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German Pages 579 [580] Year 2013
Simone Liedtke Freiheit als Marionette Gottes
Theologische Bibliothek Töpelmann
Herausgegeben von Bruce McCormack, Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel
Band 160
Simone Liedtke
Freiheit als Marionette Gottes Der Gottesbegriff im Werk des Sprachphilosophen Bruno Liebrucks
DE GRUYTER
Die vorliegende Publikation wurde 2011 mit dem Titel „Freiheit als Marionette Gottes. Eine Untersuchung über den Gottesbegriff im Werk des Sprachphilsophen Bruno Liebrucks“, als Dissertation vom Fachbereich 02 (Geistes- und Kulturwissenschaften, Institut für Evangelische Theologie) an der Universität Kassel angenommen. Tag der Disputation: 30.01.2012
ISBN 978-3-11-031115-0 e-ISBN 978-3-11-031131-0 ISSN 0563-4288 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
“Dilige, et quod vis fac.” Augustinus In epistulam Ioannis ad Parthos, tract. VII, cap. IV, 8
Meiner Mutter, Brigitte Liedtke, in Liebe zugeeignet.
Vorwort Mit seiner „Philosophie von der Sprache her“ hat der Frankfurter Philosoph Bruno Liebrucks (1911– 1986) eine, wenn auch deutlich an Hegel orientierte, so doch nonkonformistische Logik und Metaphysik geschaffen, die nicht zuletzt eine Herausforderung für die Theologie darstellt. Den Grund seiner Philosophie sieht Liebrucks in „der Sprache“, die er weder als triviales Sprachgeschehen noch im Sinne sprachwissenschaftlicher oder sprachphänomenologischer Betrachtungen versteht, sondern als logische Kategorie, angelehnt an den Hegelschen „Begriff“. Dieses ungewöhnliche Verständnis von Sprache ist inspiriert von der johanneischen Logos-Theologie. Liebrucks nimmt das Changieren des griechischen Terminus‘ λογος zwischen „Vernunft“ und „Wort“ ernst und eröffnet eine neue, gleichermaßen erfahrungsbezogene wie spekulative Auseinandersetzung mit christlicher Tradition und biblischen Schriften. Nachvollzug und Darstellung seiner Philosophie des Logos führen zu einer Neubetrachtung des Gottesbegriffs, dessen Darstellung und Kritik das thematische Zentrum der vorliegenden Untersuchung bilden. Die Arbeit am Gottesbegriff vollzieht Liebrucks im Kontext der Diskussion des Freiheitsthemas, das vornehmlich über die Auseinandersetzung mit der qualitativen Beschaffenheit der Freiheit des Menschen angesichts eines existierenden Gottes gewonnen wird. Liebrucks formuliert seine Betrachtungen zu diesem Thema entlang eines motivischen roten Fadens: Der Mensch ist Marionette Gottes. Diese gängige Metapher erhält eine spezifische, paradoxal anmutende Näherbestimmung: Nur als Marionette des (christlichen) Gottes ist der Mensch frei. Denn für den Menschen ist die eigene Freiheit eine begrenzte und verdankte, Zuspruch und Anspruch zugleich. Liebrucks thematisiert die Entfaltung geschöpflicher Freiheit angesichts der absoluten Freiheit des Schöpfers über das Verständnis von Identität als Aushalten von Nicht-Identität. Die Relevanz des Gottesbegriffs besteht für den Menschen darin, in ihm zugleich den Begriff seines wahren Menschseins formuliert zu finden: Seine Wahrheit als Übereinstimmung mit sich selbst in der Spannung von Selbstentsprechung und Selbstverfehlung hat die logische Struktur des Logos, in dem der Schöpfer sich in seine Schöpfung entäußert und sich in diesem BeimAnderen-bei-sich-selbst-Sein als der absolut mit sich Identische erweist. In der begrifflichen Erschließung der logischen Struktur von Identität als Dialektik von Identität und Nicht-Identität erkennt Liebrucks die Aufgabe der Philosophie als Darlegung der Logik des Logos, in dem Gott und Mensch sich wechselseitig bezeugen. „Ohne Philosophie kann der Mensch sich weder als Individuum noch als Gesellschaftswesen begreifen. Zwar ist der Begriff nicht ohne Anstrengung zu gewinnen, aber ohne diese Anstrengung gewinnt der Mensch sich überhaupt nicht.“ (SuB III, 511.)
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Vorwort
Bevor ich mit meiner Darstellung und Deutung des philosophischen Werkes Bruno Liebrucks‘ zu der benannten „Anstrengung“ einlade, möchte ich an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank an all diejenigen richten, die mich bei der Anfertigung der vorliegenden Dissertationsschrift unterstützt und begleitet haben: Die vorliegende Publikation wurde 2011 als Dissertationsschrift von der Universität Kassel angenommen. Die Begutachtung haben Herr Prof. Dr. Tom Kleffmann (Kassel) und Herr Prof. Dr. Joachim Ringleben (Göttingen) übernommen, wofür ich ihnen herzlich danke. Herr Prof. Dr. Kleffmann ermöglichte mir durch eine Mitarbeit am Institut für Evangelische Theologie (Systematik) als Wissenschaftliche Mitarbeiterin geeignete berufliche Rahmenbedingungen, um die Fertigstellung des Dissertationsprojektes zu bewerkstelligen. Vor allem Herrn Prof. Dr. Ringleben bin ich für die Förderung und Betreuung meines Dissertationsprojektes zu Dank verpflichtet. Ihm verdanke ich auch die „Bekanntschaft“ mit Liebrucks. Mir die in Umfang und Intensität herausfordernde Erarbeitung des Werkes Bruno Liebrucks‘ zu- und anzuvertrauen, ist sein Verdienst. Von Beginn bis zum Abschluß meiner Liebrucksstudien und deren Publikation hat er mich stets wohlwollend und gewissenhaft begleitet. Dankbar verbunden bin ich ebenso der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers für die Doktorandenstelle als Repetentin im ehemaligen Gerhard-Uhlhorn-Konvikt (Göttingen), die es mir in den ersten zwei Jahren meiner Forschung gestattet hat, mich berufsbegleitend meinen Studien zu widmen. Zu danken habe ich weiterhin dem Verlag Walter de Gruyter für die freundliche und kompetente Betreuung meiner Publikation und Frau Prof. Dr. Friederike Nüssel sowie den Herren Prof. Dr. Bruce McCormack und Prof. Dr. Christoph Schwöbel für die Aufnahme in die Theologische Bibliothek Töpelmann. Mein Dank gilt aber insbesondere meinen Eltern, Brigitte Liedtke und Rainer Pagel, deren Verständnis und Geduld mich durch die Jahre der Arbeit an diesem Buch getragen und ermutigt haben. Ihre uneingeschränkte Förderung meiner Studien und ihre liebevolle wie tatkräftige Unterstützung haben das Entstehen des vorliegenden Buches erst ermöglicht. Auch ihr Engagement während der Korrekturarbeiten auf dem Weg zur Publikation weiß ich über die Maßen zu schätzen. Emden, im November 2012
Simone Liedtke
Inhalt Vorwort . A. B. C. D.
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1 Einleitung 1 Wer war Bruno Liebrucks? Sprachphilosophie – Anliegen und Methode 5 Die Sprache Bruno Liebrucks’ 14 Literarische Grundlage und formaler Aufbau der vorliegenden Untersuchung 17
Erster Hauptteil: Liebrucks’ Philosophie der Sprache
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25 . Lingua docet Logicam A. Von den Ursprüngen 26 29 B. Der Logos als Mythos I. Die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen: Welterfahrung und Sprache des Mythos 31 II. Die Rehabilitation des Mythos 37 C. Die logische Struktur der Sprache 44 44 I. Sprache als Weltumgang II. Sinn und Sinnlichkeit 48 III. Unbestimmtheit und Entsprechung 53 IV. Die Dreistrahligkeit semantischer Relation – Bühlers Organonmodell 66 V. Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung 68 VI. Idealrealität – Realidealität 72 73 D. Sprachformen I. Zeichen 73 II. Bedeutung 77 III. Metapher 81 IV. Begriff 83 E. Bewußtsein als Bewußt-Sein 85 I. Der logische Weltumgang des Menschen als Bewußt-Sein 86 93 II. Die Wahrheit des Logos als Geist III. Sprache und Denken 96 F. Sprache und Handlung 100 G. Formale Logik – Sprachliche Logik 105 H. Die drei Revolutionen der Denkart 122 I. Zwischenfazit: Die Unentrinnbarkeit der Sprache 130
X
Inhalt
Zweiter Hauptteil: Der Gottesbegriff im Werke Bruno Liebrucks’
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139 . Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks 139 A. Hinführung I. Zum Begriff des Begriffs 139 II. Von Gott reden, um die Wahrheit zu sagen 141 B. Existenz Gottes 145 I. Metaphysik auf neuen Wegen – Kants transzendentallogische Kritik 147 II. Existiert Gott? 152 C. Kritik an der Kritik: Mit Kant über Kant hinaus 163 D. Gott gibt (sich) zu denken 173 174 I. Vom Beweis zum Begriff II. Gottesbegriff – Gott als Begriff 182 E. Gottes Sein ist im sprachlichen Werden 186 I. Unmittelbares Bewußtsein, unglückliches Bewußtsein und Glaube 188 II. Theogonie als Anthropogonie 196 III. Gottes Dasein unter den Menschen: Versöhnung 211 IV. Rehabilitation des ontologischen Gottesbeweises 215 V. Gott als Korrespondent von Sprache und Bewußtsein 219 VI. Logik als Darstellung Gottes 224 230 VII. Transzendenz und Immanenz VIII. Mensch und Welt im Spiegel des Logos 235 F. Vom Gottesbegriff zum Subjektbegriff 240 I. Das Ich als logisches Postulat 241 II. Den Menschen menschlich denken 248 III. Der Mensch als existierender Begriff 258 IV. Der Umweg über den Nächsten: Anerkennung 269 V. Allgemeines und individuelles Ich 280 G. Zwischenfazit: Die Sprache Gottes als Sprache des Menschen 283 I. Methexis 288 II. Geschlechtlichkeit 293 III. Die Sprache Gottes als Sprache des Menschen 298 . Freiheit als Marionette Gottes
304
. Die Erzählungen der Bibel als Spiegel der Bewußtseinsentwicklung
318
XI
Inhalt
. Adam – Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst 333 A. Unschuld 336 I. Träumende Unschuld 337 II. Die Unumgänglichkeit der Schuld – Sündenfall und Macht des 344 Schicksals III. Wenn das Bewußtsein seine Balance verliert – Unschuld und Marionettenmetapher bei Liebrucks und Kleist 347 350 IV. Rückkehr zur Unschuld? B. Vertiefung: Der Sündenfall als Aufbruch des Bewußtseins zum Anundfürsichsein 355 I. Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst. Ansichsein und Fürsichsein 356 II. Verkehrte Verhältnisse: Der Mensch der Reflexionsstufe 358 III. Vom Lieben und Fürchten: Die Konstitution des Subjekts in sprachlichen Verhältnissen 363 IV. Der Ruf Gottes 368 C. Es werde Licht! Die Geburt der Logik und die Unvermeidbarkeit des 375 Bösen I. Sittlichkeit als Ausdruck von Gottes- und Selbstverhältnis 376 II. Das Licht der Logik 382 D. Kleider machen Menschen: Sprache als sichtbarmachende Verhüllung 389 I. Das Kleid der Seele 390 II. Die Unerträglichkeit des Unverhüllten 393 III. Lieblosigkeit als Entmenschung 399 . A. I. II. B. I. II. III. C.
405 Abraham – der erste Dialektiker Denken gestalten – Denken in Gestalten 406 Von einem, der auszog, sich selbst zu begegnen 410 Die Entdeckung der Logik – Eine Szene auf dem Schulhof Vor dem Angesicht der Unendlichkeit 418 Religiöse Erfahrung und Problembewußtsein 419 „Verweile doch“– Die Erfahrung des Augenblicks 420 429 Der Zauber des Anfangs Die Notwendigkeit des Opfers 433
. A. B. C.
437 Bleiben ist nirgends: Jesus Christus Von Adam zu Jesus Christus: Eine Typologie 438 Retardierendes Moment: Eine Genealogie des Weltverstehens Die Geschichtlichkeit des Bewußtseins 447
416
443
XII
I. II. III. IV. D. I. II. III. E. I. II. III.
Inhalt
Geist und Geschichte 447 Inkarnation: Sprache und Geschichte 451 Tod und Auferstehung: Geschichte als Umweg 466 Gezeugt, nicht geschaffen: Die Freiheit des Menschen in der Gegenwart 478 Gottes Zur Freiheit gerufen – Nachfolge Christi 488 Dein Wille geschehe! 488 493 Werden wie die Kinder Gottes Sittlich handeln: Was des Kaisers und was Gottes ist 497 Sittlichkeit 499 499 „Handle sprachlich!“ Nächstenliebe als sprachliches Handeln 506 Das Sittliche in der Kunst: Die Tragödie des Bewußtseins 514
522 . Fazit: Im Wort geschaffen A. Sprachgemeinde und Kirchengemeinde 525 B. Heilsgegenwart und Endzeiterwartung. Eine Konfrontation mit Kodalles Kri534 tik an Liebrucks C. Der Umgang mit dem Wort 545 D. Als Theologe Liebrucks lesen? 548 . A. B. C.
Literatur Siglen Quellen Literatur
552 552 552 553 561
Personenregister Sachregister
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1. Einleitung Mit Blick auf die philosophischen Werke, die er studiert hat, gibt Liebrucks zu bedenken, ihm sei bisher „kein Werk bekannt, das der immanenten Entfaltung von Philosophie so nahe gekommen ist, daß es einer Vorrede und einer Einleitung entraten könnte.“ (SuB V, 355.) So mag es auch für die vorgelegte Untersuchung gelten. Im folgenden werden daher deren Anspruch und Methode skizziert. Zunächst aber sei die Frage beantwortet:
A. Wer war Bruno Liebrucks? Die Informationen über ihn sind spärlich, obwohl Liebrucks selbst nicht daran gelegen scheint, sich zu verbergen. Tatsächlich kommen seine philosophischen Betrachtungen nicht ohne biographische Notizen aus.¹ Geboren wurde Bruno Liebrucks am 12. Oktober 1911 im ostpreußischen Budupönen als Sohn eines Volksschullehrers. Liebrucks erhielt eine humanistische Bildung an den Gymnasien in Tilsit und Insterburg. Von 1929 bis 1934 studierte er an der Albertina in Königsberg Germanistik, Geschichte, Theologie und Philosophie. Er verbrachte ein Gastsemester in München, wo er unter anderem Lehrveranstaltungen über Meereskunde, Thomas Mann sowie zur Kritik der Urteilskraft besuchte. Seine 1933 in Königsberg abgeschlossene Dissertation (Probleme der Subjekt-Objektrelation) wurde mit dem Kantpreis ausgezeichnet. In den Jahren 1934 bis 1936 war er Assistent in Königsberg. 1936 wurde Liebrucks zum Wehrdienst eingezogen, im Jahr 1943 jedoch zur Habilitation in Berlin freigestellt (Über das Problem des Eleatismus bei Platon). Erstgutachter seiner Arbeit war Nicolai Hartmann, zu dem er einen guten Kontakt unterhielt. Nach Kriegsende lehrte Liebrucks fünf Jahre lang als Privatdozent in Göttingen, bis er 1950 als außerplanmäßiger Professor an die Universität Köln ging. Seit 1959 war Liebrucks Ordinarius für Philosophie und Direktor des philosophischen Seminars der Universität Frankfurt am Main. Er verstarb am 15. Januar 1986 daselbst. Sein Nachlaß wurde 1989 von seiner Witwe Ursula Liebrucks der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt vermacht. Angesichts der Lebensdaten drängt sich eine Frage zur Person Bruno Liebrucks in den Vordergrund: Was tat dieser während der Zeit des sogenannten 1 Die folgenden biographischen Daten entnehme ich der philosophischen Selbstdarstellung Liebrucks, Bruno, Das nicht automatisierte Denken, in: Pongratz, Ludwig J. (Hg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Hamburg 1975, 168 – 223 sowie Tilitzki, Christian, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Berlin 2002.
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1. Einleitung
„Dritten Reiches“? Wie viele seiner Zeitgenossen war er nicht vor der Manipulation und Verhetzung durch die Nationalsozialisten gefeit. An den Universitäten lehrte man Rassentheorien, freie Geister gab es nur wenige, die sich gegen Ideologie und Partei zu behaupten wußten. Liebrucks gehörte nicht zu ihnen. Mit 22 Jahren wurde er SA-Mitglied; nach einigen Turbulenzen, die mit seinem Ausschluß aus der SA endeten, trat er schließlich 1937 in die NSDAP ein. Die Jahre des Krieges, in denen er als Offizier Soldaten befehligte, selbst in Kampfeshandlungen schwer verletzt wurde und in Kriegsgefangenschaft geriet, scheinen sein philosophisches Denken entscheidend geprägt zu haben: weg von einer rassenorientierten Ideologie, welche die geistige Lebenswelt der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts dominierte, hin zu einer Philosophie, welche die durch das faschistische Regime wie einen Fluch verhängte Entmenschlichung entlarvt, so daß sie nie wiederholt werden möge. Biographische Notizen weisen zumindest darauf hin, daß die Zeit im Lazarett, die unmittelbare Begegnung mit der brutalen Entmenschung durch den Krieg, eine Krisis bewirkt haben könnte, die sich in der in den Folgejahren verfaßten Philosophie niederschlägt. Spärlich, aber von trauriger Eindrücklichkeit sind Liebrucks’ eigene Bemerkungen über seinen Kriegseinsatz als Leutnant, nachdem er unter dem nationalsozialistischen Regime zum Wehrdienst eingezogen worden war. Bleibend stand er unter dem Schock des Zweiten Weltkrieges, in dessen kämpferische Handlungen auch er involviert war, bis ihn Verwundung und Kriegsgefangenschaft – wie er es sah – davor bewahrten, sich unmittelbar am Blutvergießen schuldig zu machen. So schreibt er (inmitten seiner philosophischen Argumentation!) im fünften Band von Sprache und Bewußtsein: „Der Verfasser dieser Zeilen ist sieben Jahre Soldat gewesen. Er kann gar nicht anders, als Gott jeden Tag von neuem zu danken, daß es ihm gelungen ist, weder einen Schießbefehl zu geben, noch selbst schießen zu müssen, obwohl er Offizier war und als solcher auch im Schießen ausgebildet hat. Er weiß, daß er diesen Befehl gegeben hätte, wenn er nicht, bevor das nötig war, verwundet worden wäre. Bevor wir nicht alle erkennen, daß wir […] immer noch Kain und nicht sein Bruder Abel geworden sind, werden wir die folgenden Sätze nicht so lesen, daß sie die Katharsis bewirken, um derer willen sie geschrieben wurden. Denn kein Mensch kann wissen, in welche Lagen er kommen wird. Aus eigener Kraft vermögen wir nicht, hier herauszukommen. Wäre das Absolute nicht in jeder Stufe gegenwärtig, so wären die Lebewesen nicht einmal aus der sinnlichen Gewißheit der Amöben herausgekommen. In dieser Stufe aber müssen sie verharren, wenn sie sich nicht darauf besinnen, daß meine Vorstellungen nur dann meine Vorstellungen sind, wenn sie zugleich die Gedanken Gottes sind. Das Letzte wird erst die Wissenschaft davon aussprechen, was Logik ist.“ (SuB V, 88.) Durchlief Liebrucks angesichts der Kriegserfahrungen, der Desillusionierung in der Konfrontation mit dem Leiden im Lazarett, das nichts mehr gemein hatte mit den heroischen Theorien seiner Lehrer,
A. Wer war Bruno Liebrucks?
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eine Metanoia? Niemand könnte diese Frage beantworten, ausgenommen er selbst. Ich werde mich nicht dazu verleiten lassen, hier eine Verteidigungsschrift für Liebrucks zu verfassen oder aber darüber spekulieren zu wollen, ob die Kritik am Regime, die Liebrucks in seinen Schriften nach 1945 e x p r e s s i s v e r b i s äußert, einer echten Läuterung entspringt oder Aufnahme findet, weil sie von einem deutschen Universitätsprofessor nach 1945 geäußert zu werden hatte. Liebrucks selbst geht (grammatikalisch) zu sich in Distanz, wenn er von seiner Kriegszeit spricht. Seine philosophischen Thesen formuliert er selbstbewußt in der ersten Person. Schreibt er von seinen Kriegserlebnissen, wechselt er häufig in die dritte Person, spricht von sich als „dem Verfasser“. Immerhin erscheint das, was er über „den Verfasser“ zu berichten weiß, dennoch entwaffnend persönlich und aufrichtig. Seine Zeilen lesen sich durchaus als Selbstverteidigung, in welcher die geistige, die philosophische Unreife als Argument geführt wird. So schreibt Liebrucks, er hatte „als Kriegsgefangener in England Gelegenheit zu beobachten, wie die nicht nur an ihrem Leibe, sondern auch an der Seele Verwundeten in den schmerzfreien Stunden ihres Daseins sich auf die ihnen von freundlicher Hand dargereichten Puzzlespiele warfen und das Zusammensetzen der Teilchen sogar in der Art und Weise von Wettkämpfen ausübten. Er [Liebrucks als Verfasser dieses Kommentars, S. L.] konnte damals kein Wort über die geistige Krankheit sagen, sie sich seinen Augen darbot. Aber er hat diese Erkrankung des Geistes seitdem in ihrer Fortsetzung in Disziplinen beobachten können, die zum geistigen Stolz Europas gehören.“ (SuB VI/1, 209.) Die Frage ist, inwieweit ein einstmals von rassenideologischen Theorien geprägter Denker seine philosophische Vergangenheit in späteren Werken überwinden (oder auch nur verbergen?) kann. Liebrucks ist ideologisch vorbelastet – wie die meisten Denker seiner Zeit, allen voran berühmte Kollegen wie Hirsch oder Heidegger. Eine Rechtfertigung ist dies nicht, allein eine Feststellung. In jedem Fall sind Werke ideologisch vorbelasteter Autoren kritisch zu rezipieren. In Sprache und Bewußtsein läßt sich allerdings keine Affinität zu Rassentheorien erkennen; wäre dem so, hätte ich mir das Werk dieses Denkers nicht zur Erschließung für einen theologisch-philosophischen Diskurs gewählt. Zudem scheint Liebrucks’ in späteren Jahren gar nicht verhalten ausgesprochene Kritik am Nationalsozialismus aus einem bestimmten Grund nicht allein politischem Geschick entsprungen: Die Kritik am untergegangenen Regime taucht nicht unverbunden im Kontext von Sprache und Bewußtsein auf, sondern resultiert aus der dort entwickelten Philosophie. Im Lichte dieser Philosophie erinnert Liebrucks nun die Vergangenheit: „Ein braver Feldwebel schrieb einmal eine Beurteilung über mich mit der Wendung ‚geistig hochstehend‘. Er war sogar so menschlich, daß er mir das zu lesen gab. Ich dachte, wenn ich ihm doch nur erklären könnte, was er da hineingeschrieben hat. Heute sehe ich, daß man die ganze Hegelsche
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1. Einleitung
Logik aufbieten kann, ohne es den Feldwebeln erklären zu können, da sie Erklärung das nennen, was in Wahrheit logische Verdunklung ist. Sie sind dabei durchaus realistisch, weil in dem Zustand, in dem der Krieg Vater aller Dinge ist, die Verdunklung vordringlicher ist als das Hereinlassen des Lichtes.“ (A. a.O., 326 f.) In den ersten Bänden von Sprache und Bewußtsein finden sich derartige Kommentare indes so gut wie gar nicht. Erst mit zunehmendem zeitlichen – und innerlichen? – Abstand vom Geschehen nehmen die (Um‐)Deutungen der Vergangenheit zu Momenten philosophischer Bedeutung zu: „Ist die Ursache die befriedigende Antwort auf die Frage Warum, so kann die Warumfrage gerade dazu dienen, einen Kontakt aufzureißen. Im Jahr 1939 fragte ein Kamerad bei Gelegenheit einer Goebbelsrede in einer Kaserne von Zeit zu Zeit ganz unvermittelt ‚Warum‘?. Das mag den Verständniskontakt bei einigen Zuhörern aufgerissen haben, was ich bis heute nicht weiß. Für mich war damals der Verständniskontakt mit dem so Fragenden dadurch geschlossen, daß ich in mir die seiner Frage entsprechende Vorstellung erweckte, daß er bei der Rede immerhin Fragwürdiges fand. Die Antwort auf die Frage blieb damals aus, weil niemand wagte, sie zu geben. Aber schon die Frage hatte evokatorischen Charakter. Sie riß nicht einen Kontakt auf, den sie dann gleich wieder schloß, was bekanntlich technisch unmöglich ist. Sie zerriß ein Faszinosum und verband mich und vielleicht auch einige andere mit ihm durch und in dieser Zerrissenheit menschlich. Die Zerrissenheit und die Verbundenheit sind wesentliche Kategorien, die wesentlich nicht verbindbar sind. Vielleicht war der so fragende Jüngling sich auch der Tragweite seines Tuns nicht bewußt. Jedenfalls war es auch ein Tun. Die Warumfragen waren geeignet, alles, was in dieser Rede gesagt wurde, logisch bodenlos zu machen. Sie waren der Beginn davon, gewisse Worte vom Sein ins Wesen zu heben. Da wir alle bei dieser Gelegenheit eine Antwort nicht wagten, gelangten wir nicht zum Begriff und Begreifen des Ganzen. Solches Begreifen war nur in Einzelgesprächen möglich, die nicht einen Kontakt schlossen, sondern uns erst als Individuen in Distanz von einander setzten.“ (SuB VI/3, 103.) Verklärung? Verteidigung? Versuche, das damals, vor allem aber heute Unverständliche zu verstehen? Liebrucks’ Kommentare zu seiner Vergangenheit bleiben Andeutungen, zumal er in ihnen keine Apologie seiner Lebensentscheidungen in der Zeit des sogenannten „Dritten Reiches“ verfaßt, sondern sie in den Rahmen seines philosophischen Entwurfs stellt. Liebrucks selbst warnt davor, daß „der unvorbereitet an diesen meinen Text herantretende Leser doch immer nur als persönliches Bekenntnis mißverstehen könnte, was nur die Erkenntnis eines logischen Status ist.“ (SuB VII, 691.) In der vorliegenden Untersuchung ist eben dieser logische Status von Interesse. Ebenso wie in bezug auf die biographischen Daten will diese Untersuchung weder eine Verteidigung Liebrucks’ sein, noch ihn als Denker einer Kritik unterziehen, bevor sein Denken allererst eine Darstellung erfahren hat. Liebrucks’
B. Sprachphilosophie – Anliegen und Methode
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Stimme ist so lange nicht gehört worden, daß sie zunächst einmal verdient, wahrgenommen zu werden. Erst wenn der Dialog mit Liebrucks eröffnet ist, können kritische Fragen an ihn gestellt werden. Man wird dies müssen, denn kein Denker erliegt nicht mindestens einem Irrtum. Hier ist Liebrucks beim Wort zu nehmen: Wer zu irren fürchtet, fürchtet sich nicht vor dem Irrtum, sondern vor der Wahrheit, die seinen Irrtum als solchen definiert. Die Furcht zu irren, ist nach Hegel der Irrtum selbst.²
B. Sprachphilosophie – Anliegen und Methode „Die Zeit selbst diktiert das Thema ‚Sprache und Bewußtsein‘.“ (SuB I, 2.) Liebrucks versteht sich als Rufer in der Wüste der Entsprachlichung. Diese erlebte ihren vorläufigen Kulminationspunkt im totalitären Regime des Nationalsozialismus. So ist es die Aufgabe einer Philosophie nach 1945, über Entsprachlichung als Wurzel des Übels von Entmenschlichung aufzuklären und damit Wege aus der (Selbst‐)Vernichtung des Menschen aufzuzeigen. Liebrucks’ Nachkriegsphilosophie ist kein kulturphilosophischer Entwurf, auch keine ausgearbeitete Ethik. Das Proprium des Denkens und Handelns erschließt sich ihm über den Sprachbegriff, anhand dessen er die Logik des menschlichen Weltumgangs erarbeitet. Er setzt sein Denken von der Sprache her gegen eine Entsprachlichung, die er als Signatur seiner Zeit empfindet. „Die Reflexion über den Entsprachlichungscharakter unserer Zeit ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, daß wir die Geschichte vom Turmbau zu Babel, die bekanntlich in einer Sprachverwirrung endete, in unser Bewußtsein einholen.“ (SuB IV, 553.) Den Turmbau sieht Liebrucks seinerzeit – und das mag für die gesamte Moderne und Postmoderne gelten – in der Technik, besser gesagt: in deren Verabsolutierung. Liebrucks beklagt die Technisierung des Weltumgangs. Im sogenannten „Dritten Reich“ ist auf grausame Art zutage getreten, wie man auch den Menschen technisieren kann. Eine rein nach formalen Kriterien entscheidende Weltanschauung oder Ideologie (Rassentheorie, Faschismus) mündet in einer rein formalen Umgangsweise mit dem Menschen, der rein formal betrachtet keiner mehr ist. „Es muß darüber aufgeklärt werden, daß der Bereich des formallogischen Denkens der Bereich der Vergegenständlichung aller dem Menschen denkmöglichen Weltinhalte ist. Es muß darüber aufgeklärt werden, daß Bewußt-Sein außerhalb solcher Weltinhalte steht. Diese Philosophie der Aufklärung ist dem Menschen notwendig, wenn im technischen Zeitalter, das ein
2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, hg.v. Wessels, Hans-Friedrich/ Clairmont, Heinrich, Hamburg 2006, 58.
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1. Einleitung
Zeitalter der Vergegenständlichung ist, nicht der Mensch als Gegenstand unter Gegenständen untergehen soll. Es kann sein, daß es für unseren europäischen Kulturkreis zu spät ist, daß er schon gestorben ist. Dann bleibt nur die Hoffnung, daß das, was wir hier aussprechen, eine Hilfe für spätere, dann vielleicht noch übriggebliebene Menschen sein möge.“ (SuB III, 401.) Was dem Menschen dienen sollte, die Technik, wurde zu seinem Grab: Massenvernichtungstechnik, äußere und innere Uniformierung. Die den Menschen als Menschen begründende Identität ist eine lebendig ersprochene, ein Bei-sich-selbst-Sein im Sein-bei-Anderem. Individualität hält sich in den Übergängen der Lebensmomente, von denen keiner dem anderem kongruent ist. Formale Identität (A = A) beschreibt Gegenstände, nicht Menschen bzw. beschreibt sie Menschen als Gegenstände, wenn sie auf diese angewandt wird. Insofern kann das, was sein Überleben sichert, zu gegen den Menschen gerichteten „Waffen des Irrsinns“ werden. (SuB I, 1.) Eine einseitig technisch-logische Weltbehandlung führt zur Legitimation alles dessen, was die Behandlung, die Beherrschung der Welt – als einer Welt von Objekten, zu denen auch der Mensch gezählt wird – vorantreibt. Der Mensch verkommt zum atemlosen „Anhängsel“ des Triumphes der Technik. (Vgl. ebd.) Technik ist das Notwendige, sie soll Not ab-wenden. Der handelnde Mensch ist der Mensch, der sich gegen die andringende Welt als Gefahr verteidigt. „Gesellschaften werden nur durch Gefahren zusammengetrieben, wie Herden.“ (A. a.O., 2.) Es ist nicht mehr das Interesse am Anderen, sondern die Not, die zusammenschweißt. Statt miteinander zu sprechen, rauft man sich aus pragmatischen Gründen zusammen. Menschen unseres Zeitalters werden „Objekt ihrer Vivisektionsübungen.“ (Ebd.) Die (post)moderne Philosophie erscheint Liebrucks als Vormarsch der Systeme, die sich in ihrer Geschlossenheit und Regulativität selbst rechtfertigen. „Die Gewalt, die uns heute mit der Vernichtung der Menschheit bedroht, hat ihren legitimen Ursprung in dem systematisierenden Tun der Wissenschaft.“ (SuB VI/3, 211.) Innerhalb solcher Systeme wird das beständig sich forttreibende Denken zur in sich stagnierenden Ideologie. In einem solchen System ist Hitler „legitim“ zur Macht gekommen, sofern seine Ansprüche dem Reflexionsniveau entsprachen, das sich im Faschismus gebildet hatte. (Vgl. SuB I, 1.) Dieses Reflexionsniveau ist das eines Menschen, der sich als Mensch der Tat versteht – nicht der Sprache. Sein Handeln kann allein den Anspruch der Legalität im Sinne formaler Rechtmäßigkeit erheben. Sittlich ist es nicht, denn die Sittlichkeit eines Handelns bestimmt sich erst daran, inwiefern sie das Andere ihrer selbst aushalten kann, anstatt es sich tätig zu unterwerfen. Dieses AushaltenKönnen ist uns in der Sprache gegeben. Daher hofft Liebrucks darauf, „daß aus Tätern Menschen, miteinander sprechende Wesen, werden.“ (A. a.O., 2.) „Täter“ sind wir, wenn wir die Welt als eine der Tatsachen ansehen bzw. erst zu einer solchen „Faktenaußenwelt“ (Gehlen) stilisieren und ihr damit nicht zugestehen,
B. Sprachphilosophie – Anliegen und Methode
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mehr als Untertan zu machende Realität zu sein. „Unsere Frage wird sein: Als was muß dem Menschen Wirklichkeit begegnen, damit er als Antwort darauf nicht handelt, sondern spricht?“ (A. a.O., 20; vgl. a. a.O., 75.) Liebrucks’ Arbeitsfrage lautet also: „Warum kommt es nicht zur Sprache?“ (A. a.O., 2.) Entsprechend besteht für ihn „[d]as Ziel der Untersuchungen [..] in der Gewinnung der Sprachlichkeit des Menschen in allen seinen Lebensbezügen.“ (A. a.O., 43.) Es kann nicht zur Sprache kommen in einer Lebenswelt, die von Handlungsforderungen dominiert ist. Liebrucks zieht nun nicht den allzu schlichten Umkehrschluß, eine menschliche Lebenswelt proklamieren zu können, in welcher das Handlungsmoment nicht konstitutiv für das Menschsein sei. Liebrucks’ Philosophie ist – auch wenn sie es in manchen Passagen leidenschaftlicher Kritik am Technikzeitalter vermuten ließe – weder technophob noch kulturpessimistisch. Liebrucks beklagt allein, daß das Handeln nicht von der Sprache her verstanden wird, sondern die Sprache vom Handeln her. Der Mensch ist nicht zuerst handelnd in der Welt, sondern logisch. Die Logik seines Weltumgangs aber ist Sprache. In der Konsequenz ist für Liebrucks der von ihm häufig verwendete Ausdruck „Entsprachlichung“ gleichzusetzen mit einer „philosophische[n] Bewußtlosigkeit“. (A. a.O., 2.) Der Mensch hat vergessen, was er ist: h o m o l o q u e n s , nicht allein h o m o f a b e r. Als h o m o f a b e r übt er Gewalt aus gegen die Dinge und Menschen, an denen er handelt. Dinge und Menschen, mit denen er verhandelt, mit denen er spricht, behalten eine Eigenbedeutung, welche an der Bedeutung mitwirkt, die wir ihnen beilegen. In dieser c o n c r e a t i o liegt das sittliche Moment des Sprechens und des Handelns als sprachlichen Handelns, in welchem Dinge und Menschen nicht allein als Gegenstände oder Gattungen klassifiziert werden, sondern ihre individuelle Veränderlichkeit als das ihre Identität erschaffende Moment erkannt und bewahrt bleibt. Der philosophische Auftrag besteht in der Bereitung des Übergangs vom Handeln zum Sprechen, in dem die Spannung von Identität und Nicht-Identität ausgehalten werden kann. Dies ist der Übergang von der Gewalt zur Macht. „Der Übergang von der Gewalt zur Macht ist der Übergang, der sich als Übergang von der Wissenschaft zur Philosophie weiß.“ (SuB VI/3, 211.) Eine grundsätzliche Unterscheidung ist daher gleich hier im Vorwort zu treffen, um den Zugang zum Werk von Bruno Liebrucks nicht von vornherein zu verstellen. Diese Unterscheidung ist die zwischen Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft, worunter auch Sprachphänomenologie oder Hermeneutik fallen. Einen Nachkriegs-Philosophen, der über Sprache schreibt, ordnet man schnell dem l i n g u i s t i c t u r n zu, einer in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstandenen Denkbewegung im anglophonen Sprachraum, die sich von der formalidealen Sprachbetrachtung dem Bathos zuwandte und deren vielleicht einfluß-
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1. Einleitung
reichster Vertreter Richard Rorty war.³ Die von Rorty formulierte Abgrenzung gegen eine analytische Sprachlogik muß in Liebrucks’ Augen nicht gelungen sein, jedenfalls findet er auch in den späteren Bänden von Sprache und Bewußtsein sein Anliegen einer Sprachphilosophie nirgends anders eingelöst als in seinen eigenen Theorien. Ob Liebrucks von Rortys Kritik Kenntnis nahm, eine Sprachphilosophie könne keine Fragestellungen der als „klassisch“ zu bezeichnenden Philosophie beantworten, muß offen bleiben. Wer Liebrucks’ Werk kennt, weiß aber, daß er dieser These widerstreiten muß. Die philosophische Reflexion auf die Sprache als logische Struktur der Vernunft ist für Liebrucks das Proprium der Philosophie. Er fordert: „Sprache soll als Ausgangspunkt und Ziel alles menschlichen Verhaltens bewußt gemacht werden.“ (SuB I, 6.) So erarbeitet er das logische In-der-Welt-Sein des Menschen in s t a t u n a s c e n d i . Seine Sprachphilosophie ist keine Analyse dessen, wovon Bewußtsein ist, sondern Darstellung der logischen Struktur des Bewußtseins in der Dialektik von Geist und Sein, die er Logos, Sprache, nennt. Der logische Zugang des Menschen zur Wirklichkeit, so lautet Liebrucks’ Ansatz, ist die Vermittlung durch Sprache. Eine Logik der Sprache zu schreiben, ist „nicht als Phänomenologie möglich. Sie ist Denken, das das Sein denkt.“ (SuB VI/ 3, 25.) Philologie ist die Wissenschaft von der Sprache, nicht die Philosophie der Sprache. Sie fragt nicht nach dem Wahrheitsanspruch der Worte, sondern beschäftigt sich mit der realen, besonderen Ausformung von Sprache. „Die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts ist logisch betrachtet äußere Reflexion.“ (A. a.O., 74.) Sprachlich-phänomenologische Betrachtungen beobachten das, was in der Sprache erscheint. Sprachphilosophie denkt dagegen das Erscheinen der Sprache selbst in ihren Gestalten. (Vgl. SuB IV, 28.) Betrachten von Phänomenen ist gegenständliches Vorstellen. Als Vorstellung werden die Dinge in Besitz genommen. Das zeigt sich auch in unserem Sprachgebrauch: Man sagt, man habe eine Vorstellung, nicht: man denke sie.Wenn konventionelle Rede eine Abbildung der Wirklichkeit wäre, gäbe es eine Welt hinter der Welt, in der wir leben. Sprache und Erfahrung wären zwei verschiedene Dinge. In der Sprache, wie Liebrucks sie versteht, ist die Wirklichkeit immer schon präsent, sie existiert für den Menschen nur sprachlich. Sprache aber ist übergegenständlicher Gegenstand. (Vgl. SuB I, 471.) Daher dürfte es „einleuchtend sein, daß die wissenschaftliche Betrachtung von Sprache und Logik nichts anderes zum Gegenstand haben kann als diese logischen Gesetze und sprachlichen Regeln. Davon ist die philosophische zu unterscheiden, die von Kant, Fichte, Hegel, Schelling, dem ganzen deutschen Idealismus und von Humboldt, um nur diese zu nennen, eingeleitet worden ist.“
3 Vgl. Rorty, Richard, The Linguistic turn. Essays in philosophical method, Chicago 1992 [= 1967].
B. Sprachphilosophie – Anliegen und Methode
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(SuB IV, 88.) Liebrucks sieht sich als Erbe einer sprachphilosophischen Tradition (bzw. einer philosophischen Tradition, die er im Sinne seines Sprachbegriffs deutet), welche er einer Pointierung unterzieht oder sie zumindest konsequenter zu Ende denkt, als es ihre Initiatoren – Liebrucks’ Einschätzung zufolge – getan haben. Liebrucks hat sich das Ziel gesetzt, „die Philosophie aus einem Denken in Prinzipien herauszuheben. Denn in principio erat verbum.“ (SuB VI/3, 415.) Im Anfang war und ist der Logos, der immer mitgehende Anfang all unserer logischen Vorgänge, die logische Struktur unseres Weltumgangs. L i n g u a d o c e t l o g i c a m . Liebrucks’ Betrachtungen zur Sprache geraten daher zum Entwurf einer Logik. „Die Logik ist die Genesis des logischen Status der Sprache, mit dem deshalb nicht angefangen werden kann.“ (SuB VI/1, 245.) Liebrucks’ Sprachphilosophie ist die Darstellung der Struktur des Denkens, nicht aber als Wissenschaft von Denkgesetzen, nicht als Prinzipienlehre, sondern als Darstellung der Gegenwart von Wahrheit als die logische Struktur des menschlichen In-der-WeltSeins. Liebrucks beantwortet die Frage nach der Wahrheit mit der Konzeption einer Logik, in welcher sich Wahrheit selbst vorspricht.⁴ Logik ist für ihn demzufolge keine normative Wissenschaft, sondern dient vielmehr der Kritik des Erkennens, des Denkens.⁵ Diesen Ansatz teilt Liebrucks mit Kant, dessen Transzendentalphilosophie jedoch den eingeschlagenen Weg nach Liebrucks’ Auffassung nicht zu Ende geht. Denn Kants epistemologisches Zurückschrecken vor dem An-sich der Dinge teilt Liebrucks nicht. Er ist vielmehr der – im folgenden zu entfaltenden – Ansicht, daß sich die Wahrheit der Dinge unter deren Erscheinen als Gegenstände der Erfahrung mitteilt. Diese These erarbeitet Liebrucks in Rückgriff auf Hegels Theorie des Absoluten, die Selbstmitteilung des absoluten Geistes in dessen Entfremdung zur materiellen Welt und dem Auferstehen zu sich selbst im subjektiven Geist. Die Bewegung des absoluten Geistes und sein Zu-sichKommen im subjektiven Geist begreift Liebrucks als Sprache. Er macht es sich zur Aufgabe, „die Sprachlichkeit des dialektischen Denkens auf dem Rücken der Errungenschaften Kants im sphärenmischenden Komponieren von Kommentar
4 „Nur eine Logik, die immer schon bei der Wirklichkeit ist, hat von außen nichts hereinzunehmen, da sie wohl eine äußerliche schriftliche Darstellung ihrer selbst, aber außerhalb ihrer selbst nichts hat, weil außerhalb ihrer selbst nur im Gewißheitsgehege stehendes Vorgestelltes, nicht aber Wirkliches steht.“ (A. a.O., 210.) 5 „In der Logik, die sich nicht als Instrument, nicht als Operation, die ihre Instrumente nicht als Weltstücke, nicht als Modelle, nicht als satzlogische Schemata, die Wahrheitswerte haben, nicht als Termini begreift, die zutreffen und nicht zutreffen, wird die menschliche Wirklichkeit nicht mit einer Zielscheibe verwechselt, die wir bei einer sogenannten Erkenntnis treffen oder verfehlen.“ (SuB VI/2, 152.)
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1. Einleitung
und Kritik an der ‚Phänomenologie des Geistes‘“ aufzuzeigen. (SuB V, 1; vgl. a. a.O., 37.) Als ein solcher „sphärenmischender Kommentar“ der hegelschen Philosophie folgt Liebrucks’ Werk der Methode einer dialektischen Logik. Die Dialektik der Logik bzw. Logik der Dialektik ist bereits Thema seiner Habilitation, in welcher er die philosophische Entwicklung Platons vom Eleatismus zum dialektischen Denken nachzeichnet. Später dienen ihm, wie bezeichnet, vor allem Hegels Phänomenologie und Logik, die er als Vollendung der von Platon erst benannten, nicht aber begrifflich ausgeführten Dialektik als wechselseitige Methexis der logischen Status der Sinnlichkeit und der Idealität begreift. Die hegelsche Theorie des Absoluten bildet gewissermaßen das Gerüst für Liebrucks’ philosophisches Werk. Die Methode ist nicht die seine, er findet für sie allerdings eine spezifische Struktur: die der Sprache. Streng genommen entwickelt er auch mit der Pointierung des Sprachbegriffs einen Ansatz weiter, der sich bereits bei Hegel findet. Allerdings hat Liebrucks auch nicht den Anspruch, in Methode und Begrifflichkeit vorbildlos innovativ zu sein. Er versteht sein philosophisches Werk als Antwort auf die ihn „seit 1949 beschäftigende Frage nach einer Übersetzung von Hegels Philosophie des Absoluten in die ihr eigene Dialektik […].“ (Erkenntnis,V.) Liebrucks’ Texte lesen sich über weite Strecken wie eine Hegel-Auslegung. Er selbst erklärt sich diesbezüglich wie folgt: „Sollte der Leser sich fragen, warum wir das hier so nacherzählen, so ist die Antwort: gerade in solchen Partien ist die Kraft des dialektischen Begriffs zu sehen, der die Gestalten innerhalb seiner selbst hat.“ (SuB V, 106.) Eines ist deutlich: Wer nicht auch Hegel liest, der wird Liebrucks nicht lesen können. Wer dagegen Hegel-Kenner ist, wird sich aufgrund der Flut an gedanklichen und begrifflichen Anleihen bei Hegel in den Liebrucks-Texten fragen, inwiefern Liebrucks ein origineller philosophischer Entwurf gelingt. Liebrucks selbst versteht sich, wie erwähnt, als Kommentator der Logik Hegels. „Der Kommentator hat sich oft gefragt, warum er das Maß der Liebe aufbringen sollte, die in jedem menschlichen Denken und Sein versteckte Unendlichkeit, noch dazu in seiner Zeit, mit Hilfe einer Philosophie von der Sprache her dem Denken ein wenig näherzubringen. Die Antwort auf eine solche Frage, die der Verzweiflung entspringt, ist damit gegeben, daß die Frage nach dem Maß der Liebe nicht die Frage nach dem Begriff ist.“ (SuB VI/1, 383.) Den von Hegel geprägten Begriff des Begriffs zur Geltung zu bringen, um zu zeigen, daß die allein begriffslogisch gewährte Identität von Identität und Nicht-Identität die Wahrheit der Liebe denken und realisieren läßt, ist das erklärte Ziel Liebrucks’. Allein dieser Begriff als Begriff der Liebe bewahrt den Menschen davor, sein Menschsein als Einheit von Gesellschaftswesen und Individuum einzubüßen, wie es die zerstörerische Folge der nationalsozialistischen Ideologie war. Es ist die Aufgabe der Philosophie (insbesondere nach 1945), „zur Sprache zurückzufinden. Nur in seiner Sprache findet der Mensch die menschliche Entsprechung zwischen ihm und einer Wirklichkeit,
B. Sprachphilosophie – Anliegen und Methode
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die nicht a priori dazu verurteilt ist, gegen ihn aufzustehen.“ (Denken, 217.) Den Sprachbegriff in dieser Weise stark zu machen, sieht Liebrucks selbst als bisher philosophisch nicht in Anspruch genommen. Diesbezüglich betont er ausdrücklich die Originalität seines Entwurfs: „In der Behandlung dieses Themas haben wir keinen philosophischen Vorgänger.“ (SuB I, 16.) Die Dialektik der Selbstmitteilung der Wahrheit und des Fragens nach ihr ist die Struktur der Sprache, die darzulegen sich Liebrucks in seinem Werk anschickt. Er ist sich sicher: „Der Eindruck des Kosmos als an- und fürsichseiende Sprache Gottes ist philosophisch noch nicht zur Sprache gekommen.“ (SuB VI/3, 93.) Ihn zur Sprache zu bringen, gelingt Liebrucks zufolge allein einer Philosophie, die Spekulation und Erfahrung zu vereinen weiß. Spekulation ist kein Generieren neuer Vorstellungen („positive Phantasie“), dann ist sie „schlecht“. (SuB III, 430.) Vielmehr ist sie die Aufhebung von Vorstellungen, das der Vorstellung Entzogene – für den über Kant nicht hinausgelangten Denker ein „Frevel“.⁶ Liebrucks verteidigt seine Vorgehensweise: „Hier wird nicht gleich für irrationale sogenannte metaphysische Ausflüge plädiert, sondern für die Achtsamkeit auf die menschliche Erfahrung auch dort, wo sie nicht schon durch einen ‚richtigen‘ Interpretationsschlüssel abgesichert ist.“ (SuB VI/1, 113.) Was könnten wir wissen von einer unerreichbaren Transzendenz? Wahrheit wäre ein bloßes Postulat, so bei Kant. Wahrheitssuche wäre Donquichotterie. „Die hohen und höchsten Gedanken, die man der Philosophie leicht zuschreibt, wobei sie dann so hoch hängen, daß niemand mehr an sie herankommt, wie Gott, Freiheit, Recht, Pflicht usw. können nicht so formlos sein, daß man bei ihnen nicht mehr unterscheiden kann, ob wir von ihnen wissen oder ob es ‚nur Vorstellungen und Gefühle davon gebe‘. Diese hohen Gedanken pflegen dann in einem Nebel zu versinken, der den Schlendrian der Philosophieverlassenheit einer Zeit als wissenschaftliche Tugend erscheinen läßt.“ (SuB VI/3, 320.) Mit dieser Hegels Wissenschaft der Logik zitierenden philosophischen Standpunktbestimmung spricht sich Liebrucks aus für die Erkennbarkeit der Wahrheit, die Menschen immer notwendig voraussetzen, um sprechen, existieren, leben zu können. Philosophie sucht weder eine bestimmte noch eine transzendente Wahrheit. „Man kann [..] sagen, Philosophie sei die bodenlose Unverschämtheit des Versuchs, Leben und Bewegung zu denken und die Wahrheit zu sagen.“ (SuB III, 14.) Bodenlos, d. h. ohne Fundament, ohne Grundlagen wie die formale Logik. Philosophie denkt mit. Formale Logik schreibt vor. Philosophie versucht, die Wahrheit zu denken, unter deren Voraussetzung wir immer schon denken. Philosophie ist keine Denkart neben anderen. (Vgl. SuB VI/3,
6 Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, Werke in zwölf Bänden, Bd. 7, hg.v. Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1977, 251 (A 218).
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1. Einleitung
141.) Liebrucks versteht Philosophie ebensowenig als eine Wissenschaft, vielmehr als die logische Disziplin, die das Denken denkt und damit die Voraussetzungen der Wissenschaften klärt, welche die Analyse ihrer Bedingtheit übergehen müssen, um ihre Systeme zu erstellen. Als Bedingungsreflexion ist Philosophie Korrektiv der Aussagen der Wissenschaften, insbesondere wo Konflikte zwischen deren Setzungen und der Weltwahrnehmung entstehen, etwa in ethischen Fragen. Ist ein Mensch ein Erscheinungsgegenstand? Das darf sich die formale Logik nicht fragen, sie baut auf dieser Gleichsetzung auf. „Aber die Frage der Philosophie besteht darin, unter welcher Annahme der Mensch Mensch bleiben kann.“ (SuB III, 633.)⁷ Die Wahrheit der Philosophie ist ihre eigene Denk-Bewegung. Ihrer muß sie sich bewußt werden. Korrektiv der Philosophie ist deren Bewußtsein ihres Denkens und Sprechens. Ihre Aussagen sind unwahr, wenn sie nicht im Bewußtsein ihrer eigenen Dialektik geschehen. Der Erkenntnisbegriff, den Liebrucks zu etablieren versucht, ist daher nicht „neu“, sondern Grund aller (bisherigen) Erkenntnisbegriffe, weil die Wirklichkeit von Erkenntnis, die er zu denken versucht, der Möglichkeit von Erkenntnis, die von bisherigen Philosophien für die (je als einzig zu erreichende) Wahrheit angesehen wurde, zugrundeliegt. Wirklichkeit war immer schon, sie wird nicht erst konstituiert. Konstituiert werden Möglichkeiten. Philosophie denkt aber nicht an Gegenständen vorbei (kein menschliches Denken könnte das); sie denkt deren Gegenständlichkeit. Philosophie ist also noch näher bei den Gegenständen als das „objektive“ Denken der formalen Logik. Philosophie ist nicht das Auffangbecken für all das, was wir nur ahnen oder mutmaßen können. Sie ist der Weg zur Erkenntnis und somit das Gewissen der formalen Logik. Ihre Logik hebt die Struktur der formalen Logik in sich auf. Formale Logik muß entweder ihre Eindrücke zu Formeln reduzieren oder die Eindrücke, die sie nicht verwerten kann, hinter die Grenze der Erkennbarkeit abschieben. Philosophie kann Verschlossenheit und Offenheit zusammendenken. Sie muß dazu dialektisch denken, „weil ,Erkenntnis der Gegenstände’ nicht zugleich ‚Gegenstand der Erkenntnis‘ sein kann.“ (SuB III, 39.) Philosophie ist keine Weltgestaltung, sondern θɛωρια. (Vgl. SuB VI/3, 591.) Als dieses Anschauen umschreibt sie begrifflich die Bewegung des Logos: Logik. Insofern ist Logik „das
7 „[…] so ist die Logik als Logos des menschlichen Weltumgangs zwischen Göttern und Menschen, zwischen der Faktenaußenwelt als Maschinengott und dem, was dann Mensch genannt wird, die Meisterin sowohl der religiösen, künstlerischen wie wissenschaftlichen Erfahrung des Menschen und der in den verschiedenen Weltbewegungsweisen aufgefächerten objektiven Seiten seines Kosmos. Sich im Logischen zu halten ist schwer. Es ist die Aufgabe, sich in der Logik nicht als einer Einzeldisziplin aufzuhalten, sondern in ihr als dem Zentrum nicht nur der Philosophie, sondern des Menschen in all seinen Lebenslagen.“ (SuB VI/2, 312.)
B. Sprachphilosophie – Anliegen und Methode
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Zentrum der Philosophie.“ (Ebd.) Als dieses Zentrum bleibt sie das, wonach immer wieder neu zu fragen ist. „Die Antworten auf die Frage nach dem, was das Logische ist, müssen immer unvollständig bleiben. Sie können befriedigende Antworten immer nur relativ zu unserem Bewußtseinsstand sein. Es gibt keine vom Menschen losgelöste logische Sprache über das Logische.“ (SuB VI/1, 232.) Folglich spricht jede Philosophie die Sprache ihrer Zeit. Selten aber beeinflußt Philosophie die Ereignisse ihrer Zeit unmittelbar. Ihre Früchte zeigen sich erst im weiteren Verlauf der Geschichte. Philosophie setzt Zäsuren, ist Wegweiser in eine neue Richtung. Liebrucks geht sogar so weit zu behaupten, daß diejenigen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Menschen die Augen zu öffnen, niemals um die Konsequenzen dessen wissen, wodurch sie sich Gehör zu verschaffen bemüht sind. (Vgl. SuB I, 374.) Philosophie muß erschüttern, sie soll nicht Bestehendes sanktionieren, sondern die Bewegung des Geistes, das Über-sich-selbst-Hinaustreiben, zur Geltung bringen. Sie soll aber ebensowenig ihre Zeit verdammen, deren Sprache sie spricht. Sie ist selbst von der Zeit, in der sie entsteht, gerufen. Philosophie tritt immer in den Vordergrund, wenn ihre Zeit das Denken verlernt hat. „Philosophie ist zu allen Zeiten der zeitgemäße Ausgang aus der Entfremdung des Menschen. Diese Entfremdung hat er selbst hergestellt.“ (SuB III, 422.) Der Philosophie wird in der Gesellschaft erst eine Stimme im Chor der Weltbesprechungen eingeräumt, wenn die Entfremdung auf die Menschen einen unerträglich gewordenen Leidensdruck ausübt. (Vgl. a. a.O., 424.) Die Menschen müssen von sich aus ein Bedürfnis für Philosophie entwickeln. Diese kann dem Menschen nicht sagen, daß er leidet. Er muß Leiden verspüren, dann vermag sie ihm zu sagen, woran er leidet und wieso. Leiden ist die Voraussetzung von Befreiung. Somit kann Liebrucks davon sprechen, daß der Mensch sich die Ehre des Leidens geben muß. (Vgl. ebd.) „Die Philosophie muß sich hüten, erbaulich zu sein, sie darf auch nicht in der Attitüde der Propheten auftreten.“ (A. a.O., 493.) Nie hat eine neue Philosophie eine alte abgelöst, vielmehr hat sie das ihr vorangegangene Denken in sich aufgehoben zu einem ihrer Momente. Darin ist sie Darstellung der Dialektik des Geistes, den sie zum Begriff bringt. Liebrucks selbst besteht ausdrücklich darauf, daß er die als von ihm als überwunden angegebenen philosophischen Entwürfe nicht als obsolet oder fehlerhaft betrachtet. „Widerlegungen von Philosophien sind nicht dadurch zustandezubringen, daß man ihnen logische, philologische, heute vielleicht Fehler unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten nachweist. Das ist der immer gleiche Vorgang, der an den dazu schweigenden Texten der Philosophie abprallt. Ich wurde von einem liebenswürdigen Kollegen gefragt: wann kommt denn nun Ihre Widerlegung der formalen Logik? Wenn man schon von Widerlegung sprechen will, so muß man wissen, daß sie nur in der vollen Bejahung des vergangenen Standpunktes als eines logisch vergangenen Standpunktes bestehen kann.“ (SuB VI/3, 161.) Insofern macht es sich Liebrucks nicht
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1. Einleitung
zur Aufgabe, die Philosophie neu zu erfinden; vielmehr ist ihm daran gelegen, die sprachliche Genesis der Logik bzw. die logische Genesis der Sprache aufzuzeigen. Dies gelingt ihm allein in Rückgriff auf bestehende Begriffe, in denen der Logos bereits philosophisch dekliniert wurde. Der Titel seines Hauptwerkes, Sprache und Bewußtsein, fokussiert zwei Begriffe, die den sprachphilosophischen Erörterungen Liebrucks’ sowohl Anfang als auch Ziel sind. „Das Verhältnis von Sprache und Bewußtsein wird als das Verhältnis der Verhältnisse angesehen. Das erste Verhältnis fungiert nicht technisch-praktisch oder mathematisch, nicht als Prinzip von Verhältnissen. Es wird als Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit eines logischen Ganges von der Substanz über die Stadien der Funktion, Reflexion bis zum Begriff angesehen. Der Funktionsbegriff löst nicht den Substanzbegriff ab, wie noch bei Ernst Cassirer. Substanz, Funktion und Reflexion sind als Momente innerhalb des logischen Begriffs zu denken. Die Frage nach dem Sein tritt nicht in den Vordergrund, obwohl sie das potenzierte Verhältnis als Frage streift. Entgegenständlichung und Vergegenständlichung treten innerhalb der Erkenntnis mit dem gleichen Anspruch auf.“ (Erkenntnis, V.) Zweierlei ist mit diesem Zitat vorweggenommen: Zum einen umschreibt es Liebrucks’ Anliegen, den logischen Weltumgang des Menschen als Sprache darzulegen. In dieser sind Substantialität und Subjektivität sich wechselseitig hervorrufende Momente. Zum anderen ist angedeutet, daß auch menschliche Erkenntnis ersprochen ist. Die Logik unseres Weltumgangs ist empfangen aus dem Logos, der Vernunft, deren Struktur Sprache ist. Sprachlich ist dem Menschen Welt vermittelt, sprachlich bezeugt er sich selbst als seiendes Bewußtsein, sinnlich und geistig in Bezüglichkeit zur Welt und zu den Mitmenschen stehend. Aus dieser Bezüglichkeit, die der Logos ist, empfängt er seine Selbstbeziehung: Indem er bezogen auf das Andere seiner selbst ist, ist er bei sich selbst.
C. Die Sprache Bruno Liebrucks’ Helmut Viebrock beschreibt in seiner Gedenkrede auf Liebrucks dessen Leben als „[…] leidenschaftliches, pausenloses Denk-Leben […]“.⁸ Dieses sei geprägt gewesen durch ein „[…] fühlbares Inspiriertsein, von der Dichtung, der Malerei, der Musik […]“.⁹ Liebrucks’ Sprache ist selbst kunstvoll und höchst komplex. Er kann sich in abstrakte Höhen versteigen, um sogleich in einer Bildergewalt zu taumeln, 8 Viebrock, Helmut, Vom Umgehen eines Denkers mit dem Dichter. Gedenkrede auf Bruno Liebrucks, in: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-WolfgangGoethe-Universität Frankfurt a. M., Bd. XXVIII/6, Stuttgart 1992, 15 – 21, 19. 9 Ebd.
C. Die Sprache Bruno Liebrucks’
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die den Leser streckenweise übermannt.Wer das Pathos scheut, wird vor manchen von Liebrucks verfaßten Textpassagen zurückschrecken. Liebrucks entwickelt nicht allein Gedanken; er hält Plädoyers gegen die Entmenschlichung der modernen und postmodernen Gesellschaft. Liebrucks’ Schreibstil ist durchgehend geprägt von einer auffälligen Ansammlung indirekter Zitate, welche seine umfassende Bildung nicht nur auf dem Gebiet der Philosophie beweisen. Die Texte sind kompakt, äußerlich kaum strukturiert, ein Fluß an Sprache, der selten durch Absätze oder Überschriften unterbrochen wird. Bei einem bloßen Blick auf die Texte fällt auf, daß Liebrucks beinahe ohne Fußnoten auskommt. Literaturnachweise sind spärlich, die Gedanken scheinen aus Liebrucks hinauszudrängen, ohne sich durch formale Methodik aufhalten zu lassen. Das umfangreiche Werk Sprache und Bewußtsein erschien tatsächlich in ungebrochener Kontinuität. Auch inhaltlich weist es keine nennenswerten Brüche, keine Zäsuren, keine Wendungen auf. Konsequent schlägt sich in der formalen Struktur des Werkes Sprache und Bewußtsein die inhaltliche Betrachtung des dialektisch sich über seine eigenen Widersprüche hinaustreibenden Geistes nieder: Das Werk mutet wie eine musikalische Fuge an. Liebrucks’ Begrifflichkeiten und Argumentationsstränge liegen übereinander wie mehrere, sich ergänzende Themenvariationen. Sie alle erzählen von dem Einem, dem Absoluten, denn um nicht weniger als um dieses geht es letztlich in Liebrucks’ Werk. Es arbeitet von der ersten bis zur letzten Seite mit Begriffen und Gedanken, die sich über die gewaltige Anzahl von Seiten wie die Motive einer Fuge übereinanderlegen. Im Verlauf des Werkes treten die einzelnen Motive hervor, ohne jemals für sich zu stehen. Der semantischen Mehrstrahligkeit der Sprache, die Liebrucks zu erläutern antritt, gibt er mit der Sprachgestalt seiner Texte selbst ein Gesicht. Der Gegenstand bestimmt die Methode. Sprache spricht sich in jeder ihrer Äußerungen selbst vor. Eine Philosophie der Sprache hat strenggenommen nie einen Gegenstand, über den sie redet. Sie kann sich keiner Metasprache bedienen, sondern ist selbst Darstellung ihres Gegenstandes. Von der Sprachform hängt folglich ab, inwiefern die Selbstdarstellung der Sprache in den Vordergrund treten darf. Liebrucks versucht, mit seiner Philosophie der Sprache (eine Wendung, die als g e n i t i v u s s u b j e c t i v u s e t o b j e c t i v u s zu verstehen ist) Sprachformen zu etablieren (sofern sie von Hegel übernommen sind: zu Gehör zu bringen), in welchen die Sprache als Äußerung des lebendigen Geistes zur Geltung gebracht ist. Darin sieht er die sittliche Aufgabe seiner Philosophie, wie im Verlauf dieser Untersuchung darzustellen sein wird. Typisch für ihn ist die Vereinnahmung seiner Leser: „Wir“ erkennen mit Liebrucks, er führt uns durch sein Werk, sein Denken. Diese formale Eigenheit bezeugt sein Selbstbewußtsein als Denker. Liebrucks trägt seine Thesen emphatisch vor, durchaus in der Doppelbedeutung des griechischen Ausdrucks bedacht:
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1. Einleitung
nachdrücklich und doch umschreibend. Einerseits ist bei einer Lektüre seiner Texte peinlichst auf die Wortwahl zu achten – kein Begriff scheint zufällig zu stehen, die etymologischen Ursprünge der verwendeten Begriffe sind ausschlaggebend für ihren Gebrauch. Liebrucks’ Texte fordern den Leser zu Aufmerksamkeit und Sorgfalt auf. Andererseits läßt Liebrucks mitunter diese Sorgfalt selbst vermissen: Manch ein Begriff scheint bei ihm doppelt besetzt; der erwähnte Mangel an Literaturnachweisen trägt sein Übriges dazu bei, daß die Texte mitunter schwer zugänglich erscheinen. Liebrucks’ Sprache ist metaphorisch, sein Denken spekulativ. „Für die Philosophie“, sagt Liebrucks, „ist es notwendig, eine Reihe von Unbekannten innerhalb ihrer Diktion zuzulassen und aus der Positivität herauszugehen.“ (SuB III, 38.) Unbestimmtheiten zuzulassen ist kein Anzeichen mangelnder Erkenntnis. Diese These ist eines der Leitmotive der von Liebrucks formulierten Logik; die ihr entsprechende Sprachform ist die Metapher, eine Sprachform, welche die Texte Liebrucks’ entscheidend prägt. Eine der eindrücklichsten Metaphern ist die des Menschen als der freien Marionette Gottes, welche diesem Buch den Titel gibt und in dessen zweitem, theologischem Hauptteil eine zentrale Stelle einnimmt. In dieser Metapher bestimmt sich das Verhältnis des Gottesbegriffs und des Subjektbegriffs über das Freiheitsthema. Hierzu wird im erwähnten zweiten Teil dieses Buches mehr zu lesen sein. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, daß jenes angedeutete Zusammenspiel des Unendlichen und des Endlichen, wie es im Logos den Begriff Gottes und des Subjekts ausmacht, einer Sprachform bedarf, die beide Momente in sich aufzuheben vermag. Jede Sprachform entsteht, wie noch darzulegen sein wird, in der Reziprozität von Unbestimmtheit und Bestimmtheit. In der Metapher ist diese mehrdimensionale Bedeutsamkeit wie in keiner anderen Ausdrucksform zur Geltung gebracht. Metaphorische Sprechweise ist aufgrund ihrer Unexaktheit die genaueste Ausdrucksform, die Liebrucks für sein philosophisches Anliegen wählen kann. Der Gebrauch von Metaphern wird demnach auch die vorliegende Untersuchung bestimmen. Die Bedeutungsfelder der einzelnen Metaphern sind zu erkunden, ihre inhaltlichen Bezüge untereinander herauszustellen. Es wird zu erarbeiten sein, inwiefern sich in ihnen logische Aussagen treffen lassen, die nicht die Vorlage zu einer begrifflichen Entfaltung liefern, sondern über jeden Reflexionsbegriff erhaben sind, weil sich in ihnen die Selbstentfaltung des Logos vorspricht. Die Selbstdarstellung des Absoluten in den eigenen Denkvollzügen des Subjekts zur Geltung zu bringen, ist laut Liebrucks aber die Aufgabe der Philosophie. Es ist die Aufgabe, so nach der Wahrheit zu fragen, daß diese sichtbar werden kann. Philosophie untersucht die Logik unseres Fragens nach der Wahrheit, das immer schon aus unserer Teilhaftigkeit an der Wahrheit resultiert: Wir fragen nach dem, woher wir uns schon empfangen. Damit ist bereits das
D. Literarische Grundlage und formaler Aufbau der vorliegenden Untersuchung
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methodische Vorgehen Liebrucks’ und auch dieser Untersuchung charakterisiert. Man kann kaum von einer Methode sprechen, eher von einem begrifflichen Nachvollziehen der logischen Bewegung des Geistes als Logos, wie sich dieser als unser logischer Weltumgang in jedem Moment unseres In-der-Welt-Seins in unseren Gedanken und Worten ausspricht. Wer Philosophie nicht als prinzipienphilosophische Konsequenzenzieherei betreiben will, kann in ihr nicht zunächst eine Methode vorstellen und anschließend ausmachen. Die Methode ergibt sich aus dem Gegenstand, dessen Betrachtung sie dient.
