 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 289 f. 366 "Ausländisch” bedeutet hier und im folgenden ”im Ausland ansässig"; "inländisch” entsprechend "im Inland ansässig". 367 Vgl. Rechenbeispiel in: EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273,289.

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sich als nächstes für das Vorliegen einer Diskriminierung der grenzüberschrei­ tenden Kapitalanlage der ausländischen Gesellschaft die Frage, ob die inländische und die ausländische Gesellschaft sich in einer vergleichbaren steuerlichen Situation befinden.

Die französische Regierung trug in diesem Zusammenhang vor, daß die unter­ schiedliche Behandlung der in- und ausländischen Gesellschaften auf objektiven Gegebenheiten, nämlich der Unvergleichbarkeit der steuerlichen Situation von ’’Gebietsansässigen’' und ’'Gebietsfremden”, beruhe368. Der EuGH lehnte dies jedoch in seiner Entscheidung ab und konstatierte, daß kein Unterschied in der objektiven steuerlichen Situation bestehe, da die französischen Steuerbestim­ mungen in bezug auf die Festlegung der Besteuerungsgrundlage für die Festset­ zung der Körperschaftsteuer keine Unterscheidung zwischen Gesellschaften mit Sitz in Frankreich und in Frankreich gelegenen Zweigniederlassungen und Agenturen von Gesellschaften mit Sitz im Ausland vornehmen369. Des weiteren werden die Gesellschaften mit Sitz in Frankreich und die in Frankreich gelegenen Zweigniederlassungen und Agenturen von Gesellschaften mit Sitz im Ausland bei der Besteuerung ihrer Gewinne "auf die gleiche Stufe" gestellt, so daß auch hinsichtlich des mit der Gewinnbesteuerung zusammenhängenden Steuer­ guthabens eine Gleichbehandlung geboten sei370.

Fraglich ist, ob die vom EuGH festgestellte Vergleichbarkeit der steuerlichen Si­ tuation der inländischen Gesellschaft mit dem ausländischen Betriebstättenträger371 vor seinen späteren Ausführungen in den Entscheidungen "Schumacker" und "Wielockx" Bestand haben kann. Dort ging der EuGH davon aus, daß die Versagung bestimmter Steuervergünstigungen an Gebietsfremde in der Regel nicht diskriminierend sei, da sich gebietsfremde und gebietsansässige Steuer­ pflichtige nicht in einer vergleichbaren Lage befänden372. Es müßte daher die in der "avoir fiscal"-Entscheidung für inländische Gesellschaften und ausländische Betriebstättenträger festgestellte Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation eine Ausnahme von der später konstatierten Regel sein.

Vgl. EuGH, Urt v.28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273,278 Rz. 5. Vgl. EuGH, Urt. v.28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273,304 f. Rz. 19 f. Vgl. EuGH, Urt. v.28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273,305 Rz. 20. Prägnanter Begriff fiir die ausländische Gesellschaft, die sich in Frankreich mittels Zweigniederlassungen und Agenturen betätigt; vgl. Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht S. 127 f. 372 EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 260 Rz. 34 (Schumacker); EuGH, Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2515 Rz. 18 (Wielockx). 368 369 370 371

110

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

In den Entscheidungen ’’Schumacker” und ’’Wielockx” kam der EuGH bezüglich natürlicher Personen als Steuerpflichtige zum Ergebnis, daß die steuerliche Situa­ tion der Gebietsansässigen und Gebietsfremden in der Regel nicht vergleichbar sei. Es ging in beiden Fällen um den Vorgang der Einkommensermittlung, bei dem der EuGH das Erfordernis einer grundsätzlichen Gleichstellung von Ge­ bietsansässigen und Gebietsfremden bezüglich der Abziehbarkeit unvermeidbarer Privatausgaben aufgrund ihrer Berücksichtigung im Wohnsitzstaat ablehnte. Insoweit wurde die Regel, daß die steuerliche Situation der Gebietsansässigen und -fremden nicht vergleichbar sei, einerseits für natürliche Personen, andererseits im Rahmen der alle Einkünfte einbeziehenden Einkommensermittlung ausge­ sprochen.

In der ’’avoir fiscal”-Entscheidung stellte der EuGH dagegen die Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation bezüglich juristischer Personen fest. Vor allem ging es aber nur um die steuerliche Situation bezüglich einer Einkunftsart, der Einkünfte aus Gewerbebetrieb (vgl. Art. 205 CGI), die hier durch eine Kapitalanlage erzielt wurden und nur aufgrund der Rechtsform des Anlegers zu Gewerbeeinkünften umqualifiziert werden. Es wurde daher ein Teilausschnitt des Einkommens betrachtet und für ihn die Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation von Gebietsfremden und Gebietsansässigen konstatiert. Diese beiden Aspekte - der anderen Bezugsgruppe (juristische Personen) und der Untersuchung der steu­ erlichen Situation bezüglich nur einer Einkunftsart - lassen die Feststellung des EuGH über die Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation als Ausnahme zu der später in den Entscheidungen ’’Schumacker” und ’’Wielockx” für personenbezo­ gene Steuemormen formulierten Regel Bestand haben. Es wurde oben in Anleh­ nung an die Aussage des EuGH in der ’’avoir fiscal”-Entscheidung allgemein festgestellt, daß sich gebietsansässige und gebietsfremde Kapitalanleger im Hinblick auf die Einkunftsquelle Kapital in einer vergleichbaren steuerlichen Situation befinden373. Folglich liegt angesichts der vergleichbaren steuerlichen Situation der ausländi­ schen und inländischen Gesellschaft hinsichtlich der Kapitalanlage aufgrund der nachteiligen Behandlung der grenzüberschreitenden Kapitalanlage eine Diskrimi­ nierung vor. Aufgrund des Verständnisses der Diskriminierung als Unterform der ’’Beschränkung”374 ist daher eine Beschränkung des Kapitalverkehrs gegeben. Die lediglich indirekte Wirkung von Steuervorschriften auf den Kapitalverkehr führt 373 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. c) bb). 374 Vgl. Kapitel 2 A.I. La) bb).

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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dabei, wie oben dargestellt, nicht zur Ablehnung einer Beschränkung, da auch indirekte/mittelbare Hemmnisse von der Kapitalverkehrsfreiheit erfaßt werden375.

Die hiermit festgestellte Betroffenheit der Kapitalverkehrsfreiheit besteht neben derjenigen der vom EuGH in seiner "avoir fiscar’-Entscheidung erörterten Nieder­ lassungsfreiheit. Die beiden Grundfreiheiten schützen zwei unterschiedliche Aspekte einer Gesamttransaktion (Versicherungsgeschäft einer ausländischen Versicherung in Frankreich): einerseits die Wahlfreiheit zwischen der wirt­ schaftlichen Betätigung mittels Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft (Niederlassungsfreiheit), andererseits die grenzüberschreitende Kapitalanlage zur Erfüllung der Deckungspflicht für die technischen Reserven (Kapitalverkehrsfrei­ heit). Folglich sind beide Grundfreiheiten kumulativ anwendbar376.

b)

Rechtfertigung durch die "Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV

Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit ist gerechtfertigt, wenn die französi­ sche Steuemorm von Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt ist. Nach der "Schranke" sind die kapitalverkehrsbeschränkenden Steuervorschriften zulässig, die Steuer­ pflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln.

aa) Formelle Einhaltung der "Schranke"

Die umstrittene französische Steuemorm des Art. 158 b CGI macht die Gewäh­ rung des anrechenbaren Steuerguthabens davon abhängig, daß der Dividenden­ empfänger seinen "tatsächlichen Wohnsitz oder Sitz in Frankreich hat". Emp­ fängerin der von den französischen Kapitalgesellschaften ausgeschütteten Divi­ denden ist die ausländische Versicherungsgesellschaft, der die Dividenden auf­ grund der von ihrer Zweigniederlassung gehaltenen Aktien zufließen. Sie ist mit ihren in der Betriebstätte erzielten Einkünften in Frankreich beschränkt körper­ schaftsteuerpflichtig377. Daher ist es die im Ausland ansässige, in Frankreich be­ schränkt steuerpflichtige Versicherung, die in Frankreich aufgrund ihres gegen­ 375 Vgl. Kapitel 2 A.I. l.a)bb). 376 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc). 377 Vgl. Art. 209 CGI: ”... les bdndfices passibles de l'impöt sur les sociltäs sont däterminäs ... en tenant compte uniquement des blnlfices realists dans les entreprlses exploit&s en France ...”; im deutschen Steuerrecht ergäbe sich dies aus §§ 2 Nr. 1,8 Abs. 1 KStG i.V.m. § 49 Abs. 1 Nr. 2 lit. a EStG.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

über inländischen Gesellschaften anderen ’’Wohnorts” i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV378 unterschiedlich behandelt wird.

Die ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV wird folglich formell eingehalten. Sie ist jedoch, wie oben erörtert, als materieller Rechtfertigungsgrund zu verste­ hen379, so daß der materielle Hintergrund der Differenzierung nach dem unter­ schiedlichen Wohnort des Steuerpflichtigen und sein rechtfertigender Charakter festgestellt werden muß.

bb) Materieller Rechtfertigungscharakter der "Schranke" Die französische Regierung trug in diesem Zusammenhang vor, daß die Nichtge­ währung des Steuerguthabens an Agenturen und Zweigniederlassungen nicht ge­ bietsansässiger Versicherungsgesellschaften in den vom französischen Steuer­ recht und den DBA gebildeten systematischen Zusammenhang gehöre380. Dieses Argument, in dem die Kohärenz des Steuerrechts als materieller Rechtferti­ gungsgrund anklingt381, läßt sich als materieller Grund für die nach der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zulässige Differenzierung nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen verstehen382.

c)

"Schranken-Schranke" - Art. 58 Abs. 3 EGV

Im dritten Schritt der Untersuchung der Kapitalverkehrsfreiheit ist zu prüfen, ob die Kohärenz des Steuerrechts als materieller Grund für die differenzierende steu­ erliche Behandlung nach dem unterschiedlichen Wohnort die ’’SchrankenSchranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV einhält. Dazu dürfte es sich weder um eine "willkürliche Diskriminierung”, noch um eine ’’verschleierte Beschränkung” des Kapitalverkehrs handeln. Letztlich läuft die "Schranken-Schranke” auf eine Ver­

Zum -Wohnort”-Begriff vgl. Kapitel 2 II. 1. a). Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d). Vgl. EuGH, Urt v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 291. Vgl. Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht, Teil 2 II. § 1 1. c) aa) ccc), S. 122: ”... Überlegung in ’’avoir fiscal” als Vorläufer des Kohärenzkonzepts”; zur Kohärenz des Steuersystems als Rechtfertigungsgrund in den EuGH-Entscheidungen auch Musil, Deutsches treaty overriding und seine Vereinbarkeit mit Europäischem Gemeinschaftsrecht, 3. Kapitel 3. Abschnitt IV. 6. f) aa). 382 Vgl. Kapitel 2. A. I. 2. d).

378 379 380 381

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hältnismäßigkeitsprüfung hinaus383, so daß in ihrem Rahmen die beiden begren­ zenden Kriterien des Art. 58 Abs. 3 EGV erörtert werden können.

Das Argument des steuersystematischen Zusammenhangs der französischen Re­ gelungen (Kohärenz) kann einen materiellen Rechtfertigungsgrund liefern, der über die ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranzuziehen ist. An dieser Stelle soll noch keine allgemeine Auseinandersetzung mit der Kohärenz des Steu­ errechts als im Sinne der Verhältnismäßigkeit zulässiges Regelungsziel erfolgen, da das Kohärenzargument ausführlich zum ersten Mal in der ”Bachmann”-Entscheidung diskutiert wurde und sich daher auch erst bei ihrer Untersuchung eine weitergehende Erörterung anbietet384. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Anwendung des steuersystematischen Arguments auf den ’’avoir fiscal”-Sachverhalt.

aa) Kohärenz desSteuerrechts Die Kohärenz des Steuerrechts stellt einen materiellen Grund dar, der der nach der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zulässigen differenzierenden Behand­ lung nach dem unterschiedlichen Wohnort der Steuerpflichtigen zugrundeliegen kann385. Für den ’’avoir fiscal”-Sachverhalt läßt sich das Argument der Kohärenz folgendermaßen formulieren386: Der französische Staat erteilt die Steuergutschrift für den Dividendenempfänger nur unter der Voraussetzung, daß ihm sowohl hin­ sichtlich der ausschüttenden Person als auch der dividendenempfangenden Person das gleiche umfassende Besteuerungsrecht der unbeschränkten Steuerpflicht zu­ kommt. Dahinter steht ein Ausgleichskonzept, das den Anrechnungsvorteil für den Dividendenempfänger nur bei einem umfassenden Besteuerungsrecht des Staates sowohl für die ausschüttende als auch die empfangende Person gewährt. Dieser im Interesse der Kohärenz bestehende Gleichlauf des umfassenden Be­ steuerungsrechts bezüglich der Dividendenzahler und -empfänger wäre gestört, wenn das Steuerguthaben auch einer nicht in Frankreich ansässigen und somit nur beschränkt steuerpflichtigen Person als Dividendenempfängerin erteilt werden müßte, bezüglich derer dem französischen Fiskus nur ein eingeschränktes Besteuerungsrecht zukommt. 383 384 385 386

Vgl. Kapitel 2 A. II. 3. c). Vgl. unten Kapitel 2 B. II. 4. c) aa) (I). Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d). Die französische Regierung hat, soweit aus den Schlußanträgen des Generalanwalts und der Entscheidung erkennbar, den von ihr vorgebrachten "steuersystematischen Zusammenhang” leider nicht präzisiert

114

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Bei einer nur auf Frankreich bezogenen ’’Binnen-Betrachtung” kann die These von einer Störung des kohärenten Systems eventuell überzeugen387. Bezieht man dagegen die von Frankreich abgeschlossenen DBA mit ein und wendet sich in­ soweit einer Untersuchung der ’’Makro-Kohärenz" der Steuerregelungen zu, die die vorher beschriebene ’’Mikro-Kohärenz" als zu enge Betrachtung hinter sich läßt388, so kann das Kohärenzargument, wie nachfolgend dargestellt wird, nicht mehr überzeugen. Für die Prüfung der "Makro-Kohärenz" werden im folgenden die Normen des DBA zwischen Frankreich und Deutschland beispielhaft herange­ zogen389, wobei die Allgemeingültigkeit der gewonnenen Ergebnisse durch die zusätzliche Nennung der entsprechenden Vorschriften im OECD-Musterab­ kommen390 (OECD-MA) dokumentiert wird.

Bei Betrachtung des "avoir fiscal"-Sachverhaltes unter Heranziehung der DBANormen wird erkennbar, daß das kohärente System des französischen Steuerrechts bei der Körperschaftsteueranrechnung nicht in der notwendigen Parallelität der unbeschränkten Steuerpflicht für Dividendenzahler und -empfänger begründet liegt. Für den von Frankreich im Interesse des Quellenstaatsprinzips391 und somit im eigenen Fiskalinteresse angestrebten Ausgleich zwischen der Mindereinnahme durch Gewährung der Steuergutschrift und der Einnahmen durch Besteuerung der zugrundeliegenden Dividendeneinkünfte im Rahmen der Körperschaftsteuer des Dividendenzahlers und -empfängers kommt es allein auf das Besteuerungsrecht Frankreichs hinsichtlich dieser Einkünfte bei beiden Beteiligten, dem Dividenden­ zahler und -empfänger, an. Das umfassende Besteuerungsrecht der unbeschränkten Steuerpflicht ist dagegen nicht Voraussetzung. Schon das grundsätzliche Besteuerungsrecht Frankreichs bezüglich der von der Gesellschaft ausgeschütteten Gewinne und der Dividendeneinkünfte beim Gesellschafter ermöglicht die Verwirklichung des folgenden fiskalischen Ausgleichskonzepts: 387 Mittlerweile ablehnend zu einem Kohärenzargument, das sich wie hier auf die Besteuerung zweier verschie­ dener Steuerpflichtiger (ausschüttende und empfangende Gesellschaft) stützt: EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 724 Rz. 58 (Verkooijen). 388 Prägnante Begriffsbildung der ’’Mikro-'’ und ’’Makrokohärenz” bei Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 770. 389 Vgl. DBA-Frankreich vom 21.07.1959 (BGBl. 1961 II S. 398) in der Fassung des Revisionsprotokolls vom 09.06.1969 (BGBl. 1970II S. 719) und des Zusatzabkommens vom 28.09.1989 (BGBl. 1990 II S. 770). 390 Stand: November 1997. 391 Nach dem Quellenstaatsprinzip gebührt dem Staat, in dem die Untemehmenstätigkeit stattfindet, in dem also die Einkunftsquelle belegen ist, der nach seinem Steuerrecht anfallende Prozentsatz des Untemehmensgewinns; vgl. allgemein zum Quellenstaatsprinzip: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 5 Rdnr. 65 ff., S. 134 f; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 2 Rdnr. 36 f., S. 32 f.; Wilke, Lehrbuch des Internationalen Steuerrechts, S. 24; speziell zum Vorrecht des Quellenstaats bei Dividenden: Hey, Harmonisierung der Untemeh­ mensbesteuerung, S. 163 f.

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das Besteuerungsrecht bezüglich der den Dividenden zugrundeliegenden Gewinne bei der auschüttenden Kapitalgesellschaft und bezüglich der Dividendeneinkünfte beim Dividendenempfänger kompensiert die fiskalische Mindereinnahme durch die Steuergutschrift. Dieses im Kompensationszusammenhang stehende doppelte Besteuerungsrecht Frankreichs erfordert keine unbeschränkte Steuerpflicht des Dividendenempfängers, sondern läßt bereits die beschränkte Steuerpflicht genü­ gen, wenn es sich bei den Dividenden um inländische Einkünfte handelt, für die Frankreich nach dem DBA das Besteuerungsrecht verbleibt.

Nach dem französischen Steuerrecht unterliegt die ausländische Versicherungsge­ sellschaft, die die Dividendeneinkünfte über ihre in Frankreich belegene Zweigniederlassung vereinnahmt, der französischen Körperschaftsteuer392. Sie ist in Frankreich mit ihren in der Zweigniederlassung erzielten Einkünften be­ schränkt steuerpflichtig.

Das Besteuerungsrecht hinsichtlich der Dividenden verbleibt auch nach dem hier beispielhaft herangezogenen DBA-Frankreich dem französischen Fiskus. Nach der Grundnorm zu den Dividenden (Art. 9 Abs. 1 DBA-Frankreich393) können zwar die Dividenden, die eine in Frankreich ansässige Gesellschaft an eine im an­ deren Vertragstaat (hier also Deutschland) ansässige Person zahlt, auch in dem anderen Vertragstaat (Deutschland) besteuert werden. Dies gilt jedoch gemäß Art. 9 Abs. 8 DBA-Frankreich394 nicht, wenn der Bezugsberechtigte der Dividenden im Nicht-Ansässigkeitsstaat (Frankreich) eine Betriebstätte hat und die Anteile zum Vermögen dieser Betriebstätte gehören. In diesem Fall ist Art. 4 Abs. 1 DBA-Frankreich395 anzuwenden, wonach bei einem im Nicht-Ansässigkeitsstaat (Frankreich) durch eine dort belegene Betriebstätte tätigen Unternehmen die die­ ser Betriebstätte zurechenbaren Gewinne nur396 im Nicht-Ansässigkeitsstaat besteuert werden dürfen.

Für die Anwendung dieser Regelungen ergibt sich die Frage, ob in Frankreich Be­ triebstätten des im Ausland ansässigen Unternehmens gegeben sind. Die im ’’avoir fiscal”-Sachverhalt untersuchten ausländischen Versicherungsgesellschaften betä­ tigten sich auf dem französischen Markt durch Zweigniederlassungen und 392 393 394 395 396

Vgl. Fn. 376. Entspricht Art 10 Abs. 1 OECD-MA. Entspricht Art 10 Abs. 4 OECD-MA. Entspricht Art. 7 Abs. 1 OECD-MA. Vgl. Art. 4 Abs. 1 Satz 3 DBA-Frankreich.

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Agenturen. Die Zweigniederlassungen sind ausdrücklich von der Betriebstättendefinition des Art. 2 Abs. 1 Nr. 7 a) (bb) DBA-Frankreich397 umfaßt. Art. 4 Abs. 1 DBA-Frankreich398 findet daher über Art. 9 Abs. 8 DBA-Frankreich399 Anwen­ dung und weist dem französischen Fiskus hinsichtlich der Dividendeneinkünfte das ausschließliche Besteuerungsrecht zu.

Die ’’Makro-Kohärenz” des französischen Steuerrechts sieht folglich so aus, daß sich das oben beschriebene Ausgleichskonzept aufgrund des Besteuerungsrechts Frankreichs sowohl hinsichtlich der Dividendenzahler als auch der Dividenden­ empfänger verwirklichen läßt. Die Notwendigkeit einer parallelen unbeschränkten Steuerpflicht der beiden Beteiligten besteht dagegen nicht.

Im Ergebnis läßt sich daher im ’’avoir fiscal”-Fall die Kohärenz des Steuerrechts nicht über die ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als materieller Rechtferti­ gungsgrund für die Ungleichbehandlung aufgrund des unterschiedlichen Wohn­ orts heranziehen400. Die Kohärenz kann das in den französischen Steuemormen für die Gewährung des Steuerguthabens vorgesehene Erfordernis eines inländi­ schen Wohnsitzes bzw. Sitzes nicht begründen.

bb) Gefahr der Steuerflucht

Nach Ablehnung des Kohärenzarguments kann als weiterer materieller Rechtferti­ gungsgrund, der die differenzierende steuerliche Behandlung nach dem unter­ schiedlichen Wohnort des Steuerpflichtigen nach Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV be­ gründet, der Aspekt der Gefahr der Steuerflucht in Betracht kommen. Die Ver­ wehrung des Steuerguthabens an Personen ohne Wohnsitz oder Sitz in Frankreich und ihre damit eintretende unterschiedliche Behandlung gegenüber in Frankreich Ansässigen könnte dadurch gerechtfertigt sein, daß sie eine sonst für den französischen Fiskus eintretende Steuerflucht verhindert.

397 398 399 400

Entspricht Art. 5 Abs. 2 lit b OECD-MA. Entspricht Art 7 Abs. 1 OECD-MA. Entspricht Art. 10 Abs. 4 OECD-MA. Nach dem neuen EuGH-Urteil v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 724 Rz. 58 (Verkooijen) würde das Kohärenzargument bereits an der fehlenden Personenidentität der beiden Steuerpflichtigen (ausschüttende und empfangende Gesellschaft) scheitern.

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Das Argument der Steuerflucht wurde von der französischen Regierung im Rah­ men des ’’avoir fiscal’’-Verfahrens vorgetragen401. Im Falle der Gewährung des Steuerguthabens für in Frankreich belegene Betriebstätten ausländischer Gesell­ schaften würde ein Anreiz für diese Unternehmen geschaffen, Aktien französi­ scher Gesellschaften, die sie hielten, nur auf der Aktivseite ihrer Betriebstätte in Frankreich zu verbuchen, um auf diese Weise steuerlich günstiger behandelt zu werden402. Für den französischen Staat bestünde daher die Gefahr der Steuer­ flucht.

Das Argument der Steuerflucht wurde im Rahmen des Verfahrens von der Kom­ mission403 und dem Generalanwalt404 überzeugend abgelehnt, die nachwiesen, daß die Steuereinnahmen Frankreichs tatsächlich höher seien, wenn die französischen Aktien gezielt bei der Betriebstätte verbucht würden. So wurde die Gefahr der Steuerflucht schließlich auch vom EuGH, allerdings im Hinblick auf Art. 43 EGV, als unbegründet abgewiesen405. Er stellte fest, daß die von der französischen Regierung aufgestellten Berechnungen im untersuchten Sachverhalt nicht ein­ schlägig waren, da ihnen die falsche Prämisse zugrundelag, daß ein Steuergutha­ ben auch für die Überweisung der von den Zweigniederlassungen oder Agenturen erwirtschafteten Gewinne an die Hauptniederlassung der Gesellschaft gefordert würde.

Schließlich läßt sich das Argument der Steuerflucht mit Hilfe der oben erörterten ’’Makro-Kohärenz” der französischen Steuerregelungen entkräften. Dem vom französischen Fiskus zu gewährenden Steuerguthaben für die Betriebstättenträger steht kompensatorisch immer das ausschließliche Besteuerungsrecht hinsichtlich der Einkünfte der Betriebstätten gegenüber406. Die Gefahr der Steuerflucht wäre dagegen dann gegeben, wenn Frankreich den im Ausland ansässigen Ge­ sellschaften direkt, ohne daß sie eine inländische Betriebstätte besäßen, das Steu­ erguthaben gewähren müßte. In diesem Fall käme Frankreich aufgrund des DBA keine volle Kompensation durch ein ausschließliches Besteuerungsrecht hin­ sichtlich der Dividenden zu, da nach Art. 9 Abs. 1 DBA-Frankreich407 beiden Ver­

401 Vgl. EuGH, Urt v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, 402 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, 403 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, 404 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, 405 Vgl. EuGH, Urt v. 28.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, 406 Vgl. Art. 4 Abs. 1 Satz 3 DBA-Frankreich. 407 Entspricht Art 10 OECD-MA.

S. S. S. S. S.

273,280,295. 273,294. 273,295. 273, 280. 273,306 Rz. 25.

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tragstaaten ein Besteuerungsrecht zusteht. Eine derartige Gewährung des Steu­ erguthabens wurde jedoch von der Kommission nicht gefordert.

Es scheidet daher im Ergebnis auch die Gefahr der Steuerflucht als über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziehbarer materieller Rechtfertigungsgrund aus.

4.

Ergebnis

Die Betrachtung des ’’avoir fiscal”-Falls bei Anwendung der Vorschriften der Ka­ pitalverkehrsfreiheit hat die zentrale Bedeutung der eingriffsrechtfertigenden ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV für kapitalverkehrsbeschränkende Steu­ emormen gezeigt. Die Vorschrift eröffnet über die zulässige differenzierende Be­ handlung nach dem unterschiedlichen Wohnort der Steuerpflichtigen den Zugang zu verschiedenen materiellen Rechtfertigungsgründen (Kohärenz, Gefahr der Steuerflucht). Diese verschiedenen Rechtfertigungselemente erweisen sich jedoch als im Sachverhalt nicht einschlägig.

Daher ist im Ergebnis festzustellen, daß die steuerlich bedingte Kapitalverkehrs­ beschränkung nicht gerechtfertigt ist und die relevanten französischen Steuervor­ schriften europarechtswidrig waren. Insoweit stimmt das im Hinblick auf die Ka­ pitalverkehrsfreiheit ermittelte Resultat mit der vom EuGH hinsichtlich der Nie­ derlassungsfreiheit konstatierten Europarechtswidrigkeit überein.

II.

’’Bachmann”

1.

Sachverhalt

Die belgische Cour de Cassation legte dem EuGH eine Frage nach der Auslegung der Artt. 48, 59, 67 und 106 EGV a.F. zur Vorabentscheidung vor. Diese Frage stellte sich in einem Rechtsstreit zwischen Herm Bachmann, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und in Belgien beschäftigt war, und dem belgischen Staat. Die belgische Finanzbehörde weigerte sich im Rahmen der Ein­ kommensteuerermittlung, den Abzug von in Deutschland gezahlten Beiträgen zu Versicherungen408, die der Kläger vor seiner Ankunft in Belgien mit in Deutsch­ 408 Kranken- und Invaliditätsversicherung sowie Lebensversicherung.

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land ansässigen Versicherungen geschlossen hatte, vom Gesamtbetrag seiner Er­ werbseinkünfte des Zeitraums 1973 bis 1976 zu gestatten. Diesem Vorgehen lag eine Bestimmung des belgischen Einkommensteuerrechts409 zugrunde, wonach von den Erwerbseinkünften nur die Lebensversicherungsbeiträge, die an ein belgisches Unternehmen oder eine belgische Niederlassung ausländischer Unter­ nehmen gezahlt werden, abgezogen werden können410. Bei der freiwilligen Kran­ ken- und Invaliditätsversicherung ist die Abzugsfähigkeit ebenfalls an die Zah­ lung der Beiträge an einen von Belgien anerkannten Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit gekoppelt411. Im Falle der Lebensversicherungen sieht das belgi­ sche Einkommensteuerrecht allerdings vor, daß die Rückkaufswerte von Le­ bensversicherungsverträgen von der Steuer befreit sind, wenn der in Art. 54 CIR vorgesehene Abzug nicht erfolgt ist412.

Die belgische Cour de cassation legte dem EuGH folgende Frage vor: ’’Sind die Bestimmungen des belgischen Steuerrechts, die im Bereich der Steuern auf das Einkommen die Abzugsfähigkeit von Beiträgen zu Kranken- und Invaliditäts- oder Alters- und Todesfallversicherungen von der Voraussetzung abhängig machen, daß diese Beiträge ”in Belgien” gezahlt werden, mit den Artt. 48, 59 und zwar dessen Absatz 1, 67 und 106 EWGV vereinbar?”

2.

Entscheidung des EuGH

Die Leitsätze des Urteils lauten413:

’’Die Artikel 48 und 59 EWGV stehen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, die die Abzugsfahigkeit von Beiträgen zu Kranken- und Invaliditäts­ oder Alters- und Todesfallversicherungen von der Voraussetzung abhängig machen, daß diese Beiträge in diesem Staat gezahlt werden. Diese Vorausset­ zung kann jedoch durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sein, die Kohärenz der anwendbaren Steuerregelung zu gewährleisten.

409 410 411 412 413

Art 54 des Code des impöts sur les revenus (im folgenden: CIR). Vgl. Art 45 der königlichen Durchführungsverordnung zum CIR. Art. 54 CIR. Art 32 bis CIR. EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 f.

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Diese Notwendigkeit kann z.B. dann bestehen, wenn in einem Steuersystem ei­ nes Mitgliedstaats ein wechselseitiger steuersystematischer Zusammenhang zwischen der Abzugsfähigkeit der Beiträge und der Besteuerung der von den Versicherern in Erfüllung der Verträge zu zahlenden Beträge besteht und wenn ein solcher Ausgleich zwischen der Abzugsfähigkeit in einer Phase und der Be­ steuerung in einer anderen nicht mehr sichergestellt werden kann, weil die auf den steuerfreien Beträgen beruhenden Zahlungen von einem ausländischen Versicherer im Ausland geleistet werden, wo ihre Besteuerung vom Zufall abhängig ist.

Die Artikel 67 und 106 EWGV stehen solchen Rechtsvorschriften nicht entge­ gen.”

Im einzelnen stellte der EuGH Eingriffe in die Arbeitnehmerfreizügigkeit414 und die Dienstleistungsfreiheit415 fest, die er aufgrund der Kohärenz des Steuersystems als zwingendes Erfordernis im Allgemeininteresse unter Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als gerechtfertigt ansah416. Zur hier interessie­ renden Kapitalverkehrsfreiheit konstatierte er das Fehlen eines Verstoßes, da

’’Artikel 67 [EWGV] Beschränkungen nicht untersagt, die nicht den Kapitalver­ kehr betreffen, sondern sich mittelbar aus Beschränkungen anderer Grundfrei­ heiten ergeben ...”

und hielt weiter fest, "daß Bestimmungen, wie sie vor dem nationalen Gericht im Streit stehen, die Zahlung von Versicherungsbeiträgen, die an Versicherer in einem anderen Mit­ gliedstaat zu leisten sind, ebensowenig hindern wie die Leistung dieser Zah­ lung in der Währung des Mitgliedstaats, in dem der Versicherer niedergelassen ist.”417

414 EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,279 Rz. 9. 415 EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,284 Rz. 31. 416 EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 283 Rz. 27 (für Arbeitnehmerfreizügigkeit) und S. 284 f. Rz. 32 f. (für Dienstleistungsfreiheit - zumindest bei Lebensversicherungen). 417 EuGH, Urt V. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,285 Rz. 34.

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3.

121

Kritik

Die ”Bachmann”-Entscheidung des EuGH hat von vielen Seiten Kritik erfahren, die sich überwiegend mit dem Rechtfertigungsgrund für die Eingriffe in die Grundfreiheiten, den der EuGH in der Kohärenz der Steuerregelungen sah, auseinandersetzt418. Eine Untersuchung dieses Kohärenzkriteriums soll hier nicht unabhängig von der Prüfung einer Grundfreiheit erfolgen, sondern integriert in die Prüfung der Kapitalverkehrsfreiheit durchgeführt werden.

Kritisch müssen auch die Ausführungen des EuGH zur Kapitalverkehrsfreiheit erörtert werden. Es stellt sich die Frage, ob der von ihm abgelehnte Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit überzeugen kann und ob der EuGH nicht schon bei Prüfung der Dienstleistungsfreiheit die nach Art. 51 Abs. 2 EGV419 bestehende Bindung an die Liberalisierung des Kapitalverkehrs hätte diskutieren müssen.

a)

Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit

Der EuGH lehnte einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit durch die bel­ gische Steuervorschrift ab, da ’’Art. 67 EGV [a.F.] Beschränkungen nicht unter­ sagt, die nicht den Kapitalverkehr betreffen, sondern sich mittelbar aus Be­ schränkungen anderer Grundfreiheiten ergeben”. Diese Aussage des EuGH muß, wie oben gezeigt wurde, so verstanden werden, daß der EuGH die Kapitalver­ kehrsfreiheit im untersuchten Sachverhalt gegenüber der Arbeitnehmerfreizü­ gigkeit und der Dienstleistungsfreiheit als nur nachrangig betroffen und daher zurücktretend ansah. Er äußerte sich daher nicht auf der Ebene des Eingriffs in den ’’Schutzbereich” und lehnte nicht den indirekten/mittelbaren Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit grundsätzlich ab, sondern entschied sich angesichts des Konkurrenzverhältnisses mehrerer betroffener Grundfreiheiten für die Nachran­ gigkeit der Kapitalverkehrsfreiheit420.

Aufgrund welchen Kriteriums der EuGH die Nachrangigkeit feststellte, wird an­ gesichts der Kürze seiner Formulierung nicht deutlich. Er nahm Beschränkungen an, ’’die nicht den Kapitalverkehr betreffen, sondern sich mittelbar aus Be418 Vgl. Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht, Teil 2 II. § 2 2. c) cc), S. 219 ff. m.w.N. 419 Vgl. Art. 61 Abs. 2 EGV a.F. 420 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) bb) (3), mit gleicher Einordnung Saß, FR 2000, S. 1270, 1271.

122

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Schränkungen anderer Grundfreiheiten ergeben”421. Daraus könnte gefolgert wer­ den, daß sein Kriterium der lediglich ’’mittelbare" Eingriff in die Kapitalver­ kehrsfreiheit gegenüber "unmittelbaren” Eingriffen in die Arbeitnehmerfreizü­ gigkeit und die Dicnstleistungsfreiheit war422. Diese Schlußfolgerung ist jedoch abzulehnen, da der Eingriff in die anderen beiden Grundfreiheiten auch nur ein ’’mittelbarer” war. Die belgischen Steuervorschriften machten die grenzüber­ schreitende Arbeitsaufnahme423 und das grenzüberschreitende Dienstleistungs­ angebot424 lediglich aus ertragsorientierter Sicht unattraktiver, sie bedeuteten aber keine Verhinderung oder direkte Erschwerung der Tätigkeit.

aa) Nachrangigkeit der Kapitalverkehrsfreiheit aufgrund der größeren Sachnähe der Dienstleistungsfreiheit

Statt des Kriteriums des unmittelbaren bzw. mittelbaren Eingriffs in die betrof­ fenen Grundfreiheiten lag der Argumentation des EuGH wahrscheinlich die Nachrangigkeit der Kapitalverkehrsfreiheit aufgrund der für den Sachverhalt geringeren Sachnähe dieser Grundfreiheit zugrunde425. Die Sachnähe charakte­ risiert dabei die für die Untersuchung des Sachverhalts inhaltlich passendere Grundfreiheit. Die Geeignetheit des Kriteriums der Sachnähe wurde bereits oben kritisiert426, und es wurde aus den Schwierigkeiten der Abgrenzung der Kapital­ verkehrsfreiheit gegen Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit die Konse­ quenz der kumulativen Anwendbarkeit gezogen427.

Für den Sachverhalt der EuGH-Entscheidung kann die größere Sachnähe der Ar­ beitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit im Hinblick auf die Krankenund Invaliditätsvcrsicherung nachvollzogen werden. Diese in den meisten Mit­ gliedsländern für Arbeitnehmer obligatorischen Versicherungen haben keinen Ka­ pitalanlagecharakter; sie werden allein im objektiv feststellbaren Interesse an der damit verbundenen Dienstleistung abgeschlossen. Dagegen ist die Feststellung eines vorrangigen Interesses für die Dienstleistung oder die Kapitalanlage im Falle der Lebensversicherungen nicht möglich. Gerade das heutige Bild der Ka­ EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,285 Rz. 34. Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (3) (a). Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,279 Rz. 9. Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 284 Rz. 31. Vgl. Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht Teil 2 II. § 4 1. b) bb) aaa), S. 289; oben Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (3)(b). 426 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (3) (b). 427 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (4). 421 422 423 424 425

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123

pitallebensversicherung als Altersvorsorge und die lange Zeit bestehenden steu­ erlichen Vorzüge der Versicherung gegenüber anderen Kapitalanlagen zeigen den stark in den Vordergrund tretenden Kapitalanlagecharakter. So werden die Lebensversicherungen von den meisten Versicherungsnehmern nach den bisher durch das Versicherungsuntemehmen erwirtschafteten Überschüssen ausgewählt, die auch eine zukünftige hohe Rendite versprechen. Die Versicherungsnehmer orientieren sich an der Qualität der von der Versicherung beauftragten Fondsmanager, deren bisherigen Leistungen sie den Statistiken der verschiedenen Analysten entnehmen können. Der Dienstleistungscharakter der Lebensver­ sicherung spielt daher aufgrund der Hoffnung auf das Erleben der Ausschüttung die gleiche Rolle wie das Kapitalanlageinteresse.

bb) Geringere Sachnähe der Kapitalverkehrsfreiheit Der Annahme einer gleichrangigen Sachnähe der Kapitalverkehrs- und der Dienstleistungsfreiheit in Bezug auf grenzüberschreitend abgeschlossene Le­ bensversicherungen wird entgegengehalten, daß der Kapitaltransfer lediglich Folge des vorherigen Leistungsaustauschs auf der Dienstleistungsebene sei und daher gegenüber der Dienstleistung zu vernachlässigen sei428. Wirtschaftlich be­ trachtet stelle sich der grenzüberschreitende Kapitaltransfer als Folge des Lei­ stungsaustauschs ’’Versicherungsschutz gegen Prämienzahlung” dar. Die Inan­ spruchnahme der Dienstleistung werde vom Versicherungsnehmer bewußt grenzüberschreitend gestaltet, indem gerade kein Wechsel zu einem inländischen Versicherer erfolge. Dagegen sei der ’’Kapitalexport”, die Werteübermittlung ins Ausland, ’’unselbständige” Konsequenz der ursprünglichen Entscheidung für einen ausländischen Dienstleistungserbringer.

cc) Gleichrangige Sachnähe der Kapitalverkehrsfreiheit Es ist jedoch mangels Überzeugungskraft der vorgehend geschilderten Argumen­ tation von der gleichrangigen Sachnähe der Kapitalverkehrsfreiheit auszugehen. Der Auffassung liegt der falsche Ansatz zugrunde, daß bei Versicherungsverträ­ gen grundsätzlich nur die Überweisung der Versicherungssumme unter den Kapi­ talverkehr falle, die Prämienzahlung als Gegenleistung für die Dienstleistung da­ gegen nur Zahlungsverkehrstransaktion sei429. Nur unter dieser Prämisse kann die 428 Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht, Teil 2 II. § 4 1. b) bb) aaa), S. 289. 429 So aber Randelzhofer, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 61 Rdnr. 18; Troberg, in: G/T/E, EGV, Art 61 Rdnr. 8.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Kapitalverkehrstransaktion "unselbständige” Folge des Leistungsaustauschs auf der Dienstleistungsebene sein. Hinsichtlich der Prämienzahlung würde die Zah­ lungsverkehrsfreiheit dann zugegebenermaßen gegenüber der Dienstleistungs­ freiheit die geringere Sachnähe aufweisen.

Bei den heutzutage abgeschlossenen Lebensversicherungsverträgen fallen aber bereits die Prämienzahlungen unter die Kapitalverkehrsfreiheit, so daß die Kapi­ talverkehrsberührung nicht ’’unselbständige” Folge des Leistungsaustauschs auf der Dienstleistungsebene ist. Die falsche Einordnung der Lebensversicherungs­ prämien bei der Zahlungsverkehrsfreiheit kommt dadurch zustande, daß das oh­ nehin umstrittene Kriterium430 der ’’einseitigen Wertübertragung” für das Vor­ liegen einer Kapitalverkehrstransaktion fehlerhaft angewandt wird. Dahinter steht möglicherweise folgende Vorgehensweise:

Es werden die beiden im Rahmen der Lebensversicherung erfolgenden Zahlun­ gen, Prämienzahlung und Endkapitalausschüttung, miteinander verglichen, und daraus wird gefolgert, daß ihnen hinsichtlich des Kapitalverkehrskriteriums der ’’Einseitigkeit der Wertübertragung“431 ein unterschiedlicher Charakter zukomme. Die Prämienzahlung wird nicht als ’’einseitige Wertübertragung” qualifiziert, da sie den Versicherungsschutz als Dienstleistung auslöse. Dementsprechend sei neben der Dienstleistungsfreiheit im Zeitpunkt der Prämienzahlung lediglich die Zahlungsverkehrsfreiheit betroffen. Dagegen sei die Überweisung der Versicherungssumme eine ’’einseitige Wertübertragung”, da ihr keine Ge­ genleistung gegenüberstehe, so daß nur hier die Kapitalverkehrsfreiheit neben der Dienstleistungsfreiheit einschlägig sei.

Tatsächlich beinhaltet die Prämienzahlung bei den heute üblichen Kapitallebens­ versicherungen jedoch zwei Aspekte: die Zahlungsverkehrstransaktion als Gegen­ leistung für den Versicherungsschutz und die Kapitalverkehrstransaktion zum Er­ werb einer Kapitalanlage, die zu einer Beteiligung an den von der Versicherung erwirtschafteten Überschüssen berechtigt. Instruktiv kann diese Zweigesichtigkeit der Prämien auch mit Hilfe der oben erarbeiteten Definition des Kapitalverkehrs dargestellt werden, wonach ’’Kapitalverkehr die aus wirtschaftlicher Sicht vorran­ gig auf Kapitalnutzung, nicht auf direkte Gegenwertrealisierung gerichtete Über­

430 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1 a) aa). 431 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1 a) aa).

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tragung von Sach- oder Geldkapital ist”432. Bei den Lebensversicherungsprämien ist nicht feststellbar, ob die Kapitalübertragung vorrangig auf den Erwerb einer ertragversprechenden Kapitalanlage oder die Erlangung des Versicherungs­ schutzes ausgerichtet ist. Der wirkliche Vorrang des einen oder anderen Interesses wird sich nur im Einzelfall durch Befragen des Versicherungsnehmers feststellen lassen. Dies rechtfertigt es, die Zahlung der Lebensversicherungsprämien am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit und dem der Dienstleistungsfreiheit zu messen, ohne daß eine der Grundfreiheiten aufgrund geringerer Sachnähe zu­ rücktreten muß.

Aufgrund dieser Erkenntnis über die gleichrangige Sachnähe der Kapitalverkehrs­ und Dienstleistungsfreiheit im Falle der Lebensversicherungen hätte der EuGH im Fall ’’Bachmann” auch die Kapitalverkehrsfreiheit prüfen müssen. Diesen richtigen Ansatz wählte der EuGH drei Jahre später, entgegen den Ausführungen des Generalanwalts433, in der ”Svensson/Gustavsson”-Entscheidung, in der er bei einem nicht-steuerrechtlichen Sachverhalt, der sich aber ohne weiteres mit gleicher Wirkung als solcher konzipieren ließe434, trotz der Mittelbarkeit des Eingriffs die Kapitalverkehrsfreiheit nicht als gegenüber der Dienstleistungsfrei­ heit nachrangig behandelte435. Im Fall ’’Bachmann” hätte der EuGH im Rahmen des von der Kommission angestrengten Vertragsverletzungsverfahrens die Kapi­ talverkehrsrichtlinie von 1988436 neben Art. 67 EGV a.F. heranziehen müssen.

b)

Bindung der Dienstleistungsfreiheit an die Kapitalverkehrsliberali­ sierung

Weitere Kritik ist an der Vorgehensweise des EuGH im Rahmen der Dienstlei­ stungsfreiheit zu üben. Er widmet der von der belgischen Regierung aufgeworfe­ nen437 und vom Generalanwalt Mischo diskutierten438 Bindung der Dienstlei­ stungsfreiheit an die Kapitalverkehrsliberalisierung bei Banken- und Versiche­ 432 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1 a) aa). 433 GA Elmer, in: EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955,3960 Rz. 8 f. 434 Die im Sachverhalt vorliegende staatliche Zinsvergütung für Baudarlehen, die auf Darlehen ’’inländischer" Kreditinstitute beschränkt ist, kann durch die steuerrechtliche Abzugsfähigkeit der Zinszahlungen nur für sol­ che "inländischen" Baudarlehen ersetzt werden. 435 EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955,3975 Rz. 10. 436 Richtlinie 88/361 des Rates vom 24.06.1988 zur Durchführung von Art. 67 EWGV, ABI. EG 1988 Nr. L 178, S. 5. 437 EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,255 f. Rz. 2.2. 438 EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,266 f. Rz. 15 f.

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rungsdienstleistungen, die Art. 51 Abs. 2 EGV statuiert439, keine genauere Erör­ terung. Diese wäre angesichts des Sachverhalts und insbesondere der Entschei­ dung des EuGH in Sachen ”Van Eycke/ASPA”440 notwendig gewesen.

Im Sachverhalt der ”Bachmann”-Entscheidung ging es für den Kläger um den von der belgischen Steuerbehörde abgelehnten Abzug der Versicherungsbeiträge vom Gesamtbetrag seiner belgischen Erwerbseinkünfte für die Jahre 1973 bis 1976. In diesem Zeitraum war die Kapitalverkehrsliberalisierung auf europäischer Ebene im Vergleich zu den anderen Grundfreiheiten noch nicht sehr weit vorangeschrit­ ten. Es galten Art. 67 EGV a.F., dessen Beseitigungsgebot die Mitgliedstaaten nur, ’’soweit es für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig” war, befolgen mußten, und die ersten beiden Kapitalverkehrsrichtlinien441. Andererseits traf eine Norm des Dienstleistungsrechts eine spezielle Aussage zu Ver­ sicherungsdienstleistungen. Art. 61 Abs. 2 EGV a.F.442 bestimmte, daß ’’die Li­ beralisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Ban­ ken und Versicherungen im Einklang mit der schrittweisen Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgefuhrt wird”. In der Norm werden also die mit dem Kapi­ talverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs gekoppelt443.

Angesichts dieser Bindung der Bank- und Versicherungsdienstleistungen an die Liberalisierung des Kapitalverkehrs hätte sich der EuGH bei der Prüfung der Dienstleistungsfreiheit mit dieser Vorschrift auseinandersetzen müssen444. Diese Notwendigkeit bestand einerseits aufgrund der Integration des Art. 61 Abs. 2 EGV a.F in die Argumentation der belgischen Regierung und ihrer Erörterung durch den Generalanwalt445, andererseits aufgrund der deutlich angesprochenen Bindung der Dienstleistungsfreiheit an die Kapitalverkehrsfreiheit in der vier Jahre zuvor ergangenen ”Van Eycke/ASPA”-Entscheidung446. Dort stellte der EuGH fest, daß aufgrund des Fehlens der Liberalisierung der im Sachverhalt ein­ schlägigen Kategorie des Kapitalverkehrs durch die bisherigen Richtlinien ’’kein Vgl. Art 61 Abs. 2 EGV a.F. EuGH, Urt v. 21.09.1988, Rs. 276/86, Sig. 1988, S. 4769 ff. ABI. EG 1960, L 43/921; ABI. EG 1962, L 9/62. Jetzt Art 51 Abs. 2 EGV. Randelzhofer, in: Grabitz/Hilf EGV, Art 61 Rdnr. 7; Troberg, in: G/T/E, EGV, Art. 61 Rdnr. 4. Vgl. Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht, Teil 2 II. § 4 1. b) aa) aaa), S. 281 und Teil 2 II. § 4 1. b) bb) aaa), S. 287. 445 GA Mischo, in: EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. 1 1992, S. 249,267 f. Rz. 15 f. 446 EuGH, Urt. V. 21.09.1988, Rs. 267/86, Sig. 1988, S. 4769 IE 439 440 441 442 443 444

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Verstoß gegen die Vertragsbestimmungen über die Freiheit des Dienstleistungs­ verkehrs der Banken im Bereich des Kapitalverkehrs vorliegen kann”447. Der EuGH hätte in der ”Bachmann”-Entscheidung bei Erörterung der Dienstlei­ stungsfreiheit deutlich machen müssen, daß er sich von dem ’’sekundärrechtlichen Ansatz” in ”van Eycke/ASPA” abwendet und die Lösung zu Art. 61 Abs. 2 EGV a.F. auf der Ebene des Primärrechts sucht448. Selbst wenn der EuGH offenbar im Ergebnis den Ausführungen des Generalanwalts und einem früheren Urteil folgt, wonach "die Art. 59 und 60 EWGV nach Ablauf der Übergangszeit unmittelbar anwendbar geworden sind, ohne daß ihre Anwendbarkeit von der Harmonisierung oder Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten abhängig ist”449, hätte er dies in seinem Urteil klarstellen müssen. Die Ansicht, daß die Dienstlei­ stungsfreiheit nach der Übergangszeit von 1958 bis 1970 direkt anwendbar ist und der in Art. 61 Abs. 2 EGV a.F. implizierte Aufschub daher gegenstandslos ist450, wird in der Literatur nämlich teilweise anders gesehen451.

Schließlich zeigt sich die Notwendigkeit einer Klarstellung zu Art. 61 Abs. 2 EGV a.F. in der ”Bachmann’’-Entscheidung auch durch die Ausführungen in der späteren "Svensson/Gustavsson’-Entscheidung452, die nicht den Versicherungs-, sondern den Bankbereich betraf. Die dort gezeigte Herangehens weise an die Dienstleistungsfreiheit dokumentiert, daß die Aussage des Art. 61 Abs. 2 EGV a.F. nicht so klar ist, wie man aufgrund des Verzichts einer Auseinandersetzung mit der Norm in der ”Bachmann”-Entscheidung annehmen könnte. In der ’’Svensson/Gustavsson”-Entscheidung453 stellte der EuGH erst den Eingriff in den Ka­ pitalverkehr fest, um dann über die Vorschrift des Art. 61 Abs. 2 EGV a.F. zur Dienstleistungsfreiheit zu gelangen. Darin spiegelt sich für den Bank- und Versi­ cherungsbereich das Verständnis einer Bindung der Dienstleistungsfreiheit an die Kapitalverkehrsfreiheit in der Weise wider, daß, wie bei ”Van Eycke/ASPA’’454, der Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit die Liberalisierung des Kapitalverkehrs in diesem Bereich voraussetzt.

447 EuGH, Urt. v. 21.09.1988, Rs. 267/86, Sig. 1988, S. 4769,4793 Rz. 22 - 24. 448 Vgl. Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht, Teil 2 II. § 4 1. b) aa) aaa), S. 280 f. 449 EuGH, Urt. v. 04.12.1986, Rs. 205/84, Sig. 1986, S. 3755, 3802 Rz. 25; vgl. GA Mischo, in: EuGH, Urt v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Sig. 1 1992, S. 249,267 f. Rz. 16. 450 So Troberg, in: G/T/E, EGV, Art 61 Rdnr. 4. 451 Randelzhofer, in: Grabitz/Hilf, EGV Art. 61 Rdnr. 13: faktische Einschränkung der unmittelbaren Anwend­ barkeit der Dienstleistungsfreiheit, wenn die untersuchte Beschränkung nach den Kapitalverkehrsvorschriften noch zulässig ist. 452 EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955 ff. 453 EuGH, Urt v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955 ff. 454 EuGH, Urt v. 21.09.1988, Rs. 267/86, Sig. 1988, S. 4769 ff.

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Im Ergebnis muß sich der EuGH also für die ”Bachmann”-Entscheidung den Vor­ wurf gefallen lassen, durch den Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit Art. 61 Abs. 2 EGV a.F. eine für die Dogmatik der Kapitalverkehrs- und Dienstleistungs­ freiheit notwendige Klarstellung verpaßt zu haben. Diese Aussage im Interesse der Dogmatik und der stringenten EuGH-Rechtsprechung mußte sich angesichts der vorherigen "van Eycke/ASPA"-Entscheidung455 aufdrängen und hätte die erneute dogmatische Undeutlichkeit in der "Svensson/Gustavsson"-Entscheidung456 vermeiden können.

4.

Der Fall ’’Bachmann” bei Anwendung der Artt. 56 ff. EGV

Im folgenden soll untersucht werden, zu welchem Ergebnis der Sachverhalt des "Bachmann’’-Falls bei Anwendung des mit dem Maastricht-Vertrag eingefuhrten Prüfungsmaßstabs der Artt. 56 ff. EGV fuhren würde.

a)

Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV

Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit setzt gemäß Art. 56 Abs. 1 EGV eine Beschränkung des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten voraus. Nach einer belgischen Steuervorschrift wird Herm Bachmann der Abzug der an eine im EU-Ausland ansässige Versicherungsgesellschaft gezahlten Beiträge für Lebens-, Kranken- und Invaliditätsversicherung verwehrt, der bei "inländischen Versiche­ rungen"457 zugelassen wird. Im Fall der Lebensversicherung458, bei der die Prämi­ enzahlungen, wie oben erörtert459, auch ein Kapitalverkehrselement beinhalten, bedeutet die Verwehrung der steuerlichen Abzugfähigkeit bei Verträgen mit im EU-Ausland ansässigen Versicherungsgesellschaften einen Nachteil, der die Ka­ pitalanlage bei einer "ausländischen Versicherung"460 unattraktiver macht. Durch diese geringere steuerliche Attraktivität stellt die belgische Steuervorschrift eine mittelbare Beschränkung des Kapitalverkehrs dar, was, nach obigen AusfuhEuGH, Urt. v. 21.09.1988, Rs. 267/86, Sig. 1988, S. 4769 ff. EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955 ff. Dieser Begriff ist im folgenden steuerrechtlich im Sinne einer im Inland ansässigen Versicherung zu verstehen. Nur diese wird hier weiter erörtert, da ein Kapitalanlagecharakter bei der Kranken- und Invaliditätsversiche­ rung ausscheidet. 459 Vgl. Kapitel 2 B. II. 3. 460 Dieser Begriff ist im folgenden steuerrechtlich im Sinne einer im Ausland ansässigen Versicherung zu ver­ stehen. 455 456 457 458

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rangen461, für die Feststellung eines Eingriffs in die Kapitalverkehrsfreiheit aus­ reicht.

Das durch die Einschlägigkeit der Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit entstehende Konkurrenzverhältnis kann bei den Lebensversicherangsprämien nicht durch das Kriterium der Sachnähe zugunsten der einen oder anderen Grand­ freiheit gelöst werden462. Beide Grandfreiheiten sind daher kumulativ anwend­ bar463.

b)

Rechtfertigung durch die "Schranke" - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV

Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit ist gerechtfertigt, wenn die belgische Steuemorm von Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt ist. Die "Schranke” erklärt die Steuervorschriften für zulässig, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohn­ ort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln.

aa) Formelle Einhaltung der "Schranke" Die belgische Steuemorm macht die Abzugsfähigkeit der Prämien von ihrer Zah­ lung an eine im Inland ansässige Versicherungsgesellschaft abhängig. Es könnte daher eine unterschiedliche Behandlung nach dem differierenden ’’Kapitalanlage­ ort” des Steuerpflichtigen vorliegen. ’’Kapitalanlageort” ist der Ort der Ansässig­ keit des Kapitalnehmers, nicht der tatsächliche, wirtschaftliche Investitionsort des Kapitals464. Daher liegt hier aufgrund der unterschiedlichen Ansässigkeit der Versicherungen als Kapitalnehmer, einmal in Belgien, das andere Mal in Deutschland, ein unterschiedlicher ’’Kapitalanlageort” des Steuerpflichtigen vor. Die unterschiedliche Behandlung des Abzugs der Prämien vom Gesamtein­ kommen ist folglich formell von der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt.

461 462 463 464

Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) bb). Vgl. Kapitel 2 B. II. 3. a). Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (4). Vgl.Kapitel2A.il. l.b).

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Die ’’Schranke” ist jedoch, wie oben erörtert, als materieller Rechtfertigungsgrund zu verstehen465. Es müssen daher der materielle Hintergrund der Differenzierung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen und sein rechtfertigender Charakter festgestellt werden.

bb) Materieller Rechtfertigungscharakter der ’’Schranke”

Die belgische Regierung trug vor466, daß bei einer Lebensversicherung das Fehlen der Abzugsfähigkeit der Beiträge durch die Nichtbesteuerung des angesammelten Kapitals oder der gebildeten Rente ausgeglichen werde. Durch diesen Ausgleich werde sichergestellt, daß sich die fragliche Vorschrift weder unmittelbar noch mittelbar für Angehörige anderer Mitgliedstaaten finanziell nachteiliger auswirke als für belgische Staatsangehörige. Dieses Argument läßt sich so zusammenfas­ sen, daß ein unmittelbarer steuersystematischer Zusammenhang zwischen der Ab­ zugsfähigkeit der Prämien und der Besteuerung des angesammelten Kapitals bestehe: Im Falle des Abzugs der Prämien vom Gesamteinkommen erfolge ’’aus­ gleichend” eine Besteuerung des ausgeschütteten Kapitals, ohne Abzugsfähigkeit der Prämien bleibe das Kapital ’'ausgleichend” steuerlich unberührt.

Daraus wurde vom EuGH das Argument der Kohärenz des Steuerrechts ent­ wickelt467. Das kohärente Steuersystem bestehe darin, daß der durch die Abzugs­ fähigkeit der Prämien entstehende Einnahmenverlust des Staates durch die Be­ steuerung des angesammelten Kapitals ausgeglichen werde. Diese Kohärenz werde gestört, weim der Mitgliedstaat die Abzüge zulassen müsse, ohne kompen­ sierend auf die Kapitalausschüttung der im Ausland ansässigen Versicherung zu­ greifen zu können468.

In diesem Aspekt der Kohärenz des Steuerrechts kann ein materieller Grund ge­ sehen werden, der die differenzierende Behandlung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV be­ stimmt469. Der unterschiedliche Kapitalanlageort, d.h. die Wahl einer im Inland oder Ausland ansässigen Versicherung, hat Auswirkungen auf die Kohärenz des 465 466 467 468 469

Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d). Vgl. Sitzungsbericht in: EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,252 f. EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,282 ff. Rdnr. 21 ff. EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 282 ff. Rdnr. 23 ff. Mit dem Konzept dieses Kohärenzarguments steht auch das neue Verständnis der Kohärenz nach der ”Verkooijen“-Entschcidung (vgl. Kapitel 2 B. V.) in Einklang.

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Steuersystems, die eine kapitalverkehrsbeschränkende Differenzierung zwischen den Steuerpflichtigen materiell rechtfertigen können. An dieser Stelle soll diese kurze Feststellung genügen, da eine ausführliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem materiellen Rechtfertigungsgrund erst bei der Prüfung der ’’SchrankenSchranke” erforderlich wird470.

c)

’’Schranken-Schranke” - Art. 58 Abs. 3 EGV

Im dritten Schritt der Untersuchung der Kapitalverkehrsfreiheit ist zu prüfen, ob die Kohärenz des Steuerrechts als materieller Grund für die differenzierende steuerliche Behandlung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort die ’’Schranken-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV einhält. Dazu dürfte es sich weder um eine ’’willkürliche Diskriminierung", noch um eine ’’verschleierte Be­ schränkung” des Kapitalverkehrs handeln. Letztlich läuft die ’’SchrankenSchranke”, wie oben gesehen, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinaus471, so daß die beiden begrenzenden Kriterien des Art. 58 Abs. 3 EGV in deren Rahmen erörtert werden können. Es stellt sich die Frage, ob die Kohärenz des Steuerrechts den Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit unter Einhaltung des Verhältnismä­ ßigkeitsprinzips rechtfertigt. Ist dies nicht der Fall, so muß ein anderer materieller Rechtfertigungsgrund, der Hintergrund der formellen Differenzierung in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV sein kann472, herangezogen werden.

aa) Kohärenz des Steuerrechts Das Regelungsziel der belgischen Steuemorm, die die Abzugsfähigkeit der Prä­ mien auf die mit ’’inländischen Versicherungen” abgeschlossenen Lebensversi­ cherungen beschränkt, liegt nach Aussage der belgischen Regierung in der Kohä­ renz des belgischen Steuersystems. Diese wird dadurch charakterisiert, daß ein unmittelbarer, ausgleichend ausgestalteter Zusammenhang zwischen dem fiskali­ schen Einnahmeverlust durch die Abzugsfähigkeit der Prämien und der Besteue­ rung der Kapitalausschüttung am Versicherungsende bestehen soll473. Die Kohä­ renz des Steuerrechts wurde im Sachverhalt der ”Bachmann”-Entscheidung dadurch gestört, daß für den belgischen Staat, wenn er zur Anerkennung des Ab­ 470 471 472 473

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Kapitel 2 Kapitel 2 Kapitel 2 Kapitel 2

A. I. 2. d) und Kapitel 2 A. II. 3. a). A. II. 3. c). A. I. 2. d). B. II. 4. b).

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zugs der Prämien gezwungen würde, der kompensierende Zugriff auf die Kapi­ talausschüttung der Versicherung als Quellenbesteuerung im Rahmen der Ein­ kommensteuer des Versicherten nicht gewährleistet wäre. Dies lag darin begrün­ det, daß der Versicherte, der nur für die Arbeitstätigkeit nach Belgien übergesie­ delt war, zum Zeitpunkt der Auszahlung der Lebensversicherung wahrscheinlich wieder im Sitzstaat der Versicherung ansässig sein würde. Dadurch wäre dem belgischen Staat im Rahmen der Einkommensteuer des Versicherten mangels seiner unbeschränkten Steuerpflicht in Belgien474 und aufgrund der mangels Sitz des Kapitalschuldners im Inland fehlenden Anknüpfungsmöglichkeit für eine Quellenbesteuerung der Zugriff auf die Kapitalausschüttung der Versicherung verwehrt.

(1) Zulässiges Regelungsziel - indirekte Anerkennung durch Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV

Es stellt sich die Frage, ob die Kohärenz des Steuerrechts ein gemeinschaftsrecht­ lich zulässiges Regelungsziel darstellt. Der EuGH betrachtete die Kohärenz als rechtmäßiges, auf den Fall anwendbares Regelungsziel475 und stellte im Fort-gang der Untersuchung auch die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips fest476. Eine genaue Untersuchung des Kriteriums der Kohärenz des Steuerrechts muß heute angesichts der von vielen geübten Kritik477 und dem späteren Umgang mit dem Rechtfertigungsgrund durch die Generalanwälte478 und den EuGH479 zu einem anderen Ergebnis führen.

Bei der Betrachtung der Kohärenz des Steuerrechts als Rechtfertigungsgrund fällt zunächst auf, daß der EuGH durch die Anerkennung dieses Kriteriums den Rege­ 474 Vgl. im deutschen Recht: § 20 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 5 EStG. 475 EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 282 f. Rdnr. 21 - 24 (zur Freizügigkeit) und S. 285 Rdnr. 33 (zur Dienstleistungsfreiheit). 476 EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 283 Rdnr. 25 - 27. 477 Vgl. Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht Teil 2 II. § 2 2. c) cc), S. 219 ff.; Hinnekens, European Taxation 1996, S. 286,301; Knobbe-Keuk, EC Tax Review 1994, S. 74, 79 ff; Schön, a.a.O, S. 743, 770 f. 478 GA Leger, in: EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. 1 1995, S. 225, 243 f. Rz. 83 ff. (Schumacker); GA Leger, in: EuGH, Urt v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2500 ff. Rz. 31 ff. (Wielockx); GA Tesauro, in: EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1916 f. Rz. 37 ff. (Safir); GA Mischo, Schlußanträge v. 02.03.1999, Rs. C-307/97, IStR 1999, S. 177, 180 Rz. 63 ff. (Saint Gobain). 479 EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 262 Rz. 41 f. (Schumacker); EuGH, Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2516 f. Rz. 23 ff. (Wielockx); EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955, 3977 Rz. 16 ff (Svensson/Gustavsson); EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C118/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1929 Rz. 33 f. (Safir): ohne ausdrückliche Nennung des Kohärenzkriteriums.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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lungszweck einer konditionalen Verknüpfung mehrerer innerstaatlicher Steuer­ normen zum Allgemeininteresse an sich erhob und auf das bislang bestehende Erfordernis eines dem Regelungszweck zugrundeliegenden nationalen Interesses verzichtete480. Dies war in Anbetracht der untersuchten Freizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit, bei denen mangels Subsumtionsmöglichkeit der Kohärenz unter die ausdrücklichen ordre-public-Vorbehalte in Art. 39 Abs. 3 und Art. 46 Abs. 1 i.V.m. Art. 55 EGV nur die Rechtfertigung über die ungeschriebenen zwingenden Erfordernisse im Allgemeininteresse offenstand, eine Neuerung.

Im Rahmen der hier untersuchten ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV ist die Heranziehung des Kohärenzkriteriums dagegen nicht überraschend. Wie oben dargestellt, eröffnet Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gerade alle hinter der Differenzie­ rung nach dem Wohn- und Kapitalanlageort stehenden materiellen Rechtferti­ gungsgründe, unter die u.a. auch die Kohärenz der Steuerrechtsordnung fällt481. Daher kann man davon sprechen, daß Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, indem er das Sy­ stem der differenzierenden Behandlung nach dem unterschiedlichen Wohn- und Kapitalanlageort zuläßt, indirekt auch die Kohärenz des Steuerrechts als zuläs­ sigen Rechtfertigungsgrund festschreibt. Durch die erstmalige Berücksichtigung des Steuerrechts im Regelungskomplex einer Grundfreiheit in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV wird folglich durch den Gesetzgeber indirekt auch das vom EuGH ent­ wickelte Rechtfertigungskriterium der Kohärenz des Steuerrechts anerkannt. Somit ist die Kohärenz ein gemeinschaftsrechtlich zulässiges Regelungsziel, das auf seine Verhältnismäßigkeit zu befragen ist. Davon geht der EuGH auch in allen auf den ”Bachmann”-Fall folgenden Entscheidungen aus, in denen er lediglich die fehlende Anwendbarkeit der Kohärenz des Steuerrechts auf die einzelnen Sachverhalte feststellt, nicht aber diesen Rechtfertigungsgrund selbst verwirft482.

(2) Anwendung des Kohärenzkriteriums auf den Sachverhalt

Ist die Kohärenz der Steuerrechtsordnung ein gemeinschaftsrechtlich zulässiges Regelungsziel, so stellt sich die Frage, ob der EuGH im ”Bachmann”-Sachverhalt 480 Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht, Teil 2 II. § 2 2. c) bb) ccc) 3), S. 215; auch Berlin, EC Tax Review 1993, S. 80,93: "... the goal sought by the national tax measure is evaluated in itself. 481 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d). 482 EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 262 Rz. 42 (Schumacker); EuGH, Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2516 f. Rz. 24 f. (Wielockx); EuGH, Urt v. 14.11.1995, Rs. C484/93, Sig. I 1995, S. 3955, 3977 Rz. 18 (Svensson/Gustavsson); vgl. auch Hinnekens, European Taxation 1996, S. 286,301.

134

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

das Kriterium der Kohärenz des Steuerrechts richtig anwendete. Er ging davon aus, daß das belgische Steuerrecht ein kohärentes System sei, in dem die Abzugsfahigkeit der Lebensversicherungsprämien unmittelbar mit der Besteuerung der Kapitalausschüttung und vice versa Zusammenhänge. Tatsächlich ist die Kohä­ renz der belgischen Steuerrechtsordnung aber auf einer anderen Ebene zu finden, was der EuGH aufgrund seiner späteren Erkenntnisse im Fall ’’Wielockx’’483 mög­ licherweise auch im Rückblick für den ”Bachmann”-Sachverhalt feststellen würde.

In der Literatur wurde in überzeugender Weise auf die tatsächlich bestehende ’’In­ kohärenz” des belgischen Steuersystems hingewiesen484. So erlaube Belgien auf­ grund bilateraler Vereinbarungen, daß in Belgien arbeitende französische, nieder­ ländische und luxemburgische Staatsangehörige - entgegen den geltenden Steuer­ bestimmungen - ihre an im Heimatland ansässige Versicherungen gezahlten Prä­ mien steuerlich in Belgien geltend machen könnten. Im Falle der Prämien an eine in Deutschland ansässige Versicherung soll nach der belgischen Regierung aber gerade ein umfassendes Kohärenzkonzept dem Abzug entgegenstehen. Noch deutlicher sei aber die ’’Inkohärenz” darin erkennbar, daß Belgien in allen mit anderen EU-Mitgliedstaaten abgeschlossenen DBA auf ein Besteuerungsrecht im Hinblick auf ausgeschüttete Versicherungserträge verzichte, wenn der Empfänger zum Zeitpunkt der Auszahlung seinen steuerlichen Wohnsitz nicht (mehr) in Belgien habe. Dieses grundsätzliche Besteuerungsrecht des Wohnsitzstaates, das in den den Artt. 18 und 21 OECD-MA485 nachgebildeten belgischen DBA normiert ist, gelte auch dann, wenn die Prämien an belgische Versicherer gezahlt und somit für die Einkommensteuerermittlung abgezogen worden seien. Daraus wird erkennbar, daß die von der belgischen Regierung vorgetragene Kohärenz in Form der ausgleichenden Verknüpfung zwischen Prämienabzug und Kapitalbesteuerung tatsächlich gar nicht kohärent durchgehalten wird. Diese kritischen Ausführungen verdeutlichen, daß der EuGH in seiner "Bachmann”Entscheidung die Auswirkungen der DBA auf die Kohärenz des Steuerrechts verkannte486.