D. Literarische Grundlage und formaler Aufbau der vorliegenden Untersuchung Die vorliegende Untersuchung kann sich der strukturellen Vorgabe ihres Gegenstandes aufgrund deren materialer Begründung nicht entziehen, setzt aber eigene Schwerpunkte. Es sei ein kurzer Überblick über den Aufbau des vorliegenden Buches gegeben: Es gliedert sich in zwei Teile. Der erste versteht sich als eine Hinführung zur Sprachphilosophie, wie Liebrucks sie entfaltet. Es werden elementare Termini und Denkzusammenhänge vorgestellt sowie die immanente Bezüglichkeit der Begriffe geklärt, um das Vokabular und die logische Struktur für den zweiten Teil bereitzustellen. Das vorliegende Buch verfolgt einen theologischen Impetus, daher liegt der Schwerpunkt auf jenem zweiten Teil, der sich mit der Darlegung des Gottesbegriffs, der Explikation der Marionettenmetapher sowie einer sprachlogischen Rezeption biblischer Texte befassen wird. Ziel dieser Untersuchung ist nicht die erschöpfende Darstellung der Sprachphilosophie Liebrucks’. Der erste Teil stellt die Sprachphilosophie lediglich in ihren Grundzügen vor; der Umfang der Darstellung bemißt sich an der Relevanz der sprachphilosophischen Grundlagen für die systematisch-theologische Fragestellung des zweiten Teils. Demgemäß ergeben sich die Proportionen des ersten Teils aus dem Aufbau des zweiten. Die literarische Quelle der vorliegenden Untersuchung ist das Hauptwerk Liebrucks’, Sprache und Bewußtsein. Dieses erschien in den Jahren 1964 bis 1979 in sieben Bänden, von denen der sechste Band sich in drei Bände unterteilt, so daß letztlich neun Bücher den Umfang des Werkes bestimmen. Eine kurze Übersicht über die inhaltlichen Schwerpunkte der sieben Bände seines Hauptwerkes gibt Liebrucks selbst im siebten Band von Sprache und Bewußtsein, den er als Zielpunkt der vorangegangenen Bände versteht.¹⁰ Diese seien als „Anmerkungen“ zum siebten
10 Exkurse wie dieser werden auch im weiteren Verlauf der Untersuchung den Haupttext un-
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1. Einleitung
Band zu lesen, eine Empfehlung, der ich in meinen Ausführungen jedoch nicht folge. (Vgl. SuB VII, 68.) An dieser Stelle sei Liebrucks’ eigene Zusammenfassung seines Werkes zitiert, zumal darin zutage tritt, welchen Ansprüchen er sein philosophisches Arbeiten unterstellt. Ob er seinem Anliegen gerecht wird, wird jeder Leser für sich zu beurteilen haben. Sein Hauptwerk über das Verhältnis von Sprache und Bewußtsein strukturiert Liebrucks wie folgt: „Der erste Band von ‚Sprache und Bewußtsein‘ gab die Spannweite des Problems in vorphilosophischer Betrachtung.“ In diesem ersten Band entwickelt Liebrucks in Rückgriff auf sprachtheoretische Studien von Herder, Hamann, Gehlen, Révész, Rossi, Vico, Cassirer, Usener u. a. seine These, der Mensch sei anthropologisch nicht als handelndes Wesen zu betrachten, sondern als sprachliches. Er legt in diesem Auftakt zu seinem Werk gewissermaßen sein sprachphilosophisches Handwerkszeug zurecht, klärt Begrifflichkeiten und erläutert sein Verständnis von Sprachphilosophie in Abgrenzung zur Sprachwissenschaft. Bühlers These, Sprache erhebe einen Kontext zum Zeigfeld, liefert Liebrucks die Vorlage, dieses Erheben selbst als Zeigfeld zu betrachten: Sprache zeigt in all ihrem Zeigen auf ihre Gegenstände zugleich auf sich selbst. Die im ersten Band erarbeiteten Thesen und Begriffe werden im zweiten Band noch einmal vorgeführt, dieses Mal mit explizitem Bezug zu Wilhelm von Humboldt, den Liebrucks als bedeutenden Gewährsmann für seine sprachphilosophische Konzeption ansieht. Der zweite Band von Sprache und Bewußtsein „führt die Wilhelm von Humboldtsche Ansicht von diesem Verhältnis [von Sprache und Bewußtsein, S. L.] vor, weil sie die bis heute immer noch bedeutendste sein dürfte. Der dritte Band näherte sich auf den Wegen des Bewußtseins der philosophischen Betrachtung durch eine breite Erörterung des Begriffs der Positivität, eine Gegenüberstellung der Zweckbegriffe Kants und Hegels, der Begriffe des Rechts der Moralität und des Rechts der Sittlichkeit beim jungen Hegel und in seiner Rechtsphilosophie. Die Stufen des Rechts erstreckten sich vom positiven Recht über das der Moralität, das Recht der Sittlichkeit zu dem der bürgerlichen Gesellschaft, dem Recht der Wissenschaft. Sie alle gingen an den zu ihrer Stufe gehörigen Verbrechen zugrunde. ‚Naturrecht‘ bei Hegel gibt die Ausformungen verschiedener sich übereinander aufstufender Weisen des Rechts des Menschen als eines sprachlichen Wesens. – Der vierte Band sollte zeigen, daß Kant logisch in Anspruch genommen hat, was er der Metaphysik verbot. Mit ihm begann die zugleich philosophische wie logische Arbeit. Der 5. Band gab eine Beschreibung der Bewußtseinsstufen der ‚Phänomenologie des Geistes‘ und legte den Ton auf die Übergänge zwischen den Stufen, die als Revolutionen des Denkens zwischen Epochen anzusehen sind. ‚Übergang‘ ist ein Wort, das nicht auf einen Gegenstand im Kantischen Sinn hinweist. Dafür ist er immerseiend. Nach den Erörterungen zur Hegelschen Logik im dreiteiligen 6. Band sind wir imstande, im Überblick über einige Ergebnisse auch die der früheren Bände in Kategorien auszusagen, die erst in den späteren gewonnen wurden. Diese Ergebnisse,von denen hier nur die auf diesen Band bezüglichen genannt werden, sind sprachlicher und logischer Natur und erstecken sich daher auf alle Disziplinen der Philosophie. – Der letzte Band von ‚Sprache und Bewußtsein‘ spricht von einer anderen Spannweite des Problems als der erste. Es soll die Spannweite im Verhältnis von Mythos zum Logos i m L o g o s
terbrechen. Sie dienen der Darlegung eines Sachverhalts, der für die erfolgende Erörterung erheblich ist, dessen Aufnahme in den Haupttext diesen jedoch unnötig verkomplizieren würde. Der Haupttext sollte infolge der Lektüre der Exkurse nachvollziehbarer, bei Auslassung der Exkurse jedoch nicht unverständlich werden.
D. Literarische Grundlage und formaler Aufbau der vorliegenden Untersuchung
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aufgezeigt werden.“ (A. a.O., 8 f.) Die hier nur angedeuteten Inhalte werden im Verlauf meiner Untersuchung ausführlicher zur Sprache kommen, daher soll diese Skizzierung der von Liebrucks in seinem Hauptwerk behandelten Inhalte an dieser Stelle genügen.
Wo es der Erörterung dient, sind auch die Beiträge aus zwei Aufsatzbänden Liebrucks’ in die Darstellung einbezogen: Erkenntnis und Dialektik (1972) sowie Irrationaler Logos und rationaler Mythos (1982). Die Dissertations- und Habilitationsschrift wurden unberücksichtigt gelassen. Da Liebrucks seinen originären Entwurf einer Philosophie der Sprache in seinem Hauptwerk niederlegt, ist dieses die bevorzugte Quelle dieser Untersuchung. Seine gesammelten Vorträge und Aufsätze erscheinen wie verdichtete Darstellungen der Thesen aus Sprache und Bewußtsein. Eine formal aus dem Rahmen fallende Schrift ist der zum Teil als fiktives Interview verfaßte Text Das nicht automatisierte Denken (1975). Dieses in einem Sammelband philosophischer Selbstvorstellungen zeitgenössischer Denker erschienene Selbstportrait nutzt Liebrucks, um seine philosophische Eigenwilligkeit zu inszenieren. Nicht nur die Form seines Textes ist unüblich. Als einziger läßt er nicht ein Portraitfoto von sich abdrucken, sondern eine Zeichnung. Diese zeigt ihn im Doppelprofil und wirkt somit, als stelle er an sich selbst die Mehrdimensionalität des Sprachgeschehens dar, das zu untersuchen er sich zur Aufgabe macht. Markant sind die Züge dieser Zeichnung, mitunter etwas grob, expressionistisch. Zugleich verrät sich in ihrer kantigen Ausführungen eine Sensibilität der Darstellung, die den Blick bannt. Der Denker tritt in doppelter Perspektive aus einem opaken Hintergrund hervor, ohne sich von ihm zu lösen. Das Portrait visualisiert nicht nur die Züge des Denkers, sondern ebenso seines Denkens. Zur Portraitierung dieses Denkens konzentriert sich die vorliegende Untersuchung auf die Texte Liebrucks’, auf deren Referenzstellen in entsprechenden philosophischen Werken sowie auf theologische Autoren, deren Schriften eine Affinität zu den von Liebrucks aufgestellten Thesen, seiner Logik des Logos, zu besitzen scheinen. Zu betonen ist diesbezüglich, daß meine Untersuchung weder das Werk Liebrucks’ zu Ende schreiben, noch sich an der Lösung dogmatischer Probleme versuchen will. Als Untersuchung will sie keinen Dialog beschließen, sondern eröffnen: den Dialog zwischen einem fast vergessenen Philosophen und der Theologie. Eine (theologische) Forschungslage, die es zu diskutieren gälte, existiert so gut wie nicht. Daher versuche ich, einen eigenständigen Zugang zu Liebrucks zu finden: eine systematisch-theologische Interpretation von Liebrucks, die nicht nur diesen mitteilt, sondern auch sich selbst. Sie stellt sich einer bestimmten Fragestellung, die Liebrucks selbst so nicht formuliert hat. Gefragt ist nach dem Gottesbegriff, den Liebrucks in seinen Schriften, vornehmlich in seinem Hauptwerk, entwickelt. Es ist eine theologische Fragestellung an einen Philoso-
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1. Einleitung
phen, der allerdings nicht erst in die Nähe christlicher Denktradition gerückt werden muß. Vielmehr sieht Liebrucks sich selbst als in dieser Tradition stehend, der er einen bisher nicht eingeholten Erkenntnisvorrang vor allen ihm bekannten philosophischen Entwürfen zugesteht. (Allerdings ist für Liebrucks auch deutlich: Hätte eine andere Religion oder eine Philosophie den Logos so ausgesprochen, wie es das Christentum tat, so wäre sie die Grundlage seiner Theorie über den Logos.) Sein philosophisches Denken kommt nicht aus ohne den Bezug zur christlichen Tradition – weniger zur dogmatischen als zur biblischen. In der Dogmatik, der Theologie als Wissenschaft, sieht er den Erkenntnisdurchbruch der neutestamentlichen Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen D e u s h o m o verbildet. Liebrucks’ Bindung an die christliche Tradition begründet, warum eine theologische Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff das Werk dieses philosophischen Denkers zum Inhalt hat. In seinen Schriften schreibt Liebrucks nicht allein vom philosophischen Absoluten, sondern benennt dieses als „Gott“ und meint damit den einen Gott, wie er im Neuen Testament verkündet und bezeugt – Liebrucks würde wohl sagen: zum ersten Mal begrifflich umschrieben – wird. Wie schon sein großes Vorbild Hegel nimmt auch Liebrucks den Prolog des Johannesevangeliums mit dessen Logos-Theologie als Ausgangspunkt seines philosophischen Denkens. Den von ihm entwickelten Gottesbegriff darzustellen, macht sich die vorliegende Untersuchung zur Aufgabe und hofft, somit eine neue Perspektive zur Interpretation des Logosbegriffs zu erschließen, indem dessen Doppelbedeutung von Wort resp. Sprache und Vernunft in pointierter Weise herausgearbeitet wird. Dabei ist der theologischen Interpretation durchaus eine Grenze gesetzt: Liebrucks’ Werk ist kein Bekenntnis, sondern der Entwurf einer Logik. Liebrucks’ Rede von Gott ist keine Sprache des Glaubens, auch wenn man oft versucht ist, sie dementsprechend zu lesen. In Anlehnung an eine von Liebrucks gebrauchte Wendung möchte ich konstatieren, daß ich mit der vorliegenden Untersuchung eine Lesart des Werkes von Bruno Liebrucks gebe, die darüber zu denken anregen will, was dort auch gesagt sein könnte. Er selbst hat sich nie als Theologe verstanden. So darf man ihn auch nicht zu einem solchen umdeuten. Dennoch ist es wohl zulässig zu bemerken, daß Liebrucks’ Logik ein Sprechen von Gott erlaubt, das dem Bewahren des Geheimnisses des Glaubens nahesteht. Wissenschaft will Geheimnisse aufklären, der Glaube begreift, daß das Geheimnis „Gott“ größer wird, je mehr man davon versteht. Dieses Geheimnis kann man nach Hegel nur noch rühmen. Für Liebrucks ist es das höchst erreichbare Niveau der Philosophie, zu einem solchen Ruhme Gottes anzutreten. Liebrucks‘ Kritikern erscheint dessen Vertrauen in eine zum Ruhme Gottes geschriebene Philosophie wie Hegels Idealismus oder Hölderlins philosophische
D. Literarische Grundlage und formaler Aufbau der vorliegenden Untersuchung
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Dichtung als Pathos.¹¹ Ich dagegen lese Liebrucks’ Vertrauen in die geheimnisvolle Gegenwart Gottes, in welcher dieser zugleich verborgen und entborgen das Integral aller menschlichen Lebensvollzüge ist, als Öffnung seines philosophischen Denkens für den Dialog mit der Theologie. Es muß jedoch bedacht werden, daß in Sprache und Bewußtsein zwar von Gott die Rede ist, aber nicht im Sinne eines verkündigenden Redens von Gott.Vielmehr geht es um den Gottesbegriff, um unser Begreifen Gottes. Die dialektische Logik des Geistes als Selbstbegreifen Gottes im Menschen und Selbstbegreifen des Menschen in Gott ist das Thema, das Liebrucks über den Logosbegriff, den Sprachbegriff entfaltet. Daher trägt die vorliegende Untersuchung als Arbeit am Gottesbegriff im Titel zunächst das Thema des Menschen und dessen Freiheit. Die Begründung hierfür liegt darin, daß wir die Begegnung mit Gott nur in unserem konkreten Dasein haben. Sie will daher immer auf unser Dasein hin ausgelegt werden. Sie ist nicht schlicht hinzunehmen, sondern in unseren Denk- und Handlungsvollzügen zu verorten. Darum strebt die intime religiöse Erfahrung immer zur Reflexion. Deren Niveau entscheidet sich an der Kultur einer Gesellschaft: Von der Erfahrung der Gegenwart des Unendlichen im Endlichen wird in der Form eines Götterhimmels gesprochen oder nur von dem einen Gott; das Göttliche erhält Namen und Formen in Statuen und Bildern; es wird zu beweisen versucht oder in der Poesie besungen. Entscheidend ist, wie Gottes Gegenwart erfahren wird: Ist sie zu fürchten oder zu erhoffen? Zu fürchten ist sie, sofern sie als das empfunden wird, was die Gewohnheiten des Menschen, seine Ordnungen und Institutionen ins Wanken bringt. Erhofft, geliebt wird sie, sofern Gott als der erscheint, der in die Welt als sein Eigentum kommt. So weiß sich die Welt als in der Wahrheit Gottes gehalten. Dieser Gott ist der Gott, den das Christentum verkündet. Es ist der Gott, den Liebrucks in dem von ihm formulierten Gottesbegriff zu denken antritt. Er ist der Gott, in Abhängigkeit von dem der Mensch seine Freiheit erfahren kann. Nur als Marionette des christlichen Gottes ist der Mensch frei. Letztendlich steht das Reden von Gott bei Liebrucks im Dienste des Menschen – auch hier scheint er nicht weit vom Anspruch der neutestamentlichen Verkündigung entfernt. „Laßt euch versöhnen mit Gott!“ (II Kor 5, 20.) Sich mit Gott versöhnen zu lassen, sich im Logos zu wissen – das ist es, wozu Liebrucks mit seiner Logik des Logos aufrufen will. In seinen Worten gesprochen: „Den Menschen auf den Stand der Sprachlichkeit seines Bewußtseins zu bringen!“ (SuB I, 2.) In dieser Sprachlichkeit liegt die Einheit des Subjekts begründet, die sich von der prinzipiellen 11 So überschrieb Jürgen Habermas im Januar 1986 seinen Nachruf auf Bruno Liebrucks in der Frankfurter Rundschau mit dem Titel „Ohne Scheu vor dem Pathos der großen Philosophie“ – damit sind meiner Auffassung nach sowohl Anerkennung als auch Skepsis zum Ausdruck gebracht.
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1. Einleitung
Einheit eines formalen Ich-Postulats, wie Kant es mit dem Theorem der transzendentalen Apperzeption formuliert, darin unterscheidet, den eigenen Widerspruch zum konstituierenden Moment seiner Identität zu haben. Nur ein solches Ich, das auch in seiner Entfremdung bei sich selbst ist, ist ein menschliches Ich. Diesen Subjektbegriff gewinnt Liebrucks über den Gottesbegriff, seinen Begriff des Logos. Der Erläuterung dieser These widmet sich die vorliegende Untersuchung.
Erster Hauptteil: Liebrucks’ Philosophie der Sprache
2. Lingua docet Logicam „Geschrieben steht: ‚Im Anfang war das Wort!‘ Hier stock‘ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! auf einmal seh‘ ich Rat. Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“ Goethe, Faust I, Studierzimmer
Am Anfang war das Wort. (Vgl. Gen 1; Joh 1.) Als Anfang ist es das v e r b u m e f f i c a x , das all das zu seinem Moment hat, was Dr. Faust gegeneinander ausspielen zu müssen glaubt: Sinn, Kraft und Tat. Das Übersetzungsproblem, mit dem Goethes Dramenheld sich müht, begründet ebenso das philosophische Vermächtnis, das Bruno Liebrucks hinterlassen hat und das ich in Ermangelung einer bestehenden Bezeichnung eine Philosophie der Sprache resp. des Logos nennen möchte. Der λογος, den in Worte zu fassen Faust sich schwer tut, ist der Hauptakteur im Werke Liebrucks’, dessen Anliegen von dem des Faust nicht sehr verschieden ist: den Begriff λογος zu übersetzen. Es wird sich zeigen, daß die Uneindeutigkeit dieses Begriffs nicht hinwegzudefinieren ist, zumal sie auf dessen logischen Status verweist. Der griechische Ausdruck λογος wird von Liebrucks als „Sprache“ übersetzt, ohne daß sich mit dieser Übertragung in die deutsche Sprache die Vieldeutigkeit des griechischen Wortes erübrigen würde.Vielmehr ist von der Mehrdeutigkeit des Wortes λογος aus der Sprachbegriff neu zu erarbeiten. „Die Sprache ist […] das logische Worin von Etwas und ein Anderes. Sie ist der Logos, in dem alles ist, was ist.“ (SuB VI/1, 352.) Sprache ist die logische Einheit von Denken und Existenz, in welcher sich der Mensch zur Welt, zu seinen Mitmenschen, zu sich selbst verhält. Das logische In-der-Welt-Sein des Menschen ist Sprache. In der Welt ist der Mensch stets sprachlich vermittelt. „Es ist da kein unmittelbares ‚In-der-Welt-Sein‘ des Menschen. Der Mensch ist in der Welt buchstäblich in dem Maße, in dem er in der Sprache ist.“ (SuB I, 437.) Es gibt keine „sprachunabhängigen Ereignisse[]“. (SuB VI/1, 32.) Zumindest hat es nach Liebrucks’ Kenntnis „noch keinen Logiker, keinen Erkenntnistheoretiker, keinen Wissenschaftstheoretiker gegeben, der uns ein
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2. Lingua docet Logicam
Stück Welt außerhalb der Sprache gezeigt hätte.“ (SuB VI/3, 612.) Als ζωον λογον ɛχον spricht der Mensch das Anfang seiende Wort beständig selbst aus. Er ist als Sprechender selbst „anfänglich“, wie ich es in Anlehnung an Hannah Arendt ausdrücken möchte. Die Natalität des Menschen ist seine Sprache: „Der Mensch wird nicht durch die Geburt, sondern durch die Sprache zum Menschen.“ (SuB II, 83.) Erst mit dem Tod tritt der Mensch aus der Sprache heraus. Die Frage nach der Begründung des logischen Status der Sprache ist die Frage nach ihrer logischen Struktur. In diesem ersten Hauptteil der vorliegenden Untersuchung will ich daher Liebrucks’ – in Variation eines Leibniz-Wortes formulierte – Arbeitsfrage zu meiner eigenen machen: „Wie macht Sprache es, daß sie auf etwas und nicht auf nichts deutet? Warum ist Bewußtsein überhaupt und nicht nichts?“ (SuB II, XI.)
A. Von den Ursprüngen „Als was muß Wirklichkeit erfahren worden sein, wenn der Mensch auf sie nicht mit einer Handlung, sondern mit der Sprache antwortete?“ (A. a.O., 307.) Um diese Frage zu beantworten, widmet sich Liebrucks vornehmlich im ersten Band von Sprache und Bewußtsein einigen sprachwissenschaftlichen und sprachtheoretischen Erkenntnissen u. a. von Bühler, Gehlen, Révész, Rossi, Vico, Cassirer und Usener, um ein theoretisches Fundament für seinen Sprachbegriff zu legen. Besonders aber Herder, Hamann und Wilhelm von Humboldt, dem auch der zweite Band von Sprache und Bewußtsein zugeeignet ist, gelten Liebrucks als Gewährsmänner seiner eigenen sprachlogischen Theorie. Die Ursprünge der Sprache findet Liebrucks vornehmlich bei Hamann und Herder reflektiert. Herders Schrift Über den Ursprung der Sprache wird von Liebrucks als Eröffnungswerk der Epoche der Sprachphilosophie eingestuft¹² und soll daher ebenso den Ausgangspunkt für die folgende Skizze des Sprachbegriffs bei Liebrucks bilden. „Schon als Tier hat der Mensch Sprache.“¹³ Der animalische Aspekt der Sprache ist ihre Sinnlichkeit, ihr physisches, akustisches Moment. Gegenüber den instinktiv besser an ihre Umwelt¹⁴ angepaßten Tieren erschien die Sinnlichkeit des
12 Liebrucks‘ Philosophie baut jedoch keine Verbindung zu Herders Erkenntnistheorie auf. 13 Herder, Johann Gottfried, Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772], in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 5, hg.v. Suphan, Bernhard, Berlin 1891, 1‐154, 5. Vgl. Rede, 319. 14 Die Differenzierung zwischen „Welt“ und „Umwelt“ geht auf Max Scheler zurück, der sie zur Benennung des Wesensunterschieds zwischen Mensch und Tier einsetzt. Die Umwelt steht für eine spezifische Umgebung, auf die das Tier spezialisiert und die für es in diesem Sinne lebenswichtig ist. Das Tier reagiert auf seine Umwelt. Des Menschen Verhalten ist dagegen nicht
A. Von den Ursprüngen
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Menschen meist als mangelhaft (so bei Herder, Gehlen, Weber). Dieser Mangel jedoch läßt den Menschen sein Tier-Sein überwinden, indem er nicht allein Laute, sondern Worte bildet. Sprechend macht er sein Defizit an instinktiver Angepaßtheit wett. Sprache wird somit zum „Lückenbüßer“. (Vgl. SuB I, 61 u. ö.) Das Tier ist gekennzeichnet durch seine Instinktsicherheit und Spezifikation innerhalb seiner Umwelt. Es paßt sich seiner Umwelt an, es gestaltet sie nicht. Tiere haben keine Kultur. Die „Sprache“ der Tiere ist ein reines Zeichensystem, das nach dem Reiz-Reaktions-Schema funktioniert; so ist es ausreichend und funktional in bezug auf das Überleben in der Welt als Umwelt. Es ist aber auch situationsgebunden und nicht schöpferisch, man denke an Übersprungshandlungen und Fehlleistungen, wenn ein Tier keinen Ausweg weiß: Ohne seine natürliche und bekannte Umwelt ist ein Tier (zunächst) hilflos. Es wird versuchen, sich der veränderten Umgebung zu assimilieren oder akkommodieren, instinktiv ein Verhalten zu erlernen, das es ihm erlaubt, sich in die veränderten Umstände einzugliedern. Es verändert seine Spezialisierung. Den Menschen hingegen führt sein Mangel an Spezifikation zu einer Isolierung von der Welt, einer Isolierung, die durch die Sprache wieder aufgehoben wird. Durch seine sprachliche Offenheit holt er nicht nur die Spezialisierung der Tiere ein. Er kann sich ihnen zudem zum Herren setzen, da er durch die Sprache vorausschauend denkt, anstatt bloß zu reagieren. Des Menschen Sprache ist demnach „Antwort auf seine Bedürftigkeit!“ (Ebd.) Liebrucks übernimmt von Herder die Einsicht, daß im Entstehen der Sprache als Antwort auf die Bedürftigkeit des Menschen das sinnliche Moment der Sprache konstitutiv sei: Der Mensch spricht, weil er hört. „Die Sprache entsteht nicht erst im Moment der Subjekt-Objektspaltung, im Kantischen Sündenfall, mit dem die Geschichte beginnt. Sie ist schon in der Natur,wenn auch nicht als menschliche im Sinn unserer Tradition, nachdem diese aufgeschrieben werden konnte, sondern war schon immer als die Sprachen des Himmel und der Erde. Diese stehen auch heute noch am Ursprung der menschlichen Sprache. In diesen sprachschöpferischen Augenblicken, in denen der Mensch seine Sprache aus denen des Himmels und der Erde buchstäblich schöpft, ist er frei […].“ (SuB VII, 485.) Der Ursprung der Sprache besteht darin, daß Natur mit uns spricht. Herder schmückt die Erfahrung des Aufforderungscharakters der tönenden Natur aus.Vor allem erinnert er an die mythische Vorstellung der Naturgottheiten in archaischen Gemeinschaften und Religionen: jeder Strauch, jede Blume, jeder Windhauch, jeder Blitzschlag eine Gottheit. Alles war beseelte Natur für den, der sich der Natur sinnlich hingab.
allein durch seine Lebensumgebung vorgegeben; er ist weltoffen, sofern er sich eine Umwelt schaffen kann. Vgl. Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos, hg.v. Frings, Manfred S., Bonn 200215, 38.
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2. Lingua docet Logicam
Natur war nicht Faktenaußenwelt (Gehlen), sie war voll göttlichen Lebens, voll göttlicher Lebenszeichen. „Der Ursprung der Sprache liegt nicht in einer Vernunft, die Vernunft des isolierten einzelnen ist, sondern darin, daß der Mensch ,das sympathetische Geschöpf‘ ist; der Ton der Empfindung soll den anderen ,in denselben Ton versetzen‘ (S. 11).“ (SuB I, 58.)¹⁵ Herder kann davon sprechen, daß „die göttliche Natur“ die „Sprachlehrerin und Muse“¹⁶ des Menschen ist. Mit anderen Worten scheint Sprache nachahmende Reaktion auf ein überwältigendes Erlebnis zu sein. „Wir erzeugen das Gehörte in uns.“ (SuB I, 473.) Sprache ist somit ein Reflex, Erwiderung einer Art von Aufforderung durch das Tönen der Natur.Wir anthropomorphisieren die Welt, indem wir sie als das beschreiben, was sie für uns ist. Sprachliche Weltbegegnung ist dialogisch. „Der Mensch lebt in all seinen Bezügen sprachlich, als ein auf seine Eindrücke antwortendes Wesen.“ (SuB II, 170.) Daher resultieren verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache, je nachdem, wie sie uns begegnet. „Die Sprache teilt uns niemals etwas über ein abstraktes Ansichsein der Dinge mit, sondern immer dasjenige an den Dingen, was für uns war.“ (SuB I, 347; vgl. SuB VI/3, 631.) Man denke an die Vielfalt von Bezeichnungen für Wasser, das uns begegnet als Regen, Meer, Flut, Welle, Tropfen, Quelle etc. Neue Sprachformen und veränderte Weltbegegnung gehen immer Hand in Hand. „Die atmosphärengeladenen Wörter sind der menschlichen Erfahrung in abertausend Einzelfällen der Jahrhunderte abgelauscht.“ (SuB I, 360.) Daß aber Natur dem Menschen etwas „sagen“ wollte, worauf er antworten mußte, ist ein Irrtum. (Vgl. a. a.O., SuB I, 69.) Natur wollte nichts „sagen“, der Mensch hat es lediglich so erfahren. „Solche Erfahrung göttlicher Natur als einer lebendigen, sprechenden, handelnden hat uns Sprache geschenkt.“ (A. a.O., 68.) Indem unser sprechendes Antworten auf die als zu uns sprechend erfahrenen Dinge uns Welt gibt, bringen wir menschlichen Raum in den göttlichen. (Vgl. a. a.O., 472.) Die Dinge verlieren ihre Fremdheit, wenn der Mensch sie benennt. In den Bedeutungen der Worte entdeckt der Sprechende sowohl Verwandtschaft über die sprachlichen Relationen, die beide verbindet, als auch das Anderssein der Dinge, das sie als von sich selbst her bedeutend zeigt.Wo uns Welt als fremd erscheint, ist sie wie in ein bedrohliches Schweigen gehüllt, das wir brechen und uns im Gespräch mit dem Fremden dieses zum Vertrauten machen. (Vgl. ebd.) Schon die lallenden Laute des Kindes sind Reaktionen auf die Geräusche seiner Umwelt. Wie kam und kommt jedoch der Mensch dazu, vom Lallen zu Bedeutungen zu gelangen? Dies wissen wir nicht. Oft wurde behauptet, es sei durch Gewöhnung
15 Liebrucks zitiert hier Herders Abhandlung Über den Ursprung der Sprache aus den Sprachphilosophischen Schriften, hg, v. Heintel, Erich, Hamburg 1964, 11. 16 A. a.O., 50.
B. Der Logos als Mythos
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geschehen. „Wofür hat diese unverstandene Vokabel nicht schon alles herhalten müssen! […] Die Dressur der Tiere gibt ihnen auch nicht die artikulierte Bedeutung dessen mit, was sie da zu ,tun’ haben.“ (A. a.O., 59.) Liebrucks vertritt hier einen klaren Standpunkt: Aus Gewöhnung kann nichts entstehen, sie selbst entsteht an bereits Vorhandenem und ist nicht ursprünglich. Ursächlich klären, wie Bedeutung aus Bedeutungsfreiem entspringt, können wir laut Liebrucks nicht, denn „[w] ir Menschen sind sprachlich, bevor wir sprechen lernen.“ (Rede, 318.) Herders Verdienst liegt in dem Novum, Sprache nicht mehr als Gegenstand zu begreifen, sondern als Bedingung der Möglichkeit davon, daß Menschen Gegenstände haben können. Sprache ist sowohl Gegenstand als auch ungegenständlich. Sie kann sich zum Gegenstand des Denkens machen, sie kann instrumentalisiert werden (ein Aspekt, den sie nie ablegt, auch wenn er sie nicht ausmacht); sie ist aber auch ungegenständlich, sofern in ihr das Gegenständliche zum Begriff aufgehoben ist. In der Dialektik von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit ist es dem Menschen möglich, über etwas zu sprechen. Sprache ist eine Distanzierungsleistung, durch welche etwas in den Blick, ins Bewußtsein gelangt. Sie schafft diese Distanz, weil das voneinander Distanzierte in ihr als Moment aufgehoben ist. Sprache ist die Einheit von Sinnlichkeit und Geist, Existenz und Begriff. Diese Einheit wird in jedem ihrer Begriffe, ihrer Laute vollzogen. „Der Sprachlaut als ein etwas bedeutender Naturlaut ist […] wegweisende Bewegung, die sich zwischen den beiden platonischen Welten der Sinnlichkeit und der Ideen aufhält und aus dieser Art Zwischenstellung keinen Augenblick heraus geht.“ (SuB I, 482.) Eine Sprache, welche diese Dialektik von Sinnlichkeit und Geist in ihren Sprachformen selbst zum Ausdruck bringt, ist die Sprache des Mythos. Dieser widmet sich der folgende Abschnitt.
B. Der Logos als Mythos Der Ursprung der Sprache ist nicht zu terminieren.Von ihm ist allein in Form einer mythischen Erzählung zu sprechen. Die sprachlogische Adäquatheit mythischer Rede verrät sich bereits in ihrer Bezeichnung, denn μυθος bedeutet „Wort“. Liebrucks macht sich stark für eine erkenntnistheoretische Rehabilitation des Mythos, dessen Denkniveau mit dem Einsetzen der hellenistischen Philosophie als „unvernünftig“ verraten wurde. Liebrucks’ Sprachphilosophie ist ein entschiedenes Plädoyer gegen „Entgeistung, Entzauberung, Entmythologisierung“. (SuB VI/3, 375.) Die Wiege der westlichen Philosophie, die für Liebrucks’ Ausführungen ausschlaggebend ist, steht im antiken Griechenland. Dort wurde Philosophie geboren als Ausformung eines Denkens, dessen Selbstverständnis als vernünfti-
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2. Lingua docet Logicam
ges Denken dadurch geprägt war, den Mythos überwunden zu haben. Mythos und Logos wurden einander kontrastiert. Die Entwicklung der abendländischen Geistesgeschichte grob überschlagend, kann man behaupten, daß seither allem Mythischen eine gewisse intellektuelle Anrüchigkeit anhaftet. (Vgl. SuB I, 248.) Mythen gelten als Zeugnisse eines eskapistischen Irrationalismus‘, sogenanntes „aufgeklärtes“ Denken verpflichtet sich zur Entmythologisierung von Weltbeschreibung. Doch die Sprache des Mythos hat sich stets behauptet und neue Formen gefunden, etwa in romantischer Schwärmerei oder regelmäßig wiederkehrenden Renaissancen antiker Sagenstoffe. Mythische Redeweise ist jedoch zunehmend funktionalisiert worden. Ein trauriges Beispiel auf politischem Terrain bietet die Propaganda der Schergen des sogenannten „Dritten Reiches“. Nach 1945 hat man im Rückblick auf die mythisch inszenierten Rassentheorien des Nationalsozialismus‘ daher mythische Sprache als (mögliche) Ausdrucksform des Faschismus beinahe ausschließlich gemieden. Liebrucks nun hält die „Rückkehr zum Mythos in einem rationalen, unblutigen, sympathetischen Weltumgang“ für logisch notwendig. (SuB VI/1, 170.)¹⁷ Er nimmt davon Abstand, einzelne Verständnisse des Mythos, die in seinen Augen Mißverständnisse sind, auszuräumen, und wagt vielmehr eine grundsätzliche Behauptung gegen die Abqualifizierung des Mythos: „Ich denke, daß im Mythos etwas von der Sprachlichkeit der menschlichen Existenz erfahrbar sein muß. Der Mythos könnte eine Wahrheit in sich enthalten, die durch eine niedrigere Stufe des Bewußtseins verdeckt wurde.“ (SuB VII, 70.) Worin aber besteht die Wahrheit des Mythos, die es philosophisch nicht aufzulösen, sondern einzuholen gilt?
17 Auf dieses Anliegen behauptet Liebrucks kein Monopol. Die Rehabilitation des Mythos kann als „modische“ Erscheinung der postmodernen Philosophie betrachtet werden. In der gegenwärtigen Philosophie steht meist der Name Hans Blumenberg in Verbindung mit dessen Werk Arbeit am Mythos für einen Versuch, eine Wahrheit des Mythos im Zusammenhang mit der modernen Säkularisierung zu erschließen. Blumenbergs Argumentation ist im Unterschied zu Liebrucks‘ Verständnis vom Mythos eher kulturanthropologisch. Bei Blumenberg erhält der Mythos die Funktion einer Entlastung des mit der Einsicht seiner Nichtigkeit überforderten Menschen. Mythos ist die Erschaffung einer Welt von Bedeutsamkeit, an der orientiert sich der Mensch in der Übermacht der ihn konfrontierenden Lebenswirklichkeit zum Weiterleben motivieren kann. Mythos verheißt Sinn. Bei Blumenberg erscheint der Mythos also ganz im Gegensatz zu Liebrucks‘ Auffassung als Instrument der Weltbewältigung. (Vgl. Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979.)
B. Der Logos als Mythos
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I. Die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen: Welterfahrung und Sprache des Mythos Sein Verständnis von Mythos gewinnt Liebrucks in der Lektüre des großen italienischen Geschichts- und Rechtsphilosophen Giambattista Vico, dessen Werk auch kulturwissenschaftlich bedeutsame Thesen aufweist. Liebrucks erkennt in Vico einen dialektischen Denker. „Die Dialektik Vicos besteht darin, daß er einen Allgemeinbegriff kennt, der sinnlich ist.“ (SuB I, 262.) Vico prägt für diesen sinnlichen Allgemeinbegriff die Bezeichnung „u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o “ . Er geht davon aus, daß es eine sinnlich wahrnehmbare Wahrheit geben kann. Allgemeinbegriffe wie z. B. „Schönheit“ stehen nie abstrakt, sondern werden i n c o n c r e t o ausgesprochen. „Diese Rose ist schön“ ist ein Satz, in dem Allgemeines und sinnlich erfahrbares Besonderes zusammengebracht werden; der Allgemeinbegriff wird sinnlich konkretisiert. Das Bewußtsein für diese sinnliche Allgemeinheit wiederzubeleben, Allgemeinbegriffe (mit Hegel formuliert) nicht als Abstrakt-Allgemeines, sondern als Konkret-Allgemeines darzustellen, hat Liebrucks sich zur Aufgabe gemacht. Dieses Vorhaben beinhaltet eine erkenntnistheoretische Aufwertung mythischer Sprachformen. Allgemeinbegriffen ist das Einzelne inhärent (sowie dem Einzelnen das Allgemeine). Jeder Begriff ist die dialektische Einheit von Allgemeinem und Besonderem. Mythos ist die Darstellung dieser Dialektik als umschreibendes Erzählen erfahrener Teilhabe des Endlichen am Unendlichen. Die Sprachformen des Mythos entsprechen dieser Erfahrung. Der Mythos hält keine Fakten fest, sondern läßt in seinen Erzählungen die ihnen zugrundeliegenden Erlebnisse lebendig bleiben. Mythische Erzählung macht sich nichts zum Objekt. Die Erzählenden und ihre Adressaten treten ein in Sphären, in welchen ihnen die Inhalte ihrer Reflexion auf Erlebtes erneut erlebbar werden. Die Sprache des Mythos ist auratisch und somit Nachahmung der sie begründenden Welterfahrung. (Vgl. SuB VII, 17.) Dem sympathetischen Weltempfinden des Mythos entspricht insbesondere das metaphorische Moment der Sprache. Jede Metapher ist nach Vico „ein kleiner Mythus“¹⁸, ein Moment der Sprache, in dem Sinnlichkeit und Geistigkeit sich aneinander ausbilden. Die Metapher bewahrt in ihrer deutungsoffenen Ausdrucksform ihr eigenes Zustandekommen. Sie umgibt sich mit einem Bedeutungshof, der sich nicht in eindeutige Zuordnungen auflösen läßt und veranschaulicht, daß sich die Bedeutung des Einzelnen erst in einem allgemeinen
18 Vgl. Vico, Giambattista, Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausg. von 1744 übers. u. eingel. von Auerbach, Erich, Berlin/New York 20002, 171.
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2. Lingua docet Logicam
Zusammenhang erschließt. Sofern damit das Zustandekommen jeglicher Sprachform umschrieben ist, kann Liebrucks behaupten, es gebe kein „unmythisches“, anders gesagt, es gebe „kein undichterisches Wort.“ (SuB I, 254.) So ist aber ebenfalls zum Ausdruck gebracht, daß Mythos nicht eine Spielart von Sprache neben anderen ist. (Vgl. a. a.O., 251.) Im Mythos begegnet ein Konkretes als Moment eines Ganzen, das Philosophen das Absolute, Judentum und Christentum den einen Gott, pagane Kulturen einen Götterhimmel nennen. Im Mythos steht nichts für sich, sondern erscheint als Einzelnes in unendliche Bezüglichkeit eingebunden. Mythische Rede fängt in ihren den eindeutige Tatsachen verlangenden Verstand narrenden Bildern die Erfahrung ein, daß alles Einzelne immer schon auf ein Anderes seiner selbst bezogen ist, auf das es – in Anlehnung an Hegel gesprochen – in „sichtbarer Unsichtbarkeit“ verweist. Mythische Erfahrung und mythische Sprache sind bedeutend. Die Sprachform der Metapher hat sich diesen Bedeutungshof, der jede Sprachform umgibt, zum Charakteristikum gemacht. Sie ist Erbin des u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o , das Vico als Kennzeichen mythischen Denkens erarbeitet hat. Wie die menschliche Erfahrung trennt auch der Mythos nicht zwischen ɛιδος und υλη. Auf diese Weise ist im Mythos als Mythos die dialektische Bewegung und logische Struktur der Sprache erfaßt. (Vgl. a. a.O., 279.) Schon Vico entdeckt im Mythos den Ursprung von Sprache. Er verfaßt eine phantastische, spekulative Menschheitsgeschichte als Geschichte eines Gestaltund Gedankenwandels menschlicher Weltbegegnung, in deren Rahmen er die Entstehung der Sprache als den gemeinsamen Ursprung aller von ihm beschriebenen Gestaltungen verhandelt. Im Laufe der Bewußtseinsentwicklung und mit zunehmendem wissenschaftlichen Wissen sind die Götter und die Himmel immer weiter in die Ferne gerückt worden. Das Göttliche wurde aus der Welt hinausgedrängt, die Organisation der endlichen Welt behauptet sich gegen die Unberechenbarkeit des Unendlichen. Auch Vico sieht die Auffassung einer Zeit, in der die Götter auf Erden wandelten, als Irrtum an. Sein Mythos vom Mythos ist kein Aufruf zur Phantasterei. Götter wahrnehmen zu können, ist nach Vico Irrtum einer subjektiven Phantasie. Diese Götter sind die Projektionen des Menschen aus seiner Phantasie zur Stillung seiner Bedürfnisse oder Defizite. Solche Götter hat die Religionskritik spätestens seit Feuerbach zurecht angegriffen. Dennoch gibt es nach Vico – und Liebrucks folgt ihm darin – eine Wahrheit des Mythos. Diese besteht jedoch nicht darin, daß es all jene Gottheiten wirklich gäbe, die archaische Kulturen hinter jeder Blume, jedem Strauch oder Windhauch vermuteten. Die Mythen sind laut Vico vielmehr Geschichten von Sitten, menschlichen Sitten, den Sitten der Gesellschaft, von und in der sie erzählt wurden. Die Sitten einer Gesellschaft sind Formulierungen ihres Wirklichkeitsverständnisses. So begegnete den Menschen jener frühen Kulturen das, was für uns heute im weitläufigen Sinne
B. Der Logos als Mythos
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„Dinge“ sind, als Gottheiten. Gemäß Vicos Unterscheidung von drei Sprachtypoi sprachen jene Menschen in einer göttlichen Sprache¹⁹: Die Menschen archaischer Gesellschaften hatten noch kein hohes Reflexionsniveau erreicht, sie dachten mit viel Phantasie und ausgeprägtem Bezug zur sinnlichen Erfahrung. Im Mythos wird in „gegenständlicher Verpuppung die Welt als Werk Gottes angesehen. Die Heiden sollten so viele Götter angebetet haben als da Werke Gottes sind.“ (SuB VI/3, 369.) Der Mythos deutet Einzelereignisse – den Regenbogen, die Flut, das Feuer, den Sturm – als Werke (eines) Gottes. Daß jene damalige Welt voller „Götter“ war, ist Ausdruck einer Erfahrung der Natur als „göttlich“. „Die ,Natur‘ begegnet in göttlichen Gestalten.“ (SuB I, 272.) Die Menschen erfuhren Natur, zum Beispiel einen Blitz. Sie nannten ihn Jupiter, der durch das Krachen des Blitzes mit ihnen sprach. „Das mythische Weltverständnis bewegte sich in dem Schein, in dem Natur und geschichtliches Geschehen in prägnanten Situationen als in Sympathie mit uns stehend entgegengekommen sind. Engel und Götter wurden nicht als von uns hergestellte Horizontauffächerungen erfahren, sondern als Menschen mit eigenem Zentrum.“ (SuB VII, 64.) In jener Zeit, als man der Natur noch nicht in dem Maße Herr geworden war,wie es heute der Fall ist, entlarvten Menschen einen Blitz nicht naturwissenschaftlich nüchtern als natürliche Funkenentladung. Naturwissenschaftliche Welterklärung reißt gewissermaßen die Handlung an sich, sie ordnet die Naturereignisse in Ursache-Wirkungs-Schemata. Im sympathetischen Weltumgang wird die Natur als handelnde erfahren. Es ist der Blitz, der einschlägt, als wäre er ein selbständig agierendes Individuum. Die mythisch erfahrenden Menschen erhoben ihren Blick zum Himmel und sahen diesen mit menschlichen Augen, d. h. im übertragenen Sinne: Sie anthropomorphisierten ihn – ein Baum erschien ihnen in ihrer sinnlichen Phantasie als beseeltes Wesen, der Götterhimmel als Abbild ihrer eigenen menschlichen Gesellschaft. Der Mythos entdeckt (in Aufnahme einer Wendung Humboldts) – Verwandtschaft im Fremden. (Vgl. SuB VI/3, 511.) Indem aber „die Welt als göttlich begegnet, begegnet sie nicht in
19 Vico unterscheidet drei Formen der Sprache: die göttliche, die heroische, die menschliche. Nur der Typus der „göttlichen Sprache“ ist für die vorliegende Klärung des Mythosverständnisses von Interesse; zu den beiden übrigen Formen genügen einige Stichworte. Die heroische Sprache ist die symbolische, sie ist sozusagen der Bausteinkasten für die Poesie. Die entsprechende Rechtsnorm ist die der Privilegiertheit des Adels. Die Heroen, die Adligen, behaupten sich gegen das niedere Volk durch verfeinerte Artikulation, eine reichere, reflektiertere Sprache gegenüber den einfachen Mythen. Die symbolische Sprache will enträtselt werden; in ihr sind die Heroen dem „Pöbel“ enthoben. Die menschliche Sprache ist schlicht die bathische Sprache. Diese drei Sprachen sind keine sukzessiven Entwicklungsstufen, sondern entstehen gleichzeitig (und mit ihnen das je entsprechende Schrifttum). Jede Sprache spiegelt eine eigentümliche Weltbegegnung, beeinflußt durch den sozialen Hintergrund der Menschen. Alle drei Sprachen sind ursprünglich poetisch. Entsprechend ist Vicos Sprachlogik eine poetische.
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artikulierter Menschensprache sprechend, sondern in der ersten göttlichen.“ (SuB I, 276.) Dem Menschen begegnete etwas, das für ihn außergewöhnlich erschien, und da er es nicht einzuordnen wußte, entlehnte er dessen Beschreibung seinem Wissen über seine eigene Natur. So schuf sich der Mensch Götter nach seinem eigenen Bilde. „Die Welt der Völker begann mit der Ausbildung von Religionen.“ (A. a.O., 271.) Die formallogische Kategorie der Kausalität war unbekannt. Man führte alle Widerfahrnisse – vor allem alle außergewöhnlichen – auf das Wirken von Göttern zurück. Es waren laut Vico die „theologischen Dichter“, welche „die erste göttliche Sage, großartiger als alle, die später erfunden wurden: nämlich Jupiter, König und Vater der Menschen und der Götter“ erdichtet haben, und es waren sie selbst, die an ihn glaubten.²⁰ Einmal ergriffen von einem solchen „schreckeinflößenden Aberglauben“, beziehen die Menschen auf ihn „alles, was sie empfinden, sehen, und sogar was sie tun.“²¹ Jupiter war für jene Menschen kein transzendenter, gleichsam objektiver Gott. Vielmehr war Jupiter das All, das All war ein beseeltes Wesen. (Vgl. SuB I, 271.) Wenn jede Weltbegegnung sprachlich ist, so ist „Jupiter“ der Name für eine besondere Weise der Weltbegegnung, ebenso ein Name der Sprache selbst. Die Personifizierung der Welt in Jupiter und anderen Göttern darf also nicht als Erklärung des Unbekannten durch eine zum Schweigen bringende Handlung angesehen werden. Das Denken jener Menschen war noch nicht getrennt in Abstraktion und sinnliche Wahrnehmung; demgemäß war auch ihre Auffassung der Welt als göttlicher zugleich eine aktivische und passivische. Wie in einer Gebärdensprache schien Jupiter den Menschen durch die Blitze Winke zu geben. Jupiter begegnet hier als etwas Bedeutendes, als etwas, das sich seine Bedeutung nicht erst verleihen lassen muß. (Vgl. a. a.O., 277.) Er „begegnet als Sprache“. (SuB I, 277.) Die Natur wird zur Sprache Jupiters. (Vgl. ebd.) „Die nichtartikulierte Sprache der Götter entspricht so der noch nicht artikulierten Sprache der Menschen, die ,davon‘ die göttliche heißt.“ (Ebd.) Die Verschiedenheit von Sprachen wurzelt in der Verschiedenheit von Situationen, auf die Menschen sprachlich antworten müssen. (Vgl. SuB I, 273.) Die Entwicklung des Sprachvermögens erfolgt immer in einer Einzelsprache. Sprechen lernen heißt, die Umsetzung unserer wesenhaften Sprachlichkeit in einer Einzelsprache zu lernen. (Vgl. SuB II, 94.) Die Sprache gibt es nur als einzelne Sprachen, die es wiederum nur in den einzelnen sprechenden Individuen gibt. „Virtualiter erhält jedes einzelne Wort und jede einzelne sprachliche Form (Teil) das Ganze der jeweiligen Sprache und die Sprache.“ (A. a.O., 233.) Eine Ursprache, die sich erst hernach in eine Vielfalt unterschiedlicher Sprachen ausdifferenziert, gibt es nicht. Der Mensch spricht als Antwort auf Erfahrungen. Die Vielfalt von Erfahrungen bringt e o i p s o eine Vielfalt von Sprachen, Sprachformen, Vokabeln und
20 Vico, Neue Wissenschaft, 155. 21 A. a.O., 90.
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Konnotationen mit sich. Insofern ist der Mythos vom Turmbau zu Babel mit der anschließenden Sprachzerstreuung – wie jeder Mythos – nicht wörtlich zu nehmen. Die Einheit der Sprache liegt nicht in einer Ursprache begründet, sondern im hyletischen Charakter der Sprache als Einheit von Idealität und Sinnlichkeit, Allgemeinem und Besonderem, wie noch herauszuarbeiten sein wird. Es gibt nicht verschiedene Sprachen – eine der Physik, eine der Kunst, eine der Religion, eine der Philosophie etc. – die je einen Aspekt von Welt beschreiben und zusammengenommen in einer Art Esperanto eine komplette Welterkenntnis aussprechen. In jeder Sprache bleibt die Wirklichkeit der Welt auch unerkennbar. „Sprache“ ist kein Gattungsbegriff für die Vielheit von Sprachen. Sie differenziert sich in diesen aus, ist das Allgemeine, das sich in den Sprachen konkretisiert. Weder hat die Sprache vor den Sprachen Vorrang, noch umgekehrt: Keine gäbe es ohne die andere. Die Aufhebung aller Erfahrungen der Menschheit und einer bestimmten Gesellschaft in der Sprache beziehungsweise den Einzelsprachen ist keine sichtbare Größe. Die Einheit aller Einzelsprachen ist die Sprache, die dialektische Bewegung, in welcher Allgemeinheit und Individualität aufgehoben sind. „Die einzelnen Sprachen sind gebunden, das, was sie zur Sprache macht, ist frei.“ (SuB I, 235.) Die Sprache ist kein Prinzip, sondern die „Möglichkeit des Verstehens“, in der beweglichen Einheit von Allgemeinheit und Individualität Entsprechungen zu erzeugen – über die individuellen Sprechgewohnheiten (eines einzelnen Menschen, eines Volkes, einer Epoche) hinaus. (SuB II, 368.) Alles was jemals in einer Einzelsprache bzw. in der Sprache erfahren wurde, ist in ihr aufgehoben. All diese Erfahrungen sind stets in der Sprache, in einem Gespräch präsent – wenn auch nicht immer bewußt oder artikuliert. (Vgl. a. a.O., 96.)
Laut Vico hat jede Nation, jede Gesellschaft ihren Jupiter. Liebrucks konstatiert, unser heutiger Jupiter heiße „Blindheit für jede Erfahrung des Göttlichen in dem, was auf uns zukommt.“ (SuB I, 282.) Mit solcher Blindheit geschlagen zu sein, ist unser Los als Bewohner einer entmythologisierten Welt. Im mythischen Welterleben liegt eine Aura der Heiligkeit über der Welt. Diese Aura ist mit dem Fortschritt der Technik einer Aura der Behandelbarkeit der Welt gewichen, wodurch der Eindruck entstanden ist, Heiliges und Profanes seien als einander ausschließende Alternativen zu betrachten. Die Sprachwelt des Mythos enthüllt jedoch ein Bewußtsein für die Mehrdeutigkeit der Welt. Mythen geben den Übergängen zwischen Alltagsbewältigung und Erfahrung des Heiligen Ausdruck. Mythische Erdichtung heiliger Räume und Zeiten sowie die Inszenierung von Riten bewahren die Erfahrung eines den Weltumgang des Menschen kennzeichnenden unablässigen Übertretens von Schwellen, worunter changierende Grenzen zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, sinnlich wahrnehmbarer und geistiger Welt verstanden seien. Das Heilige ist sinnlich erfahrbar und verweist zugleich auf Übersinnlich-Ideales. Es erscheint als allumfassende Wirklichkeit, die auch das Profane in sich begreift. So veranschaulicht die in mythischen Dichtungen besungene, die Welt umgebende Aura der Heiligkeit die Verwobenheit von Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit im In-der-Welt-Sein des Menschen. Liebrucks kann sagen, daß der Mensch erst über die Erfahrung des Heiligen zur Welt gelangt. (Vgl.
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a. a.O., 400.) Im mythischen Bewußtsein „wird der Mensch sich seiner Seele im Verein mit der Weltseele bewußt.“ (SuB VII, 120.) Der mythisch erfahrende, denkende und sprechende Mensch steht in dem Bewußtsein, alles Konkrete, Endliche aus göttlicher Unendlichkeit zu empfangen, die er in auratischen Schilderungen umschreibt. Als Zeugnis dieses Bewußtseins bleiben mythische Sagen, Riten und Kulte stets Gespräch. Sie geben das ihnen zugrundeliegende Erlebnis wieder, angesprochen zu sein von einem Außergewöhnlichen, dem man die Antwort nicht verwehren kann. Die Sprachformen des Mythos sind insofern der wissenschaftlichen Redeweise voraus, als sie nicht zum Gegenstand zu machen versuchen, was sich nicht als Gegenstand fassen läßt: die Bewegung des Geistes. Mythische Redeweise ist in Inhalt und Form Veranschaulichung des menschlichen Weltumgangs als unablässigen „Übergangs“ konkreter Erfahrung in die Allgemeinheit eines Begriffs, der sich wiederum in dessen fortlaufender Konkretisierung als allgemeiner Begriff erweist. (Rede, 316.) Dieser „Übergang“ ist die Bewegung des Geistes, dessen Gang von der Unendlichkeit in die Endlichkeit zugleich der Gang vom Endlichen zum Unendlichen ist. „So sind wir aus dem Mythos als Wort niemals ausgestiegen. Das Wort bleibt auch in unseren modernen Dimensionen. Der Wortcharakter bleibt über sein uns erfahrbares und gar prognostizierbares Bestehen hinaus. Von der Einsicht in die Wahrheit der Worte Christi, daß seine Worte nicht vergehen werden, in die wir kaum einen ersten Blick getan haben, verblaßt der Streit darum, ob das, was uns im Neuen Testament gesagt ist, mythisch ist oder nicht. Die Entmythologisierung ist diesem Einblick sofort ausgewichen.“ (SuB VII, 129.) Auch von Christus spricht Liebrucks also als von einer mythischen Gestalt und sieht sein philosophisches Ziel darin, „die immer noch mythologische Geschichte des Neuen Testaments in einer Logik von der Sprache her zu begreifen.“ (Sinnfrage, 294.) Das Neue Testament als Mythos ist die Erzählung vom Mensch gewordenen Gott, der in seinem Tod und seiner Auferstehung die Versöhnung alles endlichen Lebens mit dem Unendlichen offenbart. Liebrucks’ Auffassung nach verdichtet das Neue Testament somit die Erfahrung aller mythischen Welterfahrung als Bezeugen der Gegenwart Gottes in Jesus Christus.²²
22 Im zweiten Hauptteil dieser Untersuchung werden die biblischen Charaktere Adam, Abraham und Jesus Christus in sprachlogischer Reflexion gedeutet werden. An jener Stelle werden auch die Begriffe der Gestalt und der Sphäre einer näheren Erläuterung unterzogen; vgl. das Kapitel Die Erzählungen der Bibel als Spiegel der Bewußtseinsentwicklung.
B. Der Logos als Mythos
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II. Die Rehabilitation des Mythos Der Mensch auf der Bewußtseinsstufe des Mythos besitzt ein noch nicht in den gnostischen Schock der Weltentfremdung gefallenes Wirklichkeitsverständnis. Dem mythisch erfahrenden und sprechenden Menschen ist noch alles heil, er erfährt die Bezüglichkeit der einzelnen Dinge und Momente. Das mythische Bewußtsein ist aber ebenso das noch nicht zu sich selbst gekommene Bewußtsein. Hier kündigt sich bereits an, daß die Rehabilitation des Mythos nicht bedeuten kann, den von Klaus Groth besungenen „lieben Weg ins Kinderland“ zurückgehen zu wollen. Das Glück des Menschen ist seine Freiheit zu sich selbst, d. h. seine Wahrheit begreifen zu können. „Ευδαιμων ist er erst als Begriff.“ (SuB VI/3, 296.)²³ Die Freiheit des Menschen besteht darin, einen Begriff von sich zu haben und sein eigener Begriff sein zu können. Der zweite Teil dieser Untersuchung wird diesen Gedanken ausführen. An dieser Stelle sei vorweggenommen, daß die Freiheit des Menschen ein Selbstbewußtsein voraussetzt, welches sich erst in Überwindung des mythischen Bewußtseins entfaltet. „Im Mythos ist der Weltumgang noch nicht perspektivisch auf einen Ichpunkt zentriert.“ (SuB VII, 120.) Frei ist nur das Ich, das sich als ein solches Ich aussprechen kann. Allerdings besteht die Freiheit des Menschen nicht allein darin, sich als von der Welt unterschiedenes Ich zu begreifen, sondern darin, als Bewußtsein bei sich zu sein, indem man bei den Dingen ist. Insofern wird der Mythos wiederzugewinnen sein: Die mythische Erfahrung der Aufhebung des Einzelnen in einem Absoluten ist begrifflich zu entfalten, wenn der Mensch einen Begriff von sich haben, Begriff sein soll. Es deutet sich an, wie es der zweite Hauptteil der vorliegenden Untersuchung erläutern wird, daß der Begriff des Menschen mit dem Begriff des Absoluten, dem Begriff Gottes zusammenhängt. Die Wahrnehmung der Gegenwart des Unendlichen im Endlichen erhebt das Endliche zum Unendlichen in dem Maße, in dem sich das endliche Denken einen Begriff vom Unendlichen machen kann. Im Denken des Unendlichen hat das Endliche aber immer schon sich selbst gedacht, weil es seine Beziehung zum Unendlichen denkt. In bezug auf den Mythos läßt sich also mit Liebrucks folgern: „Die These, daß die Götter im Begriff wohnen, schließt ein, daß das Mythologische im Logischen zu finden ist.“ (A. a.O., 26.) Für Liebrucks ist der Titel seines Hauptwerkes – „Sprache und Bewußtsein“ – ein Synonym für die Verhältnisbestimmung von Mythos und Logos. (Vgl. a. a.O., 11.) Die Verhältnisbestimmung beider wird sich als Darlegung der Vernunft als Sprache erweisen, in
23 „Das Glück besteht darin, daß das Denken des Menschen sich selbst auf sein Ziel zu bewegt und nicht nur an ihm hängt.“ (SuB V, 4.) Zuvor: „In dieser Bewegung liegt das höchste Glück des Menschen.“
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welcher Mythos und Logos als einen sprachlichen Weltzugang bedeutende Begriffe aufeinander bezogen werden. Liebrucks macht es sich in seinem philosophischen Werk zur Aufgabe, eine (sprachliche) Logik zu entfalten, in der Mythos und Logos nicht gegeneinander auszuspielen sind. Er tritt somit gegen eine alteingesessene intellektuelle Abwertung des Mythos an. „Der Mythos wurde nicht nur in der christlichen Tradition verleugnet, sondern vor allem in der Wissenschaft, die sich für aufgeklärt hält und damit nicht zur Aufklärung der eigenen Aufklärung gelangt.“ (Hölderlin, 216.) Doch der Mythos sieht noch hinter den Spiegel der formalen Logik. Die Welt der formalen Logik ist eine Welt, in der die Dinge als abstrakte Dinge begegnen. Der Mythos stellt dar, daß und wie die Dinge als bedeutend begegnen. „In früheren Zeiten wurden die Dinge nicht bestimmt, sondern besprochen.“ (SuB VI/2, 67.) Dieses Besprechen ist wörtlich zu nehmen, nicht aber im Sinne einer magischen Handlung. Liebrucks hebt das Erkenntnismoment des Mythos deutlich von einer magischen Weltdeutung ab. Die Differenz besteht im erkenntnistheoretischen Umgang mit dem Göttlichen. „Magisch ist es ein unsere Einsicht Überschreitendes, mythisch ist es die Entsprechung von des Menschen Seele mit der Seele der Welt.“ (SuB VII, 132.) Diese Entsprechung wird aber noch nicht begrifflich entfaltet, sondern bildhaft. „Der Mythos war […] die vorlogische Darstellung Gottes, in der das Logische von außen entgegenkam, weil es in der Wahrnehmung des Menschen illis temporibus an den Dingen hing.“ (A. a.O., 29.) Mythos ist Darstellung im bildhaften Wort, die als sprachliche Erfahrung immer schon „in den Dingen hing“, d. h. nicht heraufzubeschwören war und ist. (Vgl. a. a.O., 76.) „Der Mythos ist nicht eine Antwort auf ein Sinnbedürfnis des Menschen.“ (Handlung, 362.) Er ist ebensowenig „eine Sprache subjektiver Phantasie, sondern erzählt von einer Anschauung, in der Geistiges, uns sichtbar Gewordenes, wahrgenommen wurde.“ (SuB VII, 59.) Mythos ist Wahrnehmung des Logischen. „Der Mythos erzählt uns von einer Wahrheit, die wir nur auf dem Weg über die Einbildungskraft innerhalb der Wahrnehmung erreichen können.“ (A. a.O., 77.) Damit ist bereits bezeichnet, daß Sinnlichkeit ein Moment des Logischen sein muß – für Liebrucks ist dies einer der Anhaltspunkte, warum das Logische als Sprache begriffen werden muß, sofern Sprache die Dialektik von Sinnlichem und Geistigem ist. Es ist damit ebenso bezeichnet, daß unsere Wahrheit in unserem Sein gegenwärtig ist. Liebrucks wehrt sich daher gegen einen „schlechten Mythos“ von einer Wirklichkeit des Menschseins, die dem Menschen ein unabhängig von seinem gegenwärtig erfahrenen Sein verkündetes Sollen bleibt: „Sentimental“ sei diese Vorstellung und „grausam“. (SuB II, 15.) Dieser „schlechte“ Mythos taktiert unter der platonistischen Trennung von Idee und Sein. Sie ist grausam, weil sie dem Menschen seine Wirklichkeit vorenthält; sie ist sentimental, weil sie vor der vom Menschen erfahrenen Lebenswirklichkeit in eine ferne Welt, eine transzendente Wahrheit entfliehen will. Dagegen ist es Liebrucks
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zufolge Kennzeichen und Stärke des Mythos, Transzendenz und Immanenz nicht gegeneinander auszuspielen, sondern aufeinander zu beziehen. Im Mythos „war noch die ganze Dialektik, wenn auch unausgesprochen.“ (SuB I, 406; vgl. SuB VII, 71.) Die im Mythos zum Ausdruck gebrachte Dialektik von Sinnlichkeit und Geistigkeit ist von Platon, obgleich dieser vielleicht der letzte griechische Denker mit einem ausgeprägten philosophischen Verständnis für die Dialektik des Geistes gewesen ist, in einen Dualismus von Sein und Idee aufgespannt worden. „Der Platonismus war die unmittelbare Ablösung vom Mythos.“ Erst Hegels Logik vermag laut Liebrucks „die Ablösung von dieser unmittelbaren Ablösung“ zu leisten. (SuB VI/2, 240.)²⁴ In ihr wird sowohl das Sich-Abstoßen des Geistes vom unendlichen Bei-sich-selbst-Sein in die Endlichkeit des materiellen Seins gedacht als auch der Rückbezug des Geistes in seinem Sich-selbst-Denken, in welchem Unendliches und Endliches, Denken und Sein als Momente seiner logischen Bewegung erkannt sind, in der er sich als Identität, als Begriff erschließt. Die Spannung von Sein und Idee erweist sich, der Geist selbst zu sein. Diese Bewegung des Geistes wird Liebrucks als Bewegung des Bewußt-Seins zum Ausdruck bringen, die Sprache ist. Die Einheit der Bewegung des Geistes wird vom mythischen Bewußtsein erfahren und in Bildern transportiert (man denke an die charakteristischen Kreisbewegungen, die in mythischen Kulten und Ritualen vollzogen werden). Sie ist noch nicht begrifflich erschlossen, denn dazu müßte der Mythos ausgerechnet das aufgeben, was ihn kennzeichnet: die Erfahrung der Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit. Das identitätsbildende Moment des Geistes ist die Negation, in welcher sich Sein und Begriff aneinander ausbilden. Sie sind, was sie sind, in wechselseitiger Vermittlung. Darum ist die identitätsstiftende Negation des Geistes immer eine zweifache. Somit ist mit Platon in die logische Unterscheidung von Sein und Idee einzutreten. Um aber begreifen zu können, wie das Unterscheiden des Unterschiedenen möglich und wirklich sein kann, muß die Erfahrung des Mythos von der Einheit von Geist und Sein wieder eingeholt werden. „Die zweite Negation des Mythos führt nicht zum Mythos zurück. Sie bekommt ihn wegen ihrer größeren Entfernung von ihm zum ersten Mal vom Logos her zu
24 Erst Hölderlin aber gestaltet laut Liebrucks Sprache wieder zur mythischen. (Vgl. SuB I, 268.) Überhaupt ist es die Kunst, die das mythische Moment des Sprechens bewahrt. Heutzutage können wir oft allein in der Kunst noch die Erfahrung eines sinnlichen Allgemeinen, einer sinnlichen Wahrheit machen, wenn wir empfinden, daß ein Kunstwerk eine allgemeinmenschliche Wahrheit ausdrückt, ohne daß wir zu präzisieren vermöchten, wie das Kunstwerk diesen Eindruck bei uns auslöst.
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Gesicht.“ (SuB VI/2, 109.)²⁵ Ist Mythos, wie gesagt wurde, Wahrnehmung des Logischen, so wird ebenfalls deutlich, daß die Wahrheit des Mythos nicht allein in einer in Bilder gefaßten sinnlichen Gewißheit besteht, sondern vielmehr in diesen Bildern eine Struktur der menschlichen Weltbegegnung andeutet, die begrifflich zu erfassen in die Untiefen philosophischen Denkens führt. „Nachdem wir den Mythos denkend überschritten haben, müssen wir ihn denkend wiedergewinnen.“ (SuB VI/2, 385.) Liebrucks ist sich daher sicher: „Es hat Jahrhunderte gegeben, in denen Mythos und Religion eher bei den einfachen paganen Menschen möglich waren. Heute bedarf es einer verhältnismäßig hohen philosophischen Bildung und ihrer Kritik, die gleichfalls philosophisch ist, um zu einer Begegnung mit mythischen oder wenigstens mythologischen Weltgehalten zu gelangen.“ (Rede, 312.) „Dabei ist der Mythos als Inbegriff von Geschichten, deren Inhalt schon Homer nur noch vom Hörensagen gekannt zu haben scheint, von der Mythologie zu unterscheiden, die hinter den Sinn als Wirklichkeits- oder auch nur Realitätsgehalt solcher Geschichten kommen möchte.“ (SuB VII, 57.) Der Unterschied zwischen mythischer und mythologischer Rede besteht darin, daß die mythologische Rede nach einer logischen Aussage einer mythischen Erzählung sucht, die unter einem Schleier bildhafter Darstellung verborgen liege. (Vgl. Rede, 313.) Mit „mythologischer Rede“ beschreibt Liebrucks einen Zugang zum Mythos, der diesen nur vordergründig stärkt, ihm eigentlich aber Rationalität (im Sinne von vernünftiger Denkbarkeit) abspricht. Mythos wird in der mythologischen Rede als ordinäre Erzählung angenommen, Mythologie als reflektierte Form: Mythologie der Vernunft (Schelling). Mythologie hat damit einen ersten Schritt zur Distanzierung vom pejorativ zu verstehenden Mythos gemacht, indem sie nicht mehr davon ausgeht, daß Mythos die Wirklichkeit deckungsgleich abbildet. Sie erfaßt zum ersten Mal so etwas wie einen Verweisungscharakter. Der Fehler der Mythologie bestand in der Folge jedoch darin, hinter dieser mythologischen Interpretation die besondere Aussagekraft des Mythos gänzlich in den Hintergrund treten zu lassen, keine eigene Logik des Mythos anzunehmen, sondern an die Stelle des Mythos die wissenschaftliche Welterklärung zu setzen. „Die logische Rede über den Mythos müßte uns zeigen, daß das ekstatische Heraustreten aus der gewöhnlichen Erfahrung nicht subjektive Erscheinungen vor das Auge eines Bezauberten stellt, sondern in sich bereits Erkenntnis enthält.“ (A. a.O., 319.)
Der Mythos ist erkenntnistheoretisch zu rehabilitieren, denn er „hat uns die ganze Spannweite der menschlichen Darstellungs- und Erkenntnisweise vor den Begriffsblick gebracht. Innerhalb der logischen Spannweite ist er wieder jung und frisch, ohne daß es einer Remythisierung bedürfte.“ (SuB VII, 49.) Die logische Erschließung des Mythos ist ebenso wenig Remythisierung wie Entmythologi-
25 „Die Logik geht nicht in einen vorlogischen Mythos zurück, sondern geht zu sich selbst als der Methode, die noch den Mythos wie die Riten und Kulte als Momente in sich hat. Nur so schlägt der Mythos nicht zurück.“ (SuB VI/3, 629.)
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sierung. Entmythologisierung ist eine Spielart des Nihilismus, der meint, alle Weltbegegnung vergegenständlichen und auf „historische Fakten“ reduzieren zu können. Daß ein solcher Nihilismus „sogar in die christliche Theologie […] eingedrungen ist“, ist für Liebrucks offensichtlich besonders empörend. (SuB I, 288.) „Die Entmythologisierungsversuche Bultmanns reduzieren die Umständlichkeit Gottes auf das Kerygma, das ohne den Zusammenhang mit einer mythischen Geschichte jedoch bedeutungslos wird. Eschatologie und Mythologie sind seitdem in einen Gegensatz getreten.“ (SuB VII, 48.) Ohne die mythische Schilderung der Gegenwart Gottes in der menschlichen Existenz, der Umständlichkeit Gottes, gerät Gott zu einem Postulat.Von einem solchen Gott können wir nicht wissen, wie und ob er p r o n o b i s ist. Das mythische Bewußtsein ist solcher Abstraktion insofern voraus, als es weiß, daß der Mensch seine Welt aus der Sprache empfängt, die er zuerst als Sprache Gottes vernahm. Sprechend kommt der Mensch zu sich.Wer ihm das Wort verbietet, entmenschlicht ihn. Ist die Darstellung des Menschseins im Wort, im μυθος, zwar vorlogisch, aber dennoch adäquat wiedergegeben, wird Entmythologisierung als Entsprachlichung mit Entmenschlichung gleichzusetzen sein. So erklärt sich wohl Liebrucks’ These, „daß die undialektische Entmythologisierung zum Gegenteil des bisherigen Fortschritts führen muß.“ (SuB II, 385.) Mehr noch: „Entlaufen wir dem Mythos undialektisch, so laufen wir in den Tod.“ (A. a.O., 391; vgl. SuB I, 249.) Die Frage nach der Wahrheit des Mythos ist nicht die Frage nach einem Gegenstand, einem bestimmten Inhalt. „Das Wunder des Mythos besteht nicht in seinen Inhalten, sondern darin, daß überhaupt erzählt werden kann.“ (SuB VII, 49.) Der Mythos selbst ist in seiner Struktur die Antwort auf diese Frage. „Die philosophische Frage nach dem Mythos ist nicht die Frage nach einer Tatsache, sondern die nach einer heute noch gegenwärtigen nicht wissenschaftlich-empirischen Erfahrung. Nicht gegenwärtig ist sie, wenn wir uns als Subjekte auffassen, denen Objekte gegenüberstehen. Als empirische Objekte wie das Haus, die Stadt hat es die Götter niemals gegeben.“ (A. a.O., 58.) Der Mythos erzählt keine Fakten, er ist Schilderung einer Erfahrung, die sich nicht in ihrer Zerlegung zu Einzelmomenten beschreiben läßt, sondern nur über den Umweg von Geschichten und Sphären. „Daß es sich hier um Erfahrungen handelt und nicht um ‚Vorstellungen‘ von etwas ganz anderem, von dem wir immer schon voraussetzen, daß wir ein Wissen von ihm hätten, ist die erste Voraussetzung für das Begreifen des Mythos.“ (SuB I, 412.) Der Mythos will nicht erklären, wenn darunter eine wissenschaftliche Erklärung verstanden sein soll. Er ist keine Gegenwartsbegründung aus einer historischen, in ihrer Wiedergabe verklärten Vergangenheit. Mythos ist eine Erzählung, die kein nach wissenschaftlichen Maßstäben faktisches Pendant besitzt. (Vgl. SuB VII, 68.) Der Versuch, einen Mythos in Bild- und Sachhälfte zu dividieren, führt zur Beschreibung einer Sachlage, die ebenso Bild ist, wie die vermeintlich
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rationalisierte mythische Erzählung. „Vom mythischen Typus wird sozusagen ein logischer Typus abgetrennt, womit man immer noch ‚im Bilde‘ geblieben ist, gerade weil man die mythologischen Bilder perhorreszierte. Dieser Logos ist erst die Unmittelbarkeit der Negation des Mythos und als solche Unmittelbarkeit selbst noch gegenständlich und nicht zugleich gegenständlich und übergegenständlich wie der Begriff. Er ist logisch noch objektiv. Die Identität erscheint darin als oberste Regelanweisung für die unmittelbar gebliebene Abtrennung des Logischen vom Wirklichen.“ (SuB VI/2, 108; vgl. a. a.O., 147.) Mythos braucht keine thetische Plausibilisierung. Er überzeugt in der Kraft seiner Bilder und Lieder. (Vgl. SuB VII, 44.) „So befreit sich die Sprache auch von den Göttern des Mythos nicht durch Vernichtung. Christliche Apologetik war noch kämpferisch, untersprachlich. Das ist heute zurückzunehmen.“ (SuB I, 491.) Die Apologetik, der Versuch, den eigenen Mythos mit den Denknormen der griechischen Philosophie als vernünftig zu rechtfertigen, hat Liebrucks’ Auffassung nach nicht erkannt, daß der Mythos keine in Bildern verkappten Aussagen transportiert, sondern selbst Aussage ist. Die Apologetik war der Versuch, die Vieldeutigkeit mythischer Überlieferung in formal eindeutige Sätze zu bringen. In seiner Vieldeutigkeit aber erweist sich der Mythos als Logos, als eine Sprachform, welche die Dialektik des Geistes zwischen endlichem Sein und unendlicher Geistigkeit zum Ausdruck bringt. „Wer uns dagegen heute einen Mythos ohne dialektische Durchleuchtung anbietet, mutet uns zu, uns auf eine Weltansicht herunterzubornieren, bei der nur noch die Frage auftaucht, zu welchem ‚Behufe‘ denn solches wohl geschehen mag.“ (A. a.O., 416.) Das „Heilige“ des Mythos darf nicht verdinglicht werden, so daß man in der Konsequenz annehmen dürfte, daß man in einem Entmythologisierungsprogramm über die Klärung der Funktionen heiliger Räume, Zeiten, Zahlen zur objektiven Wahrheit von Raum, Zeit und Weltstruktur gelangen könnte. Die Wahrheit liegt nicht hinter den mythischen Aussagen, sondern in ihnen als bedeutenden. Wer den Mythos als etwas zu Übersetzendes versteht, etwas, das vom Unvernünftigen ins Vernünftige übertragen werden muß, verdinglicht den Mythos. Mythos übersetzt bereits (im Sinne Hamanns). Er übersetzt aber nicht Ereignisse einer Welt, die uns eine andere wäre. Es gibt keine Welt außerhalb der Welt, die der Mythos beschreibt. Darum ist ebenso wenig, wie hinter die vom Mythos ausgesprochene Welt zurückgegangen werden kann, hinter den Mythos selbst zurückzugehen. Eine Welt, die wir nicht mythisch erfahren können, ist ein bloßes Postulat. Es ist die „Welt“ der transzendentalen Logik. „Wenn Mythos Wort heißt, so ist dahinter nicht zu gelangen, es sei denn die formale Logik sei ein echter Teilmythos innerhalb des sympathetischen Weltbildes. Heißt Mythos allerdings nur das, was der Halbgebildete heute vom griechischen Mythos vom Hörensagen her zu kennen glaubt, so ist solchen Bildern nicht mehr Erkenntnisbedeutung zuzusprechen. Sollten die logischen Bilder aber selbst noch ein Mythos sein, den wir
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abzulegen hätten, so dürfte das im technisch-praktischen Weltumgang unmöglich sein.“ (SuB VI/1, 74.) In den Göttern der Mythen verschmelzen Erfahrung und Reflexion, Geschichte und Geist. Was das mythische Bewußtsein als Einheit von Unendlichem und Endlichem erfährt, wird von der formalen Logik der Wissenschaften als Einheit von Besonderem und Allgemeinem postuliert. Ein solches Postulat aber ist ebenso mythisch im Sinne einer sagenhaften Ursprungsbeschreibung der Welt. „Die Natur des Naturforschers ist genauso ein Entwurf wie die des Mythos.“ (SuB II, 465.) Die Operanden, Kategorien und Prinzipien der formalen Logik sind die Götter des aufgeklärten Menschen.²⁶ Sie stehen laut Liebrucks für einen „schlechten“ Mythos, der das verrät, was das vorbegriffliche Weltbild des Mythos ausmacht, den Liebrucks in die Logik einzuholen bedacht ist: „Fülle, Gegenwärtigkeit und Vollständigkeit“. (SuB I, 414.) In der Welt der formallogischen Götter ist nur noch bestimmte Erfahrung möglich. Jedoch hat niemals „nur das [..] in der Erfahrung des Menschen gelegen, was notwendigen Urteilen unterworfen werden kann.“ (Ebd.) Die Frage nach dem Ursprung von Sprache führt also zu der Antwort, daß sie aus der Bewegung des Geistes als dialektischer Bezüglichkeit von Endlichem und Unendlichem, Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit unablässig geboren wird. Sie ist der Logos, der als Mythos die Struktur menschlicher Weltbegegnung gibt: Der Mensch ist im Wort in der Welt. Der Weltumgang als Sprache sei im folgenden Kapitel auf seine logische Gestalt hin befragt.
26 Vgl. SuB VI/2, 209. „Die logisch wesentlichen ‚Wörter‘ als Junktoren usw. sind die Sondergötter der rustici Romani redivivi, die nach dem Vorbild jener, die ihre Felder absteckten und bearbeiteten, abgeschlossene Systeme herstellen, innerhalb welcher Systeme der Logik von der Sprache her freilich nicht angesiedelt sind.“ (A. a.O., 146.) Diese Sondergötter tragen die Namen „quantificator, oder auch conjunctor, vor allem der implicator, der exclusor, der aequivalentor“. (A. a.O., SuB VI/2, 122.) Der Mensch erscheint als von diesen unbewegten Bewegern bewegt, die Befolgung ihrer Gebote verheißt objektives Wissen. (Vgl. a. a.O., 120; 163.) „Die Trunkenheit der formalen Logik […] besteht darin, daß der Mensch in der Erstellung der Systeminvarianzen sich selbst als ihren Urheber logisch vergessen hat. Daher läßt er diese Systeminvarianzen als Sondergötter für sich denken.“ (A. a.O., 228.) Was dort der Mythos als Weltzusammenhang erfahren hat, proklamiert hier der Verstand. „Die Naturgesetze fungieren in der modernen Weltanschauung so, wie man sich innerhalb dieser so etwas wie das Fungieren von Göttern vorstellt.“ (A. a.O., 387.) Die Übereinstimmungen, die sich im Befolgen der Gebote dieser Götter ergeben, sind formal korrekt. Wahr sind sie nicht, weil sie den Dingen äußerlich aufgesetzt sind. Sie sagen nichts über die Wirklichkeit der Dinge aus, sondern über das Aufgehen formallogischer Forderungen.
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C. Die logische Struktur der Sprache Mit welchem Terminus versieht man die dialektische „Bewegung“ des Geistes, die Liebrucks „Sprache“ nennt? Der Terminus „Struktur“ mag unglücklich gewählt erscheinen, sofern unter der Struktur einer Sprache zunächst und zumeist ihre Architektonik verstanden wird. Diese äußere Struktur ist aber Gegenstand der Sprachwissenschaft, nicht der Sprachphilosophie. Der Begriff der Struktur diente im allgemeinen vornehmlich der Darstellung von Beschaffenheit; innerhalb der Begriffsgeschichte zeichnete sich jedoch eine Öffnung ebenso zur Beschreibung eines Organismus‘ ab (Kant). Zunehmend eroberte sich der Strukturbegriff philosophische Sprachfelder und konnte zur Umschreibung von Sinn eingesetzt werden; Dilthey etwa benutzt ihn, um die Bezüglichkeit des Individuums zu dessen Lebenswelt zu umschreiben. Auch Soziologie und Psychologie adaptieren den Strukturbegriff in unterschiedlicher Weise. Aufgrund seiner multidimensionalen Bedeutung mag sich der Begriff der Struktur, den Liebrucks selbst sowohl schilt als auch verwendet, also doch als Umschreibung der Logik der Sprache empfehlen. Ohnedies steht jede Umschreibung der Sprache unter Vorbehalt: Ihr absoluter Charakter, den sie als unhintergehbare Einheit von Denken und Erfahrung behauptet, ist in keinem einzelnen Wort oder Zeichen auszudrücken. Ist Sprache die Logik unseres Bewußtseins, so können wir uns keinen Begriff von ihr bilden, den wir nicht schon auf den logischen Bahnen der Sprache erdacht und ersprochen hätten. Liebrucks’ These lautet, „daß jeder Gedanke in meinem Bewußtsein innerhalb von Sprachbahnen läuft, von ihnen gehemmt und beflügelt wird. Diese Sprachbahnen sind nicht mein Gedanke sondern der nichtbewußte Gedanke der Sprache als energeia, die in Zusammenarbeit mit meinem Bewußtsein die Einheit von Energeia und Ergon immer wieder aufs neue herstellt und zerstört. Zum Begreifen dieses Gedankens führt der von Hegel in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ vorgetragene Gedanke von der dialektischen Natur unseres Denkens.“ (SuB IV, 482.) Diese dialektische Natur unseres Denkens, unserer Vernunft als Sprache soll im folgenden dargestellt werden.
I. Sprache als Weltumgang Was qualifiziert Sprache als Grundstruktur der Logik, inwiefern lehrt sie als Darstellung des Logos die Logik? Jede logische Bestimmung ist ein In-VerhältnisSetzen von Allgemeinem und Besonderem. Der Begriff ist daher die oberste lo-
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gische Kategorie, insofern er selbst Darstellung dieses logischen Vorgehens ist.²⁷ Die logischen Kategorien sind allesamt ersprochen, denn Sprache ist die logische Struktur, die ihr eigenes Gegenteil in sich enthält. In ihr sind Potentialität und Aktualität aufgehoben und stets zugleich gegenwärtig. Wird eine Bedeutung artikuliert, so ist sie doch allein verstanden in ihrer Bezüglichkeit zu im Moment ihrer Äußerung nicht artikulierten Bedeutungen. Bedeutungen erzeugen sich gegenseitig im Wechselspiel von Entsprechung und Abgrenzung. Dieses Spiel ist das Sprachspiel, das die Aufhebung aller Identität – und somit auch NichtIdentität – in der Sprache bezeugt. Sprache ist bei sich, indem sie bei ihrem Gegenteil ist. Sie trägt das ɛτɛρον²⁸ ihrer selbst als ihr eigenes Moment in sich. Insofern ist sie absolut. Ihre Identität mit sich selbst besteht darin, etwas anderes zu sein als sie selbst. Als συνολον von νοητη υλη und ɛιδος hat Sprache in sich die ganze Welt. (Vgl. SuB V, 33.) Liebrucks nennt sie daher „monadisch“. (Vgl. SuB I, 423 u. ö.) Sprache ist der Schlüssel zum Einen, „das ganze Universum ist nicht irgendwo, sondern im Himmel der Sprache.“ (A. a.O., 24.) Der Mensch lebt folglich immer in der Welt,wie sie ihn vermittelt durch Sprache umgibt. „Der Mensch, der in der Welt von Objekten, die ihn umstehen, verloren und begraben ist, weil sie fremd sind, der die Fremdheit dadurch aufhebt, daß er der Welt von dem Seinigen gibt, indem er sie bespricht, sie bestimmt, sie bearbeitet, formt, um in den Gegenständen auch sich selbst zu erfahren und nicht mehr nur ungeformte Hyle, die ihm ohne Sprache niemals gegenständlich werden könnte, der Mensch, der erst im gesprochenen Wort sich selbst und nicht nur die Hyle der Stimme hat, dessen formierend gestaltendes Tun ihm aus den ausgesprochenen Dingen widertönt, dieser Mensch ist an der winzigen Stelle seiner Sprachlichkeit aus der Nurgespaltenheit von Subjekt und Objekt herausgetreten. Er ist in der fremden, unbestimmt hyletischen Wirklichkeit bei sich selbst. Hier ist er zu Hause, inmitten des Leidens der Entfremdung. Dieses chez moi ist nicht mehr Welt, sondern die in der Nichtidentität von Mensch und Welt ersprochene Identität.“ (A. a.O., 483.) Welt bleibt Fremde und ist doch zugleich Heimat. Liebrucks spricht in Anlehnung an Hölderlin vom „Asyl“ des Menschen.²⁹ Die Identität von Mensch und Welt (in gleichzeitiger Nicht-Identität)
27 „Die ganze Spannweite des Problems der Sprache ist in der Spannweite des Begriffs logisch enthalten. Dennoch ist die Sprache von logisch höherem Status als der Begriff.“ (SuB VI/3, 407.) 28 Vgl. Platon, Sophistes, Sämtliche Werke, Bd. 4, hg.v. Grassi, Ernesto/Hess, Walter, nach der Übers. v. Schleiermacher, Friedrich, Hamburg 1969, 255c. 29 „Innerhalb der Geschichte hat das reißende Schicksal für uns Asyle aufbewahrt. Nur in ihnen ist Erkenntnis und für uns Menschen der Gesang möglich. Erkenntnis ist nicht ein Ereignis in der Person eines Menschen.“ (SuB VII, 718.) Vgl. Hölderlin, Friedrich, Gedichte bis 1800, Sämtliche Werke (Große Stuttgarter Ausgabe), Bd. I/1, hg.v. Beißner, Friedrich, Cotta 1946, 307.
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ist eine sprachliche, keine ontologische oder subjektiv-idealistische. Sprache „trägt den Menschen nur in dem Maße zur Welt, als sie ihn sogleich aus der Welt herausträgt.“ (A. a.O., 482.) Um ein Verhältnis zur Welt zu haben, muß der Mensch sich mit ihr identifizieren können, ohne in ihr aufzugehen. Sprache ermöglicht dies in ihrer Einheit von Identität und Nicht-Identität. Identität ist für Liebrucks (in einer gegen Gehlen gewendeten Formulierung) „die Aufhebung des Gegensatzes von Fakteninnenwelt und Faktenaußenwelt“. (Ebd.) Der Mensch steht als von außen uneinnehmbares Individuum in Welt und auch Gesellschaft. Erst als Weltund Gesellschaftswesen kann er als von Welt und Gesellschaft zugleich unterschiedenes Individuum sein. „Die Allgemeinheit, nicht des Gedankens, sondern des Wortes, ist das Möglichkeits- und Aufnahmebecken der Individualität der jeweilig bestimmten, als qualitativ einzigartig aufgefaßten Vorstellungen und Ausspracheweisen. Diese Allgemeinheit des Wortes […] ist der koinos logos der Menschheit.“ (SuB II, 273.)³⁰ Die Menschheit in seiner Individualität, Individualität in seinem allgemeinen Menschsein erlangt der Mensch als Sprechender, denn als solcher ist er „immer schon die Einheit von Individualität und Allgemeinheit.“ (SuB V, 169.)³¹ Er ist zugleich an die Welt hingegeben und doch „unveräußerlich Einzelner“. Solcher ist er „vermöge des metaphorischen Wesens der Sprache, die ihm immer auf dem Wege von der Außerweltlichkeit, also der Extramundanität, zur Welt trägt.“ (SuB I, 482 f.) Im metaphorischen Moment der Sprache liegt damit die Freiheit des Menschen begründet. In diesem metaphorischen Charakter der Sprache kommen Identität und Nicht-Identität, Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, es kommen die Enden der dreistrahligen semantischen Relation in einem kontaktlosen Kontakt zusammen. Sie verweisen aufeinander, sie erzeugen ihre Bedeutung an der Bedeutung des Anderen, ohne jemals mit diesem zusammenzufallen. Bedeutungen können sich nicht gegenseitig einnehmen. Sie selbst sind im Moment ihrer Artikulation nicht Abbild, sondern die einem Allgemeinen entsprechende Konkretion. Als Entsprechung ist das bedeutende Moment zugleich auf ein Allgemeines, auf das es verweist, bezogen und steht doch selbständig als dessen Auslegung in unveräußerlicher Eigenheit. Die Formung durch Sprache ist keine Veränderung von Inhalten, wie sie durch Handlung vorgenommen wird. Sprache verändert keine Inhalte, sondern gibt einem Inhalt eine Form, innerhalb derer er begegnen kann. Die Sprachform ist dabei bereits erste Antwort auf einen Inhalt. Diese erste Antwort besteht darin, einen Inhalt zuzulassen bzw. besteht sie in der Art und Weise, wie man ihn zuläßt. (Vgl. a. a.O., 197.) Die Formung von 30 „Der allgemeine Begriff wird zu einem Individuum in der Gedankenwelt durch das Wort.“ (A. a.O., 208.) 31 So unterstreicht Liebrucks, „[…] daß das Sagen von Ich, hier und jetzt immer schon das Sagen aller Ich, aller Hier, aller Jetzt ist.“ (A. a.O., 27.)
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Inhalten in der Sprache geschieht hierbei dadurch, daß Sprache sich selbst formt – zu Darstellungen, die immer sprachlich, aber nicht immer verbal sind. (Vgl. ebd.) Sprechen formt auch den Sprechenden, es formt dessen Erfahrung. Das verweist darauf, daß es keinen festgelegten Bedeutungsbezug zwischen Wörtern und Sachen gibt.³² Sprache ist die unablässige Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, Unvermitteltheit und Vermitteltheit, Form und Hyle. Als solche ist sie die basale Struktur unseres logischen In-der-Welt-Seins, die von der Sprachphilosophie begrifflich zu entfalten versucht wird. Sprachwissenschaft dagegen reduziert Sprache auf das formale Moment. Sprache ist dann als bloßes Kommunikationsmoment betrachtet. Formlos läßt sich nicht sprechen. „Alles Formlose [..] ist stumm.“ (A. a.O., 449.) Doch alle Form, die Sprache gibt, setzt Hyle voraus. Form kann nur etwas bereits Vorliegendes formen; eine reine Form ist ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Form stellt immer einen Inhalt dar. Was geformt wird, muß dieses Moment der Formbarkeit als Moment des Selbstwiderspruchs in sich tragen, der darin besteht, sich auf einen bestimmten Aspekt reduzieren zu lassen. Formalität ist Abstraktion von einer mannigfaltig bedeuten könnenden Hyle. Sofern diese aber die ihr widersprüchliche Formbarkeit zu ihrem Moment hat, ist die Hyle – Aristoteles mit Hegel gedacht – Einheit von Identität und Nicht-Identität. Die Einsicht, daß Mehrdeutigkeit die Voraussetzung von Eindeutigkeit, Hyle die Voraussetzung von Form ist, gilt auch für die Existenz des Menschen als Individuum. Eine menschliche Individualität kann es nur aufgrund des „himmlischen Allgemeinen“ geben. (Vgl. ebd.) Der Mensch ist der existierende Begriff, die individualisierte Existenz der Einheit von Identität und Nicht-Identität, die – philosophisch oder theologisch konnotiert, ist hier zunächst unerheblich – Geist genannt wird. Das Wesen des Menschen liegt nicht in seiner (formal bestimmbaren) Existenz. Als bloße Existenz wäre er antastbar, reiner Behandelbarkeit ausgesetzt. Seine Existenz ist begrifflich, sie ist aufgehoben im „himmlischen Allgemeinen“ des Geistes. Der Mensch ist das Lebewesen, das kraft seines geistigen Lebens einen Begriff von sich hat. Seine Existenz ist diesem Begriff nicht kongruent, sie kann ihm widersprechen, sie kann ihm entsprechen. Den Widerspruch auszuhalten und die Entsprechung zu leisten sind dem Menschen einzig in der Sprache möglich, weil diese die Dialektik von Widerspruch und Entsprechung nicht allein bietet, sondern ist. Die Struktur von Entsprechung und Widerspruch verwirklicht sich in jedem Moment unseres In-der-Welt-Seins. Dies ist die logische Vermittlung des 32 Es bestehen jedoch konstante Beziehungen zwischen Bedeutungen und (tonalen) Bewegungen als Antwort auf Welterfahrung. Mit anderen Worten verstehen wir tonale Äußerungen (in einem gewissen Rahmen), auch wenn wir die Worte nicht verstehen oder sie wortlos sind. Einen Schrei aus Todesangst wird niemand mißdeuten. (Vgl. a. a.O., 204.)
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menschlichen Subjekts mit Welt als Sprache. Der Mensch ist immer vermittelt in der Welt. Sein logischer Weltumgang ist sprachliche Mimesis, nachahmende Antwort, „Ausdruck des Eindrucks, sofern dieser bedeutend ist.“ (A. a.O., 357; vgl. a. a.O., 348.) Ein Eindruck ist immer bedeutend, er ist Eindruck von etwas auf jemanden, damit aber immer schon in zwei Richtungen weisend, bedeutend. Er verweist auf das, was ihn hinterlassen hat. (Vgl. a. a.O., 173.)³³ Das wechselseitige Erzeugen von Ausdruck und Eindruck ist das, was der deutsche Idealismus als „Geist“ benannt hat. (Vgl. SuB I, 198.) Dieses Geistverständnis ist allerdings zu sublimieren. Liebrucks pointiert den Geistbegriff daher in Auslegung auf die Sprache. Diese erscheint in der Konsequenz als „die ɛνɛργɛια, die Wirklichkeit der Möglichkeit des Handelns.“ (A. a.O., 181.) Die ɛνɛργɛια der Sprache ist das SichVerhalten des Menschen zur Welt. (Vgl. a. a.O., 202.) Liebrucks greift in dieser Deutung des Sprachbegriffs zurück auf Humboldts Auslegung der Sprache als Dialektik von ɛνɛργɛια und ɛργον, das heißt als Einheit subjektiven Sprechens und objektiver Vermittlung. Sprache erzeugt durch den subjektiven Geist Gedanken, die als objektiver Geist (Grammatik etc.) erscheinen. Wichtig ist, hier keine Hierarchie zu denken; subjektives und objektives Moment der Sprache rufen sich wechselseitig hervor. „Denn ohne die Einsicht in die dialektische Struktur des Wortes zwischen Individualität und Allgemeinheit ist nicht verständlich zu machen, warum jede Sprache eine eigene Weltansicht in sich trägt.“ (SuB II, 338.)
II. Sinn und Sinnlichkeit Zum Sprechen braucht der Mensch seinen Körper. „Dieser Körper trägt ihn zur Welt, weil er selbst Weltansicht ist.“ (A. a.O., 370.) Der Ausdruck „Welt-Ansicht“ trägt bereits den Verweis auf das sinnliche Moment alles Geistlebens in sich. Keine Weltansicht gibt es losgelöst von der Erfahrung von Welt, in welcher sich der Mensch als geistig-sinnliches Wesen, als Bewußt-Sein bewegt. (Vgl. a. a.O., 374.) Die Weltansicht ist aber schon eine Reflexionsform des In-der-Welt-Seins. „Die Weltansicht jedes Menschen ist Sekundärform der Sprachlichkeit seines Bewußt-
33 Liebrucks erborgt sich hier Begriffsbestimmungen Josef Königs, der Liebrucks in seinen Betrachtungen zur Logik des menschlichen Weltumgangs maßgeblich beeinflußt hat. „Der Josef Königsche Eindruck ist nichts als der Eindruck von. Er hat weder eine Geschichte hinter sich, noch eine logische Genese. Er ist sozusagen phänomenologisch ursprünglich. Wo bestimmte Eindrücke sind, ist das So-Wirken als gewesener Logos. Als gegenwärtiger Logos ist er dort, wo auf dem Boden der Geschichte neue Eindrücke geschehen.“ (SuB VI/3, 24.) Das So-Wirken ist nicht mehr ursprünglich phänomenologisch, in ihm ist bereits auf das Wesen des Erfahrenen tendiert.
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Seins.“ (Ebd.; vgl. a. a.O., 93.) Die Weltansicht ist Sekundärform, weil sie immer schon die vermittelte, verkehrte Welt der Sprache ist, die zubereitete Welt, die Zeichenwelt. „Nicht die Welt findet in der Sprache ihren Ausdruck, sondern die Weltansicht.“ (A. a.O., 339.) Eine Weltansicht ist dennoch kein Welt-Bild, sondern lebendige Begegnung. Eine Weltansicht hat zwar immer das Moment einer praxisorientierten Weltstrukturierung an sich. Dennoch kann es keine Ansicht der Welt geben, die nicht aus der Erfahrung mit der Welt entsteht und in dieser Erfahrung bleibt – als permanente Korrelation von Frage und Antwort an die Welt, die wir uns ersprechen. Sprache als bloßes (Verständigungs‐)Werkzeug könnte uns keine Weltansicht vermitteln, weil sie als unselbständiges Mittel zum Zweck keine lebendige Weltbegegnung in sich zuließe. Sie hätte nur zu funktionieren, eindeutiges Zeichen, tote Form zu sein; von uns Menschen als solche gesetzt – anstatt uns in der Begegnung mit Welt haltend. Sprache ist die Verwandlung des konkreten sinnlichen Eindrucks in den Gedanken. „Die Verwandlung der Welt in den Gedanken ist die Bedingung der Möglichkeit aller anderen Veränderungen, sie ist die einzige Veränderung, die geschichtlich wirksam bleibt.“ (SuB III, 366.)³⁴ Sprache er-innert, macht uns innerlich, was uns von außen begegnete. Sie ist Aufhebung im dreifachen Sinne, wie Hegel ihn für den Begriff der Aufhebung geprägt hat: n e g a t i o , e l e v a t i o , c o n s e r v a t i o . Sie negiert die Konkretion zum Allgemeinen, das sinnliche Erleben zum Gedanken. Sie erhebt ein Ereignis vor unsere Augen, stellt Dinge in den Horizont unseres Wahrnehmens und Denkens. Sie bewahrt alle Eindrücke und die für sie generierten Ausdrücke, so daß wir Bezug nehmen können über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg. „Nur mit der Sprache sieht der Mensch, wie das Abwesende anwesend ist.“ (SuB I, 469.) Liebrucks geht noch weiter und behauptet: „Die Dinge in absentia sind Schöpfungen der Sprache.“ (A. a.O., 155.) Sprache schafft Distanz, durch die Dinge erst wahrnehmbar werden. So ist sie eine Distanzierungsleistung, durch welche Distanz überwunden wird. Sprache ist „die Mnemosyne aller Gebärden“. (A. a.O., 479.) Im Sprechen vergeht die gerade noch gegenwärtige Gebärde. Die sprachliche Einheit von Sein und aufgehobenem Sein wird schon in der kleinsten Spracheinheit, dem Wort, sichtbar. Ein Wort ist bezogen auf Erfahrung und kann zeitbezogen gebraucht, gedacht, gesprochen, geschrieben werden. Zugleich ist es zeitenthoben und übergeschichtlich. Sprache ist Vermittlung der Vergangenheit des Vergangenen, die uns in Gegenwart und Zukunft durch zur unablässigen Weiterentwicklung
34 „Dabei ist allerdings mitzudenken, daß jede Ansicht von Welt diese zugleich als unabhängig von der Ansicht verstehen muß. So ist gerade das mit Notwendigkeit als vom Menschen unabhängig Konzipierte vom Menschen abhängig.“ (SuB II, 322.)
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offene Kontinuität von Bedeutung eine Identität als Sich-selbst-gleich-Bleiben in Veränderung aussprechen läßt. Sprache nähert sich nicht einem Konkreten an (a d a e q u a t i o a d r e m ), sondern macht das Konkrete verständlich durch a d a e q u a t i o a d i n t e l l e c t u m . Im geläufigen Sprachverständnis wird Sprache zwar allgemeinhin als a d a e q u a t i o a d r e m angenommen. Diese Vorstellung stilisiert Sprache aber zu einem Gegenstand, der einen anderen wiedergibt. Es müßte folglich so viele Ausdrücke geben, wie es Eindrücke gibt.Verständigung wäre unmöglich. Sprache ist nicht selbst ein Gebilde, sie ist „de[r] logische Grund aller Gebilde.“ (SuB VI/3, 197.) Im Bestimmen von Erfahrung verleiht Sprache den Dingen ein Eigendasein, indem sie die flüchtige, sinnliche Erfahrung zu kommunizierbaren Gegenständen erhebt. Diese „Bestimmung ist immer zugleich Belebung der Welt.“ (SuB II, 4.) „Bestimmen“ kommt von „Stimme“. Wörter wie „Be-Stimmung“ weisen darauf hin, daß es die Stimme, die Sprache ist, mit der wir Welt formen. Dieses Bestimmen ereignet sich, wie Liebrucks formuliert, in den (künstlich auszumachenden) Pausen der Weltwahrnehmung, d. h. in dem Augenblick, da erkennbar und spürbar wird, daß zwischen Welt und Mensch ein Graben ist. Der Mensch fängt zur Überwindung dieses Grabens an zu sprechen, er „spinnt“ Sprache in den Graben zwischen sich und der Welt. (Vgl. a. a.O., 5.)³⁵ Darin schafft er bzw. Sprache die mehrstrahlige semantisch-sinnliche Relation zwischen Menschen und Welt. „Nur die adaequatio ad intellectum verbindet die Menschen.“ (SuB I, 46.) Im Sprechakt vollzieht sich immer der Übergang vom individuellen Akt zur allgemeinen Bedeutung. Sprache ist gekennzeichnet durch eine „konkrete Allgemeinheit“, die Einheit von Individuellem und Allgemeinem. (A. a.O., 223.) Sie gehört nie dem Einzelnen, sondern ist stets Erzeugnis der Gemeinschaft der Menschen, etwa einer Gesellschaft oder einer Nation. In der Sprache einer Nation beispielsweise sind deren Vorstellungen von Werten, Normen, positiven Rechten, Geschichte und Moral enthalten. Solche Vorstellungen werden mit ihnen gemäßen Sprachformen über Generationen weitergegeben. Darin veranschaulicht sich der Verallgemeinerungsaspekt von Sprache eindrücklich als Übergang von der Subjektivität zur Objektivität zur Subjektivität usf. Die Verallgemeinerung kann bis zur Ebene der
35 Hier bildet Humboldts Sprachphilosophie den theoretischen Hintergrund: „Durch denselben Act, vermöge welches der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede Sprache zieht um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andern Sprache hinübertritt.“ (Humboldt, Wilhelm von, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus [1824– 26], in: ders., Gesammelte Schriften, hg.v. d. Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5, Berlin 1906, 364– 475, 387.)
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gesamten Menschheit fortschreiten, zu Vorstellungen, die alle teilen oder die sie zumindest kennen, kombinieren, gestalten. Die Verschiedenheit an Sprachen (ethnisch, erkenntnistheoretisch etc.) verleiht der Verschiedenheit von Weltansichten Ausdruck. In der einen Sprache finden Gesellschaften und Individuen ihre Einzelsprachen. Die Individualität der Einzelsprachen zeigt sich etwa darin, daß jede Sprache unterschiedliche Vokabeln für eine Sache hat, die man als „dieselbe“ bezeichnet. Wo die Individualität des Weltzugangs des Einzelnen anfängt und die der ihn umgebenden Gesellschaft aufhört, kann nicht bestimmt werden. Subjektivität und Objektivität sind nicht aufgeteilt auf individuelles Subjekt und eine objektive Gesellschaftsgröße. (Vgl. SuB II, 326 f.) Der Einzelne wie die Gesellschaft sprechen in der unablässigen Reziprozität von Subjektivität und Objektivität. Wenn aber jede Sprache das Resultat spezifischer Welterfahrungen der Individuen einer Gesellschaft und der Gesellschaft als solcher ist, so resultiert daraus, daß eine Sprache nie vollkommen in eine andere übersetzt werden kann. Niemand kann die vollständige Geschichte einer Sprache, d. h. die in der Sprache aufbewahrten Erfahrungen eines bestimmten Kulturkreises erlernen. In einer Fremdsprache bleibt man immer fremd. Der Begriff „Muttersprache“ macht deutlich, daß man in einer Sprache geboren wird. Dieses Geboren-Werden kann man in einer anderen Sprache niemals aufholen. (Vgl. SuB I, 378.) „Denn es gibt so viele Bestimmungen, als es Sprachen und Weltbegegnungsweisen des Menschen gibt.“ (A. a.O., 392.)
Im Sprachereignis konstituieren sich Einzelner, Gesellschaft, Volk, Sprachgemeinschaft, Epoche. Ein solcher Sprachstil ist das „Aufgehaltensein[] der ständigen Bewußtseinserweiterung“, für die Liebrucks – allerdings in polemischer Abgrenzung zu Husserl – den Begriff ɛποχη wählt. (Vgl. a. a.O., 220.) Dieser Begriff steht hier für die Offenheit jeglicher Sprachform, die sich darin erhält, weitergesprochen zu werden. Das Moment der Nicht-Identität als Moment der Identität in sich zu tragen, läßt Sprache jede ihrer bestimmten Formen mit einem Hof von Unbestimmtheit umgeben sein, in den sich individuelle Verständnisse zu einem von mehreren Menschen geteilten Eindruck einzeichnen lassen, die sich über ein und dasselbe in ihren individuellen Sprachen austauschen. Sprechend sind sie auf diese Weise bei ihrem Anderen ganz bei sich selbst. So kann der Mensch in der Sprache schöpferisch sein, wenngleich er in einer Sprache spricht, die nicht er geschaffen hat. Der Mensch spricht immer schon als Gemeinschaftswesen. (Vgl. ebd.) Der Einzelne als Gemeinschaftswesen schafft, verändert, erhält Sprache. Der Einzelne spricht immer als Gemeinschaftswesen und zugleich als Einzelner, nie das eine ohne das andere. Auch Wahrnehmung ist nie nur die eines unverwechselbaren Individuellen, sondern zugleich allgemein. Der Mensch ist Individuum, aber nie isoliertes Subjekt. Sprache ist die Beziehung zwischen Subjekten und Objekten, die erst in der Sprache zu Subjekten und Objekten werden. Des Menschen Weltumgang ist stets dialogisch, er ist Mitteilung. Mitteilung aber erfordert Abstraktion, Verallgemeinerung der Eindrücke, die man kommu-
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nizieren will. Diese Verallgemeinerung ermöglicht Wiederholung von Ausdrücken und somit Verständigung.³⁶ Die Abstraktion liegt darin, „etwas über etwas“, ein Abstrakt-Allgemeines über etwas Besonderes zu sagen. Das ist sprachliche Verkehrung. Das platonische „Zerteilen“ der Dinge im Organon Sprache nimmt zwecks Mitteilung die Dinge, über die (nur) „etwas“ (nicht alles) gesagt werden soll, auseinander und setzt die Bruchstücke zu etwas Neuem, einer Abstraktion von ihnen zusammen. „Zwei Vorgänge in der Vorstellung, einer in der Sprache.“ (SuB I, 428.) Sprache teilt ein Ding mit, ohne dies Ding selbst mitzuteilen; sie ist „aufgehobene Mitteilung“. (Ebd.) „Die Spannweite in der Erfahrung von Entfremdung sowohl der empirischen wie der wirklichen und wirksamen Welt halten wir nur im Logos der Sprache aus.“ (Sinnfrage, 300.) Da dasjenige, über das gesprochen wird, nicht selbst im Mitteilungsgeschehen berührt wird, wird ihm mit der „Zerteilung“, in welcher sich Sprache als platonisches Organon zeigt, keine Gewalt angetan. „Ist jede Sprache auch einzeln, zeitlich, sinnlich, real, so ist sie doch immer zugleich allgemein, überzeitlich, unsinnlich, ideal.“ (SuB II, 82.) In ihrem überzeichenhaften Charakter ist die Bedeutung der Dinge bewahrt, die nicht in den zeichenhaften Konkretionen artikuliert ist. Jede Abstraktion ist insofern ein Selbstwiderspruch, als sie auch auf das verweist, wovon sie abstrahiert. In der Sprache sind objektiver und subjektiver Geist aufgehobene Momente. (Vgl. SuB I, 220.) „Nur als aufgehobenes Sein ist Sprache neutral gegen Wirklichkeit und Phantasie.“ (A. a.O., 468.) Unser Sprechen ist weder nur Abbildung von Dingen, noch sind unsere Sprachinhalte jemals distanziert von der Wirklichkeit der Dinge. Sprache holt das Jenseits ins Diesseits, sie vereint Dasein und Sosein. (Vgl. a. a.O., 134.) Gegen Husserls Theorem der E p o c h é betont Liebrucks, daß eine Philosophie von der Sprache her aufzuzeigen und zu denken vermag, daß Existenz nicht aus dem geistigen Ausgerichtet-Sein auf die Dinge ausgeklammert werden kann. Man kann nicht die Existenz ausklammern und dennoch meinen, bei den Sachen selbst zu sein. „In der Sprache sind Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit immer zusammen.“ (A. a.O., 205.) Ihre Trennung ist platonistisch. (Vgl. a. a.O., 213.) Sprachliche Formen sind immer ebenso sinnlich wie intellektuell und verweisen somit auf ihren Ursprung. Wörter deuten auf Erfahrungsereignisse. (Vgl. a. a.O., 208.) In der verkehrten Welt der Sprachvermittlung haben wir nie die Dinge an sich, sie sind immer schon durch die Sprache gegangen. Nicht das Wort und das Ding stehen in Beziehung, sondern das Wort und das erfahrene Ding. (Vgl. SuB II, 339.) Worte verleihen Eindrücken Ausdruck, d. h. sie sind Antwort auf eine konkrete Erfahrung. Unsere Worte kompensieren somit ein Vermissungserlebnis.
36 „Da aber Wiederholung ohne Identität nicht möglich ist, besteht in der Wiederholung schon die Identität der Identität und Nicht-Identität.“ (SuB V, 150.)
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Wörter sind der sinnliche Ersatz für das, was nicht unmittelbar zugegen ist. Um sich in der Welt orientieren zu können, ist der Mensch nicht nur auf die Fokussierung der Mannigfaltigkeit begegnender Wirklichkeit zu überindividuell und situationsunabhängig verstehbaren Bedeutungseinheiten angewiesen, sondern auch darauf, daß ihm diese anschaulich sind. Unsinnlich kann der Mensch weder denken noch sprechen. Die Bedeutung selbst kann er nicht „sehen“. Er hat aber ein Wort dafür, daß er als geschriebenes sehen, als gesprochenes (auch vor dem „inneren Ohr“) hören kann. Die sinnliche Veranschaulichung der Sprache korrigiert die Natur. Im Wort bleibt gegenwärtig, was schon vergangen ist. Die Worte springen ein für etwas nicht unmittelbar Anwesendes, das sie aber durch ihren Stellvertretungscharakter immer anzeigen. Diese Vergegenwärtigung bezieht sich auch auf die Vergegenwärtigung der Einheit von Identität und Nicht-Identität. So bezieht sich das Wort „Baum“ nicht nur auf den konkreten Baum da, sondern hat in sich immer die Erfahrung der Welt, auf welche der Mensch mit dem Wort „Baum“ antwortete; die Erfahrung all jener, die in der entsprechenden Erfahrungsund Sprachgemeinschaft mit dem Wort „Baum“ umgingen; die Erfahrung des eben dieses Wort aussprechenden Individuums mit dem Wort „Baum“; schließlich den Verweis auf das Ganze, von dem „dieser Baum da“ durch das ihn bedeutende Wort als Teil unterschieden und zugleich als Teil des Ganzen mit diesem Ganzen identisch ist. Im sinnlich erfahrbaren Wort wird die vorgestellte Einheit eines in Mannigfaltigkeit Begegnenden zu einem Gegenstand, der – was nur dialektisch gedacht möglich ist – übergegenständlich ist. Ein Wort ist „benennendes Zeigen“ (Bühler), verbindet Fixation und lebendige Verweisung, Konstruktion und Erfahrung. In alledem ist es immer sinnlich und sinnhaft zugleich; andernfalls wären das Finden von Worten und der darin begründete Weltumgang nicht möglich. Das sinnlich erfahrbare, „konservierende“ Wort macht eine vergehende Erfahrung zum übergegenständlichen Gegenstand.
III. Unbestimmtheit und Entsprechung Nie spricht ein Sprecher unter neutralen Voraussetzungen, vielmehr ist er beeinflußt von seinem sozio-kulturellen Umfeld, seiner biographischen Entwicklung sowie der ihn akut betreffenden Situation. Die Lebensumstände deuten – von den Sprechenden zumeist unbemerkt – an deren Worten mit. Desgleichen ist jedes Vernehmen von Worten interpretativ. Den gesamten menschlichen Weltumgang als sprachlichen bedenkend, ist eine Reflexion auf das Moment der Unbestimmtheit unerläßlich, sofern dieses alles Sprechen charakterisiert, sogar konstituiert. Worte sagen mehr, als der Sprechende beabsichtigt oder bemerkt. Die Tendenz unserer Sprachformen zur Mehrdeutigkeit sowie die Zulässigkeit von
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Interpretationsvielfalt sind insbesondere von Umberto Eco herausgearbeitet worden.³⁷ Vornehmlich auf die Rezeption von Kunstwerken bezogen, beeinflussen entsprechende Rezeptionstheorien ebenso christliche Bibelexegese und Homiletik. Diese erklären heute für gewöhnlich die Suche nach dem einen t e r t i u m c o m p a r a t i o n i s etwa einer biblischen Gleichniserzählung für obsolet, nachdem sie jahrhundertelang mit der Umsetzung eben dieses Auslegungsprinzips verbracht hatten. Die sprachlichen Weltzugänge von Kunst und Religion legen somit die Unsterblichkeit aller unserer Worte frei, die – im hegelschen Sinne – niemals unser Besitz, sondern unser Eigentum sind. Für Liebrucks’ Sprachverständnis ist Bühlers Theorem von den „Spielräume [n] der Bedeutungsunbestimmtheit“³⁸ richtungsweisend. Im Anschluß an Bühler schließt Liebrucks ein Monopol des Menschen auf das Zuweisen von Bedeutungen aus. Jedes Wort, das der Mensch denkt oder artikuliert, ist das seine – und zugleich ist es dies nicht. Der von Liebrucks eingeführte Sprachbegriff erschließt sich nicht, wenn Sprache lediglich als instrumentelles Medium definiert wird. Sprachphänomenologie gibt Anhaltspunkte dafür, daß ein Verständnis von Sprache als eines verfügbaren Kommunikationsmittels dem Erleben von Sprache nicht gerecht wird. Vom Menschen gebildet und kontextualisiert sind Worte in bestimmte Sinnzusammenhänge gestellt bzw. stellen Worte solche Zusammenhänge her. Doch gleichzeitig ist an ihnen ein Bedeutungsüberschuß, über den diejenigen, welche die Worte aussprechen, nicht mehr verfügen. Es ist nicht allein der Mensch, der in den Worten spricht. Nicht allein er gibt ihnen Bedeutungen, zumal diese Formulierung suggeriert, daß Sinn und Artikulation entweder wie zwei eigentlich unabhängige Versatzstücke zusammengefügt werden oder der Mensch eine verlautbare Form für eine zuvor entstandene oder gefaßte Idee erfände. „Der Mensch umkleidet nicht reine Gedanken mit Tönen.“ (SuB II, 91.) Ein Sprachlaut ist nicht etwas Zweites neben dem, was er bezeichnet.Vielmehr denkt der Mensch „als tönendes Erdengeschöpf.“ (Ebd.) Mit diesem indirekten Humboldt-Zitat umschreibt Liebrucks die Sprachbewegung. „Das Geheimnis der Sprache wie des Bewußt-Seins des Menschen liegt in der Verknüpfung von allem, was der Mensch erfährt, mit dem Laut.“ (A. a.O., 294.) Das Aussprechen einer Situation ist der erste Schritt zur Situationsunabhängigkeit. „Menschliche Weltbegegnung ist Artikulation.“ (Rede, 319.)³⁹ Dem Artikulationsmoment der Sprache
37 Vgl. Eco, Umberto, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 20029. Zur Abwehr der Beliebigkeit von interpretatorischen Zugängen vgl. ders., Die Grenzen der Interpretation, München/Wien 1992, 144 f. 38 Bühler, Karl, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, mit e. Geleitw. v. Kainz, Friedrich, Stuttgart 1999 [= Jena 1934], 66. 39 „Die Artikulation ist die Herausgliederung des Menschen aus der Erde und der Tierwelt.“ (SuB II, 113.)
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entspricht das, „was in der Kunst Gestaltung ist.“ (A. a.O., 109.) Artikulation ist die Amalgamierung von Geist, Logik, Sinnlichkeit, gefühlsmäßigem Eindruck. (Vgl. SuB II, 177.) „Der Ton in Wort und Grammatik ist die Brücke zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit […].“ (Ebd.) Vor allem in der Artikulation zeigt sich aber auch das Wesen der Sprache als Einheit des Genos Sprache und der Einzelsprachen. Artikulation ist die Einheit von der Sprache und den Einzelsprachen. (Vgl. a. a.O., 104.) Wenn Artikulation also darin besteht, die allgemeine Sprache in einer einzelnen Sprache zu konkretisieren, ist damit zugleich deutlich, daß Artikulation kein Herstellungs-, sondern ein Gestaltungsvorgang ist. Artikulation hat keine Gegenstände zum Resultat, sondern gibt der Bewegung der Sprache Gestalt, ohne diese Bewegung damit letztendlich zum Stillstand zu bringen. Sie isoliert einzelne Aspekte der Sprache, ohne die Verbindung zwischen diesen Gestalten und der Bewegung der Sprache zu kappen. In der Artikulation kommt das Ganze der Sprache in die Partialität der Einzelsprache.
An der Gestaltung eines Ausdrucks wirkt immer der Eindruck mit, auf den die Ausdrucksform gleichsam antwortet. Jedes Wort ist so gesehen schon ein Dialog. In Liebrucks’ Worten wird jeder Ausdruck in Anlehnung an Josef König benannt als „Ausdruck eines Eindrucks, sofern dieser von sich aus bedeutend ist“.⁴⁰ Jedes Wort hat ein Eigenleben, und es verändert sich fortwährend. Unser Spracherleben spiegelt diese Selbständigkeit der Sprache durchaus wider; sie wird nicht nur im (vergeblichen) Bemühen um Verständigung mit Gesprächspartnern evident. Jeder, der spricht, hört auch sich selbst dabei zu – viel zu oft kann man dabei nicht nachvollziehen, was man sich selbst sagen hört. Die eigenen Worte können wie fremde klingen, sogar die eigene Stimme scheint mitunter kaum vertraut. „Keiner kann sagen, was er meint, obwohl jeder nur sagt, was er meint.“ (SuB II, 182.) Die Worte gehören uns nicht, sie können uns entgleiten, während wir sie zu beherrschen wähnen. „Der Strudel der Geschichte liegt in der Luft, der Geist weht, wo er will, und reißt das ausgesprochene Wort mit sich fort.“ (Ebd.) In Aufnahme eines vielzitierten Verses aus dem Evangelium des Johannes (3, 8), dessen Prolog zunächst Hegel, dann ebenso Liebrucks zur philosophischen Besinnung auf den Logos inspirierte, weist Liebrucks darauf hin, daß die in Worten bezeichneten Identitäten gleitend und offen sind, d. h. daß ihnen ein Moment der Nicht-Identität eignet. Sprechen, so wurde es bereits dargestellt, „ist immer schon Verallgemeinerung des Individuellen […].“ (SuB II, 213.) Mitgeteilt wird immer etwas (ein All-
40 Vgl. Liebrucks, Bruno, Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, 8. Diese Wendung durchzieht allerdings Liebrucks‘ gesamte Schriften. Vgl. König, Josef, Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie, Tübingen 19692, § 12.
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gemeines) über etwas (ein Besonderes).⁴¹ Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht werden, daß Liebrucks vom „Allgemeinen“ in zweierlei Verständnis spricht (so läßt sich der Begriff der Bedeutungsvielfalt noch an dessen Erläuterung exemplifizieren). Zum einen versteht er darunter das Absolute, das er Hegel folgend als Aufhebung aller (widersprüchlichen) Konkretisierungen des Geistes versteht. Zum anderen handelt es sich um das, was nach allgemeinen Geltungen ausgesagt werden kann. Letzteres ist das oben benannte, kommunizierbare Abstrakt-Allgemeine. Dieses aber muß als Abstraktion vom hegelschen Absoluten gelten, schließt es doch die Mannigfaltigkeit von Bedeutungen p e r s e nicht ein, sondern aus. In diesem exkludierenden Allgemeinen ist die Aussagbarkeit eines Eindrucks in der (wenn auch nur vorgeblichen) Stillegung sprachlicher Entwicklungsoffenheit begründet. Es erscheint als exakt in die geltenden sprachlichen Konventionen eingepaßt. Doch auch jedes Exakte hat – gegen allen Anschein, den es als „Exaktes“ erwecken will – einen Unbestimmtheitshof. Bezeichnendes und Bezeichnetes sind nie deckungsgleich. Die Abstraktion von Dingen und Ereignissen, die zwecks Mitteilung vorgenommen werden muß, hinterläßt notwendigerweise einen inhaltlichen Überschuß, der in den Unbestimmtheitshöfen sprachlicher Bildungen präsent bleibt. Diese Bedeutungsüberschüsse zeigen die Unzulänglichkeit bestimmender Ausdrucksweisen an. Kein menschliches Wort könnte je die Wirklichkeit i n t o t o aussprechen. Die Bedeutungshöfe unserer sprachlichen Versuche vermögen auf dieses Ganze der Wirklichkeit nie mehr als hinzudeuten.Vielleicht könnte Liebrucks, selbst wenn er ein vehementer Kritiker Luhmanns⁴² ist, dessen Ausführungen über den von 41 Der allgemeine Bedeutungshof ist das Feld der Kopula, das Bestimmtheit zuspricht. Dieser Hof ist immer Erzeugnis des Menschen. „,Ist’ ist nicht starre, sondern bewegte Kopula, damit aber zugleich ,nicht ist’.“ (SuB III, 404.) 42 Sinn ist Reduktion von Komplexität – mit dieser Auffassung bewegt sich Luhmann ausschließlich in unmittelbarer Kontingenzerfahrung. (Vgl. Sinnfrage, 306 ff.) Luhmanns Systemtheorie verharrt in der Abstraktionsleistung des technisch-praktisch behandelnden Weltumgangs. Sie gelangt nicht über die Einsicht in die positivierende Gestaltung der Welt hinaus zu der Erkenntnis, daß der Mensch auch Empfänger einer Bedeutsamkeit ist, welche der begegnenden Welt inhäriert und von ihr selbst gezeigt wird. Luhmann will sich jeglicher metaphysischer Spekulation enthalten, indem er sich ganz auf die positivierte Welt konzentriert. Sinn ist für ihn unnegierbares, funktionales Ordnungsmedium menschlichen Erlebens. In der Kontingenz der begegnenden Wirklichkeit kann Luhmann keinen ihr eigenen Sinn erkennen, sofern er als Sinn nur das gelten läßt, was unter die Systematizität formallogischer Reglementierung gezwungen werden kann: verstandesgemäß hergestellte Kontextualität. Die Bedingungen zur Möglichkeit des Setzens von Sinn bedenkt Luhmann dabei nicht. Er gelangt nur zu einem Teilaspekt des sprachlichen Weltumgangs, der Kommunikation, d. h. der konventionalisierten Verständigung, nicht aber zur Sprache selbst.