483 EuGH, Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493,2516 f. Rz. 24 f. 484 Knobbe-Keuk, EC Tax Review 1994, S. 74, 80; vgl. Bieg, EuGH und deutsches Steuerrecht, Teil 2 II. § 2 2. c) cc), S.221. 485 Stand: 01.03.1994. 486 Ebenso Hinnekens, European Taxation 1996, S. 286, 301: ”... the ECJ failed to consider the overriding impact of tax treaties.”

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

135

Aus diesem Vorwurf der ’’Inkohärenz” ist, wie später im Fall ’’Wielockx” durch den Generalanwalt Leger487 und den EuGH488 erkannt, für den ”Bachmann”-Fall die Konsequenz zu ziehen, daß die Kohärenz ’’auf einer anderen Ebene”, d.h. un­ ter Berücksichtigung der DBA, zu suchen ist. Für diesen Vorgang ist in der Lite­ ratur eine sehr prägnante und überzeugende Begriffsbildung getroffen worden, die zwischen einer ’’Mikro-Kohärenz” und einer "Makro-Kohärenz" unterscheidet489. Die Mikro-Kohärenz einer konkreten nationalen Regelung werde durch den Abschluß von DBA aufgehoben und durch eine Makro-Kohärenz auf der Ebene der DBA ersetzt490.

Für den ”Bachmann”-Fall bedeutet dies, daß das von der belgischen Regierung vorgetragene und vom EuGH als rechtfertigend festgestellte Kohärenzkriterium auf nationaler Ebene abzulehnen ist. Diese "Mikro-Kohärenz” wird durch die von Belgien abgeschlossenen DBA derart modifiziert, daß bei Betrachtung der ’’Ma­ kro-Kohärenz” kein ausgleichender Zusammenhang zwischen der Prämienab­ zugsfähigkeit und der Endkapitalbesteuerung mehr besteht. Folglich scheidet im vorliegenden Fall die Kohärenz der Steuerrechtsordnung als über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranzuziehender materieller Rechtfertigungsgrund für die Kapital­ verkehrsbeschränkung aus. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ist nicht mehr erforderlich.

bb) Steuerliche Gerechtigkeit Als anderer materieller Rechtfertigungsgrund, der die differenzierende Behand­ lung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen nach Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV begründet, kann das Regelungsziel der steuerlichen Ge­ rechtigkeit in Betracht kommen. Die steuerliche Gerechtigkeit wird vor allem durch das Gebot der Lastengleichheit für die verschiedenen Steuerpflichtigen be­ stimmt, dessen Herleitung in Deutschland auf den Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG und somit auf nationales Verfassungsrecht zurückgeht491.

487 488 489 490

491

In: EuGH, Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2500 ff. Rz. 54 f. (Wielockx). EuGH, Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493,2516 f. Rz. 24 f. (Wielockx). Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 770. Ebenfalls ablehnend zur ’'Mikrokohärenz”: Dourado, EC Tax Review 1994, S. 176, 184: "In any event, the internal coherence of the tax system is not a valid argument, when the objective is to prove compliance with Community law." Vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rdnr. 70 m.w.N. zur Rechtsprechung und Literatur.

136

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Das Lastengleichheitsgebot läßt sich im ”Bachmann”-Fall für die grenzüber­ schreitenden Zahlungen der Lebensversicherungsprämien wie folgt umsetzen. Die belgische Regierung könnte mit dem Ziel der Steuergerechtigkeit vortragen, für alle in Belgien unbeschränkt Steuerpflichtigen eine Einmalbelastung der Le­ bensversicherungen anzustreben. Dabei werde die Einmalbelastung

entweder durch die einkommensteuermindemde Abzugsfähigkeit der Prä­ mien in Verbindung mit der vorgenommenen Endkapitalbesteuerung (Ver­ trag mit ’’inländischer” Versicherung - Konstellation 1)

oder durch die Nichtabzugsfahigkeit der Prämien in Verbindung mit dem Fehlen der Endkapitalbesteuerung (Vertrag mit ’’ausländischer” Versiche­ rung - Konstellation 2) erreicht.

Bei den Verträgen mit ’’ausländischen” Versicherungen (Konstellation 2) kann der belgische Staat zur Sicherstellung der Einmalbelastung des Lebensversicherungs­ nehmers mangels exterritorialen Einflusses nicht durch einen Quellensteuerabzug bei der ’’ausländischen” Versicherung oder durch eine von ihr zu erfüllende Mit­ teilungspflicht über die Ausschüttung492 ansetzen. Er kann daher die Einmalbela­ stung der Lebensversicherung nur in seinem Hoheitsgebiet über die Versagung der Abzugsfahigkeit der Prämien gewährleisten. Im Fall der Verträge mit ’’inlän­ dischen” Versicherungen (Konstellation 1) kann der belgische Staat dagegen einen Quellensteuerabzug bei der Endkapitalausschüttung vorsehen oder den Ver­ sicherungen Mitteilungspflichten auferlegen. Auf diese Weise könnte der belgi­ sche Staat selbst dann, wenn ein ehemals abzugsberechtigter unbeschränkt Steu­ erpflichtiger auswandert und einen neuen Wohnsitz begründet, die Einmalbela­ stung der Lebensversicherung sicherstellen.

Dieses System mit dem Ziel der Lastengleichheit und somit der Steuergerechtig­ keit erscheint in sich überzeugend; es scheitert jedoch an der schon oben im Rah­ men der Kohärenz kennengelemten modifizierenden Wirkung der von Belgien abgeschlossenen DBA. Nach den DBA-Vorschriften, die den Artt. 18 und 21 OECD-MA nachgebildet sind, verzichtet Belgien auf die Besteuerung der ”ande­ 492 Eine solche Mitteilungspflicht war in einer Vereinbarung mit Frankreich, Holland und Luxemburg vorgesehen, worauf die von den filr ausländische Zweigniederlassungen arbeitenden Ausländer an die im Heimatland ansässigen Versicherungen gezahlten Prämien abzugsfllhig waren; vgl. Knobbe-Keuk, EC Tax Review 1994, S. 74, 80.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

137

ren Einkünfte” einer nicht im Inland ansässigen Person, im ”Bachmann”-Fall also auf die Endkapitalausschüttung der Versicherung, die an eine nicht in Belgien an­ sässige Person geleistet wird. Dieser Aspekt läßt das beschriebene System der Steuergerechtigkeit in Form einer Einmalbelastung der Lebensversicherung zusammenbrechen. Die Einkünfte aus der im Inland abgeschlossenen Lebens­ versicherung des ehemals abzugsberechtigten Steuerpflichtigen, der nach Aus­ wanderung einen neuen Wohnsitz begründet, werden vom belgischen Staat nach dem DBA trotz Vorliegens inländischer Einkünfte aufgrund des inländischen Sitzes des Kapitalschuldners493 nicht besteuert. Auf diese Weise gibt Belgien selbst sein Regelungsziel der Sicherstellung einer Einmalbelastung der Lebens­ versicherung auf. Ob die Einmalbelastung durch die Endkapitalbesteuerung im ausländischen Wohnsitzstaat hergestellt wird, liegt außerhalb der Einflußmög­ lichkeiten des belgischen Staates.

Folglich bildet die steuerliche Gerechtigkeit im "Bachmann”-Fall keinen materiel­ len Rechtfertigungsgrund, der über die differenzierende Behandlung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort gemäß Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV herangezogen werden könnte.

5.

Ergebnis

Die festgestellte Kapitalverkehrsbeschränkung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV durch die belgische Steuemorm läßt sich nicht durch die ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV rechtfertigen, da sowohl die Kohärenz der Steuerrechtsordnung als auch die steuerliche Gerechtigkeit als materielle Rechtfertigungsgründe aus­ scheiden. Die Norm ist daher im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit euro­ parechtswidrig. Das Ergebnis der Rechtswidrigkeit würde der EuGH aufgrund der seit der ”Wielockx”-Entscheidung erkannten Auswirkungen der DBA auf die Kohärenz im Rückblick auf den ”Bachmann”-Fall wohl auch hinsichtlich der Freizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit feststellen.

In Deutschland wurde die Steuervorschrift, die mit der belgischen Regelung in Art. 54 CIR vergleichbar war, durch das Gesetz zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts494 mit Geltung ab 1993 geändert. Nach dem neuen § 10 Abs. 2 Nr. 2 EStG ist die Abzugsfähigkeit der Versicherungsbeiträge 493 Vgl. im deutschen Recht § 49 Abs. 1 Nr. 5 a) EStG. 494 BGBl. 1993, S. 2310.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

138

daran gebunden, daß sie an "Versicherungsuntemehmen, die ihren Sitz oder ihre Geschäftsleitung in einem Mitgliedstaat der EG haben und das Versicherungs­ geschäft im Inland betreiben dürfen”, geleistet werden.

III. ’’Safir” Als letzte Entscheidung wird im folgenden das ”Safir”-Urteil495 des EuGH unter­ sucht. Diese Entscheidung aus dem Jahr 1998 ist durch die Besonderheit gekenn­ zeichnet, daß der Sachverhalt sich auf einen Zeitraum erstreckt, in dem der Maa­ stricht-Vertrag und somit die primärrechtlichen Vorschriften zur Kapitalver­ kehrsfreiheit bereits in Kraft waren496. Die Klägerin, Frau Safir, verlangte im Jahre 1995 hinsichtlich ihrer Lebensversicherung die Befreiung von der Steuer auf die von ihr gezahlten Prämien.

1.

Sachverhalt

In Schweden war die Besteuerung von Lebensversicherungen in Abhängigkeit von dem Bestehen oder Nichtbestehen einer schwedischen Niederlassung der Versicherungsgesellschaft unterschiedlich ausgestaltet. Bei Lebensversiche­ rungsverträgen mit in Schweden niedergelassenen Versicherungsgesellschaften war die Besteuerung in zwei Richtungen ausgerichtet: einerseits auf das Ver­ mögen der Gesellschaft selbst, andererseits auf den dem Versicherten gewährten Ertrag.

Die in Schweden niedergelassenen Versicherungsgesellschaften hatten eine Er­ tragsteuer zu entrichten. Diese Steuer war technisch als eine Steuer auf den Ertrag aus dem Versicherungskapital ausgeformt, die pauschal berechnet wurde anhand des am Ende des Jahres vor dem Besteuerungsjahr vorhandenen Kapitals der Gesellschaft, vermindert um den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Wert der fi­ nanziellen Verbindlichkeiten, anschließend multipliziert mit dem durchschnittli­ chen Zins für Staatsanleihen im Jahr vor dem Besteuerungsjahr497. Die Versicher­ ten wurden unterschiedlich besteuert, je nachdem, ob sie eine Pensions- oder Kapitalversicherung (Typ P und Typ K) abgeschlossen hatten. Bei den Typ P495 EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897 ff. 496 Inkrafttreten am 01.11.1993, Bekanntmachung vom 19.10.1993, BGBl. 1993 II S. 1947. 497 EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1922 Rn. 4.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

139

Verträgen498 konnte die entrichtete Prämie von der im Jahr der Entrichtung zu zahlenden Steuer abgezogen werden, während die später fälligen Ausschüttungs­ beträge der Steuer unterlagen. Im Fall der Kapitallebensversicherungen waren die gezahlten Prämien nicht abzugsfähig, die fälligen Ausschüttungsbeträge wurden jedoch nicht der Steuer unterworfen.

Demgegenüber mußten natürliche oder juristische Personen, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in Schweden hatten und Lebensversicherungsverträge mit nicht in Schweden ansässigen Gesellschaften schlossen, an den Staat eine pauschale Steuer von 15% auf die entrichteten Prämien zahlen. Die zuständigen innerstaatlichen Behörden konnten aber auf Antrag des Versicherten Befreiung von der Steuer gewähren oder deren Betrag um 50 % herabsetzen, wenn die ver­ tragschließende Gesellschaften in dem Staat, in dem sie niedergelassen waren, einer Ertragsteuer unterworfen waren, die der Besteuerung der in Schweden nie­ dergelassenen Versicherungsgesellschaften entsprach.

Abgekürzt stellte sich die unterschiedliche Besteuerung von in Schweden nieder­ gelassenen und nicht niedergelassenen Gesellschaften folgendermaßen dar: Die Steuer auf das Versicherungssparen bei schwedischen Lebensversicherungs­ gesellschaften war aufgrund der Besteuerung des Vermögens der Gesellschaft bzw. des Ausschüttungsbetrages auf den Ertrag der Lebensversicherung gerichtet, während beim Versicherungssparen bei ausländischen Lebensversiche­ rungsgesellschaften die Prämien pauschal betroffen waren499.

Die Klägerin Frau Safir, die bei einer nicht in Schweden niedergelassenen Versi­ cherungsgesellschaft eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte, beantragte beim schwedischen Finanzamt eine vollständige Befreiung von der Prämienbe­ steuerung. Dieses ermäßigte jedoch die Steuer nur um die Hälfte. Gegen diese Entscheidung legte Frau Safir einen Rechtsbehelf ein, der jedoch durch eine kei­ ner weiteren Beschwerde unterliegende Entscheidung zurückgewiesen wurde. Im folgenden Jahr machte Frau Safir erneut geltend, daß sie keine Steuer auf die Prämien schulde. Sie begründete dies mit der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der

498 Diese werden in der nachfolgenden Untersuchung hinsichtlich des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs weggelassen, da bei ihnen der Versicherungsvertrag zwingend mit einer in Schweden niedergelassenen Ge­ sellschaft abgeschlossen werden muß, vgl. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1900. 499 Vgl. GA Tesauro, in: EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1901.

140

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Steuer. Angesichts der Aufrechterhaltung der Steuerbescheide durch das Finanz­ amt erhob sie Klage vor dem schwedischen Finanzgericht.

Das Gericht setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vor500:

Verstößt es, wenn in einem Mitgliedstaat die Besteuerung des Versiche­ rungssparens bei inländischen Lebensversicherungsgesellschaften und bei ausländischen Lebensversicherungsgesellschaften, die in diesem Mitglied­ staat niedergelassen sind und dort Versicherungsgeschäfte betreiben, tech­ nisch wie eine nach dem Ertrag aus dem Versicherungskapital pauschal be­ rechnete Steuer ausgeformt ist, die beim Versicherer erhoben wird, gegen die Artikel 6, 59, 60 oder 73b und 73 d EG-Vertrag501, wenn - in der Absicht, zwischen dem inländischen und dem ausländischen Versicherungssparen die Wettbewerbsneutralität aufrechtzuerhalten - Steuer auf die Versiche­ rungsprämien erhoben wird, die von dem Versicherungsnehmer in dem Mitgliedstaat gemäß dem Lebensversicherungsvertrag entrichtet werden, den er mit einem Versicherer abgeschlossen hat, der in einem anderen Mit­ gliedstaat niedergelassen und in dem erstgenannten Mitgliedstaat gemäß den Vorschriften über grenzüberschreitende Versicherungstätigkeit tätig ist, so­ fern die Steuer auf die genannten Versicherungsprämien im Verwaltungs­ wege erlassen oder um die Hälfte ermäßigt werden kann, falls die im Aus­ land niedergelassene Versicherungsgesellschaft in dem Staat ihrer Nieder­ lassung einer Einkommensteuerbesteuerung unterliegt, die der Steuerbela­ stung für inländisches Versicherungssparen in dem anderen Mitgliedstaat vergleichbar ist?

500 EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1925. 501 Entsprechende Normen nach der Modifizierung durch den Amsterdamer Vertrag: Artt. 12, 49, 50 oder 56 und 58 EGV.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

2.

141

Entscheidung des EuGH

Der zweite Leitsatz der Entscheidung lautet502:

Was den freien Dienstleistungsverkehr angeht, so verbietet Artikel 59 des Vertrages die Anwendung einer Regelung durch einen Mitgliedstaat, die Ka­ pitallebensversicherungen einer unterschiedlichen Besteuerung unterwirft, je nachdem, ob die Gesellschaften, bei denen sie abgeschlossen worden sind, in diesem Mitgliedstaat niedergelassen sind oder nicht, da eine solche Regelung eine Reihe von Faktoren aufweist, die geeignet sind, Versicherungsnehmer davon abzuhalten, Kapitallebensversicherungen bei in anderen Mitgliedstaa­ ten niedergelassenen Versicherungsgesellschaften abzuschließen, und Versi­ cherungsgesellschaften davon abzuhalten, ihre Dienste auf dem Markt dieses Mitgliedstaates anzubieten.

In seiner Entscheidung setzte sich der EuGH allein mit dem durch die schwedi­ schen Steuemormen bedingten Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit ausein­ ander. Er stellte vier für den steuerpflichtigen Versicherten eintretende Nachteile fest, die ihn davon abhalten könnten, die Dienstleistung einer nicht in Schweden niedergelassenen Versicherungsgesellschaft in Anspruch zu nehmen.

Erstens müssen sich die Versicherungsnehmer von Kapitallebensversicherungen, die bei nicht in Schweden niedergelassenen Gesellschaften abgeschlossen werden, zentral beim Finanzamt registrieren lassen und die Prämienzahlungen angeben503. Außerdem müssen sie die Steuer selbst entrichten und dafür finanzielle Mittel aufbringen, was sich negativ auf die Liquidität auswirkt504. Zweitens lösen die schwedischen Steuemormen bei einem nach kurzer Zeit erfolgenden Rückkauf einer Lebensversicherung, die bei einer nicht in Schweden niedergelassenen Gesellschaft abgeschlossen worden ist, erhebliche Schwierigkeiten aus, die beim Abschluß ’’inländischer” Versicherungen nicht gegeben sind505. Drittens verlangt das Finanzamt, wenn der Versicherungsnehmer einer Versicherung, die bei einer nicht in Schweden niedergelassenen Gesellschaft abgeschlossen worden ist, eine Herabsetzung der Prämienbesteuerung beantragt, genaue Angaben über die Ein­ 502 503 504 505

EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1898. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1926 Rz. 26. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. 1 1998, S. 1897, 1926 Rz. 26. Vgl. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1927 Rz. 27.

142

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

kommensteuer, der diese Gesellschaft unterliegt506. Dies wirkt sich auf den Versi­ cherungsnehmer besonders belastend aus. Schließlich hängt als letzter Aspekt die Festsetzung der auf Versicherungsprämien anwendbaren Steuer davon ab, wie die Steuerverwaltung die steuerliche Regelung für die nicht in Schweden nieder­ gelassenen Versicherer beurteilt507. Dabei konnte für die Vergangenheit festge­ stellt werden, daß hinsichtlich verschiedener Versicherungsgesellschaften des­ selben Ansässigkeitsstaates unterschiedlich entschieden wurde, ohne daß sich die steuerlichen Vorschriften in diesem Staat geändert hätten. Diese Unsicherheit wird den Versicherungsnehmer vom Abschluß einer Lebensversicherung bei einer ’’ausländischen” Versicherung abhalten.

Nach dieser vierfach begründeten Feststellung eines Eingriffs in die Dienstlei­ stungsfreiheit untersuchte der EuGH die Möglichkeit einer Eingriffsrechtferti­ gung. Er lehnte die beiden von der schwedischen Regierung vorgetragenen Ar­ gumente ab508, die sich auf die im Allgemeininteresse liegenden Erfordernisse des Schutzes der inneren Kohärenz der Steuerregelungen und der Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen berufen hatte509. Dazu führte der EuGH aus, daß es andere, transparentere Systeme mit gleicher Geeignetheit zur Erreichung der vor­ getragenen Regelungsziele gebe, die den Dienstleistungsverkehr jedoch weniger beschränkten510.

Mangels Eingriffsrechtfertigung kam der EuGH daher zum Ergebnis, daß die schwedischen Steuervorschriften einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit darstellten. Auf dieses Resultat ließ er zur ebenfalls vom vorlegenden schwedi­ schen Gericht vorgebrachten eventuellen Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit diesen kurzen Satz folgen511:

"Im Hinblick darauf braucht nicht entschieden zu werden, ob eine solche Re­ gelung auch gegen die Artikel 6, 73 b und 73 d EG-Vertrag512 verstößt."

506 507 508 509 5,0 511 512

EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1927 Rz. 28. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1927 f. Rz. 29. Vgl. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1929 Rz. 34. Vgl. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1911 Rz. 27. Vgl. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1929 Rz. 33. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1929 Rz. 35. Entspricht jetzt: Artt 12,56, 58 EGV.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

3.

143

Kritik

Die nachfolgende Kritik an der Entscheidung des EuGH wird durch die Ausrich­ tung dieser Arbeit auf die Kapitalverkehrsfreiheit bestimmt, so daß die Ausfüh­ rungen des EuGH zur Dienstleistungsfreiheit nur beleuchtet werden, wenn sie mit der Kapitalverkehrsfreiheit in Zusammenhang stehen.

Der EuGH verzichtete in seiner Entscheidung auf eine genauere Erörterung der Kapitalverkehrsfreiheit und stellte wahrscheinlich mit dem Interesse der Arbeits­ erleichterung fest, daß im Hinblick auf den ohnehin bestehenden Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit, was bereits die Auffassung der Klägerin stützte, eine Untersuchung der Kapitalverkehrsfreiheit nicht erforderlich sei. An dieser Fest­ stellung muß die Kritik ansetzen, da der EuGH aufgrund der umfangreichen Aus­ führungen seines Generalanwalts zur ausschließlichen oder kumulativen An­ wendbarkeit der Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit513 zu einer Stel­ lungnahme herausgefordert war. Der EuGH hätte sich angesichts seiner einander widersprechenden Entscheidungen in den Fällen ’’Bachmann”514 und ’’Svens­ son/Gustavsson”515, auf die der Generalanwalt in seinen Schlußanträgen hin­ wies516, zu dieser Problematik äußern sollen. Er ließ die Möglichkeit, seinen alten Entscheidungen den Makel der mangelnden Kohärenz zu nehmen, verstreichen, so daß eine ausdrückliche Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Dienstlei­ stungs- und Kapitalverkehrsfreiheit von Seiten des EuGH noch immer fehlt517.

Der EuGH hätte im Rahmen des ”Safir”-Falls seine Aussage aus der ’’Bachmann’’Entscheidung erhellen können, daß ’’Artikel 67 Beschränkungen nicht untersage, die nicht den Kapitalverkehr betreffen, sondern sich mittelbar aus Beschränkun­ gen anderer Grundfreiheiten ergeben”518. Er hätte dann die vom Generalanwalt im ’’Safir”-Verfahren aus dieser Formulierung gezogene Konsequenz korrigieren können, daß Maßnahmen nur dann unter die Regelung der Kapitalverkehrsfreiheit fielen, wenn sie unmittelbar den Kapitaltransfer behinderten, indem sie ihn unmöglich machten oder erschwerten519. Die Unrichtigkeit dieser Schlußfolgerung 513 514 515 516 517 518 519

Vgl. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1903 ff. Rz. 9 -19. EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 ff. EuGH, Urt v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Sig. I 1995, S. 3955 ff. Vgl. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1904 ff. Rz. 12-15. Vgl. zur hier vertretenen Lösung: Kapitel 2 A. I. 1. a) cc). EuGH, Urt v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249,285 Rz. 34. Vgl. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1906 f. Rz. 17.

144

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

wurde oben ausführlich erörtert520. Hier soll nur kurz erneut auf das wichtige Argument verwiesen werden, daß die im Sachverhalt untersuchten steuerlichen Regelungen mangels mit ihnen verbundener unmittelbarer Erschwerung oder Verhinderung der Grundfreiheitsausübung immer nur eine mittelbare Wirkung bezüglich aller Grundfreiheiten haben können, so daß ein Ausschluß der mittelbar betroffenen Grundfreiheit über die angeblich unmittelbar betroffene nicht möglich ist.

Weitere Kritik am EuGH ist wegen des Fehlens der Auseinandersetzung mit Art. 51 Abs. 2 EGV521 im Rahmen der Untersuchung der Dienstleistungsfreiheit zu üben. Der gleiche Aspekt wurde bereits oben in der Kritik an der ’’Bachmann”Entscheidung behandelt522, so daß hier nicht erneut darauf einzugehen ist.

Im Zusammenhang mit Art. 51 Abs. 2 EGV ist schließlich zu kritisieren, daß der EuGH in seine Prüfung der Dienstleistungsfreiheit die Kapitalverkehrsschranken, insbesondere die in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV523 normierte, nicht einbezog. Nach der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung müssen die ’’Schranken” des Kapital­ verkehrs aufgrund der kumulativen Anwendbarkeit beider Grundfreiheiten auch bei der Dienstleistungsfreiheit Berücksichtigung finden524. Es wird sich bei der folgenden Untersuchung der Kapitalverkehrsfreiheit zeigen, ob die Einbeziehung der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV bei der Dienstleistungsfreiheit zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.

4.

Der Fall ’’Safir” bei Anwendung der Artt. 56 ff. EGV

Der Verzicht des EuGH auf eine Auseinandersetzung mit der Kapitalverkehrsfrei­ heit, obwohl diese zum Zeitpunkt der Entscheidung nach den Kriterien der Artt. 73 b ff. EGV525 möglich gewesen wäre, fordert zu einer Untersuchung nach diesem Prüfungsmaßstab heraus.

520 521 522 523 524 525

Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) bb) (3) und Kapitel 2 A. I. 1. a) cc). Damals Art. 61 Abs. 2 EGV. Vgl. Kapitel 2 B. II. 3. b). Damals Art 73 d Abs. 1 lit a EGV. Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (4) (b). Jetzt Artt. 56 ff. EGV.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

a)

145

Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV

Gemäß Art. 56 Abs. 1 EGV setzt der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit eine Beschränkung des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten voraus. Das Vorliegen einer Kapitalverkehrstransaktion bei der hier erneut zu betrachtenden Überweisung der Prämien für eine Kapitallebensversicherung wurde bereits oben bei der Untersuchung der ’’Bachmann”-Entscheidung erörtert526. Danach bein­ haltet die Überweisung der Lebensversicherungsprämien auch ein Element des Kapitalverkehrs, indem sie zum Erwerb einer Kapitalanlage führt, die zu einer Beteiligung an den von der Versicherung erwirtschafteten Überschüssen berech­ tigt.

Nach dem "Safir”-Fall unterliegen die von der in Schweden unbeschränkt steuer­ pflichtigen Frau Safir an eine im Ausland ansässige Versicherungsgesellschaft ge­ zahlten Lebensversicherungsprämien einer anderen steuerlichen Behandlung als Zahlungen an eine im Inland ansässige Gesellschaft. Zusammengefaßt sind beim Versicherungssparen bei ausländischen Lebensversicherungsgesellschaften die Prämien pauschal durch die schwedische Steuer betroffen, wogegen die Steuer im Falle schwedischer Lebensversicherungsgesellschaften auf den Ertrag der Lebens­ versicherung gerichtet ist. Es stellen sich in der Folge einer mit einer ausländi­ schen Gesellschaft abgeschlossenen Versicherung für den versicherten Steuer­ pflichtigen verschiedene, bereits erwähnte Nachteile ein527.

Im Ergebnis macht diese steuerliche Behandlung die Kapitalanlage bei einer im Ausland ansässigen Versicherungsgesellschaft steuerlich unattraktiver als eine ’’inländische” Kapitalanlage. Es liegt daher eine mittelbare Beschränkung des Kapitalverkehrs vor, die einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit begründet. Das durch die Einschlägigkeit der Kapitalverkehrsfreiheit und der vom EuGH in der Entscheidung untersuchten Dienstleistungsfreiheit entstehende Konkurrenz­ verhältnis kann bei den Lebensversicherungsprämien nicht durch das Kriterium der Sachnähe zugunsten der einen oder anderen Grundfreiheit gelöst werden528.

526 Vgl. Kapitel 2 BII. 3. a). 527 Vgl. Kapitel 2 B. III. 2.; ausführlich EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1926 ff. Rz. 26 ff. 528 Vgl. Kapitel 2 B. II. 3.; a.A. GA Tesauro, in: EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1907 Rz. 18 f., der glaubt, das Abgrenzungskriterium der Mittelbarkeit des Eingriffs heranziehen zu können, dazu ausführlich Kapitel 2 A. I. 1. a) cc).

146

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit tritt daher nicht gegenüber der Dienst­ leistungsverkehrsbeschränkung zurück.

b)

Rechtfertigung durch die ’’Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV

Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit ist gerechtfertigt, wenn die schwedi­ sche Steuemorm von Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt ist. Die ’’Schranke” erklärt die Steuervorschriften für zulässig, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln.

aa) Formelle Einhaltung der ’’Schranke”

Die schwedischen Steuervorschriften unterwerfen Kapitallebensversicherungen einer unterschiedlichen Besteuerung, je nachdem ob die Gesellschaften, bei denen sie abgeschlossen worden sind, in Schweden niedergelassen sind oder nicht. Es liegt daher eine Differenzierung nach dem unterschiedlichen ’’Kapitalanlageort”, d.h. dem Ansässigkeitsort des Kapitalnehmers529 vor. Die unterschiedliche Be­ handlung der Lebensversicherungen ist folglich formell von der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt.

Die ’’Schranke" ist jedoch, wie oben erörtert, als materieller Rechtfertigungsgrund zu verstehen530. Daher muß eine Untersuchung des materiellen Hintergrunds der Differenzierung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort folgen.

bb) Materieller Rechtfertigungscharakter der ’’Schranke” Die schwedische Regierung trug im Verfahren vor dem EuGH zwei Argumente zur Rechtfertigung der Beschränkung des Dienstleistungsverkehrs vor, die auch als materieller Grund für die nach der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zulässigen Differenzierung nach dem Kapitalanlageort Berücksichtigung finden können. Sie berief sich auf die innere Kohärenz der Steuerregelung und die Wirk­ samkeit der steuerlichen Kontrollen531. Unter Heranziehung dieser Argumente 529 Vgl. Kapitel 2 A. II. l.b). 530 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d). 531 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1911 Rz. 27.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

147

wäre die Kapitalverkehrsbeschränkung gerechtfertigt, wenn die differenzierende steuerliche Behandlung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort im Sinne des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zur Erreichung der inneren Kohärenz des schwedischen Steuerrechts oder der Wirksamkeit steuerlicher Kontrollen erfor­ derlich wäre.

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen beiden möglichen materiellen Rechtfertigungselementen des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV soll parallel zu den vor­ her untersuchten Fällen ’’avoir fiscal” und ’’Bachmann” erst nachfolgend bei der Prüfung der ’’Schranken-Schranke” erfolgen532.

c)

"Schranken-Schranke" - Art. 58 Abs. 3 EGV

Im dritten Schritt der Untersuchung der Kapitalverkehrsfreiheit ist zu prüfen, ob die beiden vorher genannten Argumente als materieller Grund für die differen­ zierende steuerliche Behandlung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort die ’’Schranken-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV einhalten. Diese Untersuchung läuft, wie oben erörtert533, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der beiden materiellen Rechtfertigungsgründe hinaus.

aa) Kohärenz des Steuerrechts Das Regelungsziel der schwedischen Steuemormen, die für Lebensversicherungs­ prämien, die an eine im Ausland ansässige Versicherungsgesellschaft gezahlt wer­ den, eine pauschale Prämienbesteuerung statt einer auf den Ertrag der Lebensversicherung gerichteten Steuer vorsehen, liegt nach Aussage der schwe­ dischen Regierung in der Kohärenz des Steuerrechts534. Hintergrund der Kohärenz sei dabei unter anderem der Zweck, ’’wettbewerbliche Neutralität im Verhältnis zwischen schwedischen und ausländischen Versicherungsgesellschaften, die Spargelder entgegennehmen”, zu wahren535.

532 533 534 535

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Begründung in Kapitel 2 A. I. 2. d) und Kapitel 2 A. II. 3. a). Kapitel 2 A. II. 3. c). EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1911 Rz. 27. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1901 Ende von Rz. 5.

148

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Die bereits erörterte grundsätzliche Anerkennung des Kohärenzkriteriums als materielles Rechtfertigungselement des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV536 ermöglicht im folgenden seine direkte Anwendung auf den Sachverhalt. Den Ausführungen des Generalanwalts und des EuGH in der "Safir”-Entscheidung sind keine An­ haltspunkte zu entnehmen, wie die schwedische Regierung das ihren Steuerrege­ lungen zugrundeliegende Kohärenzkonzept versteht. Es ist jedoch wohl von dem folgenden Verständnis auszugehen:

(1) Inhalt der Kohärenz des schwedischen Steuerrechts

Im Falle einer mit einer in Schweden niedergelassenen Versicherungsgesellschaft abgeschlossenen Kapitallebensversicherung sieht das schwedische Steuerrecht eine zweigleisige Besteuerung vor. Sie setzt einerseits als Ertragsteuer beim Ver­ mögen der Gesellschaft an537 und bezieht sich andererseits auf den unbeschränkt steuerpflichtigen Versicherten, bei dem entweder bei Abzugsfähigkeit der Prä­ mien der spätere Ausschüttungsbetrag der Steuer unterliegt (Pensionsversiche­ rungs-Typ) oder ihm bei Nichtbesteuerung der Ausschüttung keine Einkommen­ steuerminderung durch Abzug der gezahlten Prämien zukommt (Kapitallebensversicherungs-Typ). Das schwedische Besteuerungskonzept bei Lebensversiche­ rungen sieht daher einen doppelten Zugriff des Fiskus bei der Versicherungsge­ sellschaft und beim Versicherten vor.

Im Falle einer im Ausland ansässigen Versicherungsgesellschaft läßt sich dagegen dieses zweigleisige Besteuerungskonzept nur in besonderen Fällen verwirklichen. Eine durch den schwedischen Fiskus erfolgende Besteuerung der Untemehmensgewinne einer im Ausland ansässigen Versicherunggesellschaft ist grundsätzlich nicht möglich, es sei denn, die Gesellschaft übt ihre Tätigkeit in Schweden durch eine dort belegene Betriebstätte aus538. Eine schwedische Betriebstätte der auf dem britischen Markt tätigen Skandia Life Assurance Company Ltd, bei der Frau Safir ihre Lebensversicherung abschloß, ist nach dem Sachverhalt der Entscheidung jedoch nicht gegeben. Daher ist dem schwedischen Fiskus der steuerliche Zugriff auf die Gewinne der ausländischen Versicherungsgesellschaft verwehrt. Er kann somit eine vergleichbare Besteuerung, wie sie für Lebensversicherungen mit schwedischen Versicherungsgesellschaften vorgesehen 536 Vgl. Kapitel 2 B. II. 4. c) aa) (1). 537 Vgl. ausführlich dazu: EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1900 Rz. 3. 538 Vgl.stellvertretend Art. 7 Abs. 1 OECD-MA.

Art. 58 EGV -- Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

149

ist, nicht verwirklichen. Das zweigleisige Besteuerungskonzept bei Lebens­ versicherungen ist nicht realisierbar.

Zum Ausgleich dieses Mangels und zur Aufrechterhaltung einer kohärenten, durch eine gleiche Belastungswirkung gekennzeichneten Besteuerung aller Le­ bensversicherungen, die von in Schweden unbeschränkt Steuerpflichtigen abge­ schlossen werden, erweitert der schwedische Fiskus seinen steuerlichen Zugriff beim Versicherten. Über das Fehlen der Abzugsfähigkeit hinaus werden die Le­ bensversicherungsprämien mit einer pauschalen Besteuerung von 15 % belegt. Dies soll den Ausfall des steuerlichen Zugriffs auf das Vermögen der Versiche­ rungsgesellschaft kompensieren und sicherstellen, daß alle Lebensversicherungen, die von in Schweden unbeschränkt steuerpflichtigen Personen abgeschlossen werden, einer gleichen steuerlichen Belastung unterliegen. Diese steuerliche Belastungsgleichheit für die Lebensversicherungen dient dem im Verfahren vor­ gebrachten Zweck, ’’die wettbewerbliche Neutralität im Verhältnis zwischen schwedischen und ausländischen Versicherungsgesellschaften, die Spargelder entgegennehmen”, zu wahren539. Der Wettbewerb der Versicherungsgesellschaf­ ten soll durch die gleiche Belastungswirkung bei ’’inländischen” und ’’ausländi­ schen” Lebensversicherungen540 unbeeinflußt bleiben.

Ein Verzicht auf diesen durch die Prämienbesteuerung erhöhten Zugriff beim Versicherten ist dem schwedischen Fiskus nur dann möglich, wenn die im Aus­ land ansässige Versicherungsgesellschaft im Ansässigkeitsstaat einer Ertragsteuer unterworfen ist, die der Besteuerung der in Schweden ansässigen Gesellschaften vergleichbar ist. Wird diese entsprechende Ertragsteuer nachgewiesen, ist für den schwedischen Fiskus sein zweigleisiges Besteuerungskonzept durch das Zusam­ menspiel mit dem ausländischen Steuerrecht eingehalten.

(2) Vergleich mit dem Kohärenzargument im Fall ’’Bachmann”

Nach der Darstellung des Kohärenzarguments für das schwedische Steuerrecht ist kurz auf einen wichtigen Unterschied zum oben vorgestellten Kohärenzkonzept im Fall ’’Bachmann”541 hinzuweisen. Ein Vergleich der beiden Fälle scheint hier 539 Vgl. EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1901. 540 ’'Inländische" und "ausländische" Lebensversicherungen bedeutet hier und nachfolgend Lebensversicherungen, die bei im Inland oder im Ausland ansässigen Versicherungsgesellschaften abgeschlossen wurden. 541 Vgl. Kapitel 2 B. II. 4. c) aa).

150

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

von Interesse, da es beide Male um die Kohärenz bei der Besteuerung von Le­ bensversicherungen ging.

Im ”Bachmann”-Fall ist die Kohärenz des belgischen Steuerrechts bei den Le­ bensversicherungen so konzipiert, daß ein unmittelbarer, ausgleichend ausgestal­ teter Zuammenhang zwischen der Abzugsfähigkeit der Lebensversiche­ rungsprämien und der Besteuerung der Kapitalausschüttung am Versicherungs­ ende besteht. Dagegen liegt die gerade beschriebene Kohärenz im ”Safir”-Fall darin begründet, daß die Lebensversicherungen nach dem schwedischen Steuer­ recht immer einer zweigleisigen steuerlichen Belastung ausgesetzt sein sollen, die sich einerseits auf die Versicherungsgesellschaft, andererseits auf den Versi­ cherten beziehen soll. Aus dem Vergleich der beiden Kohärenzkonzepte ergibt sich, daß im ”Bachmann”-Fall die Kohärenz bezüglich des Steuersubjekts (Versi­ cherter) gewährleistet werden sollte, wogegen sie im ”Safir”-Fall bezüglich des Steuerobjekts (Einkünfte aus Lebensversicherungsverträgen) angestrebt wurde. Bei ’’Bachmann” wollte der belgische Fiskus für den Versicherten eine kohärente Besteuerung erreichen, indem er ihm entweder eine Einkommensteuerminderung durch den Abzug der Prämien zukommen ließ oder die Kapitalausschüttung am Versicherungsende im Rahmen seiner Einkommensteuerermittlung ausnahm. Dagegen war Ziel der schwedischen Normen im ”Safir”-Fall, das Steuerobjekt der Einkünfte aus Lebensversicherungsverträgen in kohärenter Weise mit einer zweigleisigen Belastung für beide beteiligten Steuersubjekte (Versicherung und Versicherter) zu belegen.

Dieser Vergleich der beiden Kohärenzkonzepte bei der Besteuerung von Lebens­ versicherungen dokumentiert die Vielseitigkeit und Flexibilität des Kohärenzar­ guments, dessen sich die Mitgliedstaaten häufig zur europarechtlichen Recht­ fertigung ihrer Steuervorschriften bedienen.

(3) Verhältnismäßigkeit des Kohärenzkonzeptes

Das vorgestellte Kohärenzkonzept des schwedischen Steuerrechts muß als materi­ eller Grund, der über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zur Rechtfertigung der festgestell­ ten Kapitalverkehrsbeschränkung herangezogen wird, die Grenze der Verhältnis­ mäßigkeit einhalten542. Die schwedischen Steuemormen mit kapitalverkehrsbe­ 542 Vgl. Kapitel 2 A. II. 3. c).

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

151

schränkender Wirkung müssen also zur Erreichung der Kohärenz geeignet und erforderlich sein. In einem dritten Schritt, der sog. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, ist zu prüfen, ob die eintretende Kapitalverkehrsbeschränkung in einem gerecht gewichteten Verhältnis zur angestrebten Kohärenz der Steuerre­ gelungen steht.

Die schwedischen Steuervorschriften sind, wie bereits bei der Herleitung des Ko­ härenzkonzeptes deutlich wurde543, geeignet, die angestrebte Kohärenz zu errei­ chen. Schwieriger ist eine Aussage zur Erforderlichkeit der Normen für die Kohä­ renz. Die Erforderlichkeit ist nicht gegeben, wenn die Kohärenz durch gleich ge­ eignete, jedoch die Freiheit des Kapitalverkehrs weniger oder gar nicht beschrän­ kende Steuemormen erreicht werden kann.

Durch die schwedischen Vorschriften wurde mit dem Ziel eines kohärenten Sy­ stems das für ’’inländische” Lebensversicherungen geltende zweigleisige Besteue­ rungskonzept bei Versicherungsgesellschaft und Versichertem im Fall der ’’ausländischen” Lebensversicherungen durch einen eingleisigen erhöhten Steu­ erzugriff beim Versicherten ersetzt. Dies geschah im Interesse, beide Arten von Lebensversicherungen einer weitgehend gleichen steuerlichen Belastung auszu­ setzen. Ein Gleichlauf der steuerlichen Belastung läßt sich aber auch durch Steu­ ervorschriften erreichen, die einerseits ein kohärentes System bilden, andererseits aber den Kapitalverkehr nicht beschränken. So ist z.B. vorstellbar, daß alle Ver­ sicherten unabhängig vom Abschluß einer ’’inländischen” oder ’’ausländischen” Lebensversicherung eine Steuer auf ihre Prämien zahlen und die Besteuerung bei der Versicherung wegfällt544. Genausogut könnten statt der Prämienbesteuerung die von den Versicherten erzielten Erträge als in Schweden anfallendes Einkom­ men der Steuer ohne Differenzierung nach "in-” und ’’ausländischen” Lebensver­ sicherungen unterworfen werden und auf die Ertragsbesteuerung bei der Gesell­ schaft verzichtet werden.

Beide beispielhaft vorgestellten Konzepte bewirken einen Gleichlauf der steuer­ lichen Belastung der beiden Arten von Lebensversicherungen und bieten ein ko­ härentes System. Sie sind jedoch nicht mit dem Makel einer europarechtlichen Kapitalverkehrsbeschränkung behaftet. Folglich ist die Erforderlichkeit der 543 Vgl. Kapitel 2 B. III. 4. c) aa) (1). 544 Vgl. GA Tesauro, in: EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. 1 1998, S. 1897, 1917 Rz. 38 und der EuGH selbst: S. 1929 Rz. 33.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

152

schwedischen Steuemormen zur Erreichung der Kohärenz und der Belastungs­ gleichheit für ”in-” und ’’ausländische” Lebensversicherungen nicht gegeben. Die Regelungen sind nicht verhältnismäßig, und die ’’Schranke-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV ist daher insoweit nicht eingehalten.

bb) Wirksame steuerliche Kontrolle Der zweite über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziehbare materielle Rechtferti­ gungsgrund ist die wirksame steuerliche Kontrolle, die durch die schwedischen Steuervorschriften gegeben sein soll. Das von der schwedischen Regierung vor­ getragene Argument der Wirksamkeit der steuerlichen Kontrolle hat den gleichen Hintergrund wie das Kohärenzargument. Mangels Einflußmöglichkeit des schwe­ dischen Fiskus auf die Ertragsbesteuerung bei der im Ausland ansässigen Versi­ cherungsgesellschaft mit der Folge fehlender steuerlicher Kontrolle bestimmen die Vorschriften in diesem Fall eine Besteuerung der Lebensversicherungsprämien, die von dem in Schweden ansässigen Versicherten gezahlt werden. Auf den Versicherten hat der schwedische Fiskus eine wirksame Zugriffsmöglichkeit, so daß die Besteuerung der Lebensversicherungen mit Belastungsgleichheit gegenüber den ’’inländischen” Lebensversicherungen möglich ist.

Aufgrund dieser Parallelität der Argumente der wirksamen steuerlichen Kontrolle und der Kohärenz kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Der materielle Rechtfertigungsgrund der wirksamen steuerlichen Kontrolle hält ebenfalls nicht einer Verhältnismäßigkeitsprüfung stand545. Die ’’SchrankenSchranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV wird nicht eingehalten.

5.

Ergebnis

Die festgestellte Kapitalverkehrsbeschränkung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV durch die schwedischen Steuerregelungen läßt sich nicht durch die ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV rechtfertigen, da beide materiellen Rechtfertigungs­ gründe, die Kohärenz des Steuerrechts und die wirksame steuerliche Kontrolle, 545 Dies stellte auch der EuGH in der "Safir"-Entscheidung im Rahmen seiner Prüfung der Dienstleistungsfreiheit fest; vgl. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897, 1929 Rz. 33: "Es kommen jedoch andere, transparentere Systeme in Frage, die ebenfalls geeignet sind, die von der schwedischen Regierung geltend gemachte Steuerlücke zu schließen, und die den Dienstleistungsverkehr dabei weniger beschrän­ ken."

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

153

dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und damit der ’’Schranken-Schranke" des Art. 58 Abs. 3 EGV nicht gerecht werden. Die Normen sind im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit europarechtswidrig. Es ergibt sich folglich auch nach der Prüfung der Kapitalverkehrsfreiheit das vom EuGH zur Dienstleistungsfreiheit festgestellte Ergebnis.

IV. Erkenntnisse aus der Nachbetrachtung der EuGH-Rechtsprechung Die Nachbetrachtung der EuGH-Rechtsprechung hat gezeigt, daß bei steuerrecht­ lich bedingten Eingriffen in die Grundfreiheiten die Kapitalverkehrsfreiheit häu­ fig neben einer anderen Grundfreiheit anwendbar ist. Die durch Steuervorschrif­ ten eintretende Mittelbarkeit des Eingriffs in alle einschlägigen Grundfreiheiten schließt die Ermittlung eines Vorrangverhältnisses über das Kriterium der Unmit­ telbarkeit des Eingriffs aus. Das andere, vom EuGH wahrscheinlich in der "Bachmann’’-Entscheidung gedanklich angewandte Kriterium der unterschiedlichen Sachnähe546 kann das Zurücktreten der Kapitalverkehrsfreiheit hinter die anderen einschlägigen Grundfreiheiten ebenfalls nicht begründen.

Angesichts dieser kumulativen Anwendbarkeit kommt Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als "Schranke" der Kapitalverkehrsfreiheit eine besondere Bedeutung zu. Die Vorschrift eröffnet, indem sie die differenzierende Behandlung von Steuer­ pflichtigen nach ihrem unterschiedlichen Wohn- oder Kapitalanlageort zuläßt, die materiellen Rechtfertigungsgründe, die den Hintergrund dieser Differenzierung bilden (Unvergleichbarkeit der steuerlichen Situation von Gebietsansässigen und fremden, Kohärenz des Steuerrechts, Gefahr der Steuerflucht, steuerliche Gerechtigkeit, wirksame steuerliche Kontrolle). Diese materiellen Aspekte mit ihrer rein steuerrechtlichen Ausrichtung können über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV herangezogen werden. Es können so auch von einem Mitgliedstaat selbst be­ stimmte steuerrechtliche Gründe genügen. Sie sind über Art. 58 Abs. 3 EGV je­ doch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen.

Die Untersuchung des häufig vorgetragenen, materiellen Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz des Steuerrechts hat verdeutlicht, wie schwierig der Umgang mit diesem Kriterium ist547. Auch wenn es sich um ein grundsätzlich zulässiges und 546 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) bb) (3). 547 Vgl. dazu auch die neue Qualifzierung der Kohärenz des Steuerrechts in der im Anschluß besprochenen EuGH-Entscheidung vom 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720 ff. (Verkooijen).

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV indirekt anerkanntes Regelungsziel handelt548, so erweist sich seine Anwendung im Einzelfall, insbesondere aufgrund der not­ wendigen Beachtung der modifizierenden Wirkung der DBA, als problema­ tisch549. Die fehlerhafte Anwendung des Kohärenzkriteriums durch den EuGH in seiner ”Bachmann”-Entscheidung dokumentiert dies deutlich. Der Blick auf die ’’Makro-Kohärenz” unter Heranziehung der DBA muß grundsätzlich den Inhalt des Rechtfertigungsgrundes bestimmen. Schließlich begrenzt der Verhältnismä­ ßigkeitsgrundsatz die Anwendung des Kohärenzarguments.

V.

’’Verkooijen”

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 06.06.2000 in der Rechtssache “Verkooi­ jen“550 zu einigen wichtigen Fragen im Zusammenhang mit Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV Stellung genommen. Die Aussagen des EuGH sind aufgrund der Fertigstel­ lung dieser Arbeit einige Monate vor Ergehen der Entscheidung in der Gesamtheit des Werks nur durch Verweise auf inhaltsgleiche oder aber abweichende Beurtei­ lungen durch den EuGH berücksichtigt. Daher soll an dieser Stelle ergänzend ein genauer Blick auf das Urteil und eine kritische Stellungnahme erfolgen.

1.

Sachverhalt

Nach dem niederländischen Steuerrecht unterliegen die Einkünfte aus Vermögen, darunter auch Dividenden und andere Zahlungen aufgrund des Besitzes von An­ teilen, bei natürlichen Personen der Einkommensteuer. Bei Ausschüttung von Dividenden durch Gesellschaften, die in den Niederlanden ansässig sind, wird die Einkommensteuer auf die Dividenden an der Quelle einbehalten551. Die so erhobene Steuer wird Dividendensteuer genannt. Es handelt sich um eine defini­ tive Steuer, wenn die Dividenden von einer in den Niederlanden ansässigen Ge­ sellschaft an eine Person gezahlt werden, die nicht der niederländischen Einkom­ mensteuer unterworfen ist. Werden solche Dividenden dagegen an eine Person gezahlt, die der niederländischen Einkommensteuer unterliegt, so stellt die Divi­ dendensteuer eine Abzugssteuer gegenüber der Einkommensteuer dar. Nach den 548 549 550 551

Vgl. Kapitel 2 B. II. 4. c) aa) (1). Vgl. Kapitel 2 B. I. 3. c) bb) und Kapitel 2 B. II. 4. c) aa) (2). Abgedruckt u.a. in FR 2000, S. 720 ff. Vergleichbar mit der deutschen Kapitalertragsteuer nach §§ 43 ff. EStG; vgl. Mossner, Neue Dividendenbe­ steuerung aus der Sicht des EU- und DBA-Rechts, in: Lüdicke (Hrsg.), Internationale Aspekte der Untemehmenssteuerreform, S. 27,45.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

155

niederländischen Steuerrechtsvorschriften wird diese Abzugssteuer bei der Fest­ setzung der Einkommensteuer für das Gesamteinkommen auf diese angerechnet.

Die Dividenden sind nach § 47 b des niederländischen EStG bis zu einer be­ stimmten Höhe von der Einkommensteuer befreit. Dieser Freibetrag gilt für Er­ träge aus Anteilen, für die die niederländische Dividendensteuer einbehalten wurde, also nach Art. 1 Abs. 1 des niederländischen Dividendensteuergesetzes für die Erträge aus Anteilen an in den Niederlanden ansässigen Gesellschaften. Der Freibetrag wurde durch ein Gesetz aus dem Jahr 1985 von ursprünglich 500 nie­ derländischen Gulden (NLG) auf 1000 NLG erhöht. Aus den Materialien zu § 47 b des niederländischen EStG geht hervor, daß mit dem Dividendenfreibetrag (und seiner Beschränkung auf Dividenden von in den Niederlanden ansässigen Gesellschaften) zwei Ziele verfolgt wurden: Erstens sollte die Befreiung als Maßnahme zur Verbesserung der Eigenkapitalausstattung der Unternehmen sowie dazu dienen, niederländische Aktien für Privatpersonen interessanter zu machen; zweitens sollte die Befreiung insbesondere für Kleinanleger in gewissem Umfang die Doppelbesteuerung ausgleichen, die sich im niederländischen Steuersystem daraus ergeben würde, daß zum einen mit der Gesellschaftsteuer die von den Gesellschaften erzielten Gewinne und zum anderen mit der Steuer auf das Einkommen des einzelnen Anteilseigners die von diesen Gesellschaften ausgeschütteten Dividenden besteuert würden552.

Der Kläger des Rechtsstreits wohnte in den Niederlanden und arbeitete dort bei der Fina Nederland BV, die mittelbar von der in Belgien niedergelassenen und an der Börse notierten Aktiengesellschaft Petrofina NV kontrolliert wird. Im Rahmen eines Arbeitnehmersparplans, an dem alle Arbeitnehmer des Konzerns teilnehmen konnten, erwarb der Kläger Anteile an der belgischen Petrofina NV. Auf diese Anteile wurde eine Dividende ausgeschüttet, für die in Belgien eine Quellensteuer von 25 % einbehalten wurde. Bei der Veranlagung der Einkünfte des Klägers ver­ sagte das niederländische Finanzamt den Dividendenfreibetrag mit der Begrün­ dung, daß dieser nur für Dividenden gewährt werde, die der niederländischen Di­ videndensteuer unterlegen haben.

552 EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 721 Rz. 11.

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Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

Nachdem der Kläger sich in erster Instanz erfolgreich gegen den Steuerbescheid gewandt hatte, legte der vom “Staatssecretaris van Finaneien“ angerufene ”Hoge Raad der Nederlanden“ dem EuGH die folgende Vorabentscheidungsfrage553 vor:

’’Ist Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 88/361 EWG in Verbindung mit Ziffer 1.2 ihres Anhangs I dahin auszulegen, daß eine sich aus dem Einkommensteuerrecht ei­ nes Mitgliedstaats ergebende Beschränkung, nach der Anteilseigner von der Entrichtung der Einkommensteuer auf Dividenden bis zu einer bestimmten Höhe befreit sind, diese Befreiung jedoch nur für Dividenden von in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaften gilt, gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 88/361 seit dem 01.07.1990 verboten ist?“

Die Vorabentscheidungsfrage stützt sich auf die Kapitalverkehrs-Richtlinie 88/361554, da zum Zeitpunkt des streitigen Veranlagungszeitraums (1991) die Vor­ schriften der Artt. 56 ff. EGV in ihrer jetzt geltenden Fassung noch nicht in Kraft waren. Übersetzt auf die Rechtslage nach Inkrafttreten dieser Vorschriften könnte die Vorabentscheidungsfrage folgendermaßen lauten:

Sind die Regelungen der Artt. 56 ff. EGV dahin auszulegen, daß eine sich aus dem Einkommensteuerrecht eines Mitgliedstaats ergebende Beschränkung, nach der Anteilseigner von der Entrichtung der Einkommensteuer auf Dividen­ den bis zu einer bestimmten Höhe befreit sind, diese Befreiung jedoch nur für Dividenden von in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaften gilt, gemäß den genannten Vorschriften verboten ist?

2.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat zwar festgestellt, daß der Sachverhalt des Ausgangsrechtstreits vor dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union liegt und daher die Vereinbarkeit der streitigen Rechtsvorschriften allein anhand der Vorschriften des EWG-Vertrags und der Richtlinie 88/361 zu prüfen sei555. Er hat sich jedoch in 553 In der Entscheidung ist dies die erste Vorabentscheidungsfrage, wobei auf die Wiedergabe der anderen beiden Vorabentscheidungsfragen verzichtet wird. Die Beantwortung der zweiten Frage erübrigte sich aufgrund der Antwort auf die erste Frage (vgl. Rz. 63 des Urteils). Die dritte Vorabentscheidungsfragen hat im hier unter­ suchten Zusammenhang keine Relevanz. 554 ABI. EG 1988 Nr. L 178, S.5. 555 EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 42.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

157

ganz entscheidenden ’’obiter dicta“556 zur heutigen Rechtslage nach Art. 56 ff. EGV557 geäußert558.

Zunächst stellt der EuGH im Hinblick auf die Richtlinie 88/361 fest, sie erfasse den Fall, daß ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in diesem Staat wohnt, aber Dividenden von einer Gesellschaft erhält, die ihren Sitz in einem an­ deren Mitgliedstaat hat559. Danach erörtert der Gerichtshof das Vorliegen einer Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne des Art. 1 der Richtlinie 88/361, wenn ein Mitgliedstaat den Dividendenfreibetrag Steuerpflichtigen verweigert, die Dividenden von Gesellschaften erhalten, die ihren Sitz in einem anderen Mit­ gliedstaat haben560. In diesem Zusammenhang weist der EuGH auf die zweifache kapitalverkehrsbeschränkende Wirkung der niederländischen Vorschriften hin561: erstens hinsichtlich des Anteilseigners, zweitens hinsichtlich der Kapitalgesell­ schaft. ’’Eine Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche bewirke, daß Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die in den Niederlanden wohnen, da­ von abgeschreckt werden, ihr Kapital in Gesellschaften anzulegen, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben“562. ’’Außerdem wirke sich eine solche Be­ stimmung gegenüber Gesellschaften, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelas­ sen sind, einschränkend aus, weil sie für sie ein Hindernis darstelle, in den Nie­ derlanden Kapital zu sammeln, da die von ihnen an dort wohnende Personen ge­ zahlten Dividenden steuerlich ungünstiger behandelt werden als die von einer in den Niederlanden ansässigen Gesellschaft ausgeschütteten Dividenden“563. Der EuGH kommt daher zu dem Ergebnis, daß ein Eingriff in die Kapitalverkehrsfrei­ heit gegeben sei564.

Im Fortgang des Urteils untersucht der EuGH, ob die Kapitalverkehrsbeschrän­ kung gerechtfertigt ist. In diesem Zusammenhang trifft er im Rahmen eines ’’obiter dictum“ eine bedeutsame Feststellung zu Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV:

556 So Dautzenberg, Kommentar zum ”Verkooijen“-Urteil, FR 2000, S. 725. 557 Der EuGH zitiert die Vorschriften noch nach der Numerierung vor Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages; hier dagegen erfolgt die Zitierung durchgehend nach der neuen Nomenklatur. 558 Vgl. EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 ff. Rz. 43 ff. 559 EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 722 Rz. 30. 560 Vgl. EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720,722 Rz. 31 ff. 561 Vgl. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 722 Rz. 34 f. 562 EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 722 Rz. 34. 563 EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 722 Rz. 35. 564 EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 722 Rz. 36.

158

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

’’Die in den Mitgliedstaaten durch [Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV]565 eingeräumte Möglichkeit, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln, war vom Gerichtshof bereits zugelassen worden. Schon vor Inkrafttreten des [Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV] konnten nämlich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nationale steuerrechtliche Vorschrif­ ten der in diesem Artikel bezeichneten Art, die bestimmte Unterscheidungen, insbesondere nach dem Wohnort der Steuerpflichtigen vorsahen, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sein, sofern sie auf Situationen angewendet wurden, die nicht objektiv vergleichbar (vgl. insbsondere Urteil des EuGH v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225 - Schumacker) oder durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, insbesondere die Kohärenz der Steuerregelung, gerechtfertigt waren (Urteile des EuGH v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 - Schumacker; Rs. C-300/90, Sig. I 1992, S. 305 - Kommission/Belgien).“

Der EuGH geht nach dieser wichtigen Feststellung zu Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV davon aus, daß die nach dieser Norm zulässigen steuerrechtlichen Kapitalver­ kehrsbeschränkungen bereits vor dem Inkrafttreten der Vorschrift nach der bis dahin ergangenen EuGH-Rechtsprechung zulässig waren. Er verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf seine Ausführungen in den Urteilen ’’Schumacker“ und ’’Bachmann“. Durch seine Aussage schreibt der EuGH dem Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV einen rein deklaratorischen Charakter zu566.

Nach dieser bedeutsamen Aussage zu Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV nimmt der EuGH zu dem Zusammenspiel dieser Norm mit Art. 58 Abs. 3 EGV Stellung. In Art. 58 Abs. 3 EGV sei klargestellt, daß die nationalen Vorschriften, auf die sich Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV beziehe, weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs im Sinne des Art. 56 EGV darstellen dürfen567. Der EuGH hält in diesem Zusam­ menhang fest, daß Art. 58 Abs. 3 EGV auch die in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV ge­ nannten Steuervorschriften erfasse und somit ihre europarechtliche Zulässigkeit begrenze568.

565 566 567 568

Vom EuGH zitierte Vorschrift aufgrund der neuen Nomenklatur ersetzt Vgl. Dautzenberg, Kommentar zum ”Verkooijen"-Urteil, FR 2000, S. 725, 726; Saß, FR 2000, S. 1270, 1272. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 44. Vgl. EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 45.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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Die Anerkennung des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als Rechtfertigungsgrund für Ka­ pitalverkehrsbeschränkungen, der lediglich die bisher bereits geltenden Recht­ sprechungsgrundsätze zur Rechtfertigung einer Beschränkung kodifiziert, fuhrt den EuGH zu der Frage, ob die Kapitalverkehrsbeschränkung im vorliegenden Fall durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt wer­ den kann569. Er überprüft nachfolgend, ob die von den Niederlanden gewollten Investitionsanreize, die Kohärenz der niederländischen Steuerregelung, der Ein­ nahmenausfall für den niederländischen Fiskus oder der bei Fehlen der derzeiti­ gen Regelung mögliche Steuervorteil für den Steuerpflichtigen die Kapitalver­ kehrsbeschränkung rechtfertigen können570.

Die Ausführungen des Gerichtshofs zu den Investitionsanzreizen, dem Fiskalaus­ fall und dem Steuervorteil als Rechtfertigungsgründe, die durchgehend auf seine Ablehnung stoßen, stützen sich auf bereits zu diesen Aspekten ergangene Ent­ scheidungen. Es wird daher hier mangels Besonderheiten in diesem Bereich auf die Darstellung der ablehnenden Argumentation verzichtet. Dagegen sind die Aussagen des EuGH zu dem Rechtfertigungsgrund der Kohärenz der Steuerrege­ lung von großem Interesse, da sie neue Erkenntnisse über das Verständnis des EuGH von diesem zentralen Begriff der Rechtfertigungsebene liefern.

Zum Rechtfertigungsgrund der Kohärenz trug die niederländische Regierung vor, daß durch den Dividendenfreibetrag die Auswirkungen einer wirtschaftlichen Doppelbelastung abgemildert würden, die sich aus der Körperschaftsteuer auf der Gesellschaftsebene und der Einkommensteuer auf der Ebene des Anteilseigners ergebe571. Den Dividendenfreibetrag erhielten nur die steuerpflichtigen Empfänger von Dividenden von in den Niederlanden ansässigen Gesellschaften, weil nur bei diesen die erzielten Gewinne in den Niederlanden besteuert würden572. Dagegen würden, wenn die ausschüttende Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat an­ sässig sei, die Gewinne dort besteuert, so daß in den Niederlanden keine Doppel­ belastung der Gewinne entstehe, die auszugleichen sei.

Der EuGH lehnt eine derart konzipierte Kohärenz der niederländischen Steuerre­ gelung als Rechtfertigungsgrund ab, wobei er an der grundsätzlichen Anerken­ 569 570 571 572

Vgl. EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000,S. 720, 723 Rz. 46. Vgl. EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 47 ff. Vgl. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 50. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 723 Rz. 51.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

160

nung der Kohärenz der Steuervorschriften als Rechtfertigung für Eingriffe in die Grundfreiheiten festhält573. Der Gerichtshof erinnert daran, daß es in den Rechts­ sachen Bachmann und Kommission/Belgien um ein und denselben Steuerpflichti­ gen ging, so daß ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Gewährung eines Steuervorteils und dem Ausgleich dieses Vorteils durch eine steuerliche Bela­ stung bestand, die im Rahmen einer einzigen Besteuerung erfolgten574. Dem stellt der EuGH die Konstellation im vorliegenden Fall gegenüber, in der kein derarti­ ger unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Gewährung eines Einkommen­ steuerfreibetrags für erhaltene Dividenden an Anteilsinhaber, die in den Nieder­ landen wohnen, und der Besteuerung des Gewinns von Gesellschaften, die ihren Sitz in anderen Mitgliedstaaten haben, besteht575. Es handle sich um zwei ge­ trennte Besteuerungen von verschiedenen Steuerpflichtigen.

Nach dieser Ablehnung der Kohärenz als Rechtfertigungsgrund und der Zurück­ weisung der anderen Rechtfertigungsargumente kommt der EuGH zu dem Er­ gebnis, daß Art. 1 Abs. 1 der Kapitalverkehrs-Richtlinie 88/361 der niederländi­ schen Steuervorschrift entgegensteht, die die Gewährung einer Befreiung von der Einkommensteuer auf Dividenden, die an natürliche Personen als Anteilseigner gezahlt werden, von der Voraussetzung abhängig macht, daß die dividendenzah­ lende Gesellschaft ihren Sitz in diesem Mitgliedstaat hat576. Dieses Ergebnis zu der auf den Sachverhalt noch anwendbaren Kapitalverkehrs-Richtlinie wäre auf­ grund der Aussagen des EuGH zu Art. 58 EGV auch auf die mit dem MaastrichtVertrag vollständig liberalisierte Kapitalverkehrsfreiheit zu übertragen: Die nie­ derländische Steuervorschrift stellt auch unter dem Prüfungsmaßstab der Artt. 56 ff. EGV eine nicht zu rechtfertigende Kapitalverkehrsbeschränkung dar.

3.

Kritik

Der EuGH hat in seinem ”Verkooijen“-Urteil zu einigen entscheidenden Fragen des Art. 58 EGV Stellung genommen, die im Rahmen dieser Arbeit auch aufgrund ihrer dem Urteil um einige Monate vorausgehenden Fertigstellung teilweise an­ ders beurteilt werden. Es sind daher die inhaltsgleichen und in kritischer Weise die abweichenden Aussagen des EuGH zu erörtern.

573 574 575 576

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

EuGH, Urt EuGH, Urt EuGH, Urt. EuGH, Urt.

v. 06.06.2000, Rs.C-35/98, FR 2000, S. v. 06.06.2000, Rs.C-35/98, FR 2000, S. v. 06.06.2000, Rs.C-35/98, FR 2000, S. v. 06.06.2000, Rs.C-35/98, FR 2000, S.

720, 720, 720, 720,

724 Rz. 56. 724 Rz. 57. 724 Rz. 58. 724 Rz. 62.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

161

Zunächst geht der Gerichtshof, wie auch hier vertreten577, von der Erfassung des grenzüberschreitenden Gesellschaftsanteilerwerbs und der grenzüberschreitend gezahlten Gewinnausschüttung durch die Kapitalverkehrsfreiheit und somit Art. 56 Abs. 1 EGV aus578. Übereinstimmung mit dem EuGH579 besteht in der Ar­ beit580 auch dahingehend, daß mitgliedstaatliche Vorschriften, die eine grenzüber­ schreitende Kapitalanlage aufgrund der Nichtgewährung eines Steuervorteils für eine Auslandsanlage oder für einen Steuerausländer wirtschaftlich unattraktiver machen, einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit darstellen. Weiterhin macht der EuGH in seiner Entscheidung deutlich, wie dies auch hier ausführlich erörtert wurde581, daß Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV einen materiellen Rechtfertigungsgrund darstellt. Der Gerichtshof kommt über seine Aussagen zu Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV und das Zusammenspiel dieser Norm mit Art. 58 Abs. 3 EGV zur Prüfung der verschiedenen materiellen Rechtfertigungsgründe, wie z.B. der Kohärenz der Steuerregelung582. Für den Zusammenhang zwischen Artt. 58 Abs. 1 lit. a und 58 Abs. 3 EGV stellt der EuGH583 ebenfalls in Übereinstimmung mit den hier ge­ machten Ausführungen584 klar, daß die Steuervorschriften des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV von Art. 58 Abs. 3 EGV erfaßt und in ihrer europarechtlichen Zulässigkeit begrenzt werden. Dies korrespondiert mit den in dieser Arbeit durchgehend ver­ wandten Begriffen der ’’Schranke“ für Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV und der ’’Schranken-Schranke“ für Art. 58 Abs. 3 EGV.