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Spencer Brown übernommenen Gedanken des m a r k e d / u n m a r k e d s p a c e doch folgen: Hiernach erscheint die Wirklichkeit wie ein Horizont, von dem wir immer nur einen Ausschnitt sehen. Was in einem Moment von diesem Horizont in unserer Wahrnehmung „markiert“ ist, tritt in einem anderen Moment wieder in den Hintergrund, und etwas anderes erscheint als markierter Ausschnitt. Das Unmarkierte ist als nicht Ausgewähltes in der selektierenden Wahrnehmung dennoch zugegen.⁴³ Das Markierte ist der Gegenstand der Wahrnehmung. Mit Liebrucks könnte man anschließen, daß die Gegenständlichkeit der Dinge ein Sprachresultat ist. Laut Liebrucks empfangen die Dinge ihr Eigendasein aus der Sprache. (Vgl. Revolutionen 92; SuB II, 97; SuB VI/3, 367 u. ö.) Die Gegenstände unserer Wahrnehmung, unseres Denkens und Sprechens sind keine aristotelischen Sub-stanzen, sondern gegenständlich nur in den bedeutenden Beziehungen, innerhalb derer sie logisch stehen. „Nur im Raum zweier mit einander sprechender Menschen haben die Dinge Konturen. Der Kontur ist niemals nur bestimmter Kontur.“ (A. a.O., 24.) Das Eigendasein eines Dings ergibt sich in dessen Abgrenzung und Bezüglichkeit im jeweiligen Kontext, in dem es ausgesprochen wird. Ein Wort ist nicht an sich sinnvoll, sondern gewinnt seinen Sinn in seiner Verwendung; es will gesprochen, gehört, in Kontexte gestellt werden. (Vgl. SuB I, 306.) Das Wort ist nicht die Sache, es macht die Sache sichtbar in den Bezügen der Sprache. Der Bedeutungshof ist die Korona des Überzeichenhaften eines sprachlichen Gebildes, er ist die Voraussetzung dessen situationsübergreifender Geltung. Nur als Einheit von Sein und Nicht-Sein sind sprachliche Ausrücke auch abgesehen von ihrer Entstehungssituation einsetzbar. Ein Allgemeines muß als solches immer erneut auf Besonderes applizierbar sein. Hier zeigt sich deutlich die Dialektik der Bedeutungsgenese: Allgemeines und Besonderes bestimmen sich gegenseitig. Bedeutungen stehen nie für sich, sie brauchen ein Verweisungsganzes, um sichtbar zu werden. Doch sie fügen sich nicht lückenlos aneinander wie die Teile eines Puzzles. Auch wenn die Grammatiken dies vorspiegeln: Unsere Worte sind keine paßgenauen Komponenten. Vielmehr erweisen sie sich als lebendige Einheiten, sie rufen gegenseitig ihre Bedeutungen hervor. Ein Wort offenbart seine Funktion und seinen Sinn erst, wenn der Satz, in dem es steht, vollendet ist. Ebenso wird der Satz durch den ihn enthaltenden Absatz näher bestimmt etc. Ein Wort ist – im Doppelsinn des Ausdrucks – Verdichtung einer konkreten Erfahrung, ein Schmelztiegel, in dem ein widerfahrenes Etwas zu einem mitteilbaren Etwas 43 Somit ist auch bezeichnet, daß Wahrnehmung und Sprache keine zwei voneinander unterschiedenen Bereiche o. ä. sind, zwischen denen ein Übergang stattfände. Wahrnehmung ist Auseinandersetzung des Menschen mit dem Äußeren, ist Weltbegegnung. Sie ist die Entäußerung des Geistes in die Sinnlichkeit, die in der Sprache zum „Tönen“ kommt. (Vgl. SuB I, 221.)
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reduziert wird. „Die Bedingung der Möglichkeit von menschlicher Allgemeinheit des Verständnisses ist also das Wort.“ (A. a.O., 311.) Ist ein Wort Abstraktion von Erfahrung, so hebt das Verweisungsganze eines Satzes den abstrakten Zeichencharakter der Wörter wieder auf. In Sätzen werden einzelne Worte kombinierbar. Ihre Bedeutungen verweisen nicht mehr nur auf die sie jeweils begründende, vergangene Erfahrung. Die Bedeutungsoffenheit der Worte ermöglicht es, neue Erfahrungen zu machen, auszusagen, vorzubereiten. In der Sprache wird das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem unablässig neu bestimmt. Sprachliche Identitäten erweisen sich, auch ihre Nicht-Identität als ein Moment ihrer selbst zu haben.⁴⁴ Bedeutung entfaltet sich geschichtlich. Sie ist geboren in einem sinnlichen Eindruck, der von sich selbst her bedeutend ist und dessen Artikulation sich gleichsam als Replik auf diesen ursprünglichen Eindruck formiert. Götternamen sind ein Beispiel für diese Aufbewahrung und Entfaltung einer Welterfahrung in einem sprachlichen Ausdruck. (Vgl. SuB VII, 475.) Bedeutungen sind somit durch eine gewisse Indirektheit charakterisiert, die für das geschichtliche Gewordensein und Werden eines Wortes und dessen Inhalt steht. Diese Indirektheit kann man auch den mythischen Zug alles Bedeutens nennen. Das mythische Moment aller sprachlichen Ausdrücke besteht darin, daß in ihnen ein geschichtlich gewordener Sinn mit der Sinnlichkeit der Artikulation verschmilzt. Der einzige Verweisungszusammenhang, der für sich Direktheit beanspruchen kann, ist der Fingerabdruck. (Vgl. ebd.) Darüber hinaus ist jedes Gebilde unserer Sprache von jenem mythischen Charakter gezeichnet, auch wenn dieser meist nur noch in der Dichtung zutage tritt, in welcher „schon das Einzelwort einen großen Umhof von Bedeutung [hat], der aus dichterischen Exaktheitsgründen keine scharfe Grenze hat.“ (Ebd.) Dieser mythische Charakter aller Worte ist die Bedingung der Möglichkeit unseres Verstehens. In das geschichtliche Werden einer Bedeutung begibt sich der Verstehende hinein, eignet es sich an, findet seinen Platz darin und macht so das Wort und dessen Bedeutung zu seinem Eigentum. „,Verstehen‘ heißt nicht, unter den gleichen Zeichen den gleichen Inhalt meinen, sondern Bildung und Eröffnung der gleichen Sphäre, in der die entsprechende Bedeutung in aktivem Selbstvollzug erweckt wird.“ (SuB II, 214.) Nicht immer aber stehen Dialogpartner in derselben Sphäre. Ein Beispiel hierfür sind verzweifelte Gesprächssituationen, in denen der eine ausruft: „Ja, verstehst Du denn nicht?!“, und der andere ebenso aufgebracht erwidert, daß er doch sehr wohl verstehe, da er meint, einen Sach-
44 Der dialektische Zusammenhang von Identität und Nicht-Identität, von Allgemeinem und Besonderen wird im zweiten Teil dieser Untersuchung in begriffslogischer Herleitung entscheidend für die Erläuterung des von Liebrucks formulierten Gottesbegriffs sein.
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verhalt korrekt erfaßt zu haben. Die Verzweiflung wütet auf beiden Seiten, wenn zwei Menschen dasselbe Ereignis betrachten, und der eine sieht, „was der Fall“ ist, der andere aber, was es „bedeutet“. Selbst u n i s o n o der Welt in derselben Sphäre begegnend, hätte jeder Mensch eine individuelle Weltansicht. Menschen teilen nicht dieselben Bedeutungen, sondern dieselben Bedeutungshöfe. (Vgl. a. a.O., 214 f.) „Verstehen ist die Selbsterzeugung des Gedankens im Hinhören auf das vom Partner Gesagte innerhalb des allgemeinen Bedeutungshofes.“ (A. a.O., 286.) Liebrucks selbst sieht in diesen Worten sein Verständnis von „Verstehen“ derart treffend ausgedrückt, daß er sich selbst in Band IV von Sprache und Bewußtsein mit diesem Satz zitiert. (Vgl. SuB IV, 449.) In der Tat finden sich in dieser Definition die wichtigsten Aspekte der von Liebrucks vertretenen Sprachphilosophie. „Verstehen“ zeigt sich im und als Vollzug der Sprache als Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung. Die Verständigung erfolgt als Erzeugen von Gedanken, die den Denkaufforderungen des Gesprächspartners entsprechen. Im Erzeugen dieser Entsprechungen erweisen sich die sprechenden Subjekte als empfangend und selbsttätig zugleich.⁴⁵ Der Verständnishorizont der Sprechenden ist die sprachliche Einheit von Identität und Nicht-Identität, von definierenden Konventionen, die allgemeine Kommunikation ermöglichen, und Unbestimmtheitshöfen, in die sich das individuelle Begreifen einzeichnen läßt. Die Bedeutungs- oder Unbestimmtheitshöfe der Worte erscheinen auf den ersten Blick als Anzeichen von Mangelhaftigkeit des menschlichen Sprechens, mithin menschlicher Unfreiheit, sich adäquat auszudrücken. „Die logische Urhandlung bestand darin, die Bestimmtheit vor die Unbestimmtheit zu setzen.“ (SuB III, 407.) Doch das Fehlen eindeutiger Zuordnungen zwischen Worten und den von ihnen benannten Dingen gestattet Verständigung unter Menschen allererst. Diese Auffassung von Verständigung steht diametral der wissenschaftlichen Vorstellung von Mitteilung und Verstehen gegenüber, die unter der formallogischen Prämisse
45 Hier verrät sich Liebrucks‘ sprachtheoretischer Bezug zu Humboldt, der die Tätigkeit des Sprechens als Einheit von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit bezeichnet hatte. (Vgl. SuB II, 23; 25.) Mit diesem Begriffspaar umschreibt Humboldt die Grundsituation menschlichen In-der-WeltSeins als Wechselbeziehung von aktiver, freier und als solcher schöpferischer Tätigkeit sowie passivem Betroffensein durch die aktiven Tätigkeiten anderer Subjekte. (Humboldt, Wilhelm von, Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur (1794), Werke in fünf Bänden, hg.v. Flitner, Andreas/Giel, Klaus, Bd. I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 20024, 274 f.) Bis in die Formulierung analog formuliert Schleiermacher in seiner Glaubenslehre, das menschliche Dasein sei charakterisiert durch die unaufgebbare Reziprozität von Freiheit und Abhängigkeit, „E m p f ä n g l i c h k e i t und S e l b s t t ä t i g k e i t “. (Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt [2. Aufl. 1830/31], hg.v. Redeker, Martin, Berlin/New York 1999 [= 19607], 24.)
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des p r i n c i p i u m i d e n t i t a t i s eine eindeutige Definition aller einzelnen Varianten einer Aussagefigur und ihrer möglichen Kombinationen voraussetzen muß. Doch wie für jede andere, so gilt auch für diese Sprechweise: „Die Unexaktheit der Grenzen der Bedeutungshöfe in jedem Wort ist die Bedingung der Möglichkeit jedes Verstehens.“ (SuB II, 285.)⁴⁶ Der Unbestimmtheitshof ist der einzige Weg, auf dem Individualität in Sprache und Gedanken gefaßt werden kann. „Das individuum ist als indivisibile das, was es ist, nur im Umhof seiner Extension. Dieser Umhof seiner Extension definiert es als indivisibile. Das individuum ist individuum nur im Umhof seiner Bedeutung.“ (SuB VI/2, 125.) I n d i v i d u u m e s t i n e f f a b i l e . Das Individuelle kann nie ausgesprochen, vielmehr nur als Unbestimmtheitshof stehender Ausdrücke mitgeführt werden. Sprache ist Begrenzung des Unaussprechlichen, eine bewegliche, aber nicht zu durchbrechende Demarkation eines Spielraums, innerhalb dessen Unbeherrschbares und Regelhaftigkeit amalgamieren. So sehr die Unbestimmtheit Bedingung der Möglichkeit des Sprechens ist, so sehr sind es auch die Ordnungsprinzipien. Denn das Sprachspiel ist kein Spiel ohne Grenzen. Spielen kann man nur nach Regeln. Der Mensch hat nie Inhalte ohne Form, d. h. er hat auch Bedeutungen nie in alleiniger Unbestimmtheit. Verständigung ereignet sich also, wo Unbestimmtheit und Mitteilbarkeit in Balance gehalten sind. „Individuum und Individuum sprechen miteinander immer auf der Grenze zwischen Individualität und Allgemeinheit.“ (SuB II, 287.) In jedem Gespräch ist vorausgesetzt, daß wir die treffenden Worte finden, d. h. daß das Besondere (Wort) ein Allgemeines (Begriff, Idee) „trifft“, das alle Gesprächsteilnehmer kennen, so daß sie diesem entsprechende Bedeutungen in sich erzeugen können.Wenn Menschen sich verständigen können sollen, muß Sprache allgemeine Bedeutungen zur Verfügung stellen. Überwiegt die Unbestimmtheit in der Wortbedeutung, ist (miteinander) zu sprechen nicht mehr möglich. Dem Allgemeinen kommt damit aber keine größere Bedeutungskraft zu als dem Besonderen. Ebensowenig stehen beide als unabhängige Größen nebeneinander, die erst medial verbunden werden müßten. Das Besondere erscheint über den Horizont des Allgemeinen, das Allgemeine über dessen Konkretisierung. Ein Allgemeines ist solches nur als Aufhebung seiner Konkretionen. Es ist kein substanzhaftes Allgemeines, sondern eine sich unablässig konstituierende Identität, die im Bezogen-Sein auf ein Anderes ihrer selbst bei sich ist. „Die wirkliche Verallgemeinerung geschieht durch diese Individualisierung.“ (A. a.O., 213.) Subjektivität und Objektivität sind in jedem Moment un-
46 Daher ist „[d]er Unbestimmtheitshof, der hier jedes Wort umgibt, obwohl es durch ihn seinen eindeutigen Mitteilungscharakter nicht verliert, [..] exakter als jede mathematische Bezeichnung sein könnte.“ (SuB VII, 475 f.)
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seres sprachlich-logischen In-der-Welt-Seins aufeinander bezogen. Allerdings gibt es Sprachformen, die über diese Dialektik hinwegtäuschen, so etwa die Definitionen der Wissenschaften: Sie formulieren Allgemeinbegriffe, die den Anschein erwecken, ihnen kämen eindeutige Zuordnungen zu: A = A.⁴⁷ Diese Abstrakta entsprechen dem von Hegel so benannten logischen Status des Wesens, über den noch zu verhandeln sein wird. An dieser Stelle ist zunächst entscheidend, daß sich all unser Sprechen und Verstehen in der Reziprozität von Allgemeinheit und Individualität, Subjektivität und Objektivität, Identität und Nicht-Identität bewegt. Sprechen ist die Bewegung zwischen allgemeinen Verständigungsformen und deren individueller An-Eignung. „Sprechen und Verstehen zeigen phänomenal, präsentieren also, daß es für den Menschen keine Individualität außerhalb eines allgemeinen Bedeutungshofes und keinen allgemeinen Bedeutungshof gibt, der leer von Individualitäten ist.“ (A. a.O., 216.) Kein einzelnes Wort kann es separiert vom Ganzen geben, wie es die Sprache nicht anders gibt als in ihren einzelnen Äußerungen. Die hyletische Unbestimmtheit des Sprachganzen ist die Aufhebung aller konkret-individuellen Denk- und Sprechweisen. In der Aura eines Wortes sind die Denkbewegungen aller aufgehoben, die jemals Gedanken und Worte bildeten sowie in Gegenwart und Zukunft bilden. In dieser Aura lebt die Individualität einzelner Personen, aber auch diejenige von Kulturgemeinschaften und Völkern. Bedeutungshöfe umgeben die Worte wie eine Atmosphäre und zeigen auf die Hyle, das Ganze des Begriffs, das in jeder seiner Konkretionen zugegen ist. (Vgl. SuB I, 496.) Jedes Wort steht im Unbestimmtheitshof seiner Bedeutung und somit im Hofe der Sprache als Einheit aller ihrer Erscheinungen. (Vgl. SuB II, 149.) Die Einheit des Sprechens und damit Denkens ist folglich keine eindeutige. „Denn die Sprachen verbinden die Menschen durch ihre Verschiedenheit.“ (A. a.O., 269.) Die uneindeutige Einheit von Allgemeinem und Besonderem aber kann nur als dialektische Einheit von Gegensätzen gedacht werden. (Vgl. a. a.O., 286.) In den Unbestimmtheitshöfen zeigt sich dieses dialektische Ganze der Sprache. Im unausgesetzten Zugegensein des Ganzen in dessen sprachlichen Konkretionen sind diese voneinander Unterschiedene, nie Getrennte. „Die Einheit der Sprache ist nicht eine Zusammenstückelung aus zwei Welten, die sich vorher als ansichseiende und erscheinende gegenüberstanden. Sprache ist erst dort, wo das Gegenüber als Abstraktion nicht als logische Wirklichkeit, sondern als logische Möglichkeit erkannt ist.“ (SuB VI/2, 303.) Im Sprechen verweisen die einzelnen Gebilde aufeinander: Je komplexer die
47 „Die Bestimmtheit des Sinnes, die nicht von einem Unbestimmtheitshof umgeben ist, ist nur unter der Voraussetzung einer a priori schon gesetzten positivierten Welt möglich.“ (SuB VI/1, 120.)
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Sprache, desto vielfältiger die Verweisungen, desto präsenter die Wirklichkeit des Ganzen – und darin die Individualität. Dieses gegenseitige Fordern und Hervorrufen nennt Liebrucks „schöpferisch“, denn es macht sichtbar, ruft ins Leben. (SuB II, 309.) Die Notwendigkeit von Unbestimmtheit als Voraussetzung zur Verständigung findet ihre nachhaltigste Darstellung im bereits eingeführten Begriff der Entsprechung. „Die Menschen verstehen einander nicht dadurch, daß sie sich Zeichen der Dinge wirklich hingeben, auch nicht dadurch, daß sie sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig denselben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, daß sie sich gegenseitig in einander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Begriffserzeugungen berühren, dieselbe Taste ihres geistigen Instruments anschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen.“⁴⁸ Dieses Zitat Wilhelm von Humboldts hat einen entscheidenden Einfluß auf Liebrucks’ Entwicklung einer Sprachphilosophie ausgeübt. Er liest diesen Satz aus der Einleitung zum Kawiwerk unter anderem als eine treffende Beschreibung der hegelschen Kategorie der Entsprechung. Deren Verständnis erleichtert den Zugang zu Liebrucks’ Begriff der Unbestimmtheitshöfe. Diese wurden bereits als Freiräume der Individualität innerhalb der Grenzen allgemeingültiger Verständigungsparameter skizziert. Das Theorem der Entsprechung mag nun zur Beantwortung der Frage dienen, wie Verständigung angesichts dieser die Sprache begleitenden, ja charakterisierenden Indifferenz möglich ist. „Verstehen ist die Selbsterzeugung des Gedankens im Hinhören auf das vom Partner Gesagte innerhalb des allgemeinen Bedeutungshofes.“ (SuB II, 286.) In der allgemeinen Mitteilung ergeht die Aufforderung an den Empfänger, in den Unbestimmtheitshorizont der empfangenen Worte seine eigenen Vorstellungen, die er aufgrund der Mitteilung erzeugt, einzuzeichnen. „Das Wort ist eine Aufforderung, eine bestimmte Bedeutung, die innerhalb der Schranken begrenzter Allgemeinheit (Bedeutungshof) liegen muß, zu erzeugen.“ (A. a.O., 215.) Menschen verstehen ein und dieselbe „Sache“ je anders, individuell, ohne daß diese Individualität der Wahrnehmung, Erfahrung und des Verstehens Verständigung untereinander zwangsläufig unterbände. Mitunter erzeugt der „Empfänger“ einer Mitteilung über etwas sogar dieselben Vorstellungen wie deren „Sender“ – dann begreift man, Sprachform und Denkform befinden sich in Einklang. Wer könnte das Erleben solcher Einstimmigkeit treffender umschreiben als
48 Humboldt, Wilhelm von, Einleitung zum Kawiwerk, Gesammelte Schriften, Bd. 7/1, hg.v. Leitzmann, Albert, München 1907, 169 f.; Herv. S. L.
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Goethe in seinen Zeilen an Frau von Stein, in denen er seine Faszination darüber gesteht, daß sie „spürt[], wie die reinste Nerve klingt“.⁴⁹ Die Sprache des Anderen ist ein Vokativ an uns, Entsprechungen zu dessen Gesagtem in uns zu erzeugen. Im Ausdruck „Ent-Sprechung“ bleibt der kreative Antwortcharakter des Verstehens anschaulich. Wiederholung ist Stillstand. Was lebt, ist immer in Bewegung, im Werden und Verändern. Niemals haben auch nur zwei Menschen dieselben Gedanken, lediglich (bzw. immerhin) entsprechende. Alle Menschen haben von ein und demselben Besprochenen qualitativ unterschiedliche Vorstellungen. (Vgl. SuB II, 339.) Die Ansichten eines anderen Menschen verstehen kann man nicht, indem man sich in den Anderen hineinversetzt oder dessen Vorstellungen in einem quasi handgreiflichen Sinne übernimmt, sondern nur, indem man in sich selbst die Entsprechungen zu dessen direkten oder indirekten Sprachaufforderungen hervorruft. Mißverständnisse entstehen, wenn Bedeutungshöfe beim Erzeugen von Entsprechungen überschritten werden. Und doch mag in diesem Überschreiten des Hofes, das immer nur Übergang in einen neuen sein kann, sogar ein angemesseneres Verstehen eines Besprochenen geboren werden. „Entschränkung des Bedeutungshofs durch Einschränkung der Gültigkeit ist nur durch Sprache möglich. Ja die Sprache selbst ist nichts anderes als die Entschränkung der Bedeutung aus der Isolation für den Einzelnen durch Einschränkung ihres Ausdrucks und ihre Darstellung in bestimmte Sprache.“ (SuB IV, 365.) Im Er-Zeugen zeigt sich die schöpferische Geschlechtlichkeit der Sprache. „Nur weil der Hörende nicht jedesmal genau denselben Inhalt mit dem Gesagten verbindet wie der vorher scheinbar ‚dasselbe‘ Aussagende, weil er immer von seiner Individualität hinzufügt, weil so die Sprachen selbst im Lesenden niemals ohne dieses reale Moment sind, können die Bedeutungen und die Charaktere sich geschichtlich fortpflanzen.“ (SuB II, 222.) In den Unbestimmtheitshöfen bleiben Erfahrungen bewahrt, im hegelschen Sinne aufgehoben, neue Erfahrungen (seien es entsprechende oder abweichende) ereignen sich. „Im Bedeutungshof versammeln sich alle Erfahrungen, die wir mit einem Wort und seinen Anklängen gemacht haben.“ (A. a.O., 243.) Weil Erfahrungen je einzigartig sind, ist die vereinheitlichende Größe, zu der sie sich versammeln, nicht in einer eindeutigen Definition zu fassen. Eine Erfahrung kann innerhalb allgemeingültiger Strukturen geschehen und erzählt werden, doch ihr Ereignismoment wird nie zu einem Abstraktum
49 Ähnlich mutet Josef Königs Rede von der Stimmgabel an, die, vor die Öffnung eines ungedämpften Klaviers gehalten und angestimmt, exakt die Klaviersaite zum Schwingen bringt, deren Ton mit dem angestimmten Ton der Stimmgabel übereinstimmt. Vgl. König, Josef, Die Natur der ästhetischen Wirkung (1957), in: ders., Vorträge und Aufsätze, hg.v. Patzig, Günther, Freiburg/München 1978, 256 – 337.
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werden; sie ist Konkret-Allgemeines, nicht Abstrakt-Allgemeines. Diese Konkretheit bleibt im Unbestimmtheitshof eines sprachlichen Gebildes bewahrt, er ist die bleibende Verbindung der Sprachgebilde zu lebendigen Erfahrungen, in ihm liegt die Geschichtlichkeit der Sprache begründet: „Das Wort hätte ohne den Unbestimmtheitscharakter keine Geschichte.“ (Ebd.) Die Geschichte des Wortes ist dessen Weitergesponnen-Werden in der Mannigfaltigkeit an Entsprechungen, die von den es denkenden, artikulierenden und hörenden Menschen erzeugt werden. In dieser Geschichtlichkeit des Wortes, der Sprache liegt eine Selbstverantwortung des Menschen als des sprechenden Wesens begründet. Im Verstehen als Erzeugen von Entsprechungen sind wir unvertretbar. Hier zieht Liebrucks eine theologische Ebene in die Argumentation ein. „Verstehen kann ich nur, was ich in mir erzeuge. So kann kein Mensch das Neue Testament verstehen, wenn er es nicht in sein eigenes Leben hineinzuschreiben vermag, wenn er den Text nicht neu erzeugt.“ (A. a.O., 368.) Meines Erachtens kann diese Anmerkung im Horizont von Jer 31,33 gelesen werden: „[…] das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.“ Liebrucks wandelt diesen Gedanken in bedenkenswerter Weise ab: Die Menschen müssen den Bund selbst in ihr Herz schreiben. Das hätten die alttestamentlichen Propheten noch nicht zu sagen vermocht, da sie neben der Empfänglichkeit des Menschen im Erleben der Gottheit nicht auch noch dessen Selbsttätigkeit einsehen konnten, ohne fürchten zu müssen, die Souveränität Gottes sei dadurch geschmälert (wobei eine geschmälerte Souveränität gar keine sein dürfte). Doch Liebrucks betont: „Göttliches kann überhaupt nur in dem von uns erörterten sprachlichen Sinne aufgenommen werden, daß der Mensch dabei nicht passiv bleiben kann, sondern es in sich neu erzeugen muß.“ (SuB III, 127.) Das Göttliche ist, wie es die Ausführungen zum Gottesbegriff bei Liebrucks noch präzisieren werden, das – mit Hegel gedachte – Absolute als absoluter Begriff. Das Selbstdenken des Absoluten vollzieht sich über den subjektiven Geist. Da es nichts außerhalb des Absoluten geben kann, ist der absolute Logos die logische Struktur allen Geistes – auch des subjektiven, des Menschen. Der absolute Begriff legt sich selbst aus, indem er vom Menschen sprechend gestaltet wird. So hat Sprache stets einen göttlichen und einen menschlichen Ursprung. Insofern ist Gott immer p r o n o b i s : Ein Gott, der bei uns ist, weil er unsere Sprache spricht. Die Gegenwart Gottes verbürgt die Menschlichkeit des Menschen, weil der Mensch im göttlichen Logos sich ausspricht. Der absolute Begriff ist das zu sich kommende Denken in der Aufhebung von Substanz und Subjektivität, ein Konkret-Allgemeines, das seine Identität als absolute behauptet, da es seine Nicht-Identität als eines seiner Momente in sich trägt. „Der logische Begriff enthält die früheren Begriffe, deren bestimmte Negation er ist, nicht als ein Resultat, das den Weg hinter sich gelassen
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hat, sondern als ein solches, das den Weg mitnimmt.“ (SuB VI/1, 210.) Der absolute Begriff hat das Gegenteil in sich, als dessen Negation er entstanden ist. Er ist Mnemosyne seiner Widersprüche, die er überwunden hat. Er kann die Erinnerung nicht ausschalten, weil er keine bloße Setzung ist, sondern sich an der Wirklichkeit entfaltet. Die Wirklichkeit hat ihre Genese aber immer als eines ihrer Wahrheitsmomente. Die in der Unbestimmtheit gegenwärtigen Bedeutungsüberschüsse, die darauf hindeuten, daß Lebendiges nicht ohne inhaltliche Abstriche in feste Formen gebannt werden kann, veranschaulichen, daß Wirklichkeit mehr ist, als in einem Wort, einem Sprachwerk, einer Situation gesagt zu werden vermag. Bedeutungsüberschüsse mahnen die Einsicht an, daß auch der Mensch als sprachliches Wesen mehr ist, als in einer anthropologischen, politischen, biologischen etc. Definition jemals festgehalten wäre. In den Unbestimmtheitshöfen der Sprache sind Individuen imstande, sich in ein allgemeines Kommunikationsraster einzufügen, ohne ihre Individualität aufzugeben; sie bleibt gegenwärtig und in ihrer Wirklichkeit von formeller Generalisierung unangetastet. Die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem in jedem einzelnen gesprochenen Wort ist folglich dieselbe wie die zwischen Individuum und Gesellschaft.⁵⁰ (Vgl. SuB II, 341.) Die Thematisierung der Unbestimmtheit ist daher sittlich geboten, sofern die Institutionen unserer Sprache, unserer Gesellschaft, unserer moralischen und rechtlichen Ordnungen ein allgemein gelten sollendes „Menschsein“ proklamieren, welches die individuellen Abweichungen der einzelnen Menschen nicht mehr auszuhalten vermag.⁵¹ Dieses Aushalten des Widerspruchs ist das Proprium des Menschen und daher seine sittliche Aufgabe. Die Fähigkeit zur vernünftigen Thematisierung und Integration des Widersprüchlichen ist seine Fähigkeit zu sittlichem Handeln. Individualität gibt es nur als freie. Nicht einmal annähern kann man sich ihr. Vielen gilt die aus der Mathematik stammende Vorstellung der Asymptote als eine adäquate Darstellung der Begegnung mit dem Unberührbaren. Solche Annahmen gehen gleichwohl fehl, da das mathematische Denken niemals Wirklichkeit aussprechen kann, sondern nur eine konstruierte Realität. Mathematisch-logisches Denken blendet Unbestimmtheit aus.⁵² Die mathematische Figur der
50 Liebrucks spricht eher von Gesellschaft, weniger von Gemeinschaft. Sein Interesse gilt immer auch den Konsequenzen einer denkerischen Revolution im Hinblick auf die politische Verantwortlichkeit des Menschen als ζωον πολιτικον – ganz wie es sein Versuch einer Philosophie in Reaktion auf die Entmenschlichung während der faschistischen Vorherrschaft in Europa bis 1945 verlangt. 51 Dies kann etwa in Rassentheorien oder (religiösem) Fanatismus der Fall sein. 52 „Die tiefste Stufe des Erkennens ist die mathematische. Dafür ist sie exakt.“ (SuB VI/3, 518.)
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Asymptote setzt einen definierbaren Bereich voraus, an den sie sich annähern kann. Individualität aber ist das Undefinierbare. Sie haben wir immer nur als uns entzogene. Das Individuelle lebt im Augenblick, das heißt aber: wie der Augenblick stirbt es im Moment seiner Geburt. „Ohne solche göttliche Vernichtung der Individualität lebte kein individuelles Wort.“ (A. a.O., 286.) Göttlich ist diese Vernichtung als das vom Menschen nicht Beeinflußbare und dasjenige, das ihm zugleich die Erfüllung seiner Bestimmtheit eröffnet. Aufgrund ihres fortlaufenden Vergehens können wir die Individualität nie festhalten und besitzen; sie ist uns als permanentes Werden eigen. Sofern dem Menschen das Entstehen und Vergehen der Individualität entzogen ist, ist ihm auch der (eigene, individuelle) Tod entzogen. Nur indem er sich suizidiert, kann ein Mensch seiner Individualität gewaltsam Herr werden, sofern er deren Entwicklung in endgültiger Bestimmtheit abbricht. Verlängern kann er sie nicht. Auch kann der Mensch den eigenen Tod offenbar nicht bewußt erfahren. Er kann ihn sich aber aneignen, indem er seine Sprachlichkeit reflektiert und darin die stete sprachliche Bewegung zwischen Leben und Tod, die er ist. „Der Tod ist Herr über alles, nur nicht über den Begriff, der ihn ausgehalten hat.“ (A. a.O., 411.) Leiden, Aushalten, Aneignen ist Überwinden. „Im Aushalten solchen Weltsprachspiels liegt der Rang des Menschen.“ (A. a.O., 373.)⁵³
IV. Die Dreistrahligkeit semantischer Relation – Bühlers Organonmodell „Die Bedingungen der Möglichkeit allen menschlichen Verstehens ist die Eingefügtheit in die Dreistrahligkeit der semantischen Relationen.“ (SuB I, 349.) Die Struktur der Sprachbewegung als dreistrahlige semantische Relation übernimmt Liebrucks von Karl Bühler, dessen Werk einen entscheidenden Einfluß auf die von Liebrucks erschlossene Sprachphilosophie hat. Bühlers zentrale Aussage ist folgende: Das Sprachzeichen „ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Anzeichen (Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer,
53 Das Aushalten des Weltsprachspiels als wechselseitiges Erzeugen von Entstehen und Vergehen in Sein und Denken leistet der Mensch als Vernunftwesen. „Die vorgestellte Welt des praktisch-technischen Weltumgangs ist dem Entstehen und Vergehen preisgegeben. Darin liegt ihr Widerspruch. Als Angehörige der Welt entstehen und vergehen wir ebenso. Soweit wir dagegen die Welt mit Vernunft betrachten, sind wir dem Entstehen und Vergehen nicht unterworfen. Das ist kein Hinweis auf unsere Unvernunft, sondern darauf, daß wir und in welchem geringen Maße wir vernünftige Wesen sind.“ (SuB VI/1, 526.)
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dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert.“⁵⁴ Bühlers Sprachtheorie basiert auf dem sogenannten Organonmodell⁵⁵. In diesem Modell ist Sprache dargestellt als Einheit von Ausdruck (Sender), Appell (an einen Empfänger) und Darstellung (von Dingen): Jemand (1) teilt jemandem (2) etwas über etwas (3) mit. Diese Dreistrahligkeit des Sprechens verleiht dem Sprachzeichen eine entsprechend mehrstrahlige Bedeutung. Es ist als Symbol Gegenständen und Sachverhalten zugeordnet, es ist Symptom, d. h. in Form eines Anzeichens oder Indizes abhängig vom Sender, indem es dessen Innerlichkeit ausdrückt; schließlich ist es Signal, ein Appell an einen Hörer (hinsichtlich des innerlichen wie auch des äußerlichen Verhaltens). „Ich spreche zu einem Anderen über etwas, was geschehen soll oder teile ihm etwas mit, was nicht in seinem Wahrnehmungsfelde liegt. Wenn wir diesen Satz meditieren, so sehen wir, daß in ihm auf eine mühsame Weise von drei Seiten beschrieben ist, was in Wirklichkeit ein Ungeteiltes ist, was wir im sprachlosen, einen Schritt über die Sprache hinaus gehenden Denken mühelos anblicken, was die Sprache in seiner Einheit nicht auszudrücken vermag.“ (Wesen, 11.) Da eine Bedeutung nicht wie ein Gegenstand weitergereicht wird, kann man von der Sprachbeziehung zwischen Sender und Empfänger auch als einem „kontaktlosen Kontakt“ sprechen. (Vgl. SuB II, 61.) Weder die Relationspartner noch das, worüber gesprochen wird, werden berührt, angetastet; sie stehen in Beziehung. Deutlich wird in dieser Reflexion der Sprachübertragung die unauflösbare Einheit von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit an allen Enden der semantischen Relation. Diese Endstücke der semantischen Relation wandeln sich; was bleibt, ist die Struktur der Dreistrahligkeit selbst. Die Aufgabe der Philosophie ist es, die Wandlung der Endstücke der semantischen Relation zu reflektieren und im Wandel diese Struktur bewußt zu halten. Liebrucks verdeutlicht die Richtungen sprachlicher Bewegung anhand der Achsen eines Koordinatenkreuzes⁵⁶: Wie die Richtung der x-Achse verläuft die Beziehung zwischen Subjekt, Subjekt und Objekt, die Richtung der y-Achse zeichnet die Bewegung zwischen Realität und Idealität nach. (Vgl. a. a.O., 368.) Sprache ist die Mitte, der Schnittpunkt dieser Achsen. Wo immer ein Aspekt der semantischen Relationen verabsolutiert wird, gerät das Sprechen des Menschen in nur einen Quadranten des Koordinatensystems und zeigt damit Einsei-
54 Bühler, Karl, Die Axiomatik der Sprachwissenschaften, Kantstudien, Bd. 38, 1933, 19 – 90, 90. 55 Bühler, Sprachtheorie, bes. § 2. 56 Liebrucks beschreibt Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung ebenso als Kreislauf, während er für die Bewegung des Geistes zwischen Realität und Idealität auch das Bild des Aufund Absteigens auf einer Leiter wählt. Das Beinhalten mehrerer Deutungsrichtungen der Sprache wird indes in dieser selbst anschaulich anhand der grammatikalischen Form des griechischen Mediums. (Vgl. SuB I, 390.) Eine einzelne sprachliche Form veranschaulicht hier die Grundstruktur aller Sprache.
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tigkeit, das heißt aber: eine Tendenz zur Entsprachlichung an.Wir lassen die Welt sprachlich begegnen und erkennen sie sprachlich, indem wir sie durch die Mitte der Sprache gehen lassen, sie als Bedeutung erscheinen lassen, die sowohl von unserer Deutung hat, wie auch auf das hindeutet, das sich in ihr von sich selbst her zeigt.Was dieses Bedeutende ist, ist nicht festgelegt: Steine oder Bäume, Autos oder Gebäude, Götter. Das Denken der formalen Logik ist ein Beispiel für das Rollen aus dem Zentrum der Sprache in nur einen ihrer Teilaspekte. Das formallogische Denken verzieht sich in den Bereich unterhalb der x-Achse, den Bereich bloßer Realität und transzendentallogisch verliehener Begriffe. Der Bereich oberhalb der xAchse wäre der Bereich schlechter Metaphysik. Links und rechts von der y-Achse liegen die Extreme reiner Subjektivität bzw. reiner Objektivität. Die Forderung nach dem Sprechen aus der Mitte der Sprache bzw. nach dem Bewußtsein, daß Wahrheit nur in der Mitte der Sprache liegt, auch wenn es gefordert sein mag, einseitig-eindeutige Rede zu formulieren, gilt für alles Sprechen – sei es in der Wissenschaft, der Kunst, der Religion etc.
Sämtliche Verweisungen in der Sprache auf die Endstücke der semantischen Relation verweisen zugleich auf die Sprachstruktur selbst. Sprache zeigt auf die Dinge, indem (statt: wobei) sie auf sich selbst zeigt. Für dieses Verweisen stellt Sprache kein selbständiges Zeichen zur Verfügung, denn in jedem zeichenhaften Verweisen ist diese mehr oder weniger direkte „Selbstoffenbarung“ sprachlicher Struktur immer schon geschehen. Die sprachliche Grundbewegung zeigt sich, indem gesprochen wird. Liebrucks entwirft für diese immer schon mitgegebene Selbstandeutung der Sprache unter dem Sprechen anderes bedeutender Worte das Bild von einem „zweiten stummen Sprecher“. (Vgl. a. a.O., 422 u. ö.) Wenn jemand spricht und darin etwas andeutet, spricht die Sprache selbst dabei stumm mit und deutet ihre Struktur an. Indem er sie zum goetheschen tiefen Bedeuten zieht, spricht Liebrucks die Andeutung frei vom Charakter gering zu schätzender Wirklichkeitsdistanz und regt an zu einer „Rehabilitierung der Unbestimmtheit“. (A. a.O., 38.) Sprache zeigt nie direkt, auch nicht auf sich selbst. Sie „zeigt dadurch auf die Dinge, daß sie auf sich zeigt.“ (A. a.O., 444; vgl. 471.) Sprache „spricht innerhalb ihrer selbst.“ (A. a.O., 479.) Da Sprache sich in allen sprachlichen Äußerungen selbst mitteilt, „gibt es keinen undialektischen Sprachton.“ (A. a.O., 64.) Schon der Ton weist auf das, was er bezeichnet und auf den, der ihn von sich gibt. Daher beinhaltet die Dreistrahligkeit der semantischen Relation stets den Übergang vom ζωον λογον ɛχον zum ζωον πολιτικον. (Vgl. a. a.O., 261.) Entsprechend überträgt Liebrucks das Theorem von der Dreistrahligkeit semantischer Relation in die von ihm geprägte Wendung „Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung“.
V. Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung Mit der Wendung „Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung“ bezeichnet Liebrucks die dialektische Logik der Sprache. Er steht dabei auf einem theoretischen Funda-
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ment, das zum einen durch Bühlers Sprachwissenschaft, zum anderen durch Hegels Geistphilosophie gebildet wird. Die Wendung „Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung“ wird sich als Umschreibung seines Ausdrucks „Bewußt-Sein“ erweisen.⁵⁷ Liebrucks schließt sich in seinem Verständnis von Subjektivität weitestgehend Hegel an. Was Hegel unter „Subjektivität“ verstehen will, läßt sich v i a n e g a t i o n i s skizzieren. Sein Verständnis von Subjektivität ist Abgrenzung gegen den Subjektivitätsbegriff des Rationalismus‘ und desgleichen gegen dessen kritische Beleuchtung durch die Transzendentalphilosophie. Liebrucks stellt diese doppelte Abgrenzung in drei markanten Thesen dar: „1. Subjektivität ist nicht die Eigentümlichkeit eines Menschen.“ (SuB III, 114.) „2. wird unter Subjektivität die Möglichkeit verstanden, sich aus den Verwicklungen mit den Objekten auf eine abstrakte Weise herauszuhalten.“ (Ebd.) „3. Die Subjektivität des philosophischen Gedankens besteht nicht darin, daß er im Gegensatz zu den Sachen steht, die den Charakter der Objektivität tragen, ihm also nur fremde sind.“ (A. a.O., 115.) Was ist damit ausgesagt? Wir erfahren uns als Subjekt, indem wir bei unseren Gegenständen sind. Alle Gegenstände haben ihre Gegenständlichkeit nur in der sprachlichen Beziehung auf bzw. für uns. So ist der Mensch bei den Dingen bei sich selbst, hat die Dinge nicht nur „sich gegenüber“, sondern „bei sich“. (SuB II, 3.) Indem er spricht und denkt, setzt er seine Worte immer neu in Beziehung und erspricht sich somit eine Welt. Er bildet zunehmend unterschiedliche Verweisungen, die aus mannigfaltigen Richtungen auf dieselbe Wirklichkeit zeigen. „Er kann daher diese Einheiten mit einander ins Spiel setzen.“ (Ebd.) Diese (Sprech‐)Einheiten sind nicht in einem fest umgrenzten Bereich zu verorten: nur im Menschen (Nominalismus), nur in den Dingen (Realismus) oder jenseits von Mensch und Dingen in einem selbständigen Dritten (undialektischer Idealismus). (Vgl. ebd.) Die Kontrastierung von Nominalismus und Realismus ist „mythisch“ im Sinne von „erdichtet“. (Vgl. SuB VII, 123.) Es gibt eine rein theoretische Ich-Beziehung sowenig, wie es eine reine Objektivität gibt. „Denn sowohl die Subjekte wie die Objekte gibt es nur und erst innerhalb des Sprachkreises.“ (SuB I, 66.) Subjekte („Sender“ wie „Empfänger“) und Objekt werden in der Sprache erzeugt. „Sprache gibt nicht gesehene Dinge wieder, sondern begleitet die Auseinandersetzung in Mensch und Ding.“ (A. a.O., 26.) Der Mensch ist immer sprachlich in der Welt, die er sich auf den logischen Bahnen der Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung erspricht: Er verhält 57 An singulärer Stelle spricht Liebrucks von der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung auch synonym als Trias „Mensch-Mensch-Möglichkeit“. (A. a.O., 364.) Unter „Intersubjektivität“ versteht Liebrucks indessen eine als objektiv geltende Übereinkunft von Subjekten bezüglich eines Sachverhalts.
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sich immer zugleich zu den Dingen und darin zu sich selbst, er „ist in den Sachen bei sich selbst nur dadurch, daß er sie einem anderen Menschen mitteilt, auch im einsamen Denken.“ (SuB III, 497.)⁵⁸ Der Mensch „ist dasjenige Wesen, das nur dadurch und in dem Maße in sich selbst ist, als es bei dem anderen Menschen und mit ihm zusammen bei der Welt ist.“ (A. a.O., 13.) Die Dialektik zwischen Objektivität und Subjektivität ist die Tätigkeit des Geistes als Logos: Vernunft, deren Tätigkeit sich als Sprache vollzieht. Die Einheit von Subjekt und Objekt ist keine prinzipielle Forderung, sondern die Struktur der Logik selbst, in der jedes Prinzip immer schon zu stehen kommt. Diese Einheit beruht darauf, daß sich Substanz und Substantialität wechselseitig erzeugen und somit beide Momente des einen Geistes sind. Daher kann in Anlehnung an Hegel, dessen Geistphilosophie hier unverkennbar den Horizont des Denkens und der Begrifflichkeiten bildet, gesagt werden, der zu sich selbst kommende Geist sei der sich selbst begreifende Begriff, d. i. eine Identität, die ihr Werden über das stetige Sich-Forttreiben in der Spannung von Existenz und Idee zu ihrem Moment hat. Jeder Begriff ist diese Einheit von Sein und Idee, Endlichkeit und Unendlichkeit, Besonderem und Allgemeinem. Liebrucks entdeckt diese sinnliche Geistigkeit in der Struktur der Sprache und versteht diese somit als Vollzug unserer Vernunfttätigkeit. In Denken und Handeln vollziehen wir die Einheit von Sein und Idee, Existenz und Begriff immer schon; daher meint Liebrucks, sie zum Gegenstand der Philosophie als Frage nach dem Wirklichkeitsgrund unseres In-der-Welt-Seins machen zu müssen. Der zweite Teil dieser Untersuchung wird näher ausführen, warum demzufolge der Logos als das Absolute zu begreifen ist, ein Begriff, mit dem in der Philosophie bezeichnet ist, was die Theologie „Gott“ nennt. Das dialektische Erzeugen von Begriff und Existenz wird sich als die Genese der Identität erweisen, die ihre Nicht-Identität als ihr eigenes Moment auszuhalten weiß und in dieser Selbstübereinstimmung im Selbstwiderspruch als das begriffen werden darf, was wir in unserem Denken als Wahrheit oder Wirklichkeit annehmen – die in Erfahrung und Denken unhintergehbare Einheit unseres logischen Weltumgangs, die uns zugleich in ihrer Faktizität entzogen ist und jeden Augenblick unseres In-der-Welt-Seins von uns vollzogen wird, so daß unser Weltumgang ein unablässiges Bezeugen des Absoluten ist, indem wir uns selbst als existierende Begriffe aussagen. Diese skizzenhafte Vorwegnahme späterer Ausführungen soll lediglich vor Augen führen, in welchem größeren thematischen Zusammenhang der hier gebotene Überblick über die von Liebrucks formulierte Sprachphilosophie
58 „Das Wesen des Menschen besteht in diesem Zusammenhang darin, daß er im Hingerichtetsein zur Sache immer zugleich zu sich selbst gerichtet ist. Das hat ihm Sprache ermöglicht (Herder).“ (SuB I, 30.)
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steht. An dieser Stelle steht aber zunächst die bloße Kennzeichnung der Struktur des Weltumgangs als Sprache im Vordergrund: „Ich spreche mit einem Partner über die Dinge. Mehr als der immer weiter und tiefer ausgreifenden Meditation dieses Satzes bedarf es nicht.“ (SuB II, 355.) Das Sich-Fortreiben des Geistes, der im Bezug auf das Andere seiner selbst den Bezug zu sich selbst hat, vollzieht der Mensch als sein In-der-Welt-Sein in der Bezüglichkeit zu seinen Mitmenschen: Er spricht sie an und wird von ihnen angesprochen. Die Subjekte konstituieren sich in gegenseitiger Anerkennung als sich entsprechend. Worüber sie sprechen hat in dieser Sprachbeziehung sein gegenständliches Eigendasein; es ist für die Subjekte, die es zu ihrem Gegenstand machen. Auch ein Subjekt kann so zum Objekt werden. Soll sittlich mit ihm verfahren werden, darf sein Subjektcharakter darüber nicht vergessen werden, wie schon Kants kategorischer Imperativ mahnt.⁵⁹ Die Begegnung eines Selbstbewußtseins mit einem anderen Selbstbewußtsein nennt Liebrucks „die erste Erfahrung der Unendlichkeit“. (SuB I, 17.) Subjekt und Subjekt stehen sich als endliche Wesen gegenüber. Daß sie sich sprachlich überindividuell austauschen können, verweist sie auf ein unendliches Moment ihres In-der-Welt-Seins, an dem sie beide teilhaben und in dem sie geistig zueinanderfinden. Das Überzeichenhafte und Übergegenständliche ihrer sprachlichen Welt- und Selbsterschließung verweist auf die nie zum Stillstand kommende Bewegung des Geistes, in welcher Identität sich dadurch erzeugt, daß sie unablässig ihre Unterschiede auf sich bezieht. Die Unendlichkeit des Geistes ist sein unablässiges, dialektisches Sich-Forttreiben über seine Nicht-Identität. Der Mensch als mit diesem Geist begabt, dessen Dialektik er als Sprache vollzieht, spricht sich in diesem andauernden Wechselspiel von Selbstunterscheidung und Selbstbezug als Identität, als Individuum aus. So ruht „[i]m überzeichenmäßigen Charakter der Sprache [..] ihr zeitlich-geschichtlicher Sinn, schließlich ihre Individualität.“ (SuB II, 127.) Das ausgesprochene Wort ist flüchtig; im Moment des Ausgesprochen-Seins ist es bereits verklungen. In diesem Verklingen eröffnet es Raum für andere Wörter und Gedanken, für das Erzeugen eines dem Gehörten entsprechenden Inhaltes. „Der Sinn wird dann leicht als das Bleibende über allem Wechsel angesehen. Daß der verklingende Ton der Sinn ist, wird nicht gefaßt.“ (SuB VI/1, 375.) In ihrem Verklingen, der Aufhebung ihrer Substantialität, hinterläßt Sprache keine Bedeutungen, sondern ist Bedeutung. Eine Anrede wird von demjenigen, der sie vernimmt, verstanden, indem er eine ihr entsprechende Bedeutung in sich erzeugt. In der sprachlichen Vermittlung als Erzeugen von Ent59 Die Konstitution des Subjekts in der Anerkennung durch andere Subjekte wird im Kapitel Vom Gottesbegriff zum Subjektbegriff behandelt. Die aus der logischen Anerkennungsstruktur folgenden sittlichen Konsequenzen werden Gegenstand des Kapitels Bleiben ist nirgends: Jesus Christus sein.
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sprechungen sprechen sich die Individuen in der unendlichen Bewegung des Geistes aus. Diese ist angezeigt in den Bindestrichen des Ausdrucks „SubjektSubjekt-Objekt-Beziehung“. Sie ist Sprache. „In der Welt von der Sprache her aber steht nicht ein isoliertes Subjekt oder ein Bewußtsein überhaupt einem Objekt oder auch verstreuten Objekten gegenüber. In ihr stehen sich vielmehr Individualitäten gegenüber, die nicht nur eine Seinsbestimmtheit gegeneinander haben. In dieser müßten sie einfach ineinander übergehen. Sie stehen auch nicht nur in einer Reflexionsbeziehung zueinander. Sie beziehen sich vielmehr begrifflich aufeinander. Als Begriffe sind sie Individuen. Als Individuen sind sie Individuen in ihrer Gesellschaft. In dem Sich-zueinander-Verhaltenkönnen der Individuen zueinander liegt ihr erstes Freiheitsmoment. Es ist nicht die Freiheit einer Spontaneität, einer formierenden Form, sondern die Freiheit gegenüber ihrer Umwelt wie ihren Mitmenschen.“ (SuB VI/2, 404.)
VI. Idealrealität – Realidealität Von der beschriebenen Dialektik der Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung erschließt sich ein weiterer, zentraler Begriff der von Liebrucks vertretenen Sprachphilosophie: Idealrealität resp. Realidealität. „Ich habe mich nur als Ich, das zugleich Welt ist, indem anderes Ich mich als Ich hat, das zugleich Welt ist. Damit steht anderes Ich nicht als Realität vor mir, sondern als Realidealität, weil ich es als Ich nur durch die Sprache erfahre.“ (SuB V, 116.) Die „Idealrealität und Realidealität der Sprache ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß zwei Menschen miteinander sprechen können“. (SuB II, 188; vgl. SuB III, 436.) Mit dem Ausdruck Idealrealität ist Sprache als Dialektik von Begriff und Existenz illustriert. „Einheit und Gleichheit stehen auf der Seite der Idealität,Verschiedenheit auf der der Realität als Materialität.“ (SuB II, 197.) Ist hier von „Seiten“ die Rede, so gibt die Schreibweise „Idealrealität“ bzw. „Realidealität“ in der Austauschbarkeit der Wortbestandteile eindrücklicher die Dialektik der Momente des endlichen, sinnlich wahrnehmbaren Seins und der unendlichen Übergegenständlichkeit des Geistes wieder. Ebenso ist damit zum Ausdruck gebracht, daß es im logischen Weltumgang des Menschen als Sprache nicht das eine Moment ohne das andere geben kann. „Die Idealität der Realität ist nicht einfache Negation der Realität. Überall, wo ein Mensch geboren wird, überall dort, wo ein Wort gesprochen wird, sind wir auf der logischen Kreislinie, auf der jeder Punkt wahrhafte Unendlichkeit ist.“ (SuB VI/1, 396.) Mit dem Begriff der Idealrealität resp. Realidealität spricht sich Liebrucks gegen eine Alternative von Idealismus und Realismus aus. Logik als Sprache ist „reale Idealität und ideale Realität […].“ (SuB I, 26.) Sie ist „der direkte Übergang von der Zeitlichkeit und Realität in die Überzeitlichkeit und Idealität, sie
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ist der ständige Übergang des Einzelnen ins Allgemeine, genauer das Einzelne, das allgemein ist.“ (A. a.O., 27.) Der Übergang zwischen Realität und Idealität ist die Dialektik des Geistes als Logos, als Sprache. Als Übergang umschrieben ist diese nicht als Verbindungsstück zwischen einem realen Gegenstand und einer Idee vorgestellt, sondern nach Liebrucks als eine „Bahn“, die Bahn einer Bewegung, eine Sprachbahn, die ununterbrochen vom Geist zwischen begrifflicher Idealität und substantieller Realität gezogen wird. „Das Zusammendenken dieser beiden Richtungen ist das Denken von Sprache und Bewußt-Sein.“ (SuB II, 202.) „Realidealität“ resp. „Idealrealität“ sind Synonyme für die sinnliche Geistigkeit der Sprache. Nur als sinnlich und geistig zugleich kann sie vom Menschen als leiblichgeistiges Lebewesen gesprochen werden. „Die Sprache als reales Wesen könnte nur fortgeschleppt, als ideales nur von überirdischen Wesen verstanden werden.“ (A. a.O., 222.)
D. Sprachformen Die logische Struktur der Sprache spricht sich selbst vor. Verschiedene Sprachformen repräsentieren auf unterschiedliche Weise logische Momente der Sprache. Dies kommt insbesondere in der Form des Dualis zum Ausdruck. Er veranschaulicht, daß der Mensch als ζωον λογον ɛχον immer auch ζωον πολιτικον ist, weil er immer schon ein anderes, ihm entsprechendes Ich angesprochen hat. So ist der Dualis wie ein „kleines Spiegelbild der ganzen Sprachlichkeit des Menschen.“ (A. a.O., 192; vgl. 189.) Nomen dagegen geben dem vergegenständlichenden Moment der Sprache eine Form. Im Verbum zeigt Sprache ihre Struktur schließlich am deutlichsten. Ein Verbum gibt es in verschiedenen Tempi, Genera, Modi; dasselbe Verbum kann mitunter transitiv und intransitiv gebraucht werden. Im Verbum wird also die semantische Mehrstrahligkeit der Sprache deutlich, ebenso ihr Eingehen in die Zeit als Moment ihrer Überzeitlichkeit. „Die formale Logik zeigt die Möglichkeiten der Verknüpfung, das Verknüpfbare, das Verbum präsentiert wirkliches Verknüpfen innersprachlich.“ (A. a.O., 348.) Es mag für den weiteren Verlauf der Untersuchung hilfreich sein, eine Auswahl an Sprachformen in gebotener Kürze vorzustellen, in welchen die logische Struktur der Sprache in besonderer Weise zur Geltung kommt.
I. Zeichen Sprache wird zunächst und zumeist anhand ihres Zeichencharakters charakterisiert. Ein Zeichen ist nach de Saussure die Verbindung zwischen Bezeichnetem
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(s i g n i f i é ) und Bezeichnung (s i g n i f i a n t ). Diese Verbindung zwischen Inhalt und Ausdruck ist untrennbar und präzise. Die Funktionalität des Zeichens beruht auf dessen Eindeutigkeit, in welcher seine Geltung (die es zumindest innerhalb eines bestimmten Radius‘, etwa der Sprache eines Volkes, einer Rechtsordnung oder einer wissenschaftlichen Disziplin beansprucht) begründet liegt. Ein Zeichen ist unveränderlich, ungeschichtlich – aber ablösbar. Die Sprache kann der Mensch nicht verlassen. Zeichensysteme schon. Sie kollabieren, wenn ihre Zuordnungen nicht mehr eindeutig erscheinen. In die formale Nähe des Zeichens setzt Liebrucks das Symbol. „Das Symbol ist statisch, Sprache dagegen immer dynamisch.“ (A. a.O., 142.) Das Symbolische ist gleichzusetzen mit der Andeutung. (Vgl. a. a.O., 188.) Das Symbol ist weniger scharf konturiert als ein Bild und weiter entfernt von der Abbildung, der rein formalen Funktion, als ein Zeichen. (Vgl. a. a.O., 145.) Jedes Wort ist sowohl zeichenhaft als auch symbolisch, doch das Symbolische bleibt wie das Zeichenhafte stets nur Moment der Sprache. (Vgl. a. a.O., 129.) Im Symbol vereinen sich Sinnlichkeit und Idealität in spezifischer Weise. Die sinnliche Seite der sprachlichen Welterfahrung bleibt stärker präsent als im Wort, dessen Bedeutung im Verklingen seiner Artikulation errungen wird. Sprache ist „die Verkehrung des menschlichen Organismus“, denn in ihren Gebilden ist die Leiblichkeit vergangen. (A. a.O., 141.) Beim toten Menschen bleibt der Leichnam, die Seele ist fort. Beim Wort bleibt die „Seele“, die Bedeutung, während das sinnliche Moment, der Laut, im Augenblick seiner Äußerung schon verklingt. Nur im Vergehen der sinnlichen Ver-laut-barung kann die Bedeutung erscheinen. „Beim Symbol muß ich mich in die Sinnlichkeit versenken und lange bei ihr verweilen, um die Bedeutung zu ergreifen, die aus der Sinnlichkeit sprachlos, genauer in stummer Sprache, hervorstrahlt.“ (A. a.O., 142.) Ohne das symbolische Moment der Sprache wäre es dem Menschen unmöglich, Geist in der Welt, im anderen Menschen und in sich selbst zu erfahren, geschweige denn von, mit und über Geist zu sprechen. Doch es wird auch niemand die Beseelung der Welt und des Menschen durch den Geist erfahren, der logisch beim Umgang mit der Welt via Symbolismus verharrt, d. h. beim Irrglauben an ein diffuses Abbildungsverhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit stehen bleibt. Es sind ebenso wenig Symbol und Symbolisiertes gleichzusetzen, wie angenommen werden dürfte, daß ein Symbol eine bloße Vereinbarung für etwas ist, daß sich an und für sich nicht von uns erkennen läßt. Um solche Mißverständnisse zu überwinden, muß der Symbol- und Zeichencharakter unserer sprachlichen Gebilde in den philosophischen Blick geraten und ebenso gewürdigt wie auch in der Beschränkung auf seine Funktion verstanden werden. „Die Sprache ist als Sprache nicht Symbol.“ (A. a.O., 168.) Für Liebrucks ist ein Symbol gleich einem Zeichen verobjektivierend. Es steht für einen bestimmten Verweisungszusammenhang und gehört im weitesten Sinne in die sprachtheoretische Liga der Bezeichnungen, also der vergegenständlichenden Konventionen und Kommunikationssysteme, auch wenn im Symbol der jedes Wort umgebende Unbestimmtheitshof und die Sprache als Ereignis näher ins Bewußtsein gerückt werden als bei einem Zeichen. Sprache kann zu Symbolen gestaltet werden, sie selbst ist aber die Aufhebung allen Zeigens, auch des symbolischen. Nur weil sie mehr ist als ein Symbol, kann sie auch symbolisch sein.
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Zeichensprache hat einen instrumentellen Charakter. Ein Zeichen steht für etwas Bestimmtes. In seiner Eindeutigkeit macht es das Bezeichnete zu etwas Eindeutigem, es fixiert, macht „dingfest“. (Vgl. SuB I, 358.) Das Bezeichnete wird als Gegenstand behandelt, ihm wird durch die Bezeichnung der Anschein verliehen, unwandelbar zu sein: objektiv. Was objektiv gilt, gilt allgemein im Sinne formelhafter Allgemeinheit, die nach dem p r i n c i p i u m i d e n t i t a t i s verfährt: A = A. Die formale Allgemeingültigkeit ist um den Preis erkauft, von Inhalten zu abstrahieren. Dies wird besonders in der Zeichensprache der Mathematik evident. „Die Allgemeingültigkeit wird mit der Reduktion bezahlt.“ (A. a.O., 351.) Zeichensysteme sind Reduktion begegnender Wirklichkeit, sie machen verfügbar und sind selbst verfügbar. Sie schaffen eine künstliche Welt, Liebrucks spricht von Welt-„Surrogaten“. (SuB II, 122; vgl. SuB III, 420.) Die zu Welt-Bildern reduzierte Welt ist eine Welt, die sich der Mensch technisch-praktisch⁶⁰ unterwerfen kann.⁶¹ Von allem macht sich der Mensch ein Bild, ordnet es hierdurch ein in den Kontext seiner Erfahrungen. In der Schrift haben sich solche Bilder zu Buchstabenzeichen verdichtet.Wenn man Hieroglyphen betrachtet, läßt sich erkennen, daß die Buchstabenschrift nur eine Vereinfachung von bildhafter Gestaltung der erfahrenen Natur ist. Die Abstraktion des Bildes zum Zeichen verleiht der Ablösung des Mythos durch den wissenschaftlich operierenden Verstand Ausdruck. „Die Buchstabenschrift […] trägt in sich den Keim zum Tode der Götter.“ (SuB II, 403.) Bildersprache hält den Ereignischarakter der Weltbegegnung präsent, während Buchstabenschrift eine gewisse Objektivität zumindest suggeriert. Schrift abstrahiert sprachliche Existenz zu feststehenden Tatsachen. Sie ist „statische Repräsentation bewegter Bahnen.“ (A. a.O., 332.) Schrift ist Konservierung von Sprache, die ein kollektives Gedächtnis schafft, da sie verbreitet und durch verschiedene Zeiten hindurch bewahrt werden kann. „Schrift ist Fortsetzerin der Verallgemeinerung der Individualität durch die Sprache.“ (A. a.O., 47.) Ein Mensch ist in seinem Sprechen individuell gegenwärtig, er ist dies nicht in den Worten, die er niederschreibt. (Vgl. SuB VI/3, 356.) „Der Mensch ist sprachliches, nicht schriftliches Wesen.“ (SuB II, 401.) Im Idealfall ist Schrift so nah wie möglich an der gesprochenen Sprache. Sie bleibt aber immer ein „Sekundärsystem der Sprache“. (A. a.O., 383.) Sie bringt die lebendige Bewegung des Geistes in Form, sie formuliert Möglichkeit. Somit fällt sie unter das, was Gehlen „Hin-
60 Der von Liebrucks gebrauchte Ausdruck „technisch-praktische Vernunft“ ist ursprünglich eine kantische Diktion. Mit ihr wird die Fähigkeit der Vernunft bezeichnet, Zwecke zu setzen und Mittel zu deren Durchsetzung zu finden. Schon bei Kant ist damit ein außersittliches Handeln benannt. 61 Bezeichnung ist Bemächtigung. Zu einer solchen Bemächtigung durch Bezeichnung zählt Liebrucks auch das Vergeben von Namen. Sie sind ihm zufolge „rein bezeichnend, den Gegenstand festnagelnd.“ (SuB I, 357; vgl. SuB IV, 36.) Das Alte Testament hält hierfür ein eindrückliches Bild bereit: Um sich die Erde Untertan zu machen, gibt der Mensch den Dingen Namen. Nur Gott, dessen er sich nicht bemächtigen kann, hat keinen Eigennamen; nach seinem Namen befragt, antwortet er mit einer tautologischen Selbstumschreibung: „Ich bin, der ich bin.“ (Ex 3, 14.)