Eine von der mittlerweile ergangenen EuGH-Entscheidung ’’Verkooijen“ abwei­ chende Aufassung wird in dieser Arbeit zum Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV und zu der Kohärenz der Steuerregelungen als Rechtfertigungsgrund vertre­ ten. Erstens wird hier vom konstitutiven Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als Rechtfertigungsnorm für kapitalverkehrsbeschränkende Steuemormen ausge­ gangen585, wogegen der EuGH nunmehr seine Auffassung eines rein deklaratori­ schen Gehalts der Norm deutlich ausgesprochen hat586. Zweitens wird hier das Argument der Kohärenz der Steuerregelungen auch bei der Körperschaftsteueran­ 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586

Vgl. Kapitel 2 B. I. 3. a) und Kapitel 3. A. I. 1. a) aa). Vgl. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000,S. 720, 722 Rz. 30. Vgl. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000,S. 720, 722 Rz. 36. Vgl. Kapitel 3. A. I. a) aa), b) aa), c) aa), d) aa) und Kapitel 3. B I. 1. a). Vgl. Kapitel 2 A.I. 2. b) und d). Vgl. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000,S. 720, 723 Rz. 43 ff. Vgl. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000,S. 720, 723 Rz. 45. Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. b) bb) und Kapitel 2. A. II. 3. Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. c) und Kapitel 2 A. I. 3. Vgl. EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000,S. 720, 723 Rz. 43.

162

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

rechnung, bei der die steuerrechtliche Ebene der Kapitalgesellschaft und des pri­ vaten Anteilseigners miteinander verknüpft werden, angewandt587. Dagegen hat der EuGH ein derartiges Verständnis der Kohärenz mittlerweile abgelehnt, da es sich hierbei um zwei getrennte Besteuerungen von verschiedenen Steuerpflichti­ gen handele und es an einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Be­ steuerung auf der Gesellschafts- und Anteilseignerebene mangele588.

Die deutlichen Aussagen des EuGH zum Bedeutungsgehalt des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV sind für das Gesamtverständnis der Kapitalverkehrsfreiheit begrüßens­ wert589. Zu bedauern ist jedoch die Kürze der für den deklaratorischen Gehalt der Vorschrift gegebenen Begründung. Diese stützt sich vorrangig darauf, auf die in den Entscheidungen ’’Schumacker“590 und ’’Bachmann“591 zum Vorliegen steuer­ rechtlich bedingter Eingriffe in die Grundfreiheiten und zu ihrer Rechtfertigung vorgestellten Argumente zu verweisen. Dabei ist eine individuelle Ausrichtung der Begründung auf die im Fall ’’Verkooijen“ vorliegende kapitalverkehrsbe­ schränkende Steuemorm zu vermissen, da dies auch einen Vergleich zu den in die Arbeitnehmerfreizügigkeit592 bzw. die Dienstleistungsfreiheit593 eingreifenden Steuemormen umfassen müßte. Weder in der ”Schumacker“-Entscheidung noch im ”Bachmann“-Urteil war der Prüfungsmaßstab des EuGH die Kapitalverkehrs­ freiheit. Es wäre daher eine genauere Auseinandersetzung mit dem nach der hier vertretenen Ansicht594 besonderen Charakter kapitalverkehrsbeschränkender Steuemormen sehr wünschenswert gewesen.

Der EuGH hätte sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob parallel zur ”Schumacker“-Entscheidung auch bei den den Kapitalverkehr betreffenden Steu­ emormen, die nach dem unterschiedlichen Wohn- oder Kapitalanlageort der Steuerpflichtigen i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV differenzieren, keine Ver­ gleichbarkeit der steuerlichen Situation gegeben ist. Im Rahmen dieser Frage wäre dem EuGH sicherlich aufgefallen, daß dem ”Schumacker“-Urteil, wie auch dem späteren ”Wielockx“-Urteil, personenbezogene Steuemormen595 zugrundelagen, 587 588 589 590 591 592 593 594 595

Vgl. Kapitel 3 A. 1. b) cc), c) cc) und d) cc). Vgl. EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 724 Rz. 58. Vgl. Dautzenberg, FR 2000, S. 725,726; Saß, FR 2000, S. 1270, 1272. EuGH, Urt v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225 ff. EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249 ff. So im ’’Schumacker“- und im ”Bachmann“-Urteil. So im ’’Bachmann“-Urteil. Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. c) und Kapitel 2 A. I. 3. Es ging um den Splitting-Vorteil und die Einkommensteuerveranlagung bzw. den Abzug von Altersrücklagen von den Einkünften.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

163

wodurch möglicherweise bei auf das Steuerobjekt der Kapitaleinkünfte bezogenen Vorschriften eine andere Beurteilung hinsichtlich der Vergleichbarkeit der steu­ erlichen Situation eröffnet sein kann. Der EuGH hat daher zu der hier vertretenen Auffassung, daß bei kapitaleinkünftebezogenen Steuemormen die Vergleichbar­ keit der steuerlichen Situation gegeben sei596, leider nicht genauer Stellung bezo­ gen.

Der Verweis des EuGH auf die in der ”Bachmann“-Entscheidung zur Rechtferti­ gung des Eingriffs in die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungsfrei­ heit herangezogenen Gründe des Allgemeininteresses läßt eine Anmerkung zur bisher im Rahmen der Kapitalverkehsfreiheit erfolgten Anerkennung dieses Rechtfertigungsgrundes vermissen. In der nach dem ”Bachmann“-Urteil ergan­ genen ”Veronica“-Entscheidung hat der EuGH das in seinem "Cassis-de-Dijon"Urteil597 zum Warenverkehr entwickelte Konzept der ungeschriebenen Ausnah­ men der Grundfreiheiten auf den Kapitalverkehr598 übertragen. Allerdings wären die ungeschriebenen Gründe des Allgemeininteresses nach den Grundsätzen des ”Cassis-de-Dijon”-Urteils nur bei unterschiedslos anwendbaren kapitalverkehrs­ beschränkenden Regelungen, d.h. bei solchen, die gleichermaßen für in- und ausländische Personen bzw. Kapitalanlagen gelten, anwendbar. Dies würde zu ihrer Unanwendbarkeit bei den kapitalverkehrsbeschränkenden Steuervorschriften fuhren, da diese gerade auf einer Diskriminierung, d.h. einer nicht sachgerechten unterschiedlichen Behandlung eines gebietsfremden Kapitalanlegers gegenüber einem gebietsansässigen bzw. einer ausländischen Kapitalanlage gegenüber einer inländischen, beruhen. Dazu nimmt der EuGH in seinem ”Verkooijen“-Urteil aufgrund der Kürze seiner Begründung zum deklaratorischen Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV nicht Stellung. Hier wurde dagegen aufgrund der bishe­ rigen Entwicklung der Kapitalverkehrsfreiheit neben dem konstitutiven Charakter des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV auch seine Rolle als abschließende Rechtferti­ gungsnorm für steuerrechtlich bedingte Kapitalverkehrsbeschränkungen festge­ stellt599.

Die Aussagen des EuGH zum Rechtfertigungsgrund der Kohärenz der Steuerrege­ lungen sind insoweit begrüßenswert, als sie dazu beitragen, das Verständnis des Gerichtshofs von diesem seit der ”Bachmann“-Entscheidung in der Diskussion 596 597 598 599

Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. c) bb). EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Rs. C-l20/78, Sig. 1979, S. 649 ff. Vgl. EuGH, Urt. v. 03.02.1993, Rs. C-148/91, Sig. I 1993, S. 487, 518 ff. Kapitel 2 A. I. 3.

164

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

stehenden Begriff600 zu konkretisieren. Der EuGH geht nunmehr davon aus, daß die Kohärenz der Steuerregelungen als Rechtfertigungsgrund nicht anwendbar sei, wenn die in Betracht kommenden Normen unterschiedliche Rechtssubjekte beträ­ fen, einmal die Gesellschaft, zum anderen die Gesellschafter601. Kohärenz kann nach dieser Ansicht nur zwischen Normen bestehen, deren Adressat ein und das­ selbe Rechtssubjekt sei.

Das nunmehr vom EuGH aufgestellte Erfordernis der Personenidentität für die Anwendbarkeit der Kohärenz der Steuerregelungen ist ein Novum602. Dieses Er­ fordernis ist in der bisherigen EuGH-Rechtsprechung noch nicht angedeutet worden, wurde aber teilweise in der Literatur in die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ’’Svenson/Gustavsson“ hineininterpretiert603. Die grundsätzliche Notwendigkeit der Steuerrechtssubjektidentität kommt überraschend, zudem von anderer Seite mittlerweile erörtert wurde, daß es dieses neuen Kriteriums zur Ab­ lehnung des Kohärenzarguments im Fall ’’Verkooijen“ gar nicht bedurft hätte604. Der EuGH versperrt durch das neue Erfordernis die Anwendung der Kohärenz als Rechtfertigungsgrund auch in den Fällen der Körperschaftsteueranrechnung. In dieser Arbeit wird in Kapitel 3 A. I. 1. davon abweichend von einer Definition der Kohärenz der Steuerregelungen ausgegangen, die diesen Rechtfertigungsgrund bei der Körperschaftsteueranrechnung trotz der dabei erfolgenden Verknüpfung der Besteuerungsebenen der Gesellschaft und des Anteilseigners anwendbar macht. Im Hinblick auf die Besteuerungsmaterie ’’Gewinne der Kapital­ gesellschaft“ besteht aufgrund der mit dem deutschen Körperschaftsteueranrech­ nungssystem einhergehenden steuerrechtlichen Verknüpfung der Gesellschaftsund Gesellschafterebene gerade der funktionale Zusammenhang zwischen den zugrundeliegenden Normen, den die Kohärenz im Sinne der bisherigen EuGHRechtsprechung voraussetzt. Bei der Körperschaftsteueranrechnung würde man den bestehenden und aus Gründen der Steuergerechtigkeit gewollten funktionalen Zusammenhang zwischen der Besteuerung der Gesellschafts- und der Gesell­ schafterebene aufheben, wenn man mit der neuen Auffassung des EuGH die Ko­ härenz der Steuerregelungen nur bei Steuerrechtssubjektidentität annehmen würde. Im deutschen Körperschaftsteueranrechnungsverfahren ist die Kohärenz des Systems der Ertragsbesteuerung nur gewährleistet, wenn die Gewinne der 600 Vgl. z.B. die Definitionsversuche und kritischen Stellungnahmen bei Terra/Wattel, European Tax Law, 2. Aufl., 1997, S. 24; Reimer, in: Lehner, Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 60 ff.; Prokisch, in: Lehner, a.a.O., S. 128. 601 Vgl. EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 724 Rz. 58. 602 /7aAn, IStR 2000, S. 436,437. 603 Vgl. Matika, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 109. 604 Vgl. HoAn, IStR 2000, S. 436,437.

Art. 58 EGV - Systematik und Anwendung in der Rechtsprechung

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Kapitalgesellschaft jedenfalls einmal besteuert werden, was bekanntlich bei den steuerinländischen Anteilseignern geschieht, oder, wenn dies wie bei Steueraus­ ländem mangels Anwendbarkeit des Welteinkommensprinzips nicht möglich ist, auf der Ebene der Gesellschaft, indem durch den Ausschluß der Steuerausländer vom Anrechnungsverfahren, die Körperschaftsteuerbelastung definitiv wird.

Trotz der nachfolgend in Kapitel 3. A. I. 1. verwandten, von dem neuen EuGHUrteil abweichenden Definition der Kohärenz der Steuerregelungen ist unbedingt darauf hinzuweisen, daß der EuGH den deutschen Körperschaftsteuerregelungen, wie z.B. § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG, den „europarechtlichen Todesstoß“605 versetzt haben dürfte. Es wird jedoch auch von anderer Seite darauf hingewiesen, daß das Abstellen des EuGH im Rahmen des Kohärenzarguments auf die Steuer­ rechtsubjekteigenschaft unter vielerlei Gesichtspunkten höchst problematisch sein dürfte und mit der Sichtweise des ICI-Urteils kollidieren dürfte606.

605 So Mossner, Neue Dividendenbesteuerung aus der Sicht des EU- und DBA-Rechts, in: Lüdicke (Hrsg.), In­ ternationale Aspekte der Untemehmenssteuerrefonn, S. 27,47. 606 So AfaAn, IStR 2000, S. 436,438.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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Kapitel 3: Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf ausgewählte Vorschriften des deutschen Steuerrechts Nach den Ausführungen zur Systematik des Art. 58 EGV und seiner Anwendung auf Sachverhalte der EuGH-Rechtsprechung ist dieses Kapitel der Vereinbarkeit verschiedener Vorschriften des deutschen Steuerrechts mit der Kapitalverkehrs­ freiheit und somit insbesondere mit ihrer in Art. 58 EGV geregelten ’’Schranke” gewidmet. Nach einem Blick in die Aufzählung der Einkünfte aus Kapitalvermögen in § 20 EStG ist festzustellen, daß der Erwerb von Gesell­ schaftsanteilen und Kapitalforderungen die am weitesten verbreitete Grundlage zur Erzielung von Kapitaleinkünften sein dürfte, der sich der klassische Portfo­ lioinvestor bedient. Diese Kapitalanlageformen bieten aufgrund der hohen Inno­ vation der Investmentbranche ein vielfältiges Angebot für jeden risikofreudigen oder -abgeneigten Anleger und können einfach über den Kapitalmarkt erworben und veräußert werden. Es wird daher im folgenden die nach deutschem Steuer­ recht geltende Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 EStG, die aus grenzüberschreitenden Kapitalanlagen resultieren, untersucht. Die nach § 20 EStG nicht als Kapitaleinkünfte qualifizierten, sondern unter die sonstigen Einkünfte (vgl. § 22 EStG) fallenden Einkünfte aus privaten Veräußerungsge­ schäften, die z.B. durch die Anschaffung und Veräußerung von Wertpapieren erzielt werden607, sind trotz ihrer Verbindung mit dem Erwerb von Kapitalanlagen nicht Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung. Die Qualifizierung der Kapi­ taleinkünfte durch das deutsche Einkommensteuerrecht definiert so auch die Grenzen der Untersuchung.

Die Betrachtung erfolgt aus der Sicht einer natürlichen Person als Kapitalanleger, deren Beteiligungsquote beim Halten von Gesellschaftsanteilen die Grenze einer wesentlichen Beteiligung i.S.d. § 17 Abs. 1 S. 4 EStG (mindestens 10%ige un­ mittelbare oder mittelbare Beteiligung608) unterschreitet. Daneben wird davon ausgegangen, daß der Kapitalanleger im Anlagestaat neben der Erzielung inlän­ discher Einkünfte aus Kapitalvermögen keine anderen inländischen Besteue­ rungstatbestände erfüllt, die zu einer Zuordnung der Kapitaleinkünfte zu einer 607 Vgl. § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG. 608 Die Beteiligungsgrenze wird durch das sogenannte Steuersenkungsgesetz (Gesetz vom 23.10.2000, BGBl. 2000 I, S. 1433), das zum 01.01.2001 in Kraft getreten ist, auf mindestens 1 % abgesenkt, wobei § 17 EStG n.F. gemäß § 52 Abs. 34a EStG n.F. grundsätzlich frühestens ab dem 01.01.2002 anwendbar ist.

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

anderen Einkunftsart fuhren können609. Diese Prämissen dienen der Ausrichtung der nachfolgenden Untersuchung auf die steuerliche Situation des klassischen Kleinanlegers, da hier einerseits eine deutliche kapitalverkehrsbeschränkende Wirkung der deutschen Steuemormen festzustellen ist und andererseits für ju­ ristische Personen andere Regelungen gelten, die aufgrund ihrer Komplexität und der Gestaltungsmöglichkeiten die Grenzen dieser Arbeit überschreiten würden. Das steuerrechtliche Regime der juristischen Personen als Kapitalanleger ist teilweise anders geregelt, da gemäß § 8 Abs. 2 KStG bei nach dem Handelsge­ setzbuch Buchfuhrungspflichtigen eine Umqualifzierung aller Einkünfte in solche aus Gewerbebetrieb erfolgt. Zudem ist im Bereich der juristischen Personen aufgrund der möglichen Beteiligungskonstellationen (z.B. Holdinggesellschaften, Zwischengesellschaften, Organschaften) in Verbindung mit ihren steuer­ rechtlichen Folgen (z.B. Schachtelprivileg) ein Spektrum von Gestaltungsmög­ lichkeiten eröffnet, das eine Betrachtung im Rahmen der dieser Arbeit gesetzten Grenzen nicht ermöglicht.

Es wird nachfolgend bei der Erörtertung der grenzüberschreitenden Kapitalan­ lagen des Kleinanlegers die anteilseignerbezogene Behandlung der auf die Ge­ winnausschüttungen der Kapitalgesellschaft erhobenen Köiperschaftsteuer (Teil A) von der bei Dividenden- und Zinseinkünften anfallenden Kapitalertrag­ steuer (Teil B) getrennt. Diese Aufteilung wird durch die Tatsache bestimmt, daß die Körperschaftsteuer die Ertragsteuer der ausschüttenden Kapitalgesellschaft, die Kapitalertragsteuer aber die im voraus gezahlte Einkommensteuer des Kapi­ talanlegers ist. Die Divergenz des Steuerschuldners der beiden Ertragsteuem rechtfertigt diese Zweiteilung, obwohl gerade die Körperschaftsteueranrechnung beim inländischen Anteilseigner eine Verknüpfung der beiden steuerlichen Ebe­ nen der Gesellschaft und des Gesellschafters bedeutet. Letzterem Aspekt kann auch innerhalb der beiden Abschnitte Rechnung getragen werden, ohne die dem Verständnis abträgliche hohe Komplexität einer direkten Gesamtbetrachtung beider Ertragsteuem zur Folge zu haben. Die Erörterung der Vorschriften zur Körperschaft- und Kapitalertragsteuer beschränkt sich auf die Regelungen des Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetzes. Die Sondervorschriften zu diesen Ertragsteuem bei Wertpapier-Sondervermögen im Gesetz über Kapital­

609 Gedacht ist hier z.B. an § 20 Abs. 3 EStG, der die Zurechnung der Kapitaleinkünfte z.B. zu gewerblichen Einkünften festlegt. Vgl. zur Anwendbarkeit der Zuordnungsnorm des § 20 Abs. 3 EStG bei den inländischen Einkünften eines Steuerausländers gern. § 49 Abs. 1 Nr. 5 EStG: Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 49 Rdnr. 3; Lüdicke, in: Lademann/Söffing, EStG, § 49 Rdnr. 651 f.

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anlagegesellschaften (KAGG)610 können im Hinblick auf den begrenzten Umfang dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden.

A. Körperschaftsteuer Das deutsche Steuerrecht enthält verschiedene Normen zur Körperschaftsteuer, die aufgrund ihrer differenzierenden Geltung für Steuerin- und -ausländer als Ka­ pitalanleger die europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit berühren. Insbesondere die Vorschriften zum deutschen Körperschaftsteueranrechnungssystem sehen eine unterschiedliche Behandlung von Gebietsansässigen und -fremden und von inund ausländischen Kapitalanlagen vor, die eine Beschränkung des Kapitalver­ kehrs darstellen können. Diese Normen werden daher nachfolgend auf ihre Ver­ einbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit untersucht, wobei der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als Eingriffsrechtfertigung große Bedeutung zukommt.

Neben den hier erörterten Vorschriften ist im Zusammenhang der Körper­ schaftsteueranrechnung auf das Problem des sog. ’’Dividendenstrippings” hinzu­ weisen, das der deutsche Gesetzgeber versucht, durch die komplexen Regelungen in § 50 c EStG zu lösen. Das sog. ’’bilaterale Dividendenstripping”611 steht für einen grenzüberschreitenden Sachverhalt, bei dem ein nicht im Inland ansässiger Eigentümer deutscher börsennotierter Aktien, dem nach derzeitiger Rechtslage das Körperschaftsteuerguthaben nicht zusteht (Steuerausländer) diese deutschen Dividendenpapiere vor dem Dividendentermin veräußert, um über den Weg der Veräußerung an einen Anrechnungsberechtigten einen Veräußerungserlös zu erzielen, in dem wirtschaftlich die Dividendenerwartung einschließlich des Kör­ perschaftsteuerguthabens über einen entsprechenden Börsenkurs mitbezahlt worden ist. Der Steuerausländer unterliegt mit diesem Veräußerungserlös regel­ mäßig nicht der deutschen Besteuerung612. Andererseits realisiert der anrech­ nungsberechtigte inländische Erwerber das mit der Dividendenausschüttung verbundene Körperschaftsteuerguthaben im Wege der Steueranrechnung. Darüber hinaus macht er durch Veräußerung der dann ’’leergeschütteten” ("gestrippten”) Anteile zu einem niedrigeren Kurswert einen in Deutschland nach § 23 Abs. 3 EStG relevanten Veräußerungsverlust geltend. Nach dem Dividendentermin erwirbt der Steuerausländer in einem separaten Geschäft Aktien derselben 610 Vgl. §§ 38 ff. KAGG. 611 Definition von Sorgenfrei, IStR 1997, S. 705. 6,2 Vgl. stellvertretend für DBA-Regel ungen Art. 13 Abs. 4 OECD-MA.

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Gattung erneut bzw. kauft diese ’’zurück”. Wirtschaftlich erhält der Steueraus­ länder dadurch das deutsche Körperschaftsteuerguthaben (zumindest teilweise) über den Veräußerungserlös, für den der deutsche Fiskus regelmäßig kein Be­ steuerungsrecht hat. Die im deutschen Steuerrecht mit dem Interesse der Be­ kämpfung dieser Praxis des "bilateralen Dividendenstrippings’' in § 50 c EStG vorgesehenen Regelungen können eine kapitalverkehrsbeschränkende Wirkung besitzen, die zu rechtfertigen wäre613. Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit überschreiten, da die erreichte Komplexität des § 50 c EStG und seine ständigen Änderungen614 die Vorschrift als Stückwerk ständig neu entdeckter Lücken des Mißbrauchs erscheinen las­ sen615.

Im zweiten Teil dieses Abschnitts zur Körperschaftsteuer wird als kurzer Exkurs zur Betrachtung der natürlichen Person als Kapitalanleger der durch das Steue­ rentlastungsgesetz 1999/2000/2002 abgeschaffte Betriebstättensteuersatz616 für beschränkt körperschaftsteuerpflichtige Kapitalgesellschaften im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit untersucht. Dies scheint für das Verständnis des Bezugs dieser noch recht jungen Gesetzesänderung zur Kapitalverkehrsfreiheit geboten.

I.

System der Körperschaftsteueranrechnung

Das deutsche System der Körperschaftsteueranrechnung gilt nach einer einschnei­ denden Steuerreform seit 1977 und hat aufgrund seiner Komplexität und der sich selbst dem geschulten Juristen schwer erschließenden Gesetzesvorschriften617 eine umfangreiche Erörterung in Literatur und Rechtsprechung bewirkt618. Das auf in­ ländische Sachverhalte begrenzte Anrechnungssystem löst das Problem der wirt­ schaftlichen Doppelbelastung619 des von einer inländischen Kapitalgesellschaft 613 Dazu Sorgenfrei, IStR 1997, S. 705 ff. und S. 737 ff. 614 Vgl. die jüngste Änderung in § 50 c Abs. 3 Satz 2 durch Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 19.12.1998, BGBl. 1998 I, S. 3779,3836. 615 Vgl. auch die jüngste Entscheidung des BFH zum Dividendenstripping, Urt. v. 15.12.1999, Az. I R 29/97. 616 Vgl. § 23 Abs. 3 KStG a.F.; aufgehoben durch Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 24.03.1999, BGBl. 1999 IS. 402 ff. 617 Vgl. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Untemehmenssteuerrecht, § 18 I, S. 621; Thiel, DB 1976, S. 1495 ff. in sei­ nem ’’Wegweiser durch den Irrgarten der körperschaftsteuerlichen Anrechnungsvorschriften ”. 618 Vgl. Rechtsprechungs- und Literaturnachweise bei: Brenner, in: Kirchhof/Söhn, EStG, § 36; Zimmermann, in: Lademann/Söjfing/Brockhoff, EStG, § 36; Stuhrmann, in: Blümich, EStG, § 36; zu Vereinfachungsvorschlä ­ gen: vgl. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Untemehmenssteuerrecht, § 18 I, S. 621 in Fn. 2. 619 Zum Begriff der Doppelbelastung im Unterschied zur juristischen Doppelbesteuerung vgl. Nachweise in Fn. 347.

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171

ausgeschütteten Gewinns durch die Körperschaftsteuer des ausschüttenden Unter­ nehmens und die Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer des inländischen Anteils­ eigners. Dabei ist gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG eine Anrechnung der gesam­ ten von der ausschüttenden Kapitalgesellschaft zu entrichtenden Körper­ schaftsteuer auf die Einkommensteuerschuld des Gesellschafters vorgesehen (Vollanrechnungssystem), wobei gleichzeitig die anzurechnende Körper­ schaftsteuer nach § 20 Abs. 1 Nr. 3 EStG vollständig unter die von dem Kapital­ anleger zu versteuernden Einkünfte aus Kapitalvermögen fällt.

Dieses Vollanrechnungssystem verwirklicht zwei Grundsätze des deutschen Steu­ errechts: Es gewährleistet die Steuemeutralität hinsichtlich der verschiedenen Einkünfte und berücksichtigt das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfä­ higkeit. Im Hinblick auf die Steuemeutralität stellt das Anrechnungsverfahren durch Zusammenfuhren der Besteuerungsebenen der beiden Steuersubjekte (Gesellschaft und Gesellschafter) sicher, daß die Dividendeneinkünfte beim An­ teilseigner der gleichen steuerlichen Belastung unterliegen wie Einkünfte, die dem Steuerpflichtigen direkt zugerechnet werden (z.B. Einkünfte aus selbständi­ ger Arbeit). Es gewährleistet auf diese Weise die Gleichbehandlung der ver­ schiedenen Einkunftsarten, die einen Bestandteil des Prinzips der Steuergerech­ tigkeit bildet. Gleichzeitig ermöglicht das Anrechnungssystem, bei dem die Divi­ dendeneinkünfte aufgrund der Anrechnung des Körperschaftsteuerguthabens auf die persönliche Steuerschuld nur dem individuellen Steuersatz des Anteilseigners unterliegen, daß die Höhe der Ertragsteuer nach der Leistungsfähigkeit des Ge­ sellschafters bemessen wird. Sie dient somit der Verwirklichung des Leistungs­ fähigkeitsprinzips, eines weiteren Fundamtentalprinzips der Steuergerechtig­ keit620.

Diese Vorteile des Anrechnungssystems erscheinen jedoch bei einer europarecht­ lich ausgerichteten Betrachtung der zugrundeliegenden Normen in einem anderen Licht. Den bei einer auf Deutschland ausgerichteten Binnenbetrachtung positiven Effekten des Systems stehen, wie nachfolgend erörtert wird, bei grenzüberschrei­ tenden Sachverhalten europarechtliche Bedenken hinsichtlich der Kapitalver­ kehrsfreiheit gegenüber. Bei der Prüfung dieser Grundfreiheit kommt der Kapi­ talverkehrsschranke des Art. 58 EGV eine für die Rechtmäßigkeit der deutschen Körperschaftsteueranrechnung essentielle Rolle zu.

620 Zum Leistungsfähigkeitsprinzip vgl. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuemormen, 1983; Tipke/Lang, Steuerrecht, 16. Aufl., 1998, § 4 C. 1.2, S. 82 ff. m.w.N.

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Das System der Körperschaftsteueranrechnung findet nur noch auf Dividenden­ ausschüttungen im Veranlagungszeitraum 2001 Anwendung. Nach dem zum 01.01.2001 in Kraft getretenen Steuersenkungsgesetz621 wird grundsätzlich622 ab dem 01.01.2002 das Anrechnungsverfahren durch das sogenannte Halbeinkünfte­ verfahren ersetzt623. Aufgrund dieser Situation werden der nachfolgenden Unter­ suchung sowohl die noch anwendbaren Rechtsvorschriften als auch das für Aus­ schüttungen ab dem Jahr 2002 geltende System zugrundegelegt.

1.

Das noch geltende Körperschaftsteuersystem und Artt. 56 ff. EGV

Nach dem noch geltenden Körperschaftsteuersystem wird bei einem in Deutsch­ land unbeschränkt steuerpflichtigen Dividendenempfänger gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG die Körperschaftsteuer der in Deutschland unbeschränkt körper­ schaftsteuerpflichtigen, ausschüttenden Kapitalgesellschaft in voller Höhe624 auf die Einkommensteuer angerechnet. Gleichzeitig gehört diese anzurechnende Körperschaftsteuer gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 3 EStG zu den Einkünften aus Kapi­ talvermögen des Dividendenempfangers. Aufgrund der Körperschaftsteueran­ rechnung beim unbeschränkt steuerpflichtigen Anteilseigner stellt die Körper­ schaftsteuer in Höhe von 30 % eine sogenannte Anrechnungssteuer dar«25.

Anders gestaltet sich die Besteuerung der inländischen Dividenden bei in Deutschland beschränkt Steuerpflichtigen. Sie sind gemäß § 50 Abs. 5 S. 2 EStG grundsätzlich von der Körperschaftsteueranrechnung ausgeschlossen. Eine An­ rechnung ist nach § 50 Abs. 5 S. 3 EStG nur für den Ausnahmefall möglich, daß die Dividendeneinkünfte Betriebseinnahmen eines inländischen Betriebes sind. Die Anrechnung in Deutschland als Betriebstättenstaat gilt dann für den Normalfall, daß der ausländische Sitzstaat die Freistellungsmethode praktiziert, und ist nur im Sonderfall der Anwendung der Anrechnungsmethode im ausländi­ schen Sitzstaat nach § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 S. 4 lit. e EStG ausgeschlossen. Für beschränkt Steuerpflichtige ist die Belastung ihrer Dividendeneinkünfte mit der Gesetz vom 23.10.2000, BGBl. 20001, S. 1433. Abweichungen bestehen bei vom Kaiendeijahr abweichenden Wirtschaftsjahren. Vgl. § 52 Abs. 4 a Nr. 1 EStG n.F. i.V.m. § 34 Abs. 10 a Nr. 1 i.V.m. § 34 Abs. 1 KStG n.F. In Höhe von 3/7 der Bardividende, also in Höhe der Ausschüttungsbelastung von 30 % des unversteuerten Gewinns. 625 Vgl. ausführlich zu den verschiedenen möglichen Strukturkomponenten der Körperschaftsteuersysteme (Anrechnungs-, Definitiv-, Temporärstcuersatz): Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 453 ff.

621 622 623 624

Art, 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

173

Körperschaftsteuer in Deutschland definitiv626, so daß von einer Defmitivsteuer gesprochen wird. Die Dividendeneinkünfte unterliegen im Wohnsitzstaat des An­ teilseigners vollständig der Einkommensteuer, wobei keine Anrechnung der in Deutschland vereinnahmten Körperschaftsteuer erfolgt627. Die Anrechnungsvor­ schriften des nationalen Rechts628 bzw. der DBA629 vermeiden nur die internatio­ nale juristische Doppelbesteuerung, nicht aber die wirtschaftliche Doppelbela­ stung630, da sie für die anzurechnende Steuer die Identität des Steuerschuldners voraussetzen. Im Fall der hier diskutierten Körperschaftsteueranrechnung entsteht die Doppelbelastung aber durch die von der ausschüttenden Kapitalgesellschaft zu tragende Körperschaftsteuer und die Einkommensteuer der Anteilseigner, so daß keine Identität des Steuerschuldners gegeben ist.

Die Körperschaftsteueranrechnung unterliegt einer zweiten Beschränkung. Sie ist für den Steuerinländer gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG auf die von einer in Deutschland unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaft zu entrichtende Körperschaftsteuer begrenzt. Für die von einer ausländischen, d.h. im Inland nicht unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaft gezahlte Körperschaftsteuer wird dem gebietsansässigen Anteilseigner nach dem deutschen Steuerrecht keine Anrechnung gewährt.

Das geschilderte Normengefuge zeigt, daß die Körperschaftsteueranrechnung in zweifacher Weise an die Unterscheidung nach unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht anknüpft. Einerseits wird die Anrechnung nur den unbeschränkt steuerpflichtigen Anteilseignern gewährt, andererseits ist die Anrechnung auf die Gewinnausschüttung einer unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Kapital­ gesellschaft beschränkt. Daraus läßt sich für die Untersuchung der Vereinbarkeit der deutschen Vorschriften zur Körperschaftsteueranrechnung mit der Kapitalver­ kehrsfreiheit eine problemstrukturierende Gliederung ableiten. Die Differen

626 Gilt für alle in EU-Mitgliedstaaten ansässigen Anteilseigner; in manchen DBA wird eine Körperschaftsteu­ ergutschrift auch im Ausland ansässigen Gesellschaftern gewährt (Art. 10 Abs. 3 DBA-Schweiz, Art. 10 Abs. 3 DBA-USA). 627 Vgl. die Übersicht über die EU-Staaten bei Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 550 ff. 628 Vgl. filr Deutschland § 34 c Abs. 1 EStG: Anrechnung "der der deutschen Einkommensteuer entsprechenden Steuer”. 629 Vgl. Art. 23 B Abs. 1 OECD-MA: Anrechnung des "Betrags, der der im anderen Staat gezahlten Steuer vom Einkommen entspricht". 630 Vgl. zu den Begriffen Nachweise in Fn. 347.

174

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

zierung nach der Steuerpflicht des Anteilseigners bestimmt die beiden ersten Abschnitte, in denen folgende beiden Konstellationen untersucht werden:

a)

Nichtgewährung des Anrechnungsguthabens an Steueraus­ länder

b)

Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer bei Steuerinländem

An die Betrachtung des Steuerinländers im zweiten Abschnitt schließen sich zwei weitere zu erörtende Probleme an, die ebenfalls im Falle inländischer Anteilseig­ ner631 die Möglichkeit der ausschüttenden Körperschaft zur Vermittlung eines An­ rechnungsguthabens betreffen:

c)

Möglichkeit der ausländischen Körperschaft zur Vermittlung

eines Anrechnungsguthabens für im Inland erwirtschaftete Gewinne

d)

Möglichkeit der inländischen Körperschaft zur ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer an den inländischen Anteilseigner.

Bei letzteren beiden Konstellationen steht die Untersuchung der Ebene der aus­ schüttenden Gesellschaft im Vordergrund (Gesellschaftsebene), wogegen die Ab­ schnitte a) und b) durch die Analyse der Anteilseignerebene bestimmt werden.

631

Im folgenden werden die Begriffe "inländisch"/"ausländisch" in Abhängigkeit von der Ansässigkeit der Perso­ nen, nicht von ihrer Staatsangehörigkeit verwendet Ebenso werden die Nationalitätenbezeichnungen (z.B. "deutsch", "niederländisch") von der Ansässigkeit der Personen bestimmt.

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a)

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Nichtgewährung des Anrechnungsguthabens an Steuerausländer

Als erstes ist zu erörtern, ob § 50 Abs. 5 S. 2 EStG, der die Körperschaftsteuer­ anrechnung auf Steuerinländer beschränkt, mit der in Artt. 56 ff. EGV geregelten Kapitalverkehrsfreiheit zu vereinbaren ist.

aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV

Die Vorschrift des Art. 56 Abs. 1 EGV verbietet alle Beschränkungen des Kapi­ talverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und damit als Unterform der Beschrän­ kungen auch Diskriminierungen632. Nach § 50 Abs. 5 S. 2 EStG wird der in Deutschland beschränkt steuerpflichtige Empfänger von Dividenden inländischer Kapitalgesellschaften von der Körperschaftsteueranrechnung gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG ausgeschlossen. Für ihn ist die deutsche Körperschaftsteuer in Höhe von 30 % in Deutschland definitiv und wird auch in seinem Wohnsitzstaat nicht angerechnet633. Dagegen wird dem inländischen Anteilseigner die inländi­ sche Körperschaftsteuer gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG auf seine Einkom­ mensteuer angerechnet, so daß es sich für ihn um eine Anrechnungssteuer han­ delt.

Die grenzüberschreitende Dividendenzahlung, die ja an sich Folge der Kapitalan­ lage ist, wird, wie der EuGH vor kurzem bestätigt hat634, von der Kapitalverkehrs­ freiheit nach Art. 56 Abs. 1 EGV erfaßt. Er stellte fest, daß die Dividendenaus­ schüttung “untrennbar mit einer Kapitalbewegung verbunden ist“635.

Die nach Steuerin- und -ausländem differenzierenden Vorschriften zur Körper­ schaftsteueranrechnung könnten eine Diskriminierung als Unterfall der Beschrän­ kung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV darstellen. Eine Diskriminierung durch eine Steu­ emorm ist gegeben, wenn Sachverhalte ungleich behandelt werden, obwohl die steuerliche Situation der Personen im Hinblick auf die anzuwendende Steuemorm grundsätzlich gleich liegt, oder wenn Sachverhalte trotz wesentlich verschiedener

632 633 634 635

Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) bb) (1). Vgl. vorgehend Kapitel 3 A. I. 1. EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720 ff. (Verkooijen). EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 722 Rz. 29 (Verkooijen).

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Ausgangslage gleich behandelt werden636. Die Prüfung einer Diskriminierung be­ steht also aus zwei Schritten: erstens Feststellung der Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation der beiden Personen, zweitens Feststellung des Vorliegens einer unterschiedlichen Behandlung der beiden durch die Steuemorm.

(1) Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation des unbeschränkt und be­ schränkt Steuerpflichtigen hinsichtlich der inländischen Körper­

schaftsteuer

Es stellt sich zunächst die Frage, ob sich der unbeschränkt und beschränkt Steu­ erpflichtige hinsichtlich der inländischen Körperschaftsteuer in einer vergleichba­ ren steuerlichen Situation befinden. Dazu liegt bisher keine Rechtsprechung des EuGH vor, und es ist daher sehr schwierig vorauszusagen, wie er diese Frage be­ urteilen wird637. Bei der Prüfung der Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation ist immer auf den Einzelfall, d.h. die konkret in Frage stehende innerstaatliche Be­ steuerungsnorm, nicht aber auf einen Gesamtvergleich der steuerlichen Situation der beiden Personen abzustellen638. Die Untersuchung der vergleichbaren steuerli­ chen Situation kann auf der Grundlage einer wirtschaftlichen oder rechtlichen Be­ trachtungsweise erfolgen639. Die wirtschaftliche Situation in- und ausländischer Anteilseigner ist vergleichbar. Da beide unter gleichen wirtschaftlichen Bedingungen tätig sind, müßten sie auch die gleiche Rendite nach Steuern erhalten640.

Der EuGH untersucht dagegen die Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation im­ mer auf der Grundlage der steuerrechtlichen Norm, die die Ungleichbehandlung vorsieht641. Die Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation ist gegeben, wenn die mitgliedstaatliche Steuerordnung in bezug auf Modalitäten und Voraussetzungen der Besteuerung (z.B. gleiche Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlage, 636 Vgl. ständige Rspr. des EuGH; zu steuerrechtlichen Sach verhalten: EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 259 Rz. 30 (Schumacker); Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2515 Rz. 17 (Wielockx); ausführlich Hinnekens, European Taxation 1996, S. 286 ff. 637 Stahl, EC Tax Review 1997, S. 227,229. 638 Matzka, Österreichisches Steuerrecht und Kapital Verkehrsfreiheit, S. 104 m.w.N. 639 Vgl. Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 512. 640 Da die Rendite nur bei inländischen Anteilseignern durch die Steuergutschri ft erhöht wird, geht Knobbe-Keuk, EC Tax Review 1992, S. 22, 30, von einer Diskriminierung aus. 641 Vgl. EuGH, Urt v. 26.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 305 Rz. 20 (avoir fiscal); Thömmes, in: Ge­ dächtnisschrift Knobbe-Keuk, S.795, 806.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

177

gleicher Tarif) die Gleichbehandlung der beiden Steuerpflichtigen festsetzt. Bei der Besteuerung von ausgeschütteten Untemehmensgewinnen inländischer Kapi­ talgesellschaften erfolgt eine grundsätzliche Gleichbehandlung des unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtigen. Es wird bei beiden auf die Ausschüttung die Körperschaftsteuer mit gleichem Tarif erhoben (vgl. § 27 Abs. 1 KStG). Die Di­ videndeneinkünfte werden bei beiden Steuerpflichtigen mit der auf Bruttobasis berechneten Kapitalertragsteuer mit gleichem Tarif belastet (vgl. §§43 ff. bzw. 49 Abs. 1 Nr. 5 lit. a EStG). Aufgrund dieser Gleichbehandlung der Dividendenein­ künfte befinden sich unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtige hinsichtlich der inländischen Körperschaftsteuer in einer vergleichbaren Situation642.

(2) Unterschiedliche Behandlung durch die deutschen Steuernormen

Die unterschiedliche Behandlung des unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichti­ gen liegt darin, daß ersterem die Körperschaftsteueranrechnung gewährt wird und er somit hinsichtlich der Dividendeneinkünfte nur nach seinem persönlichen Steu­ ersatz besteuert wird. Dagegen wird dem ausländischen Anteilseigner die inländi­ sche Körperschaftsteuer in Deutschland nicht angerechnet, sie wird im Inland definitiv. Darüber hinaus unterliegen die Dividendeneinkünfte nach dem Welteinkommensprinzip auch der Besteuerung im Wohnsitzstaat, was die wirt­ schaftliche Doppelbelastung643 der ausgeschütteten Untemehmensgewinne zur Folge hat. Der Wohnsitzstaat nimmt aufgrund der Ausrichtung der DBA-Vorschriften auf die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung644 ebenfalls keine Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer vor, was ihm jedoch grundsätzlich möglich wäre.

(3) Diskriminierung durch Zusammenwirken von Quellen- und Wohnsitz­

staat

Aus der unterschiedlichen Behandlung des in- und ausländischen Anteilseigners trotz vergleichbarer steuerlicher Situation ergibt sich das Vorliegen einer Dis­ kriminierung und somit einer Beschränkung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV. Die Be­ schreibung der differenzierenden Behandlung hat aber gezeigt, daß die Diskri­ 642 So auch im Ergebnis Mössner/Kellersmann, DStZ 1999. S. 505,513. 643 Vgl. zu diesem Begriff im Unterschied zur juristischen Doppelbesteuerung Nachweise in Fn. 347. 644 Vgl. vorgehend Kapitel 3 A. I. 1.

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minierung sowohl auf der Ebene des Quellenstaates (Ansässigkeitsstaat der aus­ schüttenden Kapitalgesellschaft) durch Anrechnung der inländischen Körper­ schaftsteuer als auch auf der Ebene des Wohnsitzstaates (Ansässigkeitsstaat des Anteilseigners) durch Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer vermie­ den werden kann. Die Diskriminierung ergibt sich also aus dem Zusammenwirken der Steuemormen des Wohnsitz- und Quellenstaates, wobei jeder für sich die Diskrimierung vermeiden könnte645. Der Begriff ’’Zusammenwirken” meint dabei keine Abhängigkeit der Staaten voneinander, die ihnen die einseitige Vermeidung der Diskriminierung unmöglich machen würde, sondern ist als "Überlagerung” der Steuemormen der Staaten mit der Folge einer Diskriminierung zu verstehen. Aufgrund dieser unabhängig voneinander möglichen Vermeidung der Diskrimi­ nierung ist bei der hier gerade untersuchten Körperschaftsteueranrechnung durch Deutschland als Quellenstaat zu klären, ob die Diskriminierung vorrangig durch den Quellenstaat oder den Wohnsitzstaat zu vermeiden ist.

Mit einer Situation, in der sich die Diskriminierung aus dem Zusammenwirken zweier Mitgliedstaaten ergibt, hatte sich der EuGH bisher nur in der Entscheidung ’’Futura”646 zu beschäftigen. In der Entscheidung, in der es um die Buchführungs­ pflicht eines Unternehmens im Sitz- und Betriebstättenstaat ging, hat sich der EuGH nicht genauer mit dem Problem auseinandergesetzt. Er ging selbstver­ ständlich davon aus, daß der Sitzstaat der Gesellschaft von dieser eine umfas­ sende Rechnungslegung fordern kann und daß insoweit das Erfordernis der Buchführung auch im Betriebstättenstaat die Diskriminierung auslöst und daher zu beseitigen ist647. Ein allgemeines Prinzip der Verantwortung des Quellenstaates zur Vermeidung der Diskriminierung läßt sich daraus jedoch nicht ableiten.

In der Rechtsprechung des EuGH im Fall ’’Schumacker” wird für den Fall einer durch die Steuergesetze zweier Mitgliedstaaten entstehenden diskriminierenden Wirkung deutlich, daß der Steuerpflichtige nicht einem ’’negativen Kompetenz­ konflikt”648 der beiden Steuerrechtsordnungen ausgesetzt sein darf*49. Bei Diskri­ minierungen durch das Zusammenwirken der Steuervorschriften zweier Mitglied645

646 647 648 649

So auch Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 513; vgl. Schön, a.a.O, S. 743, 761 und 775; Lehner, RIW 2000, S. 724, der in seiner Urteilsanmerkung auf das die Diskriminierung hervorrufende Zusammenwirken der beiden Rechtsordnungen hinweist EuGH, Urt. v. 15.05.1997, Rs. C-250/95, Sig. I 1997, S. 2471 ff. EuGH, Urt. v. 15.05.1997, Rs. C-250/95, Sig. I 1997, S. 2471, 2500. GA Leger, in: EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 240 Rz. 67; dazu Schön, IStR 1995, S. 119, 121 f. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 762.

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179

Staaten soll sich daher keiner der beiden von vornherein auf die Mitverantwortung des anderen berufen können. Die Frage, wer die Diskriminierung vorrangig zu vermeiden hat, d.h. hier wer für die Körperschaftsteueranrechnung vorrangig verantwortlich ist (Quellenstaat oder Wohnsitzstaat), ist anhand der sachlichen Zuordnung der Besteuerungsgrundlagen zu klären650. Es sind daher die Besteue­ rungsrechte des Quellen- und Wohnsitzstaates bei der grenzüberschreitenden Gewinnausschüttung einer inländischen Kapitalgesellschaft an einen ausländi­ schen Anteilseigner zu untersuchen.

(a) Wohnsitzstaatsverantwortung aufgrund des sonstigen Verstoßes gegen

das Quellenstaatsprinzip

Die Vermeidung der Diskriminierung des Steuerausländers durch eine von Deutschland als Quellenstaat praktizierte Anrechnung bzw. Vergütung der inlän­ dischen Körperschaftsteuer würde einen Verstoß gegen das international aner­ kannte Quellenstaatsprinzip (source country entitlement) bedeuten651. Nach dem Quellenstaatsprinzip gebührt dem Staat, in dem die Untemehmenstätigkeit statt­ findet, in dem also die Einkunftsquelle belegen ist, der nach seinem Steuerrecht anfallende Prozentsatz des Untemehmensgewinns652. Dieses Besteuerungsrecht ist dadurch materiell zu rechtfertigen, daß der Quellenstaat durch Aufbau und Unterhaltung einer funktionierenden Infrastruktur die Voraussetzungen für die Untemehmenstätigkeit schafft653. Das Vorrecht des Quellenstaats auf die Be­ steuerung der im Inland erzielten Kapitaleinkünfte hat sich auch in den geltenden DBA niedergeschlagen, die in der Regel dem Quellenstaat die volle Körper­ schaftsteuer und die der Höhe nach begrenzte Kapitalertragsteuer auf an ausländi­ sche Anteilseigner gezahlte Dividenden zubilligen, während der Wohnsitzstaat die im Ausland gezahlten Körperschaft- und Kapitalertragsteuem entweder an­ rechnet oder nach der Freistellungsmethode auf die Besteuerung der ausländi­ schen Kapitalerträge verzichtet654.

Vgl. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 762. Vgl. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 775. Vgl. zum Quellenstaatsprinzip Nachweise in Fn. 390. Vgl. Hey, Harmonisierung der Untemehmensbesteuerung, S. 163; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 5 Rdnr. 67, S. 136; Vogel, Die Besteuerung von Auslandseinkünften, in: Vogel (Hrsg.), Grundfragen des In­ ternationalen Steuerrechts, Köln 1985, S. 3,20 ff. 654 Vgl. Ault, Tax Law Review Bd. 47 (1992), S. 565, 572; Burmester, JZ 1993, S. 698, 703; Hey, Harmonisie­ rung der Untemehmensbesteuerung, S. 163 m.w.N. 650 651 652 653

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Der Verstoß gegen das Quellenstaatsprinzip entsteht dadurch, daß der Quellen­ staat durch die Anrechnung bzw. Vergütung der inländischen Körperschaftsteuer an den ausländischen Anteilseigner auf sein Besteuerungsrecht verzichten muß655. Bei genauer Betrachtung kann der Quellenstaat nur durch die direkte Vergütung der inländischen Körperschaftsteuer, nicht aber durch die Anrechnung auf die inländische Kapitalertragsteuer die Diskriminierung des Steuerausländers ver­ meiden. Dies liegt darin begründet, daß die Anrechnung der Körperschaftsteuer auf die vom Quellenstaat ebenfalls vereinnahmte Kapitalertragsteuer nicht zu dem im Interesse der Diskriminierungsvermeidung erwünschten Effekt der steu­ erlichen Entlastung des ausländischen Anteilseigners fuhren würde656. Im Wohn­ sitzstaat des Anteilseigners erfolgt ohnehin eine Anrechnung der als Quellen­ steuer erhobenen ausländischen Kapitalertragsteuer nach den DBA-Vorschriften657, so daß eine Minderung der Kapitalertragsteuer durch Anrechnung der Körperschaftsteuer nicht, wie von der Körperschaftsteueranrechnung grundsätz­ lich beabsichtigt, dem Anteilseigner, sondern dem Fiskus des Wohnsitzstaates zugute käme. Durch die daher erforderliche direkte Vergütung der inländischen Körperschaftsteuer an den ausländischen Anteilseigner würde der Quellenstaat aber in voller Höhe auf die Besteuerung der auf seinem Territorium erzielten Einkünfte verzichten, was nicht mit dem Quellenstaatsprinzip (source country entitlement) in Einklang zu bringen ist658.

Der durch die Körperschaftsteuervergütung des Quellenstaats entstehende Ver­ stoß gegen das Quellenstaatsprinzip läßt die vorrangige Verantwortung des Quellenstaats, die Diskriminierung des Steuerausländers zu vermeiden, aus­ scheiden. Es muß aus diesem Grunde dem Wohnsitzstaat die vorrangige Verant­ wortung zur Beseitigung der Diskriminierung durch Anrechnung der ausländi­ schen Körperschaftsteuer auf die inländische Einkommensteuer ’’seines” inlän­ dischen Anteilseigners zukommen.

655 656 657 658

Vgl. Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 514. Vgl. Stähl, EC Tax Review 1997, S. 227, 230. Vgl. Art. 23 A Abs. 2 bzw. Art 23 B OECD-MA. Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 151 m.w.N.; vgl. Hey, Harmonisierung der Untemehmensbesteue­ rung, S. 163 f.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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(b) Wohnsitzstaatsverantwortung aufgrund der Übertragbarkeit der Wohn­

sitzstaatsverantwortung im Rahmen der juristischen Doppelbesteuerung

auf die wirtschaftliche Doppelbelastung

Ein weiteres Argument für die vorrangige Verantwortung des Wohnsitzstaates für die Diskriminierungsvermeidung durch Körperschaftsteueranrechnung liefert die Wohnsitzstaatsverantwortung im Rahmen der juristischen Doppelbesteuerung, die aufgrund der nachfolgenden Begründung auf die hier gegebene wirtschaftliche Doppelbelastung der Untemehmensgewinne659 übertragbar ist.

Das internationale Steuerrecht geht im Falle der juristischen Doppelbesteuerung von der Praxis eines Ausgleichs des Wohnsitzstaates durch Anrechnung oder Freistellung aus660. Es wird also dem Wohnsitzstaat die Ausgleichsverantwortung auferlegt. Die Anrechnung auf die Einkommensteuer durch den Wohnsitzstaat ist danach bei grenzüberschreitend gezahlten Dividenden für die im Ausland erhobene Kapitalertragsteuer, nicht aber für die ebenfalls auf den Gewinnen lastende Körperschaftsteuer vorgesehen. Dies ergibt sich aus Artt. 23 A Abs. 2 i.V.m. 10 Abs. 1 OECD-MA, wonach aufgrund der Ausrichtung der DBA auf die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung661 nur die Kapitalertragsteuer, bei der eine solche aufgrund der Identität des Steuerschuldners gegeben ist, vom Wohnsitzstaat angerechnet wird. Es ergibt sich die Frage, ob die für die juristische Doppelbesteuerung geltende Ausgleichsverantwortung des Wohnsitzstaates auf die wirtschaftliche Doppelbelastung der Dividenden, die der Problematik der Körperschaftsteueranrechnung zugrunde liegt, übertragbar ist.

Für die Anwendbarkeit der Ausgleichsverantwortung des Wohnsitzstaates, die bei der juristischen Doppelbesteuerung gilt, auch bei der Vermeidung der wirt­ schaftlichen Doppelbelastung der Untemehmensgewinne sprechen zwei Argu­ mente: erstens die Erreichung der der Kapitalverkehrsfreiheit zugrundeliegenden Kapitalexportneutralität durch die Wohnsitzstaatsanrechnung, zweitens der Ein­ klang der Wohnsitzstaatsanrechnung mit dem Welteinkommensprinzip. Zunächst ist Hintergrund des freien Kapitalverkehrs innerhalb der EU vorrangig das Prinzip 659 Doppelbelastung durch Körperschaftsteuer der ausschüttenden Kapitalgesellschaft und Einkommensteuer des Anteilseigners. 660 Vgl. Artt. 23 A und 23 B OECD-MA. 661 Vgl. Kluge, Das deutsche Internationale Steuerrecht, S. 15 f.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 12 Rdnr. 3, S. 586 und § 14, S. 596 ff.; Vogel, DBA, Einl. Rdnr. 1 ff.

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der sogenannten Kapitalexportneutralität, welches nur durch die Wohnsitz­ staatsanrechnung realisiert werden kann662. Grundsätzlich werden zwei Konzepte steuerlicher Neutralität in bezug auf grenzüberschreitende Investitionen unterschieden: Kapitalexportneutralität und Kapitalimportneutralität663. Die Kapitalexportneutralität ist verwirklicht, wenn es für einen inländischen Investor unter steuerlichen Gesichtspunkten gleichgültig ist, ob er sein Kapital im Inland oder im Ausland investiert, da beide Investitionsarten der gleichen steuerlichen Belastung unterliegen664. Technisch wird die Kapitalexportneutralität durch eine vollständige Anrechnung der im Quellenstaat erhobenen Steuer im Wohnsitzstaat erzielt. Dagegen ist Kapitalimportneutralität gegeben, wenn auf einem nationalen Markt das Kapital in- und ausländischer Investoren steuerlich gleich behandelt wird. Sie wird grundsätzlich durch die Freistellung der im Ausland erzielten Einkünfte im Wohnsitzstaat erreicht. Für das hier diskutierte Problem der grenzüberschreitenden Körperschaftsteueranrechnung läßt sich eine Gleichbe­ handlung der Kapitalanlagen im Quellenstaat aber auch durch eine dort stattfindende, an inländische und ausländische Kapitalanleger in gleicher Weise gewährte Anrechnung realisieren. Diese Quellenstaatsanrechnung erreicht in dem Wirtschaftsraum der Kapitalanlage ebenfalls eine steuerliche Gleichbehandlung in- und ausländischer Investoren.

Der Vorrang eines dieser geschilderten Konzepte bestimmt sich danach, welches der beiden der europarechtlichen Kapitalverkehrsfreiheit zugrundeliegt. Die in den Artt. 56 ff. EGV etablierte Kapitalverkehrsfreiheit ist auf die freie, grenzüber­ schreitende Bewegung des Kapitals und somit die optimale Verteilung der Investitionen ausgerichtet. Dieser angestrebten Investitionstätigkeit der Kapi­ talanleger aus den verschiedenen Ansässigkeitsstaaten wird die Kapitalexport­ neutralität, nicht aber die Kapitalimportneutralität auf beste Weise gerecht665. Sie fordert durch die steuerliche Gleichbehandlung der inländischen und ausländi­ schen Kapitalanlagen den Kapitalfluß ins Ausland. Daher liegt der Kapitalver­ kehrsfreiheit die Kapitalexportneutralität zugrunde, welche nur durch die Kör­ perschaftsteueranrechnung durch den Wohnsitzstaat, nicht aber durch die des 662 Vgl. O.H. Jacobs, Internationale Untemehmensbesteuerung, S. 252; Stähl, EC Tax Review 1997, S. 227, 232 m.w.N. in Fn. 28 u. 29. 663 Vgl. P. Musgrave, United States Taxation of Foreign Investment Income, Issues and Arguments, in: Harvard Law School, International Tax Program, Cambridge 1969; R. Musgrave, Fiscal Systems, New Haven und London 1969/1971; Gandenberger, Kapitalexportneutralität versus Kapitalimportneutralität, in: Aufsätze zur Wirtschaftspolitik (Nr. 7), hrsg. vom Forschungsinstitut für Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz, 1983. 664 Gandenberger, Kapitalexport- und -importneutralität, S. 1 - 2. 665 Vgl. O.H. Jacobs, Internationale Untemehmensbesteuerung, S. 23, S. 252; O.H. Jacobs/Spengel, FS Ritter, S. 115, 142; Stähl, EC Tax Review 1997, S. 227,232.

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Quellenstaats zu erreichen ist. Folglich ist aus diesem ersten Grund die Wohnsitz­ staatsanrechnung zu verwirklichen, was die Praxis der Wohnsitzstaatsanrechnung im Rahmen der juristischen Doppelbesteuerung auf die wirtschaftliche Doppelbelastung übertragbar macht.

Zweitens steht die Körperschaftsteueranrechnung durch den Wohnsitzstaat im Einklang mit dem international anerkannten Welteinkommensprinzip666, nach dem der Wohnsitzstaat des Steuerpflichtigen aufgrund seines Zugriffs auf die Ge­ samtverhältnisse am besten befähigt ist, den Steuerpflichtigen nach seiner Lei­ stungsfähigkeit umfassend zu besteuern. Bei den hier untersuchten grenzüber­ schreitend gezahlten Dividendeneinkünften sprechen die fehlende Integration des Kapitalanlegers in die sozialen Verhältnisse des Anlagestaates und das re­ sultierende, vemachlässigbare Erfordernis einer Gleichstellung mit den dort ebenfalls auftretenden anderen Kapitalanlegem für eine vorrangige Gleichstellung der Steuerpflichtigen in ihrem Wohnsitzstaat. Diese wird durch die Körper­ schaftsteueranrechnung des Wohnsitzstaates, nicht aber durch die des Quellen­ staates verwirklicht. Auch aus diesem zweiten Grund ist die die Praxis der Wohn­ sitzstaatsanrechnung im Rahmen der juristischen Doppelbesteuerung auf die wirtschaftliche Doppelbelastung übertragbar.

Im Ergebnis begründen also der Verstoß gegen das Quellenstaatsprinzip im Falle der Quellenstaatsanrechnung667 und die Übertragbarkeit der Wohnsitzstaatsan­ rechnung im Rahmen der juristischen Doppelbesteuerung auf die wirtschaftliche Doppelbelastung die vorrangige Verantwortung des Wohnsitzstaates für die Körperschaftsteueranrechnung, d.h. seine Pflicht zur Vermeidung der oben fest­ gestellten Diskriminierung.

(c)

Kritik an der Wohnsitzstaatsanrechnung

Die an der Wohnsitzstaatsanrechnung geübte Kritik668 kann nicht überzeugen669. Erstens führt das Konzept des Körperschaftsteueranrechnungsverfahrens, nach 666 Vgl. dazu Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 5 Rdnr. 62 ff., S. 132 ff. m.w.N.; Wilke, Lehrbuch des Internationalen Steuerrechts, S. 24. 667 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. a) aa) (3) (a). 668 Vgl. Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 117 f. m.w.N.; FG München, Urt. v. 26.01.1998, IStR 1998, S. 434, 436 (die Revision wurde durch den BFH nach Art 1 Nr. 7 BFHEntlG mit Beschluß vom 21.10.1999 AZ I R 47/98 als unbegründet zurückgewiesen).

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dem im Hinblick auf die Gewinnverwendung auf die Besteuerung an der Quelle verzichtet wird, nicht zu einer vorrangigen Anrechnungsverantwortlichkeit des Quellenstaates670. Dies erklärt sich dadurch, daß einerseits für die Einkunftsquelle des Anteilseigners, d.h. für die Kapitalgesellschaft, die Körperschaftsteuer definitiv bleibt. Andererseits erfolgt der Steuerverzicht durch Anrechnung grundsätzlich nur aufgrund des durch die unbeschränkte Steuerpflicht beider Steuersubjekte (Kapitalgesellschaft und Anteilseigner) im Inland begründeten, umfassenden Besteuerungsrechts, das mit der zweifachen Verantwortung für eine leistungsgerechte Besteuerung verknüpft ist, und aufgrund der allein im Inland eintretenden Doppelbelastung der Untemehmensgewinne. Die entscheidenden Kriterien für die Anrechnung sind also die hinsichtlich beider Steuersubjekte ge­ gebene Verantwortung zur Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und die im Inland eintretende Doppelbelastung. Dagegen kann allein die Vereinnahmung der Körperschaftsteuer an der Quelle bei nur hinsichtlich der unbeschränkt steuerpflichtigen Körperschaft bestehender Pflicht zur leistungsgerechten Be­ steuerung keine vorrangige Anrechnungsverantwortlichkeit des Quellenstaates begründen. Bei einer definitiven Körperschaftsteuerbelastung auf der Gesell­ schaftsebene verschiebt sich die Verantwortung zur Verhinderung der Dop­ pelbelastung auf die Ebene des Anteilseigners, für dessen leistungsgerechte Be­ steuerung aber der Wohnsitzstaat verantwortlich ist. Zudem besitzt nur der Wohnsitzstaat eine wirkliche Anrechnungsmöglichkeit, wogegen der Quellenstaat die Körperschaftsteuer nur direkt vergüten kann, was einen Eingriff in das ausländische Körperschaftsteuersystem des Wohnsitzstaates bedeuten würde671. Unerklärlich bleibt bei der Argumentation gegen eine Wohnsitzstaatsanrechnung die Aussage, daß es der Quellenstaat sei, der bei der fehlenden Bereitschaft, auf die "erneute Besteuerung zu verzichten", die grenzüberschreitende Investition ge­ genüber der inländischen benachteilige672. Die "erneute" Belastung der Unter­ nehmensgewinne tritt erst durch die Besteuerung des Anteilseigners im Wohn­ sitzstaat ein. Dagegen steht die erste Belastung durch die Körperschaftsteuer dem Quellenstaat nach dem Quellenstaatsprinzip (source country entitlement) zu. Die Anrechnung der Körperschaftsteuer auf die ebenfalls inländische Kapitalertrag­

669 Ebenso und mit ausführlicher Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten: Hey, Harmonisierung der Un­ temehmensbesteuerung, S. 165 ff. 670 So aber Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 118. 671 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. a) aa) (3) (a); Stähl, EC Tax Review 1997, S. 227, 230. 672 So Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 118.

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steuer durch den Quellenstaat kommt mangels ihres entlastenden Effekts für den ausländischen Anteilseigner nicht in Betracht673.

bb) Ergebnis Die Untersuchung des Fehlens der Körperschaftsteueranrechnung für den Steuer­ ausländer, die grundsätzlich eine Diskriminierung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV dar­ stellt674, hat ergeben, daß für die Vermeidung der Diskriminierung nicht der keine Körperschafsteueranrechnung an den Steuerausländer gewährende Quellenstaat, sondern vorrangig der Wohnsitzstaat des Anteilseigners verantwortlich ist. Die Argumente des sonst entstehenden Verstoßes gegen das Quellenstaatsprinzip und der inhaltlich begründeten Übertragbarkeit der Wohnsitzstaatsanrechnung im Rahmen der juristischen Doppelbesteuerung auf die wirtschaftliche Doppelbela­ stung haben zu diesem Ergebnis geführt. Mangels Verantwortung des Quellen­ staates für die Vermeidung der Diskriminierung des Steuerausländers scheidet daher ein Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV, der durch die Steuemormen des Quellenstaates bedingt ist, aus675. Die Nichtgewäh­ rung des Anrechnungsguthabens an Steuerausländer verstößt daher nicht gegen die Kapitalverkehrsfreiheit676.

b)

Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer bei Steuer­ inländern

Die Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer bei Steuerinländem unterliegt als zweite Konstellation der Prüfung am Maßstab der Artt. 56 ff. EGV. Das deutsche Steuerrecht beschränkt in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG die an inlän­ dische Anteilseigner gewährte Anrechnung auf die Körperschaftsteuer der im Inland unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaften. Dane­ ben erstreckt sich die Anrechnung ausländischer Steuern auf die deutsche Ein­ kommensteuer nach den DBA bzw. § 34 c Abs. 1 EStG nicht auf die ausländische

673 Ausführlich zu diesem Problem der fehlenden Entlastungswirkung der Quellenstaatsanrechnung und der daher erforderlichen direkten Vergütung: Kapitel 3 A. I. 1. a) aa) (3) (a). 674 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. a) aa) in der Einleitung zu (3). 675 Im Ergebnis ebenso Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 514; a.A.: Brinkmann, Untemehmensbe­ steuerung, S. 146 ff. 676 Ebenso im Ergebnis, aber mit der Annahme eines Eingriffs in die Kapitalverkehrsfreiheit, der über die "Schranke" des Art 58 Abs. 1 lit a EGV zu rechtfertigen ist: Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 151; Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 509 f.; Herzig/Dötsch, DB 1998, S. 15, 17.

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Körperschaftsteuer der ausschüttenden Kapitalgesellschaft677. Diese Gesetzeslage wirft die Frage auf, ob die Regelung der Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer in den deutschen Steuemormen (§ 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG und DBA-Vorschriften) mit der Kapitalverkehrsfreiheit zu vereinbaren ist.

aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV Nach Art. 56 Abs. 1 EGV sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwi­ schen Mitgliedstaaten verboten. Die Nichtgewährung der Körperschaftsteueran­ rechnung im Falle von in Deutschland nicht unbeschränkt körperschaftsteuer­ pflichtigen Kapitalgesellschaften nach § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG hat eine ge­ ringere steuerliche Attraktivität der von einem Steuerinländer getätigten aus­ ländischen Kapitalanlagen zur Folge678. Es stellt sich die Frage, ob dies die aus­ ländische Kapitalanlage gegenüber der inländischen diskriminiert.

Die Diskriminierung setzt zunächst die Vergleichbarkeit der steuerlichen Situa­ tion des im Inland und des im Ausland anlegenden Steuerinländers voraus. Die Vergleichbarkeit ist gegeben, wenn das deutsche Steuerrecht in bezug auf Mo­ dalitäten und Voraussetzungen die Gleichbehandlung der beiden Steuerpflichti­ gen festsetzt679. Die in- und ausländischen Kapitaleinkünfte unterfallen beide beim unbeschränkt Steuerpflichtigen nach dem Welteinkommensprinzip der in­ ländischen Einkommensteuer zum gleichen Steuertarif. Mit dem Ziel der Bela­ stungsgleichheit für alle Einkunftsarten wird die Vorbelastung mit in- oder aus­ ländischer Kapitalertragsteuer durch ihre Anrechnung auf die Einkommensteuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG bzw. der entsprechenden DBA-Vorschrift680 i.V.m. § 34 c Abs. 1 EStG berücksichtigt. Daher erfolgt grundsätzlich eine Gleichbe­ handlung der in- und ausländischen Kapitalanlagen des Steuerinländers in bezug auf Modalitäten und Voraussetzungen der Besteuerung. Die Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation der Inlands- und Auslandsanlage des Steuerinländers ist folglich gegeben681.

677 Vgl. Kapitel 3 A. I. in Einleitung zu 1. und Kapitel 3 A. I. 1. a) aa) (3) (b). 678 Zur Erfassung der Dividendenzahlungen durch Art 56 Abs. 1 EGV: EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 722 Rz. 29 (Verkooijen). 679 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. c). 680 Vgl. Art. 23 A Abs. 2 OECD-MA. 681 Ebenso; Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 515; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit S. 743, 776.

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Im zweiten Schritt setzt die Diskriminierung eine unterschiedliche Behandlung der in- und ausländischen Kapitalanlage des Steuerinländers voraus. Diese ist durch die Nichtgewährung der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer an den Steuerinländer gegeben, wogegen ihm im Falle der Körperschaftsteuer einer inländischen Kapitalgesellschaft die Anrechnung gewährt wird. Es ist folglich aufgrund der unterschiedlichen Behandlung der in- und ausländischen Kapitalanlage trotz vergleichbarer steuerlicher Situation der beiden eine Diskriminierung der ausländischen Kapitalanlage gegeben.

Es wurde bereits vorhergehend festgestellt, daß die aus dem Fehlen der Körper­ schaftsteueranrechnung resultierende Diskriminierung durch das Zusammenwir­ ken von Wohnsitz- und Quellenstaat entsteht, wobei jedem von ihnen die Ver­ meidung der Diskriminierung möglich wäre. Die Untersuchung der Verantwort­ lichkeit für die Vermeidung der Diskriminierung kam jedoch zu dem Ergebnis, daß die vorrangige Verantwortung für die Körperschaftsteueranrechnung dem Wohnsitzstaat obliegt682. Daher ist die Diskriminierung der ausländischen Kapi­ talanlage durch die Verwehrung der Körperschaftsteueranrechnung dem Wohn­ sitzstaat zuzurechnen. Er greift aufgrund der zurechenbaren Diskriminierung, die eine Kapitalverkehrsbeschränkung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV darstellt, in die Ka­ pitalverkehrsfreiheit ein683.