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tergrunderfüllung“ nennt, eine eher unbewußt bleibende Institutionalisierung der Lebensumstände, die ihre Funktion schon durch ihr bloßes Bestehen erfüllt. Schrift kommt somit eine technisch-praktische Funktion zu, die aber aufgehoben werden kann, indem Schrift ins Gespräch gezogen wird. Schrift ist für sich genommen eine Ansammlung toter Zeichen. Im Lesen einer Schrift wird objektiven Buchstabenzeichen durch den lesenden subjektiven Geist wieder Leben geschenkt. „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ (II Kor 3, 6.) Die objektiven Zeichen werden von einem lesenden Subjekt wieder in eine SubjektSubjekt-Objekt-Beziehung gehoben. Schrift braucht einen Leser um zu sprechen. Sie selbst ist tote Sprache, ein Ausdruck, den man für eine Sprache verwendet, die nicht mehr gesprochen wird, von der aber schriftliche Zeugnisse existieren. Schrift ist die Sprachform, anhand derer die Fixation der Sprache zum Sprachwerk am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Erst in dessen Rezeption wird ein Sprachwerk wieder lebendig, weil es nur rezipiert und verstanden werden kann in der lebendigen Beziehung zwischen Subjekt, Subjekt und Objekt, das heißt Sender (Autor), Empfänger (Rezipient) und Objekt (Text). Auch der Rezipient wird aufgefordert, Bedeutungen in sich zu erzeugen, die Gegenständlichkeit etwa eines Textzeugnisses ist damit wieder aufgebrochen. „Selbst die toten Sprachen müssen als lebendige studiert werden.“ (SuB II, 88.) Sprachwerke sind darin lebendig, daß sie als an sich situationsenthobene in ihrer Rezeption situativ aktualisiert werden wollen. Jeder Rezipient haucht ihnen neues Leben ein, sie haben ihr Dasein in der Rezeption. Aufgrund der Mehrdeutigkeit von Worten, veränderter Situation von Sendern und Empfängern interpretiert jede Zeit, jede Gesellschaft, jedes Individuum z. B. einen Text anders als andere. Die Rezipierenden sind auch hierbei so selbsttätig wie empfangend, sie können nicht Beliebiges in einen Text hineinlesen, sondern müssen sich von dessen Form eine Leseanleitung geben lassen. So will etwa eine mythische Erzählung nicht wie eine wissenschaftliche Welterklärung gelesen werden.
Ein Zeichen ist selbst ein visuell oder auditiv wahrnehmbares Bild, das auf etwas verweist. Jeder sprachliche Ausdruck hat Verweisungscharakter. Dieser wird jedoch in unterschiedlichen Sprachformen auch auf unterschiedliche Weise, abhängig von der Funktion einer Sprachform, evident. Beim Zeichen wird dessen Verweisungscharakter, die allen sprachlichen Ausdrücken zugrundeliegende Reziprozität von Idealität und Sein, zur Funktion.Wie alle sprachlichen Ausdrücke ist das Zeichen kein eigenständiges Seiendes, das als Medium von Form und Inhalt dient. Es ist ein zum Stillstand gekommenes Moment der sprachlichen Bewegung, „die von der unsichtbar gewordenen grammatischen Bahn entfernte Sinnlichkeit.“ (A. a.O., 120.) Die Bewegung der Sprache kann man nicht in einem Zeichen verbildlichen, lediglich delphisch andeuten. „Diese Andeutung ist die Form der Grammatik […].“ (A. a.O., 119.) Weil Grammatik nur andeutet, kann sich auf ihren Bahnen Sprache bewegen. „Die syntaktische Analyse reißt aus dem syntaktisch-pragmatischen Zusammenhang, welcher der sprachliche ist, fixierte Regelmäßigkeiten heraus, die sie nicht ohne Reflexion beobachten kann.“ (SuB VI/1, 107.) Eine Grammatik ist nach Humboldt ein totes Gerippe der Sprache: „Die Sprache liegt nur in der verbundenen Rede, Grammatik und Wörterbuch sind kaum ihrem todten Gerippe
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vergleichbar.“⁶² Nur wo die Form Andeutung bleibt, können sich Verweisungszusammenhänge frei entfalten. So ist die Grammatik unterzeichenmäßig, sofern sie nicht sicht- oder hörbar ist. Sie ist überzeichenmäßig, sofern sie als Bedingung der Möglichkeit von Zeichenkombinationen, als Vermittlung, durch die wir sprechen, Idee und Sinnliches zusammenbringt. „Die grammatischen Formen sind unsichtbare, unhörbare Bahnen, in denen die Sprachen ihr Leben und ihre Bewegung haben.“ (SuB II, 119.) Grammatiken erfassen sprachliche Konventionen, Sprachregeln, nach denen wir immer schon sprechen. Sprache beruht auch auf solchen Konventionen:Wir verstehen Unbekanntes nur, indem wir es in bereits bekannte Strukturen einzeichnen. Zugleich verändern sich Vokabulare, Konnotationen und Formulierungsgewohnheiten. Dies geschieht ununterbrochen, aber schleichend, nicht in spürbaren Brüchen. „Obwohl der Sprachkontext immer neu erzeugt wird, muß man sich an Spielregeln halten, besonders dann, wenn man Ungewöhnliches zu sagen hat. Die Sprache verändert wohl auch diese Spielregeln. Aber sie tut es großartig leise und ist darin der bewußten Weise der Philosophieversuche überlegen, die die Spielregeln in jeder Generation verändern möchten […].“ (SuB I, 456.) Die Regelhaftigkeit der Sprache betrifft allein ihre äußere Form. Ein grammatikalisch korrekter Satz kann inhaltlich völlig unverständlich sein. Darum wird der Sinn einer Aussage von uns nicht erschlossen, indem wir einzelne grammatikalische Gebilde analysieren. „Der Sprachbau, der äußere Charakter der Sprachen, bleibt dabei Form, erst der innere Charakter ist Bewegungsgestalt.“ (SuB II, 294.) Der Bewegungscharakter ist das unablässige Erzeugen inhaltlicher Entsprechungen zu Vermittlungsformen, die Sender und Empfänger von Worten eine formale Gemeinsamkeit geben. Dieser Bewegungscharakter zeigt sich an der Sprache selbst in der Mannigfaltigkeit von Vokabeln und Konnotationen. Vergleichbare Vokabeln in unterschiedlichen Sprachen können nicht präzise denselben Gegenständen zugeordnet werden. Jedes Wort steht für eine konkrete Weltansicht. Deswegen kann Sprache „für einen Gegenstand viele Wörter, für viele Gegenstände ein Wort haben.“ (A. a.O., 373.)
II. Bedeutung Jedes Wort hat Zeichencharakter. Seine in diesem Zeichencharakter fundierte Instrumentalisierbarkeit macht es als formalen Träger von Inhalten verfügbar. Es geht jedoch keine sprachliche Äußerung in ihrem Zeichencharakter auf. Dies liegt in der logischen Struktur der Sprache begründet. Diese logische Struktur gibt Sprache selbst am eindrücklichsten in der Sprachform der Bedeutung preis. Das Bedeuten der Sprache entspricht dem delphischen σημαινɛιν. (Vgl. SuB I, 197.) Die Bedeutung entspringt nicht einem Bereich idealer Begriffe oder Geltungen oder einem inneren, seelischen Zustand. (Vgl. a. a.O., 197 f.) Sie ist weder den Gegenständen inhärent, noch ihnen nur vom Subjekt auferlegt, sondern das
62 Humboldt, Wilhelm von, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830 – 1835), in: ders., Werke, Bd. III, hg.v. Flitner, Andreas/Giel, Klaus, Darmstadt 19634, 368 – 756, 186.
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Resultat einer Gegenstand und Subjekt verbindenden Sprachbewegung, die in ihr präsent bleibt. Bedeuten ist die Aufhebung der Sinnlichkeit eines artikulierten Ausdrucks in den Begriff. (Vgl. SuB II, 169.) Jegliche sprachliche Äußerung stirbt im Augenblick ihrer Geburt. Noch während wir das Wort „jetzt“ aussprechen, ist der damit bedeutete Zeitpunkt längst vergangen. Doch das konkrete Vergangene ist aufbewahrt, da es in die Allgemeinheit der Sprache, des Logos, aufgenommen wurde. In der Bedeutung ist die sprachliche Grundfigur „der Einverleibung der abstrakten Situation in das Bewußtsein“ angezeigt. (SuB III, 69.) Alle sprachlichen Äußerungen sind bedingt durch die Situationen, in denen sie gemacht werden. V i c e v e r s a sind Situationen immer schon sprachlich erschlossen und bedingt. Das, was wir als Situationen beschreiben, sind mit den Mitteln der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten dargestellte Erfahrungen. In der Aufnahme von Situationen in das Allgemeine des Bewußtseins erscheinen diese erst als konkret und individuell, sie werden unterscheid- und vergleichbar. In ihrer memorierenden Funktion hält Sprache Vergangenes präsent, das uns entsprechende zukünftige Ereignisse erwarten läßt. In der Sprache sind wir über Zeit und Raum erhaben, wir können Vergangenes und Zukünftiges vergegenwärtigen. Der überzeitliche Charakter von Bedeutungen ist eine notwendige Konzeption unseres Verstandes. Unter der Voraussetzung, daß unsere Worte nicht an einen unmittelbar gegebenen Gegenstand gebunden sind, wird Verständigung ermöglicht. (Vgl. SuB I, 315.) Sinn und Bedeutung sind die Zeigestäbe der Sprache in die Vergangenheit und in die Zukunft, die den Menschen – wenn auch nicht leiblich, so doch geistig – von der Bindung an einen Ort, an eine Zeit befreien. Das bedeutende Moment der Sprache eröffnet „Lebensräume“. (Vgl. a. a.O., 350.)⁶³ „Die Verwandlung der Welt in den Gedanken ist die Bedingung der Möglichkeit aller anderen Veränderungen, sie ist die einzige Veränderung, die geschichtlich wirksam bleibt.“ (SuB III, 366.) Das einzelne Ereignis ersteht in seinem Eingehen in die Allgemeinheit der Sprache auf zu seiner Bedeutung. Eine Bedeutung liegt also nicht in einem Ereignis selbst, sie wird im Erzählen von diesem Ereignis geboren. (Vgl. SuB I, 143.) Die Bedeutung liegt im Wort, nicht im Gegenstand. Sie vermittelt diesen innerhalb eines geschichtlichen, gesellschaftlichen Kontextes. Umgekehrt versteht man eine Bedeutung, indem man eine gewisse sinnliche Erfahrung in sich nachahmt oder erinnert, für die jene Bedeutung steht. Bedeutung ist nur als Horizont, in dem das Bedeutete erscheint. Sie wandelt sich geschichtlich und ist dennoch Bedeutung desselben, auf das sie zurückdeutet. Liebrucks nennt sie „surrealistisch“, weil sie in mehrere Richtungen zeigt. (A. a.O., 355.) In ihrer Be-
63 „So bin ich als Sprechender nicht nur dort, wo ich gerade räumlich stehe, sondern auch überall dort, wo ich gehört werde.“ (SuB VI/3, 76.)
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wegung zwischen den Enden der dreistrahligen semantischen Relation erweist sich die Bedeutung als Grundkategorie der sprachlichen Äußerung. Bedeutungen sind keine Abbildungen eines Ereignisses, sie sprechen etwas andeutend aus und lassen Spielraum für ihre Weiterentfaltung. Ihre geschichtliche Entwicklung „schwingt“ in einer Bedeutung wie ein Ober- oder Unterton mit. (Vgl. a. a.O., 346 f.) Durch ihre Mehrstrahligkeit verweist eine Bedeutung auf das Ganze der Sprache, indem sie auf das vergangene Einzelereignis hindeutet, aus dem sie hervorging. „Je breitere Lagen menschlicher Orientierung von der Sprache eingenommen werden, desto weniger ist sie zeichenhaft, desto bedeutender wird sie.“ (A. a.O., 349.) Der Fixationscharakter des Zeichens ermöglicht nur eine beschränkte Orientierung – gebunden an historische Situationen, einen kulturellen Radius, eine bestimmte Bildung; gebunden an die Vorstellung einer Welt als Sammlung von Tatsachen. Zeichen bieten uns Orientierung, soweit wir die Welt berechnen wollen und können. Die Grenze der Berechenbarkeit der Welt ist die Grenze der zeichenhaften Sprache. Formallogische Zeichen erfassen die Welt unter Dominanz der Behandlung der Welt. Es geht um das, was Fakt ist. Unsere Erfahrung lehrt uns aber, daß wir Welt nicht allein als Dasein unter Gesetzen haben. Um von der Regelhaftigkeit etwa der Naturgesetze abweichende Erfahrung nicht als unvernünftig abwerten zu müssen, bedarf es entsprechender logischer Zugänge zu diesen Erfahrungen, die sich in demgemäß ausdifferenzierten Sprachformen niederschlagen. Sprache hält in ihrer Mehrdimensionalität Ausdrucksmöglichkeiten für die Vielgestalt von Erfahrung bereit. Daher stellt Liebrucks in seinem Werk folgende Arbeitsfrage: „Was ist Zeichen an der Sprache, was ist Bedeutung?“ (A. a.O., 343.) Aufgrund der Mehrdimensionalität der Sprache müssen Zeichen und Bedeutung sowie die in ihnen ausgesagten Aspekte von Welt nicht gegeneinander ausgespielt werden.⁶⁴ Sie ergänzen sich als Momente des einen Logos. Logos ist Vernunft als Sprache. Als Sprache erweist sich Vernunft als das Aushalten des Mehrdeutigen, des Widersprüchlichen. Darin liegt der Rang des Menschen als Vernunftwesen: Differenzen nicht nivellieren zu müssen, sondern sie auszuhalten und in diesem Aushalten seine Identität zu behaupten. Bezeichnung und Bedeutung sind nicht der Gegensatz von Objektivität und Subjektivität. Beide stehen innerhalb der Dreistrahligkeit der semantischen Relation, die immer gleichzeitig auf den Sprechenden, den Angesprochenen und dasjenige, über das gesprochen wird, zeigt. Das Zeichen funktioniert als Abstraktion von dieser Mehrdimensionalität, die seiner Funktionalität doch zugleich zugrundeliegt. Ist das Zeichen aber Reduktion sprachlichen Zeigens, so ist deutlich, daß Sprache mehr ist als ein
64 „Nicht der wissenschaftliche Zeichencharakter zerstört die Sprache, sondern die Überschwemmung eines Zeitalters mit diesem Gebrauch in allen Lagen.“ (SuB II, 123.)
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Zeichensystem. Zeichen deuten immer auf etwas, das als von ihnen unterschieden erscheint. Sprache aber „zeigt auf die Dinge, indem sie auf sich selbst zeigt. Dieses Zeigen ist nicht durch ein Zeichen repräsentiert.“ (SuB II, 129.) Weil Sprache „nicht nur Zeichen ist, gibt es kein Zeichen für sie.“ (A. a.O., 132.) Sprache ist nicht Zeichen, sondern Zeigen. Zeigen kann nur etwas, das zugleich sinnhaft wie auch sinnlich ist. In ihrem Zeigecharakter, der ihr als dialektische Einheit von Sein und Begriff eignet, liegt die wechselseitige Applizierbarkeit von Realität und Idealität begründet. „Hätte die Sprache nur Zeichencharakter, so wäre nicht verständlich zu machen, wie sich in ihr die Begriffsbildung vollzieht.“ (SuB IV, 40.) In der Sprache holt der Mensch Jenseitiges ins Diesseits. „In der Sprache baut sich der Mensch den Himmel und geht darin spazieren, während er doch ruhig dasitzt.“ (SuB I, 448.) Sprache vollzieht nicht etwa eine Modifizierung von Inhalten aus einem transzendenten in einen immanenten Bereich, was eine vergegenständlichende Vorstellung von Jenseits und Diesseits voraussetzte. Sprachliches Zeigen ist Aufhebung von Substanzen.⁶⁵ Ein Wort kann auf ein unmittelbar Gegebenes zeigen, es kann auch unabhängig von dieser Situationsanbindung zeigen. Die Verkehrung von Unmittelbarkeit in Vermittlung ist „ein Jenseits des unmittelbaren Zeigens.“ (Ebd.) Die Situationsunabhängigkeit ist hierbei nicht als Autarkie eines Wortes zu mißdeuten. Zeigwörter bedürfen eines Zeigfeldes. „Das wichtigste Umfeld in der Sprache ist der Kontext, der nicht immer ausgesprochen wird, aber ausgesprochen werden kann.“ (A. a.O., 452.) Der Sinn eines Wortes erschließt sich erst im Satzganzen, ein Wort hat seine Bedeutung immer innerhalb eines Gefüges. Was das Einzelne (Wort) bedeutet, ist erst ersichtlich, wenn das Ganze (des Satzes) in den Blick gekommen ist. Bis dahin bleibt alles im „Modus der Möglichkeit“. (SuB II, 134.) „Wagen und Pferde stehen bereit.“ – „Wagen Sie nicht, mich anzugreifen!“⁶⁶ Das erste Wort wird in seiner Bedeutung durch die übrigen Worte präzisiert. Hier ist der Satz das Relationsganze. Flektierende Wortformen sind eigenständiger, da sie zumindest Tempus, Modus und in manchen Sprachen ebenso ein Genus angeben. (Vgl. SuB I, 243 f.) Doch auch diese Sprachformen sind – wie alle anderen – bedeutend allein aufgrund der dialektischen Struktur der
65 Die Funktion des Zeigens ersetzt die Substanz nicht, wie man in Anlehnung an Cassirer denken könnte. Im Sinnhaften des sprachlichen Zeigens ist die Sinnlichkeit immer Moment. 66 Beispiel von Finck, Franz Nikolaus, Die Haupttypen des Sprachbaus, Leipzig 1910, 12. Wenn Sprache so einseitig linear wäre, wie sie uns beim Sprechen erscheint, könnten wir nicht verstehen. Die Mehrstrahligkeit ihrer Elemente ist notwendig für das Verstehen. Liebrucks verweist darauf, daß insbesondere Relativpronomina stets zugleich auf die ihnen nachfolgenden wie auf die ihnen vorangehenden Wörter zeigen. Sie veranschaulichen somit die Mehrstrahligkeit semantischer Relation. (Vgl. SuB IV, 15 u. ö.)
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Sprache: Sie sind bei sich selbst, indem sie bei der Sache sind, die von ihnen jeweils bedeutet wird. Jede sprachliche Äußerung enthält etwas von dem, der spricht, von dem, der angeredet wird, und von dem, „über“ das gesprochen wird. In neuen Kombinationen von Worten eröffnen sich durch die kombinierten Zeigfelder neue Bedeutungshorizonte. Erweiterte Bedeutungshorizonte erweitern auch den Horizont der Erfahrung. „Das Erfahrungsfeld ruht immer in den Armen des Sprachfeldes.“ (A. a.O., 458.) Es gibt kein Erfahrungsfeld neben einem Sprachfeld, Erfahrung ist immer schon sprachlich, ist doch Sprache die logische Bezüglichkeit von Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit, Realität und Idealität, Subjektivität und Objektivität. Sprache als kontextuelles Zeigfeld ist „Aufhebung des Erfahrungsfeldes. Dieses Feld ist als aufgehobenes nicht ruhend, sondern bewegt.“ (A. a.O., 467.) Das erfahrende Ich bleibt kraft seiner Sprachlichkeit im Wandel seiner Erfahrung eine diesen Wandel aushaltende Identität „in der ständigen Bewegung des Übergehens von einem Feld in das andere und im ständigen schon Übergegangensein“. (A. a.O., 458.) Dieses Übergehen ist kein Übertreten markierbarer Grenzen. In der Wendung „Fluß der Sprache“ ist umschrieben, daß Worte und Bedeutungen unmerklich ineinander fließen. Dieses fließende Übergehen ist das metaphorische Moment der Sprache.
III. Metapher Hinter jeder Metapher steht ein ganzer Mythos, d. h. ein Ereignis und dessen Beantwortung. Die einzelnen Metaphern sind daher an Zeiten und Kulturkreise gebunden. So versteht man die Metaphern einer anderen Sprache nicht in gleicher Weise wie die der eigenen Muttersprache. Selbst in der eigenen Sprache erlebt man, daß Metaphern vergessen, unverständlich werden. Wer über die Metapher zur Sprache kommen will, sollte daher nicht ihren Inhalt, sondern ihre Funktion in Augenschein nehmen. Dies ist die Richtung, die alles sprachphilosophische Denken zu nehmen hat: Es ist von den Gebilden der Sprache auszugehen, nicht bei ihnen stehenzubleiben. Demzufolge wird hier nach einem metaphorischen Charakter gefragt, den Sprache in allen ihren Äußerungen aufweist. Die einzelne Metapher ist Indikator des metaphorischen Charakters der Sprache. „Die Metapher ist die Reflexion des Tuns der Sprache innerhalb der Sprache.“ (A. a.O., 482.)⁶⁷ Metapher heißt: Übersetzung. Sprache ist selbst schon Metapher:
67 Liebrucks kann den Begriff der Metapher auch gebrauchen, um das Verschütten des Tuns der Sprache zu benennen: „In der menschlichen Sprache geschieht das nicht metaphorische Me-
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Übersetzung von Realität in Idealität e t v i c e v e r s a . Weil im Sprechen durch dessen metaphorischen Charakter immer schon übersetzt wird, kann auch in unterschiedliche Sprachen übersetzt werden. Erlernt hat der Mensch das metaphorische Sprechen wohl, als ihm die Welt noch in göttlichen Gestalten begegnete. (Vgl. SuB I, 483.) Er übersetzte die Begegnung mit dem Unendlichen in eine Sprachform, welche die Sphären des Endlichen und des Unendlichen mischt. (Vgl. a. a.O., 486.) Das deutet ihre Offenheit an: Metaphern kontrastieren die Eindeutigkeit des Zeichens; sie zeigen. Metaphorisch umsprochen werden Inhalte zugleich verhüllt und enthüllt. „Sphärenmischend“ zu sein, gilt für alle sprachlichen Äußerungen; in der Metapher wird aber besonders deutlich, daß alles Bestimmte von einem Hof der Unbestimmtheit umgeben ist, in den sich die Entsprechungen, die wir als Vernehmende zu einer Bedeutung in uns erzeugen, versammeln. Überall dort, wo mehr erfahren wird, als sich formelhaft sagen läßt, sprechen wir metaphorisch. Das metaphorische Sprechen ist aber nicht allein eine Kompensation von Überforderung. „Die Metapher ist nicht nur der ‚Not‘ entsprungen, sondern auch dem Glück.“ (A. a.O., 485.) Die metaphorischen Überhänge jedes Wortes machen Gespräche erst möglich. Innerhalb dieses offenen Raums können sich Individuen treffen, da hier die Bewegung der Sprache in Andeutung und Erzeugung von entsprechenden Eindrücken geschieht. So ist „jedes Wort [..] eine Metapher […].“ (SuB VI/3, 91.) Das
tapherein vom Einzelnen zum Allgemeinen und damit vom Einzelnen als existierenden Begriff zum anderen Einzelnen als existierendem Begriff. Dagegen ‚übertragen‘ die Massenmedien nur metaphorisch.“ (SuB VI/3, 145.) Massenmedien vermitteln eine bloß metaphorische, hier verstanden im Sinne von: bloß symbolische Einheit des Individuums mit einem Allgemeinen. Der metaphorische Charakter besteht darin, daß im Allgemeinen eines Massenmediums Individuen verbunden scheinen, ohne konkret miteinander in Kontakt zu treten. Ein Allgemeines, das diesen Namen verdient, muß aber immer ein Konkret-Allgemeines sein, wie Hegel es beschreibt. Denn ein Allgemeines, das sein Gegenteil ausschließt, ist strenggenommen keines. Das Allgemeine des Massenmediums ist ein wesenhafter Allgemeinbegriff, in dem das Übergehen des konkreten Seins in einen allgemeinen Begriff lediglich äußerlich angezeigt ist. Die begriffslogische Einheit von Sein und Wesen, die beide als Momente des Begriffs aussagt, steht noch aus. Erst in dieser begriffslogischen Vermittlung ist begriffen, daß sich Allgemeines und Einzelnes aneinander ausbilden. Der wesenhafte Allgemeinbegriff zeigt noch das andere des Seins an: daß beide aufeinander bezogen sind. Sie sind aber noch unterschieden. Im Allgemeinen des (dialektischen) Begriffs dagegen ist die Unterscheidung logisch aufgehoben, die Unterschiedenen sind als sich gegenseitig enthaltend begriffen. Moment des Allgemeinen zu sein, nivelliert das Einzelne nicht. Das Allgemeine erzeugt sich in seiner Vereinzelung und bestätigt somit die Selbständigkeit seiner Konkretionen, die nicht das Konkrete im Gegenüber zum Allgemeinen sind, sondern als Vermittlung des Allgemeinen selbst Einheit von Allgemeinem und Besonderem. Gegenüber sind sie in der Kommunikation, vermittelt sind sie in der Sprache. (Vgl. a. a.O., 146.)
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Metaphorische ist das Moment der Mehrdeutigkeit, das Eindeutigkeit erst erlaubt. Da Eindeutigkeit immer nur den Ausschnitt, eine Verkürzung einer Erfahrung gibt, ist eine Erfahrung in einer Metapher aufgrund von deren Mehrdeutigkeit präziser wiedergegeben. Dabei ist hier nicht an das aristotelische Verständnis von Metapher zu denken: Die Metapher ist keine Analogie, denn eine Analogie ist ein Abbild; die Analogie und das von ihr Bezeichnete sind zwei verschiedene Gegenstände. „Wo wir Abbildungen erwarten, enttäuscht Sprache immer.“ (SuB I, 476.) Abbildung ist ein Verhältnis zwischen Gegenständen, metaphorische Sprache dagegen Umschreibung eines Ereignisses.
IV. Begriff Die Sprachform, in welcher sich das sprachliche Denken selbst denkt, ist der Begriff. Sein Verständnis des Begriffs entlehnt Liebrucks der hegelschen Begriffslogik⁶⁸. Hegels Philosophem vom „Begriff des Begriffs“ formuliert einen dialektisch sich entfaltenden Begriff. Was darunter zu verstehen sei, erschließt sich über die Abgrenzung des dialektischen vom sogenannten wesenhaften Begriff. Im logischen Status des Wesens wird der Begriff eines Seienden konstituiert, der den Übergang von der Unmittelbarkeit des Seins zur Vermittlung eines Seienden mit sich selbst formuliert. Dieser Begriff ist ein als unveränderlich geltender Allgemeinbegriff, der in veränderlichem Sein aufscheint. Als „Wesen“ bezeichnet das Reflexionsdenken demnach eine äußerliche Notwendigkeit der Dinge, die diesen Zuordnungsschemata auferlegen läßt. Dieser wesenhafte Begriff ist rein formal: eine vom Verstand gesetzte, allgemeingültige Vorstellung, die mehreren Dingen als Objekten gemeinsam ist. Weil dieser Begriff von seinem Objekt strikt unterschieden ist, nennt Hegel ihn auch „subjektiv“. Von diesem „subjektiven“ oder „wesenhaften“ grenzt er ein Verständnis des Begriffs als „adäquaten“ ab. Der adäquate Begriff oder Begriff des Begriffs ist der sich in der Selbstentfaltung über den eigenen Widerspruch gewinnende dialektische Begriff. Während die formale Logik einen Begriff als Abstrakt-Allgemeines denkt, formuliert ein dialektischer Begriff ein Konkret-Allgemeines. In der klassischen Definition sind „abstrakt“ und „begrifflich“ synonym. Von „konkreten Begriffen“ zu sprechen, muß daher zunächst als Widerspruch anmuten, denn ein Begriff ist immer schon Resultat einer Abstrahierungsleistung. Ein Begriff ist abstrakt, sofern wir ihn rein formell fassen
68 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen (1830), Werke, Bd. 8, hg.v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt 1970, § 160 f.
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und zugestehen, daß er nicht allein im konkret Sinnlichen erfaßt werden kann, da in diesem der Begriff stets schon vermittelt ist. Dennoch ist der Begriff als Begriff nicht in der ihm eignenden Logik erschlossen, solange er ausschließlich als „formeller Begriff“, nicht aber als lebendiger Begriff gedacht wird, der die Abstraktion nur zu seinem Moment hat.⁶⁹ Das Allgemeine ist nie vom Konkreten zu trennen, sofern es die Einheit der Vielheit des Konkreten beschreibt, also immer schon auf das Konkrete bezogen ist. Das Konkret-Allgemeine ist der Begriff, der zur Konkretisierung kommt und sich in diesem Gang in die Konkretion als Begriff eines Allgemeinen darstellt. Hegels Begriffslogik gestaltet sich als Logik des Begreifens, die spekulativ nachvollzieht, was im rein formalen Begriff immer schon vorausgesetzt ist: die wechselseitige Applizierbarkeit von Sein und Wesen. Hegel erreicht dies, indem er die Negation als Wahrheitsmoment in die Genese des Begriffs einholt. In der Genese des Begriffs ist die Negation immer eine zweifache. Das Wesen ist die einfache Negation des Seins, die Reduktion der mannigfaltig bedeutenden Welt zu einer Welt, die nach Kant als „Dasein unter Gesetzen“ erscheint. Diese wesentliche Seite der Welt ist ihre Behandelbarkeit. (Vgl. Denken, 216.) Der logische Status des Wesens bezeichnet das Übergehen des Seins in den Begriff. Im Übergehen in das Wesen erweist sich das Sein, bloße Erscheinung zu sein. Sein und Begriff sind im Status des Wesens jedoch erst äußerlich vermittelt, sofern eine Beziehung zwischen beiden angezeigt ist, die selbst nicht thematisch wird. Erst im dialektischen Begriff als Negation der wesentlichen Negation sind Sein und Wesen als Momente des Begriffs aufgehoben, da im dialektischen Begriff die Unterschiedenheit von Sein und Wesen gedacht ist, in der beide unterschieden und zugleich aufeinander bezogen werden. So betrachtet ist der dialektische Begriff „Mittel und Zweck zugleich.“ (SuB VI/3, 190.) Der Begriff des Begriffs erschließt sich als die logische „Bewegung“, die als Bezug des Seins zum Wesen offenbar wird. Sie ist der logische Gang des Geistes, in dem sowohl Sein als auch Wesen aufgehoben sind. Liebrucks nennt ihn Sprache. Sprache spricht die Logik des konkret-allgemeinen Begriffs vor, sofern auch in ihr formallogische Aussagen keinen Sinn ergeben, sollten sie nicht in einem konkreten, inhaltlichen Kontext stehen. Der Begriff ist nie von seinem Inhalt abstrahiert, er kommt erst in seinem Inhalt zu sich. Dementsprechend ist der Begriff einer Sache nicht von außen auf sie zu applizieren, vielmehr ist er aus der Betrachtung ihrer selbst zu entwickeln.⁷⁰ Unablässig erzeugt er in der Dialektik von Sein und Denken seinen eigenen Gegensatz, um sich in Überwindung dieser Nicht-Identität als Identität zu begründen. Der dialektische Begriff ist
69 Vgl. Hegel, Enzykl., § 164. 70 Vgl. Hegel, PhG, 65.
E. Bewußtsein als Bewußt-Sein
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Träger aller Unterschiede und daher deren Totalität, die Aufhebung von Allgemeinem und Konkretem. „Der Begriff ist das Reich der Wahrheit. Er ist die ‚Grundlage‘ des Seins als Sein und des Wesens als Wesen.“ (SuB VI/3, 149.) Der Begriff als „Reich der Wahrheit“, d. i. als eine alle ihre Differenzierungen in sich enthaltende Identität, mag ebenfalls umschrieben werden als Selbstbeziehung in Fremdbeziehungen. Die Vollendung des Begriffs bezeichnet Liebrucks daher als „den seiner bewußt gewordenen Weltumgang des Menschen“. (A. a.O., 12.) Der dialektische Begriff ist die logische Kategorie, in welcher der Mensch „innerhalb von ihm selbst,von Bewußt-Sein, etwas begreift.“ (SuB VI/1, 166.) Der Mensch setzt nicht Begriffe aus sich heraus. Er gewinnt sie in seinem logischen Weltumgang als Bewußt-Sein, das sich als Bei-sich-selbst-Sein im Sein-bei-Anderem im Begreifen selbst begreift.⁷¹ „Der Begriff ist das subjektive Sich-von-sich-Abstoßen, das das objektive als Moment in sich hat.“ (SuB VI/3, 21.)⁷² Er ist die Einheit von sich veränderndem Sein und mit sich identisch bleibendem Wesen. Der Gegenstand des Begriffs ist nicht ein Objekt. Vielmehr ist der Begriff sein eigener Gegenstand. (Vgl. a. a.O., 493.) In ihm macht sich das Subjekt in seinem Bezug auf seine Objekte selbst zum Inhalt des Begriffs. Es setzt nicht Begriffe und Gegenstände in Beziehung, sondern ist diese Beziehung. „Nur nachdem der Gegenstand in Ich aufgehoben ist, hat es An- und Fürsichsein. Dieses Ich ist als Begriff Weltumgang, weil es nicht mehr wesentlich, nicht mehr idealistisch ist.“ (A. a.O., 171.)
E. Bewußtsein als Bewußt-Sein Mit dem Ausdruck „Bewußt-Sein“ umschreibt Liebrucks, was er auch den „Weltumgang“ des Menschen nennt. Der Begriff „Weltumgang“ bezeichnet, was man im allgemeinen unter „vernünftigem Verhalten“ zu verstehen pflegt. (Vgl. SuB VI/1, 16.) Dieser Umgang mit Welt ist laut Liebrucks das Ersprechen von Welt auf den logischen Bahnen der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung. „Die menschliche Welt ist nicht eine dem Menschen als logischem oder metaphysischen Subjekt gegenüberstehende Welt, sondern die im Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnis er-
71 Bei-sich-selbst-bei-sich-selbst-Sein wäre „das schwerverständliche psychologische Phänomen der Introspektion“. (SuB III, 14.) 72 „Wie nur im Raum der Sprache die Dinge ihr Eigendasein haben, wie nur in ihrem Raum außersprachliche Gegenstände sind, wie jede Handlung des Menschen als ein Übersetzen vom Begriff in die Existenz sogar schon vorgestellt werden kann, wie jeder Entschluß, jede Entscheidung, das Herausgelangen aus dem formalen Schluß und das Herausgelangen aus dem wesentlichen Unterschied ist, so sind sie alle im Begriff. Wären sie nicht im Begriff, so wären sie nirgendwo.“ (A. a.O., 367.)
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scheinende.“ (A. a.O., 89.) Der Mensch hat keinen Umgang mit der Welt, er ist sprachlicher Weltumgang. Diesen Gedanken zu erörtern, führt zum Begriff des Bewußt-Seins. Da wir immer schon Bewußt-Sein sind, ist uns die Faktizität des Bewußt-Seins entzogen. Dennoch gibt sich dessen logische Struktur zu denken: als Sprache. „Erst Sprache kann zeigen, wie sie ihren Beweisgrund möglich macht. Nur dadurch, daß der sprachliche Begriff, indem er sich zu den Dingen verhält, sich immer schon zu sich verhält, sich immer schon zu sich selbst verhalten hat, nur dadurch, daß die Intentionalität Sprache sich nach zwei Seiten verhält und in diesem Verhalten den Unterschied von Denkendem und Gedachtem erstellt, nur dadurch, daß Denken ist, Wissen existiert, hat der Begriff in der Erfahrung, die er doch erst erstellt, seinen Beweisgrund. Nur dadurch findet Verstand statt. Nur dadurch ist etwas im Bewußt-Sein. Es ist sinnlos zu fragen, wie die Welt außerhalb von Bewußt-Sein aussehen mag.“ (SuB IV, 691.) Es mag ein Genos oberhalb von Bewußt-Sein geben, doch es „ist uns unbekannt.“ (SuB III, 41.) Das Bewußt-Sein ist dasjenige, worüber hinaus der Mensch nichts erfahren und erkennen kann. Darin erweist es sich als sprachlich.
I. Der logische Weltumgang des Menschen als Bewußt-Sein Liebrucks setzt den Begriff der Vernunft gleich mit dem Begriff des Bewußt-Seins. Beide Begriffe bezeichnen die Einheit von Bewußtheit und Sein. (Vgl. SuB V, 120.) Die Schreibweise „Bewußt-Sein“ veranschaulicht dessen logische Struktur als wechselseitiges Erzeugen von Begriff und Existenz. Eine erkenntnistheoretische Entgegensetzung von Idealismus und Materialismus hält Liebrucks für verfehlt, weil in jedem Begriff, den wir uns zur Erkenntnis bilden, die Momente des Seins und des Wesens als einander evozierend aufgehoben sind. Sein und Bewußtsein sind keine Alternativen, sie bilden sich aneinander aus. (Vgl. SuB I, 166 f.) Darum spricht Liebrucks von Bewußt-Sein: Der Geist macht sich den Leib zum Zeichen. (Vgl. a. a.O., 14.) „Es gibt in aller Welt kein Selbstbewußtsein, das nicht Selbstdarstellung, also Sprache ist.“ (SuB V, 87.) Die logische Struktur, die Geist und Leib aufeinander applizierbar macht, ist die Sprache als „diejenige Bewegung, die zugleich eine solche nach innen wie nach außen ist.“ (SuB I, 195.) Bewußt-Sein vollzieht in der logischen Struktur der Sprache „dieses Ringen des Innen mit dem Außen.“ (A. a.O., 205.)⁷³ Der Mensch ist demnach nicht zunächst in der Welt und
73 „Nur was im Denken des Menschen ist, ist in der Erfahrung seines Bewußtseins. Nur was im Gedanken des Menschen lebt, lebt mit ihm auf dieser Erde.“ (SuB III, 561.)
E. Bewußtsein als Bewußt-Sein
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bildet daraufhin ein Bewußtsein von ihr aus. Der Mensch ist Bewußt-Sein, er hat keines. „Kein Wesen, das Bewußtsein ‚hat‘, könnte einen Wahrnehmungsakt vollziehen; das kann nur ein Wesen, das Bewußt-Sein ist.“ (SuB IV, 59.) Des Menschen Bewußt-Sein ist sein Weltumgang, er ist als Bewußt-Sein Weltumgang in „der vom Menschen immer wieder zu erzeugenden Sprache.“ (SuB I, 306.) Diese „geht immer auf dem Striche zwischen ‚Bewußt‘ und ‚Sein‘.“ (A. a.O., 422.) Sie ist „das Erkenntnisorgan“ des Menschen. (SuB VI/1, 360.) In der Bezeichnung der Sprache als Erkenntnis-Organ ist die Dialektik von Begriff und Existenz angezeigt, die sich auch im Wort „Bewußt-Sein“ ausdrückt. Sofern Sprache die Dialektik von Begriff und Existenz ist, kann sie „nicht als nichtseiende vorgestellt werden [..] wie logische Strukturen.“ (Ebd.) Sie ist, wie Liebrucks in Rückbezug auf Humboldt sagt, Organ des Geistes, des Gedankens. Liebrucks nennt sie auch Organisation: In Endsilben wie „-isation oder „-ismus“ drückt sich ihr formales Moment aus; als Organ ist sie geistig-sinnlich sich erzeugende, lebendige Begrifflichkeit. Aber „Sprache ist nicht Leben. Die organischen Prozesse sind in ihr nur Moment.“ (SuB III, 256.) Sie ist „theoretisches Tun“, aufgehobener menschlicher Organismus, zugleich organisch und anorganisch. (A. a.O., 46; vgl. SuB I, 83.) „Die Sprache als Organ des Gedankens ist die dialektische Bewegung, die als Denken die Antinomie der Vernunft dadurch aufhebt, daß sie sie durchleuchtet in sich hat und aushält.“ (SuB IV, 132 f.) Sprache begründet die Methexis, die wechselseitige Teilhabe von Ideen und Erfahrungen aneinander. Aus diesem Grund ist sie das Erkenntnisorgan des Menschen: Allein sprachlich haben wir an der Anschauung gewonnene Gegenstände der Erkenntnis, denen ihre Übergegenständlichkeit anhaftet, die zu thematisieren zugleich Thematisierung der Erkenntnisstruktur ist. Sprache zeigt in ihren Gegenständen zugleich auf sich. Ihre Selbstthematisierung in der Thematisierung eines Anderen zeichnet Sprache als logische Struktur von BewußtSein aus. Die semantische Mehrstrahligkeit der Sprache begründet Bewußt-Sein als Bei-sich-selbst-Sein-im-Sein-bei-Anderem. Dies gilt es im folgenden näher zu erläutern. Der Ausdruck „Bewußt-Sein“ kann in die Selbstaussage „Ich bin“ übertragen werden. „Bewußtsein ist immer nur als individuelles auf der Erde.“ (SuB II, 198.) Es ist nur, indem es vollzogen wird, es „ist Weltumgang, nicht Prinzip.“ (SuB VI/3, 173.) Bewußt-Sein ist existierende Identität, die als solche niemals rein formal, sondern immer inhaltlich ist. „Es ist nicht der allgemeine Urteilsinhalt; aber ebenso wenig ein real genannter Urteilsakt ohne den allgemeinen Inhalt.“ (SuB II, 198.)⁷⁴ Bewußt-Sein ist sich in der dialektischen Erzeugung von Begriff und Sein unablässig forttreibende Identität, die sich als Aushalten ihrer Nicht-Identität
74 „Die Einheit von Allgemeinheit und Individuum heißt Bewußt-Sein.“ (Ebd.)
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erweist. Dieses Aushalten – nicht: Nivellieren oder Auflösen – des Widerspruchs ist seine Dialektik: Es ist (in Anlehnung an Hegel gesprochen) beim Anderen bei sich selbst. Bewußt-Sein ist die Totalität von Identität und Nicht-Identität. Identität als eine solche dem Menschen erreichbare Totalität seiner Eindrücke und Begriffe „ist dieses Bewußt-Sein selbst, sein sprachlicher Weltumgang. Diese Totalität ist nicht als Gegenstand erreichbar, da alle Gegenstände dadurch definiert sind, daß der Hinweis auf sie in Sätzen geschieht, die sich nicht widersprechen. Dagegen ist so etwas wie Identität als Bewußtseinskategorie schon dadurch definiert, daß es innerhalb von Bewußt-Sein seine Stelle hat und diejenige Reflexionsbestimmtheit ist, die auf einen Teil von Bewußt-Sein als existierendem Begriff hinweist.“ (SuB VI/2, 112.) Das Bewußt-Sein erfährt sich in seiner Beziehung auf seine Gegenstände, denn es ist die logische Spannung zwischen Idee und Sein. „Bewußt-Sein ist als Einheit von Bewußtheit und Sein nicht etwa ein Seiendes, das Gedanken hat, sich welche macht oder auch nicht macht. Es ist vielmehr die Differenz selbst. Als solche Differenz ist es weder Erscheinungs- noch Erfahrungsgegenstand. Nur als solche Differenz ist es die Einheit von Einzelnem und Allgemeinem. Es ist nicht eine in einem Gegenstand verschwundene Einheit, sondern die Einheit des Unterschiedenen, die Differenz der Differenz und Indifferenz.“ (SuB IV, 654.) Bewußt-Sein von Gegenständen kann selbst kein Gegenstand sein, sondern nur eine Beziehung. Um diese Beziehung – die Bewußt-Sein nicht eingeht, sondern ist – zu veranschaulichen, setzt Liebrucks den Bindestrich zwischen „Bewußt“ und „Sein“. Das „Und“ – thematischer Schwerpunkt und Titel des letzten Bandes von Sprache und Bewußtsein, für Liebrucks der Höhepunkt seines Werkes – ist sprachlicher Ausdruck dieser Bewegung. „Das ‚und‘ zwischen Sprache und Bewußtsein ist die ganze Logik.“ (SuB VI/1, 490.) In dem „Und“ ist demnach keine Zuordnung von zwei bestehenden Größen angezeigt; vielmehr vollzieht sich die Entwicklung von Bewußtsein „immer auf dem Strich von Bewußt-Sein.“ (Sinnfrage, 294.) In keinem einzelnen Wort geht die logische Bewegung des Bewußt-Seins auf. Auch in diesem Sinne können wir es nicht „haben“.⁷⁵ „Für ‚Bewußt-Sein‘ haben wir kein Wort, sondern nur das Zeichen: ‚-‘.“ (SuB III, 29.) Bewußt-Sein ist die in der Logik als „Verhältnis von Sein, Wesen und Begriff“ bezeichnete Bewegung des Sichselbstabstoßens des Geistes von einem bloßen
75 Bewußtsein „ist als Bewußt-Sein unausgedehnter bewußter Punkt, der nicht mehr in einem ‚logischen‘ Bild oder ‚Schema‘ abbildbar ist. Über ihn gibt die Sprache des Alltags und vor allem geben die Sprachen der Kunst und Religion eine Erkenntnisauskunft, die allen wissenschaftstheoretischen ‚Erklärungsversuchen‘ a limine fremd bleiben muß. Wenn die ‚Künstler‘ heute den nur noch Austern essenden Logikern hinterherlaufen, so ist die Schuld, d. h. die Ursache daran nicht einem Gott zuzuschreiben, der seit Platos Zeit immer unschuldig bleibt, sondern dem Ausbleiben der Philosophie.“ (SuB VI/2, 427.)
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Ansichsein hin zu den eigenen Gegenständen, die Bewegung von „Bewußt“ zu „Sein“ und wieder zurück. (A. a.O., 66.) Das Bewußt-Sein kann nur bei sich sein, wenn es bei seinen Gegenständen ist, weil es immer Bewußtsein von seinen Gegenständen ist.⁷⁶ Ein in sich ruhendes Bewußtsein ist gar keines. Also bringt Liebrucks den Bindestrich in das Wort „Bewußt-Sein“ ein, um dieses als reziproke Bewegung zwischen Idealität und Realität zu kennzeichnen. Weitere Umschreibungen hierfür sind die Begriffe „Idealrealität“ resp. „Realidealität“, die Sinnlichkeit des Geistes oder die von Hegel übernommene Rede vom existierenden Begriff. Die Bewegung des Bewußt-Seins ist kein Bewegungsablauf, Bewußt-Sein muß nicht erst eine Strecke zurücklegen, um (wieder) bei sich anzukommen. „Bewußtsein ist immer zugleich an zwei Stellen.“ (A. a.O., 46.) Es ist „existierende Dialektik.“ (A. a.O., 41.) Das Bewußt-Sein „erfährt sich selbst zugleich in seinen Gegenständen.“ (SuB V, 337.) Der Ausdruck Bewußt-Sein korrespondiert dem, was Hegel das Beim-Anderen-bei-sich-selbst-Sein des Geistes als Selbstbewußtsein nennt. (Vgl. a. a.O., 52; 66 f.) Bewußt-Sein ist in seiner logischen Struktur sein eigener Begriff. Wer sich einen Begriff von Bewußt-Sein machen will, muß also „dem Bewußtsein in seinen Erfahrungen zusehen.“ (A. a.O., 2.) Dieses Zusehen ist keine Phänomenologie. Bewußt-Sein läßt sich nicht an seinen Gegenständen betrachten. „Man kann Bewußt-Sein nicht verständig betrachten, weil es hier weder für die Sinne noch für den Verstand etwas zu sehen und zu denken gibt. Man ist hier gezwungen, das in Anspruch zu nehmen, was man der alten Metaphysik verbot.“ (A. a.O., 321 f.)⁷⁷ Das Zusehen, von dem Liebrucks spricht, ist wohl im Sinne der philosophischen θɛωρια zu verstehen: ein Schauen als Denken, das nicht allein Gegenstände erfaßt, sondern die Gegenständlichkeit der Gegenstände. Nichts ist an sich bereits Gegenstand, es ist Gegenstand nur für ein es als Gegenstand denkendes Bewußt-Sein. Daraus erhellt, daß das Bewußt-Sein als solches nicht über seine Gegenstände zu verstehen ist, sondern aus seiner logischen Bezüglichkeit zu diesen. Das Bewußt-Sein hat sich und seine Gegenstände in unablässig vollzogener Negation, die im Bindestrich des Ausdrucks „BewußtSein“ umschrieben ist. Die Negation ist das dialektisch sich forttreibende Abstoßen des Bewußt-Seins von sich selbst zu seinen Gegenständen, um sich im Bezug zu den Gegenständen zugleich auf sich selbst zu beziehen. Bewußt-Sein ist „bewegte Sichselbstgleichheit“. (SuB V, 4.) Seine gegenläufige Bewegung „ist nicht mit der sinnlichen erscheinenden Bewegung zu verwechseln. Die Bewegung
76 „Bewußt-Sein ist dadurch bei sich selbst, daß es denkend bei seinem Gegenstand ist.“ (SuB III, 62.) 77 Liebrucks betont, „daß wir der äußersten Metaphysik bedürfen, um alle überflüssige Halbmetaphysik zu vermeiden, wenn es darum geht, vor die wirkliche Welt der Erfahrung des Bewußtseins zu gelangen.“ (SuB II, 370.)
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der Reflexion stößt sich von sich ab, indem sie bei sich bleibt.“ (SuB VI/2, 178.) Denn „Bewegung und Gegenbewegung sind logisch Eine Bewegung.“ (A. a.O., 193.) Diese Bewegung der Reflexion steht als dialektische niemals still, sie ist unendlich. In dieser Unendlichkeit seiner Dialektik ist Bewußt-Sein unsterblich. „Bewußtseiendes stirbt, Bewußt-Sein nicht.“ (SuB VI/3, 222.) „Das Bewußtsein ist immer das, was es von sich weiß.“ (SuB V, 337.) Es kann unterschiedlich viel von sich wissen, sich selbst mehr oder weniger erschlossen sein. Es kann jedoch hinter nichts, das einmal im Bewußt-Sein ist, wieder zurückgegangen werden. Die Entwicklung des Bewußt-Seins, die immer ein Fortschreiten zu sich selbst ist, ist irreversibel. Liebrucks spricht von der Entfaltung des Bewußt-Seins als einer Entwicklung in Stufen: „Das ‚Erkenne dich selbst‘ hat in jeder Bewußtseinsstufe eine verschiedene oder wenigstens andere Bedeutung.“ (SuB VII, 126.) Der Stufenbegriff wird zwar von Liebrucks als irreführend kritisiert, in Ermangelung stimmigerer Ausdrücke dennoch benutzt.⁷⁸ Die Rede von der stufenhaften Entwicklung des Bewußt-Seins darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es keine ausweisbaren Abschnitte oder Richtungen dieser Entwicklung gibt, die voneinander abgrenzbar wären und ein Fortschreiten des Bewußt-Seins somit diagnostizierbar machten. Die Stufen setzen sich nicht präzise voneinander ab, sind aber dennoch sichtbar, z. B. in kulturellen, religiösen oder philosophischen Früchten, die sie trugen bzw. tragen. „Jede Bewußtseinsstufe ist von ihren Determinationen begleitet.“ (SuB III, 391; vgl. a. a.O., 152.) So lassen sich Bewußtseinsniveaus voneinander unterscheiden, z. B. ein mythisches, ein religiöses, ein technisch-praktisches oder aufklärerisches, ein philosophisches etc. Jede Bewußtseinsstufe sieht etwas anderes, ihr Entsprechendes als das Wesen der erfahrenen Dinge an. (Vgl. SuB IV, 13.) Demgemäß eignet jeder Bewußtseinsstufe ein spezifisches Erfahren. Das veränderte Erfahren beeinflußt wiederum die Auffassung darüber, was das Wesen der erfahrenen Dinge sei. Was der jeweiligen Stufe des Bewußt-Seins entspricht, ist ihr selbstverständlich, darum sieht sie es zunächst nicht. „Keine Stufe sieht sich selbst. Im Erblicken ihrer selbst verläßt sie bereits das eigene Territorium.“ (SuB III, 449.) Das Bewußt-Sein schreitet in seinem
78 Es ist kaum möglich, das unablässige Über-sich-Hinaustreiben des Geistes adäquat zum Ausdruck zu bringen: Unser Vorstellungsvermögen gewährt uns lediglich lineare Bilder, die Selbstüberwindung des Geistes vollzieht sich aber in bewahrender Aufhebung des Überwundenen als ihm eigener Momente. Liebrucks ist sich demgemäß über den Vorbehaltscharakter seiner bildlichen Umschreibung der Geist- resp. Sprachbewegung als stufenmäßiges Aufsteigen des Bewußt-Seins im klaren: „Man wird einwenden, auch bei mir würde in Bildern von einem ,vertikalen Überschreiten‘ einer Grenze gesprochen. […] Aber es ist der Grad des Bewußtseins festzustellen, in dem solches Aussprechen von Denken an das Denken des Denkens selbst gelangt.“ (SuB IV, 28.)
E. Bewußtsein als Bewußt-Sein
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Selbstbegreifen fort, indem es sich in der Betrachtung seiner Gegenstände selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird. Diese Selbstthematisierung des BewußtSeins vollzieht sich als Selbstüberwindung: Das Für-das-Bewußtsein-Sein seiner Gegenstände ist der neue Gegenstand. (Vgl. SuB V, 350.) „Dadurch, daß jede Stufe nichts weiter tut, als auszusprechen, was ist, ist sie der Abschied von sich selbst.“ (A. a.O., 340.) Zwar ist somit jede Stufe „immer die Nihilisierung der früheren“, dennoch lösen sich Bewußtseinsstufen nicht ab; vielmehr sind die vorangegangenen Stufen in der aktuellen aufgehoben. (SuB III, 83.) Erst in dieser Aufhebung kommen sie zu Bewußt-Sein. „Streng genommen wiederholen sich alle früheren Stufen in den folgenden.“ (SuB V, 150.) Jede Stufe der Bewußtseinsentwicklung ist nur Durchgang, Moment der unablässigen Selbstaussage des Bewußt-Seins im Ersprechen seiner Inhalte. „Ob die jeweilig erreichte Stufe unseres Bewußtsein die letzte ist, die wir erreichen können, wissen wir nie.“ (A. a.O., 339.)⁷⁹ Denn „[w]as eine Stufe des Bewußtseins s a g t , wissen wir erst von der Kenntnis aller Stufen her, die erst als das Ganze das Wahre sind. Umgekehrt gilt der Satz, daß die Kenntnis und Erkenntnis des Ganzen erst von den Teilen her zu gewinnen ist.“ (A. a.O., VII.) Das Bewußt-Sein kommt zu sich, indem es sich verliert. „In jeder Stufe wird Ich ruiniert.“ (A. a.O., 107.) Das natürliche Bewußt-Sein wehrt sich gegen den eigenen Untergang. Die Stufe des natürlichen Bewußt-Seins ist die Beschränkung des Bewußt-Seins auf das natürliche Leben. (Vgl. a. a.O., 341 ff.) Das natürliche Bewußtsein ist nach Hegel das unreflektierte Bewußtsein, das sein Gewordensein nicht kennt. Es ist nicht naiv, sondern unüberwindbar tendenziös. Die Natürlichkeit des Bewußtseins ist seine Erbsünde. Ihm die Notwendigkeit des Selbstverlustes aufzuzeigen, ist die Aufgabe der Philosophie.⁸⁰ „Natürlich“ ist folglich der Gegenbegriff zu „dialektisch“. Das natürliche Bewußtsein sperrt sich aus Verlustangst gegen die Erfahrung der eigenen Bewegtheit. Diese Selbstverweigerung ist unhaltbar, denn Bewußtsein treibt über sich hinaus zu sich selbst.⁸¹ Frei nach Lk 9, 24 muß es sich verlieren, um sich zu erhalten. Für das natürliche Bewußtsein erscheint aber als sein Tod, was in Wahrheit seine Selbstentfaltung ist. Das natürliche hält sich für das einzige Bewußt-Sein. Es ist das Bewußt-Sein technisch-praktischer Weltbewältigung, die es in der Selbstbehauptung gegen die
79 „Das Bewußtsein weiß niemals, ob es nicht schon die letzte Stufe erreicht hat, ob ihm in der Erfahrung noch eine andere Stufe wird. Es hat immer schon die metaphysische Angst vor dem Leeren, die Angst vor dem absoluten Nichts, den Eleatismus der Angst vor dem Leeren, die Angst vor dem Sein des Nichtseins, als welches Sein es selbst doch gerade seine Existenz hat.“ (A. a.O., 173.) 80 Vgl. PhG, 60 f. 81 Vgl. a. a.O., 62 f.
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Welt ausübt. Seine Selbstbehauptung zu verlieren, kann ihm nicht als Selbstgewinn auf einer höheren Bewußtseinsstufe erscheinen. Darum muß es die Stufen, die sich in den Selbstverlust hingegeben haben, verachten. „Die früheren Stufen verachten immer die späteren. Man muß die Religion haben, die sie verachten, um sie nicht verachten zu müssen. Das nicht gestorbene Selbstbewußtsein verachtet das, das es sterben sieht, weil es offenbar in seine Stufe nicht integriert war. Das nicht sterbende Bewußtsein ist das areligiöse der Unachtsamkeit.“ (SuB V, 103 f.) Die niedere Stufe ist der hegelsche „Herr“, das bestimmende, sich behauptende Bewußt-Sein: Der Herr kann keine Selbsterniedrigung gutheißen, sofern er darin seine Herrschaft gefährdet sieht. Er verachtet jeden, der seine Herrschaft nicht durch Machtsteigerung zu erhalten bemüht ist. (Vgl. a. a.O., 106.) Doch an dem Versuch, sich in seiner Selbstbehauptung zu halten, kollabiert das natürliche Bewußt-Sein. Es wird über sich hinausgetrieben von etwas, das ihm wie ein anderes erscheint, in Wirklichkeit aber es selbst ist. „Die neue Bewußtseinsstufe eröffnet sich dort, wo wir als Weltumgänge in der alten in Widersprüche geraten, die das Ende des Denkens anzeigen oder praktisch die Zerstörung der Empfindung des Menschen herbeiführen.“ (SuB VII, 228.) Das „Ende des Denkens“ ist erreicht, wo uns dieses selbst als Gegenstand gleichsam vor Augen steht. Als Gegenstand ist das Bewußt-Sein nicht Bewußtsein, sondern Bewußtheit. Die Bewußtheiten, d. h. die Vergegenständlichungen des Bewußt-Seins, werden obsolet, sobald das Bewußt-Sein sie als seine Vergegenständlichungen erfaßt. Es denkt sich im Denken dieser Vergegenständlichungen selbst als logische Einheit von Vergegenständlichung und Entgegenständlichung. Eine Logik, die das Bewußtsein als BewußtSein denken kann, muß eine dialektische Logik sein. Diese ist das Bewußt-Sein selbst. „Das Bewußtsein ist sowohl der Prüfer wie der Geprüfte.“ (SuB V, 348.) Es ist laut Liebrucks – in Aufnahme einer Begriffsbestimmung Humboldts – das Denken als Unterscheiden zwischen Denkendem und Gedachten. (Vgl. a. a.O., 2.) „Das Bewußtsein hat immer zwei Gegenstände. Einmal denkt es etwas als etwas. Das ist der erste Gegenstand. Dann aber denkt es ‚das Für-es-sein dieses Ansich‘ […]. Das ist der zweite Gegenstand. Diese ‚Zweideutigkeit‘ liegt in allen Gegenständen, sofern die vom Menschen gewußt werden.“ (A. a.O., 349.) Die Zweideutigkeit ist erst überwunden, wo das Wissen dem Denken weicht. Wissen ist Verfügen: Gewußt werden kann etwas, sofern es zum Gegenstand abstrahiert ist. Im Denken werden Gegenstände zugleich als Gegenstände thematisch. Die Macht des Wissens als Verfügungswissen wird im Denken gebrochen. Sein Wissen aufzugeben, ist daher der Untergang des Selbstbewußtseins. „Als Selbstbewußtsein zugrundegehen aber heißt, zugleich den Unterschied zwischen sich und der Welt als einer fremden verlieren.“ (A. a.O., 112.) Indem das Bewußt-Sein aus seinem Untergang zu einer höheren Stufe seiner selbst aufersteht, erkennt es seinen Untergang nicht als verlorenen Kampf gegen das Andere seiner selbst, sondern
E. Bewußtsein als Bewußt-Sein
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begreift sich als das Aushalten des Widerspruchs zwischen ihm und seinem Anderen. „Das Bewußt-Sein erfährt zwar immer auch seinen Untergang, aber seine Untergänge und seine Auferstehungen entsprechen immer seiner Kraft.“ (A. a.O., 345.) Im Untergang begriffen ist das, was sich das Bewußt-Sein zum Gegenstand macht, wodurch es selbst über dies hinaus ist. Sich in seinem Untergehen betrachtend, ist es bereits auferstanden: Es ist auf das Andere seiner selbst bezogen ganz bei sich. „Das Bewußtsein stirbt nicht wirklich, sofern es sich vor dem Tode seiner Bewußtheiten nicht scheut.“ (A. a.O., 287.)
II. Die Wahrheit des Logos als Geist Der Begriff des Bewußt-Seins kann synonym gebraucht werden zum Begriff des Geistes. „[D]ie Wirklichkeit des Geistes steht nicht einem Bewußtsein gegenüber, das die Menschen von ihm haben mögen oder auch nicht. Das Sichwissen des Geistes ist der Begriff. Wesentlich dagegen ist dieses Sichwissen nicht der Begriff, sondern das, was wir Bewußtsein zu nennen pflegen. Der Geist aber ist BewußtSein, Weltumgang, nicht Bewußtsein.“ (SuB VI/1, 228.) Wo immer Liebrucks den Begriff des Geistes verwendet, ist dieser vor dem Hintergrund der von Hegel entfalteten Philosophie des Geistes zu verstehen. Bei Hegel steht der Ausdruck „absoluter Geist“ für die sich selbst begreifende Vernunft. Geist ist Wahrheit. Er ist Selbstübereinstimmung, jedoch nicht im Sinne des p r i n c i p i u m i d e n t i t a t i s , das allein eine formale Zuordnung beschreibt: A = A. Formale Identität ist gesetzte Identität. Der Geist als Wahrheit ist sich inhaltlich entfaltende Identität, die ihr Gegenteil in sich trägt. Der Geist erreicht seine Vollendung als sich selbst denkendes Denken über die unablässige Selbstnegation, die Hingabe an das Gegenständliche als Gegensatz seiner selbst. Der Selbstbezug des Geistes ist immer Rückbezug aus seiner Selbstentfremdung auf sich selbst. „Der Geist entwickelt sich nicht auf einem gemächlichen Spaziergang einen Berg hinan.Vielmehr gelangt er von Stufe zu Stufe in die ‚Grube‘ des Josef, in die er immer wieder hineingeworfen wird, wie er sich selbst in sie hineinwirft, indem er sie zu vermeiden sucht.“ (SuB V, 106 f.) Das eigene Zugrundegehen ist Moment der Wahrheit des Geistes.⁸² Die Genese der Wahrheit ist eines ihrer Momente; so ist der eigene Widerspruch Moment der Identität des Geistes. Die Wahrheit des Geistes ist Identität von Identität und Nicht-Identität. Als solche entfaltet sich der absolute Geist über den subjektiven Geist: Gott denkt sich selbst
82 In der Behauptung der Notwendigkeit des Selbstverlustes des Bewußtseins besteht Hegels (PhG) Überwindung Kants (KdV). (Vgl. a. a.O., 306.)
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im Menschen. „Das Begreifen davon, daß das der christliche Stamm unserer Erkenntnis ist, in dem die Antike als Inbegriff der formalen Momente lebt, ist das Begreifen der Dialektik, das Begreifen des menschlichen Begriffs.“ (A. a.O., 283.) Davon erzählt das Evangelium: Gott ist in jedem einzelnen Menschen und in jeder von dessen sprachlichen Äußerungen; der Mensch, der sich ausspricht, ist daher Mensch aufgrund des Menschwerdens Gottes in ihm. Die hegelsche Logik fängt diese Botschaft des Neuen Testaments begrifflich ein im Philosophem des Sichselbst-Denkens des absoluten im subjektiven Geist. Diese Grundfigur der hegelschen Geistphilosophie wird tragendes Motiv des zweiten Teils dieser Arbeit sein. „Die Kraft des Geistes besteht darin, in der Entäußerung bei sich selbst zu sein.“ (A. a.O., 291.) Der absolute Geist gewinnt sich in der Entäußerung in sein Gegenteil, das materielle Sein, und aus der Rückkehr zu sich selbst im Denken des subjektiven Geistes als absolute Identität.⁸³ Als Moment des absoluten Geistes empfängt der subjektive Geist die logische Struktur seines Weltumgangs aus der Logik des Absoluten. Darin liegt die Methexis seiner Weltgestaltung an der Wirklichkeit der Dinge begründet. Die logische Struktur des Absoluten ist die Dialektik von Begriff und Existenz, die Liebrucks auch Idealrealität resp. Realidealität nennt und als logische Struktur der Sprache erkennt. Entsprechend nennt er das Absolute auch den Logos, aus dem sich die Logik herleitet, in welcher der subjektive Geist seinen Weltumgang als sprachlichen bestreitet. „Die Sprachlichkeit des menschlichen Weltumgangs ist seine Logizität.“ (SuB VI/1, 151.)⁸⁴ Sprache ist die im Bindestrich des Wortes „Bewußt-Sein“ ausgesprochene Bewegung des Geistes als Aufhebung der Gegenübersetzung von Wesen und Existenz. „Diese Bewegung ist keine nurseiende, keine wesentliche, sondern die Begriffsbewegung, für die es kein formallogisches Bildnis gibt.“ (SuB VI/3, 306.) Geist als bewegte Wirklichkeit des Bewußt-Seins, generiert die Wahrheit, zu der er unterwegs ist, in dessen Selbstvollzug als Bewegung vom Allgemeinen zum Einzelnen, die zugleich die Bewegung vom Einzelnen zum Allgemeinen ist. Geist ist die Bewegung, die Bewußt-Sein ist. (Vgl. SuB II, 24 f.) Diese Bewegung ist Sprache. Daher sind Liebrucks zufolge „Geistwerdung, Sprachwerdung und
83 „So ist der Geist die Bewegung von sich zur Substanz, sein Sich-in-sie-Versenken und zugleich die Rückkehr in die Subjektivität, die mit den Erfahrungen der früheren Stufen angereichert aufgetreten ist.“ (Ebd.) 84 „Diese Logizität ist nicht von der Mathematik, sondern von der Sprache her zu gewinnen, wie noch die Mathematik von ihr her gewonnen wurde. […] Der Zusammenhang der Welt ist ansichseiender Erkenntniszusammenhang, der im menschlichen Begriff zum Fürsichsein gelangt. So ist der Organismus ansichseiende Sprache. Diese Weltansicht endet in der höchsten Kategorie der Hegelschen Logik, der Entsprechung. Die Welt ist langsamer, der Mensch schnellere, komplexere Sprachlichkeit.“ (Ebd.)