Die in diesem Zusammenhang vom FG München684 vertretene Ablehnung einer Diskriminierung durch den Wohnsitzstaat mit Verweis auf eine alleinige Rege­ lungskompetenz für die Steueranrechnung beim Quellenstaat kann nicht überzeu­ gen685. Es wurde hier eine nicht nachvollziehbare These aufgestellt. Das FG Mün­ chen behauptet, daß bei Geltung eines körperschaftsteuerlichen Teil- oder Vollan­ rechnungsverfahrens nach internationalem Steuerrecht der Staat, in welchem die Kapitalgesellschaft mit ihrem Gewinn steuerpflichtig ist, die Anrechnung vorzu­ 682 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. a) aa) (3). 683 Ebenso FG München, Urt. v. 26.01.1998, IStR 1998, S. 434, 436 (die Revision wurde durch den BFH nach Art 1 Nr. 7 BFHEntlG mit Beschluß vom 21.10.1999 AZ I R 47/98 als unbegründet zurückgewiesen),- Hey, Harmonisierung der Untemehmensbesteuerung, S. 92 m.w.N. in Fn. 117; Jacobs/Spengel/Wunsche, DB 1999, S. 57, 63. 684 FG München, Urt v. 26.01.1998, IStR 1998, S. 434, 436 (die Revision wurde durch den BFH nach Art. 1 Nr. 7 BFHEntlG mit Beschluß vom 21.10.1999 AZ I R 47/98 als unbegründet zurückgewiesen); ähnlich Brink­ mann, Untemehmensbesteuerung, S. 117 f. 685 Ebenso Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 515 f. Angesichts der weiteren Ausführungen zur im Falle des Fehlens eines Eingriffs überflüssigen Eingriffsrechtfertigung durch die Kohärenz des Steuersystems hatte daran wohl auch der 15. Senat des FG Münchens Zweifel, vgl. FG München, Urt. v. 26.01.1998, IStR 1998, S. 434, 437 (die Revision wurde durch den BFH nach Art. 1 Nr. 7 BFHEntlG mit Beschluß vom 21.10.1999 AZ I R 47/98 als unbegründet zurückgewiesen).

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nehmen habe. Hierzu beruft es sich pauschal auf Art. 21 OECD-MA. Dies ist des­ halb unverständlich, weil es sich bei Art. 21 OECD-MA um das generelle Be­ steuerungsrecht des Ansässigkeitsstaates der einkünfteerzielenden Person für nicht genannte Einkunftsarten handelt. Wie das Gericht daraus ableitet, daß der Quellenstaat die inländische Körperschaftsteuer an den Steuerausländer gewähren müsse, ist nicht nachvollziehbar686. Das daneben vorgebrachte Argument, daß der Steuerverzicht durch Anrechnung nur durch den Staat geübt werden könne, dem auch der Ertrag aus der ursprünglichen Steuerbelastung zufloß687, ist ebenfalls nicht stichhaltig. Die mit der Dividendenbesteuerung im Zusammenhang stehende, grenzüberschreitende Kapitalertragsteueranrechnung nach den DBAVorschriften688 dokumentiert, daß der Mangel der Erhebung der Quellensteuer689 eine Anrechnung durch den Wohnsitzstaat des Anteilseigners nicht ausschließt. Im Ergebnis ist folglich von der Diskriminierung der ausländischen Kapitalanlage durch den Wohnsitzstaat auszugehen.

Die Auffassung, das deutsche Körperschaftsteuersystem verstoße gegen die Kapi­ talverkehrsfreiheit, wurde von der EG-Kommission bereits in einem Schreiben an die Bundesregierung vom 31.10.1995690 vertreten. Nach Auffassung der Kommis­ sion war Deutschland verpflichtet, sein eigenes Anrechnungsverfahren auf auslän­ dische Dividenden auszuweiten, und zwar unabhängig davon, ob in dem anderen Staat ebenfalls ein Anrechnungssystem besteht. Die Bundesregierung bestritt, daß die Nicht-Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer auf die Steuer des inländischen Anteilseigners einen von Art. 58 EGV nicht tolerierten Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit bedeute. Diese entgegengesetzten Auffassungen dokumentieren die Bedeutung, die der nachfolgenden Klärung der europarechtlichen Vereinbarkeit des § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG mit Artt. 56 ff. EGV zukommt.

Es ist in diesem Zusammenhang auch auf die Ergebnisse des Ruding-Ausschusses hinzuweisen. Dieser empfahl, daß die Länder mit einem Körperschaftsteueran­ rechnungssystem als Wohnsitzstaat das Steuerguthaben auch für Dividenden ge­ 686 Ebenso Mossner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 515 f. 687 Vgl. FG München, Urt v. 26.01.1998, IStR 1998, S. 434,436 (die Revision wurde durch den BFH nach Art 1 Nr. 7 BFHEntlG mit Beschluß vom 21.10.1999 AZ I R 47/98 als unbegründet zurückgewiesen). 688 Vgl. Artt 23 A Abs. 2 bzw. 23 B OECD-MA. 689 Aus der Sicht des Anteilseigners hat die Körperschaftsteuer im Falle ihrer späteren Anrechnung eine der Quellensteuer auf Dividenden gleichkommende Wirkung. 690 Zitiert von: Sarrazin, DSÜG Bd. 20, S. 57, 68; Thiel, StbJb. 1996/97, S. 79,93; vgl. Herzig/Dötsch, DB 1998, S. 15, 16.

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währen sollten, die aus ausländischen Gewinnen stammen, und zwar unabhängig davon, ob die inländischen Anteilseigner diese Dividenden über eine inländische Gesellschaft (sog. Durchreichung ausländischer Steuern) oder direkt von der aus­ ländischen Gesellschaft beziehen691. Der Ausschuß schlug damit die nachfolgend untersuchte Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer durch den Wohnsitz­ staat vor.

bb) Rechtfertigung durch die ’’Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit ist gerechtfertigt, wenn die Vorschrift des § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG von Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt ist. Diese ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit läßt diejenigen kapitalverkehrsbeschrän­ kenden Steuervorschriften zu, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohn­ ort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln.

(1) Formelle Einhaltung der ’’Schranke”

Die Regelung in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG bezieht nur die Körperschaftsteuer einer unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Körperschaft in die Anrechnung beim unbeschränkt steuerpflichtigen Anteilseigner mit ein. Die im Ausland erho­ bene Körperschaftsteuer einer in Deutschland nicht unbeschränkt körper­ schaftsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaft, also gemäß § 1 Abs. 1 KStG einer Ge­ sellschaft ohne Geschäftsleitung692 oder Sitz693 im Inland, wird dem inländischen Kapitalanleger dagegen nicht angerechnet. Diese Differenzierung der deutschen Steuemorm stellt auf die Ansässigkeit der ausschüttenden Kapitalgesellschaft ab. Es erfolgt daher eine unterschiedliche steuerliche Behandlung des inländischen Anteilseigners nach seinem differierenden Kapitalanlageort, der als Ort der An­ sässigkeit des Kapitalnehmers definiert ist694. Die Nichtanrechnung der ausländi­ schen Körperschaftsteuer bei Steuerinländem ist folglich formell von der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt.

691 Vgl. EG-Kommission (Hrsg.), Ruding-Bericht, S. 208 (deutsch: BT-Drs. 13/4138, S. 219). 692 Vgl. § 10 AO: "Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung". 693 Vgl. § 11 AO: "Ort, der durch Gesetz, Gesellschaftsvertrag, Satzung, Stiftungsgeschäft oder dergleichen be­ stimmt ist". 694 Vgl. Kapitel 2 A. II. l.b).

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Die ’’Schranke” ist jedoch als materieller Rechtfertigungsgrund zu verstehen695, weshalb der materielle Grund für die Differenzierung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen und sein rechtfertigender Charakter festge­ stellt werden müssen.

(2) Materieller Rechtfertigungscharakter der "Schranke"

Als materieller Rechtfertigungsgrund, der die Differenzierung nach dem unter­ schiedlichen Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG bestimmt, kommt die Kohärenz der Steuerrechtsordnung in Betracht. Dieser materielle Rechtfertigungsgrund wurde vom EuGH mit der "Bachmann”-Entscheidung696 und in den nachfolgenden Urteilen anerkannt, in denen er zwar teil­ weise die Anwendbarkeit des Kohärenzkriteriums auf den einzelnen Sachverhalt verneinte, nicht aber den grundsätzlich rechtfertigenden Charakter verwarf697. Die indirekte Anerkennung des Kohärenzkriteriums durch Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV wurde oben bereits erörtert698.

Die ausführliche Auseinandersetzung mit der Kohärenz als materiellem Recht­ fertigungsgrund erfolgt, wie oben begründet699 und bereits bei der Betrachtung der EuGH-Sachverhalte durchgeführt700, auf der nachfolgenden Ebene der "Schranken-Schranke”.

cc) "Schranken-Schranke" - Art. 58 Abs. 3 EGV Die Kohärenz der Steuerrechtsordnung als materieller Rechtfertigungsgrund des nach dem Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen differenzierenden § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG ist an der ’’Schranken-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV zu mes-

695 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d). 696 EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 282 f. Rdnr. 21 - 24 (zur Freizügigkeit) und S. 285 Rdnr. 33 (zur Dienstleistungsfreiheit). 697 EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 262 Rz. 42 (Schumacker); EuGH, Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2516 f. Rz. 24 f. (Wielockx); EuGH, Urt. v. 14.11.1995, Rs. C484/93, Sig. 1 1995, S. 3955, 3977 Rz. 18 (Svensson/Gustavsson); vgl. auch Hinnekens, European Taxation 1996, S. 286,301. 698 Vgl. Kapitel 2 B. II. 4. c) aa) (1). 699 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2.d) und Kapitel 2 A. II. 3. a). 700 Vgl. Kapitel 2 B. I. 3. c), II. 4. c) und III. 4. c).

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sen. Dazu bedarf es zunächst einer Bestimmung des Inhalts des Kohärenzargu­ ments, bevor sich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anschließen kann701.

(1) Inhalt der Kohärenz der Steuerrechtsordnung

Der Kohärenz der Steuerrechtsordnung liegt der Gedanke zugrunde, daß das Steu­ errecht eines Mitgliedstaates einen bestimmten Zusammenhang zwischen mehre­ ren Steuertatbeständen definiert, der für einen fiskalischen Ausgleich der entste­ henden Mindereinnahmen bei einem Steuertatbestand mit Mehreinnahmen bei einem anderen sorgt702. Bei der hier zu untersuchenden Anrechnung der ausländi­ schen Körperschaftsteuer auf die Einkommensteuer des Steuerinländers durch seinen Wohnsitzstaat kommt die Kohärenz der Steuerrechtsordnung in zweierlei Hinsicht in Betracht: Einerseits kann ihr Inhalt die Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat, andererseits die Ver­ meidung einer anrechnungsbedingten wettbewerbsverzerrenden Wirkung auf das Körperschaftsteuersystem des Quellenstaates sein. Es ist darauf hinzuweisen, daß der EuGH aufgrund seines im ”Verkooijen“-Urteil aufgestellten Erfordernisses der Rechtssubjektidentität für die die Kohärenz bestimmenden Normen die hier nachfolgend verwandte Definition der Kohärenz zukünftig ablehnen dürfte703.

Das erste Kohärenzargument gründet darauf, daß die Anrechnung der ausländi­ schen Körperschaftsteuer durch den Wohnsitzstaat die fiskalische Lastengerech­ tigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat als kohärentes System vereiteln und damit die internationale Aufteilung der Einkünfte durch die DBA gefährden würde704. Die Pflicht des Wohnsitzstaates zur Anrechnung der ausländischen Kör­ perschaftsteuer würde bedeuten, daß dieser seine Fikaleinnahmen aus der Einkommensbesteuerung des inländischen Anteilseigners mindern müßte, ohne ausgleichend Einnahmen aus der Besteuerung der ausschüttenden ausländischen Kapitalgesellschaft zu haben. Diesem einseitigen Fiskal verzieht durch den Wohnsitzstaat steht die obige Feststellung entgegen, daß die Diskriminierung der grenzüberschreitenden Untemehmensbeteiligung durch das Zusammenwirken von 701 Vgl. allgemein zur Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Art. 58 Abs. 3 EGV: Kapitel 2 A. II. 3. c). 702 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.01.1992, Rs. C-204/90, Sig. I 1992, S. 249, 282 f. Rz. 21 ff. (Bachmann); Urt v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 261 f. Rz. 40 ff. (Schumacker); Urt. v. 11.08.1995, Rs. C80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2516 f. Rz. 23 ff. (Wielockx); Urt v. 27.06.1996, Rs. C-l07/94, Sig. I 1996, S. 3089,3128 Rz. 55 ff. (Asscher). 703 Vgl. hierzu Kapitel 2 B. V. 3. 704 Vgl. Mössner/Kellersmann, DStZ 1999, S. 505, 516.

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Wohnsitz- und Quellenstaat, d.h. durch die ’’Überlagerung” ihrer Steuemormen, entsteht705. Von der Diskriminierung durch das Zusammenwirken der beiden Staaten ist die oben ebenfalls begründete vorrangige Verantwortung des Wohnsitzstaates zur Vermeidung der Diskriminierung zu trennen, da letztere ein Vorrangverhältnis festlegt, das sich an der Möglichkeit der Vermeidung der Dis­ kriminierung bei Einhaltung der sachlichen Zuordnung der Besteuerungsgrund­ lagen zum Wohnsitz- und Quellenstaat706 orientiert. Mit dieser vorrangigen Ver­ antwortung des Wohnsitzstaates zur Körperschaftsteueranrechnung verbindet sich nicht die automatische Folge, daß ihm einseitig die fiskalischen Lasten der Anrechnung aufgebürdet werden sollen. Die Mitverantwortung des Quellenstaates ist auf der fiskalischen Ebene der Verteilung der Einkünfte zwischen Wohnsitzund Quellenstaat zu berücksichtigen. Diese Einbeziehung des mit­ verantwortlichen Quellenstaates in die fiskalischen Lasten der Körperschaftsteu­ eranrechnung stellt § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG sicher, indem durch diese Vor­ schrift die einseitige Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer durch den Wohnsitzstaat ausgeschlossen wird.

Das zweite Kohärenzargument der Vermeidung einer anrechnungsbedingten wett­ bewerbsverzerrenden Wirkung auf das kohärente Körperschaftsteuersystem des Quellenstaates beruht auf dem Problem, daß die Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer durch den Wohnsitzstaat im Falle der Dividendenausschüttung einer Kapitalgesellschaft, die in einem Staat mit abweichendem Körperschaftsteu­ ersystem (Teilanrechnungssystem, Shareholder-Relief-System, klassisches System der Doppelbelastung) ansässig ist, zu einer wettbewerbsverzerrenden Wirkung im Sitzstaat fuhrt707. Bei einem abweichenden Körperschaftsteuersystem im Sitzstaat macht die vollständige Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer im Wohnsitzstaat die Kapitalbeteiligung an der Gesellschaft für die Steuerinländer des Sitzstaates steuerlich unattraktiver als für die ausländischen Anteilseigner708. Dies würde für die ausschüttende Kapitalgesellschaft bedeuten, daß ihre Anteile im eigenen Sitzstaat ohne dessen Einflußnahme eine geringere steuerliche Attraktivität besäßen als im Ausland. Zur Kompensation müßte sie den inländischen Anteilseignern eine höhere Dividende anbieten als den ausländischen. Die wettbewerbsverzerrenden Wirkung auf das kohärente 705 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. a) aa) (3) und Kapitel 3 A. I. 1. b) aa). 706 Vgl. Argumente aus dem Quellenstaatsprinzip und der Kapitalexportneutralität in Kapitel 3 A. 1. 1. a) aa) (3) (a) und (b). 707 Vgl. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 776. 708 Vgl. die Gegenüberstellung deutscher und niederländischer Anleger in FG München, Urt. v. 26.01.1998, S. 434, 437 (die Revision wurde durch den BFH nach Art 1 Nr. 7 BFHEntlG mit Beschluß vom 21.10.1999 AZ I R 47/98 als unbegründet zurückgewiesen).

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Körperschaftsteuersystem des Quellenstaates wird durch die in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG vorgesehene Nicht-Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer vermieden. Die Vorschrift sichert auf diese Weise die Kohärenz des Körperschaftsteuersystems des Quellenstaates.

(2) Verhältnismäßigkeit der Kohärenzargumente

Nach der Vorstellung des Inhalts der beiden Kohärenzargumente kann sich nach­ folgend die Prüfung ihrer Verhältnismäßigkeit anschließen.

(a) Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat

Die Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quel­ lenstaat liegt der Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer bei Steuerinländem nach § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG zugrunde. Es ergibt sich die Frage, ob die deutsche Steuemorm zur Erreichung des genannten Regelungsziels geeignet und erforderlich ist. In einem dritten Schritt, der sog. Verhältnis­ mäßigkeit im engeren Sinne, ist festzustellen, ob die eintretende Kapitalver­ kehrsbeschränkung in einem gerecht gewichteten Verhältnis zum angestrebten Regelungsziel steht.

(aa) Geeignetheit zur Erreichung des Regelungsziels Die Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer bei Steuerinländem nach § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG vermeidet die einseitige Wohnsitzstaatsanrech­ nung mit ihren einseitigen fiskalischen Folgen, die der Mitverantwortung des Quellenstaates für die Diskriminierung nicht gerecht werden würde. Die Norm ist daher zur Erreichung des Regelungsziels geeignet. Schwieriger ist die Frage der Erforderlichkeit zu beantworten, da möglicherweise Vorschriften gleicher Eig­ nung in Betracht kommen, denen jedoch ein weniger kapitalverkehrsbeschrän­ kender Charakter zukommt.

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(bb) Erforderlichkeit zur Erreichung des Regelungsziels

Der fiskalische Lastenausgleich zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat könnte sich auch durch den Abschluß von DBA durch Deutschland mit den anderen Mitglied­ staaten, die ebenfalls ein Anrechnungssystem praktizieren709, erreichen lassen. Hierfür würden sich zwei verschiedene Konzepte, die in den deutschen DBA um­ zusetzen wären, anbieten: entweder rechnet Deutschland als Wohnsitzstaat seinen Steuerinländem die ausländische Körperschaftsteuer unter der Voraussetzung einer prozentual festgelegten Ausgleichsüberweisung des Quellenstaates an710 oder die Anrechnung wird unter einem Gegenseitigkeitsvorbehalt gewährt, nach dem der Quellenstaat mit der aus seiner Sicht ausländischen Körperschaftsteuer ebenso verfahren muß. Im ersten Fall würde Deutschland als Wohnsitzstaat die Anrechnungspflicht nur bei fiskalischem Lastenausgleich durch den Quellenstaat in der Form einer kompensierenden Partizipation an der Quellenbesteuerung treffen. Das Konzept der Ausgleichsüberweisung würde einen konkret an den tatsächlich getätigten, grenzüberschreitenden Kapitalanlagen ausgerichteten fiskalischen Lastenausgleich gewährleisten. Im zweiten Fall der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer unter Gegenseitigkeitsvorbehalt läge der Lastenausgleich in dem gegenseitigen, durch die Anrechnung ohne vorherige Quellenbesteuerung bedingten fiskalischen Einnahmenverzicht begründet. Hier wäre der Lastenausgleich nur abstrakt verwirklicht, da er von den Kapitalbewe­ gungen zwischen den beiden Mitgliedstaaten abhängig wäre. Sollte dann die Ka­ pitalanlage in einem der beiden Mitgliedstaaten aus irgendwelchen, nicht not­ wendig steuerrechtlichen Gründen besonders attraktiv sein, würde die fiskalische Kompensation für den Wohnsitzstaat der im Ausland investierenden Anteilseigner geringer ausfallen.

Die beiden beschriebenen, in deutschen DBA mit anderen Anrechnungsstaaten711 umsetzbaren Konzepte würden durch die Erweiterung der Wohnsitzstaatsanrech­ nung auf die ausländische Körperschaftsteuer den Wegfall der Differenzierung nach dem Kapitalanlageort in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG bedeuten. Aufgrund der dann bestehenden, weitgehenden Gleichbehandlung von inländischen und auslän-

709 Großbritannien, Irland, Portugal, Spanien (Teilanrechnung); Frankreich, Finnland, Italien (Vollanrechnung). 710 Z.B. Ausgleich in Höhe von 30 % der anzurechnenden Körperschaftsteuer; unter Berücksichtigung des ’’source country entitlement" dürfte eine hälftige Beteiligung des Quellenstaats ausgeschlossen sein. 711 Staaten, die ebenfalls eine Körperschaftsteueranrechnung praktizieren.

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dischen Kapitalanlagen712 würde die Beschränkung des Kapitalverkehrs und somit der Verstoß gegen Art. 56 Abs. 1 EGV geringer ausfallen. Für die Erforderlichkeit des § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG hätte dies zur Folge, daß mit der geschilderten DBA-Lösung ein zur Erreichung des Regelungsziels gleich geeignetes, jedoch weniger kapitalverkehrsbeschränkendes Mittel gegeben wäre. Ein vollständiger Wegfall der Kapitalverkehrsbeschränkung hinsichtlich der Kapitalverkehrs­ transaktionen mit allen EU-Mitgliedstaaten könnte nicht eintreten, da die DBALösung nur auf das Zusammenwirken mit anderen Anrechnungsstaaten be­ schränkt ist und im Fall von Anrechnungsstaaten mit geringerem Entlastungs­ niveau (Teilanrechnungssysteme) die Anrechnung in Deutschland als Wohnsitz­ staat mit Vollanrechnungssystem zur Erhaltung der fiskalischen Lastengerech­ tigkeit auf den geringeren ausländischen Anrechnungssatz zu begrenzen wäre (’’reciprocal minimum relief criterion”)713.

Die Heranziehung dieser gleich geeigneten, jedoch weniger kapitalverkehrsbe­ schränkenden DBA-Konzepte als Argument für das Fehlen der Erforderlichkeit der in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG geregelten Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer setzt voraus, daß Deutschland als einzelnem Mitgliedstaat zur Einhaltung der Grundfreiheiten, hier der Kapitalverkehrsfreiheit, die Pflicht zum Abschluß entsprechender DBA auferlegt werden kann. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzung kann die Erforderlichkeit der deutschen Steuemorm entfallen und ein Überschreiten des in der ’’Schranken-Schranke" des Art. 58 Abs. 3 EGV implizierten Verhältnismäßigkeitsprinzips gegeben sein.

Das damit in Frage stehende Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten und den DBA ist in der Literatur sehr umfangreich diskutiert worden714. Es fand ebenfalls in der EuGH-Rechtsprechung Berücksichtigung715. Nach einhelliger Auffassung 712 Vollständige Gleichbehandlung nur bei Anrechnung der Körperschaftsteuer aus anderen Mitgliedstaaten mit Vollanrechnungssystem; sonst Begrenzung auf den geringeren ausländischen Anrechnungssatz ("reciprocal minimum relief criterion"); dazu gleich. 713 Vgl. Hey, Harmonisierung der Untemehmensbesteuerung, S. 343 f. m.w.N.; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 776; Wolff, in: Herzig (Hrsg.), Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme in den EU-Staaten, S. 27, 33; a.A.: O.H. Jacobs, Internationale Untemehmensbesteuerung, S. 248, der vorschlägt, daß der Steueranspruch des Quellenstaates bei der Ausschüttung bereits auf die individuelle Steuer des Anteilseigners in seinem Wohnsitzstaat begrenzt werden sollte. 714 Vgl. u.a. Gassner/Lang/Lechner (Hrsg.), Doppelbesteuerungsabkommen und EU-Recht, 1996; Lehner/Scherer, Die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft, in: Birk (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, 1995, § 31; Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1995; Rainer, IStR 1995, S. 474 ff. m.w.N. in Fn. 2. 715 Z.B. EuGH, Urt. v. 26.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273 ff. (avoir fiscal); Urt. v. 11.08.1995, Rs. C80/94, Sig. I 1995, S. 2493 ff. (Wielockx); Urt. v. 27.06.1996, Rs. C-107/94, Sig. I 1996, S. 3089 ff.

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gehen die Grundfreiheiten des EGV den DBA vor, so daß die DBA den Anforde­ rungen des Gemeinschaftsrechts genügen müssen716. Von Seiten des EuGH wird die Überprüfbarkeit der DBA am Maßstab der Grundfreiheiten in der ”Gilly”-Entscheidung deutlich717. Diese Meßbarkeit bestehender DBA an den Grundfreiheiten beantwortet aber noch nicht die für die Erreichung des fiskalischen Lastenaus­ gleichs durch die vorgeschlagenen DBA-Konzepte entscheidende Frage, ob aus der Kapitalverkehrsfreiheit oder einer anderen Vorschrift des EGV auch die Pflicht Deutschlands zum Abschluß entsprechender DBA resultieren kann.

Es ist dazu die Regelung des EG-Vertrages zur Vermeidung der Doppelbesteue­ rung zu untersuchen. Gemäß Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV leiten die Mitglied­ staaten, soweit erforderlich, Verhandlungen ein, um zugunsten ihrer Staatsange­ hörigen die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft sicherzustellen. Die Vorschrift bezweckt, das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes durch den Erlaß der in ihr implizierten Regelungen, also auch der DBA als Beseitigungsmaßnahmen der Doppelbesteuerung, zu erleichtern und die im EGV festgelegten Ziele auch für die in der Norm genannten Materien zu errei­ chen718. Das Verhältnis der Grundfreiheiten und der Beseitigung der Doppelbe­ steuerung in Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV ist von einer gegenseitigen Beeinflus­ sung bestimmt. Daher kann die Kapitalverkehrsfreiheit zusammen mit Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV zur Realisierung der dargestellten DBA-Konzepte ver­ pflichten. Die Auslegung des Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV im Sinne einer Ver­ pflichtung zu DBA-Verhandlungen entspricht der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung719 und Literatur720.

716

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(Asscher); Urt. v. 12.05.1998, Rs. C-336/96, Sig. I 1998, S. 2793 ff. (Gilly); Schlußanträge des GA Mischo vom 02.03.1999, Rs. C-307/97, IStR 1999, S. 177 ff. (Saint-Gobain). Vgl. M. Lang, in: Gassner/Lang/Lechner (Hrsg.), Doppelbesteuerungsabkommen und EU-Recht, S. 27 m.w.N. in Fn. 3; Rainer, IStR 1995, S. 474, 476 als Schlußfolgerung der "Wielockx"-Entscheidung des EuGH; Sche­ rer, in: Birk (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 31 Rdnr. 111 ff; Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 107 ff; /. Schwartz, in: G/T/E, EGV, Art. 220 Rdnr. 9 m.w.N. in Fn. 7; Vedder, Europarecht und Doppelbesteuerung, in: Lehner/Thömmes u.a., Europarecht und Internationales Steuerrecht, S. 15 f; Wassermeyer, DStJG 19 (1996), S. 151, 156 ff. Urt. v. 12.05.1998, Rs. C-336/96, Sig. I 1998, S. 2793 ff. Vgl. EuGH, Urt. v. 10.02.1994, Rs. C-398/92, Sig. I 1992, S. 467, 478 Rz. 11 (Mund); I. Schwartz, in: G/T/E, EGV, Art. 220 Rdnr. 1 f. Vgl. EuGH, Urt. v. 06.10.1976, Rs. 12/76, Sig. 1976, S. 1473, 1484 Rz. 9 (Tessili/Dunlop); Urt. v. 11.07.1985, Rs. 137/84, Sig. 1985, S. 2681,2694 Rz. 11 (Mutsch). Vgl. Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 74; /. Schwartz, in: G/T/E, EGV, Art. 220 Rdnr. 24 ff. m.w.N. in Fn. 22; Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 220 Rdnr. 5; Vedder, Europa­ recht und Doppelbesteuerung, S. 1,9; Wuermeling, Kooperatives Gemeinschaftsrecht. Die Rechtsakte der EGMitgliedstaaten, insbesondere die Gemeinschaftskonventionen nach Art. 220 EWGV, 1988, S. 18 ff; a.A.: Geiger, EGV, Art. 220 Rdnr. 1; Oppermann, Europarecht, S. 433 Rdnr. 1120.

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Als nächstes stellt sich für die Pflicht aus Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV die Frage, wie der Begriff ’’Doppelbesteuerung” in der Norm auszulegen ist. Das Verständ­ nis der in der Vorschrift genannten ’’Doppelbesteuerung” ist von Bedeutung, da oben bei der Betrachtung der grenzüberschreitenden Behandlung der Dividenden deutlich wurde, daß eine wirtschaftliche Doppelbelastung der Dividenden721, nicht aber eine juristische Doppelbesteuerung vorliegt. Nach allgemeiner Auffassung umfaßt der Begriff ’’Doppelbesteuerung” in Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV nicht nur die juristische Doppelbesteuerung desselben Steuersubjekts durch mindestens zwei Mitgliedstaaten, sondern auch die wirtschaftliche Doppelbelastung eines Wirtschaftsvorgangs oder Vermögenswertes722. Daher wäre die Norm auch bei der hier untersuchten wirtschaftlichen Doppelbelastung der Dividenden anwendbar.

Bei der Auslegung des Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV stellen sich aber noch zwei weitere Probleme. Erstens ist umstritten, ob die Norm neben der allgemein aner­ kannten Pflicht zu DBA-Verhandlimgen723 auch eine Pflicht zum Abschluß von DBA statuiert724. Zweitens stellt sich die Frage, ob die Vorschrift auch einen ein­ zelnen Mitgliedstaat, hier Deutschland, zum Eintritt in bilaterale DBA-Verhand­ lungen verpflichtet. Nach herrschender Auffassung verlangt Art. 293 EGV mul­ tilaterale Verhandlungen zwischen sämtlichen Mitgliedstaaten und keine bilate­ ralen Verhandlungen eines einzelnen Mitgliedstaates725. Daher begründet die Norm nur die Pflicht aller Mitgliedstaaten zum Eintritt in multilaterale DBAVerhandlungen. Nur multilaterale DBA können eine binnenmarktkonforme Be­ seitigung der Doppelbesteuerung in der EU mit der erforderlichen Effizienz sicherstellen726. Aufgrund dieser Ausrichtung der Norm auf multilaterale DBA braucht der oben angesprochene Streit um das Bestehen einer Abschlußpflicht des einzelnen Mitgliedstaats nicht entschieden zu werden. Einen einzelnen Mit­ 721 Körperschaftsteuer bei der Kapitalgesellschaft und Einkommen- oder Körperschaftsteuer beim Anteilseigner. 722 Lehner, Die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft, § 31 Rdnr. 5; Scherer, Doppel­ besteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 78 mit Fn. 100; /. Schwartz, in: G/T/E, EGV, Art. 220 Rdnr. 79. 723 Vgl. Fn. 718,719. 724 Dazu jüngst Musil, Deutsches treaty overriding und seine Vereinbarkeit mit Europäischem Gemeinschafts­ recht, 3. Kapitel 2. Abschnitt I. mit Ablehnung einer solchen Pflicht; ebenso Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 79; a.A.: Vedder, Europarecht und Doppelbesteuerung, S. 1,9. 725 Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 74 f., 79 ff.; L Schwartz, in: G/T/E, EGV, Art. 220 Rdnr. 18 m.w.N. in Fn. 15 und Rdnm. 80 ff.; Vedder, Europarecht und Doppelbesteuerung, S. 9 f.; offen: Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 220 Rdnr. 4; a.A.: Wohlfahrt, in: Wohlfahrt/Glaesner/Everling/Sprung, Art. 220 Anm. 2. 726 Vgl. Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 106; /. Schwartz, in: G/T/E, EGV, Art. 220 Rdnr. 83.

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gliedstaat verpflichtet Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV jedenfalls nicht zum Ab­ schluß bilateraler DBA.

Mangels dieser Pflicht Deutschlands zum Abschluß von bilateralen DBA, die eine Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer im Falle einer prozentual festgeleg­ ten Ausgleichsüberweisung des Quellenstaates oder eines Gegenseitigkeitsvorbe­ halts vorsehen, können diese DBA-Konzepte nicht als milderes Mittel die Erfor­ derlichkeit der in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG geregelten Nichtanrechnung aus­ schließen.

Abgesehen von dieser Argumentation auf der Grundlage des EG-Vertrages spricht aber noch ein anderes Argument deutlich gegen die vorgestellte DBA-Lösung als milderes Mittel gegenüber der in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG geregelten Nichtan­ rechnung der ausländischen Körperschaftsteuer. Als milderes Mittel kann nur eine Maßnahme in Betracht kommen, über die der Wohnsitzstaat allein verfugen kann, ohne daß eine Abhängigkeit von einem Vertragspartner besteht. Sonst hinge die Erforderlichkeit der in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG geregelten Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer von der Bereitschaft eines anderen Staates zum DBA-Abschluß ab. Bei der DBA-Lösung ist der Wohnsitzstaat des Anteilseigners aber auf den Sitzstaat der Kapitalgesellschaft angewiesen. Daher scheidet die DBA-Lösung aus diesem noch wichtigeren Grund als milderes Mittel gegenüber der in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG geregelten Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer aus.

Folglich ist die in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG geregelte Nichtanrechnung der aus­ ländischen Körperschaftsteuer zur Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat erforderlich.

(cc) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne stellt sich die Frage, ob die mit der Nichtanrechnung ausländischer Körperschaftsteuer eintretende Kapitalverkehrs­ beschränkung in einem gerecht gewichteten Verhältnis zu dem angestrebten Regelungsziel der Lastengerechtigkeit steht. Im vorangehenden Abschnitt zur ’’Erforderlichkeit” wurde deutlich, daß die wirtschaftliche Doppelbelastung der grenzüberschreitend gezahlten Dividenden unter Berücksichtigung des genannten

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Regelungsziels nur durch den Abschluß von DBA zu beseitigen ist. Eine binnen­ marktkonforme Beseitigung ist mit der erforderlichen Effizienz aber nur durch multilaterale DBA aller Mitgliedstaaten möglich, da zu unterschiedliche Körper­ schaftsteuersysteme mit verschiedenem Grad der Entlastung von der wirtschaft­ lichen Doppelbelastung existieren727. Aufgrund der fehlenden Möglichkeit der effizienten Beseitigung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der Dividenden durch Deutschland als einzelnen Mitgliedstaat wiegt die mit der Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer eintretende Kapitalverkehrsbeschränkung gegenüber dem Zweck der Aufrechterhaltung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat gering. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist daher eingehalten.

Folglich hält das Kohärenzargument der Wahrung der fiskalischen Lastengerech­ tigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat die ’’Schranken-Schranke’’ des Art. 58 Abs. 3 EGV ein. Es bildet den zulässigen, über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziehbaren materiellen Rechtfertigungsgrund für die nach dem Kapitalanla­ geort des Steuerpflichtigen differenzierende Vorschrift des § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG.

(b) Wettbewerbsverzerrende Wirkung auf das Körperschaftsteuersystem

des Quellenstaates

Das zweite Kohärenzargument ist die bei der Anrechnung ausländischer Körper­ schaftsteuer durch Deutschland als Wohnsitzstaat eintretende wettbewerbsverzer­ rende Wirkung auf das Körperschaftsteuersystem des Quellenstaates728. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung setzt die Einbringung des Arguments, daß die in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG geregelte Nichtanrechnung der ausländischen Körper­ schaftsteuer eine solche wettbewerbsverzerrende Wirkung vermeiden würde, seine europarechtliche Zulässigkeit als Regelungsziel voraus. Die Verhinderung Wettbewerbs verzerrender Wirkungen der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates ist ein vom primären Gemeinschaftsrecht in Art. 96 EGV erfaßtes Ziel des Gemeinsamen Marktes und der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Es kann daher als Regelungsziel des § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG dienen.

727 Vollanrechnungs- und Teilanrechnungssysteme, klassisches Körperschaftsteuersystem mit voller Doppelbelastung, Shareholder-Relief-System. 728 Vgl. Kapitel 3 A.l. l.b)cc)(l).

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Eine Auseinandersetzung mit der Verhinderung wettbewerbsverzerrender Wir­ kungen in einer Verhältnismäßigkeitsprüfung wird aber nicht notwendig, weil an­ gesichts der gewonnenen Erkenntnisse über die begrenzte Wohnsitzstaatsan­ rechnung nach dem ’’reciprocal minimum relief criterion”729 die beschriebene Wettbewerbsverzerrung gerade nicht eintreten würde. Die Wohnsitzstaatsan­ rechnung würde sich im Interesse der Lastengerechtigkeit für Wohnsitz- und Quellenstaat am Entlastungsniveau für die Doppelbelastung der Dividenden im Quellenstaat730 ausrichten. Daher würde der Wohnsitzstaat seinen inländischen Anteilseignern nur eine Anrechnung in der Höhe gewähren, wie sie der Quellen­ staat gegenüber seinen im Inland unbeschränkt steuerpflichtigen Anteilseignern vomimmt. Dies hätte zur Folge, daß die Dividenden der Kapitalgesellschaft in beiden Staaten gleich behandelt würden und somit eine wettbewerbsverzerrende Wirkung der Wohnsitzstaatsanrechnung ausscheiden würde. Eine weitere Untersuchung des Arguments der Wettbewerbsverzerrung ist daher nicht not­ wendig.

dd) Ergebnis

Die in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG vorgesehene Nichtanrechnung ausländischer Körperschaftsteuer für inländische Anteilseigner ist als Eingriff in die Kapitalver­ kehrsfreiheit durch den über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranzuziehenden materiel­ len Rechtfertigungsgrund der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat, der der Differenzierung nach dem Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen zugrundeliegt, gerechtfertigt731. Der Rechtfertigungsgrund steht im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Inhalt der ’’Schran­ ken-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV ist.

c)

Möglichkeit der ausländischen Körperschaft zur Vermittlung eines An­ rechnungsguthabens für im Inland erwirtschaftete Gewinne

Es ergibt sich nach Feststellung der grundsätzlichen Vereinbarkeit der Nichtan­ rechnung der ausländischen Körperschaftsteuer mit der Kapitalverkehrsfreiheit die Frage, ob diese Aussage nicht teilweise zurückzunehmen ist, wenn die aus­ ländische Körperschaft im Wohnsitzstaat des Anteilseigners Gewinne in einer 729 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. b) cc) (2) (a) (bb). 730 Vgl. Fn. 728. 731 Im Ergebnis ebenso, aber ohne ausführliche Begründung Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 509.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

201

inländischen Betriebstätte erwirtschaftet. Es könnte dadurch zu einem Verstoß gegen die in Artt. 56 ff. EGV geregelte Kapitalverkehrsfreiheit kommen, daß das deutsche Steuerrecht der ausländischen Körperschaft keine Möglichkeit zur Ver­ mittlung eines Anrechnungsguthabens für die im Inland in einer Betriebstätte er­ wirtschafteten Gewinne bietet.

Zur Illustration des Problems kann erneut auf ein bereits geschildertes Beispiel zurückgegriffen werden732. Der nachfolgenden Untersuchung liegt der Fall zu­ grunde, daß ein deutscher Anteilseigner Aktien einer niederländischen Aktienge­ sellschaft hält, die ihre Gewinne zum Teil durch ihre in Deutschland belegene Be­ triebstätte erwirtschaftet. Die Dividenden fließen dem deutschen Kapitalanleger, gemindert um den niederländischen Körperschaftsteueranteil, zu, und eine An­ rechnung der ausländischen Körperschaftsteuer wird nach § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG nicht gewährt. Daher kann die niederländische Aktiengesellschaft dem deutschen Anteilseigner auch nicht für den Anteil der in Deutschland erwirt­ schafteten Gewinne ein Anrechnungsguthaben vermitteln.

aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV

Die Vorschrift des § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG schließt die Anrechnung ausländi­ scher Körperschaftsteuer für inländische Anteilseigner grundsätzlich aus. Sie er­ möglicht der ausländischen Körperschaft nicht, ihre im Inland erwirtschafteten Gewinne offenzulegen und den inländischen Anteilseignern zumindest für diesen prozentualen Anteil an den insgesamt ausgeschütteten Dividenden eine Körper­ schaftsteueranrechnung zu vermitteln. Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit durch die Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer wurde bereits bejaht733. Von ihm kann daher für die folgende weitergehende Untersuchung einer Aufschlüsselungsmöglichkeit der ausländischen Körperschaft nach im In- und im Ausland erwirtschafteten Gewinnen ausgegangen werden.

bb) Rechfertigung durch die ’’Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV Die Regelung der Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG ist formell aufgrund der Differenzierung nach dem unter­ 732 Vgl. Kapitel 2 A. II. 1. b). 733 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. b) aa).

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202

schiedlichen Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen von der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt734. An dieser formellen Einhaltung der "Schranke" ließe sich bei der jetzt untersuchten Konstellation jedoch zweifeln, wenn man den "Kapitalanlageort" in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als den tatsächli­ chen, wirtschaftlichen Investitionsort des Kapitals verstünde735. Dann würde Deutschland in bezug auf einen Teil der Dividenden als ’’Kapitalanlageort" in Betracht kommen, und die europarechtlich vorgesehene Differenzierung nach dem unterschiedlichen "Kapitalanlageort" würde entfallen. Diesen Ausführungen liegt aber eine nicht vertretbare Definition des "Kapitalanlageortes" zugrunde, die oben mit ausführlicher Begründung abgelehnt wurde736. Es bleibt daher auch hier bei der formellen Einhaltung der "Schranke" des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV.

Des weiteren wurde festgestellt, daß mit der Wahrung der fiskalischen Lastenge­ rechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat ein materieller Rechtfertigungs­ grund für die in der deutschen Steuemorm erfolgende Differenzierung nach dem Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen vorliegt, der die "Schranken-Schranke" des Art. 58 Abs. 3 EGV einhält. Es kann daher zu der Frage übergegangen werden, ob der genannte materielle Rechtfertigungsgrund auch auf die einer ausländischen Körperschaft versagte Möglichkeit, den inländischen Anteilseignern zumindest ein Anrechnungsguthaben für die in einer inländischen Betriebstätte erwirtschaf­ teten Gewinne zu vermitteln, anwendbar ist. Dies soll im folgenden Abschnitt der "Schranken-Schranke" untersucht werden737.

cc) ’’Schranken-Schranke” - Art. 58 Abs. 3 EGV

Zunächst ist der materielle Rechtfertigungsgrund der Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat auf seine Anwend­ barkeit auf die hier betrachtete Konstellation zu untersuchen. Sollte er sich als nicht einschlägig erweisen, müßte die Existenz eines anderen Rechtfertigungs­ grundes geprüft werden.

734 735 736 737

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Kapitel 3 Kapitel 2 Kapitel 2 Kapitel 2

A. I. 1. b) bb) (1). A. II. 1. b) aa). A. II. 1. b) bb). A. I. 2 d) und Kapitel 2 A. II. 3. a).

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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(1) Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und

Quellenstaat

Das Argument der fiskalischen Lastengerechtigkeit stützt die in § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG geregelte Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer für den inländischen Anteilseigner, da durch den Ausschluß der Wohnsitzstaatsan­ rechnung vermieden wird, daß dem Wohnsitzstaat trotz ebenfalls bestehender Entlastungsverantwortlichkeit des Quellenstaats allein die fiskalische Last der Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der Dividenden zukommt. Überträgt man diese Argumentation auf die hier untersuchte, der ausländischen Körperschaft versagte Möglichkeit, den inländischen Anteilseignern zumindest ein Anrechnungsguthaben für die im Inland erwirtschafteten Gewinne zu ver­ mitteln, so kann die vorher genannte Begründung jedoch nicht überzeugen.

Die von der ausländischen Körperschaft in einer deutschen Betriebstätte erwirt­ schafteten Gewinne unterliegen gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2 lit. a EStG i.V.m. §§ 2 Nr. 1, 8 Abs. 1 KStG der deutschen Körperschaftsteuer, wobei Deutschland das Besteuerungsrecht auch nach dem entsprechenden DBA verbleibt738. Somit flie­ ßen dem deutschen Fiskus in bezug auf die Gewinne der ausländischen Körper­ schaft Steuern als Einnahmen zu, die eine teilweise Gewährung eines Anrech­ nungsguthabens für die ausländische Körperschaftsteuer739 an den inländischen Anteilseigner möglich machen, ohne die fiskalische Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat zu gefährden. Die Körperschaftsteuer der in­ ländischen Betriebstätte und die Einkommensteuer des inländischen Anteilseig­ ners fallen im selben Staat an, so daß dem Wohnsitzstaat eine teilweise Körper­ schaftsteueranrechnung aufgrund der fiskalischen Kompensation in lastenge­ rechter Weise möglich ist740. Folglich versagt der materielle Rechtfertigungsgrund der fiskalischen Lastengerechtigkeit, wenn es um die Begründung geht, warum ausländische Körperschaften mit beschränkter Steuerpflicht in Deutschland den inländischen Anteilseignern kein Körperschaftsteueranrechnungsguthaben ver­ mitteln können741.

738 Vgl. stellvertretend Art. 7 Abs. 1 S. 2 OECD-MA. 739 Bei ihrer Ermittlung wird die im Betriebstättenstaat gezahlte Körperschaftsteuer durch Befreiung oder An­ rechnung berücksichtigt, vgl. Artt. 23 A und 23 B OECD-MA. 740 Vgl. Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 510. 741 Im Ergebnis ebenso Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 517.

204

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

(2) Fehlen der Möglichkeit zur Erhebung von Quellensteuer

Als anderer, über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziehbarer, materieller Rechtfer­ tigungsgrund für die durch das deutsche Steuerrecht gegenüber der ausländischen Körperschaft ausgesprochene Verwehrung des Rechts zur Vermittlung eines An­ rechnungsguthabens für die in einer inländischen Betriebstätte erwirtschafteten Gewinne kommt das Fehlen der Möglichkeit des Betriebstättenstaates zur Erhe­ bung einer Quellensteuer auf die Gewinne in Betracht. Dieses Argument beruht darauf, daß dem Wohnsitzstaat, der das Anrechnungsguthaben gewähren soll, zwar aufgrund der betriebstättenbedingten, beschränkten Körper­ schaftsteuerpflicht der ausländischen Körperschaft Steuern als Einnahmen zu­ fließen, ihm die Möglichkeit eines direkten Zugriffs in Form einer Quellensteuer jedoch verwehrt ist. Das Argument basiert auf dem Kohärenzgedanken, nach dem die Gewährung des Anrechnungsguthabens dem Wohnsitzstaat des Anteilseigners nur möglich sein soll, wenn seine anrechnungsbedingten fiskalischen Mindereinnahmen durch eine Quellenbesteuerung der Körperschaft ausgeglichen sind. Diese Quellenbesteuerung ist aber nur bei der im Inland unbeschränkt steuerpflichtigen Körperschaft vorgesehen.

Die Erhebung der Körperschaftsteuer erfolgt bei den deutschen Einkünften einer ausländischen Körperschaft, die in einer inländischen Betriebstätte erzielt werden, gemäß §§ 50 Abs. 1, Abs. 5 S. 3 EStG i.V.m. §§ 2 Nr. 1, 8 Abs. 1 KStG durch Veranlagung, nicht durch Steuerabzug. Eine Quellensteuer in Form der Kapitaler­ tragsteuer ist gemäß §§ 43 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 49 Abs. 1 Nr. 5 lit. a EStG nur bei Gewinnauschüttungen von in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtigen Körper­ schaften vorgesehen, was auf das bei einer beschränkt steuerpflichtigen Körper­ schaft gegebene Fehlen einer inländischen Anknüpfungsmöglichkeit für eine Quellenbesteuerung zurückzuführen ist (keine Ausschüttung der inländischen Be­ triebstätte). Aufgrund dieser Situation könnte der Wohnsitzstaat des Anteilseig­ ners, der gleichzeitig Betriebstättenstaat ist, der ausländischen Körperschaft die Vermittlung des Anrechnungsguthabens mit dem Argument verwehren, daß man­ gels der Möglichkeit einer Quellenbesteuerung keine direkte, gesicherte fiskali­ sche Kompensation für die Gewährung des Anrechnungsguthabens gegeben ist742.

Es ist jedoch zweifelhaft, ob die Gewährung des Anrechnungsguthabens notwen­ digerweise durch eine Quellenbesteuerung der Betriebstätte der ausschüttenden 742 Vgl. Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 519.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

205

Körperschaft kompensiert werden muß. Der fiskalische Ausgleich für die Gewäh­ rung des Anrechnungsguthabens kann auch durch die Veranlagung der Be­ triebstätte hinreichend gesichert sein. Zwar sind die im Fall der Veranlagung er­ zielten Fiskaleinnahmen gegenüber der Quellenbesteuerung zeitlich verzögert und werden nicht aus einem direkten Zugriff auf Teile der Ausschüttung erzielt. Aufgrund der vorhandenen Betriebstätte ist aber für den Wohnsitzstaat des An­ teilseigners die Vollstreckung der Steuerforderungen in ausreichendem Maße ge­ sichert. Er besitzt aufgrund der Betriebstätte hinreichende Einwirkungsmöglich­ keiten im Rahmen des Festsetzungs- und Erhebungsverfahrens, und der Zugriff auf vorhandene Vermögensgegenstände in der Vollstreckung ist ebenfalls gege­ ben.

Dies läßt das Fehlen der Möglichkeit zur Erhebung einer Quellensteuer als Recht­ fertigung für die der ausländischen Körperschaft verwehrte Möglichkeit zur Ver­ mittlung eines Anrechnungsguthabens für die im Inland erwirtschafteten Gewinne ausscheiden.

(3) Technische Schwierigkeiten für den Wohnsitzstaat bei der Ermittlung

des Anrechnungsguthabens

(a) Inhalt des Rechtfertigungsgrundes

Zuletzt könnten als materieller Rechtfertigungsgrund, der die differenzierende steuerliche Behandlung nach dem Kapitalanlageort i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV bestimmt, die technischen Schwierigkeiten für den Wohnsitzstaat bei der Ermittlung des Anrechnungsguthabens dienen. Für das Verständnis eventueller technischer Schwierigkeiten ist es erforderlich, die mögliche steuerrechtliche Abwicklung der Vermittlung eines Anrechnungsguthabens für die im Inland erwirtschafteten Gewinne kurz zu skizzieren.

Die deutschen Steuervorschriften müßten vorsehen, daß die in Deutschland be­ schränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaft ihren Gesamtgewinn, aufgeschlüsselt nach den Gewinnanteilen aus ihrem Sitzstaat und den verschiedenen anderen Län­ dern, weiterhin die in Deutschland gebietsansässigen Anteilseigner und ihren individuellen Anteil am Eigenkapital offenlegen muß. Aus der Gewinngliederung

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

müßte sich der prozentuale Anteil der in Deutschland erwirtschafteten Gewinne am Gesamtgewinn der Kapitalgesellschaft ermitteln lassen. Dieser deutsche Gewinnanteil würde dann die Berechnungsgrundlage für das den deutschen An­ teilseignern zu gewährende Anrechnungsguthaben bilden, wobei das Verhältnis der deutschen Anteilseigner zu den übrigen Anteilseignern berücksichtigt werden muß.

Zur Illustration dieser Abwicklung soll ein kurzes Beispiel dienen: Erwirtschaftet eine ausländische Kapitalgesellschaft einen Gesamtgewinn von 1 Mio. Euro, der vollständig ausgeschüttet werden soll, und machen die in Deutschland erwirt­ schafteten Gewinne 200.000 Euro aus, so beträgt der deutsche Anteil am Ge­ samtgewinn 20 %. Es steht daher für die Gesamtheit der deutschen Anteilseigner ein Körperschaftsteueranrechnungspotential in Höhe von 20 % der ausländischen Körperschaftsteuer zur Verfügung, das nach dem Anteil des einzelnen Anteilseig­ ners am Eigenkapital der Gesellschaft zu verteilen ist. Allerdings müßte die durch die ausländische Körperschaftsteuer definierte Berechnungsgrundlage für das An­ rechnungsguthaben auf die in Deutschland festgelegte Ausschüttungsbelastung von 30 %743 begrenzt werden, da lediglich eine Gleichstellung mit der bei inländi­ schen Kapitalgesellschaften praktizierten Anrechnung angestrebt wird. Dies würde bedeuten, daß z.B. bei einer ausländischen Körperschaftsteuer in Höhe von 35 % die Ermittlung des Anrechnungsguthabens lediglich auf der Basis von 30 % erfolgen würde.

Im Beispielsfall beträgt das gesamte, auf die Anteilseigner umsetzbare Anrech­ nungsguthaben daher 20 % der auf einen Maximalsatz von 30 % begrenzten aus­ ländischen Körperschaftsteuer, die bei einem vollständig auszuschüttenden Ge­ samtgewinn von 1 Mio. Euro 3/7 dieses Betrages, d.h. rund 428.571,- Euro aus­ macht. Es besteht daher für die in Deutschland erwirtschafteten Gewinne ein ge­ samtes Anrechnungspotential in Höhe von 85.714,20 Euro (= 20 % von 428.571,Euro). Die Gewährung dieses Anrechnungsguthabens an die deutschen Anteils­ eigner bestimmt sich nach dem Anteil des einzelnen am gesamten Eigenkapital der ausländischen Gesellschaft. Macht der Anteil eines einzelnen deutschen Anteilseigners z.B. 2 % aus, so müßte ihm ein Anrechnungsguthaben in Höhe von rund 1.714,28 Euro (= 2 % von 85.714,20 Euro) zukommen.

743 Vgl. § 27 Abs. 1 KStG.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

207

Das dargestellte Anrechnungskonzept, das die ausländische Körperschaft in die Lage versetzt, ihren deutschen Anteilseignern für die in Deutschland erwirtschaf­ teten Gewinne ein Anrechnungsguthaben zu vermitteln, birgt technische Schwie­ rigkeiten. Es bedürfte umfangreicher steuerrechtlicher Regelungen, die der in Deutschland nur beschränkt steuerpflichtigen Körperschaft, in gleichem Maß wie einer inländischen Körperschaft, die Möglichkeit zur Aufgliederung ihrer Ge­ winne nach den verschiedenen Ländern der Gewinnerzielung liefert. Es wären den §§ 27 ff. KStG vergleichbare Vorschriften mit ähnlichem Grad der Komplexität notwendig, wobei die Prüfung der Gewinnaufschlüsselung durch die Steuerver­ waltung aufgrund der geringeren Einwirkungsmöglichkeiten auf die nur be­ schränkt steuerpflichtige Körperschaft erschwert wäre und einen noch größeren Verwaltungsaufwand als bei der Prüfung inländischer Körperschaften auslösen würde744. Mangels eigener Möglichkeiten der deutschen Steuerverwaltung zur Ermittlung der von der ausländischen Körperschaft erzielten nicht-deutschen Gewinne und eventueller verdeckter Gewinnausschüttungen im Ausland kann sie sich nur auf die Feststellungen der ausländischen Steuerbehörde des Sitzstaates der Körperschaft verlassen. Diese Abhängigkeit ist für die Gewährung des An­ rechnungsguthabens und für den damit verbundenen Fiskalverzicht problema­ tisch.

Daneben ergeben sich technische Schwierigkeiten daraus, daß der im Inland an­ sässige Anteilseigner, der die Gewährung des Anrechnungsguthabens für die im Inland durch die ausländische Körperschaft erwirtschafteten Gewinne anstrebt, seinen Anteilsbesitz zum Zeitpunkt der Dividendenausschüttung nachweisen muß. Für die erleichterte Beweisbarkeit des Anteilsbesitzes wären die Aktienge­ sellschaften für die verbesserte Transparenz ihrer Anteilseignerstruktur zur Ein­ führung von Namensaktien gezwungen, was einem Eingriff in die Aktionärsrechte auf Selbstbestimmung der satzungsrechtlichen Organisation gleichkäme. Die Zumutbarkeitsgrenze wird auch dadurch überschritten, daß man der deutschen Steuerverwaltung die Nachprüfung der inländischen Anteilseigner auflasten würde. Die Verwaltung wäre hiermit organisatorisch überfordert.

Folglich liefern die technischen Schwierigkeiten für den Wohnsitzstaat bei der Er­ mittlung des Anrechnungsguthabens einen über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zu be­ rücksichtigenden materiellen Rechtfertigungsgrund745. Die Einhaltung des in 744 A.A.: Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 519, der von "denselben Problemen" wie bei einer inlän­ dischen Kapitalgesellschaft mit Auslandstätigkeit ausgeht 745 A.A.: Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 519.

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Art. 58 Abs. 3 EGV implizierten Verhältnismäßigkeitsprinzips746 gilt es im fol­ genden festzustellen.

(b) Verhältnismäßigkeit

Bei der Verhältnismäßigkeit ergibt sich zunächst die Frage, ob die deutsche Steu­ ervorschrift des § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG zur Vermeidung der geschilderten technischen Schwierigkeiten geeignet und erforderlich ist. Die gegenüber der ausländischen Körperschaft ausgesprochene Versagung der Möglichkeit zur Vermittlung eines Anrechnungsguthabens für inländische Gewinne schließt die technischen Probleme aus, ohne daß ein gleich geeignetes, milderes Mittel er­ sichtlich wäre. Die Verhältnismäßigkeit der deutschen Steuervorschriften hängt daher davon ab, ob die eintretende Kapitalverkehrsbeschränkung in einem gerecht gewichteten Verhältnis zur angestrebten Vermeidung der technischen Schwierigkeiten steht.

Bei der Abwägung zwischen der Kapitalverkehrsbeschränkung und den techni­ schen Schwierigkeiten der Anrechnung muß die Reichweite der Beschränkungs­ wirkung berücksichtigt werden. Sie ist besonders schwerwiegend, wenn eine ausländische Körperschaft einen Großteil ihrer Gewinne in einer deutschen Be­ triebstätte erwirtschaftet und gleichzeitig einen überwiegend deutschen Anteils­ eignerkreis besitzt. Diese Konstellation wird nur in seltenen Einzelfällen eintre­ ten; dagegen wird die Beschränkungswirkung im Regelfall gering sein. Ange­ sichts dieser regelmäßig geringen Beschränkungswirkung muß den technischen Schwierigkeiten für den Anrechnungsstaat bei der Abwägung der Vorrang einge­ räumt werden. Die schwerwiegenden Probleme für die Kapitalgesellschaft und die Steuerverwaltung können nicht durch die Beschränkungswirkung in extremen Einzelfällen gerechtfertigt werden. Es muß dem Gesetzgeber bei Steuemormen ein Spielraum der Typisierung zugestanden werden, was bei der Prüfung von Steuervorschriften unter dem verfassungsrechtlichen Maßstab des Gleich­ heitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG auch allgemein anerkannt ist747. Folglich hält der Rechtfertigungsgrund der Vermeidung der technischen Schwierigkeiten der in Art. 58 Abs. 3 EGV implizierten Verhältnismäßigkeitsprüfung stand.

746 Vgl. Kapitel 2 A. II. 3. c). 747 Vgl. BVerfG, B. v. 31.05.1988, BVerfGE 78, S. 214, 226 f.; B. v. 29.11.1989, BVerfGE 81, S. 108, 119; Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, § 2 III 2. c), S. 49; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9 Rdnr. 281, S. 319.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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dd) Ergebnis

Das nach dem deutschen Steuerrecht geltende Fehlen der Möglichkeit für eine ausländische Körperschaft, den deutschen Anteilseignern für die in Deutschland erwirtschafteten Gewinne ein Körperschaftsteueranrechnungsguthaben zu ver­ mitteln, ist als Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit durch den über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranzuziehenden materiellen Rechtfertigungsgrund der tech­ nischen Schwierigkeiten der Anrechnung gerechtfertigt. Die ’’SchrankenSchranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV wird eingehalten.

d)

Möglichkeit der inländischen Körperschaft zur "Durchreichung" der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer an den inländischen Anteilseigner

Als letzte Konstellation ist zu untersuchen, ob die einer inländischen Körperschaft durch das deutsche Steuerrecht verwehrte Möglichkeit, ihren inländischen An­ teilseignern die Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer ’’durchzurei­ chen”, mit der Kapitalverkehrsfreiheit zu vereinbaren ist. Die ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer bedeutet, daß die inländi­ sche Körperschaft den im deutschen Steuerrecht bereits vorgesehenen Vorteil der Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der ausländischen Gewinne, der durch Freistellung oder Anrechnung eintritt, an den inländischen Anteilseig­ ner weitergeben kann.

aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV Die Vorschrift des Art. 56 Abs. 1 EGV verbietet alle Beschränkungen des Kapi­ talverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten. Gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG wird dem inländischen Anteilseigner zwar grundsätzlich die Körperschaftsteuer der unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Körperschaft angerechnet, so daß die wirtschaftliche Doppelbelastung der Dividenden vermieden wird. Bei den durch die inländische Körperschaft von ihren ausländischen Betriebstätten und Tochtergesellschaften vereinnahmten Gewinnen bleibt jedoch die wirtschaftliche Doppelbelastung bei Weiterausschüttung der Gewinne an inländische Anteils­ eigner, die natürliche Personen sind748, teilweise bestehen749. Die inländische 748 Auf diese Anteilseigner ist die hier durchgeführte Untersuchung begrenzt: vgl. Einleitung zu Kapitel 3. 749 Vgl. Zeitler/Krebs, DB 1993, S. 1051 f.; Henkel, DB 1993, S. 893, 895.

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Körperschaft kann den ihr durch Freistellung der ausländischen Einkünfte von der inländischen Körperschaftsteuer oder Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer nach dem deutschen Steuerrecht gewährten Vorteil nicht vollständig in Höhe der konkreten ausländischen Körperschaftsteuerbelastung an ihre inländischen Anteilseigner weiterreichen750. Die aus dem Ausland stam­ menden Gewinne unterliegen bei Weiterausschüttung neben der ausländischen Körperschaftsteuer, die auf der Gesellschaftsebene in der Regel nur teilweise durch Freistellung von der inländischen Körperschaftsteuer bzw. Anrechnung auf die inländische Körperschaftsteuer ausgeglichen wird, der Einkommensbe­ steuerung beim inländischen Anteilseigner, ohne daß diesem für die ausländische Körperschaftsteuer eine Anrechnung auf seine Einkommensteuer gewährt wird.

Dies liegt in folgender Rechtslage begründet751:

Gewinne, die eine inländische Kapitalgesellschaft von einer im EU-Ausland täti­ gen Tochtergesellschaft oder Betriebstätte bezieht, werden bei der Einkommen­ besteuerung der inländischen Gesellschaft zumeist nach dem internationalen Schachtelprivileg freigestellt752, oder es wird bei Nichteinhaltung der Voraus­ setzungen des Schachtelprivilegs753 zumindest eine Anrechnung der für die aus­ geschütteten Gewinnanteile entrichteten ausländischen Körperschaftsteuer ge­ währt754. Im Falle der Freistellung von der inländischen Körperschaftsteuer ver­ bleibt auf der Ebene der inländischen Kapitalgesellschaft eine gegenüber der Be­ lastung von Gewinnen, die nur aus inländischen Betrieben erzielt werden, erhöhte Körperschaftsteuerbelastung, wenn die ausländische Körperschaftsteuer höher ist als die inländische. In gleicher Weise ist der Gewinn der inländischen Gesell­ schaft durch seine Erzielung in ausländischen Betriebstätten bzw. Tochtergesell­ schaften mit einer erhöhten Körperschaftsteuerbelastung beschwert, wenn bei Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer auf die deutsche Körper­ 750 Vgl. Sarrazin, DSUG Bd. 20 (1997), S. 57, 65 f.; Thiel, StbJ 1996/97, S. 79, 81 u. 93. 751 Vgl. Henkel, DB 1993, S. 893, 895; Zeitler/Krebs, DB 1993, S. 1051 f. 752 Vgl.für Tochtergesellschaften: Henkel, in: Mossner u.a., Steuerrecht international tätiger Unternehmen, Rdnr. E 282 ff.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 16 Rdnr. 556 ff., S. 1051 ff; Vogel, in: Vogel, DBA, Art. 23 Rdnr. 99 ff; Schäfer, Ausgewählte Probleme des internationalen Schachtelprivilegs, in: Vogel/Wassermeyer u.a., Freistellung im Internationalen Steuerrecht, 1996, S. 29 ff; für Betriebstätten: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 16 Rdnr. 556 ff, S. 1051 ff; alle mit EU-Mitgliedstaaten abge­ schlossenen DBA mit Ausnahme des DBA-Griechenland, vgl. Übersicht bei Vogel, DBA, Art. 23 Rdnr. 98. 753 Vgl. zum Vorrang des DBA-Schachtelprivilegs gegenüber § 26 Abs. 2 a KStG: Jütte, in: Dötsch/Eversberg/Jost/Witt, KStG, § 26 Rdnr. 383; Streck, KStG, § 26 Anm. 49; Vogel, in: Vogel, DBA, Art 23 Rdnr. 101 mit Verweis auf den DBA-Aktivitätsvorbehalt im DBA-Portugal und im DBA-Spanien. 754 Vgl. § 26 Abs. 2 a KStG, in dem die EG-Mutter-Tochter-Richtlinie (Richtlinie des Rates vom 23.07.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedsstaaten, 90/435/EWG, ABI. EG Nr. L 225/6) umgesetzt wird.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

211

schaftsteuer die ausländische die inländische übersteigt. Werden die Gewinne von der inländischen Kapitalgesellschaft an ihre Anteilseigner weiter ausgeschüttet, muß die Gesellschaft gemäß §§ 40 S. 1 Nr. 1 i.V.m. 30 Abs. 2 Nr. 1 HS 1 KStG (Ausschüttung von Eigenkapitalanteilen, die aus ausländischen Einkünften entstanden sind) nicht mehr die sog. Ausschüttungsbelastung in Höhe von 3/7 des ausgeschütteten Betrags (3/7 der Bardividende) herstellen755, die ausgeschütteten Gewinne sind aber bei den Anteilseignern einkommensteuerpflichtig, ohne daß eine Anrechnung von Körperschaftsteuer gewährt wird. Die Anrechnung nach § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG ist ausgeschlossen, da mangels Herstellung der Ausschüttungsbelastung bei der inländischen Körperschaft keine ’’Körper­ schaftsteuer einer unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Körperschaft” i.S.d. Vorschrift erhoben wurde. Es entsteht also die Situation, daß die inländische Kapitalgesellschaft, die keine Ausschüttungsbelastung herstellen muß, zwar die Möglichkeit besitzt, eine höhere Bardividende auszuschütten, die der Anteils­ eigner aufgrund des verwehrten Körperschaftsteueranrechnungsguthabens auch erwartet756. Das erhöhte Ausschüttungspotential kann jedoch selbst bei vollstän­ diger Weitergabe an die Anteilseigner, die nicht die Regel sein dürfte, den Nach­ teil, den der Anteilseigner durch den Ausfall der Körperschaftsteueranrechnung erleidet, nicht ausgleichen. Im Ergebnis unterliegen die aus dem Ausland stam­ menden Gewinne bei Weiterausschüttung durch die inländische Körperschaft ne­ ben der ausländischen Körperschaftsteuer, die zwar auf der Gesellschaftsebene durch Freistellung oder Anrechnung berücksichtigt wird, der Einkommenbesteue­ rung beim inländischen Anteilseigner757. Es tritt folglich eine teilweise wirtschaft­ liche Doppelbelastung der Gewinne ein.

Die unterschiedliche Steuerbelastung für den Anteilseigner bei Ausschüttung im Inland und im Ausland erwirtschafteter Gewinne durch eine inländische Ka­

755 Vgl. zur Situation vor dem Standortsicherungsgesetz vom 13.09.1993 (BGBl. I 1993, S. 1569): Müller-Gatermann, FR 1993, S. 381, 383; Zeitler/Krebs, DB 1993, S. 1051. 756 Vgl. Streck, KStG, § 8b Anm. 3; Zeitler/Krebs, DB 1993, S. 1051 f.; ähnlich Eilers/Wienand, in: Flick/Wassermeyer/Becker, Kommentar zum Außensteuerrecht, § 8 b Rdnr. 71; Ketterer/Pumbo, IStR 1993, S. 289,296. 757 Vgl. Buyer, in: Dötsch!Eversberg/Jost/Witt, KStG, § 8 b Rdnr. 3, 12; Eilers/Wienand, in: Flick/Wassermeyer/Becker, Kommentar zum Außensteuerrecht, § 8b Rdnr. 71.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

212

pitalgesellschaft zeigt die folgende Übersicht, wobei in Spalte 2 von der NichtWeitergabe des erhöhten Ausschüttungspotentials durch die inländische Kapi­ talgesellschaft und in Spalte 3 von seiner vollständigen Weitergabe ausgegangen wird: Gewinn aus einzelnem in­ ländischen Betrieb758

Gewinn aus EU-ausländischer Gewinn aus EU-ausländischer

(ohne

Wle-

Betriebstätte (bei vollständiger

erhöhten

Aus-

Weitergabe

Betriebstätte

tergabe

des

schOttungspotentlals)

des

erhöhten

Ausschöttungspotentlals)

Kapitalgesellschaft Gewinn vor Steuern

100

100

Inländische KSt (40 %)

40

-

Ausländische KSt (35%) Herstellung der Aus-

100

-

35

35

-10

keine Berücksichtigung

keine Berücksichtigung

(Minderung der KSt von

der ausländischen KSt

der ausländischen KSt

schüt-tungsbelastung

gemäß § 27 KStG Thesaurieningssatz 40 %

(vgl. §§40 Nr. 1 i.V.m.

(vgl. §§40 Nr. 1 i.V.m.

auf AusschQttungssatz

30 Abs. 2 Nr. 1 HS 1 KStG)

30 Abs. 2 Nr. 1 HS 1 KStG)

von 30 %)

Ausschaltung

70

65

65

4- 27.86 (3/7 der

Bardividende)

Anteilseigner Dividende

70

+ anrechenbare KSt

30

-

Zu versteuernde Ein*

100

65

92,86

37,14

65

92,86

nähme

ESt (40 %) Anrechenbare KSt

zu entrichtende ESt.