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Menschwerdung [..] Synonyma.“ (SuB V, 151.) Sprache und Geist sind so gut wie identisch. Sprache ist „Organ“ des Geistes (Humboldt), in der Sprache ist der Geist sinnlich. „Kann man Geist und Sprache nicht unmittelbar identisch setzen, so sind sie doch unzertrennlich voneinander.“ (SuB II, 72 u. ö.) In der sprachlichen Verbindung des Gedankens mit dem Laut zeigt sich die Sinnlichkeit des Geistes. Sprache ist die Ermöglichung der Verbindung von Sinn und Sinnlichkeit. Die Sprache wiederum „verdankt ihre Mehrdeutigkeit nicht ihrem heute gern ‚naturwüchsig‘ genannten Dasein, sondern dem, was sie zum einzigen Darsteller von so etwas wie Geist qualifiziert.“ (Sprachaufstufung, 242.) Da Sprache in ihren Gegenständen zugleich sich selbst thematisiert, verweist sie auf die Dialektik von Sein und Begriff, Vergegenständlichung und Entgegenständlichung. Diese Dialektik wird nicht in einzelnen Worten ausgedrückt, sondern erscheint in deren Verweisungscharakter. Sprache stellt keine Dinge vor uns hin, sondern läßt Objekte und Subjekte in logischen Gefügen erscheinen, die sowohl geistig als auch sinnlich vernehmbar sind. So werden sprachliche resp. geistige Beziehungen „nicht an Dingen abgelesen, sondern an den Worten, von denen her die Dinge sie erst haben.“ (SuB II, 340.) Der Geist geht nicht darin auf, ein Wort oder die Wörter zu sein. Er ist das Aussprechen selbst, weil er als absoluter Sinn und Sinnlichkeit, Bedingtheit und Unbedingtheit, Passivität und Aktivität in der Begegnung mit Welt vereint: Er ist Weltbegegnung. (Vgl. SuB V, 282 f.) „Geist ist niemals nur subjektiv, niemals nur objektiv. Er ist weder ‚oben‘ noch ‚unten‘, sondern der Weltumgang.“ (A. a.O., 143 f.) Geist ist die Einheit von Wort und Tat. (Vgl. a. a.O., 262.) Als solche hat er „sein Dasein nicht in der Handlung, sondern in der Sprache.“ (A. a.O., 254.)⁸⁵ Im Resultat der Handlung ist der Prozeß ihrer Entstehung abgeschlossen, es täuscht über sein Gewordensein hinweg. Das Handlungsresultat erscheint als relationsloses Faktum. Der Geist aber kommt nie zum Stillstand. Im sprachlichen Handeln ist immer der angezeigt, der handelt, ebenso der, an dem und für den gehandelt wird. Der Geist offenbart sein Werden in den Sprachbahnen, die Individuen zwischen sich und den Sachen ziehen. Sprache stellt den Geist dar als „die eine, sich durch alle Menschen hindurch erstreckende Kraft, die weder individuell noch gesellschaftlich ist.“ (SuB II, 159.) In der Sprache werden die Subjekte sowohl als Einzelne wie als Allgemeine den anderen Subjekten gegenständlich. (SuB V, 254 f.) Einander zu entsprechen, verweist die sich wechselseitig mitteilenden Subjekte auf ihre Übergegenständlichkeit, ihre Geistigkeit. Diese erscheint „nur dort, wo ein Geist hinblickt.“ (SuB II, 65.) Der eigene
85 Dieser Ausspruch findet sich fast wortwörtlich auch in Hegels PhG: „Wir sehen hiemit wieder die S p r a c h e als das Dasein des Geistes.“ (PhG, 428.) An solchen Stellen verdeutlicht sich Liebrucks‘ Motivation zur sprachphilosophischen Auslegung hegelscher Philosopheme.
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Weltumgang als Bewußt-Sein, das die Bewegung des Geistes ist, „begegnet in der Gesellschaft. Er erblickt aber in der Miene des anderen Menschen auch Fleisch von seinem Fleisch. Es gibt hier, wo wir auf die Wirklichkeit des Geistes, die Wirklichkeit der Sprachlichkeit des Menschen zugehen, keinen unsinnlichen Geist. Der Geist ist losgelöst vom Gegensatz Geist und Fleisch.“ (SuB V, 151.) Als Geist, dessen logische Selbstentfaltung Sprache ist, bedient sich der Mensch nicht der Sprache, sondern ist selbst logische Identität von Existenz und Begriff, existierender Begriff.
III. Sprache und Denken In den vorangegangenen Abschnitten wurde Liebrucks’ Verständnis von Bewußtsein als Bewußt-Sein vorgestellt. Bewußt-Sein wird von Liebrucks bestimmt als „die Einheit von Sein und Denken, sowohl Sein wie auch Denken [..]. Dieses Sowohl-als-auch schließt ein, daß es weder Sein noch Denken ist.“ (SuB IV, 690.) Es ist Sprache. Das sinnliche Moment der Sprache wurde bereits näher betrachtet.⁸⁶ Wie aber ist das Verhältnis von Sprache und Denken zu bestimmen? Die Verhältnisbestimmung von Denken und Sprache bei Liebrucks resultiert aus dessen Entscheidung, mit Hamanns These, Vernunft sei Sprache, den Grundstein für seine Sprachphilosophie zu legen. Sprache ist für Liebrucks – so geht es aus den vorangestellten Ausführungen bereits hervor – kein „Sekundärphänomen“ gegenüber dem Denken. (SuB II, 257.) Es gibt kein Denken „vor“ der Sprache. (Vgl. SuB I, 213.) Denken selbst „wird erst gedacht, wenn die Ungeschiedenheit von Einheit und Verschiedenheit in ‚Sprache‘ und ‚Denken‘ gedacht wird.“ (SuB II, 260.) Liebrucks behauptet ebensowenig, Denken sei Sekundärphänomen gegenüber der Sprache, obwohl er von einer „Priorität der Sprache vor dem Denken im Denken selbst“ ausgeht. (A. a.O., 257.) Das Problem solcher Hierarchisierungen besteht darin, daß in ihnen eine dialektische Struktur, wie sie der Logos als Denken und Sprache bezeugt, immer schon verkannt ist. „Im modernen Vorstellungsbild ausgedrückt ist die Dialektik der Aufweis davon, daß der logische Kern auf dem Grund der Sprache und durch die Sprache immer schon die Einheit von Sein und Denken gewesen ist, allerdings so, daß das Sein und das Denken in dieser Einheit und durch diese Einheit als die kontradiktorisch entgegengesetzten angesehen werden müssen, sobald wir uns im Raum der formalen Logik befinden, der dadurch definiert ist, daß diese Einheit undenkbar bleibt.“ (SuB VI/2, 178.) Formallogische Bestimmungen, die später noch Thema sind, werden unter der Prämisse vorgenommen, das wirkliche Sein der Dinge, die sie bestimmen, nicht erkennen zu können. Zugleich setzen sie damit voraus, daß
86 Vgl. das Kapitel Sinn und Sinnlichkeit.
E. Bewußtsein als Bewußt-Sein
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ihre Vorstellungen der Wirklichkeit der Dinge affin sein müssen, wenn diese unter den formalen Bestimmungen erscheinen können. Ihr Denken reicht immer bis zu einem Limes – das ist die Einsicht der Differential- und Integralrechnung. Der Grenzwert markiert die Grauzone, innerhalb derer die logischen Strukturen der Weltbetrachtung an die Grenze ihres Vermögens stoßen. „Die Philosophie ist daran interessiert, den logischen Status des mathematischen Grenzwertes auszumachen.“ (Sprache und Kunst, 165.) Liebrucks zufolge könnte die von der Philosophie gestellte Frage „nach dem Verhältnis von Erkenntnis und formaler Logik [..] einer Lösung zugeführt werden, die ein Denken des Seins für wirklich hält, das als Denken schon beim Sein ist. Es könnte dieses das Sein der Kunst, der Religion und schließlich einer Philosophie genannt werden, die in einem Raum denken, der dann der formalen Logik noch vorgeordnet wäre.“ (SuB VI/3, 22.) Es ist dies die Logik als sogenannte zweite Reflexion, wie sie von Herder, aber auch von Hegel gefordert wird. In ihr werden die Setzungen der ersten Reflexion als „mythisch“ erkannt: Sie sind ebenso „erdichtet“ wie die Mythen. Die erste Reflexion ist Zubereitung der Welt zu eindeutigen, d. h. überindividuellen Sachverhalten. „In der zweiten Reflexion hat unsere je individuelle Erfahrung in der Darstellung ein Mitbestimmungsrecht. Als sprachlich Erfahrende erfahren wir zugleich geschichtlich und aus unserer Situation heraus.“ (SuB VII, 17.) Die zweite Reflexion sieht die Welt nicht allein als Dasein unter Gesetzen, denn sie liegt als dialektische Logik „in einer anderen logischen Ebene als die formale. Sie ist nicht ein höherer Typus gegenüber der formalen,womit sie immer noch nur formal wäre.“ (SuB VI/2, 338.) Sie thematisiert in der Formalisierung der Eindrücke zugleich das Formalisieren selbst. Darin erweist sich ihre sprachliche Struktur: bei den Dingen zugleich bei sich selbst zu sein.
Liebrucks hält fest: „Die sprachliche Ausprägung des Gedankens steht nicht neben der gedanklichen Ausprägung. Es muß daher eine andere Relation zwischen Sprache und Denken gesetzt werden, als die Dingvorstellung von beiden annimmt.“ (SuB II, 257.) Die Priorität der Sprache vor dem Denken besteht insofern im Denken selbst, als es als die Einheit gedacht werden muß, „die im Entfernen der Sinnlichkeit vom Gegenstand zugleich diese Sinnlichkeit des Gegenstandes durchbohrt.“ (SuB III, 498.) Dieses Zugleich von Idealität und Realität ereignet sich als Sprache, die somit „Vorläufer, Mitläufer und Nachläufer des Gedankens“ ist. (SuB II, 280.) Sollte es ein Gesetz oder eine Struktur des Denkens unabhängig von der Sprache geben, wäre nicht mit Vernunft einzusehen, wie unsere Gedanken, Worte und Erfahrungen zusammenstimmen könnten. (Vgl. SuB III, 366; vgl. SuB II, 277 f.) Unser Denken ist immer schon darstellend, Gedanken formieren sich in Bildern und Begriffen.⁸⁷ „Die Sprache ist so Atmosphäre des Denkens wie die Luft Atmosphäre des Organismus.“ (A. a.O., 260.)
87 „Denken war für uns der Gang vom Denken zum Gedanken mit seinen Inhalten und zurück. Sprechen ist […] analog der Gang vom Sprechen zu den Gebilden und von ihnen zurück.“ (A. a.O., 264; vgl. a. a.O., 283.)
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Die Bewegung des Denkens entspricht derjenigen der Sprache. (Vgl. a. a.O., 258.) „Wie der Mensch die Dinge nur auf dem Umweg über die Sprache hat, so hat er auch sein Denken nur auf dem Umweg über die Sprache.“ (SuB IV, 685.) Sprache und Denken sind also nicht dasselbe; sie sind identisch zu denken, aber sie sind nicht identisch. Ihre Entsprechung ist mehr als eine Analogie. Sprache und Denken stehen in einer lebendigen Reziprozität, ihre „Struktur“ ist identisch– eine Identität in Unterschiedenheit. (SuB II, 259.) „Die Verschiedenheit liegt in dieser Identität.“ (Ebd.) Sprach- und Denkformen können nicht voneinander getrennt werden. Laut Liebrucks „ist reines Denken nicht ohne die Priorität der grammatischen Gestalten möglich. […] indem der Mensch denkt, spricht er, indem er spricht, denkt er.“ (A. a.O., 278.) Sprach- und Denkform sind nicht dasselbe, aber der Mensch kann seine Gedanken nicht anders als vermittels der Sprache haben. Sprechen bedeutet, Gedanken aus sich herauszusetzen, um sie vor sich selbst hinzustellen und vor andere – als Aufforderung, eine Entsprechung zum Gesagten in sich zu erzeugen. Denken kann sich nur ereignen als zugleich sinnliches und unsinnliches sowie als symbolisches. Als sinnlich-unsinnliches ist es die Bewegung zwischen Idealität und Realität, als symbolisches kann es diese Bewegtheit zum Ausdruck, zum Gedanken bringen. Diese Einheit von Sinn und Sinnlichkeit ist für Liebrucks der Logos als Sprache. Denken ist Denken erst als sprachliches. (Vgl. a. a.O., 259.) „Es ist das sprachliche Tun, das menschliches Denken heißt.“ (SuB V, 18.) Sprache und Denken können folglich „nicht identisch genug gedacht werden.“ (SuB II, 184.)⁸⁸ Denken und Sprache sind eine Bewegung, „es gibt kein isoliertes Verhältnis von Sprachform und Denkform.“ (SuB II, 277 f.). Der Mensch faßt nicht erst einen Gedanken und bringt ihn dann zur Sprache. Denken ist nie anders als sprachlich möglich. Denken stellt Gedanken vor sich hin, es ist notwendig darstellend; „so ist Denken als Denken sprachlich.“ (A. a.O., 258.) Es gibt keinen von Sinnlichkeit separierten Gedanken. Selbst indem man einen Gedanken im eigenen Kopf formt, ohne ihn anzusprechen oder niederzuschreiben, macht man sich doch schon ein Bild, macht ihn sichtbar oder spricht ihn still zu sich selbst. „Denken geschieht nur innerhalb der Mitteilung, die Mitteilung kommt nicht hinterher.“ (SuB III, 497.) Der logische Weltumgang des Menschen als eines geistigleiblichen Wesens ist immer schon erscheinendes Denken. (Vgl. SuB V, VII.) Denken ereignet sich darstellend, also sprachlich; ebensosehr stößt es sich von den Grenzen der Sprachgestaltung ab. Denken als schöpferisches Begreifen kann 88 Liebrucks übernimmt hier fast wortwörtlich eine Formulierung von Humboldt, vgl. Humboldt, Wilhelm von, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, mit Nachw. vers. u. hg.v. Nette, Herbert, Darmstadt 1949, 60 f.
E. Bewußtsein als Bewußt-Sein
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sich nicht nur an vorgegebenen Formen orientieren, sondern muß solche selbst hervorrufen, ändern können. Nur so hat Denken „auf die Dauer“ Bestand im Werden.⁸⁹ (SuB II, 266.) „Die Unterscheidung von Denkakt und Denkinhalt vergißt, daß der Denkinhalt nur im Bewußt-Sein ist.“ (SuB VI/2, 122.) Denken ist Unterscheidung von Denkendem und Gedachtem (Humboldt). (Vgl. SuB V, 99.) Es ist der absolute Unterschied. (Vgl. a. a.O., 291.) Das Unterscheiden als Dialektik von SichAbstoßen und Sich-Beziehen ist aber die logische Bewegung des Weltumgangs, den Liebrucks Bewußt-Sein nennt und als Logos, als sprachliche Vernunft ausweist. „Sprache und Denken können nicht identisch genug gedacht werden.“ (SuB II, 184.) Anders ausgedrückt: „Sprache und Mensch können nicht identisch genug gedacht werden.“ (A. a.O., 185.) Daß Sprache und Denken bzw. Mensch „nicht identisch genug“ gedacht werden können, sagt zugleich aus, daß sie nicht identisch sind, wie Liebrucks an anderer Stelle auch explizit betont. (Vgl. a. a.O., 163.) „In der Sprache kreuzen sich wie im Menschen Individuum und Gemeinschaft, Gegenwart und Geschichte, Subjekt und Objekt, Einzelnes und Allgemeines. In diesen Verhältnissen sind Sprache und Mensch streng identisch.“ (A. a.O., 179.) In diesen Verhältnissen sind Mensch und Sprache identisch, d. h. der Mensch ist nicht die Sprache, aber er ist nie anders als sprachlich in der Welt. Sprache ist keine autarke Größe; sie hat ihre Existenz im Menschen. Es gibt keinen menschlichen Weltumgang neben dem sprachlichen. In der sittlichen Konsequenz bedeutet dies: Wer die Sprache auf einige ihrer Aspekte reduziert, reduziert damit den Menschen auf einige seiner Aspekte. „Die Entsprachlichung des Menschen ist die Entmenschlichung des Menschen.“ (Weltumgang, 43.) Wer z. B. die Sprache als bloßes Mittel zur Weltbewältigung ansieht, degradiert auch den Menschen, der sie spricht, zu einem bloßen Funktionsträger, der bei Funktionsstörung auszuwechseln ist. Sprache kann mehr als nur definieren. Entsprechend ist das Leben des Menschen mehr als bloßer Kampf ums Überleben. Sein Menschsein ist die Freiheit zu sich selbst als einer individuellen Identität, die er angesichts der Widersprüche ausspricht, d. h. die er angesichts des Anderen seiner selbst in den ihm begegnenden Subjekten und den Dingen, die er zu seiner Welt ordnet, erfährt.
„Nur der Mensch als sprechender denkt. Als seiender ist er Moment im sprechenden. Als was denkt der sprechende Mensch? Er denkt als den Widerspruch denkender.“ (SuB VI/2, 58.) Diesen Widerspruch kann er nicht formallogisch denken, denn das formale Denken kann den Widerspruch nicht zulassen: Es
89 Dies verdeutlicht sich an den Kategorien, die wir im Wechsel der Erfahrung an diese anlegen, um sie koordinieren zu können. Wir schaffen dies allein in der Einheit von Vergegenständlichung und Entgegenständlichung des Denkens als eines sprachlichen, „das die Einzelheiten nicht nur durchläuft, sondern während des Durchlaufens aufgehoben mitführt, das nicht nur auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist, sondern sie mitführt, […] indem es den Zeitcharakter der Sukzession dialektisch aufhebt […]. Diesem sprachlichen Denken entspringen unsere jeweiligen Vorstellungen von Raum und Zeit.“ (SuB IV, 468.)
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systematisiert die Welt zu eindeutigen Vorstellungen von einer Welt, in welcher sich Widersprüche auflösen. Als seiender ist der Mensch selbst aber Widerspruch: seiender Geist. Er hält diesen Widerspruch nur aufgrund der Sprachlichkeit seiner Vernunft aus, denn in der Sprache kann er sich als beides aussprechen – als geistiges und sinnlich erfahrendes Ich. Er spricht sich nicht prinzipiell aus, vielmehr ist jede seiner Selbstaussagen bezogen auf seine Welterfahrung. Die dialektische Logik seines Weltumgangs als sprachliches Bewußt-Sein hat Denken und Sein als wechselseitig sich aufeinander beziehende zu ihren Momenten.
F. Sprache und Handlung Liebrucks spricht davon, daß all unser Handeln sprachlich ist. Gleichwohl lehnt er den Ausdruck „‚Sprechhandlung‘“ als Zeugnis des Unverständnisses für Sprache konsequent ab. (SuB I, 502.) Demnach ist das Verhältnis von Sprache und Handlung ausdrücklich zu klären. Liebrucks übernimmt von Humboldt die Einsicht, daß in der Sprache ɛνɛργɛια und ɛργον zusammenfallen. (Vgl. a. a.O., 430; SuB V, 353.) Handlung ist stets ein Aspekt von Sprache. Er besteht in der Vergegenständlichung. Vergegenständlichung, d. h. Petrifizierung (wie Liebrucks häufig schreibt) lebendiger Erfahrung zu allgemeingültigen Formen, ist die Grundbedingung der Möglichkeit zur Verständigung.⁹⁰ Wenn wir uns mitteilen wollen, müssen wir Inhalte anhand von Formen zum Ausdruck bringen, die von unseren Adressaten verstanden werden können, so daß sie zu den von uns mitgeteilten Formen entsprechende Inhalte in sich erzeugen. Verständigung beruht auf konventionellen Sprachformen, Terminologien, Grammatikregeln etc. Aufgrund dieser ist Sprache zu gebrauchen. Die Vorgängigkeit ihrer Faktizität bestätigt sich darin, daß Sprache alle Werkzeuge zu ihrem Gebrauch aus sich selbst heraussetzt. „Die Werkzeuge der Sprache sind die versteinerten Organe an ihr.“ (SuB II, 133.)⁹¹ Sprache geht nicht darin auf, sich
90 Wenn Liebrucks vom reinen Verständigungsmoment der Sprache spricht, verwendet er hierfür oft den Terminus „Rede“. „Die Rede ist Moment in der Sprache.“ (SuB VI/3, 52.) Rede ist „ein Spiel, dessen Regeln innerhalb des Spiels geändert werden können.“ (SuB I, 489.) Der Maßstab, an dem sich die Regelveränderung messen lassen muß, ist die dialektische Struktur der Sprache; sie darf nicht ignoriert werden, wenn die Rede nicht unmenschlich werden soll. Die Reflexion der dialektischen „Struktur“ der Sprache, die Mehrstrahligkeit der semantischen Relation sollte die Regeländerung in der Rede vor Willkür und Beliebigkeit bewahren. Und vor dem Anspruch, „letztes Wort“ zu sein: Eine Verabsolutierung der Rede ist Verabsolutierung des Handlungsaspekts. „Der Mensch ist nicht dort Mensch, wo er spielt, sondern wo er spricht.“ (Ebd.) 91 „Die Sprache ist zugleich zuhandenes Werkzeug und vorhandenes Gebilde.“ (A. a.O., 300.)
F. Sprache und Handlung
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instrumentalisierbar zu machen. Daß sie ihre Werkzeuge aus sich selbst heraussetzt, zeigt, daß sie mehr als ein Werkzeug ist. Sie ist Handlung im Sinne von πραξις, nicht von ποιησις.⁹² Sprache ist nicht allein Instrument, das man benutzen kann. Sie verändert. Sprechend erschaffen wir unablässig neue Ausdrücke für die uns beeindruckende Welt. Keinen Ausdruck gibt es in der Sprache zweimal; selbst zu vermeintlich „bestehenden“ Ausdrücken gibt es eine permanent erzeugte Mannigfaltigkeit an Entsprechungen. Sprache wird andauernd erzeugt. Im Erzeugen von neuen Bedeutungen und Entsprechungen zu bereits übernommenen 92 Vgl. SuB I, 431. Dieser Aussage liegt eine von Aristoteles im sechsten Buch seiner Nikomachischen Ethik vorgenommene Unterscheidung zweier Tätigkeitsweisen zugrunde: Man kann mit Dingen etwas machen oder man kann etwas tun, ποιɛιν oder πραττɛιν. In beiden Fällen geht dem Handeln ein Überlegen voraus, doch während man sich im πραττɛιν als klug erweisen kann, zeigt das gelingende ποιɛιν allein Geschicklichkeit. Das herstellende Denken ist τɛχνη. Sie befähigt dazu, nach bestimmten Regeln etwas zu einem Zweck zu produzieren, der außerhalb des Herstellungsvorgangs liegt. Somit kann eine Fertigkeit nie ein Ziel an sich sein. So wie die τɛχνη das rationale Vermögen ist, welches die ποιησις ermöglicht, so steht die φρονησις hinter der πραξις. Πραξις meint ein Handeln um des Handelns willen, d. h. der Zweck einer Handlung ist nicht mit dieser identisch, liegt aber in ihr selbst (weshalb die Handlung auch nicht – allein – nach ihrem Resultat beurteilt wird). Auf dem Weg zu einem Ziel kann eine πραξις zur ποιησις werden. Das endgültige τɛλος menschlichen Handelns, um dessentwillen jemand seine Handlungen ausübt und das er als sinngebendes Ziel seines Daseins betrachtet, kann jedoch nur eine πραξις sein, die man um ihrer selbst willen ausführt und somit die eigene Auffassung des Seins bezeugt. Zu solchem selbstzweckhaften Tun, ɛυπραξια, zählen Wahrnehmung und Denken (also Handlungen, die nicht sittlich sein müssen) sowie das Verhalten, welches aus der μɛσοτηςBestimmung der ethischen Tugenden resultiert (weil man z. B. um der Gerechtigkeit willen einen gefundenen Gegenstand im Fundbüro abgibt, auch wenn man dafür keine Belohnung erhält). Letztendlich wird ποιησις in den Dienst der πραξις gestellt, weil unsere Herstellungen durch das bedingt sind, was wir tun wollen. Aufgrund der Annahme, es gebe Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen getan zu werden sich lohnen, sieht man auch die Herstellung der Instrumente zu diesem selbstzweckhaften Tun als sinnvoll an. Πραξις kommt ohne ποιησις nicht aus, aber sie legitimiert ποιησις auch erst. Der φρονιμος sieht ein, daß tugendhaftes Handeln mit „Gut-Leben“ und „Glücklich-Sein“ kongruiert, kluges, d. i. tugendhaftes Überlegen wird ihm zum Habitus. (Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Auf der Grundlage der Übersetzung von Rolfes, Eugen, hg. von Bien, Günther, Hamburg 1985, 1095a 18 f.; 1098b21 f.) Πραττɛιν ist also immer schon als sittliches begriffen. Dies zeigt sich etwa in der unterschiedlichen Bewertung absichtlicher Verstöße gegen τɛχνη bzw. φρονησις: Wenn jemand mit Absicht oder zumindest freiwillig entgegen seiner Fertigkeit handelt, stellt das sein Können nicht in Frage – wenn er gewollt hätte, hätte er es richtig machen können. Wer dagegen unfreiwillig im Herstellen fehlt, beweist damit allein seine (verbesserungsbedürftige) Inkompetenz. Sollte aber auf der anderen Seite jemand absichtlich und freiwillig gegen das verstoßen, was ihm die praktische Vernunft gebietet, offenbart er dadurch eine moralisch verwerfliche Haltung, sofern er wissen- und willentlich an sich und anderen schlecht handelt. Soweit die ɛυδαιμονια als das Ziel gilt, woraufhin die Natur des Menschen angelegt ist, kommt solches Verhalten gar einer Selbstverfehlung gleich, weil man die eigene Wesenhaftigkeit negiert oder zumindest ignoriert.
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2. Lingua docet Logicam
Bedeutungen wird eine neue Erfahrung in die Bedeutung erhoben bzw. in ihrem Bezug auf eine Bedeutung in besonderer Weise gedeutet. Sprache nimmt Erfahrung auf und verändert sie. Sprache verändert sich. Sie verändert sich schleichend, so daß ihre Formen den Anschein von Beständigkeit und Objektivität erwecken können. Dies ist die Voraussetzung für einen technisch-praktischen Umgang mit Welt. Sprache als „Atmosphäre“, in der Menschen allein leben können, muß aber ignoriert werden, wenn wir technisch-praktisch tätig werden und uns verständigen wollen. (SuB II, 150.) Das behandelnde Tun gelingt nur in Fokussierung auf das gegenständliche Erscheinen der Dinge. Behandelbar sind lediglich Objekte. Unter dem technisch-praktischen Blick auf die Welt schrumpft die unablässig sich forttreibende Bewegung der Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung auf die Gegenüberstellung von Handelndem und Behandeltem: Subjekt-Objekt. Unter diesem Blick auf die Welt wird das Tun der Sprache ausgeblendet, obwohl auch dieser Blick sprachlich ist. In der Subjekt-Objekt-Beziehung sind die Funktionen eindeutig verteilt. Subjekt und Objekt bedingen sich wechselseitig in ihrem logischen Status: kein Subjekt ohne Objekt und umgekehrt. Die Korrelation erscheint insofern aber eingeschränkt, als die Relation von Subjekt zu Objekt anders verstanden wird als die Relation des Objekts zum Subjekt. Das Subjekt erscheint aktiv im Erkenntnisakt, das Objekt läßt sich, passiv bleibend, erfassen. Das „Verbergen der der Sprache eigenen Dialektik ihrer Bewegungen gehört zu den größten Leistungen der Sprache.“ (A. a.O., 343.) Im Gegenstand der Behandlung ist dessen Gegenständlichkeit verborgen, die er in der Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung empfängt. Als Gegenständen ist den Dingen ihre Bedeutsamkeit abgesprochen, sie haben keine Aura, keinen Unbestimmtheitshof. Sie sind berechenbar und wirken nicht auf das sie behandelnde Subjekt zurück. Ihnen gegenüber ist der Handelnde nicht sittlich verpflichtet. Das Spezifikum einer Handlung ist Eindeutigkeit: Etwas wird zu etwas gemacht. Dem zu Behandelnden muß hierzu eine eindeutige Identität eignen. Die Logik der Handlung kann nie dialektisch sein. Zu ihrer Behandlung (Liebrucks spricht häufig auch von „Zubereitung“⁹³) muß Welt als Dasein unter Gesetzen erscheinen. Das Handlungsmoment der Sprache wird daher vornehmlich in den (Natur‐)Wissenschaften bedient. „Soweit der menschliche Weltumgang wissenschaftlich ist, ist er handlungsförmig. Sprachförmig dagegen ist er aus logisch zwingenden Konsistenzgründen, sofern er sich einer Wirklichkeit stellt, die noch
93 „Die Zubereitung der Welt der Positivität […] besteht darin, daß die Anschauung dem Verstand unterstellt wird und sich nur noch innerhalb seines Herrschaftsgebietes regen darf.“ (SuB IV, 77.)
F. Sprache und Handlung
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keiner Konstruktion unterworfen ist.“ (Handlung, 353.) Wissenschaft diktiert Erfahrung nach Regeln. In ihren Experimenten manipuliert sie die Erfahrbarkeit von Welt in erzwungenen Reaktionen. Sie gibt eine Grammatik der Erfahrung vor und läßt nur Antworten gelten, die dieser Grammatik gemäß sind.⁹⁴ „Die Wissenschaften stützen sich immer auf etwas, was als bekannt vorausgesetzt wird.“ (SuB VI/1, 193.) Auch die Sprache der Wissenschaft bewegt sich in der Dreistrahligkeit der semantischen Relation, doch sie konzentriert sich auf den Handlungsaspekt des Weltumgangs, denn „[e]xperimentelle Aufweisbarkeit ist schon Behandelbarkeit der Natur.“ (SuB I, 344.) Eine Philosophie, die nicht Handlung als Aspekt der Sprache begreift, sondern Sprache als Aspekt von Handlung, wird von Arnold Gehlen vertreten, der in Liebrucks’ Sprachphilosophie gewissermaßen als Antipode fungiert, in Abgrenzung zu dem Liebrucks seinen Sprachbegriff entfaltet. Gehlens Fehler ist nach Liebrucks’ Auffassung, nach ursprünglichen Strukturen des Menschseins vor der Sprache zu suchen. Die von Gehlen vertretene Anthropologie charakterisiert den Menschen als h o m o f a b e r. Die Theorie vom Menschen als Handlungswesen geht davon aus, daß der Mensch als Handelnder Sprache als Mittel schuf. Sprache als bloßes Mittel ist Sprache als Zeichensystem. Die bezeichnete Welt ist eine Ansammlung von Objekten. Gehlen spricht von einer Faktenaußenwelt, ein Begriff, mit dem Liebrucks eine „Neutralisierung der Welt“ zu einem Inbegriff bedeutungsloser Dinge vollzogen sieht. (A. a.O., 145.) In der Faktenaußenwelt ist alles schon zum Objekt gemacht (f a c t u m ) und kann deshalb auch weiter als solches behandelt werden. Eine über diesen Status des Gegenständlichen hinausgehende Reflexion auf die Dinge ist in Gehlens Entwurf zu vermeiden, da mit ihr eine Unsicherheit in den Weltumgang des Menschen eingeholt würde, die durch Institutionalisierungen und technisch-praktische Unterwerfung zu kompensieren nach Gehlen den Rang des Menschen ausmacht. Eine solche Theorie vom Menschen als Wesen der Handlung ist Konsequenz und Legitimation der Technisierung in einem Zuge. Liebrucks spricht von einem „Abdeckereigeschäft der Wirklichkeit“. (Ebd.) Die Auffassung von Natur als Faktenaußenwelt ist das Gegenteil der Auffassung von Natur als „göttlich“. In der Faktenaußenwelt gibt es keine vernehmbare Gegenwart eines Unendlichen, alles in ihr ist endlich. Sittlich kann Handeln erst werden, wenn die Unendlichkeit des Endlichen anerkannt ist. Die sittliche Forderung an den Menschen besteht darin, das Unendliche im
94 „Die Gefangenschaft in der formallogischen Adäquatheit der logischen Bilder, die als Interpretationsschlüssel fungieren, garantiert das Verfehlen der Wirklichkeit, die sowohl außerhalb wie innerhalb der logischen Bereiche steht, die man mit solchen Interpretationsschlüsseln aufschließen kann.“ (SuB VI/3, 445.)
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2. Lingua docet Logicam
Endlichen zur Geltung zu bringen.⁹⁵ In dessen Unendlichkeit, seinem überzeichenmäßigen Charakter ist die Eigenbedeutung jedes einzelnen Endlichen bewahrt, die in keiner allgemeingültigen Form berücksichtigt werden kann. Ein Begriff wie „Selbstzweckhaftigkeit“ ist von der Handlung her nie verständlich zu machen. Handlung macht, wenn es erforderlich ist, alles zum Mittel. (Vgl. SuB I, 134.) „Handeln als Selbstzweck erhebt das Mittel zum Endzweck.“ (A. a.O., 136.) Die „Sprache“ der Handlung ist Propaganda. (Vgl. a. a.O., 140.) Handlungen und Gesinnungen sind beide teleologisch. Insofern spielt es in sittlicher Beurteilung zunächst in gewisser Weise keine Rolle, ob eine Gesinnung handlungsförmige Umsetzung findet. Schon als Gesinnung ist sie ambitioniert: Sie läßt sich nichts begegnen, ist nicht empfänglich – sondern befiehlt. „Der kategorische Imperativ der Philosophie der Sprache dagegen lautet: betrachte die Sprache niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck, betrachte sie nicht imperativisch.“ (A. a.O., 182.) Ein Imperativ, der befiehlt, nicht zu befehlen – Liebrucks zeigt hier seine Vorliebe zu paradoxalen Ausdrucksformen. Er bringt damit zum Ausdruck, daß Sprache an ihren Objekten handelt, ohne sie unmittelbar zu kontaktieren. Unter dem Sprachblick erscheinen die Dinge als Gegenstände, die immer auch noch ganz anders sind, als sie in der unmittelbaren Bezeichnung erscheinen. Der Zweck der Objekte ist nicht darin erfüllt, behandelbares Objekt zu sein – dies ist nur von der Sprache, nicht von der Handlung her zu denken: Allein in der Sprache kann etwas zugleich sein eigenes Gegenteil sein. Die Identität der zu behandelnden Objekte muß eine eindeutige Zuordnung (A = A) sein. Sprachliche Identität ist Identität von Identität und Nicht-Identität, sie ist Identität als Aushalten des eigenen Unterschieds. Sprachliche Identitäten sind daher von einem Hof der Unbestimmtheit umgeben; die Objekte der Handlung müssen zumindest den Anschein von Exaktheit haben. „Ein sprachlicher Satz ist immer ein nicht exakter, d. h. nicht ausgeführter Sprung in die Wirklichkeit. Ein virtueller Sprung, keine Handlung.“ (Handlung, 360.) Die Unexaktheit erlaubt es dem Sprechenden, sich zu spezialisieren, ohne selbst in einer Spezialisierung aufzugehen – andernfalls wäre er letztlich nicht von seinen Objekten unterschieden. Der die Welt ausschließlich instrumentalisierende Mensch instrumentalisiert sich letztlich selbst, wenn er auch von sich als einem Subjekt der Handlung spricht. Das Pendant zur Faktenaußenwelt ist eine Fakteninnenwelt, ein Ausdruck, den Liebrucks als Synonym für einen bewußt(seins)losen Menschen begreift. Solche vergegenständlichenden Auffassungen von Mensch und Welt nennt Liebrucks „die beiden Hauptgötzen unserer Zeit“. (SuB I, 95.) „Das formallogische Mitteilungsmoment der Sprache wird seinen Platz immer behaupten. Aber wenn es den ganzen Platz
95 Vgl. hierzu das Kapitel Bleiben ist nirgends: Jesus Christus.
G. Formale Logik – Sprachliche Logik
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behauptet, ist der Partner der Mitteilung verloren. Der Mensch verkehrt dann solipsistisch nur noch mit einer Faktenaußenwelt.“ (SuB VI/3, 21.) Der einseitig handlungsorientierte Mensch kann sich selbst nur dieselbe formale Identität zuschreiben, die er auch seinen Objekten attestiert. Handlung hält keine Widersprüche aus, sie muß diese nivellieren. Der handelnde Mensch darf nicht denken, daß er seinen identitätsbegründenden Selbstbezug nur über das Abstoßen von sich selbst zu seinem Anderen vollzieht und somit nur bei den Dingen bei sich selbst ist. Wenn er so denkt, kann er nicht mehr handeln. Das, was er behandeln will, darf er nicht als Moment seiner Identität begreifen. Er muß sich von der Welt lossagen, um auf sie einen Zugriff zu haben. „Die Handlung entweltlicht den Menschen.“ (SuB I, 164.) Die Subjekt-Objekt-Beziehung der Handlung fokussiert eine Kontrastierung beider. Im Anderen zugleich bei sich selbst ist der Mensch allein in der Mehrstrahligkeit der Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung. Die Subjekt-Objekt-Beziehung ist eine Reduktion der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung. „[D]er homo faber setzt den homo loquens voraus.“ (A. a.O., 180.) Sprache ist Ursprung von Handlung, Handlung ist spezialisierte Sprache. (Vgl. a. a.O., 115.) Nur sprechende Wesen können Zwecke setzen. (Vgl. SuB VI/3, 402.) „Handlungsfähigkeit des Menschen ist Moment innerhalb seiner Sprachlichkeit, niemals aber die Sprachlichkeit Moment innerhalb seiner als des handelnden Wesens.“ (SuB I, 47.) Die Differenzierung zwischen Sprache und Handlung deutet an, daß unser logischer Weltumgang unterschiedliche Sprachformen bereithält, in denen Mensch und Welt entweder behandelt oder begriffen werden. Im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung wird sich erweisen, daß der sprachlich-logische Zugang zur Welt über die Freiheit des Menschen entscheidet. Im folgenden sei zur Vorbereitung dieser freiheitstheoretischen Betrachtungen die Differenz zwischen technisch-praktischer Weltbehandlung und sprachlichem Weltumgang anhand der Unterscheidung von formaler und sprachlicher bzw. dialektischer Logik durchgespielt.
G. Formale Logik – Sprachliche Logik Die Bahnen der Logik sind unsichtbar, sofern sie ideell sind, sie sind sichtbar, sofern uns in ihnen die Wirklichkeit erfahrbar wird: Am Gesicht der Welt lesen wir die Logik ab, die ihr zugrundliegt und die wir ihr zugrundelegen. „Im Zentrum der Logik leben und erkennen sich alle Horizontauffächerungen des Menschen. Die Logik zeigt auf die Wahrheit dieser in uns seienden Ewigkeit. Sie hat den Gang der anderen Wissenschaften immer zugleich hinter sich, wie sie ihn vor sich hat.“ (SuB VI/3, 508.) Liebrucks verfaßt mit seinem Werk Sprache und Bewußtsein den Ent-
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2. Lingua docet Logicam
wurf einer Logik und nimmt in Anspruch, sich somit im Zentrum der Philosophie zu bewegen, sofern Logik „sowohl philosophia ultima wie sie philosophia prima ist.“ (Ebd.) Das Logische selbst, so wird der zweite Teil dieser Untersuchung zeigen, ist der Gegenstand der Logik, sie ist nicht allein Mittel zum Zweck technisch-praktischer Nutzbarmachung von Welt.Was Liebrucks unter Logik versteht, ist mit seinem Begriff der Sprache kongruent: Der Begriff „Logik“ kommt von Logos. Hier verrät sich der Einfluß Hamanns, welcher die These aufstellt,Vernunft sei Sprache. „,Vernunft ist Sprache‘ heißt nicht, die Sprache sei […] eine angeborene Idee (Chomsky). Damit wäre sie wieder in einem seienden Subjekt stationiert, ohne Logoscharakter.“ (SuB VI/2, 240 f.) Vernunft ist weder ein rein subjektives noch ein rein objektives Vermögen, in ihr erzeugen sich Ich und Welt aneinander. „Die Vernunft ist die Copula zwischen Mensch und Welt. Diese ist die Sprache.“ (SuB VI/3, 319.) Die Begriffe der Vernunft sind sich über die eigene Negation ausbildende Identitäten. Darin erweist sich die Einheit der Vernunft als Einheit von apriorischer Konstruktion und aposteriorischer Hinnahme in jedem Sprachlaut. (Vgl. SuB I, 326.) Als Sprache stellt sich Vernunft in ihren Gegenständen zugleich selbst dar. Daher gilt von den sprachlichen Bestimmungen: „Ihr Sein ist ihr Erkanntwerden.“ (SuB VI/3, 319.) In Einheit von Begriff und Existenz zeigt Sprache in ihren Gegenständen auf sich selbst. Diese Dialektik von Begriff und Existenz wird von Liebrucks benannt als sprachlich-logischer Weltumgang des Menschen, den er auch Bewußt-Sein nennt. Damit ist ausgesagt, daß der Gegenstand der Logik die Wirklichkeit der menschlichen Erfahrung ist. (Vgl. SuB VI/1, 217.) Menschliche Erfahrung aber hat unterschiedliche Gesichter. Für den weiteren Verlauf der Untersuchung ist es von Bedeutung, Liebrucks’ Verständnis der Begriffe „Wirklichkeit“ und „Realität“ zu klären. Unter Wirklichkeit versteht Liebrucks das wahre Sein der Dinge, d. i. das, was Kant das An-sich der Dinge nennt. Realität ist dagegen die von Kant so bezeichnete Welt der Dinge als Gegenstände der Erscheinung. Liebrucks konstatiert: „Unter Realität verstehe ich eine solche Rekonstruktion der Wirklichkeit zur Positivität, die dazu geeignet ist, die Gliederung eines Forschungsgebiets aus ihrem Gliedcharakter herauszuheben und zu Elementen eines möglichst uniformen Systems von Sachverhalten zu machen, das in sich konsistent ist.“ (Handlung, 351.) Die Realität ist die Welt der Möglichkeiten. Sie ist die Welt, die wir uns zum Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung und technisch-praktischer Behandlung machen. Realität wird formallogisch erschlossen als ein Dasein unter Gesetzen. „Aber auch Wirklichkeit ist logische Kategorie, nicht etwa der Kosmos der Griechen als geschmückte Ordnung oder unsere Faktenaußenwelt. Beide Ausdrücke zeigen zwar schon in ihrer unmittelbaren Wortbedeutung, daß der Mensch an ihrer Erstellung beteiligt war. Aber die Götter sollten, solange ihnen Kulte dargebracht wurden, unabhängig vom Menschen ihre Existenz haben, so wie wir auch heute noch glauben, daß die Faktenaußenwelt unabhängig von unseren Herstellungen ihre Existenz hat. Die logische Kategorie der Wirklichkeit ist die Enthüllung der Einheit von Innen und Außen.“
G. Formale Logik – Sprachliche Logik
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(SuB VI/2, 311.) Wirklichkeit und Realität sind nicht der Gegensatz von idealer und sinnlicherfahrbarer Welt. Die Realität ist stets Moment der Wirklichkeit, denn „[k]eine Wirklichkeit ist ohne Möglichkeit.“ (A. a.O., 349.) Wirklichkeit ist das Konkret-Allgemeine des Logos, der im zweiten Teil dieser Untersuchung als das erarbeitet werden wird, was die Philosophie „das Absolute“ und die Theologie „Gott“ nennt. Wirklichkeit resp. Wahrheit ist die Einheit von Realität und Idealität, Begriff und Existenz, Allgemeinem und Besonderem. Als solche ist sie keine „Hinterwelt“ außer- oder oberhalb der Realität. (Sprachaufstufung, 253.) Sie vollzieht sich im Erzeugen ihres Gegensatzes, über den sie sich hinaustreibt, indem sie ihn als eine ihrer Möglichkeiten in sich aufhebt. Wirklichkeit ist Identität von Identität und Nicht-Identität. Ihre Genese ist eines der Momente der Wirklichkeit. Ihre Genese ist die unendliche Bewegtheit als Logos, der sich zur Realität verendlichen läßt. Somit ist aber deutlich, daß Realität weder ein Abbild von Wirklichkeit, noch Wirklichkeit die Summe aller realen Möglichkeiten ist. Wirklichkeit läßt sich nicht aus der Realität ableiten; vielmehr spricht Liebrucks davon, etwas sei „irreal, weil wirklich“, denn die Wirklichkeit treibt über ihre Verendlichung zur Realität hinaus. (Ebd.)
Mit seinem Werk Sprache und Bewußtsein verfaßt Liebrucks eine Logik, die er als Logik der Sprache benennt,wobei das Zugleich von g e n i t i v u s s u b j e c t i v u s e t o b j e c t i v u s zu beachten ist. Diese Logik versteht sich in Abgrenzung zur formalen Logik, wie sie bereits von Platon und Aristoteles zur Fundierung rationaler – im Sinne von: wissenschaftlicher – Erkenntnis begründet, von Kant als solche endgültig bestätigt wird. Liebrucks nennt daher die formale Logik in Aufnahme eines kantischen Ausdrucks auch die logische Struktur eines technisch-praktischen resp. praktisch-technischen Weltumgangs. Dieser faßt unter sich zunächst im allgemeinen alles technisch-praktische Handeln an der Welt, aber auch die (Natur‐)Wissenschaft, positives Recht und jede Philosophie, die als Wissenschaft auftritt. (Vgl. SuB IV, IX.)⁹⁶ Gemäß Kants Definition ist „formale Logik“ die „Wissenschaft von den notwendigen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft überhaupt oder – welches einerlei ist – von der bloßen Form des Denkens überhaupt“.⁹⁷ Formale Logik ist Abstraktion der Welterfahrung zu allgemeinen Aussagen, apriorischen Gesetzen. „Die formale Logik steht für Zucht und Ordnung.“ (SuB VI/3, 91.) Sie ist ein Kanon,
96 Als Repräsentanten einer formalen Logik sieht Liebrucks u. a. Wittgenstein. (Vgl. die in SuB VI/1 getroffenen Aussagen.) Dies sei betont, da es zumeist Wittgenstein ist, der heutzutage für eine philosophische Reflexion auf den Sprachbegriff steht. Seine Philosophie steht aber der von Liebrucks entwickelten Theorie zur Sprache diametral entgegen. Der Tractatus logico-philosophicus bewegt sich auf der Bewußtseinsstufe, die Hegel das „seiende Wesen“ nennt. (SuB VI/1, 44.) Wittgensteins Verdienst besteht darin, die Dinge „griffig“ gemacht, nicht aber dargelegt zu haben, wie man sie begreift. (Vgl. a. a.O., 63.) 97 Kant, Immanuel, Logik, Werke in zehn Bänden, hg.v. Weischedel, Wilhelm, Bd. 5: Schriften zur Metaphysik und Logik, Darmstadt 1968, 433 f.
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2. Lingua docet Logicam
kein Organon. (Vgl. ebd.) Die formale Logik ist, wie wir von Kant lernen können, eine „Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft […] lediglich der Form nach“, die „Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt“. (A. a.O., 7.) „Als allgemeine Logik abstrahiert sie von allem Inhalt der Verstandeserkenntnis und der Verschiedenheit ihrer Gegenstände, und hat mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun“.⁹⁸ Erst die transzendentale ist insofern Erkenntnistheorie, als sie die formale Logik darüber aufklärt, daß alle formallogischen Grundsätze lediglich postulatorischen Charakter besitzen. Sie sprechen Sachverhalte aus, die einem Sollen Ausdruck verleihen: Beispielsweise soll dem Satz der Identität zufolge A als immer mit sich identisch gelten. (Vgl. SuB III, 385.) Dieser Postulatscharakter ist formale Abstraktion von allem Inhaltlichen. In dem Satz „A = A“ ist zwar die Möglichkeit ausgesprochen, daß A auch nicht mit sich identisch sein könnte. Von dieser Möglichkeit soll aber abgesehen werden. Der Satz der Identität ist Indikator einer dialektischen Logik des menschlichen Weltumgangs. Angesichts der Möglichkeit, daß ebenso Identität wie auch Nicht-Identität sein kann, ordnet er an, was vereinfachend gelten soll. Die Dialektik kann ebenso Identität wie auch NichtIdentität denken; formale Logik hat sich für eines von beiden zu entscheiden. In Wahrheit ist nichts in einem Moment dasselbe, das es schon zu einem anderen Moment war. Alles ist ständig in Veränderungen begriffen. Der Satz „A = A“ sagt insofern die Unwahrheit, ist bloße Geltung. Die Wirklichkeit der unter sie subsumierten Dinge ist mit ihr nicht bezeichnet – das ist die große Einsicht Kants. „A = A“ ist ein Satz, der nie wahr wird. Die Kohärenz eines Satzes sagt nichts über dessen Wahrheitsgehalt, nur über seine formale Richtigkeit aus.⁹⁹ Wahrheit ist immer auch inhaltlich. Alles aufgrund formallogischer Zuordnungen erworbene Wissen des Menschen ist zugleich „falsch“. (Vgl. SuB I, 128.) Wissen ist auf Eindeutigkeit angelegt. Die Mehrdeutigkeit dessen, wovon es Wissen ist, wird diese Eindeutigkeit immer eines Besseren belehren. Das Ausblenden der Mehrdeutigkeit macht Wissen zum Handlungsmoment innerhalb der Erkenntnis. Wenn das Wissensmoment verabsolutiert wird, dann ist es – wie bei Gehlen – die Historie, die über Wahrheit und Unwahrheit entscheidet. Wahr ist dann, was sich bewährt, also in Gehlens Sinne institutionalisiert, für Kritik tabuisiert ist: Wahrheit als Gewohnheitswahrheit. Ziel des formallogischen resp. technisch-praktischen Denkens ist die Institutionalisierung von Lebensumständen. „Die Institution ist Antwort des Menschen auf sein Nichtfestgestelltsein.“ (A. a.O., 132.) Liebrucks bestimmt den Begriff 98 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft 1, Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, hg.v. Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a. M. 1968, 99 f. (B 78/A 54). 99 „Formallogisch-richtiges Schließen allein ist keine hinreichende Bedingung dafür, daß in ihm schon Aussagen liegen, die Wirklichkeit berühren.“ (SuB IV, 113; Herv. S. L.)
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der Institution in Rückgriff auf Arnold Gehlens anthropologische Philosophie. Gehlen definiert den Menschen als das nichtfestgestellte Tier, eine Wendung Nietzsches, anhand derer der Mensch als instinktloses Mängelwesen umschrieben wird. In Ermangelung der Instinktsicherheit, aufgrund derer sich das Tier an die sich verändernden Bedingungen seiner Umwelt anpassen kann, richtet der Mensch sich in Institutionen ein. Institutionalisierung ist Anorganisch-Werden, Verallgemeinerung des Individuellen. (Vgl. SuB VII, 421.) In Institutionen abstrahiert der Mensch von der Unbeständigkeit seiner Selbst- und Welterfahrung und formuliert allgemeingültige Regeln des Denkens und Verhaltens. Er stellt Gesetze auf, Verbindlichkeiten. Er sichert sein Überleben als Kulturwesen. Liebrucks versteht unter Institutionalisierung nicht allein Zusammenschluß und Organisation in sozialen Verbänden, sondern eine technisch-praktische Strukturierung des Lebens überhaupt, die in all ihren Ausprägungen ihren Ursprung in einem formale Identitäten schaffenden Denken hat. Jede Institution hat ein sprachliches Fundament, auch wenn dieses meist zu sehr überbaut ist, um es noch ahnen zu können. Lautbegleitung ist erste Distanznahme von einem Geschehen. Werden Laute verstanden, ohne daß das, was sie begleiten, gegenwärtig ist, kann man sie „einsetzen“. (Vgl. SuB I, 113.) Stereotypisierung schafft Stabilisierung angesichts erfahrener Kontingenz. (Vgl. a. a.O., 137.) Die Situationsunabhängigkeit kulminiert in der Schrift. Sprache ist eine semantische, mehrdimensionale „Zwischenwelt“, die dem Menschen das Begegnen mit Welt allererst möglich macht. (Vgl. a. a.O., 129.) Diese Zwischenwelt wird vom Menschen als sprachlichem Wesen selbst gesetzt. Solche Zwischenwelten können wechseln. Eine neue Zwischenwelt stellt bereits gesetzte in Frage, so z. B. die technische die mythische – oder umgekehrt. Institutionen sind sprachlich, solange sie nicht als solche intendiert werden, d. h. solange der Mensch nicht darauf aus ist, sich in Institutionen durch die „Macht der Gewohnheit“ selbst die Freiheit zu individueller Entfaltung zu nehmen. Institutionen retten den Menschen nur, wenn sie nicht um ihrer selbst willen entstehen, sondern in der sprachlichen Erfahrung der Welt, und als sprachliche auch bleibend verstanden werden. Institutionen entstehen als Antwort auf die Erfahrung der Welt als „göttlich“; darin sind sie durch und durch sprachlich. Als Antwort aber weisen sie darauf hin, daß die Welt zuvor gesprochen hat. Antwort ist charakterisiert als Reaktion auf etwas.Wer den Antwortcharakter von Institutionen bedenkt, hält das Bewußtsein davon wach, daß Welt von sich aus, in „göttlicher Sprache“, spricht. (Vgl. a. a.O., 139.) Denn jede Institutionalisierung hat auch eine dunkle Seite: Beständige Regeln suggerieren demjenigen, der sie anwendet, Macht, Herrschergewalt, Fortschreiten aus eigener Kraft. Regelhaftigkeit ist jedoch die Maske der Unfreiheit des Menschen. Täter und Tat funktionieren gleichermaßen. Der Schein von Selbstbestimmung, Kreativität im Anwenden von Regeln läßt etwa in
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faschistoiden Systemen die Menschen ihre eigentliche Entmündigung durch das Regime (zunächst) nicht bemerken. (Vgl. a. a.O., 138.) Institutionen entlasten davon, in jeder Situation neue Entscheidungen zu treffen – sie schaffen Identitäten und Kontinuität, sie operieren mit Wiederholung und vergleichbaren Mustern. Wenn sie aber zur Gewohnheit werden, haben sie sich von ihrer sprachlichdialektischen Grundlage getrennt. „Konventionen stehen niemals am Anfang, sondern sind Schlacken der Vergessenheit der Bildung ihrer selbst.“ (A. a.O., 227.) Die Ablagerungen der sprachlichen Bewegung, bilden Institutionen und Konventionen, Traditionen und Epochen. Zur Kontingenzbewältigung gehört Institutionalisierung, die für Kontinuität und Konsistenz sorgt. Doch der Mensch ist Lebewesen, nicht Gegenstand. Da er nicht auf geschlossene Systematizität, sondern auf Entwicklung, Individualität und Freiheit hin angelegt ist, tötet ihn die Gewohnheit, wie schon Hegel warnt. „Die Errichtung der Institutionen ist menschlich. Nur die Behauptung, daß in ihnen keine logische Bewegung sei, ist unmenschlich.“ (SuB VI/1, 260.) Die bestehenden Institutionen werden dann wie Altlasten mitgeschleppt, funktionslos, sinnlos. Von solchen Institutionen, die als Hilfe dienen sollten, aber zum Ballast werden, muß sich der Mensch trennen und er kann dies nur, indem er selbst wieder sprachlich zu denken beginnt: Dann müßte er erkennen, daß Institutionen keine tabuisierten Einrichtungen „von Gottes Gnaden“ sind, sondern seine eigenen Gestaltungen, die er daher überdenken, aktualisieren oder ersetzen kann. In jedem Bereich menschlichen Lebens ist eine kritische Auseinandersetzung mit Tradition gefordert. Aufgrund seiner Sprachlichkeit ist dem Menschen auch diese Auseinandersetzung möglich sowie von ihm gefordert. Freiheit fördert Furcht. Aber wir müssen „uns auf das hohe Meer der Sprachlichkeit hinauswagen, wo es keine Brücke der formalen Logik gibt.“ (SuB I, 106.) Institutionen sind nur in dem Maße human, in dem sie Leerstellen zulassen, in die der Mensch seine Individualität in der Allgemeinheit – einer Gesellschaft, einer moralischen Ordnung, eines Staates etc. – einzeichnen kann. An die Verrückbarkeit aller institutionellen und gewohnheitsmäßigen Festungen erinnern Religion, Kunst und Philosophie. Sie stellen die Unbestimmtheit alles Bestimmten dar. „Feste Verhältnisse gibt es in der Natur der wirklichen Ereignisse nicht. Es gibt sie in der Natur als behandelbarer.Wir können ohne Technik und ohne Institutionen nicht leben. Nur die Philosophie, die Kunst und die Religion blicken über beide hinaus. Revolutionen erschüttern die Grenzen von Institutionen oder auch von Techniken wirklich.“ (SuB VI/1, 640.) Wenn die Weltgeschichte „pausiert“, d. h. wenn die Formenbildung des objektiven Geistes stagniert, treiben Religion, Kunst und Philosophie die Entwicklung voran, so daß man ihnen eine „politisch produktive Kraft“ zuschreiben kann. (SuB III, 569.) Politisch produktiv ist nur eine Institution, die Entwicklungsoffenheit integrieren kann. „Unveränderlich an jeder Verfassung darf nur der Fortschritt im Bewußtsein
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der Freiheit sein. […] Mache ich dagegen den Fortschritt zum Prinzip, so leugne ich die menschliche Freiheit.“ (A. a.O., 645.) Fortschritt als Prinzip ist ein undialektisches Paradox, die offensichtliche Funktionsweise der Positivierung: Einfrieren von Bewegung. Fortschritt als freiheitlicher kann gerade nicht bei Prinzipien stehen bleiben. Fortschritt kann und muß nicht erst proklamiert werden: Er ist die dem Bewußt-Sein eigene Bewegung. Nur wer dies nicht erkennt, erkennt dem Menschen auch keine Freiheit, Entwicklungsoffenheit zu und meint daher, dem Menschen einen Progreß erst befehlen zu müssen. „Unser Resultat: Das praktisch-technische Tun innerhalb der Sprache ist formallogisch, aber nicht logisches Denken, sondern logisches Tun, Verstandeshandlung.“ (SuB IV, 501.) Der Verstand ist das Vermögen des analytischen Denkens und Urteilens, des Abstrahierens von der Unmittelbarkeit sinnlicher Wahrnehmung. Der Verstand versteht, Denken begreift (im hegelschen Sinne der νοησις νοησɛως als Begriff des Begriffs). Denken geht auf den Begriff, Identität als Identität von Identität und Nicht-Identität, in welcher sich Form und Inhalt aneinander erzeugen. Denken als begriffliches denkt sich in seinen Begriffen immer auch selbst. Der Verstand dagegen schließt dieses logische Beim-Anderen-beisich-selbst sein aus; er stellt Objekte vor sich, er hat Vorstellungen von der Welt. Die Tätigkeit des Verstandes, „[d]as formallogische Denken ist das nicht hinwegzudenkende Moment innerhalb des menschlichen Denkens, das der Fixationsstufe innerhalb der Sprachlichkeit unseres Weltumgangs entspricht.“ (SuB III, 396.) Es ist der technisch-praktische Aspekt des Denkens. „Kein Begreifen ist ohne dieses Moment.“ (SuB IV, 471.) Die Kursiv-Setzung zeigt an, daß die Funktionalität dieses Moments sich in dessen Verabsolutierung aber selbst unterläuft. „Die Wissenschaften bleiben so lange unschuldig, als sie nicht in die Anmaßung verfallen, Philosophie sein zu wollen.“ (SuB III, 157.) Die Kategorien der formalen Logik benennen lediglich Bestimmtheitsmöglichkeiten an Gegenständen der Vorstellung. „Es muß erkannt sein, daß es formallogisch unmöglich ist, Dinge zu erkennen, wie sie an sich sind […].“ (SuB IV, 111.) Der Erkenntnisanspruch der formalen Logik besteht nur innerhalb ihrer Positionen. Sie prüft die innerhalb ihrer eigenen Vorgaben gemachten „Erkenntnisse“ an den von ihr selbst aufgestellten Maßstäben. Die Kategorien in formallogischen Sätzen sind auf das von ihnen Beurteilte abbildbar, weil dieses selbst bereits zu einem formallogisch bestimmbaren Gegenstand gesetzt ist. (Vgl. SuB VI/1, 21.) Formale Logik trägt in sich keine Möglichkeit zur Selbstkritik, sofern diese bis an den Grund ihrer logischen Institutionen reichen soll. Sie prüft „richtig“ und „falsch“ gemäß ihrer Vorgaben; sie prüft ihre Vorgaben nicht auf Wahrheit. Sie ist assertorisch. Innerhalb der von ihr gesteckten Grenzen kommt die Wahrheitsfrage nicht auf, nur die Unterscheidung von „falsch“ und „richtig“. (SuB VI/2, 21.) „Die sogenannte Urteilswahrheit ist
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immer nur Folgerichtigkeit.“ (A. a.O., 282.)¹⁰⁰ Urteile sind nie wahr, weil sie sich auf eine Welt beziehen, die als positivierte nur eine Vernunftforderung ist. „Alles, […] wovon etwas als etwas Bestimmtes ‚erkannt‘ werden kann, hat seine Existenz innerhalb des formallogischen Raumes.“ (A. a.O., 32.) Formallogisch gilt als „erkannt“, was nach allgemeinen Aussagen eindeutig bestimmt werden kann. Entsprechend sind die Gegenstände des Verstandes nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche. „Der Verstand zeigt immer nur potentiell, niemals aktuell, er ist potentielle, nicht wirkliche Sprache.“ (SuB IV, 585.) Der Verstand steht für das Regelhafte alles Denkens und Sprechens, er ist eine „Grammatik des Denkens.“ (A. a.O., 657.) Seine Setzungen lassen unbestimmte Erfahrung zu logischen Gesetzen, sie lassen Sprache zu Grammatik werden. „Die Positivität hat ihre Signatur darin, keine Unbekannten zuzulassen.“ (SuB III, 518.) Die Sätze der formalen Logik systematisieren die Mannigfaltigkeit der Eindrücke von Welt zu einer Realität, mit der wir rechnen können. Diese Realität hat Gehlen eine Faktenaußenwelt genannt. Sie ist eine Welt, die nicht der Erfahrung entspringt, sondern vom Menschen auf die Erfahrung projiziert wird. „Welt-bilder entsprechen der formalen Logik.“ (SuB VI/ 2, 45.) Es ist die Welt des Verstandes, nicht der Vernunft. Der Verstand hat eine überlebensnotwendige, aber in dieser Spezialisierung auch begrenzte Funktion: Er „ordnet nur.“ (SuB IV, 511.) Die von ihm erschlossenen „Prinzipien sind nur höhere Werkzeuge.“ (SuB III, 638.) Sie dienen der Herstellung von Wissen. „Wenn die formale Logik die Metaphysik von der Physik ist, so ist die dialektische Logik die Metalogik der Logik. Dazu muß sie in einer menschlichen Sprache geschrieben werden.“ (SuB IV, 636.) Eine menschliche Sprache ist eine, die auch das Moment der Unbestimmtheit integriert. Nur wo unter dem Blick auf das zu Gegenständen Bestimmte zugleich dessen Unbestimmtheit gesehen wird, ist der Blick auf die Dinge nicht allein handlungsorientiert, sondern sprachlich. „Die Welt als Inbegriff von Objekten [..] ist nicht sprachlich.“ (Revolutionen, 94.) Wo die Welt „zum Inbegriff von Tatsachen elementarisiert“ wird, wird auch die Sprache auf ihr Instrumentalisierungsmoment reduziert. (SuB VI/1, 108.) Zwecks Verständigung – dem technisch-praktischen Moment, dem Benutzungsmoment im mündlichen oder schriftlichen Gespräch – muß die Wirklichkeit auf Möglichkeit reduziert werden beziehungsweise muß vorgestellt sein, daß dies möglich ist und entsprechend verfahren werden. (Vgl. SuB VI/3, 532.) „Der Wörtervorrat ist mögliche Sprache.“ (SuB II, 176.) Das Gesagte oder Geschriebene ist eine Möglichkeit neben denen, die in dieser Fokussierung auf einen Mitteilungsinhalt ausgeschlossen werden. Sie geraten in den mehr oder weniger präsenten Hintergrund, den „unmarked space“ – eine Aufteilung, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Sprache ist
100 „So heißt Kausalbeziehung schlicht Voraussagbarkeit.“ (A. a.O., 395.)