Verbleibende

Nettodi­

40

26

JO

-

10

26

37,14

60

39

55,72

vidende

758 Die inländische Kapitalgesellschaft kann keine inländische Betriebstätte im steuerlichen Sinn haben, vgl. BFH, Urt. v. 13.01.1970, BStBl. II 1970, S. 790, 792.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

213

Die Beispiele machen deutlich, daß dem inländischen Anteilseigner bei gleich ho­ hem Einkommensteuersatz nach Abzug von Steuern eine höhere Nettodividende aus inländischem Gewinn als aus ausländischem Gewinn verbleibt. Selbst bei vollständiger Weitergabe des erhöhten Ausschüttungspotentials, das ohne die Herstellung der Ausschüttungsbelastung in Höhe von 3/7 der Bardividende ent­ steht, an die Anteilseigner (Spalte 3 der Tabelle) besteht noch immer bei der Net­ todividende eine Differenz von 4,28 Recheneinheiten (= 60 - 55,72). Die Netto­ dividende ist somit in diesem Beispiel (Spalte 1 und 3) bei inländischen Gewin­ nen der inländischen Kapitalgesellschaft um fast 7,68 % höher als bei ausländi­ schen Gewinnen. Im Falle der Nicht-Weitergabe des erhöhten Ausschüttungspo­ tentials (Spalte 2) beträgt diese Differenz sogar 54 %.

Folglich wird der inländische Kapitalanleger, der Anteile an einer umfangreich im EU-Ausland tätigen inländischen Kapitalgesellschaft hält und dessen Kapital so­ mit auch im EU-Ausland investiert wird, trotz vergleichbarer steuerlicher Situa­ tion gegenüber dem Anteilsinhaber einer in ihrer Tätigkeit auf das Inland be­ schränkten Kapitalgesellschaft steuerrechtlich benachteiligt. Dies stellt eine Be­ schränkung des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV dar, womit ein Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit gegeben ist759.

bb) Rechtfertigung durch die ’’Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV

Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit ist gerechtfertigt, wenn die nach dem deutschen Steuerrecht der inländischen Körperschaft versagte Möglichkeit, ihren inländischen Anteilseignern die Anrechnung der ausländischen Körper­ schaftsteuer ’’durchzureichen”, von Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt ist. Diese ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit läßt diejenigen kapitalverkehrsbeschrän­ kenden Steuervorschriften zu, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohn­ ort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln.

(1) Formelle Einhaltung der ’’Schranke”

Es kommt eine formelle Rechtfertigung der Kapitalverkehrsbeschränkung durch die Differenzierung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort des Steuer­ 759 Vgl. zur grundsätzlichen Erfassung der Dividendenzahlungen durch Art. 56 Abs. 1 EGV: EuGH, Urt v. 06.06.2000, Rs. C-35/98, FR 2000, S. 720, 722 Rz. 29 (Verkooijen).

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

pflichtigen in Betracht. Die Umsetzung dieser zulässigen steuerrechtlichen Dif­ ferenzierung bei der Dreiecks-Konstellation des inländischen Anteilseigners, der inländischen Kapitalgesellschaft und ihrer ausländischen Betriebstätte oder Tochtergesellschaft bereitet gewisse Schwierigkeiten. Setzt man mit der Diffe­ renzierung bei dem inländischen Anteilseigner an, so müßte er als Steuerpflich­ tiger i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV einen unterschiedlichen Kapitalanlageort haben. Nach der oben begründeten Definition ist der Kapitalanlageort der Ort der Ansässigkeit des Kapitalnehmers760. Dies bedeutet in der hier untersuchten Kon­ stellation, daß aufgrund der Beteiligung an der inländischen Kapitalgesellschaft der Kapitalanlageort des Anteilseigners allein im Inland liegt, wobei die Gewin­ nerzielung der inländischen Kapitalgesellschaft im In- und Ausland keinen Ein­ fluß hat. Damit ist aus der Sicht des inländischen Anteilseigners kein unter­ schiedlicher Kapitalanlageort gegeben. Dies wäre nur bei der abzulehnenden De­ finition des Kapitalanlageortes als tatsächlicher, wirtschaftlicher Investitionsort des Kapitals der Fall761.

Ein anderes Bild ergibt sich aber, wenn man die Ebene der inländischen Kapital­ gesellschaft zuerst betrachtet und die bei ihren inländischen Anteilseignern eintre­ tende Situation als Folgewirkung der bei ihr erfolgenden steuerrechtlichen Behandlung versteht. Dieser vorrangige Blick auf die Gesellschaftsebene recht­ fertigt sich daher, daß die Benachteiligung des Anteilseigners hinsichtlich der ausländischen Körperschaftsteuer auf dieser Ebene durch die Nicht-Herstellung der Ausschüttungsbelastung nach § 40 Nr. 1 KStG und das daraus resultierende Fehlen der Anrechnungsmöglichkeit nach § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG entsteht. Schaut man auf die Ebene der inländischen Kapitalgesellschaft, die durch Investi­ tionen im Inland und Ausland inländische und ausländische Gewinne erzielt, so findet eine unterschiedliche steuerliche Behandlung in Abhängigkeit von dem unterschiedlichen Kapitalanlageort statt. Wie aus dem in der Tabelle dargestellten Beispiel ersichtlich, wird bei der Weiterausschüttung der ausländischen Gewinne durch die inländische Kapitalgesellschaft keine Ausschüttungsbelastung hergestellt, was zu einem Fehlen des Körperschaftsteueranrechnungspotentials für den Anteilseigner fuhrt, das auch nicht vollständig durch das erhöhte Ausschüttungspotential ausgeglichen werden kann (Spalte 3 der Tabelle). Dage­ gen erfolgt bei inländischen Gewinnen die Herstellung der Ausschüttungsbela­ stung unter vollständiger Berücksichtigung der Belastung mit inländischer Kör­ perschaftsteuer (Minderung der Körperschaftsteuer um 10 % als Differenz zwi760 Vgl. Kapitel 2 A. II. 1. b) bb). 761 Vgl. Kapitel 2 A. II. l.b).

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

215

sehen Thesaurierungssatz von 40 % und Ausschüttungssatz von 30 %762). Diese unterschiedliche steuerliche Behandlung nach dem Kapitalanlageort auf der Gesellschaftsebene fuhrt zu der benachteiligenden Wirkung beim steuerpflichti­ gen inländischen Anteilseigner, dem bei gleich hohem Einkommensteuersatz eine niedrigere Nettodividende aus den ausländischen Gewinnen verbleibt. Der Wirkungszusammenhang zwischen der steuerrechtlichen Behandlung auf der Gesellschaftsebene und dem beim Anteilseigner eintretenden Ergebnis rechtfertigt es, die differenzierende Behandlung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort bis auf die Ebene des Anteilseigners fortwirken zu lassen. Sie kann daher nicht nur als Rechtfertigung auf der Gesellschaftsebene herangezogen werden, sondern ist auch bei der unterschiedlichen steuerrechtlichen Behandlung der Anteilseigner einschlägig.

Folglich liegt eine steuerrechtliche Differenzierung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen vor. Die der inländischen Kapitalgesell­ schaft verwehrte Möglichkeit, ihren inländischen Anteilseignern die Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer ’’durchzureichen”, ist formell von der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt.

Die ’’Schranke” ist jedoch als materieller Rechtfertigungsgrund zu verstehen763, weshalb der materielle Grund für die Differenzierung nach dem unterschiedlichen Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen und sein rechtfertigender Charakter festge­ stellt werden müssen.

(2) Materieller Rechtfertigungscharakter der "Schranke"

Als materielle Rechtfertigungsgründe für die gegenüber der inländischen Kapital­ gesellschaft im deutschen Steurrecht ausgesprochene Verwehrung der Möglich­ keit, ihren inländischen Anteilseignern die Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer ’’durchzureichen”, lassen sich zwei Argumente anführen. Erstens kann mit Verweis auf die Kohärenz der Steuerrechtsordnung vorgebracht werden, daß im Hinblick auf die fiskalische Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat nur die inländische Körperschaftsteuer bei der Her­ stellung der Ausschüttungsbelastung und der Anrechnung beim Anteilseigner 762 Vgl. Zeile 5 der Tabelle. 763 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d).

216

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

berücksichtigt werden kann. Zweitens können technische Schwierigkeiten für den gleichzeitigen Sitz- und Wohnsitzstaat764 gegen die ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer an den inländischen Anteils­ eigner sprechen. Die ausführliche Auseinandersetzung mit den genannten Ar­ gumenten erfolgt auf der nachfolgenden Ebene der ’’Schranken-Schranke”765.

cc) ’’Schranken-Schranke” - Art. 58 Abs. 3 EGV

Die angesprochenen materiellen Rechtfertigungsgründe müssen die ’’SchrankenSchranke" des Art. 58 Abs. 3 EGV einhalten, die eine Verhältnismäßigkeitsprü­ fung impliziert766. Dazu sind der Inhalt der beiden Argumente und ihre Zulässig­ keit als Regelungsziele unter Einbeziehung der Verhältnismäßigkeit zu untersu­ chen.

(1) Fiskalische Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat

Als erster materieller Rechtfertigungsgrund kann mit Verweis auf die Kohärenz der Steuerrechtsordnung767 vorgebracht werden, daß im Hinblick auf die fiskali­ sche Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat nur die inländi­ sche Körperschaftsteuer bei der Herstellung der Ausschüttungsbelastung und der Anrechnung beim Anteilseigner berücksichtigt werden kann. Die hier untersuchte Möglichkeit für die inländische Körperschaft, ihren inländischen Anteilseignern die Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer ’’durchzureichen”, läßt sich nur dadurch erreichen, daß die ausländische Körperschaftsteuer in die Ermittlung der Ausschüttungsbelastung auf Gesellschaftsebene und in die Anrechnung beim Anteilseigner integriert würde. Dem kann jedoch entgegenstehen, daß der gleichzeitige Sitz- und Wohnsitzstaat nicht ohne Verstoß gegen die fiskalische Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat zur Integration der ausländischen Körperschaftsteuer in das Anrechnungsverfahren gezwungen werden kann. Es fließen ihm aus der ausländischen Körperschaftsteuer keine Fiskaleinnahmen zu, die ihm als Anrechnungspotential dienen könnten.

764 765 766 767

Sitzstaat der inländischen Kapitalgesellschaft, Wohnsitzstaat des inländischen Anteilseigners. Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d) und Kapitel 2 A. II. 3. a). Vgl. Kapitel 2 A. II. 3. c). Der EuGH dürfte aufgrund seines im ”Verkooijen“-Urteil aufgestellten Erfordernisses der Rechtssubjekti­ dentität filr die die Kohärenz bestimmenden Normen die hier nachfolgend verwandte Definition der Kohärenz zukünftig ablehnen, vgl. Kapitel 2 B V. 3.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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Als Gegenargument gegen die zur Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit auf inländische Körperschaftsteuer beschränkte Möglichkeit der ’’Durchreichung” ist anzufuhren, daß die steuerfreien Auslandserträge bei Weiterausschüttung durch die inländische Kapitalgesellschaft an eine weitere inländische Kapi­ talgesellschaft, im Unterschied zum Fall der natürlichen Person als Anteilseigner, steuerfrei durchgereicht werden können. Durch das Zusammenwirken von § 8b Abs. 1 KStG einerseits und den §§ 40 Nr. 1 i.V.m. 30 Abs. 2 Nr. 1 KStG an­ dererseits wird gewährleistet, daß ein ’’Durchreichen” der ausländischen Gewinne über mehrere inländische Kapitalgesellschaften steuerlich unbelastet erfolgen kann768, ohne daß durch die die Ausschüttung erhaltende Gesellschaft eine Mindestbeteiligungsquote zu erfüllen wäre769. Daraus wird deutlich, daß der deutsche Fiskus bei der Weiterausschüttung der steuerfreien ausländischen Gewinne an inländische Kapitalgesellschaften auf die inländische Steuerbelastung der Gewinne verzichtet, wogegen er bei Weiterausschüttung an natürliche Personen eine inländische Besteuerung für erforderlich hält.

Es stellt sich daher für die Abwägung des Gegenarguments die Frage, was die un­ terschiedliche steuerliche Behandlung rechtfertigt. Der Vergleich zwischen der Kapitalgesellschaft und der natürlichen Person als Ausschüttungsempfänger zeigt, daß die ausländischen Gewinne anscheinend solange von inländischer Körper­ schaftsteuer unbelastet bleiben sollen, wie sie bei körperschaftsteuerpflichtigen Ausschüttungsempfängem, deren bilanzielle Aufgliederung des Eigenkapitals die steuerliche Vorbelastung der empfangenen Gewinne erfaßt770, vorhanden sind771 und dort aufgrund der Thesaurierung der Selbstfinanzierung des Unternehmens772 dienen. Dieser Vorgang der Steuerfreiheit der ausländischen Gewinne bis zum Verlassen der Ebene der Kapitalgesellschaften zur Ausschüttung an die natürliche Person als ’’Endgesellschafter” (’’letzten Anteilseigner”) wird instruktiv als ’'Steuerstundung” bezeichnet773. Der beschriebene Hintergrund des steuerfreien 768 Vgl. Buyer, in: Dötsch!Eversberg/'Jost/Witt, KStG, § 8 b Rdnr. 11 ff.; Eilers/Wienand, in: Flick/Wassermeyer/Becker, Kommentar zum Außensteuerrecht, § 8 b Rdnr. 56 f.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 15 Rdnr. 224 ff; Streck, KStG, § 8b Anm. 3. 769 Vgl. Buyer, in: Dötsch!Eversberg/Jost/Witt, KStG, § 8 b Rdnr. 32 mit Verweis auf Abschnitt 41 Abs. 1 S. 5 KStR; Eilers/Wienand, in: Flick/Wassermeyer/Becker, Kommentar zum Außensteuerrecht, § 8 b Rdnr. 86. 770 Vgl. §30 KStG. 771 Vgl. Buyer, in: Dötsch!Eversberg/Jost/Witt, KStG, § 8 b Rdnr. 33. 772 Selbstfinanzierung erfolgt durch die Zurückbehaltung von Gewinnen im Betrieb, ihre Höhe wird durch die positive Differenz zwischen dem Gewinn nach Steuern und der Ausschüttung bestimmt. Vgl. umfassend zur Selbstfinanzierung: Wöhe/Bilstein, Grundzüge der Untemehmensfinanzierung, 8. Auf]., 1998, S. 301 ff. 773 Vgl. Eilers/Wienand, in: Flick/Wassermeyer/Becker, Kommentar zum Außensteuerrecht, § 8 b Rdnr. 76.

218

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Weiterausschüttens läßt sich durch die Zielsetzung der Einführung der Vorschrift des § 8 b KStG durch das Standortsicherungsgesetz774 belegen, wonach die Norm den ’’Standort” Deutschland für Holdinggesellschaften attraktiver machen und so zur Anpassung an andere EU-Mitgliedstaaten führen sollte775. Das Prinzip der steuerfreien Weiterausschüttung an Anteilseigner mit bilanzieller Aufgliederung des Eigenkapitals nach seiner steuerlichen Vorbelastung776 und die damit verbundene Förderung der Innenfinanzierung des Unternehmens lassen sich bei Ausschüttung an eine natürliche Person nicht realisieren. Bei der natürlichen Person gibt es keine Aufgliederung des Eigenkapitals nach seiner steuerlichen Vorbelastung und keinen ihr Einnahmen-/Ausgabenverhalten überwiegend bestimmenden Untemehmenszweck. Vielmehr ist die Verwendung der empfangenen Gewinne vielschichtig und im Vergleich zum Unternehmen in weit­ aus geringerem Maße an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtet. Aus diesen Gründen kann die unterschiedliche steuerliche Behandlung der Kapitalgesell­ schaften und der natürlichen Personen bei der Weiterausschüttung gerechtfertigt sein.

Zweifel an dieser gerade begründeten unterschiedlichen Behandlung von natürli­ chen Personen und Kapitalgesellschaften bei der Weiterausschüttung ausländi­ scher Gewinne kommen aber bei einem Blick auf den personellen Anwendungs­ bereich der Vorschrift des § 8 b Abs. 1 KStG auf. Das Argument der Beschrän­ kung der steuerfreien Weiterausschüttung auf die Fälle der zur Eigenkapitalglie­ derung nach der steuerlichen Vorbelastung verpflichteten Anteilseigner, denen nicht der Charakter eines ’’Endgesellschafters” zukommt, wird durch die nach der Vorschrift des § 8 b Abs. 1 KStG ebenfalls Begünstigten in Frage gestellt. Es sind gemäß der Norm alle unbeschränkt steuerpflichtigen Körperschaften i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1,2, 3 und 6 KStG begünstigt, d.h. neben Kapitalgesellschaften und Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften auch Versicherungsvereine auf Ge­ genseitigkeit und Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Diese begünstigten Körperschaften sind aber nicht zur Ei­ genkapitalgliederung verpflichtet, schütten keine Gewinne aus und sind somit ’’letzte Anteilseigner”777. Bei ihnen tritt daher keine ’’Steuerstundung’' ein, sondern die endgültige Steuerbefreiung der im Inland steuerfreien Auslandseinkünfte.

774 775 776 777

BGBL I 1993, S. 1569. Vgl. Buyer, in: Dötsch!Eversberg/Jost/Witt, KStG, § 8 b Rdnr. 1; Streck, KStG, § 8 b Anm. 1. Vgl. §30 KStG. Vgl. Eilers/Wienand, in: Flick/Wassermeyer/Becker, Kommentar zum Außensteuerrecht, § 8 b Rdnr. 90.

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Diese beiden Fälle könnten gegen das oben dargestellte Argument für die andere steuerliche Behandlung der natürlichen Personen bei der Weiterausschüttung steuerfreier Auslandsgewinne sprechen. Die entscheidende Begründung für die differenzierende Behandlung, die in der Förderung der Selbstfinanzierung des Unternehmens und der untemehmenszweckgebundenen Investitionen liegt (bei­ des bei natürlicher Person nicht erreichbar), wird jedoch durch die beiden Aus­ nahmen des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit und der Betriebe gewerbli­ cher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts nicht erschüttert. Das hinter der steuerfreien Weiterausschüttung stehende Interesse der Förderung der Selbstfinanzierung der Unternehmen wird auch bei diesen beiden Körperschaften erreicht, da auch hier die steuerfreien Auslandseinkünfte allein für untemehmenszweckgebundene Investitionen zur Verfügung stehen.

Zudem ist in diesem Zusammenhang anzumerken, daß die Ausdehnung der Steu­ erfreiheit nach § 8 b Abs. 1 KStG auf Ausschüttungen, die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts empfangen, lediglich auf erfolgreicher Lobbytätigkeit be­ ruht778.

Folglich scheidet das Gegenargument gegen die zur Wahrung der fiskalischen La­ stengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat auf inländische Körper­ schaftsteuer beschränkte Möglichkeit der ’'Durchreichung” steuerfreier Ausland­ seinkünfte an die natürlichen Personen als Anteilseigner aus. Das Kohärenzargu­ ment der Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit kann in eine Verhältnis­ mäßigkeitsprüfung eingebracht werden.

Für die Verhältnismäßigkeit kann auf die Ausführungen bei der Nichtanrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer bei Steuerinländem verwiesen werden779. Die hier untersuchte ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körper­ schaftsteuer an den inländischen Anteilseigner ist eine Abwandlung der vorher er­ örterten Konstellation, bei der die ausländischen Gewinne dem Anteilseigner nicht direkt über eine ausländische Kapitalgesellschaft, sondern indirekt über eine inländische zufließen. Im Ergebnis hält das Kohärenzargument der Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat die ’’Schranken-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV ein. Es bildet auch bei der 778 So Dötsch, DB 1993, S. 1790, 1794; Streck, KStG, § 8 b Anm. 3. 779 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. b) cc) (c) (2) (a).

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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’’Durchreichung” der steuerfreien Auslandseinkünfte an den inländischen Anteils­ eigner den zulässigen, über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziehbaren materiellen Rechtfertigungsgrund für die nach dem Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen differenzierenden Vorschriften des deutschen Steuerrechts (Zusammenwirken des § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG mit §§ 40 Nr. 1 i.V.m. 30 Abs. 2 Nr. 1 HS 1 KStG™).

(2) Technische Schwierigkeiten für den gleichzeitigen Sitz- und Wohnsitz­ staat bei der ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer

Einen weiteren materiellen Rechtfertigungsgrund könnten die technischen Schwierigkeiten für den gleichzeitigen Sitz-/Wohnsitzstaat bei der ’’Durchrei­ chung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer an den inländi­ schen Anteilseigner darstellen. Die ’’Durchreichung” kann technisch auf ver­ schiedenen Wegen erreicht werden. Eine mögliche Lösung, die die vollständige Weiterleitung der Steuerfreiheit der ausländischen Gewinne an den Anteilseigner vorsieht, würde dazu führen, daß die möglicherweise gegenüber der ausländi­ schen Körperschaftsteuer höhere persönliche Einkommensteuer des inländischen Anteilseigners unberücksichtigt bliebe, da die Dividendeneinkünfte vollständig von der Einkommensteuer freigestellt wären. Dies wäre ein Verstoß gegen die Steuergerechtigkeit781, wonach u.a. die verschiedenen der Einkommensteuer un­ terliegenden Einkunftsarten der gleichen Besteuerung beim Steuersubjekt unter­ liegen müssen. Die mögliche Divergenz der Steuersätze der ausländischen Kör­ perschaftsteuer und der nach der Progression zu bestimmenden individuellen Einkommensteuer des Anteilseigners müßte also auch bei der ’’Durchreichung” der ausländischen Körperschaftsteuer beachtet werden. Im Ergebnis müßten die Auslandsgewinne mit dem individuellen Einkommensteuersatz des inländischen Anteilseigners belastet sein. Das notwendige steuerrechtliche Normengefüge zur Erreichung dieses Zieles wurde bei der Vorbereitung des Standortsicherungsgesetzes bereits vom Finanz­ ausschuß des Bundestages (7. Ausschuß) in seiner Beschlußempfehlung und sei­ nem Bericht vom 25.05.1993 vorgeschlagen782. Es ist so ausgestaltet, daß die 780 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. d) aa). 781 Dazu allgemein Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rdnr. 70 ff. m.w.N. 782 Vgl. BT-Drs. 12/5016, insbesondere S. 33 ff. und 95 ff; kommentierend Cattelaens, StuW 1993, S. 249, 254 ff; Zeitler/Krebs, DB 1993, S. 1051, 1053 f.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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’’Durchreichung” der ausländischen Körperschaftsteuer in § 27 KStG verankert wird, dessen Absatz 2 vorsieht, daß auch die ausländische Körperschaftsteuer bis zur Höhe von 3/7 der Vermögensmehrungen aus den ausländischen Einkünften zur Tarifbelastung i.S.d. Absatzes 1 zählt783. Die Berücksichtigung der ausländi­ schen Körperschaftsteuer ist auf die inländische 3/7-Grenze beschränkt, da die wirtschaftliche Doppelbelastung der Gewinne nur in Höhe des im Inland festge­ legten Ausschüttungssatzes in Höhe von 3/7 der Bruttodividende eintreten kann784. Die nähere Ausgestaltung der Anrechnung regelt der Entwurf in § 27 Abs. 2 KStG durch Verweisung auf die Anrechnungsvorschriften für Körper­ schaften in § 26 KStG. Nach dem Vorschlag wird die ausländische Körper­ schaftsteuer auf der Ebene der ausschüttenden Kapitalgesellschaft bei der Her­ stellung der Ausschüttungsbelastung über § 27 Abs. 2 KStG berücksichtigt (Aus­ schüttung aus EK30785), die Ausschüttungen sind bei der natürlichen Person als Anteilseigner steuerpflichtig, wobei für die Ausschüttungen aus dem EK30 die Steueranrechnung gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG gewährt wird786. Der Ent­ wurf enthielt allerdings in § 27 Abs. 2 S. 3 KStG eine Einschränkung der be­ rechtigten Anteilseigner, indem er eine Mindestbeteiligung vorsah. Diese Idee kann bei Übertragung des alten Vorschlags auf die heutige Gesetzeslage ange­ sichts des geltenden § 8 b Abs. 1 KStG nicht übernommen werden. Die Mindest­ beteiligung muß wegfallen, da sie auch in § 8 b Abs. 1 KStG nicht vorgeschrieben wurde787.

783 Vgl. BT-Drs. 12/5016, S. 34. 784 Vgl. Cattelaens, StuW 1993, S. 249, 256; Zeitler/Krebs, DB 1993, S. 1051, 1053. 785 Mit Ausschüttungssatz der Körperschaftsteuer in Höhe von 30 % belastetes Eigenkapital, vgl. § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 KStG. 786 Vgl. Zeitler/Krebs, DB 1993, S. 1051, 1053 f. 787 Vgl. Fn. 768.

222

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Die folgende Übersicht zeigt, wie die soeben abstrakt beschriebene Technik der "Durchreichung” der ausländischen Körperschaftsteuer an den inländischen An­ teilseigner aussieht:

Kapitalgesellschaft

Gewinn vor Steuern

100

Ausländische KSt (35 %)

35

Gewinn nach ausländischer KSt

65

Tarifbelastung (Entwurf § 27 Abs. 2 KStG)=

27,9

Ausländische Steuer, max. 3/7 des ausLändischen Gewinns nach Steuern EK 30

65

EKO

Höchstmögliche Ausschüttung

65

Anteilseigner

Dividende

65

+ anrechenbare KSt (vgl. Tarifbelastung)

27,9

Zu versteuernde Einnahmen

92,9

ESt (40 %)

37,1

J. anrechenbare KSt

-27,9

Zu entrichtende ESt

9,2

Verbleibende Nettodividende (65 - 9,2 =)

55,8

Das Rechenbeispiel zeigt im Vergleich zu der oben erstellten Übersicht788 nach der geltenden Rechtslage, daß sich bei der dargestellten Technik der "Durchrei­ chung” die verbleibende Nettodividende bei ausländischen Gewinnen von 55,8 788 Vgl. in Kapitel 3 A. 1. d) aa).

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

223

der Nettodividende bei inländischen Gewinnen von 60789 stark annähert. Die verbleibende Differenz liegt darin begründet, daß aufgrund der realistisch ge­ wählten ausländischen Körperschaftsteuer von 35 %790 die inländische Maximalanrechnungsgrenze von 30 % greift791, die die Nettodividende etwas nach unten drückt. Bei angenommener ausländischer Körperschaftsteuer von 30 % oder we­ niger würden die Nettodividenden in beiden Konstellationen einander entspre­ chen.

Nach dieser Betrachtung der steuerrechtlichen Lösung der ’’Durchreichung” der ausländischen Körperschaftsteuer an den inländischen Anteilseigner stellt sich die Frage, ob sie zu unzumutbaren steuertechnischen Schwierigkeiten für den Sitzund Wohnsitzstaat führt. Auf der Ebene der Kapitalgesellschaft bereitet die Be­ rücksichtigung der ausländischen Körperschaftsteuer bei der Tarifbelastung (vgl. § 27 Abs. 2 KStG des Entwurfs) keine technischen Schwierigkeiten. In welcher Höhe die ausländische Körperschaftsteuer zur Tarifbelastung rechnet und welche Nachweise hierfür zu erbringen sind, wird weitgehend durch die Bezugnahme auf Vorschriften des bereits geltenden und durch die Steuerverwaltung vollzogenen § 26 KStG festgelegt. Die für die Integration der ausländischen Körper­ schaftsteuer in die Tarifbelastung erforderliche Gliederung des Eigenkapitals der Kapitalgesellschaften besteht ohnehin aufgrund der Vorschriften der §§27 ff. KStG. Komplexe Änderungen sind hier genausowenig notwendig wie ein erwei­ tertes Prüfungssystem der Steuerverwaltung. Die Anrechnung setzt gemäß dem Entwurf des § 27 Abs. 2 Nr. 2 KStG792 einen Antrag der inländischen Kapitalge­ sellschaft voraus. Der Antrag kann für Gewinnausschüttungen jeder Tochterge­ sellschaft sowie für Einkünfte aus jeder Betriebstätte gesondert gestellt werden. Das Antragserfordemis und die Möglichkeit der Antragsbeschränkung dienen der Erleichterung für die Unternehmen und die Steuerverwaltung793. Es läßt sich dadurch vermeiden, daß die Verwaltung die weiteren Voraussetzungen der An­ rechnung für alle ausländischen Einkünfte prüfen muß. Insgesamt ist die steuer­ technische Abwicklung der ’’Durchreichung” für die Verwaltung durch den Sitz der Kapitalgesellschaft im Inland und die damit einhergehende unbeschränkte Körperschaftsteuerpflicht erleichtert.

789 Vgl. Übersicht in Kapitel 3 A. 1. d) aa). 790 Vgl. die Übersicht über die Sätze der EU-Mitgliedstaaten bei Hey, Harmonisierung der Untemehmensbe­ steuerung, S. 60. 791 Dazu Cattelaens, StuW 1993, S. 249, 256; Zeitler/Krebs, DB 1993, S. 1051, 1053. 792 Vgl. BT-Drs. 12/5016, S. 34. 793 Zeitler/Krebs, DB 1993, S. 1051, 1053.

224

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Auf der Ebene des inländischen Anteilseigners stellen sich ebenso keine unüber­ windbaren steuertechnischen Schwierigkeiten. Die ausländische Körper­ schaftsteuer wird durch ihre Integration in die Tarifbelastung und Eigenkapitalgliederung auf Gesellschaftsebene beim Anteilseigner genauso steuertechnisch einfach anrechenbar wie die inländische Körperschaftsteuer. Die Anrechnung be­ gründet keinen Zusatzaufwand, da die der Anrechnung zugehörigen ausländi­ schen Gewinne ohnehin auf der Gesellschaftsebene geprüft werden müssen. Die Anrechnung wird der Verwaltung durch die Ansässigkeit des Anteilseigners im Inland und seine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht erleichtert.

Nach allem bestehen für den gleichzeitigen Sitz- und Wohnsitzstaat bei der ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer an den inländischen Anteilseigner keine technischen Schwierigkeiten, die als materieller Rechtfertigungsgrund über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV für die Kapitalverkehrsbe­ schränkung, die durch die Verwehrung der ’’Durchreichung” eintritt, heranzu­ ziehen wären.

dd) Ergebnis Die im deutschen Steuerrecht gegenüber der inländischen Körperschaft ausge­ sprochene Verwehrung der Möglichkeit der "Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer an den inländischen Anteilseigner stellt einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 56 Abs. 1 EGV dar794. Die Kapitalverkehrsbeschränkung ist jedoch durch das Kohärenzargument der Wah­ rung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat, das über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als materieller Grund für die Differenzierung nach dem Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen heranzuziehen ist, gerechtfer­ tigt795. Der Rechtfertigungsgrund hält die in Art. 58 Abs. 3 EGV geregelte ’’Schranken-Schranke”, die auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung impliziert, ein. Dagegen sind keine technischen Schwierigkeiten bei der ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer gegeben, die als materieller Rechtfertigungsgrund nach Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV in Betracht kämen.

794 Vgl. Kapitel 3 A.I. l.d)aa). 795 Vgl. Kapitel 3 A. I. l.d)cc)(l).

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

2.

225

Das Halbeinkünfteverfahren nach dem Steuersenkungsgesetz und Artt. 56 ff. EGV

Die Untersuchung des geltenden Körperschaftsteuersystems auf seine Vereinbar­ keit mit der Kapitalverkehrsfreiheit hat gezeigt, daß durch die deutschen Steuer­ vorschriften auf unterschiedliche Weise in die Kapitalverkehrsfreiheit eingegrif­ fen wird. Die Eingriffe lassen sich jedoch alle durch die ’’Schranke” der Kapital­ verkehrsfreiheit in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV unter Einhaltung der ’’SchrankenSchranke” rechtfertigen. Trotz der somit hier festgestellten Europarechtsmäßig­ keit des geltenden deutschen Körperschaftsteuersystems796 hat der Gesetzgeber u.a. aufgrund europarechtlicher Bedenken in den “Brühler Empfehlungen“797 das bisherige Anrechnungssystem im Rahmen des am 01.01.2001 in Kraft getretenen Steuersenkungsgesetzes798 durch das sogenannte Halbeinkünfteverfahren ersetzt, das grundsätzlich für Dividendenausschüttungen ab dem 01.01.2002 gilt799. Nachfolgend wird das Halbeinkünfteverfahren im Hinblick auf Dividenden kurz vorgestellt.

Nach den Gesetzesänderungen durch das Steuersenkungsgesetz werden die Körper­ schaftsgewinne unabhängig davon, ob sie ausgeschüttet oder einbehalten werden, mit einem einheitlichen Körperschaftsteuersatz in Höhe von 25 % definitiv be­ steuert800. Die Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne mit der Körper­ schaftsteuer der ausschüttenden Körperschaft und der Einkommensteuer des An­ teilseigners wird zukünftig dadurch vermieden, daß die Dividendeneinkünfte gemäß § 3 Nr. 40 lit. d EStG n.F. beim Anteilseigner nur zur Hälfte in die Be­ messungsgrundlage seiner Einkommensteuer einbezogen werden. Die ursprünglich geplante Einbeziehung der steuerfreien Hälfte der Dividenden in den Progres­ sionsvorbehalt nach § 32 b Abs. 1 EStG801 ist nicht Gesetz geworden. Die Wer­ bungskosten, die mit den hälftig steuerfreien Dividenden in unmittelbarem wirt­ schaftlichen Zusammenhang stehen, dürfen nach § 3 c Abs. 2 S. 1 EStG n.F. bei der Ermittlung der Einkünfte nur zur Hälfte abgezogen werden.

796 Mit gleicher Feststellung, aber ohne Begründung van Lishaut, FR 1999, S. 938,942 Fn. 26. 797 Vgl. These II. 1. der "Brühler Empfehlungen", abgedruckt in FR 1999, S. 580, 581. 798 Gesetz vom 23.10.2000, BGBl. 2000 I, S. 1433, vgl. zu den umfangreichen Änderungen u.a. Erle/Sauter (Hrsg.), Reform der Untemehmensbesteuerung, Köln 2000; ERNST & YOUNG/BDI (Hrsg.), UnternehmensSteuerreform, 2. Aufl., Bonn/Berlin 2000; Oppenhoff & Rädler (Hrsg.), Reform der Untemehmensbesteuerung - Steuersenkungsgesetz, Bonn 2000; Schaumburg/Rödder, Untemehmenssteuerreform 2001, München 2000. 799 Vgl. § 52 Abs. 4 a Nr. 1 EStG n.F. i.V.m. § 34 Abs. 10 a Nr. 1 i.V.m. § 34 Abs. 1 KStG n.F. 800 Vgl. § 25 Abs. 1 KStG n.F. 801 Vgl. BT-DRS. 14/2683 vom 15.02.2000, zu Art. 1 Nr. 15 Buchstabe a.

226

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Bei der Anwendung des Halbeinkünfteverfahrens werden inländische und auslän­ dische Dividenden grundsätzlich gleichbehandelt802. Das Halbeinkünfteverfahren setzt jedoch systematisch eine Vorbelastung der Dividenden in Höhe einer Kör­ perschaftsteuer von 25 % voraus. Ist die steuerliche Vorbelastung einer aus dem Ausland stammenden Dividende niedriger als in Deutschland, wird der sonst ein­ tretende Effekt einer niedrigeren steuerlichen Gesamtbelastung der ausländischen Dividenden gegenüber den inländischen durch eine Hinzurechnungsbesteuerung nach dem Außensteuergesetz ausgeglichen803.

Das Halbeinkünfteverfahren für Dividenden nach dem Steuersenkungsgesetz wird nachfolgend zunächst auf seine Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit un­ tersucht. Dabei wird zur Gegenüberstellung der Reformpläne mit der geltenden Rechtslage vor allem auf die Lösung der in Kapitel 3 A. I. 1. bei der Untersu­ chung der Körperschaftsteueranrechnung aufgeworfenen Kollisionen mit der Kapitalverkehrsfreiheit eingegangen. Nach dieser europarechtlichen Betrachtung folgt eine allgemeine kritische Auseinandersetzung mit den Reformvorschlägen im Hinblick auf die steuerrechtlichen Prinzipien des nationalen Rechts.

a)

Einhaltung des Art. 56 Abs. 1 EGV durch das Halbeinkünfteverfahren des Steuersenkungsgesetzes

Zuerst stellt sich die Frage, ob das Halbeinkünfteverfahren im Unterschied zum noch geltenden Körperschaftsteuersystem Eingriffe in die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 56 Abs. 1 EGV vermeidet.

Der gemäß Art. 1 Nr. 22 lit. a lit. bb des Steuersenkungsgesetzes eintretende Weg­ fall des gesamten Körperschaftsteueranrechnungsverfahrens bedeutet, daß die zur Zeit noch gemäß §§ 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, 50 Abs. 5 S. 2 EStG bei der Anrechnung geltende Differenzierung nach der unbeschränkten bzw. beschränkten Steu­ erpflicht des Anteilseigners und der ausschüttenden Körperschaft ebenfalls ent­ fällt. Genau diese unterschiedliche Behandlung der Steuerinländer und -ausländer

802 In § 3 Nr. 40 EStG n.F. werden alle Bezüge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 einbezogen; die alte Anrech­ nungsvorschrift des § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG, die nur auf die „Körperschaftsteuer einer unbeschränkt kör­ perschaftsteuerpflichtigen Körperschaft“ ausgerichtet war, fällt weg. 803 Vgl. §§ 8 Abs. 3, 10 Abs. 2, 11 Abs. 1 und 2, 12 Abs. 1 AStG n.F.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

227

begründet aber die oben erörterten Eingriffe in die Kapitalverkehrsfreiheit804. Folglich werden diese Kollisionen des deutschen Körperschaftsteuersystems mit der Kapitalverkehrsfreiheit durch das Halbeinkünfteverfahren vermieden.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob das neue Verfahren auf andere Weise in die Ka­ pitalverkehrsfreiheit eingreift. Dazu kann als Leitfaden der Untersuchung auf die bei der Körperschaftsteueranrechnung untersuchten vier Konstellationen805 zu­ rückgegriffen werden, da das Halbeinkünfteverfahren ein dem Anrechnungs­ system vergleichbares Konzept zur Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbe­ lastung der Dividenden beinhalten muß.

aa) Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung bei ausländischen Dividenden und Steuerausländern Das seit 1977 in Deutschland geltende Vollanrechnungsverfahren der Körper­ schaftsteuer wurde u.a. zur Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der von einer inländischen Kapitalgesellschaft ausgeschütteten Gewinne mit der in­ ländischen Körperschaftsteuer der Gesellschaft und der inländischen Einkommen­ steuer des Anteilseigners eingefiihrt. Dieses Problem der Doppelbelastung der Ge­ winne findet auch in dem neuen Halbeinkünfteverfahren seine Berücksichtigung. Nach § 3 Nr. 40 lit. d EStG n.F. werden die Ausschüttungen der Kapitalgesell­ schaft, die bereits mit der Körperschaftsteuer belastet sind, nur zur Hälfte als Ein­ künfte erfaßt und in die Einkommensbesteuerung miteinbezogen. Dadurch wird die steuerliche Vorbelastung der Dividenden durch die definitive Körper­ schaftsteuer beim Anteilseigner in pauschaler Form berücksichtigt und im Ergebnis eine Doppelbelastung der ausgeschütteten Gewinne vermieden806. Das Problem der zweifachen steuerlichen Erfassung der ausgeschütteten Gewinne wird also nach dem Steuersenkungsgesetz auf der Anteilseignerebene durch das Halbeinkünfteverfahren in pauschalierender Weise gelöst. Dagegen geschieht dies nach noch anwendbarem Recht auf zwei Ebenen: erstens ebenfalls auf der Anteilseignerebene durch die Anrechnung, zweitens darüber hinaus auf der Gesellschaftsebene aufgrund des gegenüber dem Thesaurierungssatz geringeren Körperschaftsteuersatzes bei Ausschüttung. Im Unterschied zum Halbein­ künfteverfahren tritt im noch anwendbaren Körperschaftsteuersystem bei rein 804 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. jeweils in a) aa), b) aa), c) aa) und d) aa). 805 Vgl. Kapitel 3. A. I. 1. am Anfang. 806 Vgl. These II. 2. S. 2 der Brühler Empfehlungen, abgedruckt in FR 1999, S. 580, 581, die dem Steuersen­ kungsgesetz zugrundeliegen.

228

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

inländischen Sachverhalten (inländischer Gesellschafter, inländische Gesell­ schaft) aufgrund der Vollanrechnung eine vollständige Vermeidung der wirt­ schaftlichen Doppelbelastung der Dividenden ein. Das pauschalierende Halbein­ künfteverfahren kann dagegen nur einen teilweisen Wegfall der Doppelbelastung erreichen.

Bei der noch geltenden Rechtslage erfolgt der Eingriff in die Kapitalverkehrsfrei­ heit dadurch, daß die Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der Divi­ denden auf rein inländische Sachverhalte beschränkt ist, d.h. ausländische aus­ schüttende Kapitalgesellschaften und dividendenempfangende Steuerausländer nicht in die Vermeidungsnormen einbezogen werden. Daraus ergibt sich zunächst die Frage, ob das Steuersenkungsgesetz in seinem zur Vermeidung der Doppelbelastung vorgesehenen Halbeinkünfteverfahren die Dividendenzahlungen ausländischer Gesellschaften an inländische Anteilseigner berücksichtigt. Die Antwort liefert § 3 Nr. 40 lit. d EStG n.F., der im Rahmen des Halbein­ künfteverfahrens keine Differenzierung nach in- und ausländischen Dividenden vorsieht807. Folglich werden die von in- und ausländischen Kapitalgesellschaften an Steuerinländer ausgeschütteten Dividenden gleichbehandelt; die ausländische Kapitalanlage des in Deutschland ansässigen Anteilseigners wird also nicht ge­ genüber der Inlandsanlage steuerlich benachteiligt. Die grundsätzliche Einbezie­ hung der ausländischen Kapitalanlagen in das Halbeinkünfteverfahren vermeidet auch das oben in Kapitel 3. A. I. 1. c) erörterte Problem, daß es der ausländischen Körperschaft an der Möglichkeit mangelt, den inländischen Anteilseignern ein Anrechnungsguthaben für die im Inland erwirtschafteten Gewinne zu vermitteln. Die Beschränkung des Kapitalverkehrs und somit der Verstoß gegen Art. 56 Abs. 1 EGV wird daher insgesamt bei ausländischen Kapitalanlagen durch das Halbeinkünfteverfahren des Steuersenkungsgesetzes vermieden. Auf diese “Eu­ ropatauglichkeit“ des neuen Systems wurde bereits im Rahmen seiner Erarbeitung durch die “Brühler Kommission“ hingewiesen808.

Dagegen wird die wirtschaftliche Doppelbelastung der Dividenden, die von einer deutschen Kapitalgesellschaft an einen Steuerausländer gezahlt werden, durch das Halbeinkünfteverfahren des Steuersenkungsgesetzes nicht vermieden. Die Steuer­ ausländer können mangels unbeschränkter Steuerpflicht in Deutschland nicht in 807 Vorausgesetzt wird die ausreichende steuerliche Vorbelastung der ausländischen Dividenden, da sonst eine Hinzurechnungsbesteuerung nach dem AStG n.F. erfolgt. Kritisch zu dem Erfordernis der Vorbelastung im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit Dautzenberg, FR 2000, S. 725, 728. 808 These II. 3. der “Brühler Empfehlungen“, abgedruckt in FR 1999, S. 580,581.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

229

das Halbeinkünfteverfahren einbezogen werden, da seine Durchführung die Be­ steuerung mit dem Welteinkommen voraussetzt. Die Vermeidung der wirtschaftli­ chen Doppelbelastung der Dividenden hängt daher von ihrer steuerlichen Behand­ lung im Wohnsitzstaat des Anteilseigners ab. Hinsichtlich der Kapitalverkehrs­ freiheit bedeutet dies, daß das Steuersenkungsgesetz der steuerlichen Benachtei­ ligung der deutschen Kapitalanlagen809 eines Steuerausländers gegenüber denen eines Steuerinländers keine Abhilfe verschafft. Der Gesetzgeber hat sich durch den Verzicht auf eine Maßnahme in dieser Hinsicht in Verbindung mit der Ein­ richtung des Halbeinkünfteverfahrens bei Steuerinländem für die Verantwortung des Wohnsitzstaates des Anteilseigners für die Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der Dividenden entschieden. Er hat die Wohnsitzstaats­ verantwortung als gegenüber der Quellenstaatsverantwortung vorrangig be­ trachtet. Diese Auffassung wird in dieser Arbeit aus den oben erörterten Gründen geteilt810. Die im Quellenstaat durch das Steuersenkungsgesetz nicht vorgesehene Einbeziehung der Steuerausländer in die Vermeidung der Doppelbelastung läßt sich daher mit den oben genannten Argumenten rechtfertigen. Die nach der Konzeption des Steuersenkungsgesetzes als vorrangig angesehene Wohnsitz­ staatsverantwortung für die Vermeidung der anrechnungsbedingten Kapital­ verkehrsbeschränkung kann als Bestätigung der hier bei der Erörterung der Körperschaftsteueranrechnung vertretenen Auffassung811 gewertet werden812.

bb) Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung bei Weiteraus­ schüttung ausländischer Gewinne an Steuerinländer durch inländische Kapitalgesellschaften

Es wurde oben bei der Betrachtung der noch geltenden Rechtslage für die letzte untersuchte Konstellation festgestellt, daß das Fehlen der Vermeidung der wirt­ schaftlichen Doppelbelastung der Dividenden bei Weiterausschüttung ausländi­ scher Gewinne an Steuerinländer durch inländische Kapitalgesellschaften einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit bedeutet813. Die zweifache ertragsteuerliche Erfassung der Dividenden entsteht dadurch, daß die ausländischen Gewinne der Betriebstätte bzw. Tochtergesellschaft der deutschen Kapitalgesellschaft ei­ D.h. Anteilserwerb an deutschen Kapitalgesellschaften. Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. a) aa) (3). Vgl. Kapitel 3 A. I. l.a)aa)(3). Auch Mossner, Neue Dividendenbesteuerung aus der Sicht des EU- und DBA-Rechts, in: Lüdicke (Hrsg.), Internationale Aspekte der Untemehmenssteuerreform, S. 27, 47, geht davon aus, daß man den Ausschluß des Steuerausländers vom Halbeinkünfteverfahren ’’nicht dem deutschen Recht vorwerfen könne**. 813 Vgl. Kapitel 3. A. I. l.d)aa).

809 8,0 811 812

230

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

nerseits mit ausländischer Körperschaftsteuer belastet sind und die im Inland weiter ausgeschütteten Gewinne andererseits bei den dividendenempfangenden Anteilseignern der deutschen Einkommensteuer ohne Anrechnung der ausländi­ schen Körperschaftsteuer unterliegen. Angesichts dieser noch geltenden Rechts­ lage stellt sich die Frage, ob das Steuersenkungsgesetz der wirtschaftlichen Dop­ pelbelastung der Dividenden bei Weiterausschüttung ausländischer Gewinne abhilft und somit einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit vermeidet.

Nach § 3 Nr. 40 lit. d EStG n.F. werden die Dividenden inländischer Kapitalge­ sellschaften beim Anteilseigner nur zur Hälfte als Einkünfte erfaßt und in die Ein­ kommensbesteuerung einbezogen. Es wird dabei nicht danach differenziert, ob den Ausschüttungen der inländischen Gesellschaft inländische Gewinne oder ausländische Gewinne, die nach Erhalt von der ausländischen Betriebstätte oder Tochtergesellschaft weiter ausgeschüttet werden, zugrundeliegen. Bei Weiteraus­ schüttung ausländischer Gewinne, die bei der inländischen Kapitalgesellschaft aufgrund des internationalen Schachtelprivilegs von der inländischen Körper­ schaftsteuer freigestellt waren814, ist von der Gesellschaft keine Ausschüt­ tungsbelastung mehr herzustellen, was mit dem Verzicht auf eine inländische Belastung mit Körperschaftsteuer gleichzusetzen ist. Dies fuhrt dazu, daß bei den im Rahmen der inländischen Dividendenzahlung weiter ausgeschütteten auslän­ dischen Gewinnen, ihre ausreichende ausländische steuerliche Vorbelastung vorausgesetzt815, durch das auf sie angewandte Halbeinkünfteverfahren die wirt­ schaftliche Doppelbelastung in gleichem Maße vermieden wird wie bei inländi-

8,4 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 3 A. I. 1. d) aa). 815 Sonst Hinzurechnungsbesteuerung nach dem AStG n.F.

231

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

sehen Gewinnen. Diese Gleichstellung der weiter ausgeschütteten ausländischen Gewinne mit den inländischen Gewinnen soll das nachfolgende Beispiel illustrie­ ren:

Ausländische Gewinne

Inländische Gewinne Gesellsch aftsebene

Gewinn vor Steuern

100

100

Ausländische KSt (25 %816)

--

25

Inländische KSt (25 %)

25

Freistellung von inlän­

discher KSt nach dem intemat. Schachtelprivileg

Herstellung der Aus-

Aufgrund des einheitlichen

Schüttungsbelastung

KSt-Satzes nicht mehr

Aufgrund des einheitlichen

KSt-Satzes nicht mehr not­

wendig; § 40 KStG a.F. gilt Notwendig

nicht mehr

Anteilseignerebene Halbeinkünfteverfahren

Bardividende

75

nach § 3 Nr. 40 lit d EStG Freistellung

n.F.

75

Freistellung

(50 % d. Bardiv.)

37.5

steuerpfl.

(50 % d. Bardiv.)

37.5

steuerpfl.

Div.einkünfte

Einkommensteuer (30 %)

Dividende nach Steuern

Gesamtsteuerbelastu ng

Bardividende

36,25

37,5

Div.einkünfte

37,5

-11,25

-11,25

63,75

63,75

36,25

Das Rechenbeispiel zeigt aufgrund der gleichen Gesamtsteuerbelastung der Divi­ denden, daß die Einbeziehung der der inländischen Dividende zugrundeliegenden ausländischen Gewinne in das Halbeinkünfteverfahren zu ihrer Gleichstellung mit den inländischen Gewinnen hinsichtlich der Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der Dividenden fuhrt. Im Beispiel wurde von einem ausländi­ schen Körperschaftsteuersatz ausgegangen, der dem inländischen entspricht. Dies 8,6 Angenommener KSt-Satz, der einer ausreichenden steuerlichen Vorbelastung entspricht.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

232

fuhrt zu einer exakt gleichen Gesamtsteuerbelastung der in- und ausländischen Gewinne. Voraussetzung für die Anwendung des Halbeinkünfteverfahrens ist jedoch die ausreichende steuerliche Vorbelastung der Dividenden, d.h. die aus­ ländische Körperschaftsteuer muß der deutschen ungefähr entsprechen. Bei gerin­ gen Differenzen des ausländischen Steuersatzes würde daher die Gesamtsteuer­ belastung bei den ausländischen Gewinnen minimal von der bei inländischen Gewinnen abweichen.

Die dargestellte Gleichstellung der weiter ausgeschütteten ausländischen Gewinne mit den inländischen Gewinnen läßt den oben für das geltende Anrech­ nungsverfahren festgestellten Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit817 entfallen. Die Gesetzesänderungen durch das Steuersenkungsgesetz sind daher in dieser Hinsicht der noch geltenden Rechtslage vorzuziehen818.

cc) Ergebnis

Das zum 01.01.2001 in Kraft getretene Steuersenkungsgesetz, das hinsichtlich der Dividenden erstmals ab dem 01.01.2002 Anwendung findet, hat sich in bezug auf die Kapitalverkehrsfreiheit aufgrund der Abschaffung des Vollanrechnungssy­ stems und der Einführung des Halbeinkünfteverfahrens als europarechtstaugliches Konzept erwiesen. Die Gesetzesänderungen vermeiden im Unterschied zum noch geltenden Körperschaftsteuersystem bereits die Eingriffe in die Kapitalver­ kehrsfreiheit. Das Halbeinkünfteverfahren ist daher dem Anrechnungssystem bei rein europarechtlicher Sichtweise vorzuziehen, da die geltende Rechtslage nur über die ’’Schrankenvorschrift” des Art. 58 EGV gerechtfertigt werden kann.

b)

Kritik an dem Halbeinkünfteverfahren des Steuersenkungsgesetzes

Nach den positiven Ergebnissen der kapitalverkehrsbezogenen Prüfung der Geset­ zesänderungen des Steuersenkungsgesetzes muß das Konzept, um überzeugen zu können, auch einer kritischen Betrachtung anhand der Grundprinzipien des deut­ schen Steuerrechts standhalten819. Im folgenden werden die in dieser Hinsicht

817 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. d) aa). 818 Vgl. Schiffers, GmbHR 1999, S. 741, 743. 819 Vgl. die bisherigen kritischen Untersuchungen in der Literatur: z.B. Hey, BB 1999, S. 1192 ff.; N. Jakobs, GmbHR 1999, S. R 185 f.; van Lishaut, FR 1999, S. 938 ff.; Löhr, StuW 2000, S. 33 ff.; Merz, GmbHR 1999,

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

233

negativen Aspekte der Gesetzesänderungen ihren Vorteilen gegenübergestellt. Die Untersuchung des Steuersenkungsgesetzes beschränkt sich dabei auf die Themen, die direkt mit der Reform des Körperschaftsteuersystems auf Gesellschafts- und Anteilseignerebene Zusammenhängen.

aa) Nachteile der Gesetzesänderungen (1) Keine vollständige Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der Dividenden

Zunächst ist auf einen wichtigen Unterschied zwischen dem Halbeinkünfteverfah­ ren des Steuersenkungsgesetzes und dem noch geltenden Vollanrechnungssystem einzugehen. Dies ist das Maß der Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbela­ stung der Dividenden. Durch die Vollanrechnung der inländischen Körper­ schaftsteuer bei der Einkommensbesteuerung des inländischen Anteilseigners wird die wirtschaftliche Doppelbelastung der Dividenden vollständig verhindert. Die Dividendeneinkünfte unterliegen allein dem individuellen Einkommensteuer­ satz des Gesellschafters.

Dagegen wird die wirtschaftliche Doppelbelastung der Dividenden beim Halbein­ künfteverfahren nur in pauschalierender Weise vermieden. Der Grad der Vermei­ dung hängt vom individuellen Einkommensteuersatz des Anteilseigners ab. Auf­ grund der Kombination von definitiver Körperschaftsteuer und an den individuellen Einkommensteuersatz des Anteilseigners gebundenem Halbein­ künfteverfahren nimmt das Ausmaß der wirtschaftlichen Doppelbelastung mit steigendem Einkommensteuersatz ab. Der höhere individuelle Einkommensteu­ ersatz des Anteilseigners, der nur auf die Hälfte der Dividendeneinkünfte ange­ wendet wird, fuhrt dazu, daß den freigestellten Einkünften eine höhere steuerliche Entlastungswirkung für den Anteilseigner zukommt. Diesen Zusammenhang

S. R 241 f.; Schiffers, GmbHR 1999, S. 741 ff.; Schön, Stb. 2000, S. 1 ff.; Schulze zur Wiesche, DB 1999, S. 350 ff.; Wagner/Baur/Wader, BB 1999, S. 1296 ff.

234

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

illustriert das folgende Rechenbeispiel, in dem die steuerliche Belastung derDividenden bei Anteilseignern mit einem Grenzsteuersatz von 20 % und von 40 % gegenübergestellt wird:

ESt-Satz von 20 %

ESt-Satz von 40 %

Gesellschaftsebene Gewinn vor Steuern

100

100

KSt (25 %)

-25

-25

75

75

Bardividende Anteilseignerebene Halbeinkünfteverfahren

75

Bardividende

Nach § 3 Nr. 40 lit d EStG Freistellung n.F.

Freistellung

(50 % d. Bardiv.)

37.5

steuerpfl.

(50 % d. Bardiv.)

37.5

steuerpfl. 37,5

Div.einkünfte ESt

75

Bardividende

Div.einkünfte

37,5

-7,50

-15

Dividende nach Steuern

30

22,50

Gesamtsteuerbelastung

32,50

40

Differenz zur ESt nach dem

12,50

0

Grenzsteuersatz

Das Rechenbeispiel zeigt, daß die wirtschaftliche Doppelbelastung der Dividen­ den beim Anteilseigner mit einem Grenzsteuersatz von 20 % bei weitem nicht vollständig vermieden wird. Die ertragsteuerliche Belastung der Dividenden müßte sich im Fall des unter dem definitiven Körperschaftsteuersatz von 25 % liegenden Grenzsteuersatz von 20 % nach dem höheren Satz richten. Tatsächlich liegt die Gesamtsteuerbelastung aber bei 32,5 % und damit um 7,5 Prozentpunkte über dem zur vollständigen Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbelastung der Dividenden erforderlichen Satz. Diese Differenz verdeutlicht den Nachteil des Halbeinkünfteverfahrens bei Anteilseignern mit niedrigem Grenzsteuersatz.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

235

Dagegen zeigt das Rechenbeispiel, daß eine Indifferenz zwischen dem Halbein­ künfteverfahren und dem derzeitigen Vollanrechnungssystem bei einem Einkom­ mensteuersatz des Anteilseigners von 40 % eintritt820. In diesem Fall weicht die Gesamtsteuerbelastung nicht von dem Grenzsteuersatz des Anteilseigners ab und die wirtschaftliche Doppelbelastung der Dividenden wird vollständig vermieden.

Angesichts dieser unterschiedlichen Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbe­ lastung der Dividenden müßte die Formulierung in These II. 3. der ’’Brühler Emp­ fehlungen”, die dem Steuersenkungsgesetz zugrundeliegen, richtigerweise lauten, daß ’’bei einem Großteil der Anteilseigner die Doppelbelastung der ausgeschütte­ ten Gewinne gemildert wird”. Die Aussage, daß durch das Halbeinkünfteverfah­ ren ”im Ergebnis die Doppelbelastung der ausgeschütteten Gewinne vermieden” werde, ist dagegen nur für eine begrenzte Zahl von Anteilseignern korrekt821. Es handelt sich nur um diejenigen Anleger, deren Grenzsteuersatz bei mindestens 40 % liegt.

Das beim überwiegenden Teil der steuerpflichtigen Anteilseigner im Halbein­ künfteverfahren gegebene Fehlen einer vollständige Beseitigung der wirtschaft­ lichen Doppelbelastung der Dividenden und die damit einhergehende über der sonstigen Einkünftebesteuerung liegende Dividendenbesteuerung läßt hinsichtlich der aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleiteten Prinzipien der Steuemeutralität und der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit Zweifel an der Verfassungskonformität der Gesetzesänderungen aufkommen822. Nach dem Prinzip der Steuemeutralität soll eine steuerliche Gleichbehandlung der verschiedenen Einkunftsarten erfolgen, es sei denn, daß ein sachlicher Grund die Differenzierung rechtfertigt823. Beim Halbeinkünfteverfahren tritt aber für einen Großteil der steuerpflichtigen Anteilseigner - Steuerpflichtige mit Grenzsteuersatz unter 40 % - eine erhöhte Besteuerung der Dividendeneinkünfte (Einkünfte aus Kapitalvermögen) gegenüber den anderen Einkunftsarten ein. Es erscheint zweifelhaft, ob sich diese Ungleichbehandlung rechtfertigen läßt. Eine Abwägung der Argumente, z.B. verfassungsrechtliche Zulässigkeit pauschalierender Steuervorschriften, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit überschreiten, da ihr eine europarechtliche Ausrichtung zugrundeliegt. 820 821 822 823

Vgl. Schiffers, GmbHR 1999, S. 741, 742 f. und Abb. 1. So auch van Lishaut, FR 1999, S. 938,939. Vgl. Hey, BB 1999, S. 1192,1195; N. Jakobs, GmbHR 1999, S. R 185. Vgl. BVerfG v. 30.09.1998, FR 1998, S. 1028; v. 27.06.1991, BVerfGE 84, S. 239, 271; Kirchhof, in: Kirchhof/Söhn, EStG, § 2 Rdnr. A 672 ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd.II, S. 593 ff.

236

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Nach dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit soll jeder Steuer­ pflichtige zumindest durch Fiskalzwecknormen nur entsprechend seiner wirt­ schaftlichen Leistungsfähigkeit belastet werden824. Diese Vorgabe wird bei einem Großteil der Anteilseigner durch das Halbeinkünfteverfahren im Gegensatz zum Vollanrechnungssystem nicht eingehalten. Werden die Dividendeneinkünfte im Vollanrechnungssystem nur mit der individuellen, durch die Progression be­ stimmten Einkommensteuer des Anteilseigners belastet, so tritt im Halbeinkünf­ teverfahren für einen Großteil der Anleger825 eine fortbestehende wirtschaftliche Doppelbelastung der Dividenden ein, die zu einer Besteuerung der Dividenden über dem individuellen Einkommensteuersatz der Anleger fuhrt826. Die Dividen­ deneinkünfte werden so faktisch von der Besteuerung nach der individuellen Progression des Steuerpflichtigen, die eine wichtige Umsetzung des Leistungsfä­ higkeitsprinzips auf der Ebene des Steuertarifs darstellt, ausgenommen.

Dieser von den beiden genannten steuerrechtlichen Prinzipien bestimmten Kritik am Halbeinkünfteverfahren könnte mit dem Argument begegnet werden, daß bei einem Großteil der Anteilseigner, bei denen keine vollständige Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung der Dividenden eintritt827, die Dividendenein­ künfte aufgrund des Sparerfreibetrages gar keiner Besteuerung unterliegen wer­ den. Dieses Argument wird auch in den ’’Brühler Empfehlungen”, die dem Steuer­ senkungsgesetz zugrundeliegen, in These II. 11 angesprochen. Das Halbein­ künfteverfahren mit seinem nur hälftigen Ansatz der Dividendeneinkünfte führe für diese Kapitalerträge im Ergebnis zu einer Verdoppelung des anderweitig noch nicht in Anspruch genommenen Sparerfreibetrages. Dies bedeute, daß unter Berücksichtigung des ab dem Jahr 2000 geltenden Sparerfreibetrags828 maximal bis zu 6.000 DM Dividende einkommensteuerfrei bleiben, wobei dabei noch nicht der Werbungskostenpauschbetrag mit einbezogen wurde. Bei einer ange­ nommenen, recht hoch angesetzten durchschnittlichen Dividendenrendite des Portfolios von 4 % fiele für ein Aktienvermögen in Höhe von DM 150.000 daher in der Regel keine Einkommensteuer an.

824 825 826 827 828

Zum Leistungsfähigkeitsprinzip vgl. Nachweise in Fn. 619. Steuerpflichtige mit Grenzsteuersatz unter 40 %. Vgl. obiges Rechenbeispiel. Anleger mit Grenzsteuersatz unter 40 %. Vgl. §20 Abs. 4: DM 3.000.

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Dieses Argument der ’’faktischen Verdoppelung des Sparerfreibetrages” wird je­ doch kritisiert, da die Verdoppelung auf die Vorbelastung mit Körperschaftsteuer keinerlei Einfluß habe, solange der durchschnittliche Einkommensteuersatz des Anteilseigners die 25 %-Marge nicht überschreite829. Der ’’verdoppelte” Sparer­ freibetrag kann nur dann als Argument genutzt werden, wenn üblicherweise bei den Anteilseignern eine Korrelation zwischen ihren Einkünften aus Kapitalver­ mögen und ihren die Steuerprogression bestimmenden Gesamteinkünften be­ stünde. Die Regel der Verbindung eines geringen Grenzsteuersatzes mit gleich­ zeitigen geringen Kapitaleinkünften läßt sich jedoch nicht aufstellen. Besonders in der heutigen Erbengeneration können sich hohe Kapitaleinkünfte aus einem geerbten Wertpapierdepot mit ansonsten geringen weiteren Einkünften verbinden.

Folglich ist die Kritik berechtigt, die auf die nur teilweise Vermeidung der wirt­ schaftlichen Doppelbelastung der Dividenden gerichtet ist, was zu Konflikten mit dem Prinzip der Steuemeutralität und der Besteuerung nach der Leistungs­ fähigkeit fuhrt. Die Verfassungskonformität des Halbeinkünfteverfahrens dürfte daher nach Inkrafttreten des Steuersenkungsgesetzes zum Beginn diesen Jahres schon bald Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen sein.

(2) Regressive Wirkung der Kombination von definitiver Körperschaft­ steuer und Halbeinkünfteverfahren - ein Fremdkörper im System der progressiven Einkommensteuer

Weiterer Kritik sind die Gesetzesänderungen des Steuersenkungsgesetzes auf­ grund der regressiven Wirkung der Kombination von definitiver Körper­ schaftsteuer und Halbeinkünfteverfahren ausgesetzt830. Dieses Problem ist bereits im vorhergehenden Kritikpunkt, vor allem in dem Rechenbeispiel, angeklungen. Die Verbindung von definitiver Körperschaftsteuer und Halbeinkünfteverfahren fuhrt dazu, daß sich die Mehrbelastung durch die definitve Körperschaftsteuer umso stärker auswirkt, je geringer das Gesamteinkommen des Anteilseigners ist. Andererseits kommt es bei Anlegern mit hohem Einkommen, das einen Grenzsteuersatz über 40 % bedingt, sogar zu Begünstigungseffekten.

829 Vgl. Hey, BB 1999, S. 1192, 1195. 830 Vgl. Hey, BB 1999, S. 1192, 1195; N. Jakobs, GmbHR 1999, S. R 185; Merz, GmbHR 1999, S. R 241 f.; Schiffers, GmbHR 1999, S. 741, 742.

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Diese regressive Wirkung der Kombination von definitiver Körperschaftsteuer und Halbeinkünfteverfahren könnte einen Fremdkörper im System einer progres­ siven Einkommensteuer darstellen und gegen die vertikale und horizontale Steu­ ergerechtigkeit verstoßen831. Das deutsche Einkommensteuerrecht geht vom Sy­ stem einer progressiven Einkommensteuer aus, in dem höhere Einkommen mit einer progressiv ansteigenden Einkommensteuer belastet werden. Dem laufen die Gesetzesänderungen des Steuersenkungsgesetzes dadurch zuwider, daß die Divi­ dendeneinkünfte nicht progressiv besteuert werden, sondern dem steigenden Einkommen und dem damit verbundenen höheren Grenzsteuersatz eine regressive Wirkung auf die Dividendenbesteuerung zukommt. Bis zum Grenzsteuersatz von 40 %, worunter der Großteil der Steuerpflichtigen fällt, sind die Dividendenein­ künfte des Anteilseigners mit mehr Einkommensteuer belastet als es der durch die Gesamteinkünfte bestimmten Steuerprogression entsprechen würde, wobei die Differenz zwischen der Belastung der Dividenden und der individuellen Steuer­ progression mit ansteigendem Einkommen abnimmt (degressive Wirkung). Bei einem Grenzsteuersatz über 40 % liegt die Dividendenbesteuerung aufgrund des Halbeinkünfteverfahrens dagegen unter dem Satz der individuellen Steuerpro­ gression. Diese Ergebnisse könnten einen Verstoß gegen die vertikale Steuerge­ rechtigkeit bedeuten, nach der Steuerpflichtige mit unterschiedlicher Leistungs­ fähigkeit progressiv unterschiedlich zu besteuern sind832. Gleichzeitig könnte die horizontale Steuergerechtigkeit verletzt sein, wonach Steuerpflichtige, die am Maßstab der Bemessungsgrundlage über die gleiche Leistungsfähigkeit verfugen, der gleichen Steuer zu unterwerfen sind833. Eine unterschiedliche Einkommen­ steuer tritt dadurch ein, daß bei gleichem zu versteuernden Einkommen, das einen Grenzsteuersatz unter 40 % zur Folge hat, der Steuerpflichtige mit höheren Dividendeneinkünften aufgrund der Kombination von definitiver Körper­ schaftsteuer und Halbeinkünfteverfahren einer höheren ertragsteuerlichen Bela­ stung unterliegt als die Vergleichsperson mit geringeren Dividendeneinkünften.

Es ist jedoch fraglich, ob die Annahme eines Verstoßes gegen vertikale und hori­ zontale Steuergerechtigkeit überzeugen kann und nicht eine Rechtfertigung für den Prinzipienverstoß gegeben ist. Die geschilderte Kritik wurde bereits von der Expertenkommission der ’’Brühler Empfehlungen” vorhergesehen834. Die Kom­ mission wirft den Kritikern einen auf Dividenden verengten Blickwinkel vor, der kein zutreffendes Bild der Situation von Kleinanlegem ergebe. Die Höhe der 831 832 833 834

So Hey, BB 1999, S. 1192, 1195. Vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, 1993, S. 411. Vgl. vorangehende Fn. Vgl. ’’Brühler Empfehlungen" - Langfassung in Teil IV. A. II. 3.

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Nettodividende sei zwar für den Kleinanleger von Bedeutung, sie sei aber nicht der alleinige Anreiz für eine Investition in Aktien. Von Interesse sei die Teilhabe des Aktionärs am Untemehmenserfolg, der durch die Kombination von Dividende und Kurswert der Aktie, der außerhalb der Spekulationsfrist steuerfrei realisiert werden kann, bestimmt werde. Die Kurswerte von Aktien würden aber durch die ’’Brühler Empfehlungen” - und damit auch durch die sie umsetzenden Geset­ zesänderungen des Steuersenkungsgesetzes - aufgrund des Wegfalls der Tarif­ spreizung zwischen erhöhtem Thesaurierungssatz und niedrigerem Ausschüt­ tungssatz positiv beeinflußt. Dieses Gegenargument der Kommission, daß der Blickwinkel zu sehr auf die Dividenden begrenzt sei, ist zwar zutreffend, vor­ zugswürdig wäre jedoch eine Argumentation, die den Kritikern direkt ihre Grundlage entzieht.

In diesem Sinne läßt sich anfuhren, daß die Degressionswirkung von Normen der Bemessungsgrundlage ein natürlicher Reflex der progressiven Belastung bei zu­ nehmendem Einkommen ist835. Der hälftige Ansatz der Dividendeneinkünfte im Halbeinkünfteverfahren stellt einen solchen Aspekt der Bemessungsgrundlage dar, wobei er auf der Stufe der Ermittlung der objektiven Leistungsfähigkeit, nicht bei der subjektiven Leistungsfähigkeit anzusiedeln ist836. Bei der subjektiven Lei­ stungsfähigkeit wird die Degressionswirkung beim Abzug der existenzsichemden Aufwendungen, die bei niedrigen Gesamteinkünften eine geringere prozentuale Entlastungswirkung als bei hohen Gesamteinkünften beschert, akzeptiert837. Dies ist damit zu begründen, daß die existenzsichemden Aufwendungen das disponible Einkommen beim Besserverdienenden in gleicher Weise mindern wie beim Geringverdiener. Diese Argumentation kann aber nicht auf das der objektiven Leistungsfähigkeit zugehörige Halbeinkünfteverfahren übertragen werden. Die hälftige Freistellung der Dividendeneinkünfte von einer je nach Progression niedrigen oder hohen Besteuerung mit der Folge einer niedrigen oder hohen Entlastungswirkung ist pauschalierend festgelegt und nicht an eine objektiv in gleicher Weise geminderte Leistungsfähigkeit gebunden. Daher bleibt die regres­ sive Wirkung der Kombination von definitiver Körperschaftsteuer und Halbein­ künfteverfahren ein Fremdkörper im System einer progressiven Einkommen­ steuer.

835 Vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9 Rdnr. 43, S. 224. 836 Vgl. zur Zweistufigkeit der Bemessungsgrundlage: Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 66 f.; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9 Rdnr. 42, S. 223. 837 Vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9 Rdnr. 42, S. 223.

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Dieses Ergebnis läßt sich jedoch eventuell dadurch rechtfertigen, daß dem Halb­ einkünfteverfahren des Steuersenkungsgesetzes eine Pauschalierung zugrunde­ liegt, für die ein Bedürfnis besteht und die zur Steuervereinfachung unter Einhal­ tung des Verhältnismäßigkeitsprinzips geeignet ist. Pauschalierende Steuemor­ men werden in der Literatur838 und Rechtsprechung839 unter strenger Begrenzung durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip für zulässig gehalten. Eine solche Recht­ fertigung des Halbeinkünfteverfahrens im Interesse einer pauschalierenden Ver­ meidung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung von in- und ausländischen Di­ videnden kommt auch hier in Betracht. Sie soll jedoch aufgrund der vorrangig europarechtlichen Ausrichtung dieser Arbeit nicht weiter verfolgt werden.

(3) Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität der Gewinnverwendung

Das Steuersenkungsgesetz sieht eine definitive Körperschaftsteuer in Höhe von 25 % unabhängig von der Thesaurierung oder Ausschüttung der Gewinne vor. Während Ausschüttungen an inländische Kapitalgesellschaften gemäß § 8 b Abs. 1 KStG n.F. ohne Rücksicht auf eine bestimmte Beteiligungshöhe und Min­ destbesitzzeit von der Körperschaftsteuer befreit sind, unterliegen die Dividen­ deneinkünfte beim Anteilseigner zur Hälfte seiner individuellen Einkommen­ steuer. Dies bedeutet eine grundsätzlich erhöhte Besteuerung von Untemehmensgewinnen, die an natürliche Personen ausgeschüttet werden, gegenüber im Unternehmen verbleibenden oder anderen Kapitalgesellschaften ausgeschütteten Gewinnen. Gegen eine solche Spreizung der Besteuerung von Untemehmenseinkünften und privaten Einkünften bestehen steuerpolitische, möglicherweise auch verfasungsrechtliche Bedenken840. Mit dem Konzept würde der Grundsatz der Neutralität der Gewinnverwendung aufgegeben, da der Staat sich im Glauben an die automatische Verbindung von hohen thesaurierten Untemehmensgewinnen mit Investitionen und neuen Arbeitsplätzen dafür entscheidet, zukünftig zwischen "guten", nämlich "unternehmerischen", und "schlechten" Gewinnen, insbesondere Arbeitnehmereinkünften, zu unterscheiden841. In diesem Zusammenhang ist auch auf den Vorlagebeschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) an das Bun­ desverfassungsgericht vom 24.02.1999 hinzuweisen842. Darin stellt der BFH fest, daß die Tarifbegünstigung des § 32 c EStG für gewerbliche Einkünfte im 838 Vgl. J. Thiel, in: FS für Tipke, S. 295; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rdnr. 130 ff., S. 99 f. m.w.N. 839 Vgl. u.a. BVerfGE 85, S. 264, 317; 87, S. 153, 172. 840 Vgl. N. Jakobs, GmbHR 1999, S. R 185 f.; Men, GmbHR 1999, S. R 241; Schulze zur Wiesche, FR 1999, S. 698, 699. 841 Men, GmbHR 1999, S. R 241. 842 BFH, Beschluß v. 24.02.1999, AZ: X R 171/96, GmbHR 1999, S. 621 ff.

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241

Vergleich zu anderen Einkunftsarten des EStG - auch den Einkünften aus Kapi­ talvermögen - gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, da kein sachlicher Grund die Sondertarifierung der gewerblichen Einkünfte recht­ fertigt843. Zu einem ähnlichen Ergebnis könnte das Gericht auch bei der Untersu­ chung der im Steuersenkungsgesetz vorgesehenen Tarifspreizung zwischen niedrig belasteten Untemehmenseinkünften und höher belasteten privaten Ein­ künften kommen. In dieser Hinsicht unterliegen die Gesetzesänderungen folglich verfassungsrechtlichen Bedenken.

bb) Vorteile der Gesetzesänderungen

Nach diesem Blick auf die Nachteile der Gesetzesänderungen sollen auch die po­ sitiven Aspekte des neuen Körperschaftsteuersystems hervorgehoben werden.

Als erster und für diese Arbeit wichtigster Vorteil der Gesetzesänderungen ist die Vereinbarkeit des Halbeinkünfteverfahrens mit der Kapitalverkehrsfreiheit und somit die ’’Europarechtstauglichkeit” der Vorschläge zu nennen844. Darüber hinaus sind drei weitere Vorteile der Gesetzesänderungen zu unterstreichen, die auch von der Brühler Expertenkommission aufgelistet wurden845. Erstens ist das Halbein­ künfteverfahren einfacher, da seine tarifliche Entlastung auf Gesellschafts- und Anteilseignerebene auf Anrechnungsmechanismen, die eine Verbindung zwischen den beiden Ebenen herstellen und daher sowohl gesetzestechnisch846 als auch verwaltungsmäßig sehr aufwendig sind, verzichten kann. Zweitens ist das Halbeinkünfteverfahren nicht so mißbrauchsanfällig und bietet keinen Anreiz zu Gestaltungen zur Steueroptimierung. Die Mißbrauchsgefahr des geltenden Anrechnungsverfahrens spiegelt sich z.B. im Problem der Anrechnung nicht gezahlter Steuern wider, da der Anrechnungsberechtigte die Körperschaftsteuer­ anrechnung bereits vor Zahlung der Körperschaftsteuer, die häufig erst mit Zeit­ verzögerung und eventuell mit erneuten Korrekturen aufgrund von Betriebsprü­ fungen erfolgt, beantragen kann. Die gleichmäßige steuerliche Entlastung auf Gesellschafts- und Anteilseignerebene durch das Steuersenkungsgesetz vermeidet Gestaltungen zur Steueroptimierung, wie sie sich bei unterschiedlicher Entlastung der beiden Ebenen, anbietet. Als dritter positiver Aspekt der Gesetzesänderungen wird die Einmalbelastung in Deutschland erwirtschafteter Gewinne erreicht (vgl. 843 844 845 846

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

BFH, a.a.O., S 625 f. Kapitel 3 A. I. 2. a). ’’Brühler Empfehlungen" - Langfassung in Teil IV. A. II. 1. a. §§ 27 ff. KStG.

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oben Quellenstaatsprinzip847), welche sich zudem bei ausländischen und steuer­ befreiten Anteilseignern auf ein niedrigeres Niveau, d.h. auf die Belastung der Gesellschaftsebene, beschränkt. Dagegen würde eine eventuelle Ausdehnung der heute geltenden Körperschaftsteueranrechnung auf ausländische Anteilseigner die inländische Einmalbelastung der Gewinne und somit das Quellenstaatsprinzip848 gefährden. Schließlich liegt als letzter Vorteil der Reform der zukünftig geplante definitive Körperschaftsteuersatz von 25 % unter der jetzt geltenden Ausschüttungs- (30 %) und Thesaurierungsbelastung (40 %).

c)

Ergebnis

Trotz des für die hier geleistete Untersuchung wichtigen Ergebnisses der Verein­ barkeit der Gesetzesänderungen des Steuersenkungsgesetzes mit der Kapitalver­ kehrsfreiheit zeigt die Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile, daß die neue Gesetzeslage dem Steuerpflichtigen einige Ansatzpunkte liefert, die Verfassungs­ mäßigkeit einiger Änderungen gerichtlich überprüfen zu lassen. Da das Halbein­ künfteverfahren grundsätzlich erst ab dem 01.01.2002 Anwendung findet, wird man auf die ersten Entscheidungen hierzu jedoch noch einige Zeit warten müssen.

II.

Der besondere Steuersatz für beschränkt Körperschaftsteuerpflichtige gemäß § 23 Abs. 3 KStG a.F.

Bei der Untersuchung der Körperschaftsteuervorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit darf aus Anlaß des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002849 als kurzer Exkurs zur sonstigen Betrachtung der natürlichen Person als Kapitalanleger ein Blick auf die Gesetzesänderung in § 23 Abs. 3 KStG nicht fehlen, die grundsätzlich bis zum 31.12.2000 anwendbar war. Die Änderung des § 23 Abs. 3 KStG ist zwar mittlerweile durch das Inkrafttreten des Steuersenkungsgesetzes850 zum 01.01.2001 überholt. Ihr noch vor kurzem gel­ tender und bei vom Kalenderjahr abweichenden Wirtschaftsjahr noch immer an­ wendbarer Inhalt ist im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit jedoch von Inter­ esse.

847 848 849 850

Vgl. Kapitel 3 A. 1. a) aa) (3) (a). Vgl. dazu ausführlich Kapitel 3 A. 1. a) aa) (3) (a). BGBl. 1998 I, S. 3779; BGBl. 1999 I, S. 402. Gesetz vom 23.10.2000, BGBl. 20001, S. 1433.

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Durch Art. 5 Nr. 9 lit. c des Steuerentlastungsgesetzes vom 24. März 1999851 wurde § 23 Abs. 3 KStG, der für beschränkt Körperschaftsteuerpflichtige i.S.d. § 2 Nr. 1 KStG einen gegenüber dem alten Thesaurierungssatz von 45 % ermä­ ßigten Steuersatz von 42 % vorsah, aufgehoben. Bei der Begründung dieser Ge­ setzesänderung wird nur auf die Anpassung dieser Vorschrift an den insgesamt gemäß § 23 Abs. 1 KStG n.F. auf 40 % gesenkten Körperschaftsteuersatz und die Vereinheitlichung der Sätze für alle Körperschaften in Vorbereitung der ange­ strebten einheitlichen Untemehmensbesteuerung verwiesen852. Der europarecht­ liche Aspekt der Aufhebung des § 23 Abs. 3 KStG bleibt unerwähnt, obwohl die Vorschrift hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Europarecht einige Kritik erfahren hat853. Daher soll im folgenden untersucht werden, ob die Gesetzesän­ derung im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit notwendig war. Dazu ist zunächst § 23 Abs. 3 KStG a.F. am Maßstab der Artt. 56 ff. EGV zu prüfen, bevor das mit der Gesetzesänderung durch das Steuerentlastungsgesetz erreichte Ergebnis erörtert werden kann.

1.

Die Vorschrift des § 23 Abs. 3 KStG a.F. und Artt. 56 ff. EGV

a)

Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV

Nach Art. 56 Abs. 1 EGV sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwi­ schen den Mitgliedstaaten verboten. Gemäß § 23 Abs. 3 KStG a.F. betrug die Körperschaftsteuer für beschränkt Steuerpflichtige i.S.d. § 2 Nr. 1 KStG 42 % des zu versteuernden Einkommens; sie galt u.a. für ausländische Kapitalgesell­ schaften, die in Deutschland aufgrund einer Betriebstätte beschränkt steuer­ pflichtig waren. Dagegen lag die tarifliche Körperschaftsteuer für unbeschränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaften nach § 23 Abs. 1 KStG a.F. bei 45 % des zu versteuernden Einkommens; die Tarifbelastung minderte sich nach § 27 Abs. 1 KStG bei Ausschüttungen auf 30% des Gewinns (Ausschüttungsbelastung). Diese Gesetzeslage bedeutete für eine EU-ausländische Kapitalgesellschaft, daß ihre Gewinne, die sie in einer deutschen Tochtergesellschaft erwirtschaftete und die vollständig an sie ausgeschüttet wurden, mit einer deutschen Körper­ schaftsteuer von nur 30 % belastet waren, wogegen die weitergeleiteten Gewinne aus einer deutschen Betriebstätte dem Satz von 42 % unterlagen. 851 Vgl. BGBl. 19991, S. 402,484. 852 Vgl. BT-Drs. 14/23, S. 192 f. zu Nummer 4 (§ 23). 853 Vgl. Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 134 ff.; Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 545 ff; Eversberg, in: Dötsch!Eversberg/Jost/Witt, KStG, § 23 Rdnr. 26 a m.w.N.; Rädler/Lausterer, DB 1994, S. 699 ff.

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Für die Direktinvestitionen ausländischer Kapitalgesellschaften in Deutschland bedeutete dies eine steuerliche Schlechterstellung der rechtlich unselbständigen Zweigniederlassungen (steuerlich Betriebstätten) gegenüber den rechtlich selb­ ständigen Tochtergesellschaften. Der mit beiden Niederlassungsformen verbun­ dene grenzüberschreitende Kapitaltransfer wurde daher aufgrund des beschriebe­ nen steuerlichen Nachteils auf die Investition in eine Tochtergesellschaft gelenkt. Die Bereitstellung von Eigenkapital durch das ausländische Stammhaus an die Betriebstätte (sog. Dotationskapital854) wurde steuerlich benachteiligt. Dies stellte eine Beschränkung des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV dar. Der gleichzeitig bestehende Ein­ griff in die Niederlassungsfreiheit855 sorgt aufgrund der in dieser Arbeit vertrete­ nen kumulativen Anwendbarkeit der beiden Grundfreiheiten856 nicht für ein Zu­ rücktreten des Kapitalverkehrseingriffs.

b)

Rechtfertigung durch die "Schranke" - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV

Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit ist gerechtfertigt, wenn der besondere Betriebstättensteuersatz i.S.d. § 23 Abs. 3 KStG a.F. von Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt ist. Hier kommt die formelle Einhaltung der ’’Schranke” aufgrund des un­ terschiedlichen Wohnortes des Steuerpflichtigen in Betracht. Die Vorschrift des § 27 Abs. 1 KStG gewährt den Ausschüttungssatz der Körperschaftsteuer in Höhe von 30 % nur an unbeschränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaften. Dagegen wird der Betriebstättensteuersatz nach § 23 Abs. 3 KStG a.F. bei in Deutschland beschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaften angewendet. Aufgrund der Be­ stimmung der unbeschränkten bzw. beschränkten Steuerpflicht nach dem Sitz der Kapitalgesellschaft857, d.h. dem ’’Wohnort” i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV858, ergibt sich eine steuerliche Differenzierung nach dem Wohnort des Steuer­ pflichtigen. Die ’’Schranke” wird daher formell eingehalten.

854 Vgi. Riecker, Körperschaftsbesteuerung, S. 66; Schröder, in: Mossner u.a., Steuerrecht international tätiger Unternehmen, 2. Aufl., 1998, S. 272 ff. 855 Vgl. dazu Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 135; Herzig/Dautzenberg, DB 1997, S. 8, 14; KnobbeKeuk, Bilanz- und Untemehmensteuerrecht, S. 358 f; Rädler/Lausterer, DB 1994, S. 699, 701; a.A.: Eyles, Das Niederlassungsrecht der Kapitalgesellschaften in der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1990, S. 425 f.; offen : Wassermeyer, DB 1998, S. 28,33. 856 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. a) cc) (4) (a). 857 Vgl. § 2 Nr. 1 KStG. 858 Vgl. Kapitel 2 A. II. l.a).

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Bei der notwendigen Untersuchung materieller Rechtfertigungsgründe für die steuerliche Differenzierung nach dem unterschiedlichen Wohnort859 kommen das Argument der Kohärenz des deutschen Steuerrechts und der Aspekt des das Aus­ schüttungsverhalten ausreichend berücksichtigenden ’’Mischsteuersatzes’’860 in Betracht. Diese Gründe werden, wie bisher861, auf der nachfolgenden Ebene der ’’Schranken-Schranke” erörtert.

c)

"Schranken-Schranke" - Art. 58 Abs. 3 EGV

Die beiden genannten materiellen Rechtfertigungsgründe sind an der ’’SchrankenSchranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV zu messen.

aa) Kohärenz des Steuerrechts Zunächst ließe sich der unterschiedliche Steuersatz für die Betriebstätte (42 %) und die Ausschüttung der Tochtergesellschaft (30 %) dadurch rechtfertigen, daß bei der Betriebstätte keine Gewinnauschüttungen möglich sind, für die sich die Steuerbelastung auf einen Ausschüttungssatz vermindern könnte862. Als zweites Argument könnte angeführt werden, daß ein Pauschalsteuersatz für Betriebstätten, der ebenfalls bei 30 % angesetzt wird, für die ausländische Kapitalgesellschaft zu einem ungerechtfertigten Vorteil gegenüber inländischen Muttergesellschaften führt, deren inländischen Tochtergesellschaften nur in eingeschränktem Maße Gewinne ausschütten863. Bei den inländischen Tochtergesellschaften der inländischen Muttergesellschaften entstünde aufgrund der gemischten Steuer­ belastung durch Thesaurierungs- und Ausschüttungssteuersatz (45 % und 30 %) immer eine über 30 % liegende Besteuerung.

Der erste Rechtfertigungsgrund, wonach bei der Betriebstätte keine Gewinnaus­ schüttungen möglich sind, für die sich die Steuerbelastung auf einen Ausschüt­ tungssatz vermindern könnte864, scheidet aufgrund der zu starren, an der ”Aus859 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d). 860 Mittelwert, der sich bei einer hälftigen Ausschüttung und einer hälftigen Thesaurierung ergibt; vgl. MüllerGatermann, FR 1993, S. 381,383; zur Berechnung: Rädler/Lausterer, DB 1994, S. 699, 702 in Fn. 22. 861 Vgl. Kapitel 2 A. I. 2. d) und Kapitel 2 A. II. 3. a). 862 Vgl. Rädler/Lausterer, DB 1994, S. 699, 701. 863 Saß, DB 1992, S. 857, 863; Eckhoff, in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, S. 501, 575. 864 Vgl. Rädler/Lausterer, DB 1994, S. 699, 701.

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schüttungs”-Definition haftenden Betrachtung aus, die die vergleichbare Lage des Gewinnflusses bei Betriebstätte und hundertprozentiger Tochtergesellschaft außer acht läßt. Es ist zwar richtig, daß es nur bei einer Tochtergesellschaft, nicht aber bei einer Betriebstätte zu einer Gewinnausschüttung im formalen Sinne, d.h. zu einer Gewinnauszahlung an ein anderes Rechtssubjekt, kommt. Bei der Betriebstätte erzielt die ausländische Kapitalgesellschaft die Gewinne mangels rechtlicher Selbständigkeit der Zweigniederlassung selbst. Es bedarf daher keiner Ausschüttung an sie. Dieses Fehlen der Ausschüttung für die Begründung des Rechts der Festlegung eines gegenüber dem Ausschüttungssatz der Tochter­ gesellschaft höheren Betriebstättensteuersatzes heranzuziehen, ist jedoch ein zu formalistisches Argument, dem es an Rechtfertigungscharakter mangelt. Die Be­ triebstätte kann im deutschen Steuerrecht nicht mit Körperschaften gleichgestellt werden, die keine oder nur sehr eingeschränkte Gewinnausschüttungen vorneh­ men (vgl. Gruppe nach §§ 1 Abs. 1 Nr. 3 - 6 KStG i.V.m. 23 Abs. 2 KStG a.F.). Sie muß vielmehr bei Betrachtung des der Realität entsprechenden Gewinnflusses innerhalb des Unternehmens mit einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft einer ausländischen Kapitalgesellschaft verglichen werden. Die in Deutschland erzielten Gewinne sind im Hinblick auf die Steuerbelastung der ausländischen Kapitalgesellschaft unabhängig von ihrer Erzielung durch eine hundertprozentige Tochtergesellschaft oder eine Betriebstätte gleich zu behandeln. Die Aus­ schüttungspolitik der hundertprozentigen deutschen Tochtergesellschaft kommt aufgrund des Interesses am niedrigen Auschüttungssteuersatz in Verbindung mit der Möglichkeit des sog. ”Schütt-aus-hol-zurück”-Verfahrens865 und aufgrund des internationalen Schachtelprivilegs der Situation bei einer inländischen Betriebstätte sehr nahe866. Bei der Betriebstätte erzielt die ausländische Kapital­ gesellschaft die inländischen Gewinne zu 100 % selbst. Aber auch die Gewinnauschüttungen der hundertprozentigen inländischen Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft tendieren aufgrund der genannten Vorteile zu einer annähern­ den Vollauschüttung867. Angesichts dieser Realität kann nicht an den formalisti­ schen Aspekt der fehlenden Ausschüttung bei der Betriebstätte für einen unter­ schiedlichen Steuersatz angeknüpft werden. Es ist vielmehr eine Gleichstellung der beiden Investitionsformen notwendig.

865 Vgl. dazu Abschn. 77 Abs. 10 KStR; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Untemehmenssteuerrecht, S. 618 f.; Streck, KStG, ABC "Schütt-aus-hol-zuriick ”-Verfahren; es müssen bei dem Verfahren jedoch die Grenzen des § 42 AO (Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten) eingehalten werden. 866 Vgl. Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 136. 867 Vgl. die Statistik bei Rädler/Lausterer, DB 1994, S. 699, 702, wonach bei den 15 größten deutschen Toch­ terkapitalgesellschaften ausländischer Unternehmen durchschnittlich mehr als 90 % der verfügbaren Gewinne ausgeschüttet wurden.

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247

Das zweite Argument, wonach die ausländischen Kapitalgesellschaften bei einem Pauschalsteuersatz für Betriebstätten von 30 % gegenüber den inländischen Mut­ tergesellschaften mit nur eingeschränkt ausschüttenden Tochtergesellschaften im Vorteil wären, vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Es entstünde zwar für die inländischen Muttergesellschaften aufgrund der teilweisen Thesaurierungsbela­ stung eine über 30 % liegende Besteuerung. Bei der Gegenüberstellung der inlän­ dischen Betriebstätten der ausländischen Gesellschaften und der inländischen Töchter inländischer Muttergesellschaften wird aber das falsche Vergleichspaar herangezogen868. Richtigerweise sind die Betriebstätten nur mit der hundertprozentigen Tochtergesellschaften der ausländischen Gesellschaften zu vergleichen, bei denen sich das gerade beschriebene Verhalten der annähernden Vollausschüttung zeigt. Das zweite Argument scheidet daher ebenfalls aus.

bb)

Das Ausschüttungsverhalten ausreichend berücksichtigender ’’Misch­ steuersatz”

Der zweite materielle Rechtfertigungsgrund für den kapitalverkehrsbeschränken­ den Betriebstättensteuersatz liegt darin begründet, daß es sich bei dem Steuersatz von 42 % um einen Mittelwert oder ’’Mischsteuersatz” handelt, der sich bei den anderen in § 23 Abs. 2 KStG a.F. genannten Körperschaften869, für die der Satz parallel zu den aufgrund der Betriebstätte beschränkt Steuerpflichtigen gilt, bei einer hälftigen Ausschüttung und einer hälftigen Thesaurierung der Gewinne ergeben würde870. Die inländischen Betriebstätten der ausländischen Kapitalge­ sellschaften sind jedoch hinsichtlich ihres Ausschüttungsverhaltens nicht mit der genannten Gruppe nach §§ 1 Abs. 1 Nr. 3 - 6 KStG i.V.m. 23 Abs. 2 KStG a.F. zu vergleichen871. Bei der Betriebstätte steht der Gewinn immer zu 100 % der aus­ ländischen Kapitalgesellschaft zu; sie ist es, die mit diesen Gewinnen der be­ schränkten Steuerpflicht in Deutschland unterliegt. Daher kann die inländische Betriebstätte nicht mit der genannten Gruppe, sondern nur mit einer hundertpro­ zentigen Tochtergesellschaft der ausländischen Muttergesellschaft verglichen werden. Bei dieser liegt aber, wie vorgehend erörtert, fast immer eine annähernde Vollausschüttung vor, so daß der Betriebstättensteuersatz dem Ausschüt­ tungssteuersatz angepaßt werden müßte. Folglich scheidet auch der zweite mate­ rielle Rechtfertigungsgrund für die Kapitalverkehrsbeschränkung aus. 868 Vgl. Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 137; Rädler/Lausterer, DB 1994, S. 699, 702. 869 Vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 3 bis 6 KStG: z.B. Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Stiftungen, Betriebe ge­ werblicher Art. von juristischen Personen des öffentlichen Rechts. 870 Vgl. Nachweise in Fn. 859. 871 Brinkmann, Untemehmensbesteuerung, S. 136; Rädler/Lausterer, DB 1994, S. 699, 702.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

248

d)

Ergebnis

Die Ablehnung der beiden materiellen Rechtfertigungsgründe der Kohärenz des Steuerrechts und des ’’Mischsteuersatzes” fuhrt dazu, daß sich der aufgrund des § 23 Abs. 3 KStG a.F. bestehende Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit nicht rechtfertigen läßt. Für Sachverhalte, die noch der alten Rechtslage unterfallen, haben ausländische Kapitalgesellschaften mit Betriebstätten in Deutschland daher eine realistische Chance, die Europarechtswidrigkeit des deutschen Betrieb­ stättensteuersatzes im Hinblick auf die Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfrei­ heit durch den EuGH feststellen zu lassen. Es ergibt sich weiter die Frage, ob die Gesetzesänderung durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002872 den Ver­ stoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit behoben hat.

2.

Aufhebung des § 23 Abs. 3 KStG und Artt. 56 ff. EGV

Durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002873 wurde der Körper­ schaftsteuersatz im Fall der Thesaurierung von 45 % auf 40 % des zu versteuern­ den Einkommens abgesenkt (vgl. § 23 Abs. 1 KStG n.F.). Der ermäßigte Steuer­ satz für beschränkt Steuerpflichtige in Höhe von 42 %, dem u.a. auch die in einer deutschen Betriebstätte von einer ausländischen Kapitalgesellschaft erzielten Gewinne unterlagen874, entfällt durch die Aufhebung des § 23 Abs. 3 KStG. Diese Aufgabe des Betriebstättensteuersatzes bedeutet im Rahmen des § 23 KStG eine Gleichstellung der beschränkt Körperschaftsteuerpflichtigen (z.B. ausländische Kapitalgesellschaft mit inländischer Betriebstätte) mit den unbeschränkt Kör­ perschaftsteuerpflichtigen. Beide Gruppen unterliegen gemäß § 23 Abs. 1 KStG dem Thesaurierungssteuersatz von 40 % des zu versteuernden Einkommens.

Aus der Sicht der ausländischen Kapitalgesellschaft mit inländischer Betriebstätte bedeutet dies zwar eine Gleichstellung mit der inländischen Kapitalgesellschaft im Falle der Thesaurierung. Der Vergleich des grenzüberschreitenden Ka­ pitaltransfers der ausländischen Gesellschaft an eine Betriebstätte oder eine dieser strukturell nahen, hundertprozentigen Tochtergesellschaft führt aber auch nach 872 BGBl. 1998 I, S. 3779; BGBl. 19991, S. 402. 873 BGBl. 1998 I, S. 3779; BGBl. 19991, S. 402. 874 Durch die Änderung des § 23 Abs. 2 KStG fällt der ermäßigte Steuersatz auch fiir die in § 1 Abs. 1 Nr. 3 - 6 KStG genannte Gruppe von Steuerpflichtigen weg.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

249

der Gesetzesänderung noch immer dazu, daß die von der Betriebstätte an die ausländische Gesellschaft weitergeleiteten Gewinne mit dem höheren Thesaurie­ rungssatz von 40 % belastet sind, wogegen die von der Tochtergesellschaft aus­ geschütteten Gewinne nur dem geringeren Ausschüttungssatz von 30 % unterlie­ gen. Dies liegt darin begründet, daß die Herstellung der Ausschüttungsbelastung nach den §§27 ff. KStG auf unbeschränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaften begrenzt bleibt (vgl. § 27 Abs. 1 KStG). Die aufgrund des Verstoßes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit notwendige Gleichstellung der Betriebstätte mit der hundertprozentigen, vollausschüttenden Tochtergesellschaft875 ist daher durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002876 noch nicht erreicht worden. Der Körperschaftsteuersatz für Betriebstätten müßte dem Ausschüttungssteuersatz bei Tochtergesellschaften entsprechen877.

Diesem fortbestehenden Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit ist mittler­ weile mit dem zum 01.01.2001 in Kraft getretenen Steuersenkungsgesetz878 abge­ holfen worden. Nach dem Steuersenkungsgesetz tritt an die Stelle des gesplitteten Körperschaftsteuertarifs für Thesaurierung und Ausschüttung ein einheitlicher Steuersatz von 25 % des zu versteuernden Einkommens (§ 23 Abs. 1 KStG n.F.). Auf diese Weise wird auch eine Gleichstellung der Betriebstätten mit den Tochtergesellschaften ausländischer Kapitalgesellschaften erreicht. Der grenz­ überschreitende Kapitaltransfer für eine Betriebstätte oder Tochtergesellschaft unterliegt nicht mehr einer Beschränkung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV, so daß der Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit entfällt.

B. Kapitalertragsteuer Die nachfolgende Untersuchung der Kapitalertragsteuer auf ihre Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit beleuchtet die zweite Ertragsteuer neben der Kör­ perschaftsteuer, die sich auf die Besteuerung von Gesellschaftsanteilen an einer Kapitalgesellschaft auswirkt. Vor der Betrachtung der Kapitalertragsteuer muß auf zwei wichtige Aspekte hingewiesen werden, die die nachfolgende Untersu­ chung im Unterschied zu der der Körperschaftsteuer bestimmen. Erstens handelt 875 Vgl. Kapitel 3 A. II. 1. 876 BGBl. 1998 I, S. 3779; BGBl. 1999 I, S. 402. 877 Vgl. Rädler/Lausterer, DB 1994, S. 699, 702; ebenso Fiedler, Die Binnenmarkt-Verträglichkeit der Doppel­ belastung von Anteilseignern an Kapitalgesellschaften mit Ertragsteuem, Diss., 1995, S. 108. 878 Gesetz vom 23.10.2000, BGBl. 2000 I, S. 1433.

250

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es sich bei der Kapitalertragsteuer um die eigene vorausgezahlte Einkommen­ steuer des Kapitalanlegers879, wogegen die bei der Dividendenausschüttung gezahlte Körperschaftsteuer die Ertragsteuer der Kapitalgesellschaft ist. Der Steuerschuldner der Kapitalertragsteuer und der Einkommensteuer ist identisch, wogegen die Person des Steuerschuldners bei der Körperschaft- und Einkommen­ steuer differiert. Folglich ist bei der Kapitalertragsteuer das Problem der juristi­ schen Doppelbesteuerung zu lösen, wogegen die Kapitalverkehrsbeschränkungen bei der Körperschaftsteuer durch die wirtschaftliche Doppelbelastung880 der Dividenden begründet waren. Der zweite Unterschied zwischen der Körper­ schaftsteuer und der Kapitalertragsteuer liegt darin, daß die geschilderten Pro­ bleme der Körperschaftsteuer auf die Gesellschafter von Kapitalgesellschaften beschränkt waren, wogegen die Kapitalertragsteuer neben dem Inhaber von Gesellschaftsanteilen auch den Gläubiger von Kapitalforderungen betrifft, mit denen er Zinseinkünfte erzielt.

Die in Deutschland praktizierte Erhebung der inländischen und Behandlung der ausländischen Kapitalertragsteuer kann die europarechtliche Kapitalverkehrsfrei­ heit berühren. Daher wird im folgenden die Vereinbarkeit der Vorschriften zur Kapitalertragsteuer mit den Artt. 56 ff. EGV untersucht, was auf eine erneute Auseinandersetzung mit Art. 58 EGV als Rechtfertigungsnorm hinausläuft. Die Betrachtung beschränkt sich auf die natürlichen Personen als Kapitalanleger und somit die Vorschriften des Einkommensteuergesetzes881.

An die Betrachtung der Vereinbarkeit der deutschen Kapitalertragsteuervorschrif­ ten mit der Kapitalverkehrsfreiheit schließt sich im zweiten Teil dieses Abschnitts die Erörterung des Richtlinienvorschlags der EG-Kommission zur Ge­ währleistung eines Minimums an effektiver Besteuerung von Zinserträgen inner­ halb der Gemeinschaft vom 20. Mai 1998882 an883. Der Richtlinienvorschlag ist trotz der jüngsten Schlußfolgerungen des ECOFIN-Rats vom 27. November 2000, die den Inhalt einer zukünftigen Zins-Richtlinie modifiziert haben, noch nicht offiziell zurückgenommen worden. In Kapitel 3 B. II. wird der Inhalt des 879 Dürrholz, in: Lademann/Söffing, EStG, § 43 Rdnr. 2; Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 43 Rdnr. 1. 880 Zum Begriff der Doppelbelastung im Unterschied zur juristischen Doppelbesteuerung vgl. Nachweise in Fn. 347. 881 Vgl. Einleitung zu Kapitel 3. 882 ABI. EG Nr. C 212 v. 08.07.1998, S. 13 ff; KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS) mit Begründung und Erläuterungen der EG-Kommission. 883 Die Erstellung des Textes in Kapitel 3 B. II. wurde weit vor den jüngsten Schlußfolgerungen des ECOFINRats vom 27.11.2000 fertiggestellL

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251

Richtlinienvorschlags, sein Beitrag zur Verwirklichung der Kapitalverkehrsfrei­ heit und seine Wirkung als europarechtlicher Harmonisierungsschritt im Bereich der direkten Steuern beleuchtet. Es werden die im Falle des Erlasses der Richt­ linie für die deutsche Kapitalertragsteuererhebung bei Steuerausländem entste­ henden Folgen aufgezeigt und die Auswirkungen auf die im ersten Teil dieses Abschnitts diskutierten Zusammenhänge zwischen den deutschen Steuemormen und der Kapitalverkehrsfreiheit erörtert. Im Anschluß werden kurz die für einen zukünftigen Richtlinienvorschlag anstehenden Veränderungen erörtert, die sich aus den jüngsten Schlußfolgerungen des ECOFIN-Rats vom 27. November 2000 ergeben.

I.

Die Kapitalertragsteuer im deutschen Einkommensteuergesetz

Die Kapitalertragsteuer wird im deutschen Einkommensteuergesetz durch die §§43 ff. EStG geregelt, die abgesehen von der Steuersatzabsenkung in § 43 a Abs. 1 Nr. 1 EStG n.F. von 25 % auf 20 % durch das Steuersenkungsgesetz884 keine tiefgreifenden Änderungen erfahren haben885. Nachfolgend wird daher di­ rekt von den nach dem Inkrafttreten des Steuersenkungsgesetzes geltenden Vor­ schriften ausgegangen. Die Kapitalertragsteuer ist die auf die in § 43 EStG ab­ schließend bestimmten Kapitalerträge i.S.d. § 20 EStG erhobene Einkommen­ steuer, die durch Steuerabzug an der Quelle, d.h. beim Schuldner, bzw. für den Zinsabschlag ab 1993 bei der Auszahlungsstelle der Kapitalerträge, erhoben wird. Es handelt sich bei der Kapitalertragsteuer, ähnlich wie bei der Lohnsteuer, um eine Form der Einkommensteuer, die als Vorauszahlung auf die eigene Ein­ kommensteuer des Kapitalanlegers zu verstehen ist und die in der Regel im Rahmen seiner Veranlagung auf die Einkommensteuer angerechnet wird886. Aufgrund dieses Quellenabzugs in Verbindung mit der späteren Anrechnung wird die deutsche Kapitalertragsteuer als Abschlagsteuer im Unterschied zu der in anderen Ländern praktizierten Abgeltungssteuer887 bezeichnet. Bei der Abgel­ tungssteuer ist die Einkommensteuer auf die Kapitaleinkünfte mit dem Kapital­ ertragsteuerabzug pauschal abgegolten, d.h. die Einkünfte werden nicht mehr zur individuellen Einkommensbesteuerung herangezogen. Die EU-Mitgliedstaaten, 884 Gesetz vom 23.10.2000, BGBl. 2000 I, S. 1433. 885 Vgl. Lausterer, in: Oppenhoff & Rädler (Hrsg.), Reform der Untemehmensbesteuerung - Steuersenkungsge­ setz, Bonn 2000, S. 160, der auf folgendes hinweist: ’’Ein Abgleich der Neufassung der §§ 43 bis 45 d EStG mit der bisherigen Gesetzesfassung zeigt, daß die inhaltlichen Änderungen keineswegs so weit gehen, daß sie eine vollständige Neufassung erforderlich gemacht hätten.“ 886 Dürrholz, in: Lademann/Söffmg, EStG, § 43 Rdnr. 2; Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Auf!., § 43 Rdnr. 1. 887 Z.B. Belgien, Dänemark, Österreich, Schweden; vgl. Hey, Harmonisierung der Untemehmensbesteuerung, S. 30 ff.; Dautzenberg, Untemehmensbesteuerung, S. 550 ff.

252

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die das System einer Abgeltungssteuer praktizieren, sehen jedoch auch die Mög­ lichkeit vor, die Kapitaleinkünfte auf Antrag der regulären Einkommensbesteue­ rung zuzufiihren888, wovon vor allem Kapitalanleger mit geringer Steuerprogres­ sion Gebrauch machen werden.

Der Kapitalertragsteuerabzug muß sich wegen der territorial begrenzten Steuerho­ heit grundsätzlich auf inländische Erträge/inländische Kapitalertragschuldner be­ schränken889. Der Schuldner der Kapitalerträge muß daher gemäß § 43 Abs. 3 EStG n.F. im Inland einen Wohnsitz (vgl. § 8 AO), Sitz oder die Geschäftsleitung haben (vgl. §§ 10, 11 AO) haben. Ausländische Kapitalerträge werden von der deutschen Kapitalertragsteuer gemäß § 43 Abs. 1 S. 1 EStG n.F. nur in den Fällen der Nummer 7 a und Nummer 8 sowie des Satzes 2 des § 43 Abs. 1 EStG n.F. er­ faßt. Es unterliegen danach auch ausländische Zinsen i.S.d. § 43 Abs. 1 Nr. 7 a EStG n.F. dem Zinsabschlag, wobei dies trotz des Wortlauts von § 44 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 b EStG nur bei Zahlung durch inländische Kredit- oder Finanz­ dienstleistungsinstitute gilt890. Kapitalertragsteuer auf Erträge inländischer In­ vestmentfonds wird gemäß § 38 b KAGG erhoben891. Ausschüttungen auf aus­ ländische Investmentanteile unterliegen gemäß §§ 18 a Abs. 1 Nr. 1, 17 Abs. 1 AuslInvestmG der Kapitalertragsteuer892. Wertsteigerungen der Investmentanteile und Veräußerungsgewinne der Investmentgesellschaften sind indes als private Vermögensmehrungen nicht steuerbar.

Die Höhe der einzubehaltenden Kapitalertragsteuer bestimmt § 43 a Abs. 1 EStG n.F. unterschiedlich nach der Art der Kapitalerträge. Die normale Kapitalertrag­ steuer von nach dem Steuersenkungsgesetz nur noch 20 % (vorher 25 %) wird ge­ mäß § 43 a Abs. 1 Nr. 1 EStG n.F. auf Dividenden und ähnliche Bezüge i.S.d. § 20 Abs. 1 Nm. 1, 2 EStG n.F. erhoben, wenn der Gläubiger die Kapitalertrag­ steuer trägt. Zinsen aus Wandelanleihen, Gewinnobligationen und Genußrechten sowie Einnahmen aus stiller Beteiligung (vgl. § 43 Abs. 1 Nm. 2-4 EStG n.F.) werden dagegen gemäß § 43 a Abs. 1 Nr. 2 EStG n.F. weiterhin mit einer Kapital­ ertragsteuer in Höhe von 25 % belastet. Seit dem 1. Januar 1993 unterliegen ge­ mäß § 43 a Abs. 1 Nr. 3 EStG n.F. Zinsen und andere Kapitalerträge i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG dem sog. Zinsabschlag von 30 % (bei Tafelgeschäften: 35 %). 888 889 890 891 892

Vgl. Literaturangaben in vorangehender Fn. Vgl. § 43 Abs. 1 S. 1 EStG. Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 43 Rdnr. 14. Vgl. dazu ausführlich Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 20 Rdnr. 110 ff. Vgl. dazu Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 20 Rdnr. 120.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

253

Die Erhöhung des Kapitalertragsteuerabzugs durch den Solidaritätszuschlag, der sich nach der zu erhebenden Kapitalertragsteuer bzw. dem zu erhebenden Zins­ abschlag bemißt und seit dem 1.1.1998 in Höhe von 5,5 % der Bemessungs­ grundlage erhoben wird, bleibt im folgenden mangels zusätzlicher Auswirkungen auf die Kapitalverkehrsfreiheit unberücksichtigt893.

Die in Deutschland und im Ausland erhobene Kapitalertragsteuer kann die hier untersuchte Kapitalverkehrsfreiheit nur berühren, wenn grenzüberschreitende Kapitalanlagen von der Steuer betroffen sind. Das Einkommensteuergesetz und die DBA sehen für diesen Sachverhalt Regelungen für zwei verschiedene Kon­ stellationen vor: erstens für die deutsche Kapitalertragsteuer eines Steuerauslän­ ders und zweitens für die Behandlung der ausländischen Kapitalertragsteuer eines Steuerinländers in Deutschland. Die nachfolgende Untersuchung der Kapitalertragsteuemormen ist daher auf diese beiden Richtungen ausgerichtet, wobei die Reihenfolge der Erörterung parallel zur Gliederung bei der Körperschaftsteuer mit der inländischen Behandlung des Steuerausländers beginnt894.

1.

Die deutsche Kapitalertragsteuer des Steuerausländers und Artt. 56 ff. EGV

Bevor auf den Zusammenhang zwischen der deutschen Kapitalertragsteuer des Steuerausländers und der Kapitalverkehrsfreiheit eingegangen werden kann, ist ein allgemeiner Blick auf die Erhebung dieser Steuer bei Steuerausländem er­ forderlich. Die deutsche Kapitalertragsteuer wird in der Regel wie eine Objekt­ steuer ohne Prüfung der persönlichen Verhältnisse und der Verfügungsbefugnis des Kapitalgläubigers erhoben895. Das deutsche Einkommensteuerrecht begrenzt jedoch die von einem Steuerausländer bei Feststehen der beschränkten Steuerpflicht i.S.d. § 1 Abs. 4 EStG896 zu zahlende Kapitalertragsteuer auf die steuerbaren Inlandseinkünfte, d.h. die Fälle des § 49 Abs. 1 Nr. 5 EStG897. Dies bedeutet, daß die Kapitalertragsteuer bei Dividenden gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 lit. a EStG nur dann abgezogen wird, wenn der Kapitalschuldner seinen Wohnsitz, seine Geschäftsleitung oder seinen Sitz im Inland hat. Gleiches gilt auch bei 893 Vgl. zum Solidaritätszuschlag zur Kapitalertragsteuer: Dürrholz, in: Lademann/Söjjing, EStG, § 43 Rdnr. 300 ff.; Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Auf]., § 43 a Rdnr. 31. 894 Vgl. Kapitel 3 A. I. 1. a). 895 Vgl. Heinicke, in: L Schmidt, EStG, 20. Auf!., § 43 Rdnr. 16; BMF BStBl. 1 1992, S. 693,695 Tz 4.3. 896 Nachweis der in Deutschland lediglich bestehenden beschränkten Steuerpflicht durch Wohnsitzbestätigung der ausländischen Steuerbehörde, die dem Kapitalschuldner oder der auszahlenden Stelle vorzulegen ist 897 Vgl. Heinicke, in: L Schmidt, EStG, 20. Auf!., § 43 Rdnr. 17.

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Zinsen aus Sparanteilen in Lebensversicherungen (vgl. § 49 Abs. 1 Nr. 5 lit. a i.V.m. § 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG) und bei Wandelanleihen und Gewinnobligationen. Bei Zinseinkünften i.S.d. § 43 Abs. 1 S. 1 Nm. 7 u. 8 EStG (u.a. Zinsen aus sonstigen Kapitalforderungen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG) sind die namentlich bekannten Steuerausländer, deren Legitimation nach § 154 AO und deren be­ schränkte Steuerpflicht durch eine entsprechende Ansässigkeitsbescheinigung der ausländischen Finanzbehörde festgestellt wurden, von der Kapitalertragsteuer in Form des sog. Zinsabschlags ausgenommen898. Dies gilt nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 lit. c lit. cc EStG jedoch nicht für sog. Tafelgeschäfte, d.h. Schaltergeschäfte ohne Depot der Wertpapiere/Wertrechte/Zinsscheine, bei denen für persönlich unbekannte Gläubiger Zug um Zug gegen Vorlage von Zinsscheinen oder Wert­ papieren ohne Zinsscheine, z.B. Zero-Bonds, und ohne Einschaltung eines aus­ ländischen Kreditinstituts Kapitalerträge ausbezahlt werden899.

Die Einkommensteuer für Kapitaleinkünfte, die nach den geschilderten Normen dem Kapitalertragsteuerabzug unterliegen, gilt gemäß § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F. bei beschränkt Steuerpflichtigen, die nach obiger Prämisse900 keinen ’’inländischen Betrieb” i.S.d. § 50 Abs. 5 S. 2 EStG n.F. haben, durch den Steuerabzug als abge­ golten. Diese Abgeltungswirkung bedeutet, daß keine Veranlagungsmöglichkeit besteht und somit dem Steuerausländer kein Abzug von Werbungskosten möglich ist901. Die Besteuerung der Kapitaleinkünfte im Quellenstaat wird für den Steuer­ ausländer allerdings durch die Anwendung des entsprechenden DBA begrenzt. Für Dividenden und Zinsen hat nach den DBA der Quellenstaat nur ein der Höhe nach beschränktes Besteuerungsrecht902; dem Wohnsitzstaat des Empfängers kommt daneben ebenfalls ein Recht zur Besteuerung zu903. So darf nach dem OECD-MA im Quellenstaat die Besteuerung von Dividenden, bei denen es sich nicht um Schachteldividenden handelt, 15 % des Bruttobetrags der Dividenden nicht überschreiten. Die Steuer auf Zinsen ist danach auf 10 % des Bruttobetrags der Zinsen begrenzt. In Deutschland erfolgt die Ermäßigung der Besteuerung im Wege der Erstattung der zunächst voll abzuziehenden Kapitalertragsteuer durch das Bundesamt für Finanzen (vgl. § 50 d Abs. 1 EStG n.F.)904. Über diese 898 Vgl. Dürrholz, in: Lademann/Söjffing, EStG, § 43 Rdnr. 108; Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 49 Rdnr. 67 und § 43 Rdnr. 37. 899 Vgl. Heinicke, in: L Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 49 Rdnr. 67 und § 44 a Rdnr. 27. 900 Vgl. Einleitung zu Kapitel 3. 901 Vgl. Heinicke, in: L Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 49 Rdnr. 68; BFH, Urt. v. 03.06.1975, BStBl II 1975, S. 786. 902 Vgl. stellvertretend Art. 10 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2 OECD-MA. 903 Vgl. stellvertretend Art. 10 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1 OECD-MA. 904 Lüdicke, in: Lademann/Söffing, EStG, § 49 Rdnr. 722; Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 49 Rdnr. 69; zum Verfahren: Merkblatt des BMF vom 01.03. 1994, BStBl. 1994 I, S. 203 fF.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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Ermäßigung der Kapitalertragsteuer im Quellenstaat hinaus wird eine ver­ bleibende Doppelbesteuerung der Kapitaleinkünfte durch Anrechnung oder Frei­ stellung im Wohnsitzstaat weitgehend ausgeglichen.

Auf der Grundlage dieser allgemeinen Ausführungen zur kapitalertragsteuerlichen Behandlung des Steuerausländers kann auf ein spezielles Problem der deutschen Kapitalertragsteuer, das sich auf ihre Vereinbarkeit mit der Kapitalver­ kehrsfreiheit bezieht, eingegangen werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei die geschilderte Abgeltungswirkung des Kapitalertragsteuerabzugs gemäß § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F..

a)

Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV

Nach Art. 56 Abs. 1 EGV sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwi­ schen den Mitgliedstaaten verboten. Das deutsche Steuerrecht sieht für den be­ schränkt Steuerpflichtigen in § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F. vor, daß die Einkommen­ steuer auf Kapitaleinkünfte durch den Kapitalertragsteuerabzug abgegolten ist. Daher ist bei diesen Einkünften keine Veranlagung und kein Abzug von Wer­ bungskosten möglich905. Dagegen steht dem unbeschränkt Steuerpflichtigen ge­ mäß §§ 2 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 9 EStG der Werbungskostenabzug offen. Für den Steuerausländer kommt es folglich im Unterschied zum Steuerinländer aufgrund der Abgeltungswirkung des Kapitalertragsteuerabzugs zu einer Bruttobesteue­ rung, weil die Einkommensteuer nicht von den Einkünften, sondern von den Einnahmen ohne Berücksichtigung von Werbungskosten erhoben wird906.

Daraus ergibt sich die Frage, ob die Bruttobesteuerung der Kapitaleinnahmen des Steuerausländers eine Diskriminierung gegenüber inländischen Kapitalanlegem bedeutet. Eine Diskrimininierung ist gegeben, wenn die beiden Kapitalanleger trotz Vergleichbarkeit ihrer steuerlichen Situation durch die Steuemorm unter­ schiedlich behandelt werden907. Die Vergleichbarkeit der steuerlichen Situation liegt vor, wenn die mitgliedstaatliche Steuerordnung in bezug auf Modalitäten und Voraussetzungen der Besteuerung die Gleichbehandlung der beiden Steuer­ 905 Vgl. Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Auf!., § 49 Rdnr. 68 und § 50 Rdnm. 5, 7, 12; Schaumburg, in: FS Tipke, S. 125, 135. 906 Schaumburg, in: FS Tipke, S. 125, 135; ders., Internationales Steuerrecht, § 5 Rdnr. 127, S. 167. 907 Vgl. ausführlich Kapitel 3 A. I. 1. a) aa); siehe auch Kapitel 2 A. I. 2. c) aa) zur Vergleichbarkeit der steu­ erlichen Situation bei unterschiedlichem Wohnort.

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pflichtigen vorsieht. Dies ist hier aufgrund der Belastung der Kapitaleinkünfte beider Steuerpflichtiger mit der auf Bruttobasis berechneten Kapitalertragsteuer zum gleichen Steuertarif (vgl. §§ 43 ff. bzw. 49 Abs. 1 Nr. 5 lit. a EStG n.F.) der Fall. Eine unterschiedliche Behandlung ist ebenfalls gegeben, da es nur beim Steuerausländer aufgrund der Abgeltungswirkung des Kapitalertragsteuerabzugs zu einer Bruttobesteuerung der Kapitaleinkünfte kommt (vgl. § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F.). Eine Diskriminierung des Steuerausländers bei der Besteuerung der Kapitaleinkünfte wäre danach gegeben.

Der Annahme einer Diskriminierung des Steuerausländers durch die Bruttobe­ steuerung der Kapitaleinnahmen ließe sich entgegenhalten, daß der Kapitalertrag­ steuerabzug auf Bruttobasis, dessen Wirkung zudem durch das anzuwendende DBA begrenzt wird908, regelmäßig deutlich hinter der Besteuerung der Kapitalein­ künfte des Steuerinländers nach dem progressiven Steuersatz zurückbleibe und somit im Quellenstaat keine Schlechterstellung des Steuerausländers erfolge909. Dieses Argument kann jedoch nicht überzeugen, da in die Betrachtung des Steuer­ ausländers seine progressive Besteuerung im Wohnsitzstaat, die sich nach dem üblichen Progressionsvorbehalt der DBA910 auch an den ausländischen Kapitaleinkünften orientiert, mit einbezogen werden muß911. Die deutsche Kapi­ talanlage des Steuerausländers, die zu Einkünften i.S.d. § 49 Abs. 1 Nr. 5 EStG fuhrt, wird daher durch die Abgeltungswirkung des Kapitalertragsteuerabzugs gegenüber der Anlage des Steuerinländers diskriminiert912. Es liegt folglich auf­ grund der Diskriminierung als Unterform der Beschränkung913 ein Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 56 Abs. 1 EGV vor.

b)

Rechtfertigung durch die ’’Schranke” - Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV

Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit ist gerechtfertigt, wenn die in § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F. bestimmte Abgeltungswirkung von Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt ist. Diese ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit läßt diejenigen Vgl. stellvertretend Art. 10 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 OECD-MA. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.09.1965, BVerfGE 19, S. 119. Vgl. stellvertretend Art. 23 A Abs. 3 und Art. 23 B Abs. 2 OECD-MA. Vgl. EuGH, Urt. v. 27.06.1996, Rs. C-107/94, Sig. I 1996, S. 3089, 3126 Rz. 47 ff. (Asscher); Schön, Kapi­ talverkehrsfreiheit, S. 743, 772. 912 Ebenso Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 771. Vgl. die allgemeinen europarechtlichen Bedenken bei: Hinnekens, European Taxation 1996, S. 286, 292; teßoekhorst, European Taxation 1995, S. 156 f.; a.A.: Dourado, EC Tax Review 1994, S. 176, 184. 913 Vgl. Kapitel 2 A.I. l.a)bb)(l). 908 909 910 911

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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kapitalverkehrsbeschränkenden Steuervorschriften zu, die Steuerpflichtige mit un­ terschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln. Das deutsche Steuerrecht differenziert bei der Bruttobesteuerung der Kapitalein­ nahmen nach der unbeschränkten und der beschränkten Steuerpflicht des Empfän­ gers und stellt somit auf das Kriterium des Wohnorts i.S.d. Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV914 ab, das die Art der inländischen Steuerpflicht bestimmt915. Die in § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F. bestimmte Abgeltungswirkung ist folglich formell von der ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gedeckt. Aufgrund des Verständnisses der ’’Schranke” als materieller Rechtfertigungsgrund ist jedoch der inhaltliche Grund für die Differenzierung nach dem unterschiedlichen Wohnort des Steuer­ pflichtigen und sein rechtfertigender Charakter zu untersuchen916. Die verschie­ denen materiellen Gründe werden auf der nachfolgenden Ebene der ’’SchrankenSchranke” beleuchtet917.

c)

"Schranken-Schranke" - Art. 58 Abs. 3 EGV

Die materiellen Gründe, die die differenzierende steuerliche Behandlung nach dem unterschiedlichen Wohnort bestimmen könnten, sind an der ’’SchrankenSchranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV, deren Inhalt auf eine Verhältnismäßig­ keitsprüfung hinausläuft918, zu messen. Es werden im folgenden drei mögliche materielle Gründe vorgestellt und kritisch untersucht, die sich zur Rechtfertigung der Kapitalverkehrsbeschränkung im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung eignen könnten. Erstens könnte die Bruttobesteuerung der Kapitaleinnahmen von Steuerausländem im Quellenabzugsverfahren der Vermeidung der Steu­ erhinterziehung dienen. Zweitens könnte sie unüberwindbare technische Schwie­ rigkeiten für die Steuerverwaltung vermeiden. Schließlich könnte die Bruttobe­ steuerung der Kapitaleinnahmen im Hinblick auf die Kohärenz des Steuerrechts erforderlich sein.

aa) Vermeidung der Steuerhinterziehung

Die differenzierende steuerliche Behandlung der Kapitaleinnahmen nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen, die bei Steuerausländem eine Bruttobesteuerung 914 915 916 917 918

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Kapitel 2 A. II. l.a). § 1 EStG i.V.m. § 8 AO. Kapitel 2 A. I. 2. d). Kapitel 2 A. I. 2. d) und Kapitel 2 A. II. 3. a). Kapitel 2 A. II. 3. c).

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vorsieht, könnte dadurch gerechtfertigt sein, daß bei den in das Ausland (in den Wohnsitzstaat des Empfängers) fließenden Einnahmen die Anwendung des Quel­ lenabzugsverfahrens für eine wirksame Steuererhebung unabdingbar ist919. Die eu­ roparechtliche Anerkennung der Vermeidung der Steuerhinterziehung als materi­ eller Rechtfertigungsgrund einer Kapitalverkehrsbeschränkung wird in Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV deutlich, der u.a. untergesetzliche Maßnahmen zur Verhinde­ rung der Steuerhinterziehung für zulässig erklärt920 und somit erst recht gesetzli­ che Vorschriften mit gleicher Ausrichtung legitimiert. Der Kapitalertragsteuer­ abzug auf Bruttobasis an der Quelle sorgt dafür, daß die Kapitaleinkünfte immer einer Besteuerung unterliegen und der ausländische Empfänger sie nicht durch Nicht-Angabe im Wohnsitzstaat, dem ebenfalls ein Besteuerungsrecht hinsichtlich dieser Einkünfte zukommt921, einer Besteuerung vollständig entziehen kann922. Zugleich sichert sich der Quellenstaat auf diese Weise sein Besteuerungsrecht, das ihm nach dem Quellenstaatsprinzip (source country entitlement) zusteht.

Diese Argumente sprechen zwar dafür, daß die Vermeidung der Steuerhinterzie­ hung einen Kapitalertragsteuerabzug an der Quelle auf Bruttobasis erfordert; sie erklären jedoch nicht, warum der Quellensteuerabzug nur beim beschränkt Steuer­ pflichtigen gemäß § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F. mit einer Abgeltungswirkung ver­ bunden wird923. Die Diskriminierung der inländischen Kapitalanlage des Steuer­ ausländers beruht nicht auf der Quellenbesteuerung, die ohnehin auch beim Steue­ rinländer gemäß § 43 a Abs. 2 EStG n.F. auf Bruttobasis erfolgt, sondern allein auf der Abgeltungswirkung, die den Abzug von Werbungskosten verwehrt. Der Gesichtspunkt der Vermeidung der Steuerhinterziehung kann den Gesetzgeber daher nicht daran hindern, kapitalertragsteuerpflichtige Einkünfte in das Veran­ lagungsverfahren beschränkt steuerpflichtiger Personen einzubeziehen und unter Berücksichtigung von Werbungskosten sowie unter Anrechnung der Quellen­ steuer einer individuellen Steuerbelastung zuzuführen924. Folglich scheidet die Vermeidung der Steuerhinterziehung als materieller Grund für die nach Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zulässige Differenzierung nach dem Wohnort aus.

919 Vgl. das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG: BVerfG, Beschl. v. 24.09.1965, BVerfGE 19, S. 119. 920 Vgl. Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 d Rdnr. 23; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 d Rdnr. 10. 921 Vgl. stellvertretend Art. 10 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1 OECD-MA. 922 Vgl. ausführlich zum Argument der Vermeidung der Steuerhinterziehung bei einer verfassungsrechtlichen Betrachtung der Bruttobesteuerung: Engelschalk, Die Besteuerung von Steuerausländem auf Bruttobasis, Heidelberg 1988, S. 9 f., 78. 923 Vgl. Schaumburg, in: FS Tipke, S. 125, 136; ders., Internationales Steuerrecht, § 5 Rdnr. 133, S. 170. 924 Schaumburg, in: FS Tipke, S. 125, 136; ders., Internationales Steuerrecht, § 5 Rdnr. 133, S. 170.

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bb) Vermeidung technischer Schwierigkeiten für die Steuerverwaltung

Als weiterer über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziehbarer materieller Rechtfer­ tigungsgrund könnte die Vermeidung technischer Schwierigkeiten für die Steuer­ verwaltung in Betracht kommen925. Die Einbeziehung der Kapitaleinnahmen in eine Veranlagung und die damit einhergehende Möglichkeit zur Geltendmachung von Werbungskosten bedeutet für die Steuerverwaltung einen erhöhten und durch die ausländische Ansässigkeit des Empfängers der Einkünfte erschwerten Prü­ fungsaufwand, der durch die Bruttobesteuerung und die Abgeltungswirkung des Steuerabzugs vermieden würde926. Die entstehenden technischen Schwierigkeiten der Steuerverwaltung übersteigen jedoch nicht das Maß, das sich auch bei der Veranlagung eines unbeschränkt Steuerpflichtigen mit ausländischen Kapitalein­ künften ergibt, da auch hier die eventuell im Ausland entstehenden Kosten schwerer nachprüfbar sind. Für die Ermittlung und Prüfung der im Zusammen­ hang mit Kapitaleinkünften entstehenden Werbungskosten durch die Steuerver­ waltung kommt der Ansässigkeit des Kapitalanlegers keine so große Bedeutung zu wie den Informationen, die von der das Depotkonto führenden Hausbank über die Depot- sowie die An- und Verkaufskosten zur Verfügung gestellt werden müssen. Der Aspekt der Verwaltungs Vereinfachung durch die Bruttobesteuerung läßt sich als Argument sowohl bei beschränkt steuerpflichtigen Anteilseignern mit inländischen Einkünften als auch bei unbeschränkt steuerpflichtigen Anlegern mit ausländischen Einkünften nutzen, so daß er gerade nicht die Begrenzung der Bruttobesteuerung auf die Steuerausländer begründen kann927.

Darüber hinaus hat das Argument der Vermeidung steuertechnischer Schwierig­ keiten durch die Bruttobesteuerung schon für sich nur geringe Überzeugungskraft, da einerseits aufgrund der Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen im Steuer­ verfahren nach § 90 AO (’'Kooperationsmaxime”)928 dieser die Tatsachen für den Abzug von Werbungskosten ohnehin darlegen und beweisen muß und anderer­ seits die Amtshilfe-Richtlinie929 innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ein

925 Vgl. auch Mossner, Neue Dividendenbesteuerung aus der Sicht des EU- und DBA-Rechts, in: Lüdicke (Hrsg.), Internationale Aspekte der Untemehmenssteuerreform, S. 27,48. 926 Vgl. zum Argument der Verwaltungsvereinfachung der Bruttobesteuerung die Begründung zu § 50 Abs. 4 S. 1 EStG 1934, RStBl. 1935, S. 33, 60. Weitere Rechtfertigungsansätze bei Menck, in: Engelschalk/Flick u.a., Steuern auf ausländische Einkünfte, München 1985, S. 28,30 ff. 927 Vgl. Schaumburg, in: FS Tipke, S. 125, 136. 928 Vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, § 22 A. I. 1. 3., S. 787; ausführlich Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, Habil., Köln 1996, S. 179 ff. 929 Richtlinie 77/799/EWG vom 19. Dezember 1977, ABI. EG 1977 Nr. L 336, S. 15.

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taugliches Instrumentarium zur Informationsbeschaffung zur Verfügung stellt930. Die Steuerverwaltung muß den Werbungskostenabzug nur gewähren, wenn der Steuerpflichtige die Werbungskosten für sie hinreichend nachvollziehbar darlegt und beweist. Sie wird dabei die hierfür heranzuziehenden Bescheinigungen der das Depotkonto führenden Hausbank des Steuerpflichtigen über die angefallenen Kosten prüfen, was gegenüber der Prüfung der kapitaleinkünftebezogenen Werbungskosten eines Steuerinländers keinen erhöhten Aufwand bedeutet. Die Amtshilfe-Richtlinie würde zudem auch eventuelle Zustellungs- und Vollziehungsprobleme931, die bei einer nicht im Inland ansässigen Person auftreten könnten, überwinden. Folglich scheidet auch dieses Argument als mate­ rieller Grund für die Differenzierung nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen aus.

cc) Kohärenz des Steuerrechts

Schließlich könnte die bereits in anderen Zusammenhängen932 angesprochene Ko­ härenz des Steuerrechts den über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziehbaren mate­ riellen Grund für die Differenzierung nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen liefern. Die Kohärenz des deutschen Steuerrechts könnte die Bruttobesteuerung der Kapitaleinnahmen des Steuerausländers dadurch begründen, daß das Ein­ kommensteuerrecht bei Kapitaleinkünften die ausschließliche Zuständigkeit für die Besteuerung nach der objektiven Leistungsfähigkeit933 dem Wohnsitzstaat zuweist und daher nur diesem, nicht aber dem Quellenstaat, die Verwirklichung des objektiven Nettoprinzips durch den Werbungskostenabzug auferlegt. Im Sinne der ausschließlichen Wohnsitzstaatsverantwortung für die Besteuerung nach der objektiven Leistungsfähigkeit sieht das Einkommensteuergesetz vor, daß beim unbeschränkt Steuerpflichtigen auch die im Zusammenhang mit auslän­ dischen Einkünften entstandenen Werbungskosten im Wohnsitzstaat berücksich­ tigt werden934. In diesem Konzept der Wohnsitzstaatsverantwortung wäre es daher 930 931 932 933

Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 772. Vgl. Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 50 Rdnr. 5. Vg1. Kapitel 2 B. I. 3. c) bb), II. 4. c) aa), III. 4. c) aa); Kapitel 3 I. 1. a) cc). Bei der objektiven Leistungsfähigkeit werden die erwerbssichemden Aufwendungen (Betriebsausgaben/Werbungskosten) durch die Vorschrift des § 2 Abs. 2 EStG berücksichtigt (objektives Nettoprinzip). Da­ gegen werden bei der subjektiven Leistungsfähigkeit die existenzsichemden Aufwendungen, wie in § 2 Abs. 3 - 5 EStG festgelegt, herangezogen (subjektives Nettoprinzip). Vgl. zur Begriffswahl Lang, Die Bemessungs­ grundlage der Einkommensteuer, S. 66 f.; allgemein zum Leistungsfähigkeitsprinzip vgl. Nachweise in Fn. 619. 934 Vgl. Einkommensteucrrichtlinie R 212 b; Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 34 c Rdnr. 15; BFH, Urt v. 20.12.1995, BStBl. 1996II, S. 261, 263; Urt. v. 02.02.1994, BStBl. 1994 II, S. 727, 730.

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kohärent, den Steuerausländer durch die Abgeltungswirkung des Kapitalertrag­ steuerabzugs gemäß § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F. vom Werbungskostenabzug aus­ zuschließen und ihn auf diese Weise für die Einhaltung der Besteuerung nach der objektiven Leistungsfähigkeit an seinen Wohnsitzstaat zu verweisen. Tatsächlich besteht diese gerade aufgezeigte Kohärenz jedoch nur bei dem Sonderfall der Kapitaleinkünfte und einigen anderen Ausnahmen935, wogegen die Grundaussage des Einkommensteuergesetzes zur Berücksichtigung der objektiven Leistungs­ fähigkeit dieser Kohärenz genau entgegengesetzt ist. Die Vorschrift des § 50 Abs. 1 S. 1 EStG n.F. bestimmt nämlich, daß der beschränkt Steuerpflichtige die in wirtschaftlichem Zusammenhang mit inländischen Einkünften stehenden Wer­ bungskosten grundsätzlich im Quellenstaat abziehen kann. Folglich läßt sich das Kohärenzargument, das auf dem Ausnahmefall der Kapitaleinkünfte basiert, nicht überzeugend als über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziebarer materieller Grund für die Differenzierung nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen nutzen.

Konzipiert man das Kohärenzargument, statt es konkret auf den Werbungskosten­ abzug bei Kapitaleinkünften zu beziehen, auf einer allgemeineren Ebene, ließe sich für die Bruttobesteuerung der Kapitaleinnahmen das überwiegend ver­ tretene936 und aus dem Welteinkommensprinzip abgeleitete Grundprinzip der Wohnsitzstaatsverantwortung für die Besteuerung nach der (objektiven und subjektiven) Leistungsfähigkeit anführen. Dieser Kohärenz ist jedoch entgegen­ zuhalten, daß die exklusive Zuständigkeit des Wohnsitzstaates allenfalls die Nichtberücksichtigung von Ausgaben rechtfertigen kann, die in keinem unmit­ telbaren Zusammenhang zu den Einnahmen im Quellenstaat stehen (z.B. Son­ derausgaben und Ausgaben für außergewöhnliche Belastungen, deren Abzug der Verwirklichung der subjektiven Leistungsfähigkeit dient937)938. Dagegen mindern aber Ausgaben, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Einnahmen im Quellenstaat stehen, die steuerliche Leistungsfähigkeit auch im Quellenstaat und müssen daher dort berücksichtigt werden939. Zwar ist die Verwirklichung der subjektiven Leistungsfähigkeit nur dem Wohnsitzstaat, zu dem der Steuerpflich­ tige aufgrund seiner Ansässigkeit einen besonderen persönlichen Bezug hat, in 935 Vgl. zu diesen weiteren Ausnahmen: Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Auf!., § 50 Rdnr. 21. 936 Z.B. BFH, Urt. v. 20.04.1988, BStBl. 1990 II, S. 701; vgl. Schaumburg, in: FS Tipke, S. 125, 137. 937 Hierunter fällt auch der Sparerfreibetrag i.S.d. § 20 Abs. 4 EStG, der auf der Entscheidung des Wohnsitz­ staates zur begrenzten Besteuerungsfreistellung der Kapitaleinkünfte beruht. 938 Vgl. Mossner, Die Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, in: Vogel, Grundfragen des Interna­ tionalen Steuerrechts, S. 135, 163; Schaumburg, in: FS Tipke, S. 125, 137; ders., Internationales Steuerrecht, § 5 Rdnr. 135, S. 171 f. 939 Vgl. Engelschalk, Besteuerung von Steuerausländem, S. 80; Schaumburg, in: FS Tipke, S. 125, 137; ders., Internationales Steuerrecht, § 5 Rdnr. 135, S. 171 f.