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vielmehr die „innige Verschmelzung von Objektivität und Subjektivität“, als solche ist sie „Verschmelzung von Möglichkeit und Wirklichkeit.“ (Ebd.) Sprache hat das Sein zu ihrem Moment, ebenso wie sie die Aufhebung des Seins in den Begriff zu ihrem Moment hat. Daher ist Sprache nicht Institution, „sondern Institution aller Institutionen. Der Logos ist nicht ens, sondern ens entium, als solches nicht ein positives Seiendes, nicht ein Wesentliches.“ (SuB VI/2, 142.) Daher ist auch die Suche nach dem formallogischen System aller Systeme „eine vergebliche, weil dieses System aller Systeme die bestimmte Sprache mit ihrer Unbestimmtheit als Teil der Sprache ist, die wir nicht bestimmen können.“ (SuB VI/1, 127.) Von der Sprache kann nur „in spekulativen Sätzen als den Sätzen von der Sprache“ gesprochen werden. (Vgl. SuB V, 123) Formale Logik zeigt sich als zur Selbstthematisierung der Logik,welche die Aufgabe der Philosophie ist, ungeeignet,weil sie in ihren Urteilen lediglich eindeutige Prädikatierungen vornimmt. Die Feststellung von Eindeutigkeit kann immer nur aus einer Mehrdeutigkeit erfolgen, die in der Reduktion zu eindeutigen Aussagen als das präsent ist, wovon zur Urteilsfindung abstrahiert wurde. Formale Logik aber kann diese Unbestimmtheitshöfe, die auch ihre Begriffe und Urteile umgeben, nicht thematisieren, wenn sie nicht ihre Funktionalität einbüßen will. Entsprechend ihrer Funktion, eindeutige Bestimmungen herzustellen, ist sie ebenso ungeeignet, die Dialektik von Mehrdeutigkeit und Eindeutigkeit zur Geltung zu bringen. Ihrem substanzhaften Denken ist es verwehrt anzunehmen, daß einer ihrer Gegenstände zugleich etwas anderes sein könne, als ihre Kategorien es zulassen. „Die logische Form, nicht zu urteilen, sondern zu denken, ist vielmehr der spekulative Satz.“ (A. a.O., 305.) Formale Logik sieht nie die Totalität ihrer Bestimmungen, weil sie auf eine Generalisierung von Aussagen aus ist, die das Nicht-Identische logisch nicht dulden kann, anstatt sie als Momente einer inhaltlich sich forttreibenden Identität zu begreifen. Diese Totalität, in welcher sowohl die bestimmbare Gegenständlichkeit als auch die unbestimmte Übergegenständlichkeit der Dinge logische Identität besitzt, läßt sich nur in einer Logik denken, die nicht allein Unterschiede setzt, sondern das Unterschiedensein des Unterschiedenen denkt: eine Logik, die nicht allein „praktiziert“, sondern betrachtet. Diese Logik als θɛωρια oder s p e c u l a t i o ist die dialektische Logik der Sprache. Mit ihr knüpft Liebrucks an die von Hegel initiierte Rehabilitation der Spekulation als Spezifikum der Philosophie an. Für ihn ist Spekulation „die Einsicht in die immer stattfindende identitäthafte Verknüpfung des Menschen als Weltumgang mit der Wirklichkeit.“ (SuB VI/3, 188.) Der spekulative Satz bringt im Gegensatz zum Urteil die Selbstbewegung des Begriffs als Sich-voneinander-Abstoßen und Sich-aufeinander-Beziehen von Idealität und Realität,von Allgemeinem und Besonderem zur Geltung. Die formale Logik hat den logischen Status der f o r m a f o r m a t a inne, während die dialektische Logik f o r m a f o r m a n s ist. „Der Dialektiker wird daher den formalen
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Logiker nicht als Theoretiker ansehen, sondern als Aufsteller von Regeln, unter die dann subsumiert werden kann.“ (SuB IV, 540.) Für Liebrucks ist der hegelsche Begriff sogar „der am wenigsten ‚spekulative‘, da er menschliche Wirklichkeit erreicht, ohne eine Konstruktion oder Rekonstruktion von ihr zu liefern, die im Herrschaftsinteresse des Menschen über die Natur und den Menschen liegt. Dieses Herrschaftsinteresse ist religiös im Alten Testament zur Sprache gekommen, logisch dagegen in der wissenschaftlichen Philosophie seit den Vorsokratikern.“ (Handlung, 362.) Die formale Logik ist das Geschäft des Verstandes. Wie das technisch-praktische Moment ein Moment der Sprache ist, ist der Verstand ein Moment der Vernunft. Der Momentcharakter besteht darin, die eigene Funktionalität aus einer logischen Struktur zu empfangen, die der Verstand sich selbst nicht geben kann. Auch der Vernunft ist ihre eigene Faktizität entzogen; dennoch kann sie sich selbst denken. Dagegen müssen dem Verstand seine eigenen logischen Voraussetzungen „unlogisch“ erscheinen. Er funktioniert allein in der Vergessenheit seiner Genese. Sofern die formale Logik nicht nach ihren eigenen Voraussetzungen fragt, ist sie eine „anfangslose“ Logik. Dagegen ist Sprachlogik der Versuch, die eigenen Anfänge als beständig gegenwärtige Anfänge zu denken: unseren logischen Weltumgang als andauernde Verhältnisbestimmung, die in all ihren Setzungen auf die Entsprechung von Allgemeinem und Besonderem, von Wesen und Existenz, Begriff und Gegenstand als „Anfang“ der Logik vertraut. (Vgl. SuB VI/3, 629.) Alle Sprachbilder zeigen auf den Logos als dialektisch sich fortreibende Einheit von Sein und Idee, „[n]ur der Logos selbst ist nicht bildhaft, weil er der Anfang ist.“ (SuB VI/2, 73.) Der logische Anfang als die Einheit von Begriff und Existenz, die Identität von Identität und Nicht-Identität, die sich als der logische Weltumgang des Menschen vollzieht, ist nur einer. Er ist der absolute Anfang. „Wie der Mensch nur einen Geist hat, so gibt es nur eine Logik, die Wirklichkeit erreicht.“ (SuB II, 168.) Es gibt nicht mehrere „Arten“ logischer Weltumgänge, sondern nur den einen Logos, in dem sich das menschliche Subjekt als Bewußt-Sein denkend und handelnd zu sich selbst, seinen Mitmenschen und zu seinen Objekten verhält. Der Weltumgang des Menschen ist immer die Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, die Liebrucks Sprache nennt. Wenn Sprache resp. sprachliches Denken sich dadurch auszeichnet, als dialektisches immer schon sein eigenes Gegenteil in sich zu tragen, dann ist deutlich, daß dialektisches Denken formallogisches nicht aus-, sondern einschließt. „Die dialektische Logik ist nur deshalb dialektisch, weil sie zugleich formallogische Logik und weil die formallogische Logik immer schon dialektische Logik gewesen ist.“ (SuB IV, 58.)¹⁰¹ Die formale Logik ist also keine
101 Damit ist auch ausgesagt, daß sich Denken nicht formallogisch vorstellen läßt, etwa im
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Logik neben einer sprachlichen, sie ist vielmehr ein Moment des sprachlichen Weltumgangs. Jede logische Äußerung gründet in dem einen Logos. „Der formalen Logik wird damit gesagt: Gott ist auch in euren Gefilden.“ (SuB VI/1, 384.) Ohne das formale, technisch-praktische Moment seines Weltumgangs wäre der Mensch nicht einen Augenblick überlebensfähig. In seiner sprachlichen Bezüglichkeit als Bewußt-Sein ist das Gegenständliche stets Moment seines In-der-Welt-Seins. „Die Bewegung der Logik geht immer über die unwirklichen Modelle der formalen Logik.“ (A. a.O., 192.) Die Modelle der formalen Logik sind unwirklich, da real: Sie beschreiben eine Welt, welche der Verstand hergestellt hat, um mit ihr verfahren zu können. „Alle Dinge tragen die Spur des menschlichen Geistes. Sonst könnten sie gar nicht bearbeitet werden.“ (SuB III, 498.) Doch wie alles Herstellen zwar sprachlich ist, so ist „das Herstellen innerhalb der Sprache nur Moment“. (A. a.O., 333.) Folglich kann der Mensch anhand der Grundsätze der formalen Logik nicht mit Vernunft erklären, inwiefern der Widerspruch von Idealität und Realität der Dinge sich zu einer Identität aufhebt, in welcher beide erst aufeinander applizierbar sind. Das hat Kants transzendentallogische Kritik der formalen Logik vorgeführt. Die Reduktion der erfahrenen Natur zu formalen Identitäten behauptet ihren Geltungsanspruch aufgrund eines formalen Postulats, das bei Kant als Prinzip der transzendentalen Apperzeption erscheint, d. i. das Postulat eines rein formalen, alles Vorstellen und alle Begriffe begleitenden und bedingenden c o g i t o , dem als synthetische Einheit aller Beziehungen des Vorstellbaren Objektivität zukommen soll. Die Gegenstände der Erfahrung sind als solche konstituiert in der transzendentalen Apperzeption, die einen allgemeinen Zusammenhang dieser Erfahrungsgegenstände verbürgt. Das gegenständliche Erscheinen der Dinge ist deren Sein als Dasein, dieses aber ist formallogisches „Gesetztsein“. (SuB VI/2, 193.) „Die Entwürfe und Resultate moderner Logik gehören in die Kategorie des Scheins, sofern von ihnen nicht anzunehmen ist, daß die in ihnen bezeichneten Strukturen auf die Wirklichkeit der Dinge zutreffen.“ (Vgl. SuB VI/1, 20.) Als Dasein unter Gesetzen ist Natur nicht eine Natur, über die wir uns begreifen, sondern über die wir uns verständigen. „Natur erscheint darin [in der Positivität der Vorstellung von ihr, S. L.] nicht durch Gott für uns vermittelt, nicht durch den vernünftigen Umgang mit dem Nächsten vermittelt, sondern als un-
Sinne einer „Denk(ungs)art“. Denken ist keine „Art“. Das würde voraussetzen, daß es noch andere Arten und eine sie vereinende Gattung gäbe, oder daß die „Art Denken“ selbst zur Gattung ihr zu- und untergeordneter Gattungen werden könnte. Arten sind positivistische Klassifizierungen. Sie kommen Dingen zu bzw. wird als „Ding“ behandelt, was durch sie klassifiziert wird. Liebrucks gibt selbst zu, daß die Rede von den „Denkungsarten“, eine von Kant in dessen Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft häufig benutzte Wendung, die er mitunter zitiert, irreführend ist. (Vgl. a. a.O., IX.)
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vermitteltes Unmittelbares, das wir als Diebe in der logischen Nacht gerade noch schnell ergreifen und den Komplicen Wissenschaft und gemeiner Menschenverstand in die Hände arbeiten können […]. Erkennen präsentiert sich darin nicht als Versammlung der Dinge im τɛμɛνος der Logik, der ein Tempelbezirk der Versammlung nicht voneinander isolierter Einzelner, sondern miteinander Verkehrender ist. Erkennen präsentiert sich darin als außerlogisches Zutreffen auf Außerlogisches.“ (A. a.O., 325.) Außerlogisch sind die Gegenstände des technischpraktischen Weltumgangs, sofern ihre Identität eine formal bestimmte, nicht eine im Wechselspiel von Form und Inhalt sich entfaltende Identität ist. Als formale Identität sind sie uns immer fremd; darum können wir sie als Mittel zu von uns bestimmten Zwecken einsetzen. „Wenn ich die Dinge beherrschen können soll, so ist erste und letzte Voraussetzung dazu, daß sie als dem Ich fremde, d. h. unter der Form der reinen Äußerlichkeit angesehen werden müssen.“ (SuB IV, 367.) Der Selbstzweck des zum bloßen Gegenstand Gesetzten wird unsichtbar in der Nivellierung auf reine Formalität. Diese Nivellierung ist Grundvoraussetzung jeglichen Handelns. „Nicht die Wirklichkeit der Natur läßt sich von uns behandeln, sondern ihre nichtige Seite.“ (SuB VI/1, 205.) Liebrucks bezeichnet die formale Logik als „nivellierende Redeweise“. (SuB VI/3, 40.) „Formallogisches Denken denkt Modelle, Zustandsquerschnitte usw. Es denkt niemals Wirklichkeit. Es ist nihilistisch.“ (SuB III, 22.) Gegenstand der formalen Logik ist das Tatsächliche, das Gegenständliche, d. i. das zur sich durchhaltenden Identität gesetzte. Tatsachen ergeben sich aufgrund hergestellter logischer Regeln: Sie sind Entwürfe und müssen als solche nicht auf die Wirklichkeit zutreffen. Doch auch Tatsachen verweisen auf etwas, das noch nicht oder nicht mehr Fakt ist, eventuell auch nie eintritt; das verrät ihren Sprachcharakter, der laut Liebrucks aber nur ein „indirekter“ ist. (Vgl. SuB VI/1, 27.) Sprache ereignet sich. Tatsachen sind dadurch definiert, Zustandsquerschnitte dieses Ereignens zu geben. Mit beweglichen Größen kann man nicht rechnen, also werden lebendig sich forttreibende Identitäten auf formale Identitäten reduziert. Die inhaltliche Reduktion dient formaler Verallgemeinerung. Formal faßbar sind die Dinge in bezug auf ihre d i f f e r e n t i a e s p e c i f i c a e . Die ausschließliche Verallgemeinerung eines Aspekts ist Exklusion aller anderen. Formale Identität benennt, was wir von der Natur wissen können. Wissen ist Elementarisierung, institutionalisierte Erfahrung. Wissen ist der Gegenstand der Wissenschaft, es ist als solcher immer „Herrschaftswissen, bei Platon so gut wie bei Bacon.“ (SuB VII, 128.)¹⁰² So gehören Handwerk und Wissenschaft zusammen. (Vgl. SuB III, 422.) Bevor der Mensch die Voraussetzungen
102 „Jedes Herrschaftsdenken sucht nach Gesetzlichkeiten, unter denen Prognosen anstellbar sind.“ (SuB VI/3, 94.)
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seines Denkens und Handelns denkt, handelt er schon. Er muß es – nur den Überlebenden ist der Luxus vergönnt, über das Leben zu sinnieren. Keine Philosophie wird daher das „Handwerkliche“ geringschätzen; aber sie selbst setzt bei der Überwindung des „Handwerklichen“ ein. Eine Überwindung, die das Überwundene in sich aufhebt: „Das Handwerk wird immer mitgeführt, Reflexion bleibt Instrument des Philosophierens.“ (Ebd.) Dennoch lebt Philosophie „nicht in der handwerklich-stummen Ebene der menschlichen Herstellungen, sondern in der sprachlichen von Frage und Antwort.“ (Ebd.) „Als Vorbereitung für die Einsicht in die Sprachlichkeit des menschlichen Denkens ist die Einsicht notwendig, daß formale Logik ihren ausschließlichen Gültigkeitscharakter nur in der Zubereitung der Welt der Positivität hat.“ (SuB IV, 67 f.) In dem Ausdruck „Zubereitung“, den Liebrucks oft für das Wirken der formalen Logik benutzt, läßt sich die Ambitioniertheit der formalen Logik darstellen: das „zu“, das Immer-schon-auf-etwas-gerichtet-Sein, das teleologische Moment, der Zweck; etwas zu etwas bereiten, bereit zu machen, um damit wiederum etwas zu erreichen.¹⁰³ So könnte man von der künstlerischen oder mythischen Augenblickserfahrung der Welt nicht sprechen. In ihnen begegnet und bedeutet Welt. Als bedeutend erscheint eine Identität über das Zugrundegehen ihrer Vermittlungsform. Bedeutend ist der Inhalt, der sich in die Form entläßt, in ihr erstirbt, doch in der Flüchtigkeit des Ausdrucks bereits ins Überzeichenhafte auferstanden ist. Jede sprachliche Form ist bedeutend, aber nicht jede sprachliche Form bringt ihr Bedeuten zur Geltung. Die formale Logik spricht einem Moment der Bedeutung allgemeinen Charakter zu. Sie „hat ihren Namen daher, daß sie den Inhalt von der Form trennt.“ (SuB III, 42.) Liebrucks nennt diese Bewußtseinsstufe „Verwesung“: das einseitige Aufgehen in der Setzung von formalen Allgemeinbegriffen als Wesensbestimmung. Alle Termini, die auf „-heit“ oder „-keit“ enden, drücken etwas Wesenhaftes aus. Im wesenhaften Allgemeinbegriff konzentriert sich, was phänomenologisch als „allgemein“ bestimmt werden kann. Innerhalb der Sprache kann ein solches Wesen immer nur ein Aspekt unter anderen sein. Es ist postulierte Idee, ein Ordnungskriterium, um der andringenden Vieldeutigkeit der Erfahrung Herr zu werden. Die Welt als Dasein unter Gesetzen ist aber laut Liebrucks eine „Träumerei des Verstandes.“ (A. a.O., 93.) Die Denk- und Sprachform dieser „Träumerei“ ist die Vorstellung. Sich etwas vor-stellen, meint, etwas vor sich hinstellen. Das Vorgestellte ist das vor sich hingestellte Objekt. Vor sich gestellt, kann es den Blick dafür versperren, daß es nicht für sich steht, sondern sein Eigendasein aus der sprachlichen Beziehung empfängt, die das es betrachtende
103 „Unsere These war, daß die formale Logik die Logik einer teleologischen Herstellung gewesen ist.“ (SuB VI/3, 97.)
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Subjekt zu anderen ihm entsprechenden Subjekten unterhält. Formale Logik ist perspektivisch, eindimensional: Der Blick des Subjekts fällt in ihr nur auf das Objekt. Diese Subjekt-Objekt-Beziehung ist streng hierarchisch. „Die Abstraktion von der Lebendigkeit läßt den Gegenstand als einen fremden erscheinen, vor dem jede Scheu verschwindet.“ (A. a.O., 9.) In Hinsicht auf das Gegenständliche ist der Mensch skrupellos, denn er bleibt seinen Gegenständen stets gegenüber. „Er kann mit ihnen nicht ‚sympathisieren‘, von Identifikation zu schweigen.“ (A. a.O., 7.) Was dem Menschen sein Überleben sichert, kann schnell zu dessen schärfster Waffe werden. Die Monopolisierung des Umgangs mit Welt als Ansammlung von Objekten „endet in der Vernichtung alles unwerten Lebens.“ (A. a.O., 46.) Was in einer allein technisch-praktischen Weltbehandlung, deren korrespondierende Geisteshaltung leicht zur Ideologie werden kann, nicht ins vorgefertigte Schema paßt, muß dem Schematismus zum Opfer fallen. Nach Liebrucks’ eigener Erfahrung ist dies nicht nur im übertragenen Sinne gemeint. Die Erfahrung des zweiten Weltkriegs mag die in Liebrucks’ Werk deutlich zu verzeichnende Skepsis gegenüber technischem Fortschritt befeuert haben: Die präziseste und fortschrittlichste Technik ist in damaliger Zeit die der Tötungsmaschinerie gewesen – ein trauriger Fakt, der auch in heutiger Zeit noch aktuell zu sein scheint. Die zum Teil recht forsche Kritik Liebrucks’ an den Wissenschaften und dem modernen Siegeszug der Technik sollte dennoch nicht zu der Annahme verleiten, Liebrucks stehe einem wissenschaftlichen Fortschritt grundsätzlich entgegen. Liebrucks ist kein Technophobiker, er schließt auch nicht aus, daß es eine wissenschaftliche Logik geben könnte, die der Sprachphilosophie gemäß denkt. (Vgl. SuB IV, 89 f.) Desgleichen ist er sich „bewußt, daß die Herrschaft des Weltbildes der Positivität erst dann eine Einschränkung erfahren kann, wenn der Mensch technisch-sozial so weit gekommen sein sollte, daß er nicht mehr im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen muß, sondern die Erde für sich arbeiten läßt. Das kann er nur auf dem Boden der Welt der Positivität. Diese aber muß ihm zum Boden werden und darf nicht, wie heute, sein ganzes Denken, ja, was schlimmer ist, seine Erfahrungsmöglichkeiten blockieren.“ (SuB V, 304.) Liebrucks’ Einschätzung nach hat sich der technisch-praktische Aspekt des Weltumgangs verabsolutiert. Diese Verabsolutierung birgt die Gefahr, die Technik vom Diener des Menschen zu dessen Feind werden zu lassen. „Jede Verselbständigung der Momente ist Abstraktion, die logische Form des Tötens.“ (SuB VI/2, 120.) Liebrucks betont, es werde den Naturwissenschaften „nichts bestritten als ihre Verabsolutierung.“ (SuB IV, 58.)¹⁰⁴ Naturwissenschaften lassen als Erkenntnis
104 „Nicht die Wissenschaften werden hier angeklagt. Sie haben mit dem absoluten Geist nur
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gelten, was in formalen Schlußverfahren glatt aufgeht. Liebrucks mahnt allerdings zu bedenken, „daß das menschliche Denken in seiner Formalität nicht aufgeht.“ (SuB IV, 237.) In der Begrenzung des Denkens auf die Formalität liegt – dies ist seit Kant offengelegt – die Begrenzung der Erkenntnis auf Gegenstände der Erscheinung. Ein Denken des Denkens selbst muß aufgrund dieser Beschränkung der Erkenntnisreichweite ausbleiben. Die formale Logik dient der Erkenntnis des Möglichen. Sie ist Logik als Lebensmittel, zum technisch-praktischen Gebrauch gemacht. Hierzu muß sie nicht die Frage nach der Wahrheit ihrer Setzungen stellen, solange diese funktionieren. Ein Mensch, der sich in der Reichweite seines Denkens auf dieses Moment der Logik beschränkt, verdammt sich selbst zu nicht mehr als zum Funktionieren und Überleben. „Die Logik als Lebensmittel ist nicht die Logik des Lebens und des menschlichen Weltumgangs.“ (SuB VI/1, 143.) Liebrucks setzt der Erkenntnis des Möglichen daher „die Erkenntnis von Wirklichkeit“ gegenüber. (Gedanke, 127.) Was den Menschen zum Menschen macht, ist nicht seine Überlebensfähigkeit. Diesbezüglich wird er vermutlich immer den Tieren unterlegen bleiben, selbst wenn seine technisch-praktischen Fähigkeiten ein beachtliches Niveau erreichen. Was den Menschen zum Menschen macht, ist seine vernünftige Befähigung zur Frage nach Wahrheit und vor allem zu der Frage, was Wahrheit für ihn sein kann. Wo aber die Methode ihre Wahrheit generiert und nicht die Wahrheit ihre Methode, verkommt die Wahrheitssuche zum Fanatismus. (Vgl. SuB VI/1, 494.) Sofern sich der Mensch „meistens nur von seinen Herstellungen her begreift, hält er diese Welt der Positivität für die einzige ihm zugängliche […].“ (SuB IV, 228.) Wenn Erkenntnis sich nur auf die Welt der Erscheinungen, also der in ihrer Gegenständlichkeit hergestellten Gegenstände bezieht, ist sie selbst Herstellung. (Vgl. a. a.O., 71.) Soll die Herstellung der Erkenntnis Platz machen, muß die formallogisch vorgenommene „Position ihrerseits als gesetzte Position erkannt werden, und es muß darüber hinaus auch noch diese gesetzte Position als Gesetztsein erkannt werden können.“ (SuB VI/1, 196.)
insofern zu tun, als sie, wie alles, aus ihm leben. Aber sie tun gut daran, innerhalb ihres Gebietes, z. B. als Theologie, Gott draußen zu lassen. Dadurch sind sie definiert. Solange sie sich in diesen Grenzen halten, werden sie immer voranleuchten.“ (SuB V, 248 f.) Theologie wird von Liebrucks als Wissenschaft neben Physik und Mathematik gestellt. Als Wissenschaft rede sie gerade nicht von Gott, nicht vom Absoluten, vielmehr widme sie sich der Formulierung von Leitsätzen, der Historie des Glaubens, der religionsphänomenologischen Analyse. Damit unterscheidet Liebrucks Theologie von der Religion, welche die Verortung des Besonderen im Allgemeinen zu ihrem Thema hat und somit Rede vom Absoluten i n c o n c r e t o ist. Liebrucks beklagt die Verdrängung der Religion durch die aufgeklärte Theologie: „Inzwischen aber haben sich die Wissenschaften auch der Religion bemächtigt.“ (A. a.O., 273.) Er gesteht der Theologie nicht zu, als Wissenschaft zugleich ihren Wissenschaftsstatus zu reflektieren und in dieser Selbstthematisierung von den übrigen Wissenschaften unterschieden zu sein.
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Die Grenzen der formalen Logik sind nicht formallogisch zu überwinden oder auszuweiten. Mit einer Wendung aus dem Lukasevangelium mahnt Liebrucks: „Erst wenn die Toten ihre Toten begraben, spricht der Logos.“ (SuB VI/2, 164; vgl. Lk 9, 60.) Die formale Logik „ist die im Totenreich angesiedelte Logik“ (ebd.), eine wie Hegel sagt, „Liebe um des Toten willen“.¹⁰⁵ Diese „Liebe“ kann nur lieben, was sie sich zum Gegenstand zu machen, insofern aber zu unterwerfen vermag. Die „Liebe um des Toten willen“ ist Verrat der Liebe als Bestehen-Lassen der Freiheit des Anderen, der als der Andere geliebt, als sich selbst entsprechend anerkannt wird. Liebe, so wird zu zeigen sein, ist Inbegriff von Dialektik, als solche aber Inbegriff der Sprachlichkeit. Liebe als Zur-Geltung-Bringen der sprachlichen Bezüglichkeit von Mensch, Mensch und Welt als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung wird in der sprachphilosophischen Reflexion auf das Gebot der Nächstenliebe noch vorzuführen sein.¹⁰⁶ Um auf den Begriff der Erkenntnis zurückzukommen, genüge an dieser Stelle der Hinweis, daß „der sprachliche Satz [..] logisch höherwertig [ist] als das Urteil […].“ (SuB IV, 541.) Der sprachliche Satz, welcher wohl mit dem spekulativen Satz gleichzusetzen sein wird, vermag mehr auszusagen, als – im handgreiflichen Sinne – festgestellt werden kann. In ihm ist die Möglichkeit des Andersseins des Ausgesagten präsent gehalten. Darin reflektiert er sich selbst als Aussagesatz und somit die Gegenständlichkeit seiner Gegenstände. Ein Urteil behauptet seine Geltung aufgrund seiner systematischen Geschlossenheit. Ein System kann sich nicht selbst mit den eigenen Mitteln überwinden, weil es sich
105 Zur Erläuterung des von Hegel geprägten Ausdrucks „Liebe um des Toten willen“ erscheint mir Diltheys Darstellung treffend: „Die Einigung des in der innersten Natur Getrennten auf der Stufe der Verstandesansicht vollzieht sich durch die Unterordnung unter fremde Macht, und so verbleibt sie in den Schranken eines von außen verknüpfenden Herrschaftsverhältnisses. Der Mensch sieht sich hier als Mittelpunkt der Dinge. Er fühlt sich als Herr über die Objekte und in der Gunst des regierenden Gottes. Je weiter sich aber die Gemeinschaft mit seinesgleichen ausdehnt […], desto mehr verliert der einzelne an seinem Wert, an seinen Ansprüchen, denn sein Wert war der Anteil an der Herrschaft. Das ganze Elend dieses Zustandes macht sich nun geltend. Es herrscht die Liebe um des Toten willen. Alles ist dem Menschen Außenwelt, Stoff, an sich gleichgültig, er selbst ein der Natur im innersten Entgegengesetztes, Selbständiges. Die Materie ist für ihn absolut. […] Er ist hier nur als Entgegengesetztes: das Entgegengesetzte ist sich gegenseitig Bedingung und Bedingtes; keines trägt die Wurzel seines Wesens in sich; jedes ist nur relativ notwendig. […] Dieser notwendigen Konsequenz kann man nur entgehen, wenn man den ganzen Standpunkt des Verstandes aufgibt. In der Liebe erhebt sich das Individuum zur Einheit des Alllebens und vermag die Verstandesansicht aufzulösen. Die echte Liebe findet nur unter Lebendigen statt, die an Macht sich gleich sind. Gier ist die wahre Vereinigung, die alle Entgegensetzung ausschließt.“ (Dilthey, Wilhelm, Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Stuttgart/Göttingen 19684, 97 f.) 106 Vgl. hierzu das Kapitel Nächstenliebe als sprachliches Handeln.
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dann nicht widersprechen könnte. Nur im Widersprechen und dem Aufheben des Widerspruchs liegt aber ein Weiterkommen des Denkens, eine Denkbewegung, ein Prozeß. Erkenntnis hat man nicht, sie will erlangt werden – immer wieder. Erkenntnis ist kein Habitus. Nur das dialektische Denken ist zur Selbstkritik fähig, da es an sich bereits Schaffen und Aufheben von Widersprüchen ist. „Zur Wirklichkeit des Menschen gelangen wir, indem wir die Grenze des selbsterbauten Gefängnisses überschreiten. Dieses Überschreiten geschieht nicht durch einen unmittelbaren Ausbruch, sondern innerhalb der Logik.“ (SuB VI/2, 56.) Erkenntnis ereignet sich, wo etwas distanziert, als vom Erkennenden Unterschiedenes betrachtet werden kann und dabei zugleich zu diesem in Beziehung steht. Hier wird die dialektische, die widersprüchliche Bewegung des Geistes deutlich. Im Erkennen verwirklicht sich Bewußt-Sein. „Entweder also gibt es Erkenntnis und Erkenntnis selbst liefert täglich den Beweis, der existierende Widerspruch selbst zu sein, oder es gibt keine Erkenntnis, ja kein Bewußt-Sein.“ (SuB IV, 22.) Erkenntnis als Bewußt-Sein definiert Erkenntnis als „die Einheit von Einheitsbildung und Bestehenlassen der […] Veränderung, wenn Erkenntnis nicht Erkenntnis des Abzählbaren allein sein soll, sondern Wirklichkeit als Wirklichkeit auch nur an einer Stelle berühren können soll. Erst wenn bewiesen wäre, daß Wirklichkeit nur affin zu ihrer Berechenbarkeit wäre, wenn die Versammlung in die Einheit schon ihre erschöpfende, nicht nur notwendige Bedingung wäre, wäre die Versammlung in die Einheit schon die ganze, dem Menschen allein mögliche Erkenntnis.“ (A. a.O., 471.) Die Erfahrung lehrt uns eine Welt, die ebenso berechenbar wie unberechenbar ist. Nicht einmal mit uns selbst können wir rechnen. Mit uns identisch sind wir nicht als mathematische „1“, sondern vermöge unserer Vernunft, die sowohl unsere Selbstentsprechung als auch unseren Selbstwiderspruch als unsere Identität denken läßt. Die Wortgebung verweist hier bereits auf die logische Struktur, in welcher das Aushalten dieser Spannung als Struktur von Identität erfolgt: in der Sprache. Eine Logik, die einen Begriff vom Menschen formulieren will, muß Liebrucks zufolge eine sprachliche Logik sein. „Dieses Denken [der dialektischen Sprachphilosophie, S. L.] ist die Bewegung innerhalb der Bahn der Dreistrahligkeit der semantischen Relationen. Es kommt nicht von der Sprache her, sondern ist in seinem innersten Kern Sprache.“ (A. a.O., 69.) Daher ist in ihr Erkenntnis keine Herstellung. „Nur die Handlung ist teleologisch, nicht die Erkenntnis.“ (A. a.O., 482.) Daher fragt Liebrucks „nach dem sprachlichen Raum, von dem der formallogische ein Teilraum ist, wobei Raum nicht mehr Bedeutung eines Gebildes hat.Wir fragen nach den sprachlichen Bedingungen der Möglichkeit der Bildung verschiedener logischer Räume.“ (SuB VI/2, 113.)¹⁰⁷
107 Liebrucks macht deutlich: „Meine Fragestellung ist nicht, wie bei Dilthey und Husserl, die
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Mit diesem Anspruch, über das der Wissenschaft zugängliche Wissen hinaus nach der Wahrheit zu fragen, beerbt Liebrucks mit seiner Sprachphilosophie die einst von der Aufklärung überwunden geglaubte Metaphysik. (Vgl. Sprache und Metaphysik, 17.) „Die Frage, wie es mit der menschlichen Erkenntnis bestellt sein mag, gehört nicht in die transzendentale, sondern in die metaphysische Erörterung.“ (Gedanke, 123 f.) Sprachphilosophie beerbt die Metaphysik, sofern diese nicht vom Menschen als einem prinzipiellen Urteilssubjekt sprach, sondern „von der menschlichen Erfahrung in Religion, Geschichte und Kunst und von der wissenschaftlichen Erfahrung, soweit diese noch menschlich ist.“ (SuB VI/1, 154.) Sprachphilosophie betrachtet nicht das Regelhafte an der Erfahrung als logisch, sondern denkt das Erzeugen von Identität über erfahrene Selbstwidersprüche als Darstellung des Logischen, des Logos. Solche Logik erst nimmt die menschliche Erfahrung ernst, die nicht immer gesetzmäßig verläuft. „Die eigene Erfahrung ist immer metaphysikalisch, weil sie logisch ist.“ (Denken, 179.) Die Logik, die sowohl das Formale, Gegenständliche als auch das Übergegenständliche zu ihrem Moment hat, ist die Logik der Sprache. Eine diese Logik begrifflich entfaltende Philosophie ist laut Liebrucks eine „Revolution, die uns zum Menschen führt“. (A. a.O., 220.) Damit sei zu Liebrucks’ Rede von drei Revolutionen der Denkart übergeleitet.
H. Die drei Revolutionen der Denkart „Es gibt, so weit mir bekannt, 3 Revolutionierungen der Logik, die des Mythos durch die Errichtung der formalen Logik, die Kants durch die Reflexion auf ihren Erkenntnischarakter (transzendentale Logik) und die Hegels, die den Erkenntnischarakter der Logik, die sie als rein und formal versteht, bestreitet.“ (SuB VI/1, 61.) Von Platon bzw. Aristoteles, Kant und Hegel ist zu sagen, „daß sie jeweils den logischen Status des Philosophierens verändert haben.“ (SuB VI/2, 337.) Diese Revolutionierungen, die Liebrucks das Gedankengerüst seiner eigenen Philosophie vorgeben, weil „die einmal begonnene Revolution der Denkungsart [..] sich nicht mehr rückgängig machen“ läßt, sollen kurz vorgestellt werden. (SuB V, 307.)
nach einer Lebenswelt, sondern nach der Welt des Geistes, in dessen Räumen auch die Welt der Positivität ihren Platz hat.“ (SuB IV, 68.) In der sprachlichen Logik können technisch-praktisches und philosophisch-ethisches Moment des Denkens ohne Rivalität nicht allein koexistieren, sondern sich aneinander erzeugen. „Die Sonne unserer Erkenntnis ist die Intention, die sowohl auf die Sonne als einen Gott als auch auf sie als den Gasball geht und zugleich auf das jeweilige Bewußtsein zurückstrahlt. Die Einheit beider Wege ist Bewußt-Sein.“ (SuB V, 334.)
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Die erste Revolution der Denkart initiiert Platon. Sie etabliert die Herrschaft eines logisch abstrakten Allgemeinen. Platons Philosophie markiert für Liebrucks den Übergang vom mythischen zu einem logischen Denken, von dem aus Aristoteles „den ersten Schritt in eine wissenschaftliche Philosophie getan“ hat. (SuB VII, 68.) Platon, selbst vor allem in seinen späten Jahren zum dialektischen Denker geworden, steht für die Einführung des Momentes der Entfremdung als Movens des Denkens. Seine Unterscheidung von Idee und realem Sein im Sinne einer Unterscheidung von Urbild und Abbild ist in der Rezeption mehr und mehr zu einem Dualismus stilisiert worden. Ob die Härte dieser Differenzierung dem philosophischen Anliegen Platons entspricht, sei dahingestellt; mit Sicherheit ist aber er es, der in seinem logischen Denken die Transzendierung des Unendlichen beschließt. Wirklichkeit und Realität erscheinen in der Folge als zwei Welten, die durch einen Hiatus getrennt werden, den Platon logisch nicht zu überwinden vermochte. Platons Philosophie ist ein Hinweis auf die Vermitteltheit der Dinge, deren logische Struktur er aber nicht begrifflich zu erfassen vermag. Erst Hegel führt den von Platon formulierten Gedanken einer Methexis näher aus, welche die Partizipation des Wahrnehmbaren am Idealen denkt. Die erste Revolution der Denkart ist die platonische Überwindung des mythischen Kosmosverständnisses, daß die begegnende Welt schon die wirkliche sei. Die Weltwahrnehmung des Mythos erscheint platonistischem Denken zunehmend als Täuschung. Das die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen bezeugende u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o wird abgelöst von einer „übersinnlich“ erscheinenden Begriffsbildung: Geist und Sinnlichkeit driften philosophisch auseinander. Der Denker zieht sich in seine Endlichkeit zurück, in den Bereich, innerhalb dessen er alles wissen kann, sofern Wissen ein Verfügen ist. Platon begründet somit letztlich das Denken einer Realität, der auch die Götter unterstehen. Die M o i r a betrifft Menschen wie Götter, für beide gelten dieselben sittlichen Forderungen. „Das war der Tod der griechischen Götter im Lichte der platonischen Ideen.“ (SuB III, 380.) Platons Verdienst ist es, die Aktivität des Menschen im Umgang mit der Welt zu Bewußtsein gebracht zu haben. Zuvor dominierte das Moment der Empfänglichkeit, der Mensch sah sich als gelenkt durch göttliche Entscheidungen. Die zweite Revolution der Denkart, für die der Name Immanuel Kant steht, ist zugleich eine Vertiefung der Vorgaben Platons und eine Kritik der von Platon etablierten formalen Logik. „Kant hat den Vernunft-forderungen die Maske vom Gesicht genommen und sie als bloße Forderungen entlarvt. Aber er hat sie keineswegs gestürzt. Er hat ihre Herrschaft so unangetastet gelassen […]. Und doch hat Kant gerade durch die Konsequenz seines Vorgehens die dialektische Befreiung vorbereitet.“ (SuB IV, 94.) Kants transzendentale Logik ist erste Eindämmung des Absolutheitsanspruchs der formalen Logik.
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In seiner Kritik der reinen Vernunft unterzieht Kant Methode und Anspruch metaphysischer Erkenntnisbemühungen einer erkenntnistheoretischen Analyse. Er prüft die Grundsätze der formalen Logik, denen Begriffe und Urteile genügen müssen, wenn sie als vernünftig einsehbar, so verstanden aber als wahrheitsgemäß gelten können sollen. Als „wahr“ gelten Aussagen, die sich durch Widerspruchsfreiheit und Kohärenz logischer Folgerungen auszeichnen. Die Geltung und Vernünftigkeit dieser Urteilsfindung stellt Kant nicht in Abrede, aber die Reichweite ihrer Aussagekraft. Das Revolutionäre seiner Erkenntnistheorie besteht im Aufzeigen und Benennen der unhinterfragt vorausgesetzten Prämissen und Begriffe, anhand derer sowohl Naturwissenschaft als auch Metaphysik ihre Schlußfolgerungen ziehen. Kants Transzendentalphilosophie erklärt die Beschränkung des Geltungsbereichs der formalen Logik auf die Dinge, wie sie aufgrund der Verstandestätigkeit als Gegenstände erscheinen. Einen Schluß von dieser Welt des Bedingten aufs Unbedingte verwirft Kant als Ontologie, als Behauptung von Sein für einen Bereich, der sich als erfahrungsentzogener auch der verstandesgemäßen Erkenntnis entzieht. Der Schluß vom Bedingten auf das Unbedingte ist eine m e t a b a s i s e i s a l l o g e n o s , da die formallogischen Kategorien allein in ihrer positiven Funktion Legitimität besitzen: Sie dienen der Zubereitung der Welt der erscheinenden Dinge. Die formale Logik wird mit Kant endgültig als „Denkungsart“ des technisch-praktischen Weltumgangs bestätigt. Die Zäsur, die Kant in der Entwicklung der Philosophie setzt und die für alle nachfolgende Philosophie (sofern sie als vernünftig gelten will) maßgeblich ist, vollzieht sich als das Ziehen einer aus seiner Sicht unüberschreitbaren Grenze der menschlichen Erkenntnisbemühungen als formallogischer. Seine formallogische Definition von Erkenntnis schreibt er Naturwissenschaft und Philosophie gleichermaßen vor. Kants transzendentalphilosophische Fragestellung zeigt, daß er mit ihr die Leiter einer den Widerspruch als konstitutives Moment einer wahren Aussage behauptenden Philosophie schon weiter hinaufgestiegen ist, als ihm bewußt wird: Wenn er erklärt, Erkenntnis könne sich nur auf positive Erscheinungsgegenstände beziehen, wie kann er dann überhaupt nach der Erkenntnismöglichkeit eines nicht-positiven Grundes der Erkenntnis fragen? Er muß dazu selbst außerhalb des Denkens stehen, das er der Kritik unterzieht. Er beschreibt einen Gegensatz zwischen einer verstandesgenormten Welt der Möglichkeiten und einer von diesen Normen unantastbaren Wirklichkeit. Um aber einen Gegensatz erkennen und beschreiben zu können, muß man über ihn hinaus sein; steckt man noch in ihm, kann er einem nicht zugleich vor Augen stehen. Überwindung eines Gegensatzes, ohne ihn aufzulösen – das kann nur dialektisches Denken. Kants bloße philosophische Fragestellung offenbart also die Dialektik seines Denkens, die von ihm
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selbst weder bemerkt noch beabsichtigt wird. „Kant gehört in die Reihe jener größten Denker, die mehr mitteilen als in ihrem Bewußtsein liegt.“ (SuB VI/2, 282.) Kants Vermächtnis wiegt schwer. „Jede nach Kant auftretende Ontologie muß durch die ‚enge Pforte‘ der sich ihrerseits für wissenschaftlich haltenden Begründung Kants gegangen sein.“ Liebrucks allerdings bestreitet Kant, „daß sein transzendentallogisches Vorgehen wissenschaftlich gewesen ist, daß also der Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis selbst Beweischarakter hat.“ (SuB IV, 109.) Liebrucks versteht Kant durchaus als dialektischen Denker. Weil er die seiner Philosophie inhärierende Dialektik aber nicht ausspielt¹⁰⁸, ist Kants Kritik der formalen Logik letztlich doch eine formallogische Kritik geblieben. Kants Denken gilt Liebrucks als Revolution, weil Kant das erste Mal über die Grenzen formaler Logik hinausdenkt. Er steht an der Schwelle zur Überschreitung des einseitigen logischen Formalismus‘. Kant begreift die Unmöglichkeit von Erkenntnis der Dinge an sich als Voraussetzung für Erkenntnis.Was er nicht begreift, ist, daß sich dieses Erkenntnisdefizit nur auf die formale Logik bezieht. Sprachliche Logik ist insofern konsequente Weiterführung der kantischen „Revolution“. (Vgl. a. a.O., XII.) Das heißt für Liebrucks jedoch im Umkehrschluß: „Alles, was Kant schreibt, ist ein Lehrstück dafür, was Sprache nicht ist.“ (A. a.O., 552.) Kants Auseinanderhalten eines wahren An-sich der Dinge, das die Erkenntnisleistung des Verstandes übersteigt, und eines sinnlich erfahrbaren, gegenständlichen Erscheinens der Dinge, in welchem sie dem Verstand unterworfen sind, wird in der Herleitung des Gottesbegriffs bei Liebrucks im zweiten Teil dieser Untersuchung Thema sein. Hier genügt der Hinweis, daß Kant die Methexis der Erscheinung der Dinge an deren Wahrheit nicht logisch zu erläutern vermag. Er muß eine Affinität der Dinge in ihrem Ansichsein zu einem Dasein unter Gesetzen annehmen, ohne hierfür einen Begriff zu haben. Die bei Platon aufkeimende Methexisproblematik wird nicht dadurch gelöst, die Einheit aller Bestimmungen, die der Verstand vornimmt, im verständigen und vernünftigen Subjekt anzunehmen. Ein solches Einheitsprinzip, wie Kant es im Philosophem von der transzendentalen Apperzeption behauptet, bleibt bloß formale Identität, keine inhaltliche. Liebrucks stellt in bezug auf dessen Subjektbegriff die Frage an Kant, „ob er überhaupt nach dem Menschen gefragt hat.“ (A. a.O., 167.) Das Liebrucks diese Frage sogleich selbst verneint, wird ebenfalls im zweiten Teil dieser Untersuchung noch einmal Thema sein. Sofern die Methexis der Realität der Dinge an deren Wirklichkeit in der Sprache erfolgt, ist das Auseinandertreiben von Realität und Wirklichkeit, wie es
108 Für Kant gilt: „Die Dialektik soll nicht im transzendentalen, sondern nur im transzendenten Gebrauch der Vernunft bestehen.“ (A. a.O., 100.)
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Kants Metaphysikkritik vollzieht, auch eine Reduktion der Sprache. Sprache und die ersprochene Welt werden beide auf ihren instrumentellen Aspekt reduziert. In einer auf bloße Instrumentalität reduzierten Sprache der Formallogik, die nur Behandelbarkeit stiftet, haben die Dinge kein eigenes Dasein – sie sind bloße Setzungen und Operanden des technisch-praktischen Weltumgangs. Unter dem technisch-praktischen Blick auf die Dinge, welches der Blick der formalen Logik ist, gerät die Eigenbedeutung der Dinge, das an ihnen Unbestimmbare, in einen toten Winkel. Die Dinge sind es, die sich nach den Erkenntnisbedingungen richten müssen, es richtet sich nicht die Erkenntnis nach ihnen. Nach Kant muß man die Natur „nötigen“, unsere Fragen zu beantworten. Dieses Nötigen ist Hauptmerkmal der „modernen“ Wissenschaft. Sie spielt es aus im Experiment: In Versuchsaufbauten ist man bemüht, die Natur so reagieren zu lassen, daß man ihr ihre Geheimnisse entlockt. Bei Kant wird (laut Hegel und auch laut Liebrucks) Erkenntnis zum Werkzeug degradiert – sie fragt nicht mehr nach der Wahrheit, sondern dient der Behandelbarkeit der Welt. Streng genommen fundiert Kant keine Revolution der Denkart, sondern eine Reduktion: die Beschränkung menschlichen Erkenntnisvermögens auf den Bereich der erscheinenden Dinge. (Vgl. a. a.O., 183.) Kant leitet über zu einer Selbstreflexion der Logik – allerdings um den Preis der Aussparung der Frage nach der Wirklichkeit. Er zeigt eher die Grenzen der menschlichen Vernunft auf. In dieser vermeintlichen erkenntnistheoretischen Bescheidenheit liegt laut Liebrucks auch Anmaßung. „Die Anmaßung der Kantischen Kritik liegt in folgendem: Er zeigt die Anmaßung des reinen Verstandes auf, sich auf ein Gebiet zu erstrecken, das der Sinnlichkeit entbehrt. Um das aufzuzeigen aber führt er als diese Kritik eine stärkere Trennung von Verstand und Sinnlichkeit (zwei Erkenntnisstämme!) ein, als alle Metaphysik vor ihm.“ (A. a.O., 77.) Geistiges Leben und sinnliches Erleben, Idealität und Realität logisch zusammendenken zu können, ist erst Hegel gelungen. So geht auf diesen die dritte und bisher letzte Revolution der Denkart zurück, der Liebrucks’ Einschätzung nach „im logischen Sinn der Fortsetzer Kants gewesen ist.“ (SuB VI/2, 282.)¹⁰⁹ Zum „Fortsetzer“ Kants ist Hegel aber vor allem geworden, indem er die von Platon
109 „Die Logik der Wissenschaft ist die transzendentale Logik. Die Wissenschaft der Logik dagegen ist die, die danach fragt, als was Sein, Wesen und Begriff der transzendentalen Apperzeption gedacht werden muß, wenn die logische Form, die doch die Versammlung der Mannigfaltigkeiten unter die Einheit der transzendentalen Apperzeption ist, nicht logische Form unter einem leeren Prinzip gewesen sein soll. Die Hegelsche ‚Logik‘ ist unter diesem Aspekt die Exposition des Verhältnisses von Tatsache und Prinzip innerhalb der Einheit der transzendentalen Apperzeption.“ (SuB IV, 631.)
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gestellte Methexisfrage zum Zentrum seiner Philosophie gemacht und die Frage nach der Erkenntnis des Wirklichen als Aufgabe der Philosophie behauptet hat. Die zentrale Kategorie der hegelschen Logik ist der Widerspruch. „In der Hegelschen Logik ist jede Kategorie in sich antinomisch, weshalb sie an ihrem Widerspruch auch immer zugrundegeht. Deshalb ist die Logik zwar in sich geschlossen wie der menschliche Organismus, aber sie ist zugleich offen – wie der Organismus.“ (SuB VI/1, 459.) Die formalen Aspekte des Denkens gehen zugrunde und damit in ihren Grund, das Denken selbst, das als Aushalten dieses Todes der Formalität als inhaltlich sich behaupten und entfalten könnende Identität aufersteht. Eine Logik aber, die sich über ihre eigenen Widersprüche forttreibt, hat in ihren Begriffen stets schon sich selbst thematisiert. Das Logische selbst ist der Inhalt seiner Begriffe. „Die Hegelsche Logik ist die einzige Logik, die uns über den Inhalt als das Logische zur Besinnung bringen kann.“ (A. a.O., 203.) Darum wird „[d]ie Logik [..] als Logik nicht um Hegel herumkommen.“ (SuB VI/3, 80.) Diese Identität der Identität und Nicht-Identität benennt schon Hegel als Sprache, ein Hinweis, den Liebrucks sich auszuarbeiten vornimmt. Hegels Logik „ist noch nicht sprachlich. Sie zeigt aber als Dialektik die logische Genesis des sprachlichen Weltumgangs.“ (SuB VI/2, 385.)¹¹⁰ Liebrucks liest sie „als ein Prolegomenon zu einer Logik von der Sprache her.“ (SuB VI/1, 17.)¹¹¹ Die hegelsche Logik bietet die ersten Ansätze „1) zu einer logischen Genesis der Sprache […], die zugleich die sprachliche Genesis der Logik ist, und daß sie 2) auf die heutigen Bemühungen um das Verhältnis von Sprache und Logik insofern ein Licht werfen kann, als in ihr die Bemühungen der Vico, Herder, Hamann und Humboldt zu ihrem logischen Recht kommen.“ (Denken, 213.) Bei Hegel ist dieser Subjekt-Objekt-Gegensatz bzw. Subjektivitäts-Objektivitäts-Gegensatz überwunden: Die Subjektivität des Denkens und die Objektivität des Gedachten sind eines. Bewußtsein ist die Einheit von Bewußtsein und Gegenstand. Daher wird die hegelsche Logik „mit dem Anspruch angefangen, daß es innerlogische Mitteilungen über Wirklichkeit gibt, daß man darüber hinaus nur vor die Wirklichkeit gelangt, wenn man sie in den λογοις aufsucht. Im Zusammenhang von ‚Sprache und Bewußtsein‘ hieße das, daß man
110 „Erst die Hegelsche Logik ist nicht Logik vom erscheinenden Wissen, also von einer Phänomenologie her, sondern eine Logik als Logik, weil sie, ohne es thematisiert zu haben, von dem Menschen, nicht als Erscheinungsgegenstand, sondern als sprachlichem Weltumgang herkommt.“ (SuB VI/3, 53.) 111 „Eine Logik von der Sprache her ist dadurch definiert, daß sie nicht von logischen Prozessen außerhalb des Bewußtseins spricht, sondern die Sprache als das bildende Organ des Gedankens ansieht und so die im Kern der formalen Logik sitzende Sprachlichkeit durch diese logischen Untersuchungen ans Licht des Bewußtseins fördert.“ (SuB VI/2, 135.) Hier denkt Liebrucks möglicherweise an Hegels Wendung vom Licht der Logik.
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nichts von der Wirklichkeit erfährt, wenn man sie nicht in der Sprache aufsucht. […] Die Logik fragt nach den Bedingungen, unter denen Vernunft nicht ein bedeutungsloser Name, sondern das Wort ist, in dem 1) etwas Seiendes 2) das Wesen 3) der Begriff vernehmbar sind. Die Frage, unter der die Hegelsche Logik steht, ist immer die Frage nach der Methexis der Idee mit der menschlichen Wirklichkeit wie die Frage nach der Verbundenheit und Getrenntheit von Subjekt und Erkenntnis und den Objekten. Als was muß das Logische angesehen werden, wenn es als solches auf Wirklichkeit hinweist? Die Sätze der Hegelschen Logik sind als Antworten auf diese Frage anzusehen.“ (SuB VI/1, 164 f.) Die hegelsche Logik gibt diese Antworten in der Spannweite der griechischen Philosophie und der christlichen Religion. (Vgl. SuB VI/3, 191.) Hegel stellt den platonischen Methexis-Gedanken in die Mitte seiner Theorie des Absoluten, die er als begriffliche Ausarbeitung der neutestamentlichen Logos-Theologie entwickelt. Das christliche Moment ist die Gegenwart des Absoluten im Endlichen, im Subjekt, das sich als solches erst aus dem Absoluten empfängt. Die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen zum thematischen Kern seiner Begriffslogik machend, hat Hegel – laut Liebrucks unwissend – „in der Logik Zugänge zum Mythos in moderner Zeit vorgetragen“. (SuB VII, 8.) Für Liebrucks ist Hegels Logik „der außerpositive Ausdruck des christlichen Denkstammes unserer Tradition. […] Sie ist der einzig mir bekannte Versuch, die christliche Wahrheit in der Ebene der Logik darzustellen.“ (SuB V, 266.) Sie liegt in der Überwindung eines Begriffs des Absoluten, das sich als Aufhebung des Gegensatzes von Subjektivität und Substantialität in jedem Moment seines Werdens als absolute Identität ausspricht: Dieses von Hegel gedachte Absolute ist die in philosophische Begrifflichkeit eingeholte Verkündigung des Logos, der in die Welt als sein Eigentum eingeht und sie zugleich immer schon überwunden hat. (Vgl. Joh 1, 1 ff.; Joh 16, 33.) In der Sprache gibt es keinen Gegensatz von Subjekt und Objekt, weil diese im Bewußt-Sein aufgehoben sind; gegenüberstehen können sich nur ein existierendes Bewußt-Sein und ein anderes – sei es ein fremdes oder mein eigenes (zwecks Selbsterkenntnis zum Gegenüber gesetzt). Eine Sprache, in welcher der Gegensatz von Subjekt und Objekt aufgehoben erscheint, findet Liebrucks in der Dichtung Hölderlins. So trägt Hölderlin die sprachliche Logik vor. (Vgl. SuB VI/2, 385.) Im Werke Hölderlins entdeckt Liebrucks sprachlich-logisch eingelöst, was Hegel in seiner Theorie des Absoluten zu denken beginnt: daß Gott sich allein über den Menschen hat, während kein Mensch allein das Göttliche auszusprechen vermag. (Vgl. SuB VII, 708.) „Friedrich Hölderlin hat einen modernen Mythos vorgetragen, der den europäischen Gang vom Mythos zum Logos logisch begreifbar macht, sobald wir die formallogischen Folgerichtigkeitsforderungen als selbst noch mythische einzusehen vermögen.“ (A. a.O., 12.) Das Werk Hölderlins wird von Liebrucks hochgeschätzt als „Einheit von Kunst und Dialektik“ bzw. „Einheit von
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Gedicht und Erkenntnis“. (SuB VII, 9.) Hölderlin teilt Liebrucks zufolge jedoch das Schicksal vieler Dichter und Denker: ihrer Zeit voraus zu sein. „Die Sprache Hölderlins ist ein dichterisches Angebot von Wahrheit, das in seiner Zeit nicht angenommen wurde.“ (Ebd.) Die Werke Hölderlins bilden als philosophische Dichtung resp. poetische Philosophie gleichsam eine eigenständige literarische Gattung. „Hölderlins Sprache ist zugleich philosophisch wie dichterisch.“ (Dichter, 224.) Allerdings kann Liebrucks’ Auffassung nach hinsichtlich der Aufsätze Hölderlins von „philosophischen Resultaten […] keine Rede sein“. (SuB VII, 394.) Ebensowenig ist der „philosophische Ausdruck Hölderlins [eine] philosophische D a r s t e l l u n g , sondern die Anstrengung, auch philosophisch die Richtung zu gewinnen […].“ (A. a.O., 396.) Liebrucks erklärt eine grundsätzliche philosophische Nähe der Werke Hegels und Hölderlins, nicht aber Übereinstimmungen in einzelnen Begrifflichkeiten. Liebrucks behauptet nicht, „Hölderlin habe das, was bei Hegel ausgeführt steht, auch schon gedacht. Ich gehe vielmehr von der philologisch nicht nachweisbaren Voraussetzung aus, daß es eine Wurzel im Denken und Dichten beider gibt, die sich auf der einen Seite in die Dichtung und die Reflexion über sie entfaltet hat. Die Reflexion bei Hölderlin ist, wie bei Hegel eine zweifache. Die zweite Reflexion führt bei Hegel in der Erkenntnis des Gesetztseins des Wesens zum wirklichen Ich, als der Unmittelbarkeit des menschlichen Begriffs, wenn auch zur Aufzeichnung seines logischen Status. Die zweite Reflexion bei Hölderlin führt zum Gedicht.“ (A. a.O., 155.) Es geht um den Gesamtduktus der Werke, nicht um die Kongruenz vereinzelter Aussagen. „Ich behaupte die Nähe für die beiden größten Unternehmungen in Philosophie und Dichtung, da Hegel das Denken nach Kant noch einmal revolutioniert und Hölderlin die Dichtung zu einer neuen Art des Ausdrucks geführt hat, in dem Dichtung und Philosophie vereinigt sind.“ (A. a.O., 704.) Hölderlins Dichtung gehört nicht mehr zu den Revolutionen der Denkart, erhält aber in Liebrucks’ Werk eine herausragende Stellung, zumal der letzte Band des Hauptwerkes Sprache und Bewußtsein diesem philosophischen Poeten gewidmet ist. In Hölderlins Werk wird gewissermaßen eingelöst, was in der hegelschen Logik vorbereitet ist: Die Erfahrung unserer selbst als Momente des Göttlichen. Drei Revolutionen der Denkart bezeichnet Liebrucks und versteht die Frage nach einer solchen Revolution als Frage nach dem logischen Status, in dem Aussagen des Menschen über sich und seinen Weltumgang stehen. (Vgl. Revolutionen, 78.) Die Geschichte der Revolutionen der Denkart ist eine Art Evolution der Philosophie oder des menschlichen Bewußt-Seins. Auch diese Geschichte der Philosophie, der Logik, in welcher sich Bewußt-Sein ausspricht, treibt sich über ihren Gegensatz fort: von den mythischen, phantastischen Allgemeinbegriffen über die Wissenschaftlichkeit des Denkens hin zu einer Begrifflichkeit, welche (in
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Anlehnung an einen von Liebrucks formulierten Buchtitel) die Irrationalität des Logos und die Rationalität des Mythos in sich zu einen vermag. Anhand der Revolutionen der Denkart verdeutlicht Liebrucks die dialektische Logik des Selbstdenkens des Menschen in der Spannung von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Erkannt haben wir den logischen Status, über den wir hinaus sind. So kommt der sympathetische Weltumgang des die Präsenz des Unendlichen in der Lebenswelt erfahrenden mythischen Bewußt-Seins erst im formallogischen Denken zur Geltung, indem dieses den Unterschied zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit konstatiert. Die Konstatierung des Unterschiedes läßt erst nach deren Einheit, deren Versöhnung fragen. Der neue Mythos, den Hegel und Hölderlin von der Gegenwart Gottes im Menschen erzählen, den Mythos der Aufhebung von Subjektivität und Objektivität in jedem Wort, mit dem wir uns Welt ersprechen und sie aus dieser Einheit des Logos zugleich immer schon empfangen, ist kein Rückfall in den alten Mythos. Der neue Mythos ist Aufhebung des Unterschieds von Unendlichkeit und Endlichkeit, Wirklichkeit und Realität als Logos, der sich als das Unterscheiden beider vollzieht. Nur eine Logik, die diesen Logos in ihren Denkund Sprachformen zur Geltung bringt, läßt einen Gottesbegriff formulieren, der nicht als Konkurrenz zum Begriff eines freien menschlichen Subjekts steht. Im zweiten Teil dieser Untersuchung soll diese Andeutung zum Hauptgegenstand der Erörterungen werden.
I. Zwischenfazit: Die Unentrinnbarkeit der Sprache Philosophie ist die Frage nach der Wahrheit. Liebrucks findet die Antwort auf diese Frage in der Sprache als der einfachsten, grundlegenden, noch erfahr- und denkbaren Einheit von sinnlichem Erleben und geistiger Tätigkeit. Sprache ist „nichts anderes [..] als die Auffächerung seines [des Menschen, S. L.] Denkens, in der wir als dem einzigen Medium das menschliche Denken ohne metaphysische Vorannahmen studieren können […].“ (SuB III, 87.) Denn die Sprache, der Logos „ist keine metaphysische Größe […]. Dieser Logos ist der Mensch selbst.“ (SuB I, 345.) Der Logos ist keine vom Menschen unabhängige Größe, sondern hat seinen „Lebenshauch“ im Menschen. (SuB II, 135.) Der Mensch als Sprechender ist das „Verhältnis von Sprechen und Sprache“. (A. a.O., 180.) Der Gegenstand der Philosophie als Philosophie der Sprache ist daher mit einem simplen Satz benannt: „Ich spreche mit einem Partner über die Dinge. Mehr als der immer weiter und tiefer ausgreifenden Meditation dieses Satzes bedarf es nicht.“ (A. a.O., 355.) So will die Logik von der Sprache her „dem Menschen keine neuen Mitteilungen über sein wahres Wesen machen, sondern versucht den logischen Status auszusprechen, in dem er sich immer bewegt, solange er spricht und sprachlich handelt.“
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(SuB VI/3, 535.) Sprachliche Logik fragt nicht danach, was wesenhaft über den Menschen ausgesagt werden kann, sondern danach, wie die eine Wahrheit so ausgesprochen werden kann, daß sie zugleich die Wahrheit aller Menschen und Wahrheit für jeden Menschen als einzelnen ist. „Jeder Mensch, der zu einem anderen Menschen spricht, hat bewußt oder unbewußt vorausgesetzt und anerkannt, daß es Wahrheit gibt.“ (SuB III, 1.) Wahrheit ist das Integral des Allgemeinen und des Besonderen, die als Sprache unablässig aufeinander bezogen sind. Liebrucks vertritt in allen Bänden von Sprache und Bewußtsein die These, „daß alles Denken des Menschen sprachlich ist. […] Die These, daß alles,was der Mensch sieht, hört, schmeckt, tut, spricht und schließlich denkt, sprachlich ist, sieht in der Sprachlichkeit des Menschen den logischen Ursprung des Menschen, sowohl des formallogisch institutionalisierten wie des hier noch vage als begrifflich bezeichneten.“ (SuB VI/3, 22.)¹¹² Das Denken als sprachliches muß daher seiner Auffassung nach Gegenstand der Philosophie sein. Als Voraussetzung alles Denkens und Sprechens ist Wahrheit selbst nie unmittelbar auszusagen. Dennoch ist sie in allem Sprechen und Denken gegenwärtig. Selbst in der Lüge, die nur in Unterscheidung zur Wahrheit Lüge sein kann. Wahrheit ist die Aufhebung von Identität und Nicht-Identität, die allein in der Sprache Ausdruck findet, in welcher alle Seinsmomente und Wesensbestimmungen in ihrer memorierenden Funktion kontextualisiert sind. In ihr können
112 „Ohne Sprache sieht der Mensch buchstäblich nichts mehr.“ (SuB I, 151.) Auch Dinge anzusehen ist eine sprachliche Weltbegegnung, wie Liebrucks Gehlen belehrt. (Vgl. a. a.O., 94.) Man sieht etwas aktiv an, doch „ansehen“ hat auch etwas von „anerkennen“, „gelten lassen“, d. h. also das Andere sich von sich selbst her sehen und darin bestehen lassen. „Das menschliche Auge ist Geschenk der Sprachlichkeit.“ (A. a.O., 119.) Sprache ist ebenso das Okular und Hörrohr, das der Mensch erst haben muß, um die Welt wahrzunehmen. Das Ohr hört Bewegung als Resultat sprachlichen Weltumgangs; das Auge sieht nach Liebrucks nur die Resultate. So ergibt sich eine Hierarchie der „Organe des Geistes“. (Vgl. a. a.O., 99.) Apparate, in denen Augen und Ohren gegenständlich geworden sind, sind Radio und Fernsehen. Wer vor diesen beiden nur konsumierend sitzt, läßt seine lebendigen Augen und Ohren ebenfalls gegenständlich werden. (Vgl. a. a.O., 294.) Ohne unsere eigenen Augen und Ohren büßen wir aber unsere Individualität ein: Nur indem wir selbst sehen und hören, sind wir Ich. In der Tonalität ist man von der Situation losgelöst – anders verhält es sich beim Sehen: Unabhängig von einer Situation gibt es keine Hinsicht auf diese. Allein die tonale Sprache kann uns situationsunabhängig reflektieren und sprechen lassen. Eine visuelle Sprache scheitert bereits an der Dunkelheit. Ein Laut ist Sprachlaut, wenn er nach allen drei Seiten der semantischen Relation bedeutet. Das tonale Sprechen hat den Menschen frei gemacht. So kann sich der Mensch über Laute auch im Dunkeln verständigen. Die Befreiung durch die Lautsprache wird deutlich im Vergleich zur Gebärdensprache.