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optimaler Weise möglich; die objektive Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen ist aber durch die Werbungskosten, die in einem direktem wirtschaftlichen Zu­ sammenhang zu den ausländischen Kapitaleinkünften stehen, im Quellenstaat selbst gemindert. Diesen Gedanken scheint das Einkommensteuergesetz auch in seiner Grundaussage zum Werbungskostenabzug im Quellenstaat in § 50 Abs. 1 S. 1 EStG n.F. aufzugreifen.

Folglich scheidet auch ein so konzipiertes Kohärenzargument als über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziehbarer materieller Rechtfertigungsgrund für die festge­ stellte Kapitalverkehrsbeschränkung durch das deutsche Einkommensteuerrecht aus.

d)

Ergebnis zur deutschen Kapitalertragsteuer des Steuerausländers

Die im deutschen Steuerrecht vorgesehene Bruttobesteuerung der Kapitaleinnah­ men von Steuerausländem verstößt mangels Rechtfertigung durch Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gegen die Kapitalverkehrsfreiheit940. Statt der Abgeltungswirkung des Kapitalertragsteuerabzugs gemäß § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F. muß das Einkom­ mensteuergesetz, parallel zu seiner Grundaussage zum Werbungskostenabzug in § 50 Abs. 1 S. 1 EStG n.F., vorsehen, daß auch der beschränkt Steuerpflichtige seine im wirtschaftlichen Zusammenhang mit den inländischen Kapitaleinkünften stehenden Werbungskosten abziehen kann.

2.

Die in- und ausländische Kapitalertragsteuer des Steuerinländers und Artt. 56 ff. EGV

Nach dem Blick auf den Steuerausländer wird im folgenden die Kapitalertrag­ steuer des Steuerinländers auf ihre Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit des EGV untersucht. Dabei ist einerseits der Vergleich der Kapitalertragsbesteue­ rung des Steuerinländers mit der des Steuerausländers von Interesse. Andererseits beeinflußt die inländische Behandlung der im Ausland erhobenen Kapital­ ertragsteuer die ausländische Kapitalanlage des Steuerinländers. Diese beiden Themen werden in den beiden nachfolgenden Abschnitten erörtert. 940 Ebenso Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 772; auch Mossner, Neue Dividendenbesteuerung aus der Sicht des EU- und DBA-Rechts, in: Lüdicke (Hrsg.), Internationale Aspekte der Untemehmenssteuerreform, S. 27, 49, weist darauf hin, daß ’’der EuGH die Abgeltungswirkung der Kapitalertragsteuer nicht als gerechtfertigte Diskriminierung unter dem Aspekt der Kapitalverkehrsfreiheit hinnehmen wird“.

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a)

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Kapitalertragsteuer auf Zinsen (Zinsabschlagsteuer)

Der Kapitalertragsteuerabzug erfaßt sowohl bei Steuerinländem als auch bei Steu­ erausländem fast ausschließlich inländische Kapitalerträge, wie sich aus § 43 Abs. 1 S. 1 EStG bzw. § 49 Abs. 1 Nr. 5 EStG n.F. ergibt941. Die Liste der steuer­ baren inländischen Kapitaleinkünfte weist aber bei Steuerin- und -ausländem einen wichtigen Unterschied auf. Bei unbeschränkt Steuerpflichtigen unterliegen die Zinseinkünfte i.S.d. § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 EStG n.F. nach § 43 a Abs. 1 Nr. 3 EStG n.F. der Zinsabschlagsteuer in Höhe von 30 % des Kapitalertrages. Dagegen sind diese Einkünfte bei namentlich bekannten Steuerausländem, deren Legitima­ tion nach § 154 AO und deren beschränkte Steuerpflicht durch eine entsprechende Ansässigkeitsbescheinigung der ausländischen Finanzbehörde festgestellt wur­ den, vom Zinsabschlag ausgenommen (Sonderfall: Tafelgeschäfte)942. Sie unter­ liegen nur der Einkommensbesteuerung im Wohnsitzstaat, was für den Steueraus­ länder gegenüber dem Steuerinländer einen Zins- und Liquiditätsvorteil bedeutet. Seine günstigere Vermögenssituation resultiert daraus, daß ihm die Zinseinkünfte mangels Quellensteuerabzug in voller Höhe zur Verfügung stehen und er bis zu ihrer Einbeziehung in die Veranlagung zur Einkommensteuer auf ihrer Grundlage weitere Erträge erwirtschaften kann. Daraus ergibt sich die Frage, ob die benach­ teiligende Behandlung der Zinseinkünfte des Steuerinländers gegenüber den Zins­ erträgen des Steuerausländers die Kapitalverkehrsfreiheit berührt.

Die hinter dieser Frage stehende Konstellation der Diskriminierung des Inländers gegenüber dem EU-Ausländer wird allgemein unter den Begriffen der ’’Inländer­ diskriminierung” bzw. ’’umgekehrten Diskriminierung’’943 diskutiert944, wobei nachfolgend der präzisere, letztere Begriff genutzt wird945. Die ’’umgekehrte Dis­ kriminierung” ist gegeben, wenn eine benachteiligende Ungleichbehandlung einer Person oder eines Produkts im Vergleich zu einer anderen Person oder einem anderen Produkt ohne sachliche oder objektive Gründe erfolgt und diese Ungleichbehandlung ’’umgekehrt” ist, d.h. entgegen der traditionell üblicheren Schlechterstellung der mit dem ungleich behandelnden Staat nicht durch beson­ 941 Vgl. Kapitel 3 B. Einleitung zu I. und Kapitel 3 B. I. 1. 942 Vgl. Dürrholz, in: Lademann/Söjffing, EStG, § 43 Rdnr. 108; Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Auf]., § 49 Rdnr. 67 und § 43 Rdnr. 37. 943 ’’Discrimination a rebours" oder ’’reverse discrimination”. 944 Vgl. hierzu ausführlich Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, Habil.-Schr., Köln u.a. 1995, mit umfang­ reichen Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen. 945 Vgl. die Begründung von Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 33 f.

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dere Merkmale (z.B. Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, Warenherkunft) verbunde­ nen Personen oder Produkte ausgerichtet ist946. In bezug auf die hier untersuchte Schlechterstellung des Steuerinländers gegenüber dem Steuerausländer, deren Qualifizierung als In- bzw. Ausländer nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit, sondern des Kriteriums der unbeschränkten Steuerpflicht (Wohnsitz oder ge­ wöhnlicher Aufenthalt im Inland947) erfolgt, ist zunächst festzuhalten, daß eine ’’umgekehrte Diskriminierung” nicht nur bei Anknüpfung an die Staatsangehö­ rigkeit, sondern auch an andere besondere Beziehungen zu einem Mitgliedstaat, also z.B. auch an den Wohnsitz, möglich ist948. Dies stellt die Voraussetzung für die Erörterung der ’’umgekehrten Diskriminierung" im vorliegenden Sachverhalt dar.

Bei der "umgekehrten Diskriminierung" stellt sich grundsätzlich die Frage, ob der gegenüber dem EU-Ausländer benachteiligte Inländer sich auf das Gemein­ schaftsrecht, d.h. vor allem auf die Grundfreiheiten, berufen kann. Problematisch ist dies, weil es sich bei den erfaßten Fallgestaltungen um sogenannte nicht grenzüberschreitende Sachverhalte handelt, d.h. die betroffenen Personen haben nicht von den Grundfreiheiten Gebrauch gemacht, sondern die Problematik stellt sich für sie ausschließlich innerhalb eines Mitgliedstaates949.

Der EuGH verneint in ständiger Rechtsprechung die Anwendbarkeit des Art. 12 EGV und der Grundfreiheiten auf rein innerstaatliche, d.h. gerade nicht grenz­ überschreitende Sachverhalte950. Dies bedeutet, daß "umgekehrte Diskriminie­ rungen" nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen und 946 Vgl. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 19 f. 947 Vgl. § 1 Abs. 1 EStG. 948 Vgl. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 20; Nicolaysen, EuR 1991, S. 95, 99; Streinz, Das Problem der umgekehrten Diskriminierungen im Bereich des Lebensmittelrechts, in: Streinz (Hrsg.), Deutsches und Eu­ ropäisches Lebensmittelrecht, 1991, S. 111, 112. 949 Epiney, in: Calliess/Ruffert, EGV, Art. 12 Rdnr. 24. 950 U.a. EuGH, Urt. v. 28.03.1979, Rs. 175/78, Sig. 1979, S. 1129 Rz. 9 f. (Saunders); Urt v. 27.10.1982, Rs. 35, 36/82, Sig. 1982, S. 3723 Rz. 12 ff. (Morson/Niederlande); Urt. v. 26.10.1986, Rs. 355/85, Sig. 1986, S. 3231 Rz. 10 (Driancourt/Cognet); Urt. v. 13.11.1986, Rs. 80/85, Sig. 1986, S. 3359 Rz. 18 (Nederlandse Bakkerij/Edah); Urt. v. 18.02.1987, Rs. 98/86, Sig. 1987, S. 809 Rz. 7 f. (Ministere public/Mathot); Urt. v. 25.02.1987, Rs. 168/86, Sig. 1987, S. 995 Rz. 7 f. (Procureur Gäneral/Rousseau); Urt. v. 09.04.1987, Rs. 160/86, Sig. 1987, S. 1783 Rz. 7 (Ministere public/Verbrugge); Urt. v. 20.04.1988, Rs. 204/87, Sig. 1988, S. 2029 Rz. 11 ff. (Strafverfahren gegen Bekaert); Urt. v. 14.07.1988, Sig. 1988, S. 4285 Rz. 28 (Strafverfahren gegen Zoni); Urt. v. 03.10.1990, verb. Rs. C-54/88, C-91/88 und C-14/89, Sig. I 1990, S. 3537, Rz. 11 ff. (Strafverfahren gegen Nino u.a.); Urt. v. 18.10.1990, verb. Rs. C-297/88 und C-197/89, Sig. I 1990, S. 3763 Rz. 22 ff. (Dzodzi/Belgien); Urt v. 28.01.1992, Rs. C-332/90, Sig. I 1992, S. 341 Rz. 9 f. (Steen/Deutsche Bundespost); Urt. v. 16.02.1995, Rs. C-29/94 u.a., Sig. I 1995, S. 301 Rz. 9 (Strafverfahren gegen Aubertin u.a.).

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damit nicht an gemeinschaftsrechtlichen Maßstäben gemessen werden können. In der Literatur wird der Unterscheidung des EuGH zwischen innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Sachverhalten und den daraus gezogenen Konsequenzen teilweise zugestimmt951. Dabei wird insbesondere auf die Zielrichtung des Art. 12 EGV und der Grundfreiheiten hingewiesen, grenzüberschreitende Bewegungen zu ermöglichen, während die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten ausschließlich in ihrem eigenen Hoheitsgebiet nicht den vertraglichen Vorgaben unterworfen werden sollen. An dieser Beurteilung habe auch die Einführung des Ziels der Verwirklichung des Binnenmarktes nichts geändert, da dies nicht dazu geführt habe, daß die verschiedenen Rechtsordnungen oder die Grenzen aufgehoben worden seien, so daß Art. 12 EGV und die Grundfreiheiten auch weiterhin von einer Trennung des innerstaatlichen Bereichs vom grenzüberschreitenden Bereich ausgingen952.

Nach einer anderen Auffassung ist inzwischen bereits eine so weit fortgeschrit­ tene Integrationsstufe erreicht, daß auch nicht grenzüberschreitende Sachverhalte grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten fallen müssen953. Hierfür spräche neben den Vertragszielen der Errichtung eines Systems unver­ fälschten Wettbewerbs (Art. 3 lit. g EGV) und der Verwirklichung des Gemeinsa­ men Marktes (Art. 2 EGV) insbesondere die Perspektive eines europäischen Bin­ nenmarktes, in dem die vier Grundfreiheiten954 verwirklicht und die Grenzen abgebaut werden sollen. ’’Umgekehrte Diskriminierungen” seien daher nach der jeweils einschlägigen Grundfreiheit verboten. Die Freiheiten seien nämlich vor diesem Hintergrund im Sinne von umfassenden Beschränkungsverboten auszule­ gen, als sie jegliche Behinderung der Ausübung der von der jeweiligen Freiheit erfaßten Tätigkeit in ihren Tatbestand einschlössen. Sie müßten dann aber unab­ hängig von der Voraussetzung eines grenzüberschreitenden Bezugs zur Anwen­ dung kommen, so daß die Schlechterstellung inländischer Produkte oder von Inländern nicht mit ihnen vereinbar sein könne.

Vgl. Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573, 2577; Schöne, RIW 1989, S. 450, 452; Streinz, Das Problem der um­ gekehrten Diskriminierungen im Bereich des Lebensmittelrechts, S. 111, 115 f., 120; H. Weis, NJW 1983, S. 2721,2723. 952 Vgl. Nachweise in vorangehender Fn. 953 Vgl. ausführlich: Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 205 ff.; dies., in: Calliess/Ruffert, EGV, Art. 12 Rdnr. 33 ff.; ebenso: Behrens, EuR 1992, S. 145, 160 ff.; Kewenig, JZ 1990, S. 20, 23 f.; Nicolaysen, EuR 1991, S. 95, 100 ff.; Reich, EuZW 1991, S. 203,204 f. 954 Zur Zeit der Entwicklung dieser Auffassung bestand noch keine primärrechtliche Liberalisierung des Kapi­ talverkehrs.

951

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Die geschilderte Auffassung, daß auch nicht grenzüberschreitende Sachverhalte grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten fallen, wurde im Hinblick auf die Grundfreiheiten der Artt. 28, 39, 43, 49 EGV formuliert. Die in der hier untersuchten Konstellation für den Vergleich des Steuerin- und -ausländers hinsichtlich der deutschen Zinsabschlagsteuer herangezogene Kapitalver­ kehrsfreiheit wurde dagegen mangels ihrer damaligen primärrechtlichen Normie­ rung von der Betrachtung ausgenommen955. Fraglich ist daher, ob die Ansicht von der Eröffnung der Grundfreiheiten bei nicht grenzüberschreitenden Sachverhalten auch bei der Kapitalverkehrsfreiheit überzeugen kann. Nur wenn dies der Fall sein sollte, müßte für die hier erfolgende Untersuchung eine Entscheidung zwischen der ständigen Rechtsprechung des EuGH und der teilweise in der Literatur vertretenen Ansicht erfolgen.

Bei der Kapitalverkehrsfreiheit verbietet die Vorschrift des Art. 56 Abs. 1 EGV ’’alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern”. Der Wortlaut der Verbots­ norm ist daher deutlich auf grenzüberschreitende Sachverhalte ausgerichtet. Nach allgemeiner Ansicht ist Gegenstand der Kapitalverkehrsfreiheit ausschließlich der grenzüberschreitende Kapitalverkehr und nicht etwa der rein innerstaatliche Ka­ pitalverkehr956. Fraglich ist, ob mit der Realisierung des Binnenmarktes und dem Eintritt in die Währungsunion im Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit nicht mehr danach zu unterscheiden ist, ob ein Vorgang die Binnengrenzen überschreitet oder ob er sich innerhalb eines Mitgliedstaates abspielt957.

Diese vom Wortlaut des Art. 56 Abs. 1 EGV und der allgemeinen Auffassung von der Kapitalverkehrsfreiheit abweichende Auslegung kann nicht überzeugen. Der auf Kapitalbewegungen ’’zwischen den Mitgliedstaaten”, d.h. auf grenzüber­ schreitende Sachverhalte gerichtete Wortlaut spiegelt den dem Europarecht im­ manenten ’’Subsidiaritätsgedanken” wider, der aus dem die gemeinschaftsrecht­ lichen Kompetenzen begrenzenden Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 EGV erkennbar wird. Die Kapitalverkehrsfreiheit ist nur für die Binnenmarktgrenzen aufrechterhaltenden Beschränkungen durch einen Mitgliedstaat, nicht aber für den rein innerstaatlichen Kapitalverkehr eröffnet. Es ist daher mit der allgemeinen 955 So ausdrücklich Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 172 in Fn. 423. 956 Vgl. u.a. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EGV, Art. 56 Rdnr. 15; Kimms, Zweiter Teil II. 2. a), S. 181; Matzka, österreichisches Steuerrecht und Kapitalverkehrsfreiheit, S. 37; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 73 b Rdnr. 11; dies., Kapitalverkehrsfreiheit und Steuergerechtigkeit, S. 24; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 747; R.H. Weber, in: Lenz, EGV, Art. 56 Rdnr. 6. 957 So Kiemel, in: G/T/E, EGV, Art. 73 b Rdnr. 13 mit Verweis auf Heydt, EuZW 1993, S. 105.

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Auffassung zu Art. 56 Abs. 1 EGV und der ständigen Rechtsprechung des EuGH zu ’’umgekehrten Diskriminierungen” an der Voraussetzung eines grenz­ überschreitenden Kapitalverkehrs für die Anwendbarkeit der Kapitalverkehrs­ freiheit festzuhalten.

Dem hier untersuchten Fall des Zins- und Liquiditätsnachteils für den Steuerin­ länder aufgrund der Zinsabschlagsteuer liegt ein reiner Inlandssachverhalt zu­ grunde. Der Steuerinländer tätigt eine Kapitalanlage im Inland, aus der Zinsein­ künfte erzielt werden (vgl. § 43 Abs. 1 EStG). Es fehlt daher an einer Transaktion des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs, so daß die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 56 Abs. 1 EGV nicht eröffnet ist. Die auf den Steuerinländer be­ schränkte Zinsabschlagsteuer ist folglich mit der Kapitalverkehrsfreiheit zu ver­ einbaren. Ob sie auch mit deutschem Verfassungsrecht, insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG, zu vereinbaren ist, ist eine weitere, hier nicht zu klärende Frage.

b)

Behandlung der ausländischen Kapitalertragsteuer

Die steuerliche Attraktivität der Kapitalanlage eines deutschen Steuerinländers im EU-Ausland hängt von der inländischen Behandlung der ausländischen Kapitaler­ tragsteuer ab. Sie muß so ausgestaltet sein, daß die in den Artt. 56 ff. EGV gere­ gelte Kapitalverkehrsfreiheit nicht verletzt wird. Bevor auf die Grundfreiheit ein­ gegangen werden kann, bedarf es eines Überblicks über die Erhebung der Kapital­ ertragsteuer im EU-Ausland und ihre Berücksichtigung im deutschen Steuerrecht.

Im Falle einer Kapitalanlage eines Steuerinländers in einem EU-Mitgliedstaat wird dort, genauso wie in Deutschland, auf die Kapitaleinkünfte grundsätzlich eine Kapitalertragsteuer als Quellensteuer erhoben958. Die Quellenbesteuerung wird jedoch durch das einschlägige DBA modifiziert. So wird die Höhe der Ka­ pitalertragsteuer begrenzt959. Zudem ist nach den von Deutschland mit den ande­ ren EU-Mitgliedstaaten abgeschlossenen DBA das Quellenbesteuerungsrecht in einigen Fällen auf die Dividendeneinkünfte, unter Ausschluß der Zinseinkünfte, beschränkt960. In Deutschland unterliegen die ausländischen Kapitaleinkünfte des Steuerinländers der inländischen Einkommensteuer, wodurch aufgrund der Bela958 Vgl. Übersicht bei Hey, Harmonisierung der Untemehmensbesteuerung, S. 7 ff. 959 Vgl. stellvertretend Art 10 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 OECD-MA. 960 Vgl. DBA-Dänemark, DBA-Finnland, DBA-Frankreich, DBA-Großbritannien, DBA-Irland, DBA-Luxemburg, DBA- Niederlande, DBA-Österreich, DBA-Schweden.

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stung mit ausländischer Kapitalertragsteuer und inländischer Einkommensteuer eine juristische Doppelbesteuerung961 eintritt. Diese wird durch Anrechnung der ausländischen Kapitalertragsteuer auf die inländische Einkommensteuer weitge­ hend vermieden. Die Grundlage der Anrechnung bilden die entsprechenden Vor­ schriften des einschlägigen DBA’s962. Die Anrechnungsnorm des deutschen Einkommensteuerrechts - § 34 c Abs. 1 EStG - ist aufgrund der mit allen EUMitgliedstaaten bestehenden DBA nur subsidiär anwendbar963. Diese Subsidiarität sieht die Vorschrift des § 34 c Abs. 6 S. 1 EStG vor. Im Rahmen der Anrechnung nach dem einschlägigen DBA kommen jedoch gemäß § 34 c Abs. 6 S. 2 EStG die Vorschriften des § 34 c Abs. 1 S. 2 u. 3 und Abs. 2 EStG entsprechend zur Anwendung. Die DBA-Anrechnung wird insoweit durch den Inhalt der uni­ lateralen Anrechnungsnorm ergänzt. Die lediglich entsprechende Anwendung der vorgenannten Vorschriften hat zur Folge, daß sie stets mit den Regelungen des betreffenden DBA’s selbst vereinbar sein müssen964.

Die Anrechnung der ausländischen Kapitalertragsteuer nach dem einschlägigen DBA i.V.m. den Vorschriften des § 34 c Abs. 1 S. 2 u. 3 EStG beeinflußt die steu­ erliche Attraktivität der Kapitalanlagen eines deutschen Steuerinländers im EUAusland. Im folgenden ist die Frage zu erörtern, ob die in Deutschland geltenden AnrechnungsVorschriften der in Artt. 56 ff. EGV geregelten Kapitalverkehrsfrei­ heit gerecht werden.

aa) Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit - Art. 56 Abs. 1 EGV

Nach Art. 56 Abs. 1 EGV sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwi­ schen den Mitgliedstaaten verboten. Das mögliche Vorliegen einer Kapitalver­ kehrsbeschränkung läßt sich bei der in Deutschland praktizierten Anrechnung ausländischer Kapitalertragsteuem erst nach genaueren Kenntnissen über die Ausgestaltung der Anrechnung klären. Zuvor ist der Zusammenhang zwischen der Anrechnungspflicht und der Kapitalverkehrsfreiheit zu erörtern. 961 Zur Doppelbesteuerung vgl. Nachweise in Fn. 347. 962 Vgl. stellvertretend Art. 23 A Abs. 2 OECD-MA als Ausnahmevorschrift für Dividenden und Zinsen im Falle der Freistellungsmethode. Verweis auf diese Norm, da in allen DBA mit EU-Mitgliedstaaten die Freistellung der ausländischen Einkünfte von der Besteuerung im Wohnsitzstaat als Regel vorgesehen ist (vgl. Übersicht bei Vogel, DBA, Art. 23 Rdnr. 41). 963 Vgl. BFH, Urt v. 15.03.1995, BStBl. 1995 II, S. 580; BFH, Urt. v. 20.12.1995, BStBl. 1996 II, S. 261; Probst, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 34 c Rdnr. 200; Schaumburg, Internationales Steuerrecht § 15 Rdnr. 11, S. 623; Vogel, in: Vogel, DBA, Art 23 Rdnr. 157. 964 Stellungnahme des Bundesrates zum StÄndG v. 20.08.1980 betreffend § 34 c EStG (BT-Drs. VIII/3648, S.21).

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(1) Anrechnungspflicht und Kapitalverkehrsfreiheit

Die eventuelle Berührung der Kapitalverkehrsfreiheit durch die in Deutschland geltende Anrechnung ausländischer Kapitalertragsteuem setzt zunächst voraus, daß Deutschland im Zusammenhang der ausländischen Kapitaleinkünfte eine An­ rechnungspflicht obliegt, deren Erfüllung an der Kapitalverkehrsfreiheit zu mes­ sen wäre. Bei der Frage nach dem Vorliegen dieser Voraussetzung muß auf die Rolle der Anrechnung im Rahmen der Vermeidung der juristischen Doppelbe­ steuerung, die dem Prüfungsmaßstab der Grundfreiheiten unterliegt965, abgestellt werden. Dabei ist zu beachten, daß die Doppelbesteuerung einen Eingriff in die Grundfreiheiten trotz der sich nur aus dem Zusammenwirken mehrerer Fisci er­ gebenden Diskriminierung bzw. Beschränkung begründen kann966. Die Anrech­ nung ausländischer Steuern durch den Wohnsitzstaat trägt zur Einhaltung der Grundfreiheiten bei, indem sie der Vermeidung der durch die grenzüberschrei­ tende Einkünfteerzielung bedingten juristischen Doppelbesteuerung dient. Ande­ rerseits kämen mit gleicher Wirkung auch die Freistellung der ausländischen Einkünfte von der Besteuerung durch den Wohnsitzstaat bzw. entsprechende Maßnahmen des Quellenstaates in Betracht. Angesichts dieses Spektrums der Lösungen des Problems der Doppelbesteuerung müßte Deutschland die Anrech­ nungspflicht speziell zugewiesen sein, damit sie als Maßnahme der Vermeidung der Doppelbesteuerung an der Kapitalverkehrsfreiheit zu messen wäre.

Die grundsätzliche Anrechnungspflicht für ausländische Kapitalertragsteuem kommt Deutschland aufgrund der mit den anderen EU-Mitgliedstaaten abge­ schlossenen DBA zu. Darin haben die Vertragsparteien dem Quellenstaat, zu­ mindest bei Dividenden, einen begrenzten Steuerzugriff gestattet967 und dem Wohnsitzstaat die Vermeidung der Doppelbesteuerung durch Anrechnung der im anderen Staat gezahlten Steuern auferlegt. Für einen Teil der mit anderen EU965 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.05.1998, Rs. C-336/96, Sig. I 1998, S. 2793, 2832 ff. Rz. 19 - 35 (Gilly); EuGH, Urt. v. 26.01.1986, Rs. C-270/83, Sig. 1986, S. 273, 307 Rz. 26 (avoir fiscal); Dautzenberg, IWB 1997/10, Fach 11 EG, Gruppe 2, S. 309, 310; Saß, DB 1998, S. 1482 mit Verweis auf die dazu bestehende herrschende Litera­ turmeinung. 966 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.02.1995, Rs. C-279/93, Sig. I 1995, S. 225, 262 Rz. 41 (Schumacker); Urt. v. 11.08.1995, Rs. C-80/94, Sig. I 1995, S. 2493, 2515 Rz. 21 f. (Wielockx); Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 773. 967 Ausnahme Art. 9 Abs. 3 DBA-Frankreich: Dividenden, die eine in Deutschland ansässige Person von einer in Frankreich ansässigen Gesellschaft bezieht, deren Ausschüttungen zu einer Steuergutschri fr (avoir fiscal) be­ rechtigten, falls sie an eine in Frankreich ansässige Person geleistet würden, sind von der französischen Ka­ pitalertragsteuer vollständig entlastet; vgl. Tischbirek, in: Vogel, DBA, Art 10 Rdnr. 160.

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Mitgliedstaaten abgeschlossenen DBA gilt dies auch bei Zinsen968. Nach der in den DBA vorgesehenen Anrechnungspflicht obliegt es Deutschland als Wohnsitz­ staat, seinen Steuerinländem die Anrechnung der im Quellenstaat gezahlten Kapitalertragsteuer zu gewähren. Die Anrechnungspflicht in den deutschen DBA hat zur Folge, daß ihre Einhaltung als die Maßnahme zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, für die vertraglich optiert wurde, am Maßstab der Kapital­ verkehrsfreiheit zu messen ist969. Die grenzüberschreitende Kapitalanlage müßte zur Vermeidung eines Eingriffs in die Kapitalverkehrsfreiheit durch die Anrech­ nung der ausländischen Kapitalertragsteuer der inländischen Kapitalanlage in steuerlicher Hinsicht gleichgestellt sein.

(2) Anrechnungsformel und Kapitalverkehrsfreiheit

Die bei der DBA-Anrechnung in Deutschland zur Anwendung kommende An­ rechnungsformel müßte für die ausländische Kapitalertragsteuer die gleiche An­ rechnung auf die deutsche Einkommensteuer wie für die inländische Kapitaler­ tragsteuer gewährleisten, um eine Diskriminierung der grenzüberschreitenden Kapitalanlage und somit einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV zu vermeiden. Die inländische Kapitalertragsteuer wird ge­ mäß § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 EStG n.F. vollständig angerechnet. Dem ist die Ausge­ staltung der Anrechnung der ausländischen Kapitalertragsteuer gegenüberzu­ stellen, die nachfolgend erläutert wird. Die Anrechnung ausländischer Steuern wird durch das einschlägige DBA i.V.m. den aufgrund des § 34 c Abs. 6 S. 2 EStG anwendbaren Vorschriften des § 34 c Abs. 1 S. 2, 3 und Abs. 2 EStG bestimmt. Die Untersuchung der Anrechnungs­ vorschriften jedes mit einem EU-Mitgliedstaat durch Deutschland abgeschlosse­ nen DBA würde die Grenzen dieser Arbeit überschreiten. Sie ist jedoch nicht notwendig, da die Bezugsgrößen der Anrechnungsformel so stark vom Steuerrecht des anrechnenden Staates abhängig sind, daß sie durchweg in den Einze­ labkommen, wie auch im OECD-MA, nicht näher bestimmt sind970. Im folgenden kann für die Erörterung der Anrechnung daher die Anrechnungsvorschrift des Art. 23 A Abs. 2 OECD-MA971 (stellvertretend für die DBA) in ihrer durch die 968 969 970 971

Vgl. DBA-Belgien, DBA-Griechenland, DBA-Italien, DBA-Portugal, DBA-Spanien. Vgl. Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 773. Vgl. Vogel, in: Vogel, DBA, Art 23 Rdnr. 157. Anwendung dieser Ausnahmevorschrift aufgrund der Regel der Freistellung in den DBA mit EU-Mitglied­ staaten.

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Vorschrift des § 34 c Abs. 1 EStG teilweise ergänzten Fassung zugrundegelegt werden.

Die Anrechnungsnorm des Art. 23 A Abs. 2 OECD-MA bestimmt für Dividen­ den- und Zinseinkünfte, daß der Wohnsitzstaat auf die Einkommensteuer des bei ihm ansässigen Empfängers der Kapitalerträge den Betrag anrechnen muß, der der im Quellenstaat gezahlten Steuer entspricht. Der anzurechnende Betrag darf je­ doch den Teil der vor der Anrechnung ermittelten Steuer nicht übersteigen, der auf die aus dem anderen Staat bezogenen Einkünfte entfällt (sog. ordinary credit). Aus dieser Vorschrift ergibt sich für Deutschland als Wohnsitzstaat die An­ rechnungspflicht für die ausländische Kapitalertragsteuer auf die deutsche Ein­ kommensteuer, wobei die Anrechnung durch einen Höchstbetrag begrenzt ist. Der in Art. 23 A Abs. 2 S. 2 OECD-MA geregelte Anrechnungshöchstbetrag läßt sich in der folgenden mathematischen Formel darstellen972:

ESt im WS vor Anrechnung x Kap.eink. im QS

Anrechnungshöchstbetrag =---------------------------------------------------------Einkommen laut Recht des WS

WS = Wohnsitzstaat

QS = Quellenstaat

Die Anrechnungsformel nach dem OECD-MA wird bei ihrer Anwendung in Deutschland durch die Vorschrift des § 34 c Abs. 1 S. 2 EStG, die gemäß § 34 c Abs. 6 S. 2 EStG auch bei der DBA-Anrechnung Anwendung findet, mit folgen­ dem Ergebnis modifiziert973:

Dt ESt vor Anrechnung x Kap.eink. im QS

Anrechnungshöchstbetrag =------------------------------------------------------Summe der Einkünfte laut Recht des WS

972 Vgl. Vogel, in: Vogel, DBA, Art 23 Rdnr. 151. 973 Vgl. Krabbe, in: Blümich, EStG, § 34 c Rdnr. 35; Probst, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 34 c Rdnr. 91; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 15 Rdnr. 68, S. 50.

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Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Aus dem Vergleich der beiden Formeln ergibt sich, daß der Nenner durch § 34 c Abs. 1 S. 2 EStG verändert wird, da hier statt des Einkommens die Summe der Einkünfte aufgenommen wird. Diese Modifikation hat eine bedeutsame Wirkung auf die Anrechnungsformel, da bei der ’’Summe der Einkünfte” lediglich die erwerbssichemden Aufwendungen des objektiven Nettoprinzips berücksichtigt wer­ den (vgl. § 2 Abs. 2 EStG), wogegen in die Ermittlung des ’’Einkommens” auch das subjektive Nettoprinzip (vgl. § 2 Abs. 3-5 EStG) Eingang findet. Dies fuhrt bei der modifizierten Anrechnungsformel zu einem erhöhten Betrag im Nenner und damit zu einem geringeren Anrechnungshöchstbetrag. Die Anrech­ nungsgrenze für die ausländische Steuer wird auf diese Weise gegenüber der Re­ gelung im OECD-MA verändert. Auf diese Besonderheit der deutschen Anrech­ nungsformel wird noch einzugehen sein974.

Bei der Darstellung der Anrechnungshöchstbetragsformel ist auf die in Deutsch­ land eintretende, anrechnungsbegrenzende Wirkung des in § 20 Abs. 4 EStG vor­ gesehenen Sparerfreibetrages (VZ 1999: 6.000 DM; VZ 2000: 3.000 DM) hin­ zuweisen975. Der Sparerfreibetrag ist bei der Ermittlung der Einkünfte aus Kapi­ talvermögen nach Abzug der Werbungskosten abzurechnen und mindert auf diese Weise die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer. Bei den ausländischen Kapitaleinkünften in der Anrechnungshöchstbetragsformel, die nach dem deutschen Steuerrecht, insbesondere nach den Vorschriften zum Werbungsko­ stenabzug, als Nettogröße zu ermitteln sind976, löst der anteilig auf diese Einkünfte entfallende Sparerfreibetrag eine Minderung der ausländischen Einkünfte und damit eine Herabsetzung des Anrechnungshöchstbetrages aus977. Diese Absen­ kung des Anrechnungshöchstbetrages ist die Konsequenz daraus, daß sich der Sparerfreibetrag auf alle Kapitaleinkünfte, also auch die ausländischen, auswirkt. Der Sparerfreibetrag wird parallel in allen Bestandteilen der Anrechnungsformel (ausländische Einkünfte, deutsche Einkommensteuer und Summe der Einkünfte) berücksichtigt, wobei die Absenkung des Anrechnungshöchstbetrages dadurch eintritt, daß der Sparerfreibetrag sich im Zähler der Anrechnungshöchst­ betragsformel zweimal, nämlich bei der deutschen Einkommensteuer und den ausländischen Einkünften, dagegen im Nenner nur einmal auswirkt. Der Abzug des anteiligen Sparerfreibetrages bei den ausländischen Kapitaleinkünften mit der Folge des geringeren Anrechnungshöchstbetrages kann zwar aufgrund der 974 Vgl. unten Kapitel 3 B. I. 2. b) aa) (2) (aa). 975 Vgl. zur Wirkung des Sparerfreibetrages beim Steuerabzug gern. § 34 c Abs. 2 EStG: Lickteig, DStR 1995, S. 792 ff.; Horlemann, DStR 1995, S. 1525 f. 976 BFH, Urt. v. 09.04.1997, IStR 1997,495; Urt. v. 16.03.1994, BStBl. 1994 II, S. 799. 977 Vgl. zur Berechnung des anteiligen Sparerfreibetrages: Thurmayr, DB 1996, S. 1696, 1697.

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Bruttoberechnung der Quellensteuer im Quellenstaat zu Anrechnungsüberhängen für die ausländische Quellensteuer im Wohnsitzstaat fuhren. Dies ist jedoch dadurch legitimiert, daß die auf die ausländischen Kapitaleinkünfte entfallende inländische Einkommensteuer bereits aufgrund des Sparerfreibetrages geringer ausfällt und so nur ein geringerer Anrechnungsbedarf besteht.

Zur Berechnung des Anrechnungshöchstbetrages enthält § 34 c Abs. 1 S. 2 EStG i.V.m. § 34 c Abs. 6 S. 2 EStG neben der bereits erwähnten Grenze des sog. ordi­ nary credit eine weitere wichtige Begrenzung, die auch bei der Anrechnung nach dem einschlägigen DBA Anwendung findet978. Nach der sog. Pro-Staat-Begrenzung (per-country-limitation) ist der Anrechnungshöchstbetrag, wenn die Ein­ künfte aus mehreren ausländischen Staaten stammen, für jeden Staat einzeln zu berechnen. Dieser in § 68 a S. 2 EStDV deutlich ausgesprochene Befehl folgt schon aus dem Wortlaut von § 34 c Abs. 1 S. 1 und 2 EStG; denn das Tatbe­ standsmerkmal ’’diese ausländischen Einkünfte” in Satz 2 verweist auf Satz 1 (’’Einkünfte aus diesem Staat”), den eigentlichen Sitz der per-country-limitation979. Aufgrund dieses Verweises ist die per-country-limitation auch Bestandteil des § 34 c Abs. 1 S. 2 EStG, der über § 34 c Abs. 6 S. 2 EStG bei der DBA-Anrechnung anzuwenden ist.

Die per-country-limitation ist über die unilaterale Vorschrift des § 34 c Abs. 1 S. 2 EStG hinaus auch in Art. 23 A Abs. 2 S. 2 OECD-MA angelegt, der als Mu­ stervorschlag für ein einzelnes DBA den Anrechnungshöchstbetrag im Wohn­ sitzstaat dahingehend qualifiziert, daß der anzurechnende Betrag den Teil der vor der Anrechnung ermittelten Einkommensteuer im Wohnsitzstaat nicht übersteigen darf, der auf die ’’aus dem anderen Staat" bezogenen Einkünfte entfällt980. Aus dieser Formulierung, die nach dem OECD-MA in ein bilaterales DBA auf­ zunehmen wäre, ergibt sich, daß der Anrechnungshöchstbetrag im Wohnsitzstaat auf einen einzelnen Quellenstaat ausgerichtet ist und somit der per-country-limitation unterliegt. Die Pro-Staat-Begrenzung findet sich tatsächlich i.d.R. auch in den jeweiligen DBA, die den Anrechnungshöchstbetrag definieren981. Das inner­ staatliche Recht könnte jedoch von der DBA-Vorschrift abweichen und z. B. eine 978 Vgl. BFH, Urt. v. 20.12.1995, BStBl. 1996 II, S. 261; H 212 b EStH 1997; Probst, in: Herr­ mann/Heuer/Raupach, EStG, § 34 c Rdnr. 90; Wassermeyer, in: Debatin/Wassermeyer, DBA, Art 23 A Rdnr. 103. 979 Probst, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 34 c Rdnr. 90. 980 Vgl. Vogel, in: Vogel, DBA, Art. 23 Rdnr. 167; zur Verankerung der per country limitation in Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 DBA-Schweiz: BFH, Urt. v. 20.12.1995, BStBl. 1996II, S. 261,263. 981 Vgl. Grotherr, in: Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, DBA, Art. 23 A/23 B OECD-MA, Rdnr. 235.

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overall limitation vorsehen, wenn diese Berechnungsweise günstiger ist982. Im deutschen Einkommensteuerrecht wird allerdings aufgrund der auch in § 34 c Abs. 1 S. 2 EStG vorgesehenen per-country-limitation von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht.

Der Überblick über die in Deutschland für die Anrechnung der ausländischen Ka­ pitalertragsteuer geltenden Vorschriften hat gezeigt, daß über die Definition des Höchstbetrages die Anrechnung in zweifacher Weise begrenzt wird: erstens durch den auf die ausländischen Kapitaleinkünfte entfallenden anteiligen deutschen Ein­ kommensteuerbetrag (sog. ordinary credit), zweitens durch die Einzelbetrachtung der ausländischen Einkünfte nach Staaten (sog. per-country-limitation). Diese bei­ den Anrechnungsgrenzen werden im folgenden der Vollanrechnung bei inländi­ scher Kapitalertragsteuer im Hinblick auf einen möglichen Eingriff in die Kapital­ verkehrsfreiheit gegenübergestellt.

(a) Grenze des anteiligen deutschen Einkommensteuerbetrages (ordinary credit)

Als erstes stellt sich die Frage, ob die Begrenzung der Anrechnung der ausländi­ schen Kapitalertragsteuer auf den ihr zugehörigen anteiligen deutschen Einkom­ mensteuerbetrag (ordinary credit) eine Kapitalverkehrsbeschränkung darstellt. Dabei wird auch auf die gerade vorgestellte Besonderheit der deutschen Anrech­ nungsformel gegenüber der Gleichung des Anrechnungshöchstbetrages nach dem OECD-MA einzugehen sein.

Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet die Feststellung, daß die inländische Kapitalertragsteuer beim Steuerinländer gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 EStG n.F. vollständig angerechnet wird, ohne daß die Anrechnung auf den ihr zugehörigen Einkommensteuerbetrag, der auf die inländischen Kapitaleinkünfte entfällt, be­ grenzt wird. Dies bedeutet, daß bei einem Steuerinländer, der einen gegenüber der inländischen Kapitalertragsteuer von mittlerweile 20 %983 niedrigeren persön­ lichen Grenzsteuersatz hat, durch die Anrechnung die Einkommensteuer auf die übrigen Einkünfte entsprechend verringert wird. Dagegen führt bei der Konstella­ tion einer gegenüber dem inländischen persönlichen Grenzsteuersatz höheren 982 Vogel, in: Vogel, DBA, Art. 23 Rdnr. 167. 983 Seit Inkrafttreten des Steuersenkungsgesetzes.

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ausländischen Kapitalertragsteuer die DBA-Anrechnung i.V.m. §§ 34 c Abs. 1 S. 2, 34 c Abs. 6 S. 2 EStG nicht zu dem gleichen Effekt. Der die inländische Ein­ kommensteuer auf die ausländischen Kapitaleinkünfte übersteigende Teil der ausländischen Kapitalertragsteuer wirkt sich nicht einkommensteuermindemd aus. Mit ihm bleibt der Steuerinländer definitiv belastet; die Doppelbesteuerung der Kapitaleinkünfte bleibt insoweit bestehen. Der unbeschränkt Steuerpflichtige kann jedoch in diesem Fall durch einen Antrag für den Abzug der ausländischen Kapitalertragsteuer bei der Ermittlung der Einkünfte nach §§ 34 c Abs. 2 i.V.m. 34 c Abs. 6 S. 2 EStG optieren, wenn dies zu einem vorteilhafteren Ergebnis führt984.

Die Anrechnungsgrenze für die ausländische Kapitalertragsteuer stellt jedoch trotz der geschilderten Folge keinen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit dar, da ihr eine nachteilige Wirkung für den inländischen Kapitalanleger, die eine Kapi­ talverkehrsbeschränkung bedeuten kann, nur bei unterschiedlichen Steuersätzen im Anlage- und Wohnsitzstaat zukommt und die Grundfreiheiten eine Planierung des Steuemiveaus in den Mitgliedstaaten gerade nicht verlangen985. Die DBA, die dem Prüfungsmaßstab der Kapitalverkehrsfreiheit unterliegen986, sollen lediglich die Doppelbesteuerung der Kapitaleinkünfte verhindern. Sie sollen jedoch nicht gewährleisten, daß die Steuern, die vom Steuerpflichtigen im Quellenstaat erho­ ben werden, nicht höher sind als diejenigen, die von ihm im Wohnsitzstaat erho­ ben werden987. Eine derartige Nivellierung des Steuemiveaus würde aber bei einer Wohnsitzstaatsanrechnung ohne die beschriebene Anrechnungsgrenze (ordinary credit) entstehen, da die volle Anrechnung der höheren ausländischen Kapitaler­ tragsteuer eine insgesamt geringere Einkommensteuer im Wohnsitzstaat988 und da­ mit letztlich einen gegenüber der ausländischen Kapitalertragsteuer geringeren Einkommensteueranteil für die ausländischen Kapitaleinkünfte bedeuten würde. Dies widerspräche der Rechtslage in der EU, wonach die Festsetzung der Steuer­ sätze der direkten Steuern in Ermangelung einer Gemeinschaftsregelung auf die­ sem Gebiet in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Zudem hätte der Wegfall der Anrechnungsgrenze den bei der inländischen Kapitalertragsteuer 984 Vgl. zum vorteilhafteren Steuerabzugsverfahren bei Anrechnungsüberhängen: Krause, in: FS Flick, S. 477, 488; zum Problem des begrenzten Sparerfreibetrages nach § 20 Abs. 4 S. 4 EStG und des Steuerabzugs: Lickteig, DStR 1995, S. 792 ff.; Horlemann, DStR 1995, S. 1525 f. 985 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.05.1998, Rs. C-336/96, Sig. I 1998, S. 2793, 2839 Rz. 46 ff. (Gilly); Schön, Kapital­ verkehrsfreiheit, S. 743, 773; zustimmende Anmerkung zum ”Gilly”-Urteil: Klapdor, EWS 1998, S. 263, 264; Kischel, IWB 1998/12, Fach 1 la, S. 282, 284; Saß, DB 1998, 1482, 1484; zweifelnd: Dautzenberg, DB 1997, S. 1354, 1359. 986 Vgl. Kapitel 3 B. I. 2. b) aa) (1). 987 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.05.1998, Rs. C-336/96, Sig. I 1998, S. 2793,2839 Rz. 46 (Gilly). 988 Vgl. den gerade bei der Anrechnung der inländischen Kapitalertragsteuer beschriebenen Effekt

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beschriebenen Effekt, daß der Wohnsitzstaat gezwungen wäre, seine Einkommen­ steuer auf die übrigen Einkünfte entsprechend zu verringern. Dies würde zu Verlusten an Steuereinnahmen und damit zur Beeinträchtigung der Souveränität auf dem Gebiet der direkten Steuern fuhren, die durch die Steuersätze eines ande­ ren EU-Mitgliedstaates bedingt wären und damit nicht im Einklang mit dem gel­ tenden Europarecht stünden, das zur Zeit keine Harmonisierung der direkten Steuern vorsieht989.

Die Anrechnungsgrenze (ordinary credit) stellt folglich aufgrund ihrer nur bei dif­ ferierenden Steuersätzen zwischen Quellen- und Wohnsitzstaat eintretenden nachteiligen Wirkung für den Kapitalanleger keinen Eingriff in die Kapitalver­ kehrsfreiheit dar.

Es bleibt noch die Frage, ob die deutsche Anrechnungsformel in ihrer durch § 34 c Abs. 1 S. 2 EStG modifizierten Fassung aufgrund eines anderen anrech­ nungsbegrenzenden Effekts den Kapitalverkehr beschränkt. Der Anrechnungs­ höchstbetrag ist nach der in Deutschland angewandten Gleichung990 geringer als der nach dem OECD-MA, da im Nenner mit der ’’Summe der Einkünfte” statt des ’’Einkommens” aufgrund der unberücksichtigten existenzsichemden Aufwen­ dungen des subjektiven Nettoprinzips (vgl. § 2 Abs. 3-5 EStG) ein höherer Betrag Eingang findet. In der Anrechungsformel wird auf diese Weise die deut­ sche Einkommensteuer, die auf Nettobasis, d.h. unter Beachtung aller erwerbsund existenzsichemden Aufwendungen, berechnet wird, mit der ’’Summe der Einkünfte” verknüpft, obwohl der richtige Bezugspunkt der Einkommensteuer das zu versteuernde Einkommen i.S.d. § 2 Abs. 5 EStG wäre. Dies hat zur Folge, daß alle Abzüge, die in § 2 Abs. 3,4 und 5 EStG nach der Ermittlung der ’’Summe der Einkünfte" berücksichtigt werden, nicht allein zu Lasten der deutschen Steu­ erquellen gehen, sondern in dem Verhältnis ausländischer Einkünfte zur Summe der Einkünfte auch auf die ausländischen Steuerquellen abgewälzt werden991. Fraglich ist daher, ob diese Kürzung des Anrechnungshöchstbetrages für die ausländische Kapitalertragsteuer eine Kapitalverkehrsbeschränkung darstellt. Dies könnte der Fall sein, wenn sich für die Einbeziehung der ausländischen Einkünfte in das subjektive Nettoprinzip keine Begründung finden ließe. Sie ist jedoch darin zu sehen, daß die existenzsichemden Aufwendungen (z.B. Sonderausgaben, 989 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.05.1998, Rs. C-336/96, Sig. I 1998, S. 2793, 2839 Rz. 48 (Gilly). 990 Siehe die Gegenüberstellung der deutschen Formel und der OECD-Formel in Kapitel 3 B. I. 2. b) aa) (2). 991 Mossner, Die Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, S. 135, 163; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 15 Rdnr. 75, S. 654 f.

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277

außergewöhnliche Belastungen) nicht mit bestimmten Einkunftsteilen in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen, sondern das Gesamteinkommen belasten. Die Abzugstatbestände sind daher auf die einzelnen Einkommensteile, also auch die ausländischen Kapitaleinkünfte, entsprechend aufzuteilen992. Der in Deutschland angewandte Anrechnungshöchstbetrag ist daher auch in dieser Hinsicht mit der Kapitalverkehrsfreiheit zu vereinbaren.

(b) Pro-Staat-Begrenzung (per-country-limitation)

Der zweite hinsichtlich der Kapitalverkehrsfreiheit fragliche Aspekt der deut­ schen Anrechnungsformel ist die Pro-Staat-Begrenzung (per-country-limitation). Danach ist der Anrechnungshöchstbetrag, wenn die Einkünfte aus mehreren ausländischen Staaten stammen, für jeden Staat einzeln zu berechnen. Die An­ wendung der per-country-limitation verhindert eine durchgängige Vermeidung der Doppelbesteuerung, da bei Bezug von Einkünften aus mehreren Staaten die den Höchstbetrag übersteigenden Steuern nicht durch nicht ausgenutzte Höchst­ beträge bei der Anrechnung von Einkünften aus anderen Ländern aufgefangen werden können, ein Ausgleich von hoch und niedrig besteuerten Einkünften ver­ schiedener Länder also nicht möglich ist993. Für einen Steuerinländer als Kapital­ anleger im EU-Ausland kann dies bedeuten, daß er seine Anlagen nicht diversifi­ ziert in vielen EU-Mitgliedstaaten tätigen wird, sondern seine Investitionen auf einen oder jedenfalls wenige Staaten konzentrieren wird, um das Entgehen von Anrechnungsbeträgen für die ausländische Kapitalertragsteuer zu vermeiden. Daraus könnte die Konsequenz gezogen werden, daß die per-country-limitation den Kapitalverkehr i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV beschränkt und daher eine "percommunity-limitation” erforderlich ist, welche die Anrechnungsbeträge aus sämtlichen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zusammenfaßt994.

Die Annahme eines Eingriffs in die Kapitalverkehrsfreiheit durch die per-countrylimitation ist jedoch mit der gleichen Argumentation des EuGH, die bereits beim ordinary credit Anwendung fand995, abzulehnen. Zwar war die Begründung des 992 Vgl. BFH, Urt. v. 20.12.1995, BStBl. 1996II, S. 261, 262; Mossner, Die Methoden zur Vermeidung der Dop­ pelbesteuerung, S. 135,163. 993 Lüdicke, in: Flick/Wassermeyer/Becker, Außensteuerrecht, § 34 c EStG, Rdnr. 92 f.; Mossner, Die Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, S. 135, 161; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, § 15 Rdnr. 71, S. 651 f. 994 So Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 774. 995 Vgl. Kapitel 3 B. I. 2. b) aa) (2) (aa).

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EuGH aufgrund der im Sachverhalt nicht gegebenen Einkünfte aus mindestens zwei Quellenstaaten nicht auf die per-country-limitation ausgerichtet. Sie ist jedoch aufgrund der ähnlichen anrechnungsbegrenzenden Wirkung der percountry-limitation und des ordinary credit hier ebenfalls einschlägig. Die percountry-limitation fuhrt nämlich nur dann zu einer Benachteiligung der ausländi­ schen Kapitalanlage in Form im Wohnsitzstaat nicht anrechenbarer Überhänge ausländischer Kapitalertragsteuem, wenn die ausländische Kapitalertragsteuer über der inländischen Einkommensteuer auf die Kapitaleinkünfte liegt. Nur dann wäre die Eröffnung nicht ausgenutzter Anrechnungshöchstbeträge für Kapitalein­ künfte aus anderen EU-Mitgliedstaaten zur Verrechnung der Anrechnungsüber­ hänge im Interesse des Kapitalanlegers. Die DBA sollen jedoch zur Einhaltung der Kapitalverkehrsfreiheit nicht gewährleisten, daß die Kapitalertragsteuem der verschiedenen EU-Mitgliedstaaten durch die Anrechnung im Wohnsitzstaat ni­ velliert werden996. Solange die Festsetzung der Steuersätze der direkten Steuern in Ermangelung einer Gemeinschaftsregelung auf diesem Gebiet in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, kann die unterschiedliche Kapitalertrag­ steuerbelastung in den verschiedenen Staaten auch bei der Wohnsitzstaatsan­ rechnung erhalten bleiben. Anderes ließe sich annehmen, wenn die per-countrylimitation nicht den DBA, sondern allein dem deutschen Einkommensteuerrecht zu entnehmen wäre und so die auf den DBA-Fall bezogene EuGH-Rechtsprechung nicht direkt anwendbar wäre. Die alleinige Festlegung der per-countrylimitation im deutschen Einkommensteuerrecht ist jedoch nicht gegeben, da die per-country-limitation einerseits bereits in Art. 23 A Abs. 2 S. 2 OECD-MA angelegt ist997 und andererseits über §§ 34 c Abs. 6 S. 2 i.V.m. 34 c Abs. 1 S 2 EStG Bestandteil der DBA-Anrechnung wird. Die Forderung einer "per-community-limitation” bei der DBA-Anrechnung in Deutschland ist daher abzuleh­ nen998.

bb) Ergebnis zur Behandlung der ausländischen Kapitalertragsteuer Die deutsche Anrechnungsformel für ausländische Kapitalertragsteuem greift we­ der aufgrund der Anrechnungsgrenze des anteiligen deutschen Einkommensteu­ erbetrages (ordinary credit) noch aufgrund der Pro-Staat-Begrenzung (percountry-limitation) gemäß Art. 56 Abs. 1 EGV in die Kapitalverkehrsfreiheit ein. Sie ist europarechtskonform. Angesichts diese Befundes muß nicht mehr weiter 996 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.05.1998, Rs. C-336/96, Sig. I 1998, S. 2793, 2839 Rz. 46 (Gilly). 997 Vgl. Kapitel 3 B. I. 2. b) aa) (2); Vogel, in: Vogel, DBA, Art. 23 Rdnr. 167. 998 Dazu offen, ohne eigene Wertung: Probst, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 34 c Rdnr. 90.

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auf die Frage eingegangen werden, ob die Kapitalverkehrsfreiheit im Hinblick auf die Anrechnung ausländischer Kapitalertragsteuem für einen EG-Mitgliedstaat nicht nur als Eingriffsabwehrrecht, das ein Unterlassen gebietet, sondern auch als Schutzpflicht zu verstehen ist, die ein positives Tun, hier des Gesetzgebers, auf­ gibt999. Denn aus einer Schutzpflicht könnten nur Mindeststandards abgeleitet werden, die in Deutschland schon de lege lata überschritten werden.

3.

Ergebnis

Die Untersuchung der Kapitalertragsteuer im geltenden deutschen Einkommen­ steuergesetz hat gezeigt, daß das deutsche Steuerrecht in einer Hinsicht nicht mit den Vorschriften zur Kapitalverkehrsfreiheit in Einklang steht. Die aufgrund der Abgeltungswirkung des Kapitalertragsteuerabzugs gemäß § 50 Abs. 5 S. 1 EStG n.F. vorgesehene Bruttobesteuerung der Kapitaleinnahmen von Steuerausländem verstößt gegen die Kapitalverkehrsfreiheit1000. Dagegen ist die inländische Be­ handlung der ausländischen Kapitalertragsteuer mit den Artt. 56 ff. EGV zu ver­ einbaren1001. Gleiches gilt für die Zinsabschlagsteuer des Steuerinländers, die bei Steuerausländem nur in Sonderfällen erhoben wird1002.

II.

Der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission zur Zinsbesteuerung

Die EU-Kommission hat dem Rat am 4. Juni 1998 einen neuen Vorschlag zur Ge­ währleistung eines Minimums an effektiver Besteuerung von Zinserträgen inner­ halb der Gemeinschaft unterbreitet1003. Der Richtlinienvorschlag (RL-Vorschlag) bestimmt seitdem und vor allem im Jahr 2000 die Debatte zwischen den Mitglied­ staaten über eine Harmonisierung der Besteuerung grenzüberschreitend gezahlter Zinserträge. Trotz der überwiegend zustimmenden Haltung der EU-Staaten kam aus Großbritannien und Luxemburg Widerstand gegen den RL-Vorschlag, der seine Verabschiedung verhindert hat1004. Auf der Sitzung des Europäischen Rats in Santa Maria da Feira vom 19./20. Jimi 2000 ergab sich, daß die Richtlinie mit 999 Dazu Herdegen, Europarecht, 2. Aufl., 1999, S. 209 Rdnr. 285. 1000 Vg] Kapitel 3 B. I. 1.; ebenso Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 772. 1001 Vgl. Kapitel 3 B. I. 2. b). 1002 Vgl. Kapitel 3. B. I. 2. a). 1003 ABI. EG Nr. C 212 v. 08.07.1998, S. 13 ff.; KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS) mit Begründung und Erläuterungen der EG-Kommission. 1004 Vgl. zu ihrer Kritik: Nachreiner, DStZ 1999, S. 486, 488; Nickel, EuZW 1998, S. 686, 689; Steichen, in: FS L. Fischer, S. 231,247.

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dem vorgeschlagenen Inhalt nicht verabschiedet werden konnte. Der RL-Vorschlag ist bisher jedoch noch nicht offiziell zurückgenommen worden.

Er wird daher nachfolgend erörtert, da er aufgrund seiner Befürwortung durch 14 Mitgliedstaaten auch zukünftig die Grundlage eines neuen Zinsrichtlinien-Vorschlags bilden wird1005. Dies rechtfertigt es, den RL-Vorschlag, der für die zukünf­ tige Besteuerung von Zinsen (Erträge einer speziellen Kapitalanlageform) von großer Bedeutung wäre, nachfolgend im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit zu untersuchen. Es wird zunächst der Inhalt des RL-Vorschlags vorgestellt und danach sein Beitrag zur Verwirklichung der Kapitalverkehrsfreiheit und seine harmonisierende Wirkung im Bereich der direkten Steuern beleuchtet. In einem dritten Schritt werden die für die deutsche Kapitalertragsteuererhebung bei Steuerausländem entstehenden Folgen erläutert.

Nach der Erörterung des noch nicht zurückgezogenen RL-Vorschlags wird auf die sich für einen zukünftigen RL-Vorschlag ergebenden strukturellen und inhaltli­ chen Änderungen eingegangen, die sich aus den jüngsten Schlußfolgerungen des ECOFIN-Rats vom 27. November 2000 ergeben. Ein neuer Entwurf liegt bisher nicht vor, wobei das Inkrafttreten der neuen Zinsrichtlinie mittlerweile für den 01. Januar 2003 angestrebt wird1006.

1.

Inhalt des RL-Vorschlags

Das Ziel des RL-Vorschlags ist die Gewährleistung eines Minimums an effektiver Besteuerung von Zinserträgen innerhalb der Gemeinschaft (Art. 1 Abs. 1 des RLVorschlags1007). Mit der Richtlinie wird beabsichtigt, das spezielle Problem der Steuerhinterziehung bei grenzüberschreitend gezahlten Zinsen zu lösen, das nicht mit dem Binnenmarkt zu vereinbarende wirtschaftliche Verzerrungen bewirkt1008. Es resultiert daraus, daß die Zinserträge aus Kapitalforderungen zwar grundsätz­ lich für die Steuerinländer aller Mitgliedstaaten steuerpflichtige Einkünfte sind1009, der Steuerpflichtige bei grenzüberschreitend gezahlten Zinsen jedoch durch gesetzeswidriges Verschweigen dieser Einkünfte bei der Steuererklärung 1005 Zum Zeitpunkt der ursprünglichen Fertigstellung dieser Arbeit war nicht absehbar, daß der RL-Vorschlag Monate später nicht verabschiedet werden würde. 1006 Vgl. Bernhard, DB 2001, S. 664, 667. 1007 Alle im folgenden ohne weitere Angaben zitierten Artikel sind solche des RL-Vorschlags. 1008 Vgl. Begründung der Kommission in I. Ziff. 3 KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS), S. 2 f. 1009 Vgl. Steichen, in: FS L. Fischer, S. 231, 243.

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die Besteuerung im Wohnsitzstaat vermeiden kann. Abhängig von der Erhebung einer Quellensteuer von Steuerausländem im Quellenstaat1010 unterliegen die der Veranlagung im Wohnsitzstaat entzogenen Zinseinkünfte entweder nur der geringen Quellensteuerbelastung oder können mangels Quellensteuer vollständig steuerfrei vereinnahmt werden. Der RL-Vorschlag, der auf einen anderen, gescheiterten Entwurf aus dem Jahr 1989 folgt1011, sieht vor, dieses Problem durch ein sog. Koexistenzmodell zu lösen. Dieses beruht darauf, daß den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Besteuerung von Zinszahlungen an natürliche Personen, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, die Wahl zwischen zwei Systemen offenstehen soll: Entweder teilt der Mitgliedstaat, in dem sich die Zahlstelle befindet, demjenigen Mitgliedstaat, in dem der effektive Empfänger der Zinsen seinen steuerlichen Wohnsitz hat, mindestens einmal jähr­ lich die Informationen mit, die für die Festsetzung der im Wohnsitzstaat geschul­ deten Einkommensteuer erforderlich sind (System der Information), oder der Anlagestaat optiert für die Erhebung einer Quellensteuer von mindestens 20 % (System der Quellensteuer). Auf diese Weise wird die einmalige Besteuerung der Zinseinkünfte sichergestellt, die in ihrer Höhe im Falle einer Steuerhinterziehung im Wohnsitzstaat allerdings auf den mindestens 20 % betragenden Quellensteuer­ satz beschränkt ist.

a)

Anwendungsbereich

Der RL-Vorschlag strebt im Einklang mit dem in Art. 5 EGV niedergelegten Sub­ sidiaritätsprinzip1012 nicht eine vollständige EU-weite Harmonisierung der Zinsbe­ steuerung an, sondern grenzt die Anwendung der Richtlinie in persönlicher, räum­ licher und sachlicher Hinsicht ein.

aa) Persönlicher Anwendungsbereich

Die vorgeschlagene Richtlinie beschränkt sich in ihrem subjektiven Anwendungs­ bereich auf die Besteuerung von Zinszahlungen an einen ’’effektiven Empfänger”, der seinen steuerlichen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen hat, in dem die Zahlung durch eine Zahlstelle erfolgt ist (Art. 1 Abs. 1). Dadurch 10,0 Zur Zeit erheben mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten keine Kapitalertragsteuer von Steuerausländem, so auch Deutschland mit der Ausnahme der Tafelgeschäfte (vgl. Kapitel 3 B. I. 1.). 1011 ABI. EG Nr. C 141 vom 07.06.1989, S. 5 ff. 1012 Vgl. dazu allgemein: Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, Baden-Baden 1996; Heintzen, JZ 1991, S. 317 ff.

282

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sind nur grenzüberschreitend in der EU gezahlte Zinsen von dem RL-Vorschlag erfaßt. Gemäß Art. 3 lit. a ist unter dem effektiven Empfänger jede natürliche Per­ son zu verstehen, die eine Zinszahlung auf eigene Rechnung erhält. Es werden damit Zinszahlungen zugunsten von juristischen Personen oder von Gesellschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit sowie Zinszahlungen an natürliche Personen, die diese Zahlungen im Rahmen ihrer Funktion als gewerb­ lich tätige Makler, als Treuhänder oder als amtlich zugelassene Person auf Rechnung einer anderen Person erhalten, vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen1013. Zur Identifikation der effektiven Empfänger fuhrt jeder Mit­ gliedstaat auf seinem Hoheitsgebiet Modalitäten ein, die es der Zahlstelle er­ möglichen, die effektiven Empfänger und den Ort ihres steuerlichen Wohnsitzes zu bestimmen, und gewährleistet ihre Anwendung (Art. 4). Zur Feststellung des ’’steuerlichen Wohnsitzes” des effektiven Empfängers enthält Art. 3 lit. c eine wichtige Abgrenzungsregelung, die auf Art. 4 Abs. 2 OECD-MA basiert. Sie lie­ fert die Kriterien, deren chronologisch abfolgende Prüfung die Bestimmung der Ansässigkeit des Zinsempfängers ermöglichen soll.

Die Vorschrift des Art. 3 lit. b definiert die Zahlstelle als jeden Wirtschaftsbetei­ ligten, der für die Zahlung von Zinsen unmittelbar an den effektiven Empfänger verantwortlich ist, unabhängig davon, ob es sich um den Schuldner des den Zin­ sen zugrundeliegenden Kapitals selbst oder um den durch den Schuldner oder den effektiven Empfänger mit der Zinszahlung beauftragten Wirtschaftsbeteiligten handelt, sofern der Wirtschaftsbeteiligte innerhalb der Gemeinschaft, aber außer­ halb des Mitgliedstaates, in dem der effektive Empfänger seinen steuerlichen Wohnsitz hat, niedergelassen ist1014. Die Zahlstelle des jeweiligen Mitgliedstaates ist grundsätzlich verantwortlich für sämtliche, zur Umsetzung der Richtlinie erforderlichen Aufgaben, unabhängig vom Niederlassungsort der Stelle, die der Schuldner des diesen Zinsen zugrundeliegenden Kapitals ist (Art. 1 Abs. 2). Ins­ besondere ist es ihre Aufgabe, den effektiven Empfänger und den Ort des steuer­ lichen Wohnsitzes zu identifizieren (Art. 4).

bb) Räumlicher Anwendungsbereich

Es sollen von der Richtlinie gemäß Art. 6 nur Zinsen erfaßt werden, die durch eine Zahlstelle geleistet werden, die innerhalb des Hoheitsgebiets liegt, auf das 1013 Vgl. Erläuterung der Kommission zu Art. 3, KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS), S. 6. 1014 Vgl. Erläuterung der Kommission zu Art. 3 lit b, KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS), S. 7.

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283

der EG-Vertrag gemäß Art. 299 EGV Anwendung findet. Die Richtlinie gilt damit nicht für Zinszahlungen von außerhalb der EU gelegenen Zahlstellen sowie sol­ cher Zahlstellen, die sich in steuerlichen Sonderzonen innerhalb der Gemeinschaft befinden1015.

cc) Sachlicher Anwendungsbereich

Die vorgeschlagene Richtlinie erfaßt grundsätzlich alle grenzüberschreitend in der EU gezahlten Zinserträge, die aus einer Kapitalforderung resultieren (Art. 5). Die Besteuerung im Zusammenhang mit Pensionen und Versicherungsleistungen ist dabei ausgenommen. Zinsen im Sinne der Richtlinie sind nach Art. 5 in Abhän­ gigkeit der Kapitalforderung zu bestimmende prozentuale Zahlungen ein­ schließlich mit diesen verbundene Prämien und Gewinne (Art. 5 lit. a) sowie die Differenz von Ausgabe- und Einlösungsbetrag bei Werterhöhungswertpapieren1016 (Art. 5 lit. b). Des weiteren fallen unter den Zinsbegriff der Richtlinie Aus­ schüttungen von ’’Organismen” für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren i.S. der Richtlinie 85/611/EWG1017, die mehr als 50 % ihres Vermögens direkt oder indirekt in Forderungen oder entsprechenden Wertpapieren anlegen, und die Dif­ ferenz von Ausgabe- und Einlösungspreis bei Anteilen an solchen ’’Organismen” gemeint sind hiermit Kapitalanlagegesellschaften (Art. 5 lit. c und d). Der RLVorschlag erfaßt auch Euro-Obligationen (Anleihen von EU-inländischen Emit­ tenten), bei denen die zu berücksichtigenden Zinsen aus der von der Zahlstelle bei Einlösung der Forderung gezahlten Differenz zwischen dem Einlösungsbetrag und dem Ausgabepreis entsprechender Papiere bestehen (vgl. Art. 5 lit. b). Diese sog. Eurobonds möchte Großbritannien aufgrund des großen Eurobond-Marktes in London von der Richtlinie, zumindest ab einem Anlagebetrag von 40.000 Euro, ausgenommen sehen1018. Die fehlende Kompromissbereitschaft Großbritanniens in dieser Sache hatte auf der Sitzung des Rates in Helsinki am 10. - 11. Dezember 1999 zum ersten Scheitern der Verabschiedung des RL-Vorschlags geführt.

1015 1016 1017 1018

Vgl. Liste der Sonderzonen bei Nickel, EuZW 1998, S. 686,687. Vgl. hierzu Erläuterung der Kommission zu Art. 5, KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS), S. 7 f. ABI. EG Nr. L 375 v. 31.12.1985, S. 3. Vgl. FAZ vom 30.10.1999, S. 14.

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284

b)

Koexistenzmodell

Das sog. Koexistenzmodell bildet den Mittelpunkt des aktuellen RL-Vorschlags (Art. 2). Danach haben die einzelnen Mitgliedstaaten die Wahl zwischen der Be­ reitstellung von Informationen oder der Quellenbesteuerung, wobei der Quellen­ steuermindestsatz bei 20 % liegen soll (Art. 2 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1). Jeder Mit­ gliedstaat muß sich für ein System entscheiden und dieses auf alle vom Anwen­ dungsbereich der Richtlinie erfaßten Zinszahlungen anwenden (Art. 2 Abs. 2).

aa) System der Information

Nach dem System der Information (Art. 7) werden die Zinserträge unmittelbar durch die Zahlstelle des Anlagestaates ohne Quellensteuerabzug an den effektiven Empfänger mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat ausgezahlt und dort nach dem Recht des Wohnsitzstaates besteuert. Zur Sicherstellung einer effektiven Be­ steuerung im Wohnsitzstaat (Vermeidung der Steuerhinterziehung) übermittelt die zuständige Behörde des Quellenstaates mindestens einmal jährlich bestimmte In­ formationen an die zuständige Behörde des Wohnsitzstaates des Anlegers, die für die Festsetzung der in diesem Mitgliedstaat geschuldeten Einkommensteuern erforderlich sind (Art. 7 Abs. 1, Abs. 3). Die zuständigen Behörden im Sinne des RL-Vorschlags sind gemäß Art. 3 lit. d die in Art. 1 Abs. 5 Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 27.12.1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten1019 im Bereich der indirekten und direkten Steuern definierten Behörden. Dies sind in Deutschland der Bundesminister für Finanzen oder seine Beauftragten, d.h. die jeweils zuständige Steuerbehörde1020. Die Kontrollmitteilung des Quellenstaates erfolgt automatisch und ohne Bedin­ gung der Gegenseitigkeit, weswegen Art. 7 Abs. 4 klarstellt, daß die Mitglied­ staaten, die dieses System anwenden, nicht mehr die in Art. 8 Amtshilfe-Richtlinie 77/799/EWG erwähnte Möglichkeit der Beschränkung des Auskunftsan­ spruchs anwenden können. Die übermittelten Informationen müssen mindestens Vg| ausführlich zur EG-Amtshilfe-Richtlinie und zu ihrem Verhältnis zum Steuergeheimnis Eilers, Das Steu­ ergeheimnis als Grenze des internationalen Auskunftsverfahrens, Köln 1987, S. 101 ff. 1020 ABI. EG Nr. L 336 v. 27.12.1977, S. 15, geändert durch die Richtlinie 79/1070/EWG des Rates vom 06.12.1979 (ABI. EG Nr. L 331 v. 27.12.1979, S. 8) und 92/12/EWG des Rates vom 25.02.1992 (ABI. EG Nr. L 76 v. 23.03.1992, S. 1) sowie durch die Akte über den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens (Ent­ scheidung 95/1/EG, ABI. EG Nr. L 1 v. 01.01.1995, S. 1). 1019

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285

die Angabe des Betrages der gezahlten Zinsen, das Zahlungsdatum, die Identität des effektiven Empfängers sowie den von ihm angegebenen Wohnsitz enthalten (Art. 7 Abs. 2). Es steht den betreffenden Mitgliedstaaten frei, auch weitere In­ formationen zu erteilen1021.

bb) System der Quellensteuer Der Mitgliedstaat, der für das System der Quellensteuer optiert, hat einen Quel­ lensteuersatz von mindestens 20 % auf die von der Zahlstelle an den effektiven Empfänger gezahlten Zinsen anzuwenden (Art. 8 Abs. 1). Auf in den Anwen­ dungsbereich der Richtlinie fallende Zinszahlungen darf keine weitere Quellen­ steuer mehr erhoben werden.

Eine Ausnahme zur Quellensteuererhebung ist in Art. 8 Abs. 2 vorgesehen. Da­ nach entfällt der Quellensteuerabzug, wenn der Empfänger der Zinszahlstelle eine Bescheinigung vorlegt, die die Steuerbehörde seines Wohnsitzstaates ausgestellt hat und bestätigt, daß der effektive Empfänger die Behörde über die anfallenden Zinsen unterrichtet hat (Art. 8 Abs. 2, Art. 9). Die Bescheinigung, die nur auf An­ trag ausgestellt wird, muß zumindest die Identifikation des effektiven Empfängers, die Zahlstelle, den Betrag der anfallenden Zinsen und das Zah­ lungsdatum enthalten. Bei Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung wird der Anleger ausschließlich in seinem Wohnsitzstaat besteuert, wobei er grundsätzlich genauso wie eine Person behandelt wird, die eine Zinszahlung aus einem Mitgliedstaat erhält, der für die Anwendung des Informationssystems votiert hat. Dies gilt jedoch nicht, soweit der Betrag der gezahlten Zinsen den in der Be­ scheinigung aufgeführten Betrag übersteigt. Es wird dann der Differenzbetrag im Quellenstaat mit mindestens 20 % besteuert (Art. 8 Abs. 2).

Beim Quellensteuermodell wird der RL-Vorschlag dem Interesse des Anlegers an einer Vermeidung der Doppelbesteuerung der Zinseinkünfte durch die Anrech­ nungsvorschrift in Art. 10 gerecht. Danach muß der Wohnsitzstaat die Quellen­ steuer bis zu dem Betrag, der auf seinem Hoheitsgebiet für derartige Zinsen ge­ schuldet ist, anrechnen. Nach der bereits im Rahmen der DBA-Anrechnung erör­ terten Anrechnungsgrenze des ordinary credit1022 darf auch nach Art. 10 Abs. 2 die Steuerminderung im Wohnsitzstaat entweder den Betrag der nachweislich erhobe­ 1021 Vgl. Erläuterung zu Art 7 Abs. 2, KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS), S. 8. 1022 Vgl. Kapitel 3 B. I. 2. b) aa) (2) (aa).

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286

nen Quellensteuer oder den Anteil der im Zusammenhang mit den zugrundelie­ genden Zinsen geschuldeten Einkommensteuer nicht übersteigen. Für den Fall, daß die vom Quellenstaat erhobene Quellensteuer die gewährte Steueranrechnung im Wohnsitzstaat übersteigt (sog. Anrechnungsüberhang), sieht Art. 10 Abs. 2 S. 2 eine Regelung vor, die im Vergleich zu den Anrechnungsvorschriften des OECD-MA Neuland betritt. Danach wird im Falle eines Anrechnungsüberhangs dem Zinsempfänger die Differenz unmittelbar von dem Mitgliedstaat der Zahlstelle erstattet. Auf diese Vorschrift und ihre Auswirkungen wird noch zu­ rückzukommen sein1023.

Schließlich bleibt es den Mitgliedstaaten auch bei der Entscheidung für das Quel­ lensteuersystem unbenommen, im Rahmen ihrer einzelstaatlichen Bestimmungen oder bilateralen Abkommen mit anderen Mitgliedstaaten Informationen zu ertei­ len (Art.8 Abs. 3).

c)

Verhandlungen mit Drittländern

Der RL-Vorschlag will dem Erfordernis Rechnung tragen, daß die Wettbewerbs­ fähigkeit der europäischen Finanzmärkte im Weltmaßstab erhalten bleiben muß und die Grundsätze der Richtlinie auf möglichst breiter Grundlage angenommen werden müssen1024. Mit dem Ziel, die Besteuerung solcher Zinserträge sicherzu­ stellen, die zwar von der Richtlinie nach Art. 5 erfaßt sind, die aber von Zahlstel­ len aus außereuropäischen Drittländern an EU-Ansässige geleistet werden und damit gemäß Art. 6 nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, werden die Mitgliedstaaten gemäß Art. 11 aufgefordert bzw. verpflichten sie sich gemäß Art. 1 des dem RL-Vorschlag anhängenden Ratsbeschlusses, zur weltweiten Förderung vergleichbarer Harmonisierungsmaßnahmen mit ihren wichtigsten Handelspartnern unter den Drittländern entweder bi- oder multilaterale Verhandlungen einzuleiten. Diese Verpflichtung der Mitgliedstaaten bezieht sich auch auf die Ausweitung der Harmonisierung auf europäische Staaten, die nicht Mitglieder der EU sind. Der Hintergrund ist das Ziel, die betreffenden Gebiete durch die beabsichtigte europaweite Zinsbesteuerung als Steueroasen nicht noch attraktiver zu machen, als sie es teilweise ohnehin schon sind.

1023 Vgl. unten Kapitel 3 B. II. 3. a). 1024 Nickel, EuZW 1998, S. 686, 688.

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d)

287

Umsetzung der Richtlinie

Der RL-Vorschlag sieht in Art. 12 Regelungen zur innerstaatlichen Umsetzung vor. Danach sollten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwal­ tungsvorschriften bis zum 31.12.1999 erlassen und veröffentlichen, die am 01.01.2001 in Kraft treten sollten. Diese zum Zeitpunkt der Vorlage des RL-Vor­ schlags durch die Kommission im Juni 1998 noch realisierbare zeitliche Abfolge ist im Laufe des Jahres 2000 unrealistisch geworden.

2.

Beitrag zur Verwirklichung der Kapitalverkehrsfreiheit und Harmo­ nisierungswirkung auf die EU-Zinsbesteuerung

Im folgenden wird der Beitrag des RL-Vorschlags zur Verwirklichung der Kapi­ talverkehrsfreiheit und seine harmonisierende Wirkung auf die EU-Zinsbesteuerung erörtert. Seine Leistung für die Kapitalverkehrsfreiheit wird im Rahmen der Betrachtung der in der vorgeschlagenen Richtlinie zitierten Kompetenznorm für ihren Erlaß (Art. 94 EGV1025) untersucht werden.

a)

Beitrag zur Kapitalverkehrsfreiheit - Richtlinienkompetenz der EU

Es ist fraglich, ob für die Harmonisierung der Zinsbesteuerung unter dem EGVertrag überhaupt eine Richtlinienkompetenz der EU besteht. Mit der Besteue­ rung von Zinserträgen sind in dem RL-Vorschlag Regelungen zu direkten Steuern vorgesehen, die einer entsprechenden Kompetenznorm im EG-Vertrag bedürfen. Anders als für das Gebiet der indirekten Steuern, für das Art. 93 EGV ausdrücklich zum Erlaß von Harmonisierungsregelungen ermächtigt, liegt eine ausdrückliche Rechtsetzungskompetenz für die direkten Steuern nicht vor. Ent­ sprechend dem in Art. 5 Abs. 1 EGV festgelegten Prinzip der Einzelermächti­ gung, wonach die Gemeinschaft nur innerhalb der Grenzen der ihr im EG-Vertrag zugewiesenen Befugnisse und der dort gesetzen Ziele tätig werden darf, kann allenfalls die im RL-Vorschlag zitierte Vorschrift des Art. 94 EGV als Kompetenznorm herangezogen werden1026. Danach kann der Rat Richtlinien für die Angleichung deijenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitglied1025 In dem RL-Vorschlag vor Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages als Art. 100 EGV zitiert. 1026 Art. 95 Abs. 2 EGV nimmt die Bestimmungen über die Steuern aus dem Beschlußverfahren mit qualifizierter Mehrheit des Rates nach Artt. 95 i.V.m. 251 EGV aus; vgl. zum "lex generalis"-Charakter des Art 94 EGV: Kahl, in: Calliess/Ruffert, EGV, Art. 94 Rdnr. 13.

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Art 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

Staaten erlassen, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. Der Binnenmarkt1027 wird durch die Ge­ währleistung der Grundfreiheiten bestimmt. Es könnte daher hinsichtlich der Zinsbesteuerung eine Regelungskompetenz der EU bejaht werden, wenn ohne diese Vorschriften eine Beeinträchtigung des freien Kapital- und Zahlungsver­ kehrs eintreten würde.

Das Ziel des RL-Vorschlags ist die Gewährleistung eines Minimums an effektiver Besteuerung von Zinserträgen innerhalb der Gemeinschaft und die Vermeidung der Steuerhinterziehung bei grenzüberschreitend gezahlten Zinsen. Zur Zeit wird in mehr als der Hälfte der Mitgliedstaaten, so auch in Deutschland1028, von Steuerausländem keine Quellensteuer auf Zinserträge erhoben. Daneben ist den grenzüberschreitend agierenden Kapitalanlegem mangels eines Informationssy­ stems zwischen den Mitgliedstaaten die gesetzeswidrige Möglichkeit eröffnet, die ausländischen Zinseinkünfte durch Verschweigen in der Steuererklärung einer Besteuerung im Wohnsitzstaat zu entziehen. Auf diese Weise kann es zu einer Nicht- oder Niedrigbesteuerung der grenzüberschreitend erzielten Zinserträge kommen. Daraus ergibt sich die Frage, ob durch die in diesem Zusammenhang entstehenden Kapitalströme in Mitgliedstaaten ohne oder mit niedriger Quellenbesteuerung bei Steuerausländem die Freiheit des Kapitalverkehrs beein­ trächtigt wird. Der Schutzzweck der Vorschriften über die Kapitalverkehrsfreiheit besteht darin, nationale Regelungen abzuschaffen, die es den Bürgern erschweren, in anderen Mitgliedstaaten zu investieren1029. Daraus wird die Konsequenz gezogen, daß mangels kapitalverkehrsbeschränkender Wirkung der jetzt in den Mitgliedstaaten geltenden Gesetzeslage, nach der jeder Person die Kapitalanlage in einem nicht- oder niedrigbesteuemden Quellenstaat offensteht, der Schutzbe­ reich der Kapitalverkehrsfreiheit nicht betroffen und somit die Richtlinienkom­ petenz nach Art. 94 EGV nicht gegeben ist1030.

Diese Auffassung kann nicht überzeugen. Die Ansicht, daß es im Zusammenhang der Zinsbesteuerung an einer Kapitalverkehrsbeschränkung durch einen Mitglied­ staat fehle, ist zwar korrekt. Die Konsequenz eines vollständigen Fehlens der Be­ rührung des Kapitalverkehrs durch die beschriebene Gesetzeslage ist jedoch abzu1027 Zum Verhältnis der Begriffe ’'Binnenmarkt" und "Gemeinsamer Markt" vgl. Kahl, in: Calliess/Rußert, EGV, Art 14 Rdnr. 6 ff. 1028 Mit Ausnahme der Tafelgeschäfte (vgl. Kapitel 3 B. I. 1.). 1029 Vgl. Kapitel 2 A. I. 1. 1030 Vgl. Steichen, in: FS L. Fischer, S. 231,249 f.

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lehnen. Der Hintergrund der Kapitalverkehrsfreiheit, und damit des Binnenmark­ tes, ist der Gedanke der freien Kapitalbewegungen, die sich ertragsorientiert, ohne Beschränkungen, ohne gesetzeswidrige Umgehungen und ohne Wettbewerbsver­ zerrungen vollziehen sollen. Die Kapitalanlage wird jedoch bei der bestehenden Gesetzeslage in den Mitgliedstaaten nicht nur durch den Vergleich der Anlagealtemativen, der deren wirkliche Qualitäten berücksichtigt, bestimmt, sondern ist in hohem Maße an der Möglichkeit der Steuerhinterziehung als illegale Maßnahme ausgerichtet1031. Dieser Aspekt verzerrt den Wettbewerb zwischen den Kapitalanlagestaaten und verhindert die optimale Kapitalallokation innerhalb der EU. Die Änderung dieser Rechtslage, die mit dem RL-Vorschlag angestrebt wird, dient daher i.S.d. Art. 94 EGV dem ’’Funktionieren des Gemeinsamen Marktes”. Der Entwurf steht in dieser Hinsicht im Einklang mit der Richtlinienkompetenz der EU.

Weitere Zweifel an der Kompetenz der EU zum Erlaß der Richtlinie können sich aus dem Subsidiaritätsprinzip nach Art. 5 Abs. 2 EGV ergeben. Danach wird die Gemeinschaft außerhalb ihres ausschließlichen Zuständigkeitsbereichs nach dem EG-Vertrag nur tätig, ’’sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Ge­ meinschaftsebene erreicht werden können”. Das in diesem Zusammenhang vor­ gebrachte Argument, die nationalen Gesetzgeber hätten keine Möglichkeiten, die Nichtbesteuerung von Zinserträgen zu verhindern’032, wird teilweise abgelehnt, da durch zwischenstaatliche Abkommen eine Lösung jederzeit erreichbar wäre1033. Diese Ansicht kann jedoch nicht überzeugen, da die Erreichung eines Minimums an Besteuerung von Zinserträgen und die damit verbundene Bekämpfung der Steuerhinterziehung nur durch eine Regelung auf EU-Ebene mit der gebotenen Effizienz und Schnelligkeit möglich ist. Für die andere Lösung bedürfte es dage­ gen eines umfassenden Netzes abgestimmter bilateraler Abkommen, deren Ab­ schluß durch die individuellen Interessen der verschiedenen beteiligten Mit­ gliedstaaten, die sich in stärker kapitalexport- oder kapitalimportorientierte Län­ der aufspalten, erschwert wäre. Die erforderliche Harmonisierung ließe sich nicht in kurzer Zeit durch eine Vielzahl EU-weiter bilateraler Abkommen erreichen. Daher kann die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips i.S.d. Art. 5 Abs. 2 EGV nicht bezweifelt werden.

,03‘ Vgl. Begründung der Kommission in I. 3., KOM (1998) 295 endg. - 98/0193 (CNS), S. 2 f. 1032 So Tipke, BB 1998, S. 241, 245. 1033 Steichen, in: FS L. Fischer, S. 231,250.

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Im Ergebnis leistet der RL-Vorschlag in seiner Zielsetzung einen wichtigen Bei­ trag zur optimalen Kapitalallokation innerhalb der EU, die den Hintergrund der Kapitalverkehrsfreiheit bildet. Die Richtlinienkompetenz nach Art. 94 EGV ist daher gegeben, und die Regelung scheitert nicht an der Verletzung des Subsidia­ ritätsprinzips.

b)

Harmonisierungswirkung - Unstimmigkeiten des RL-Vorschlags

Dem RL-Vorschlag liegt das Bestreben zugrunde, die Zinsbesteuerung in der EU im Einklang mit den Grenzen des Subsidiaritätsprinzips zu harmonisieren. Der Grad der Harmonisierung scheint auf den ersten Blick aufgrund des in Art. 2 vor­ gesehenen Koexistenzmodells durch die zukünftige Zweiteilung der Mitglied­ staaten in solche mit Informationssystem (Art. 7) und andere mit Quellensteuersy­ stem (Art. 8) charakterisiert zu sein. In der Praxis dürfte aber aufgrund einiger Unstimmigkeiten des RL-Vorschlags ein erheblicher Druck auf die Mitgliedstaa­ ten hin zum Quellensteuersystem entstehen, so daß sich im Ergebnis doch ein hoher Grad der Harmonisierung ergeben könnte.

Die im RL-Vorschlag vorgesehenen, nebeneinander bestehenden Erhebungsarten von Steuern auf Zinsen nach dem Informations- oder Quellensteuersystem können zu erheblichen Verschiebungen beim Steueraufkommen zwischen den Mitglied­ staaten fuhren1034. Dies liegt darin begründet, daß die Mitgliedstaaten, die das Quellensteuersystem einfuhren, sich durch den Quellensteuerabzug ein Steuerauf­ kommen zusätzlich zur Besteuerung der in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen Perso­ nen erschließen. Die Mitgliedstaaten, die sich für das Informationssystem ent­ scheiden, bleiben dagegen darauf beschränkt, die Steuern von ihren Steuerinlän­ dem zu erheben. Die von ihnen hinsichtlich der Zinseinkünfte praktizierte Wohn­ sitzbesteuerung hängt bei grenzüberschreitend gezahlten Zinsen jedoch von der Steuerehrlichkeit ihrer Steuerinländer bzw. den Informationen über Zinszahlun­ gen aus den anderen Mitgliedstaaten als Quellenstaaten ab. Der RL-Vorschlag sieht eine Informationspflicht gegenüber diesen Wohnsitzstaaten aber nur für Staaten vor, die ebenfalls für das Informationssystem optiert haben. Die Quellen­ steuerstaaten indes können einen Informationsaustausch wie bisher verweigern. Dies führt zu der Konsequenz, daß die Mitgliedstaaten mit Quellensteuersystem von Steuerinländem der Staaten mit Informationssystem Steuern auf Zinserträge 1034 Vgl. Kischel, IWB 1998/20 Fach 11, EG, Gruppe 2, S. 357,363; Nachreiner, DStZ 1999, S. 486,489.

Art. 58 EGV in seiner Wirkung auf deutsche Steuervorschriften

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erheben können, jedoch keine Informationen bereitstellen müssen. Umgekehrt erheben die Staaten, die für den Informationsaustausch optiert haben, nicht nur keine Steuern auf Zinsen von Steuerausländem, sondern liefern den Quellen­ steuerstaaten auch noch die Informationen, die diese zur Besteuerung ihrer Steuerinländer benötigen. Das Steueraufkommen des Staates mit Informationssy­ stem ist selbst dann geringer als das des Quellensteuerstaates, wenn letzterer In­ formationen übermittelt oder der ehrliche Steuerinländer den grenzüberschreitend gezahlten Zinsertrag der Veranlagung unterzieht. Dies liegt darin begründet, daß für den Wohnsitzstaat gemäß Art. 10 Abs. 2 eine Anrechnungspflicht in Höhe der Quellensteuer besteht. Im Ergebnis resultiert folglich aus dem RL-Vorschlag ein erheblicher Druck auf alle Mitgliedstaaten, zur Sicherung ihres Steuerauf­ kommens das Quellensteuersystem einzuführen. Auf diese Weise könnte ein ho­ her Grad der Harmonisierung eintreten.

Eine weitere Unstimmigkeit des RL-Vorschlags findet sich in der Vorschrift des Art. 8 Abs. 2. Danach hat der Mitgliedstaat mit Quellensteuersystem auf die Er­ hebung der Steuer zu verzichten, wenn der effektive Empfänger der Zinsen der Zahlstelle eine von der zuständigen Behörde seines Wohnsitzstaates auf seinen Namen ausgestellte Bescheinigung vorlegt, in der die Kenntnis der Behörde über die beim Empfänger anfallenden, grenzüberschreitend gezahlten Zinsen bestätigt wird. Diese Regelung ist zwar insoweit sinnvoll, als der Zweck der Quellenbe­ steuerung aufgrund der gesicherten Wohnsitzstaatsbesteuerung der Zinsen ent­ fällt. Sie bewirkt aber, daß die Möglichkeit einer Quellenbesteuerung und damit die Höhe des Steueraufkommens im Quellenstaat von der Entscheidung des Steuerausländers als Zinsempfänger abhängt. Diese für den Quellensteuerstaat nicht beeinfluß- und kalkulierbare Abhängigkeit dürfte einen hinsichtlich des Steueraufkommens nicht akzeptablen Aspekt des RL-Vorschlags darstellen. Aus der Sicht des Zinsempfängers wird der Verzicht auf den Quellensteuerabzug dann in seinem Interesse liegen, wenn seine Steuerprogression im Wohnsitzstaat geringer ist als die Quellensteuer oder er von dem Liquiditäts- und Zinsvorteil, der aufgrund des vollständigen Erhalts der Zinserträge bis zur späteren Veranla­ gung entsteht, profitieren kann.

Der RL-Vorschlag enthält weder Regelungen zur Lösung der gerade beschriebe­ nen Zufälligkeit im Steueraufkommen des Quellenstaates noch zur Milderung der davor geschilderten Unstimmigkeit des Koexistenzmodells für Mitgliedstaaten mit Informationssystem. Die entstehenden Verschiebungen beim Steueraufkom­ men der Mitgliedstaaten ließen sich durch einen Fiskalausgleich korrigieren, der

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in den neben der vorgeschlagenen Richtlinie fortbestehenden DBA geregelt wer­ den könnte1035. Statt eines Fiskalausgleichs könnte nach einer anderen DBA-Lö­ sung der Mitgliedstaat, der nach der Richtlinie Quellensteuer erhoben hat, sie dem Steuerpflichtigen auf Antrag erstatten, wenn das jeweils anwendbare DBA wie üblicherweise das Besteuerungsrecht dem Wohnsitzstaat zuweist und eine Quel­ lensteuer ausschließt bzw. nur einen niedrigeren Steuersatz gestattet. Auf diese Weise würde der Quellensteuerabzug allein der Sicherung einer Minimalbesteue­ rung der Zinserträge dienen; es würde kein Interesse der Mitgliedstaaten an dem Quellensteuersystem zur Steigerung des Steueraufkommens bestehen. Allerdings würde diese Quellensteuererstattung zur Korrektur von Steuerverschiebungen zwischen den Mitgliedstaaten nur bei einem ehrlichen Steuerpflichtigen funktio­ nieren, der die Rückgewähr der Quellensteuer beantragt. Im Falle eines unehrli­ chen Steuerpflichtigen, der die Quellensteuer definitiv werden läßt, bliebe es bei der Aufkommensverschiebung zugunsten der Quellensteuerländer. Dies ist eine deutliche Schwäche dieses Konzepts, die jedoch aufgrund der sonst erforderlichen komplizierten und schwer durchführbaren Regelungen eines Clearingverfahrens teilweise hingenommen wird1036.

Eine bessere Lösung zur Vermeidung von Verschiebungen im Steueraufkommen der Mitgliedstaaten bietet sich jedoch durch die Stärkung des Informationssy­ stems im Rahmen des Koexistenzmodells des RL-Vorschlags an. Das Informati­ onssystem nach Art. 7 könnte so ausgestaltet werden, daß die Gegenseitigkeit des Informationsaustauschs vorgegeben wird, d.h. der Mitgliedstaat mit Infor­ mationssystem einen Anspruch darauf hat, selber entsprechende Informationen aus dem Quellenstaat zu erhalten1037. Dieses Konzept stünde der Einführung oder Beibehaltung eines Quellensteuerabzugs im Rahmen des Koexistenzmodells nicht entgegen, ermöglichte aber den Informationslieferanten, die auf das Steuer­ aufkommen der Quellenbesteuerung verzichten, als Ausgleich die effektive Be­ steuerung ihrer Steuerinländer. Auf diese Weise würden die unbeschränkt Steu­ erpflichtigen in den Staaten mit Informationssystem auch mit ihren grenzüber­ schreitend erhaltenen Zinserträgen nach ihrer individuellen Leistungsfähigkeit besteuert. In den Quellensteuerländem würde das vorgestellte Konzept bei Zins­ erträgen ihrer Steuerinländer aus Staaten mit Informationssystem jedoch dazu fuh­ ren, daß ihnen die Informationen aufgrund des Gegenseitigkeitsvorbehalts ver­ weigert würden. Ihr durch den Quellehsteuerabzug erhöhtes Steueraufkommen könnte so im Falle einer größeren Anzahl unehrlicher Steuerinländer durch den 1035 Vgl. Kischel, IWB 1998/20 Fach 11, EG, Gruppe 2, S. 357, 363. 1036 So Kischel, IWB 1998/20 Fach 11, EG, Gruppe 2, S. 357, 364. 1037 Nachreiner, DStZ 1999, S. 486, 489.

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mit der verweigerten Information einhergehenden Steuerausfall ausgeglichen sein. Insgesamt würde die Einführung des Informationsaustauschs unter Gegen­ seitigkeitsvorbehalt die gerechte Besteuerung im Wohnsitzstaat fördern. Die Mit­ gliedstaaten würden verstärkt für das im Interesse der Steuergerechtigkeit vor­ zugswürdige Informationssystem optieren, und die eine Informationserteilung ablehnenden Staaten könnten die Quellenbesteuerung praktizieren. Diese Konse­ quenzen der Einführung des Informationsaustauschs auf Gegenseitigkeitsbasis verdeutlichen die Überlegenheit eines derartigen Konzepts. Aus diesem Grunde sollte der RL-Vorschlag in dieser Hinsicht erneut überdacht werden1038.

3.

Folgen für den Kapitalertragsteuerabzug bei Steuerausländern in Deutschland

Nach der Vorstellung des Inhalts und einer kritischen Betrachtung der vorgeschla­ genen Richtlinie ist in einem dritten Schritt auf die Folgen ihres Erlasses für den Kapitalertragsteuerabzug bei Steuerausländem in Deutschland einzugehen. Dabei sind zunächst die Vorschriften des deutschen Steuerrechts und danach die bilateralen DBA mit den übrigen EU-Mitgliedstaaten zu erörtern.

a)

Vorschriften des deutschen Steuerrechts

Von Steuerausländem kann der Steuerabzug nur im Rahmen ihrer Steuerpflicht nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 EStG vorgenommen werden1039, von der Zinsen aus Kapi­ talvermögen, das im Inland dinglich gesichert ist, Zinsen aus nicht verbrieften Ge­ nußrechten und sog. Tafelgeschäfte1040 erfaßt sind. Erstere unterliegen jedoch re­ gelmäßig nicht dem Kapitalertragsteuerabzug. Dieser kommt bei den Genußrech­ ten nur bei verbrieften Forderungen in Betracht. Es wird folglich, bis auf die Aus­ nahme der Tafelgeschäfte, in Deutschland bei von inländischen Zahlstellen an EU-Steuerausländer gezahlten Zinserträgen keine Kapitalertragsteuer erhoben. Angesichts dieser Rechtslage würde die Einführung des Informationssystems nach Art. 7 des RL-Vorschlags weniger einschneidende Änderungen des deut­ schen Steuerrechts erfordern als dies beim Quellensteuersystem der Fall wäre. So ist die nach Art. 4 erforderliche Identifikation des effektiven Empfängers der Zin­ sen bereits im Grundsatz der Kontenwahrheit nach § 154 AO angelegt und müßte 1038 Ebenso Nachreiner, DStZ 1999, S. 486,489. 1039 Heinicke, in: L. Schmidt, EStG, 20. Aufl., § 43 Rdnr. 1 u. 17; Lindberg, in: Blümich, EStG, § 43 Rdnr. 61. 1040 Definition in Kapitel 3 B. I. 1.

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nur hinsichtlich der Pflicht zur Vorlage einer Wohnsitzbestätigung für die Fest­ stellung des steuerlichen Wohnsitzes ergänzt werden. Es müßten im Einkommen­ steuerrecht und in der Abgabenordnung Vorschriften eingeführt werden, in der die inländischen Zahlstellen der Zinserträge zur Offenlegung der in Art. 7 Abs. 2 genannten Informationen gegenüber der zuständigen inländischen Steuerbehörde verpflichtet werden, damit diese der Übermittlungspflicht des Quellenstaates an den Wohnsitzstaat nach Art. 7 Abs. 1 und 3 gerecht werden kann. Dabei wären für die Mitteilungspflichten der Zahlstelle und der inländischen Steuerbehörde insbesondere Änderungen in den §§ 30 a und 31 AO erforderlich. Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß aufgrund des bereits jetzt gegebenen weitgehenden Fehlens der Quellenbesteuerung von Zinserträgen bei Steuerausländem durch das Inkraftsetzen des Informationssystems i.S.d. RL-Vorschlags keine nennenswerten Steuerausfälle entstehen würden.

Der oben aufgezeigte, durch den RL-Vorschlag entstehende Druck zur Entschei­ dung für das Quellensteuersystem1041 könnte allerdings für die zukünftige Einfüh­ rung einer Quellenbesteuerung bei Zinsen sprechen. Für das Quellensteuersystem bedürfte es einer Änderung in § 49 Abs. 1 Nr. 5 lit. c EStG, durch die die be­ schränkte Steuerpflicht auf die in Art. 5 aufgezählten Zinserträge nichtansässiger EU-Bürger erweitert würde und diese Zinserträge dem bereits nach §§43 ff. EStG bei Steuerinländem praktizierten Kapitalertragsteuerabzug unterworfen würden. Der Steuerabzug ist bereits nach jetziger Rechtslage von der ’’die Kapitalerträge auszahlende[n] Stelle” (vgl. § 44 Abs. 1 S. 3, 4 EStG), regelmäßig von der depot­ führenden Bank, subsidiär vom Schuldner, vorzunehmen, was der Abzugspflicht der Zahlstelle nach dem RL-Vorschlag entspricht1042. Der Kapitalertragsteueuerabzug in § 43 Abs. 1 EStG wäre, um dem RL-Vorschlag zu genügen, von Erträ­ gen aus Forderungen aller Art vorzunehmen. Das in § 38 b KAGG für inländische Investmentanteile vorgesehene System des Kapitalertragsteuerabzugs, das einen Steuerabzug bei Erträgen von Investmentfonds auch dann vorsieht, wenn eine Ausschüttung nicht erfolgt, müßte hinsichtlich der Beteiligung an Organismen i.S.d. Art. 5 lit. c geändert werden, da der RL-Vorschlag an die Ausschüttung anknüpft. Statt dessen wäre entsprechend Art. 5 lit. d der bei Einlösung realisierte Gewinn der Besteuerung zu unterziehen. Soweit Veräußerungsgewinne gemäß § 40 KAGG steuerfrei sind, wäre dies im Anwendungsbereich des Art. 5 lit. c ebenfalls zu ändern, da dort nicht auf die Herkunft der ausgeschütteten Erträge abgestellt wird, solange nur die 50 %-Grenze überschritten ist. Kein Kor­ 1041 Vgl. Kapitel 3 B. II. 2. b). 1042 Vgl. Kischel, IWB 1998/20 Fach 11, EG, Gruppe 2, S. 357,358.

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rekturbedarf besteht hinsichtlich der Besteuerung von ausländischen Investmentanteilen, soweit Zahlungen an Steuerinländer umfaßt sind, da der RL-Vorschlag für die Behandlung von Steuerinländem im Wohnsitzstaat keine Vorgaben macht. Für den seltenen Fall, daß eine deutsche Zahlstelle Erträge aus einem aus­ ländischen Investmentfond an einen EU-Steuerausländer auszahlt, müßte ein Ab­ zug entsprechend Art. 5 lit. c und d vorgeschrieben werden.

Eine wichtige Änderung ergäbe sich im Falle der Einführung des Quellensteuer­ systems bei der für beschränkt Steuerpflichtige vorgesehenen Abgeltungswirkung des Kapitalertragsteuerabzugs1043. Nach § 50 Abs. 5 S. 1 EStG gilt die Ein­ kommensteuer u.a. für Zinseinkünfte, die dem Kapitalertragsteuerabzug unter­ liegen, durch den Steuerabzug als abgegolten, so daß eine Erstattung nicht in Be­ tracht kommt. Diese Regelung müßte an Art. 10 Abs. 2 S. 2 des RL-Vorschlags angepaßt werden, indem ein Erstattungsverfahren vorgesehen wird, wenn die in Deutschland einbehaltene Kapitalertragsteuer die auf die Zinsen entfallende Einkommensteuer des Wohnsitzstaates des Zinsempfängers übersteigt1044. Die Einführung dieser neuen Erstattungsvorschrift würde sich auf die oben festge­ stellte Unvereinbarkeit der mit der Abgeltungswirkung nach § 50 Abs. 5 S. 1 EStG einhergehenden Bruttobesteuerung der Kapitaleinnahmen von Steueraus­ ländem auswirken1045. Bisher konnte sich die nachteilige Wirkung der Bruttobe­ steuerung im Quellenstaat nämlich dadurch auch bei der Quellensteueranrechnung im Wohnsitzstaat fortsetzen, daß die Formel des Anrechnungshöchstbetrages auf Nettoeinkünften beruhte1046 und somit nicht anrechenbare Quellensteuerüberhänge entstehen konnten. Dieses Problem würde für die Zinseinkünfte als eine Form der Kapitalerträge durch eine an Art. 10 Abs. 2 S. 2 des RL-Vorschlags angelehnte deutsche Steuervorschrift gelöst, da die für den Fall eines Anrechnungsüberhangs vorgesehene direkte Erstattung der Quellensteuer dazu führen würde, daß dem steuerausländischen Empfänger die auf die Zinseinkünfte entfallende Quellensteuer immer in voller Höhe durch Anrechnung bzw. Erstattung zurückgewährt würde. Auf diese Weise würde die grundsätzliche Bruttobesteue­ rung der Zinseinkünfte im Quellenstaat ihre nachteilige Wirkung für den grenz­ überschreitend agierenden Kapitalanleger verlieren.

1043 1044 1045 1046

Zur Vereinbarkeit der Abgeltungswirkung mit der Kapitalverkehrsfreiheit vgl. Kapitel 3 B. I. 1. Kritisch zu diesem Erstattungskonzept des RL-Vorschlags: Klapdor, EWS 1999, S. 94 f. Vgl. Kapitel 3 B. I. 1.; Schön, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 743, 772. Vgl. die in Kapitel 3 A. I. 2. b) aa) (2) dargestellte Anrechnungsformel nach Art. 23 A Abs. 2 S. 2 OECD-MA.

296

b)

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Regelungen der DBA mit den EU-Mitgliedstaaten

Die DBA weisen das Recht der Besteuerung von Zinsen grundsätzlich dem Wohnsitzstaat des Empfängers zu1047. Während die DBA mit Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich und Schweden ein Besteuerungsrecht des Quellenstaates nicht vorsehen, erlauben dies die DBA mit Belgien, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien. Die DBA sind immer so ausgestaltet, daß sie bilateral dieselben Besteuerungsrechte für beide Vertragsstaaten begründen. Dagegen fuhrt der RL-Vorschlag im derzeitigen Ent­ wurf nicht zu Gegenseitigkeitsverhältnissen. Würde in Deutschland das Quellen­ steuersystem nach Art. 8 eingefuhrt werden, würde damit gegen die erste Gruppe der DBA verstoßen. Die Einführung des Informationssystems i.S.d. Art. 7 würde einen solchen Verstoß dagegen nicht begründen, da Deutschland dann lediglich auf sein durch die DBA der zweiten Gruppe eingeräumtes Besteuerungsrecht verzichten würde.

Die Behandlung der ausländischen Zinseinkünfte in Deutschland als Wohnsitz­ staat ist folgendermaßen gestaltet: Die DBA mit Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich und Schweden sehen eine Freistellung ausländischer Zinseinkünfte von der Besteuerung vor, während die Abkommen mit Griechenland, Italien, Portugal und Spanien nur eine Anrechnung der ausländischen Steuer ermöglichen1048. Angesichts dieser Rechtslage stünde die generelle Anwendung des in Art. 10 Abs. 2 des RLVorschlags vorgesehenen Anrechnungsverfahrens im Gegensatz zu den meisten von Deutschland mit anderen Mitgliedstaaten abgeschlossenen DBA. Die Umset­ zung der Richtlinie durch nationales Recht würde also zu einem sog. treaty over­ riding fuhren1049, d.h. in diesem Fall der Aufhebung der innerstaatlichen Geltung der in den DBA vorgesehenen Freistellungsmethode durch die zeitlich nachfol­ gende nationale Steuergesetzgebung1050. Dies wäre zwar ein Verstoß gegen das

1047 Art. 11 Abs. 1 und 2 DBA-Belgien; Art. 11 Abs. 1 DBA-Dänemark; Art. 11 Abs. 1 DBA-Finnland; Art. 10 Abs. 1 DBA-Frankreich; Art. VII Abs. 1 und 2 DBA-Griechenland; Art. VII Abs. 1 DBA-Großbritannien; Art. VII Abs. 1 DBA-Irland; Art. 11 Abs. 1 und 2 DBA-Italien; Art. 14 Abs. 1 DBA-Luxemburg; Art 14 Abs. 1 DBA-Niederlande; Art. 11 Abs. 1 und 2 DBA-Österreich, DBA-Portugal, DBA-Spanien; Art. 11 Abs. 1 DBASchweden; vgl. Pöllath, in: Vogel, DBA, Art 11 Rdnr. 19. 1048 Vgl. Vogel, in: Vogel, DBA, Art. 23 Rdnr. 41. 1049 Nachreiner, DStZ 1999, S. 486, 491. 1050 Vg| Definition des OECD Committee on Fiscal Affairs, Tax Treaty Override, 1989, in: Model Tax Conven­ tion on Income and Capital, Volume II, R (8)-4: "the enactment of domestic legislation intended by the le­ gislature to have effects in clear contradiction to international treaty obligations".

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Völkerrecht, nicht aber gegen Gemeinschafts- oder innerstaatliches Recht1051. Das Gemeinschaftsrecht geht indes Verträgen unter Mitgliedstaaten gemäß Art. 307 EGV vor1052. Inhalt und Zweck des RL-Vorschlags lassen ein Nebeneinander von EU-Regelung und DBA nicht zu, so daß der RL-Vorschlag abkommensun­ verträglich ist1053. Die DBA müßten daher entsprechend angepaßt werden.

4.

Ergebnis

Die Untersuchung des RL-Vorschlags zur EU-Zinsbesteuerung hat gezeigt, daß dieses Gesetzesvorhaben unter Einhaltung der Kompetenzvorschriften des EGVertrages (Artt. 94, 5 Abs. 2 EGV) einen Beitrag zur optimalen Kapitalallokation innerhalb der EU leisten kann. Es gibt allerdings aufgrund der aufgezeigten Un­ stimmigkeiten noch einigen Nachbesserungsbedarf, der vor einem vorschnellen Erlaß der Richtlinie angegangen werden sollte. Die in Deutschland erforderlichen Gesetzesänderungen zur Umsetzung der Richtlinie können sowohl auf der Ebene des Einkommensteuerrechts als auch der Ebene der bilateralen DBA mit den übri­ gen Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bereiten. Es stellen sich jedoch keine unüberwindbaren rechtlichen Hindernisse.

5.

Änderungen für einen zukünftigen RL-Vorschlag aufgrund der jüngsten Schlußfolgerungen des ECOFIN-Rats

Die Schlußfolgerungen des Europäischen Rats vom 19./20. Juni 2000 und des ECOFIN-Rats vom 27. November 2000 werden dafür sorgen, daß ein zukünftiger Zinsrichtlinien-Vorschlag gegenüber dem alten RL-Vorschlag strukturell und in­ haltlich stark modifiziert ausfallen wird. Es soll nachfolgend ein Überblick über die Änderungen gegeben werden1054.

Der persönliche Anwendungsbereich einer zukünftigen Zinsrichtlinie bleibt ge­ genüber dem alten RL-Vorschlag auch auf der Grundlage der neuen Schlußfolge­ rungen gleich. Dies gilt fast durchgehend auf für den sachlichen Anwendungsbe­ 1051 1052 1053 1054

Debatin/Wassermeyer, DBA, MA, Art. 1 Rdnr. 12. Vogel, in: Vogel, DBA, Einl., Rdnr. 143. Vgl. Vogel, in: Vogel, DBA, Einl., Rdnr. 146. Der Überblick stützt sich mangels bisher offiziell zugänglicher Unterlagen ausschließlich und überwiegend wörtlich auf einen Aufsatz eines Oberregierungsrats des Bundesfinanzministeriums: Bernhard, DB 2001, S. 664 ff.

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reich. Abweichend ist hier die Erfassung von Erträgen aus thesaurierenden Fonds geregelt. Eine zukünftige Zinsrichtlinie wird nur diejenigen thesaurierenden Fonds erfassen, die mehr als 40 % ihres Sondervermögens in verzinslichen Titeln anlegen. Dadurch soll vermieden werden, daß schon bei geringfügigen Zinserträ­ gen die Pflichten nach der neuen Zinsrichtlinie ausgelöst werden. Die hohe Schwelle von 40 % soll allerdings in den folgenden Jahren abgesenkt werden, damit die neue Zinsrichtlinie nicht durch Ausrichtung der Anlagestrategie auf diesen Schwellenwert umgangen wird.

Es wurde in den Schlußfolgerungen für vor dem 01. März 2001 emittierte interna­ tionale Anleihen eine sogenannte Besitzstandsklausel (grandfathering) vereinbart, die diese Anleihen aus dem Anwendungsbereich der Zinsrichtlinie ausnimmt. Mit dieser Klausel sollen nicht zu kalkulierende Auswirkungen auf den Kapitalmarkt vermieden werden. Denn fast alle internationalen Anleihen enthalten Klauseln, die die Emittenten dazu verpflichten, den Anlegern für jedwede vom Staat des Emittenten erhobene Quellensteuer einen Ausgleich zu zahlen (gross-up-clauses). Mit dem Ziel, sich vor diesem Aufwand zu schützen, kann der Emittent vorzeitig die gesamte Emission zum Nennwert zurückkaufen. Da bei einem niedrigen Zinsniveau internationale Anleihen in der Regel deutlich über ihrem Nennwert liegen, hätte die Inanspruchnahme der - in vielerlei Formen existierenden - grossup und Rückkaufklauseln bei Inkrafttreten der neuen Zinsrichtlinie zu hohen Verlusten bei den Investoren (z.B. Pensionsfonds, Versicherungen) führen kön­ nen.

Zur Aufstockung der bis zum 01. März 2001 begebenen Anleihen hat der ECOFIN-Rat beschlossen, daß auch diese unter die Besitzstandsklausel fallen. Allerdings lassen nach dem 01. März 2002 vorgenommene Aufstockungen staat­ licher Anleihen die gesamte Anleihe (einschließlich der Ursprungsanleihe) aus der Besitzstandsklausel herausfallen. Werden andere als staatliche Anleihen nach dem 01. März 2002 aufgestockt, so fallen nur diese Aufstockungen nicht unter die Besitzstandsklausel. Dagegen findet die neue Zinsrichtlinie auf die Ursprungs­ anleihe und die bis zum 01. März 2002 vorgenommenen Aufstockungen weiterhin Anwendung.

Das im alten RL-Vorschlag festgelegte Koexistenzmodell wird in der zukünftigen Zinsrichtlinie auf bestimmte Mitgliedstaaten beschränkt und zeitlich befristet. Für einen Übergangszeitraum von längstens sieben Jahren nach Inkrafttreten der Zins­

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richtlinie werden drei Mitgliedstaaten - Belgien, Luxemburg, Österreich - an­ stelle des Systems des Informationsaustauschs ein eigenständiges System der Quellensteuererhebung einfuhren. Bei diesem System erheben die drei genannten Mitgliedstaaten Quellensteuer auf dort anfallende Zinserträge ausländischer An­ leger und überweisen dem Mitgliedstaat, in dem der effektive Empfänger seinen Wohnsitz hat, einen Anteil an den Steuereinnahmen (revenue-sharing). Nach Ab­ lauf des Übergangszeitraums sollen auch diese Mitgliedstaaten zum System des Informationsaustauschs übergehen. Das im alten RL-Vorschlag grundsätzlich neben dem Informationsaustausch vorgesehene Quellensteuersystem (Ko­ existenzmodell) stieß bei den Vertretern einiger Mitgliedstaaten auf vehemente Gegenwehr. Es wurde vorgetragen, mit der Erhebung der Quellensteuer sei ein so hoher administrativer und finanzieller Aufwand verbunden, daß eine Verlagerung des Anleihenmarkts in außereuropäische Staaten befurchtet werden müsse. Die in Europa belegenen Zahlstellen müßten feststellen, wer die Empfänger der Zinser­ träge seien und wie hoch die Bemessungsgrundlage für die Quellensteuer sei. Diese bedeute eine kostenintensive Umstellung sämtlicher IT-Systeme. Zudem könnte die Erhebung der Quellensteuer wegen der gross-up-clauses zur vorzeiti­ gen Tilgung eines großen Teils aller ausstehenden Anleihen und damit zu einer heftigen Störung des internationalen Kapitalmarkts fuhren. Allein die bei den In­ vestoren entstehenden Verluste würden auf 7,5 Mrd. bis 18 Mrd. Euro geschätzt. Schließlich sei die Erhebung einer Quellensteuer nicht mit den Zielen der Zins­ richtlinie vereinbar, da sie im Wesentlichen nur durch den Willen zur Beibehal­ tung der Vorschriften über das Bankgeheimnis motiviert sei. Das Bankgeheimnis behindere aber gerade den Zugang der Steuerbehörden zu Bankinformationen und damit die Überprüfung der Besteuerung der Zinserträge.

Das System des Informationsaustauschs wird auch in einer zukünftigen Zinsricht­ linie gegenüber dem alten RL-Vorschlag keine tiefgehenden Veränderungen er­ fahren. Bei dem System der Quellensteuererhebung findet sich statt des 20 %Satzes des RL-Vorschlags eine Abstufung der Steuersätze. Der Quellensteuersatz beträgt in den ersten drei Jahren des Übergangszeitraums 15 % und während des verbleibenden Zeitraums 20 %. Der effektive Empfänger kann sich wie unter dem alten RL-Vorschlag statt des Quellensteuerabzugs für den Informationsaustausch entscheiden.

Neu eingeführt wird in eine zukünftige Zinsrichtlinie die Aufteilung der Steuer­ einnahmen (revenue-sharing). Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung im Juni 2000 beschlossen, daß die Mitgliedstaaten, die eine Quellensteuer erheben, einen

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angemessenen Anteil der Steuereinnahmen an den Wohnsitzstaat des effektiven Empfängers abfuhren müssen. Der ECOFIN-Rat hielt in seinen Schluß­ folgerungen vom 27. November 2000 einen Anteil in Höhe von 75 % der Steuer­ einnahmen für angemessen. Damit verbleiben dem Mitgliedstaat, der eine Quel­ lensteuer erhebt, 25 % der Einnahmen. Die Einführung einer Aufteilung der Steuereinnahmen ergibt sich aus dem Grundprinzip der Zinsrichtlinie, daß Zins­ erträge nur im Wohnsitzstaat des effektiven Empfängers besteuert werden und diesem damit auch die Steuereinnahmen zukommen sollen. Dieses Prinzip ist solange gewahrt, wie der Wohnsitzstaat des effektiven Empfängers aufgrund einer Mitteilung aus dem anderen Mitgliedstaat die Besteuerung und damit seine Steuereinnahmen sicherstellen kann. Der Wohnsitzstaat des effektiven Empfän­ gers kann die Zinserträge aber dann nicht besteuern, wenn der effektive Empfän­ ger sein Kapital in einem Mitgliedstaat anlegt, der sich für die Quellensteuererhe­ bung entschieden hat, und er die daraus erzielten Zinserträge gegenüber den Fi­ nanzbehörden seines Wohnsitzstaats nicht erklärt. Es bleibt dann bei der Besteue­ rung im Quellenstaat. Durch die Überweisung von 75 % der Quellensteuerein­ nahmen erhält der Wohnsitzstaat des effektiven Empfängers zumindest einen Teil seiner Steuereinnahmen.

Nach den Schlußfolgerungen des ECOFIN-Rats vom 27. November 2000 soll jegliche Doppelbesteuerung der unter die Zinsrichtlinie fallenden Zinserträge in zwei Schritten vermieden werden. Zuerst werden nach dem Recht der DBA erho­ bene Quellensteuem auf die Steuerschuld des effektiven Empfängers angerechnet; anschließend werden aufgrund der Zinsrichtlinie einbehaltene Quellensteuem angerechnet bzw. dem effektiven Empfänger erstattet. Anders als in Art. 8 Abs. 1 des alten RL-Vorschlags bleibt ein in den DBA vereinbartes Recht zur Quellenbe­ steuerung der Zinsen unberührt. Dies bedeutet bei Zinseinkünften in Deutschland ansässiger Anleger aus Belgien und Östeneich eine zweifache Quellensteuerbe­ lastung: erstens eine Quellenbesteuerung nach den DBA-Vorschriften, zweitens eine Quellenbesteuerung nach der Zinsrichtlinie. Diese zweifache Quellensteuer­ belastung ist nach der Auffassung der meisten Vertreter der Mitgliedstaaten je­ doch nicht ungerecht, da dem Steuerpflichtigen bei Erklärung der Zinserträge im Wohnsitzstaat die Quellensteuem angerechnet bzw. erstattet werden. Darüber hinaus lassen die nebeneinander bestehenden Systeme die Zuordnung der Be­ steuerungsrechte und damit die Verteilung des Steueraufkommens unberührt. In die Aufteilung der Steuereinnahmen gehen nur die aufgrund der Zinsrichtlinie erzielten Steuereinnahmen ein.

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Die Definition der Zahlstelle wird gegenüber dem alten RL-Vorschlag aufgrund der neuen Schlußfolgerungen in einer zukünftigen Zinsrichtlinie erheblich erwei­ tert werden. Zahlstelle ist grundsätzlich auch jede Einrichtung an die Zinsen ge­ zahlt werden, es sei denn, die Zahlung erfolgt an eine natürliche Person, eine juri­ stische Person, eine Rechtseinheit, die der Besteuerung unterliegt oder einen In­ vestmentfonds im Sinne der Richtlinie des Rats vom 20. Dezember 1985 zur Ko­ ordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Orga­ nismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren1055. Hintergrund dieser Erwei­ terung ist die Einbeziehung aller Zinserträge, unabhängig davon, ob sie von Wirtschaftsbeteiligten, Investmentfonds oder anderen Einrichtungen (z.B. Perso­ nengesellschaften, vermögensverwaltenden Gesellschaften, Trusts) erwirtschaftet werden. Nur in bestimmten Fällen sind jedoch der Zahlstelle, die die Auszahlung der erwirtschafteten Beträge an den effektiven Empfänger vornehmen soll, die effektiven Empfänger und die Zusammensetzung der auszuzahlenden Beträge bekannt. Hier können diese ’’nachgelagerten“ Zahlstellen die Verpflichtungen nach der Zinsrichtlinie, d.h. Informationsaustausch oder Quellensteuerabzug, wahmehmen. In allen anderen Fällen, in denen weder der effektive Empfänger noch die Zusammensetzung der auszuzahlenden Beträge bekannt ist, können die Verpflichtungen der Zinsrichtlinie nur von den Einrichtungen, die die Zinserträge erwirtschaften, selbst und nicht von der ’’nachgelagerten Zahlstelle“ erfüllt wer­ den. Sie gelten daher als Zahlstelle, können sich aber wahlweise wie Investments­ fonds im Sinne der oben genannten Richtlinie vom 20. Dezember 1985 behandeln lassen.

Mit den Schlußfolgerungen des ECOFIN-Rats vom 27. November 2000 wurden die wesentlichen Elemente der zukünftigen Zinsrichtlinie planmäßig zum 31.12.2000 festgelegt. Damit die Richtlinie verabschiedet werden kann, soll nun in einem weiteren Schritt bis Ende 2002 mit den USA, der Schweiz, Liechten­ stein, Andorra, Monaco und San Marino sowie den Kanalinseln, der Isle of Man und weiteren abhängigen und assoziierten Gebieten über die Einführung gleich­ wertiger Maßnahmen verhandelt werden. Nach erfolgreichem Abschluß der Ver­ handlungen soll die Zinsrichtlinie zum 01. Januar 2003 verabschiedet werden. Sie ist dann noch in das nationale Recht der Mitgliedstaaten umzusetzen.

1055 ABI. EG Nr. L 375 vom 31.12.1985, S. 3 ff.

Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

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Kapitel 4: Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen 1. Die Kapitalverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV erfaßt indirekte/mittelbare und potentielle Beschränkungen des KapitalVerkehrs. Daher können mitgliedstaatliche Steuervorschriften, die den Kapitalverkehr nicht rechtlich beoder verhindern, sondern nur aus ertragsorientierter Sicht unattraktiver machen, an dieser Grundfreiheit gemessen werden.

2. Die Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit, d.h. ihre "Schranken" im Sinne der deutschen Grundrechtsdogmatik, sind in Art. 58 Abs. 1 und 2 EGV geregelt. Sie müssen den Anforderungen des Art. 58 Abs. 3 EGV gerecht werden, der die Rechtfertigung von Eingriffen in die Kapitalverkehrsfreiheit als sogenannte "Schranken-Schranke" begrenzt.

3. Im Falle der gleichzeitigen Betroffenheit der Niederlassungs- oder Dienstlei­ stungsfreiheit neben der Kapitalverkehrsfreiheit können bei steuerrechtlichen Normen beide Grundfreiheiten kumulativ Anwendung finden. Dabei sind die "Schranken" der Niederlassungsfreiheit gern. Art. 58 Abs. 2 EGV bei der Prüfung der Kapitalverkehrsfreiheit zu berücksichtigen, die "Schranken" der Dienst­ leistungsfreiheit dagegen mangels analoger Anwendung des Art. 58 Abs. 2 EGV nicht. Umgekehrt können die "Schranken" der Kapitalverkehrsfreiheit sowohl Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit als auch solche der Dienstlei­ stungsfreiheit rechtfertigen.

4. Der personelle Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit erstreckt sich auf alle natürlichen und juristischen Personen unabhängig von ihrer Ansässigkeit in der EU und ihrer Staatsangehörigkeit, deren Kapital rechtmäßig innerhalb der EU oder zwischen einem Drittland und der EU transferiert wird.

5. Die Vorschrift des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV stellt eine "Schranke" der Kapi­ talverkehrsfreiheit dar, die durch Steuemormen begründete Eingriffe in die Grundfreiheit rechtfertigt. Der Regelung kommt bei kapitalverkehrsbeschrän­ kenden Steuemormen eine konstitutive Bedeutung als eingriffsrechtfertigende "Schranke" zu, wobei die "Schranke" abschließenden Charakter besitzt. Sie läßt

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Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

Kapitalverkehrsbeschränkungen bei Vorliegen bestimmter materieller Gründe (z.B. Kohärenz des Steuerrechts) zu, die die nach Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV zu­ lässige Differenzierung nach dem Wohn- oder Kapitalanlageort des Steuer­ pflichtigen bestimmen. Die Norm liefert so einen materiellen Rechtfertigungs­ grund für einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit, der den Anforderungen des Art. 58 Abs. 3 EGV als ’’Schranken-Schranke” gerecht werden muß.

6. Mit Blick auf die innere Systematik des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV meint der ’’Wohnort” die abkommensrechtliche Ansässigkeit des kapitalanlegenden Steuer­ pflichtigen, der ’’Kapitalanlageort” die abkommensrechtliche Ansässigkeit des Kapitalnehmers. Über die nach Art. 58 Abs. 1 lit. a 2. Fall EGV zulässige unter­ schiedliche Behandlung des Steuerpflichtigen nach dem ’’Kapitalanlageort” wird die steuerrechtliche Differenzierung nach der Ansässigkeit des Kapitalschuldners erlaubt.

7. Die Vorschrift des Art. 58 Abs. 3 EGV begrenzt als ’’Schranken-Schranke” auch die Rechtfertigungsmöglichkeit für kapitalverkehrsbeschränkende Steuer­ normen in Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV. Neben den ausdrücklich genannten, die Eingriffsrechtfertigung begrenzenden Kriterien der ’’willkürlichen Diskriminie­ rung” und ’’verschleierten Beschränkung” ist bei der Prüfung des Art. 58 Abs. 3 EGV der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Grenze der Rechtfertigungsgründe zu berücksichtigen.

8. Die sogenannte Rechtsbruchverhinderungsklausel des Art. 58 Abs. 1 lit. b 1. Fall EGV, die den Mitgliedstaaten erlaubt, die unerläßlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Vorschriften des Steuer­ rechts zu verhindern, stellt, wie Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV, eine ’’Schranke” der Kapitalverkehrsfreiheit dar. Sie unterliegt ebenfalls der ’’Schranken-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV.

9. Die Betrachtung der EuGH-Rechtsprechung zeigt, daß bei steuerrechtlich be­ dingten Eingriffen in die Grundfreiheiten die Kapitalverkehrsfreiheit häufig neben einer anderen Grundfreiheit anwendbar ist. Aufgrund der kumulativen Anwend­ barkeit kommt Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV als ’’Schranke” eine über die Kapitalver­ kehrsfreiheit hinausgehende Bedeutung auch für steuerrechtlich begründete Nie­ derlassungs- und Dienstleistungsbeschränkungen zu. Beim Umgang mit dem über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranziehbaren Rechtfertigungsgrund der Kohärenz der

Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

Steuerrechtsordnung bildet die ’’Makro-Kohärenz”, d.h. Berücksichtigung von DBA kohärente Steuersystem, den Maßstab.

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das

unter

10. Die Untersuchung des "avoir fiscaF'-Falls1056 unter Anwendung der Vorschrif­ ten der Artt. 56 ff. EGV zeigt die zentrale Bedeutung der eingriffsrechtfertigenden "Schranke" des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV fur kapitalverkehrsbeschränkende Steu­ emormen. Die Norm eröffnet über die zulässige differenzierende Behandlung nach dem unterschiedlichen Wohnort des Steuerpflichtigen den Zugang zu verschiedenen materiellen Rechtfertigungsgründen (Kohärenz, Gefahr der Steuerflucht), die sich im Sachverhalt jedoch als nicht einschlägig erweisen.

11. In der "Bachmann"-Entscheidung1057 bleibt das vom EuGH herangezogene Abgrenzungskriterium zwischen der Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit unklar. Vermutlich betrachtete der EuGH die Kapitalverkehrsfreiheit aufgrund der für den Sachverhalt größeren Sachnähe der Dienstleistungsfreiheit als nachrangig. Dieses Kriterium erweist sich aber aufgrund der gleichrangigen Sachnähe der Kapitalverkehrsfreiheit für die untersuchten steuerrechtlich bedingten Kapitalverkehrsbeschränkungen als nicht haltbar.

12. Der EuGH hat in der "Bachmann"-Entscheidung durch den Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit Art. 61 Abs. 2 EGV a.F. (jetzt Art. 51 Abs. 2 EGV) eine für die Dogmatik der Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit notwendige Klarstellung verpaßt. Eine Aussage im Interesse der Dogmatik und der Stringenz der EuGH-Rechtsprechung mußte sich angesichts der vorherigen "van Eycke/ASPA"-Entscheidung1058 aufdrängen und hätte die erneute dogmatische Undeutlichkeit in der "Svensson/Gustavsson"-Entscheidung1059 vermeiden kön­ nen.

13. Bei der Anwendung der Artt. 56 ff. EGV auf den "Bachmann"-Fall ist festzu­ stellen, daß sich die durch die belgische Steuemorm begründete Kapitalverkehrs­ beschränkung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV nicht durch die "Schranke" des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV rechtfertigen läßt, da sowohl die Kohärenz der Steuerrechtsord­

1056 1057 1058 1059

EuGH, Urt. EuGH, Urt. EuGH, Urt EuGH, Urt

v. v. v. v.

26.01.1986, Rs. 28.01.1992, Rs. 21.09.1988, Rs. 14.11.1995, Rs.

C-270/83, Sig. C-204/90, Sig. C-267/86, Sig. C-484/93, Sig.

1986, S. 273 ff. I 1992, S. 249 ff. 1988, S. 4769 ff. I 1995, S. 3955 ff.

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Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

nung als auch die steuerliche Gerechtigkeit als materielle Rechtfertigungsgründe ausscheiden.

14. Im ”Safir”-Sachverhalt1060 läßt sich die Kapitalverkehrsbeschränkung durch die schwedischen Steuerregelungen nicht durch die ’’Schranke” des Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV rechtfertigen, da beide materiellen Rechtfertigungsgründe, die Kohä­ renz des Steuerrechts und die wirksame steuerliche Kontrolle, dem Verhältnis­ mäßigkeitsgrundsatz und damit der ’’Schranken-Schranke” des Art. 58 Abs. 3 EGV nicht gerecht werden. Die schwedischen Normen sind im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit europarechtswidrig.

15. Das auf inländische Sachverhalte (inländische ausschüttende Körperschaft, in­ ländische Anteilseigner) begrenzte deutsche Körperschaftsteuersystem löst das Problem der wirtschaftlichen Doppelbelastung des von einer inländischen Körper­ schaft ausgeschütteten Gewinns durch die Körperschaftsteuer des ausschüttenden Unternehmens und die Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer des inländischen Anteilseigners. Mit Blick auf die Kapitalverkehrsfreiheit stellt sich die Frage, ob das Anrechnungssystem auf ausländische Sachverhalte (ausländische ausschüttende Körperschaft, ausländische Anteilseigner) auszudehnen ist.

16. Das Fehlen der Körperschaftsteueranrechnung für den Steuerausländer stellt grundsätzlich eine Diskriminierung i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV dar. Allerdings ist für die Vermeidung der Diskriminierung nicht der keine Körperschaftsteueranrechung an den Steuerausländer gewährende Quellenstaat, sondern vorrangig der Wohnsitzstaat des Anteilseigners verantwortlich. Daher scheidet ein Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit, der durch die Steuemormen des Quellenstaates be­ dingt ist, aus.

17. Die Nichtanrechnung ausländischer Körperschaftsteuer bei inländischen An­ teilseignern (vgl. § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG) ist als Eingriff in die Kapitalver­ kehrsfreiheit durch den über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranzuziehenden materiel­ len Rechtfertigungsgrund der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohn­ sitz- und Quellenstaat, der der Differenzierung nach dem Kapitalanlageort des Steuerpflichtigen zugrundeliegt, gerechtfertigt.

1060 EuGH, Urt v. 28.04.1998, Rs. C-l 18/96, Sig. I 1998, S. 1897 ff.

Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

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18. Die im deutschen Steuerrecht für deutsche Anteilseigner vorgesehene Ver­ wehrung des Körperschaftsteueranrechnungsguthabens für die von einer auslän­ dischen Körperschaft im Inland erwirtschafteten Gewinne ist als Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit durch den über Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV heranzuziehen­ den materiellen Rechtfertigungsgrund der technischen Schwierigkeiten der Anrechnung gerechtfertigt.

19. Die im deutschen Steuerrecht gegenüber der inländischen Körperschaft ausge­ sprochene Verwehrung der Möglichkeit der ’’Durchreichung” der Anrechnung der ausländischen Körperschaftsteuer an den inländischen Anteilseigner stellt einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit dar, der aufgrund der Rechtfertigung durch das Kohärenzargument der Wahrung der fiskalischen Lastengerechtigkeit zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat zulässig ist.

20. Das Steuersenkungsgesetz beinhaltet mit der Abschaffung des Systems der vollständigen Anrechnung der inländischen Körperschaftsteuer (Vollanrech­ nungssystem) und der Einführung eines Verfahrens, bei dem die Dividenden nur zur Hälfte der Einkommensbesteuerung des Anteilseigners unterliegen (Halbein­ künfteverfahren), ein mit der Kapitalverkehrsfreiheit zu vereinbarendes Konzept. Das Steuersenkungsgesetz vermeidet im Unterschied zum noch anwendbaren Körperschaftsteuersystem bereits den Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit.

21. Der mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 aufgehobene §23 Abs. 3 KStG stellte einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Kapitalver­ kehrsfreiheit dar. Die Aufhebung der Norm hat den Verstoß gegen die Kapital­ verkehrsfreiheit noch nicht vollständig behoben, da die Gleichstellung der Be­ triebstätte mit der hundertprozentigen, vollausschüttenden Tochtergesellschaft noch nicht erreicht wurde.

22. Die im deutschen Steuerrecht vorgesehene Bruttobesteuerung der Kapitalein­ nahmen von Steuerausländem verstößt mangels Rechtfertigung durch Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV gegen die Kapitalverkehrsfreiheit. Statt der Abgeltungswirkung des Kapitalertragsteuerabzugs gern. § 50 Abs. 5 S. 1 EStG muß das Einkommen­ steuergesetz, parallel zu seiner Grundaussage zum Werbungskostenabzug in § 50 Abs. 1 S. 1 EStG, vorsehen, daß auch der beschränkt Steuerpflichtige seine im wirtschaftlichen Zusammenhang mit den inländischen Kapitaleinkünften stehen­ den Werbungskosten abziehen kann.

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Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen

23. Die bei der Zinsabschlagsteuer vorliegende Schlechterstellung des Steuerin­ länders gegenüber dem Steuerausländer unterfällt wegen des reinen Inlandssach­ verhalts bei der inländischen Kapitalanlage des Steuerinländers nicht dem Schutz­ bereich der Kapitalverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 56 Abs. 1 EGV.

24. Die deutsche Anrechnungsformel für ausländische Kapitalertragsteuem greift weder aufgrund der Anrechnungsgrenze des anteiligen deutschen Einkommen­ steuerbetrages (ordinary credit) noch aufgrund der Pro-Staat-Begrenzung (percountry-limitation) gemäß Art. 56 Abs. 1 EGV in die Kapitalverkehrsfreiheit ein. Sie ist europarechtskonform.

25. Der Richtlinienvorschlag zur EU-Zinsbesteuerung kann einen Beitrag zur op­ timalen Kapitalallokation innerhalb der EU leisten. Die in Deutschland erforderli­ chen Gesetzesänderungen zur Umsetzung der Richtlinie können sowohl auf der Ebene des Einkommensteuerrechts als auch der Ebene der bilateralen DBA mit den übrigen Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bereiten. Im Einkommensteuerrecht müßte § 50 Abs. 5 S. 1 EStG dahingehend geändert werden, daß ein Erstattungs­ verfahren vorgesehen wird, wenn die in Deutschland einbehaltene Kapitalertrag­ steuer die auf die Zinsen entfallende Einkommensteuer des Wohnsitzstaates des Zinsempfängers übersteigt. Im Abkommensrecht stünde die generelle Anwendung des in Art. 10 Abs. 2 des RL-Vorschlags vorgesehenen Anrechnungsverfahrens im Gegensatz zu den meisten von Deutschland mit anderen Mitgliedstaaten abge­ schlossenen DBA. Der RL-Vorschlag wäre abkommensunverträglich, da sein In­ halt und Zweck ein Nebeneinander von EU-Regelung und DBA nicht zulassen. Die von Deutschland abgeschlossenen DBA müßten daher entsprechend angepaßt werden.

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