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widersprüchliche Aussagen über ein und dasselbe getroffen werden, das als der Bezugspunkt des Widersprüchlichen als Identität erscheint. Die Wahrheit ist das Ganze, das der einzelnen sprachlichen Äußerung ebenso immanent wie transzendent ist. „Niemals aber ist Wahrheit Angleichung des Gedankens an eine außersprachliche Sache, an eine Welt, der wir irrational ‚begegneten‘.“ (SuB II, 374.) „Das Entscheidende bei dem Phänomen der Sprache besteht darin, daß sie in jeder ihrer Äußerungsformen die Struktur der menschlichen Weltbegegnung s i c h t b a r macht.“ (Wesen, 14.)¹¹³ Liebrucks bezeichnet Sprache ebenso „als hörbare Struktur der menschlichen Weltbegegnung.“ (SuB I, 405.)¹¹⁴ Eine dialektische, also unablässig bewegte Struktur, die sinnlich erfahrbar, dennoch nicht als Gegenstand zu fassen ist. (Vgl. a. a.O., 374.) Wahrheit kann nicht in Form einer philosophischen These, einer Formel oder einem Kernsatz ausgesagt werden. „Sie wird in der sprachlichen Äußerung eines Subjekts ausgesprochen als die logische Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, als welche sie sich vollzieht. Die Wahrheit des Logos zeigt sich in der Bewegung der Sprache, in der Vieldeutigkeit semantischer Relationen, der bleibenden Unbestimmtheit, die allen Bestimmungen anhaftet. Sie begegnet in der Möglichkeit, jeder Aussage widersprechen zu können. Die Genese der Wahrheit ist die Genese der Sprache. Sprache aber zeigt sich an sich selbst. Sie verweist auf sich in ihren Gefügen, deren Bedeuten sich in den sprachinhärenten Verweisungszusammenhängen unablässig konstituiert. Im ZurGeltung-Bringen der Wahrheit durch die Sprache ist der Mensch als das sprechende Wesen veränderlich und lebendig. Zugleich aber empfängt er aus der in seiner Sprache zur Geltung gebrachten Wahrheit als absoluter Identität von Allgemeinem und Besonderem seine Wahrheit als seine Identität.Wahrheit bedeutet Übereinstimmung: Für den Menschen stellt sich die Frage nach der Wahrheit als Frage nach Übereinstimmung mit sich selbst, nach Freiheit zu sich selbst. Die Frage nach der Wahrheit des Menschen ist die Frage nach dessen Freiheit – zur Selbstentfaltung oder zur Selbstverfehlung. Seine menschliche Identität ist bewahrt in Wahrheit und Sprache, „weil er nach beiden fragen kann.“ (SuB III, 2.) In der Sprache wird diese ebenso wie Wahrheit selbst thematisch, sie ist in jedem Moment ihrer Verwirklichung zugleich ein Verweis auf ihre eigene logische Struktur. Darum ist die Genese der Wahrheit eines ihrer Momente.
113 „[…] die Struktur der Sprache muß die gleiche sein wie die der gesamten Weltbegegnung des Menschen. Denn sie ist der Strom des Geistes in a l l e n Lagen seiner Weltbegegnung und wird sich erst von ihm trennen, wenn der Mensch sich vom Menschen trennt […].“ (A. a.O., 13.) 114 „In der Sprache erscheint der dialektische Vorgang des Denkens vor dem Ohr des Menschen.“ (SuB II, 185.)
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Die Bewegung der Sprache ist für uns immer nur in ihrem Vergehen spürbar, im Verklingen ihrer Laute. Da diese aber in die überzeichenhafte, übersinnliche Bedeutung aufgehoben sind, ist in der Sprache nichts endgültig. Ihre Erhabenheit über die Endgültigkeit der Form hat zur Konsequenz, daß es für sie selbst keine adäquate Ausdrucksform gibt. Sprache spricht sich in ihren Inhalten vor, und ist doch zugleich unaussprechbar. Von jeder Form, in welcher wir von ihr reden, gilt: „Die sprachliche Unendlichkeit, die die des existierenden Begriffs ist, wird darin nur als Bild, d. h. als die Projektion ihrer selbst betrachtet, von der Kant als erster erkannt hat, daß sie erschlichen ist.“ (SuB VI/2, 427.) Alles Reden über Sprache ist selbst Sprache. Sprache wird nie zum reinen Inhalt, sie bleibt immer auch Anhalt, insofern wir uns nie außerhalb ihrer aufhalten können und uns immer schon sprechend vorfinden. Was man nicht zum reinen Inhalt, also Gegenstand machen kann, ist Anhalt. „Indem die Sprache als Äußerliches, Sinnliches, und doch zugleich als Form (Lautform, Wortform, Satzform usw.) erscheint, ist sie der Inhalt, der zugleich Anhalt ist. Als solcher zeigt er auf ein Inneres, das nach dem Zusammensturz des Übersinnlichen und Sinnlichen als zweier Welten, die jetzt erreichte Einheit von Innerem und Äußerem ist, d. h. die Wirklichkeit.“ (SuB VI/2, 314.) Lautform, Wortform und Satzform sind Aufgabengebiet der Sprachwissenschaft. Diese umfaßt eine sekundäre Regelsammlung äußerlicher Spracherscheinungen. Sie stellt Regeln fest, nach denen wir immer schon sprechen. Nicht das Regelhafte an der Sprache aber liegt im Interesse Liebrucks’, sondern Sprache als logische Struktur, die sowohl Regelhaftigkeit erlaubt, aber vor allem das zu integrieren weiß, was angesichts feststellbarer Regeln als Störung oder Widerspruch erscheint: das Aushalten von Nicht-Identität, das die Vernunft des Menschen ausmacht. Anders als in der Sprachwissenschaft macht die Sprachphilosophie also nicht die Alternative auf, Sprache entweder als Inhalt oder als Anhalt zu betrachten, „weil eine Sprachbetrachtung, die Sprache nicht als Anhalt zum Gegenstand der Betrachtung macht, nicht sie zum Gegenstand der Betrachtung hat, sondern eine Abstraktion von ihr.“ (SuB IV, 41.) Sprachwissenschaft betrachtet Sprache nur als Gegenstand, sie macht die Sprache zum Inhalt, nicht gleichzeitig auch zum Anhalt. (Vgl. a. a.O., 40 f.) Etwas zum Anhalt zu haben, heißt aber, es nicht nur vergegenständlichend vorzustellen, sondern es in dessen logischer Struktur zu denken. Es bleibt dabei nur Anhalt, weil wir uns nicht von ihm distanzieren und uns ihm gegenübersetzen können, sofern wir keine außersprachliche Beobachterdistanz einzunehmen vermögen. „Es gibt schlechterdings nichts für den Menschen, was nicht schon durch seine Sprache gegangen ist. Nicht einmal sein Leben.“ (SuB II, 82.) Der Mensch ist sprachlich, bevor er spricht. (Vgl. SuB I, 170.) „Sprache ist Ausgangspunkt und Ziel alles menschlichen Verhaltens.“ (A. a.O., 3.) Sie ist „Grundbewegung des Menschen. Wir besitzen sie so wenig wie den Geist.“ (SuB I, 214.) Die Selbstbeobachtung des Menschen ist immer eine
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„Phantasie“, da er sich nie außerhalb seiner selbst stellen und sich beobachten kann. (Vgl. SuB IV, 9.) „Von der Sprache kann der Mensch nicht abstrahieren.“ (SuB III, 405.) Sprache ist nie von einem Standpunkt außerhalb ihrer selbst befragbar. Daher ist sie auch „kein Gegenstand, der genetisch erforschbar wäre.“ (SuB I, 56.) Sprache erkennen wir nur durch Sprache. Sprache selbst macht in jeder ihrer Äußerungen auf sich aufmerksam, man kann sie nicht umgehen, nicht verlieren. „Sie ist der Ursprung aller Aufklärung.“ (SuB II, 184.) In der Konsequenz kann es keine Metasprache geben, in welcher sich Sprache „objektiv“ darstellen ließe. Somit „haben wir keinen sprachlichen Ausdruck für diese den sprachlichen Ausdruck selbst konstituierende Einheit.“ (SuB III, 303.) Lingua d o c e t l o g i c a m (Karl Bühler).¹¹⁵ „Die Sprache ist der Vollzug der menschlichen Weltbegegnung, der sich selbst erleuchtet.“ (Wesen, 8.) Sprache ist der dialektische Begriff selbst. Daher ist Liebrucks zufolge ohne Dialektik „nicht das leiseste Begreifen von Sprache möglich.“ (SuB I, 50.) Zumindest haben wir für die Koinzidenz des Widersprüchlichen in der Sprache (bisher) keinen anderen Ausdruck als das Wort „dialektisch“. (Vgl. SuB VI/1, 17.) Das dialektische Denken mag nur eine Durchgangsstufe in der Entwicklung des menschlichen Bewußt-Seins sein; Liebrucks jedenfalls bescheinigt ihm keine „Ewigkeitsgeltung“. (Vgl. SuB IV, XII.) Er geht desgleichen davon aus, daß, sollte jemand zeigen können, „daß die Sprachlichkeit nicht die volle Charakteristik des menschlichen Bewußtseins als Bewußt-Sein hergibt“, auch sie „zum Moment herabsinken“ würde. (Ebd.) Bisher haben wir aber keinen adäquateren Begriff für den Logos gefunden als den dialektischen. In diesem stellt sich Sprache selbst dar als die im Bindestrich des Wortes „BewußtSein“ ausgesprochene Bewegung des Geistes zwischen Wesen und Existenz. „Diese Bewegung ist keine nurseiende, keine wesentliche, sondern die Begriffsbewegung, für die es kein formallogisches Bildnis gibt. Es ist daher nicht nötig, innerhalb des Begriffs zu sagen, ‚du sollst dir kein Bildnis machen‘. Vom Begriff können wir uns kein Bildnis machen. Bildnisse sind wesentlich. Sie sind schriftlich. Das einzige Bild, das der Mensch von Begriff, d. h. von sich selbst wie von Gott hat, ist der Mythos, das gesprochene Wort.“ (SuB VI/3, 306.) In jedem einzelnen Wort ist das Ganze der Sprache gegenwärtig, und doch haben wir Sprache „immer nur als Teil von ihr.“ (SuB III, 255.) Wir haben sie über ihre Gebilde, ihr gegenständliches Moment. „Innerhalb der Sprachlichkeit erfährt sich der Mensch über seine Objektivationen. Die Sprachlichkeit selbst kann er von ihnen her nicht in den Gedanken bringen. Versucht er es, so verwechselt er immer noch Sprache und Handlung.“ (SuB I, 170; vgl. SuB VI/3, 475.) Der Mensch versteht sich immer über
115 „Die Logik des menschlichen Begriffs [..] steht unter dem Satz: lingua docet logicam.“ (SuB VI/2, 303.)
I. Zwischenfazit: Die Unentrinnbarkeit der Sprache
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seine Herstellungen, die Liebrucks auch „Vehikel“ des technisch-praktischen Weltumgangs nennt. (Vgl. SuB VI/1, 260 f.) Sein Handeln ist Zugriff auf die Welt als Ansammlung von Objekten, es ist Kontakt. Sprechen ist distanzierter Kontakt, kontaktloser Kontakt. (Vgl. SuB I, 189.) Es stellt nicht ab auf eine Behandlungsbeziehung, in welcher der oder das Andere durch die Behandlung vereinnahmt werden soll. Mit jemandem sprechen kann man nur im Dialog. Diese Beziehung läßt sich nicht kausalgenetisch denken, weil Kausalgenese eine formallogische und damit Eindeutigkeit erstrebende Denkweise ist. Ein Dialog aber ist mehrstrahlig. Der distanzierte oder kontaktlose Kontakt ist die Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung der Sprache, in welcher man Dinge, Menschen und sich selbst nicht antastet, sondern sich zu ihnen verhält. „Erfaßt das Selbstbewußtsein sich nur in seinen Gebilden, also in seiner Entäußerung, so bleibt es als der Focus zurück, relativ zu dem diese Gebilde begeistet sind. Sie sind es dann noch nicht an ihnen selbst.“ (SuB V, 277.) Die Verbindung zwischen sich und der Welt ist der Mensch in seiner Sprachlichkeit selbst. Diese Verbindung – Liebrucks nennt sie „Brücke“ – ist nicht ein für allemal errichtet, sondern wird beständig hergestellt. (SuB I, 201.) Nicht das Hergestellte ist es, auf welches der Blick der Sprachphilosophie fällt, sondern das Herstellen. „Solange dieses Zusehen ist, ist Philosophie.“ (SuB VI/1, 261.) Das Zusehen, θɛωρια, ist das Geschäft und das Wagnis des Philosophen in der Gesellschaft, sagt Liebrucks und denkt dabei wohl an das platonische Höhlengleichnis. (Vgl. SuB VI/3, 410; 536.) Die Theorie ist höchste Handlung des Menschen, sofern diese als sprachliche bestimmt ist. Als sprachliche ist sie keine reine, d. h. erfahrungsunabhängige Beobachtung. Sie ist als Denken des Denkens die logische Bewegung des Begriffs: das Sich-äußerlich-Werden des Geistes, ohne dabei substantiell ein Anderes zu werden. In der Theorie durchläuft das Bewußtsein die Negation der Negation, in der es sich als Bewußt-Sein zur nächsthöheren logischen Stufe seiner selbst überwindet. Indem es sich anschaut, hat es den Status, den es anschaut, überwunden. In der Selbstbeobachtung entdeckt es seine eigene Dialektik als Bewußt-Sein: Subjekt und Objekt seiner Tätigkeit zu sein, sich als denkend und seiend zu erleben. Theorie ist ein Zugang zur Wirklichkeit, der nicht unmittelbar ist. Sie ergreift nicht, sie begreift. (Vgl. SuB VI/3, 536.) Auch unter ihrem Blick ändert sich Wirklichkeit, wie all unser Anschauen der Dinge deren Verzerrung in der Vermittlung ist; aber in der θɛωρια verändert sich die Wirklichkeit zugleich auch nicht. In der θɛωρια liegt das Interesse nicht auf der technischen Errungenschaft, sondern dem Erringen überhaupt. Dieses Zusehen ist die von Herder sogenannte zweite Reflexion. (Vgl. SuB I, 63 ff.) Sie ist kein reines Denken, sondern das Einholen der Momente des Seins und des Wesens in den Begriff. Der Begriff ist die Sprachform, in welcher sich Sprache selbst in der Dialektik von Gegenständlichkeit und Übergegenständlichkeit präsentiert. Das Gegenständliche ist Moment der Sprache. Darum ist Vergegenständlichung ei-
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2. Lingua docet Logicam
nerseits nie aufzugeben, andererseits dürfen die Gegenstände nie hypostasiert werden, wenn die dialektische Sprachbewegung erkannt werden soll. (Vgl. SuB II, 295.) Sprache hat die logische Struktur des Absoluten. Sie ist das Konkret-Allgemeine, in welchem Subjektivität und Substantialität aufgehoben sind. In ihr erspricht sich der Begriff des Begriffs als Identität von Identität und Nicht-Identität. „So handelt die Sprache schließlich von Gott, aber nicht von Gott als einem spekulativen Wesen, sondern von ihm als dem Wort, dem Logos.“ (A. a.O., 151.) Der Gott,von dem die Sprache handelt, ist der Gott, der Mensch wird, der Logos, der im Prolog des Johannesevangeliums verkündet wird. „Die Sprache, der Logos ist ein [..] dienender Gott […].“ (A. a.O., 150.) Der Mensch kann sich nicht dafür oder dagegen entscheiden, sprachliches Wesen zu sein. Die Faktizität seiner Vernunft als Sprache ist ihm entzogen. Und doch bewegt er sich frei in ihr, spricht sich selbst in ihr aus. Als Marionette des Logos ist der Mensch frei. „Die Sprache, der Logos ist ein [..] Gott, den es natürlich nicht gibt, der aber als Möglichkeit unsere geistige Sphäre bildet […].“ (Ebd.) Der Gott, von dem die Sprache handelt, ist der Gott, der sich uns verfügbar macht, ohne in dieser Verfügbarkeit aufzugehen. Unsere Möglichkeiten stehen in seiner Wirklichkeit. In der Wirklichkeit des Logos „liegt das ‚In-der-Welt-Sein‘ des Menschen.“ (A. a.O., 153.) Mit diesen kurz gehaltenen Andeutungen sei lediglich vorbezeichnet, daß Liebrucks Gott als den dauernden Korrespondenten von Sprache und Bewußtsein begreifen kann. Aus diesem Gottesbegriff resultiert der Begriff des Menschen als eines Subjekts, das seine Freiheit aus der Bezüglichkeit zum Absoluten empfängt. Diese These wird Hauptgegenstand des zweiten Hauptteils der vorliegenden Untersuchung sein.
Zweiter Hauptteil: Der Gottesbegriff im Werke Bruno Liebrucks’
3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks „Was wir jetzt behaupten werden, bitten wir [..] als sehr leise vorgetragen anzuhören, weil das Wort ‚absolut‘ fallen wird. Seit langem wird es nur noch so gehört, als handele es sich um einen Theaterdonnerschlag imperatorischer Philosophie. Dabei handelt es sich hier um ein Wort, das, von Lautsprechern durch Lautsprecher gesprochen, seine Bedeutung verloren hat.“ Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. I, 94
A. Hinführung I. Zum Begriff des Begriffs Bevor sich das folgende Kapitel mit dem von Liebrucks formulierten Gottesbegriff beschäftigen soll, dessen Untersuchung im Zentrum des vorliegenden Buches steht, muß darüber Klarheit geschaffen werden, was unter einem Gottesbegriff zu verstehen sei. Als „Begriff“ kann zunächst die einen Denkprozeß repräsentierende semantische Einheit gelten. Im weiteren Verlauf der Darstellung wird sich jedoch verdeutlichen, daß sich der Gottesbegriff bei Liebrucks schon in der Wendung zusammenfassen läßt, Gott müsse als Begriff gedacht werden. Wie ist das zu verstehen? Wiederum klärt sich die Denkweise Liebrucks’ über deren Entwicklung aus den philosophischen Vorarbeiten Kants und Hegels, der nach Liebrucks’ Ansicht die Kants Philosophie inhärente Dialektik konsequent zu Ende denkt und die eigentlichen Spitzenaussagen der Transzendentalphilosophie erst auf den Punkt bringt. Im vorliegenden Kontext ist diese Entwicklung anhand des hegelschen Philosophems vom „Begriffs des Begriffs“ durchzuspielen. Während Kant eine formallogische Definition des Begriffs vertritt, spricht Hegel – und mit ihm Liebrucks – vom dialektischen Begriff. Für Kant ist ein Begriff eine Herstellung oder Funktion des Verstandes, „eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann“.¹¹⁶ Auch Hegel kennt diese Auffassung des Begriffs als formales Abstraktum. Von diesem setzt er aber ein Verständnis des Begriffs als „adäquat“ ab, in welchem er den Begriff als Konkret-Allgemeines
116 Kant, Immanuel, Logik, Werke in sechs Bänden, Bd. 3: Schriften zur Metaphysik und Logik, hg.v. Weischedel, Wilhelm, Darmstadt 1998, § 1, Anm. 1.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
denkt, das sich über den Widerspruch von Subjektivität und Substantialität erzeugt. Im formellen Begriff sind Subjekt und Objekt einander kontrastiert, im adäquaten resp. dialektischen Begriff werden Subjektivität und Objektivität als Momente der Genese des Begriffs in diesem aufgehoben gedacht. Hegels BegriffsLogik gestaltet sich als Logik des Begreifens, die spekulativ nachvollzieht, was Kant im Prinzip der transzendentalen Apperzeption immer schon voraussetzt. Hegel erreicht dies, indem er die Negation als Wahrheitsmoment in die Genese des Begriffs einholt. In der Negation der erscheinenden Dinge wendet sich das Selbstbewußtsein vom Besonderen zur Affirmation des Allgemeinen als Einheit alles Besonderen. So zu sich zurückkommend vollzieht es den Begriff des Begriffs, d. i. die Einheit von Anundfürsichsein und Positivierung, von Subjekt und Objekt, von Sein und Wesen eines Dinges. Der Begriff des Begriffs – dessen Identifizierung mit dem Selbstbewußtsein in der Hegelrezeption strittig ist, auch wenn er nie unabhängig von diesem gewonnen werden kann – mag ebenfalls umschrieben werden als Selbstbeziehung in Fremdbeziehungen, d. h. als eine alle ihre Differenzierungen in sich enthaltende Identität. Als solche ist der Begriff des Begriffs auch ein Begriff für Freiheit. Dementsprechend ist der Begriff einer Sache nicht von außen auf sie zu applizieren, vielmehr ist er aus der Betrachtung ihrer selbst zu entwickeln.¹¹⁷ Auf diese Art und Weise erfährt der Begriff gleichsam eine Hypostasierung zum Wesen und zur treibenden Kraft der Dinge.¹¹⁸ Als dialektische c r e a t i o c o n t i n u a erzeugt er im Sein wie im Denken kontinuierlich seinen eigenen Gegensatz, um sich in dessen Überwindung selbst in seiner Entfaltung voranzubringen. Ausgehend vom „An-sich“ vollendet sich der Begriff zum An-und-für-sich, zum selbstbewußten Begriff. Er ist Träger aller Unterschiede und daher deren Totalität, die Aufhebung von Allgemeinem und Konkretem. Als solcher ist er absoluter Geist, in dem jedes der Momente das Ganze ist. Der Begriff des Begriffs ist als Konkret-Allgemeines sowohl Begriff Gottes als auch des Menschen. Gott ist der absolute Begriff, der Mensch der existierende Begriff. Der existierende Begriff – darauf wird es in diesem Kapitel ankommen – ist Moment des absoluten. Somit erklärt sich, warum die Untersuchung und Darlegung des von Liebrucks formulierten Gottesbegriffs nicht ohne die Untersuchung und Darlegung seines Subjektbegriffs auskommt.
117 Vgl. Hegel, PhG, 65. 118 Vgl. a. a.O., 100 f.
A. Hinführung
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II. Von Gott reden, um die Wahrheit zu sagen Zu Beginn ist festzuhalten, daß nachfolgend von „Gott“ die Rede sein muß, nicht von einem „Göttlichen“, sofern Liebrucks unter letzterem einen bloß wesenhaften Allgemeinbegriff versteht. (Vgl. SuB VII, 419.)¹¹⁹ Das Wesen einer Sache ist – wird es nach Hegel bestimmt¹²⁰ – das aus der Unmittelbarkeit aufgehobene Sein. In der logischen Kategorie des Wesens wird der Selbstbezug eines Seienden formuliert. Das Wesen ist der Begriff eines Seienden, es markiert also den Übergang von der Unmittelbarkeit zur Vermittlung eines Seienden mit sich selbst. Dieser Begriff ist aber noch gesetzter Begriff: ein unveränderlicher Allgemeinbegriff, der in veränderlichem Sein aufscheint. Das Wesen ist nur ein Moment des dialektischen Prozesses. In der Formulierung des Gottesbegriffs geht es aber um eine Sprachform, die das Ganze der dialektischen Bewegung des Geistes als des absoluten Geistes zum Ausdruck zu bringen vermag. Mit dem „Göttlichen“ ist noch nicht die Identität ausgesagt, die Hegel den Begriff des Begriffs nennt. Erst dieser trägt die theologische Bezeichnung „Gott“, der in der Philosophie die Bezeichnung „Absolutes“ entspricht. Der Begriff des Begriffs erschließt sich erst als die logische Bewegung, die im bzw. als Bezug des Seins zum Wesen offenbar wird. Sie ist der logische Gang des Geistes, in dem sowohl Sein als auch Wesen aufgehoben sind. Das Wesen ist die einfache Negation des Seins; der Begriff ist die Negation der wesentlichen Negation, in welcher Sein und Wesen als Momente von Identität erscheinen. Im Wissen darum, daß es unterschiedliche Begriffsverständnisse gibt, stellt sich in der Konsequenz die Frage: Welche Begriffe gibt es von Gott, was sagen sie aus? Die Bibel verkündet Gott als den Schöpfer und Versöhner, den Herrn über Leben und Tod. Die Theologie entzweit sich schon früh über das Problem, wie Gott zugleich als v e r e d e u s e t v e r e h o m o gedacht werden könne. Die Philosophie benennt ihn als in sich ruhende Vernunft, als das alle Gegensätze in sich vereinende Absolute, dem es als solchem zukommt, als Wahrheit zu gelten. Luther predigt über die Erscheinungsweisen Gottes als r e v e l a t u s e t a b s c o n d i t u s . Die Scholastik und später Spinoza sprechen von Gott als der c a u s a s u i . Schleiermacher umschreibt Gott als das „Woher“ des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit, welches das In-der-Welt-Sein des Menschen charakterisiert. Tillich spricht von Gott als dem, was uns „unbedingt angeht“. Für Karl Barth ist Gott der „ganz Andere“. Schon eine reißbrettartige Sammlung von Gottesbegriffen läßt das
119 In der Verwendung der hier von ihm aufgemachten begrifflichen Differenzierung – „Gott“, „Gottheit“, „Göttliches“ – ist Liebrucks selbst leider nicht konsequent. 120 Vgl. Hegel, Enzykl., § 112 f.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Themenfeld abschätzen, das der Arbeit am Gottesbegriff Profil gibt. Es ist das Verhältnis von Freiheit und Abhängigkeit, das im Bilden eines Gottesbegriffs diskutiert wird, ebenso die logische Integration von Widersprüchen. Der Grund alles Seins und Denkens gerät in den Fokus und wird daraufhin befragt, ob in der erfahrenen Vielfalt an Gesichtern von Welt auf einen Kontingenzbewältigung gewährleistenden Sinn vertraut werden darf bzw. wie Individualität in ein Sinnganzes eingezeichnet werden kann. Diese Fragestellungen beinhalten jeweils die Verhältnisbestimmung in der grundlegenden Konfrontation zwischen Gott und Mensch. Man kann Gott nicht haben ohne den Menschen, den Menschen nicht ohne Gott – Identitäten erweisen sich an dem, wovon sie unterschieden sind. Das mag begründen, warum im vorliegenden Kapitel zum Gottesbegriff auch der Begriff des menschlichen Ichs Aufmerksamkeit finden muß. Dem Menschen der (Post‐)Moderne kommt in der ihn charakterisierenden säkularen Selbstbehauptung im Gegensatz zum Aussprechen des eigenen Ichs das Wort „Gott“ nur schwer über die Lippen, glaubt Liebrucks. „Er stellt sich vor, daß auch die philosophische Rede von Gott oder dem Absoluten nur einem Menschen über die Lippen kommen kann, der nicht von dem losgekommen ist, was er als kleines Kind auf dem Schoß seiner Mutter gelernt hat. Jede Rede von Gott wird als Infantilismus angesehen. Der erwachsene Mensch müsse sich ihrer schämen. Gott ist unter tausend Namen aufgetreten, wenn dem Menschen auch oft nicht bewußt war, daß er von dem Letzten sprach, von dem ihm zu sprechen möglich ist, noch daß er immer dann von Gott spricht, wenn er von etwas spricht, das in sich selbst autark ist.“ (SuB V, 263.) Sittliche Mündigkeit scheint dadurch errungen, sich von Gott losgesagt zuhaben. Dieses Emanzipationsverständnis geht auf eine metaphysische Grundsatzentscheidung zurück – der Mensch habe entweder von sich oder von Gott zu reden. Im allgemeinen wird der Begriff „Gott“ als eine Grenzmarkierung zum Denken und Handeln des Menschen gesetzt, ganz gleich, ob es sich dabei um an der Schwelle zur Begrifflichkeit stehende mythische Gottesbilder oder den Gott philosophischer Schlußfolgerungen handelt. Gott ist in Vollendung das, was der Mensch an sich selbst und innerhalb seiner Welt lediglich unter der Verzerrung der Unvollkommenheit erfährt. Dem bedrohten und endlichen Leben des Menschen steht Gottes Aseität gegenüber; der Begrenztheit menschlichen Wissens und Vermögens kontrastiert Gottes Allwissenheit und Allmacht; des Menschen Bindung an Zeit und Raum erscheint Gottes Ewigkeit und Allgegenwärtigkeit entgegengesetzt; die moralische Fehlbarkeit des Menschen steht im Widerspruch zu Gott als dem schlechthin Guten. Gott ist ohne Mangel, der Mensch das Mängelwesen. Gott ist absolut frei, die Freiheit des Menschen aber ist eine begrenzte. In der Formulierung eines Gottesbegriffs wird stets mitdiskutiert, in welcher Weise die bezeichnete Wesensdifferenz das Sein des Menschen in der Welt betrifft: sein Denken, sein Erkennen, sein Handlungsvermögen. Im Gottesbegriff
A. Hinführung
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entscheidet sich also beifolgend, wie eine Philosophie oder eine Theologie das Inder-Welt-Sein des Menschen begreift. Liebrucks führt in seinen Formulierungen des Ich-Begriffs und des Gottesbegriffs vor, daß Gott und Mensch nicht schlicht ein Gegensatzpaar sind. Die Erhabenheit des Absoluten über alle Widersprüche stellt sich dar als allgegenwärtig wirkende Macht. Judentum und Christentum bekennen Gott daher als den Schöpfer aller Dinge und des Menschen, der von Gott nicht nur wesenhaft unterschieden, sondern auch an ihm teilhabend ist. Das Geschöpf verdankt sich dem Schöpfer. Nicht erst Liebrucks findet für diese Aussage das Bild der Marionette, die zum „Leben“ erwacht, wenn ihr Spieler das Spielkreuz ergreift und ihre Glieder durch seine eigene Bewegung zum Tanzen bringt. Die Abhängigkeit des Menschen vom Göttlichen ist in jeder Artikulation einer Gottesvorstellung, in jeder Formulierung eines Gottesbegriffs thematisiert – ob als Anerkennung der Asymmetrie im Glauben des Frommen oder als Aufbegehren des sich selbst behaupten wollenden Bewußtseins, das neben der erfahrenen Eingeschränktheit der eigenen Fähigkeiten ebenso eine gewisse Relevanz im Hinblick auf von ihm geleistete Weltgestaltung gewürdigt wissen will. Soviel sei vorweggenommen: Liebrucks reiht sich mit seiner Fassung des Gottesbegriffs in eine Reihe von philosophischen Konzeptionen ein, die eine Emanzipation der menschlichen Vernunft nicht als Absage an ein frommes Selbstbewußtsein verstehen, sondern als dessen Konsequenz. Die spezifische Fundierung dieser These über das von ihm vertretene Verständnis von Sprache betrachtet Liebrucks als (vorläufige) Pointierung einer philosophiegeschichtlichen Entwicklung, die von Platon über Kant bis zu Hegel und Hölderlin verläuft und sich in einer von Hamann geprägten Einsicht zusammenfassen läßt, die in allen Bänden des Werkes Sprache und Bewußtsein wiederholt zitiert den Denkduktus auf Kurs hält. Es liegt nahe, auch im folgenden Kapitel der vorliegenden Untersuchung diesen zentralen Satz als Wegweiser der Argumentation einzuführen: Der Weg Gottes zu den Menschen ist der Weg des Menschen zu Gott. (Vgl. SuB I, 286 ff.) Im Gottesbegriff wird ausgesprochen, was Wahrheit für den Menschen sein kann. Wahrheit bedeutet Übereinstimmung¹²¹: Für den Menschen stellt sich die
121 „Die Wahrheit ist nicht die Art und Weise, in der wir vom Ding an sich, als einem außerhalb der Logik liegenden X affiziert werden, sondern die Übereinstimmung des Dinges mit dem Allgemeinen. Wahrheit ist die Einheit von Diesem da und dem Allgemeinen. Wahrheit ist nicht ein Oberbegriff, unter dem andere Begriffe subsumiert werden könnten. Bewußt-Sein ist nicht etwas als etwas, das von einer Art ist. Innerhalb der Welt der Positivität bleibt Wahrheit ‚ein reizender Name‘. Das hat Kant ausgesprochen, Hegel braucht es nur aufzunehmen. Die IdealRealität der Sprache ist der vorlogische Ausdruck der Wahrheit im Humboldtschen Werk.“ (SuB VI/2, 160.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Frage nach der Wahrheit als Frage nach Übereinstimmung mit sich selbst, nach seinem wahren Menschsein. Die Frage nach der Wahrheit des Menschen ist folglich die Frage nach dessen Freiheit – zur Selbstentfaltung oder zur Selbstverfehlung. Liebrucks zeichnet diese Überlegung in der metaphorischen Umschreibung des Menschen als (freie) Marionette Gottes nach. Sein Menschsein erkennt und erlangt der Mensch, indem er das Übereinstimmen selbst erkennt. Dieses Übereinstimmen gilt Liebrucks als Aufhebung aller Widersprüche, als das hegelsche Absolute, das theologisch „Gott“ genannt wird. Folglich erkennt der Mensch sich in seinem Menschsein allein, sofern er Gott erkennt; auch darin ist er „Marionette“, abhängig von Gott. „Jeder Mensch, der zu einem anderen Menschen spricht, hat bewußt oder unbewußt vorausgesetzt und anerkannt, daß es Wahrheit gibt.“ (SuB III, 1.) Wahrheit ist das Integral des Allgemeinen und des Besonderen, die als Sprache unablässig aufeinander bezogen sind. Insofern ist Sprache „die bodenlose Unverschämtheit des Geistes, […] die Wahrheit zu sagen.“ (SuB II, 374.) Der Bezug vom Allgemeinen auf das Besondere und vom Besonderen auf das Allgemeine ist als sprachlicher stets geschichtlich, lebendig sich forttreibend, insofern „bodenlos“. Im geschichtlich-lebendigen Zur-Geltung-Bringen der Wahrheit durch die Sprache ist der Mensch als das sprechende Wesen veränderlich und lebendig, zugleich aber das Wesen, das aus der in seiner Sprache zur Geltung gebrachten Wahrheit als absoluter Identität von Allgemeinem und Besonderem seine Wahrheit als seine Identität empfängt. Seine menschliche Identität ist bewahrt in Wahrheit und Sprache, „weil er nach beiden fragen kann.“ (SuB III, 2.) In der Sprache wird diese ebenso wie Wahrheit selbst thematisch, sie ist in jedem Moment ihrer Verwirklichung zugleich ein Verweis auf ihre eigene logische Struktur. Darum ist die Genese der Wahrheit eines ihrer Momente. Jede sprachliche Äußerung verwirklicht Wahrheit. Als Momentaufnahme der Wahrheit ist sie aber zugleich deren Entstellung. Als Voraussetzung alles Denkens und Sprechens ist Wahrheit selbst nie unmittelbar auszusagen. Dennoch ist sie in allem Sprechen und Denken gegenwärtig. Selbst in der Lüge, die nur in Unterscheidung zur Wahrheit Lüge sein kann. Wahrheit ist die Aufhebung von Identität und Nicht-Identität, die allein in der Sprache Ausdruck findet, in welcher alle Seinsmomente und Wesensbestimmungen in ihrer memorierenden Funktion kontextualisiert sind. In ihr können widersprüchliche Aussagen über ein und dasselbe getroffen werden, das als der Bezugspunkt des Widersprüchlichen als Identität erscheint. Die Wahrheit ist das Ganze, das der einzelnen sprachlichen Äußerung ebenso immanent wie transzendent ist. „Niemals aber ist Wahrheit Angleichung des Gedankens an eine außersprachliche Sache, an eine Welt, der wir irrational ‚begegneten‘.“ (SuB II, 374.) Ist Sprache die logische Beziehung zwischen Allgemeinem und Besonderem, haben die Dinge ihr logisches Eigendasein
B. Existenz Gottes
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in ihr. (Vgl. Revolutionen, 92 u. ö.) „Die adaequatio rei et intellectus muß immer adaequatio ad intellectum sein, nicht umgekehrt. […] Maßstab der Wahrheit, sofern es ihn gibt, bleibt der Logos, nicht der unter ihm gefaßte Gegenstand.“ (SuB II, 374.) In der Konsequenz kann Wahrheit nicht in Form einer philosophischen These, einer Formel oder eines Kernsatzes ausgesagt werden. „Die ‚Wahrheit‘ besteht in der Ablehnung des Scheines der unmittelbaren Subjekt-Objekt-Beziehung.“ (SuB III, 13.) Sie wird in der sprachlichen Äußerung eines Subjekts ausgesprochen als die logische Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, als welche sie sich vollzieht. Die Wahrheit des Logos zeigt sich in der Bewegung der Sprache, in der Vieldeutigkeit semantischer Relationen, der lebendigen Unbestimmtheit, die allen Bestimmungen anhaftet. Sie begegnet in der Möglichkeit, jeder Aussage widersprechen zu können. Die Genese der Wahrheit ist die Genese der Sprache. Sprache aber zeigt sich an sich selbst. Sie verweist auf sich in ihren Gefügen, deren Bedeuten sich in den sprachinhärenten Verweisungszusammenhängen unablässig konstituiert. In keinem einzelnen Wort ist das Absolute ausgedrückt. Dies ist zu berücksichtigen, wenn in der vorliegenden Untersuchung nach einem Gottesbegriff gefragt ist. Das Absolute als solches, d. i. als die Einheit von Allgemeinem und Konkretem kann nicht etwas Abstraktes sein. Daher gilt: „Die Wörter ‚Gott‘, ‚das Absolute‘ sagen für sich nichts. Erst in dem Satz ‚Gott ist die Wahrheit‘ ist von ihm gesagt, daß er nicht einfach Gott ist, sondern eben die Wahrheit. In dem Satz ‚Die Wahrheit ist Gott‘ ist enthalten, daß die Wahrheit zugleich Existenz hat und nicht einfach die Wahrheit ist.“ (SuB V, 366.)
B. Existenz Gottes Die Geschichte der Philosophie und Theologie zeigt, daß es naheliegt, die Formulierung eines Gottesbegriffs über das Führen eines Gottesbeweises laufen zu lassen – eine rationale Begründung und formallogische Erschließung des Daseins Gottes und dessen Eigenschaften. Die Ursprünge solcher Argumentationen liegen in der Metaphysik des Aristoteles: Alle Aktualität verweise auf eine Potentialität, die ihrerseits von einer höheren Potentialität als a c t u s bewirkt wurde. Ein entsprechendes Rückschlußverfahren führt (den formallogischen Grundsätzen der Kausalität und der Vermeidung eines r e g r e s s u s a d i n f i n i t u m gehorchend) von der Bewegtheit des endlichen Seienden zur Annahme eines „ersten Bewegers“ (τ ο π ρ ω τ ο ν κ ι ν ο υ ν )¹²². Dieses aposteriorische, auf die Welterfahrung bezogene Beweisverfahren wird in der Scholastik insbesondere von Thomas von Aquin
122 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, übers. v. Lasson, Adolf, Jena 1907, XII 7, 1073 a 27.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
rezipiert und ausgearbeitet. Kant verleiht diesem Argumentationsverfahren die Bezeichnung „kosmologischer Beweis“. Von diesem unterscheidet er einen „ontologischen“. Letzterer geht nicht von der sinnlich erfahrenen Welt aus, sondern von der Vorfindbarkeit des Gottesgedankens im menschlichen Bewußtsein.¹²³ Dieser apriorische Gottesbeweis, der in unterschiedlichen Variationen von Descartes, Spinoza oder Leibniz geführt wird, geht in seiner ursprünglichen Formulierung auf Anselm von Canterbury zurück: Wenigstens dem Begriff nach müsse ein notwendiges höchstes Wesen als i d , q u o n i h i l m a i u s c o g i t a r i p o t e s t , gedacht werden. Dieser Begriff Gottes sei der eines notwendigen Wesens, das nicht als nicht seiend gedacht werden könne. Das ontologische Argument besteht somit im Schluß vom Begriff Gottes auf dessen Existenz.¹²⁴ Ob apriorisch oder aposteriorisch – für Liebrucks führt der Weg zum Gottesbegriff über die Absage an die Möglichkeit jeglichen Gottesbeweises. Diesen Weg zum Begriff (von) Gott ebnet bereits Kant in seiner transzendentallogischen Kritik der Metaphysik. Daher sollen im folgenden Kants prägnanteste Gedankengänge zusammengefaßt werden, sofern erst über diesen philosophischen Umweg der Gottesbegriff, wie er von Liebrucks aufgestellt wird, verständlich werden kann. Die Kantdarstellung des vorliegenden Kapitels folgt den Interpretationen der Schriften Kants, wie sie von Liebrucks vorgenommen werden, da sie im Zeichen der Erschließung von dessen Gottesbegriff steht. Demgemäß operiert die nachstehende Kantrezeption bewußt selektiv, zudem wird auf eine Kritik der Kantdarstellung Liebrucks’ verzichtet.¹²⁵
123 Liebrucks betont, auch der kosmologische Gottesbeweis gehe nur scheinbar von der Erfahrung aus, sei in Wirklichkeit aber von Anfang an eine notwendige formallogische Annahme: „Von der Existenz des notwendigen Wesens war er schon in dem Augenblick überzeugt, als er annahm, das Dasein der endlichen Dinge sei nicht absolute Position, sondern bedingt.“ (SuB IV, 204.) Von dieser Annahme aus, die insofern an der Erfahrung vorbeigeht, als sie ihr die Momente der Unendlichkeit abspricht, ist es nur folgerichtig, im Interesse der Systembildung zum Begriff der Bedingtheit dessen Ergänzung durch das Gegenteil, etwas Unbedingtes, zu vermuten. Bedingtheit resp. Bestimmtheit aber besitzt Plausibilität nur in Bezug auf das Konkrete, das Reale; so ist der kosmologische Schluß – ausgehend von einer logischen Notwendigkeit – der Beweis eines allerrealsten Wesens. 124 Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion. Untersuchungen. Lateinisch-deutsche Ausgabe, hg.v. Schmitt, Franciscus Salesius, Stuttgart/Bad Cannstatt 19953, 84 f. 125 Die in bezeichneter Hinsicht erfolgenden Ausführungen zur Philosophie Kants bilden eine Zusammenfassung der Kantauslegung durch Liebrucks, wie sie vornehmlich in den Bänden SuB III und IV zu finden ist.
B. Existenz Gottes
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I. Metaphysik auf neuen Wegen – Kants transzendentallogische Kritik In seiner Kritik der reinen Vernunft formuliert Kant, den Liebrucks respektvoll „den Gedankenriesen aus Königsberg“ nennt, in erkenntnistheoretischer Analyse von Methode und Anspruch metaphysischer Erkenntnisbemühungen die Grundsätze der formalen Logik. (SuB IV, 517.) Diese setzt ein mit der hellenistischen Philosophie der Antike, in welcher logische Prinzipien etabliert wurden, denen Begriffe und Urteile genügen müssen, wenn sie als vernünftig einsehbar, so verstanden aber als wahrheitsgemäß gelten können sollen. In diesem Denksystem verbürgt Prinzipientreue die Unbeliebigkeit von Schlußfolgerungen. Als „wahr“ gelten Aussagen, die sich durch Widerspruchsfreiheit und Kohärenz logischer Folgerungen auszeichnen. Die Geltung und Vernünftigkeit dieser Prinzipien stellt Kant nicht in Abrede, gleichwohl aber die Reichweite ihrer Aussagekraft. Das Revolutionäre seiner Erkenntnistheorie besteht im Aufzeigen und Benennen der unhinterfragt vorausgesetzten Prämissen und Begriffe, anhand derer sowohl Naturwissenschaft als auch Metaphysik ihre Schlußfolgerungen ziehen. Kants Transzendentalphilosophie erklärt die Beschränkung des Geltungsbereichs der formalen Logik auf die erscheinenden Dinge. Einen Schluß von dieser Welt des Bedingten aufs Unbedingte verwirft Kant als Ontologie, als Behauptung von Sein für einen Bereich, der sich als erfahrungsentzogener auch der verstandesgemäßen Erkenntnis entzieht.¹²⁶ Der Schluß vom Bedingten auf das Unbedingte ist eine m e t a b a s i s e i s a l l o g e n o s , da die formallogischen Kategorien allein in ihrer positiven Funktion Legitimität besitzen: Sie dienen der Zubereitung der Welt der erscheinenden Dinge. „So hat Kant bewiesen, daß die Existenz Gottes als eines endlichen oder eines mathematischen Wesens nicht beweisbar ist.“ (Gedanke, 140.) Die Zäsur, die Kant in der Entwicklung der Philosophie setzt und die für alle nachfolgende Philosophie (sofern sie als vernünftig gelten will) maßgeblich ist, vollzieht sich als das Ziehen einer aus seiner Sicht unüberschreitbaren Grenze der menschlichen Erkenntnisbemühungen als formallogischer. Seine formallogische Definition von Erkenntnis diktiert er Naturwissenschaft und Philosophie gleichermaßen. Kants Kritik formaler Logik betrifft sowohl das von der hellenistischen Philosophie begründete und von der Scholastik zugleich konservierte wie pointierte formale System des Denkens, als auch die Lehren des Begründers eines neuzeitlichen Rationalismus‘, René Descartes, dem es unter anderem zukommt, das
126 „Kants Argument gegenüber der alten Metaphysik trifft zu, denn sie hatte ihre Begriffe aus der Welt der Positivität erborgt, dann aber vergessen, daß es sich dabei nicht um metaphysische, sondern um physikalische Begriffe handelte.“ (A. a.O., 131.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Selbstbewußtsein als fundamentalphilosophisches Thema ergründet zu haben. Teilt Kant mit Descartes auch die philosophische Konzentration auf das Erkenntnissubjekt, so ist seine epistemologische Theorie dennoch strikte Abgrenzung zum cartesischen Erkenntnisbegriff. Descartes entwickelt eine deduktive Methode, in welcher er Erkenntnis nicht auf sinnliche Wahrnehmung, sondern auf Vernunfteinsichten stützt. Demgemäß haben wir neben von außen erzeugten i d e a e a d v e n t i t i a e und unseren Phantasievorstellungen angeborene (i n n a t a e ) Ideen, die der Geist aus sich selbst gewinnt, z. B. die Idee Gottes. Solche Ideen erschließen sich aus ihrer Denknotwendigkeit. Nach Descartes haben wir r e a l i t a t e s o b j e c t i v a s im Verstand, Ideen der Dinge im Geist, die in den Dingen (r e s e x t e n s a e ) formal erscheinen. Voraussetzung dieses formalen Abbildcharakters ist die Überzeugung, daß Gott wie der platonische Demiurg die Welt so eingerichtet hat, daß wir ihre Gesetze und Regeln auch erkennen können. Die Verläßlichkeit unserer Informationen über die Welt liegt begründet in der Vollkommenheit und damit Wahrhaftigkeit Gottes, der als solcher nie betrügen kann. Descartes geht also in bezug auf unsere Welterfahrung von Evidenzwissen aus, nicht von operationalen Erschließungsversuchen: Die Notwendigkeit der Erkenntnis liegt ihm zufolge in der Evidenz der angeborenen Ideen. Für Kant dagegen kann das reine Denken kein Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit sein: Erkenntnis des Menschen kann nie an der Erfahrung vorbeiführen. Wir haben keine Ideen im Verstand, zu denen wir nur noch die Entsprechungen in der Wahrnehmung suchen müßten. F o r m a n o n d a t e s s e . Das Begrifflich-Rationale kann nicht gegen das Konkret-Existentielle ausgespielt werden. „Es muß im Sinn von Denken liegen, daß es immer nur in der Erfahrung stattfinden kann.“ (Denken, 210.) Denken ist nie nur reines Denken, denn der Mensch existiert nicht unabhängig von den seienden Dingen außerhalb seiner. Unser Denken wird immer „an der Erfahrung gewonnen“. (Ebd.) Denken wird also auch nicht durch Erfahrung gewonnen. Kant ist entschieden weder Empirist noch Sensualist. Er weiß, daß der Mensch nie ohne sein Erfahrungswissen und nie unter Absehung von seinen sinnlich erfahrenen Eindrücken denken kann. Aber die Kategorien, in denen unser Verstand denkt, sind für Kant keine Seins- oder Realkategorien, sondern Erkenntniskategorien. Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind keine Eigenschaften der Dinge, sie beziehen sich auf die Erscheinung von Dingen. Diese begegnen uns, indem wir sie unter bestimmten Bedingungen wahrnehmen. Die Kritik Kants an der konventionellen wie an der „neuen“ cartesischen Metaphysik nimmt ihren Ausgang von der Unterscheidung der Dinge, wie sie „an sich“, d. i. unabhängig von der Betrachtung durch ein erkennendes Subjekt bestehen, von deren Erscheinung als Gegenstand unserer Wahrnehmung.
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Nach Kant entspringt menschliche Erkenntnis aus zwei Grundquellen des Gemüts. Diese zwei „Stämme“ der menschlichen Erkenntnis sind zum einen die Sinnlichkeit, die Vorstellungen empfängt (Rezeptivität der Eindrücke), zum anderen der Verstand, der durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen vermag (Spontaneität der Begriffe). Vermittels der Sinnlichkeit wird ein Gegenstand gegeben, der Verstand denkt diesen Gegenstand im Verhältnis auf Vorstellungen hin. Anschauung und Begriffe sind somit die Elemente menschlicher Erkenntnis. Weder können Begriffe ohne eine ihnen korrespondierende Anschauung Erkenntnis begründen, noch träfe dies auf eine Anschauung ohne Begriffe zu. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“.¹²⁷ Die vorkantische Metaphysik operierte – so lautet Kants Vorwurf – mit „leeren“ Begriffen, seinem Verständnis nach also Begriffen, denen keine Anschauung zugehört. Für Kants Realitätsbegriff ist sinnliche Wahrnehmung konstitutiv: „Die Sinnlichkeit, dem Verstande untergelegt, als das Objekt, worauf dieser seine Funktion anwendet, ist der Quell realer Erkenntnisse“.¹²⁸
Die vorkantische Metaphysik kennt diese Differenzierung spätestens seit Platon, ging jedoch nicht so weit, das An-sich der Dinge für unerkennbar zu erklären. Sofern Kant Erkenntnis als an Sinneswahrnehmung gebunden versteht, muß er das jenseits möglicher Erfahrung bleibende, in diesem Sinne transzendente Ansich der Dinge als einen der Erkenntnis verschlossenen Bereich auffassen.¹²⁹ In dieser Abgrenzung eines „wahren“, der Erkenntnis entzogenen Seins von dessen Erscheinen als Wahrnehmungsgegenstand behauptet sich Kant als der erste Philosoph, der sich explizit als Erkenntnistheoretiker versteht. Er teilt der Metaphysik eine neue Aufgabe zu: nicht länger über das Übersinnliche, Ungegenständliche zu spekulieren, sondern die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens logisch einzuholen. Kant selbst stellt sich dieser Aufgabe in seiner in der Kritik der reinen Vernunft entwickelten Transzendentalphilosophie. Transzendental nennt er „alle Erkenntnis [..], die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“.¹³⁰ Diese Definition bezieht sich zum einen auf erfahrungsunabhängige Bedingungen empirischer Erkenntnis im Subjekt, welche der sinnlichen Erfahrung von Erkenntnisgegenständen erst eine logische Form geben und dadurch deren intersubjektive Geltung sichern. Sie begründet zum anderen eine Kritik jedes erfahrungsjenseitigen, transzendenten Gebrauchs der Vernunft. Darunter versteht Kant ein ontologisierendes Verfahren, die Behauptung substanzhafter Existenz, wo allein eine notwendige logische Funktion gedacht werden kann.
127 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft I, Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, hg.v. Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a. M. 1974, 98 (B 75/A 51). 128 Kant, a. a.O., 309 (B 351/A 296 Anm.). 129 Vgl. Kant, a. a.O., 318 f. (B 365 f/A 308 f.). 130 Kant, a. a.O., 63 (B 25/A11).
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Kants Abgrenzung gegen etablierte Erkenntnisbegriffe ist epochal. Daher ist es für die weiteren Ausführungen entscheidend zu verdeutlichen, daß Kant und Liebrucks geradezu entgegengesetzte Auffassungen von Erkenntnis vertreten. Während für Kant Erkenntnis auf der Unterscheidung der sinnlich erfahrbaren Erscheinungen vom „Ding an sich“ als dem Grund der Erscheinungen beruht und als exakte Erkenntnis allein der erscheinenden Gegenstände definiert ist, besteht sie für Liebrucks im logischen Nachvollzug der Einheit von Idealität und Erfahrungswirklichkeit (Methexis), im Denken der Gegenständlichkeit der Gegenstände. „Erkenntnis ist dort, wo alles ‚bittweise‘ vorgetragen wird.“ (SuB V, 22.) Erkenntnis ist nicht zweck- oder nutzenorientiert; das unterscheidet sie vom formallogisch errungenen Verfügungswissen. Erkenntnis befiehlt den Dingen nicht, sich bestimmten Denkkategorien zu fügen. Sie will nicht etwas über die Dinge wissen, sondern begreift an ihren Gegenständen sowohl deren Gegenständlichkeit als auch deren Übergegenständlichkeit. Erkenntnis hat sich in ihren Gegenständen selbst zum Gegenstand. Insofern ist sie „der Akt, in dem der Mensch im Fremden die Verwandtschaft erfährt.“ (A. a.O., 19.) Sie ist dies als „der aufgelöste Widerspruch des Einen und der Vielen, der Subjektivität und der Objektivität, des Allgemeinen und des Einzelnen.“ (SuB VI/3, 472; vgl. SuB VI/1, 599.) Als erkennendes Subjekt sind wir „nicht eine Substanz, die der positiven Welt angehört, sei es ontologisch oder als Grundsatz, die dann dazu noch die dingliche Eigenschaft des Erkennenkönnens hat.“ (SuB V, 327.) Erkenntnis eines Gegenstandes besteht in der Erkenntnis von dessen Gegenständlichkeit, d. h. in der Einsicht, daß die Gegenstände der Erkenntnis ihr Eigendasein in der SubjektSubjekt-Objekt-Beziehung haben, in welcher sich das Subjekt im Ersprechen von Welt selbst erspricht. „Erkenntnis ist der Vorgang, der immer zugleich praeter nos wie in nobis ist.“ (SuB VI/3, 504.) In der Erkenntnis seiner Gegenstände thematisiert sich das erkennende Subjekt selbst. „Nur auf dem Weg über die uns gewordenen Gegenstände erfahren wir uns selbst als Weltumgang.“ (SuB VII, 26.) Das Subjekt der Erkenntnis begreift sich, indem es in seinem Hingegeben-Sein an seine Gegenstände seinen Selbstbezug als die logische Spannung von Substantialität und Subjektivität denkt, in welcher sich das Bewußt-Sein in seinen Begriffen selbst konstituiert. Liebrucks reserviert den Begriff der Erkenntnis also für das dialektische Selbstdenken des Denkens. Wissen ist das Geschäft der formalen Logik, deren Gegenstände ihre logische Genese vergessen lassen müssen, wenn mit ihnen verfahren werden soll. Erkenntnis dagegen ist „nur dort, wo der Begriff sich selbst begreift.“ (SuB VI/3, 584.) Erkenntnis hat also nichts Bestimmtes zum Inhalt. „Von Erkenntnis ist erst dann zu sprechen, wenn das Unbestimmte als Unbestimmtes ausgesprochen ist, wenn der den Satz von Haus aus zugehörige Gegensatz in vollem Bewußtsein steht. Darin erst besteht Bewußt-Sein.“ (SuB III, 48.) Formuliert Erkenntnis aber die logische Struktur menschlichen In-der-Welt-Seins als Bewußt-Sein, ist deutlich, „[…] daß Leben Moment im Erkennen ist, Erkennen dagegen nicht ein Moment im Leben […].“ (SuB VI/1, 381.)
Kant versteht Erkenntnis als „Bewirken von Einheit in der Mannigfaltigkeit.“ (SuB IV, 460.) Darin ist der Erkenntnisbegriff aller positivierenden Logik ausgesprochen. Dagegen denkt eine sprachliche Logik die Proportionalität des Anwachsens
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von Mannigfaltigkeit zum Generieren immer weiter reichender Vereinheitlichung. „Erkenntnis ist weder Vergegenständlichung noch Entgegenständlichung, sondern die Einheit beider. Die Einheit steht sowohl unter der Einheit der transzendentalen Apperzeption wie unter ihrem für die Erkenntnis genauso notwendigen Verlust.“ (A. a.O., 620.) So gedacht zeigt sich Einheit nicht als Gegenstück oder Kompensation von Vielheit, sondern als deren Aufhebung in Bewahrung von Nicht-Identität und Unbestimmtheit. Diese Einheit, die als das Allgemeine des Begriffs im Fortlauf des vorliegenden Kapitels logisch zu erringen sein wird, widersteht jeder Uniformierung und ist als Einheit, als Allgemeines Platzhalter für Individualität. Das Absolute, wie es von Kant begriffen wird, ist ein postuliertes Allgemeines. Dieses hält keine Mannigfaltigkeit in sich lebendig, sondern ist ein Mannigfaltiges. (Vgl. a. a.O., 464.) „Diesen emphatischen Begriff des Absoluten teilt Kant mit der alten Metaphysik.“ (A. a.O., 95.) Kant bleibt hier einem gegenständlichen Denken verhaftet, das die Gegenständlichkeit nicht zu denken vermag, obwohl es sie aufzeigt. Das Absolute fungiert als ein Begriff, der Unbestimmtheit ausschließen soll. In diesem Sinne ist er „emphatisch“ – und daher selbst unter Ausschluß von Unbestimmtheit formuliert. „Dieser Begriff des Absoluten ist das Gegenteil des dialektischen Begriffs des Absoluten.“ (Ebd.) Solchen ordnet Liebrucks Hegel zu, dessen Verständnis vom Absoluten erst begriffen sei, „wenn die endgültige Unmöglichkeit, Gott als Gegenstand zu konzipieren, begriffen ist. Das ist das Werk der ‚Logik‘.“ (SuB III, 611.) Das Bestimmtheit und Unbestimmtheit aufhebende Absolute Hegels ist kein postulierter Schluß, sondern die νοησις νοησɛως, die sich nicht über eine Abstraktionsform ihrer selbst denken läßt – zumindest über keine, die den logischen Weg zu sich selbst bleibend verleugnet. „Gesetzte Bestimmtheiten können sich nicht selbst enthalten.“ (SuB VI/1, 145.) Die Einheit der absoluten Identität wird laut Hegel in der verstandesgelenkten Reflexion aufgeteilt in eine dem p r i n c i p i u m i d e n t i t a t i s folgeleistende Identitätsbestimmung und einer Art Aufspaltung, in der sich Bestimmtes als durch Anderes bestimmt erweist. Identität und Nicht-Identität liegen in stetem Widerstreit miteinander, vermittelt sind sie als jeweils auf das Absolute Bezogene. Die Reflexion dieses Bezugs nennt Hegel die Negation der Negation oder Reflexion der Reflexion. Erst in ihr ist wahre Identität, die als solche absolute Identität sein muß: Einheit und Widerspruch nicht nihilisierend, sondern in sich enthaltend. Trotz der bezeichneten epistemologischen Differenz ist es Kants transzendentallogische Kritik, die den Boden für Liebrucks’ Sprachphilosophie ebnet. Entsprechend der bezeichneten Zentralstellung des Gottesbegriffs in Logik und Erkenntnistheorie bildet auch Kant entscheidende Gedanken seiner transzendentalphilosophischen Kritik in der Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, Gott zu denken, aus. Seine Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises, insbe-
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
sondere seine Ausführungen zur Existenz Gottes sind es, die Liebrucks in der Dialektik von Aufnahme und Überwindung des zweiten „Revolutionärs“ der Denkart zur Formulierung eines sprachphilosophischen Gottesbegriffs leiten. Das vorliegende Kapitel will diesen Denkweg nachzeichnen.
II. Existiert Gott? Ein Gottesbeweis ist der Versuch, die Notwendigkeit einer Existenz Gottes logisch herzuleiten und zu belegen. Die vorkantische Metaphysik betrachtete die Systematizität der formallogischen Weltordnung als von einem göttlichen All-Einen der Realität mitgegeben, das diese Systematizität an sich habe. „Wenn das Dasein Gottes bewiesen werden sollte, so wurde das Dasein als omnitudo realitatis angesetzt.“ (SuB VI/2, 173.) Gegen die Selbstverständlichkeit der Annahme einer solchen Notwendigkeit als Grund einer erfahr- und berechenbaren Weltordnung stellt Kant die Frage, ob Gott überhaupt existieren darf, wenn eine solche Ordnung Bestand haben soll. Seine Einwände gegen die reale Existenz eines e n s r e a l i s s i m u m seien im folgenden skizziert. Formallogisches Fundament jeglichen Gottesbeweises ist die Prämisse, daß die Bestimmbarkeit von Begriffen, die über ein Ding ausgesagt werden, durch eine vorgängige Bestimmung des Dinges konditioniert ist. (Vgl. SuB IV, 174 ff.) Sollen logische Urteile über ein Ding gefällt werden können, ist ein Einheitsgrund vorausgesetzt, aus dem heraus die Bestimmtheiten des Dinges zu stehen kommen. „Die Frage nach der Erkenntnis ist immer schon die Frage nach dem Absoluten.“ (SuB V, 321; vgl. Denken, 211.) Im Bestimmen durch Zuordnung eines Prädikats im Ausschluß anderer ist eine Totalität an Möglichkeiten angenommen. Ergibt sich Identität durch Abgrenzung („x ist y, nicht z“), ist in diesem Vergleichsverfahren ein Inbegriff sämtlicher Möglichkeiten mitgedacht, der als solcher alle Dinge betrifft. Kant nennt diesen die o m n i t u d o r e a l i t a t i s . Der Verstand ist angewiesen auf ein Absolutes, einen „Gott“ als Schlußstein des Gedankengebäudes, in dem die begegnende Welt eingeschlossen wird. (Vgl. SuB IV, 210; vgl. 240.) Die Prämisse einer durchgängigen Bestimmung aller Dinge fundiert den Geltungsanspruch der formalen Logik; folglich darf sie nicht in Frage gestellt werden, wenn die formale Logik sich nicht selbst a d a b s u r d u m führen will. Formallogische Urteilsbildungen behaupten ihre Richtigkeit, indem sie ihren eigenen Vordersatz „vergessen“ – die ihren Ursprung betreffende Amnesie ist Voraussetzung ihres Bestehens und Funktionierens.¹³¹ Vor Kant geschah die Set-
131 Die wissenschaftliche Weltbegegnung, zu der auch die vorkantische Metaphysik gehört, ist
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zung einer o m n i t u d o r e a l i t a t i s nach Liebrucks’ Meinung sogar gänzlich unbewußt. Erst „[d]ie Kritik hebt den Setzungscharakter ins Bewußtsein.“ (SuB IV, 242.) Die Hinterfragung der eigenen Voraussetzungen ist die Frage nach einer Dialektik, die – geht es um die reine Funktionstüchtigkeit des technisch-praktischen Weltumgangs – in bezug auf die diesen begründende formale Logik vermieden werden muß.¹³² Erst in der Gleichsetzung von Vernunftforderungen mit Erkenntnis verfängt sich die formallogische Systematik in einer Binnenperspektive. Vor allem beim kosmologischen Gottesbeweis, dem Schluß von der Welt auf einen Weltenschöpfer,wird der logische c i r c u l u s v i t i o s u s aller Gottesbeweise augenfällig: Man schließt von der Erfahrung auf eine Notwendigkeit, ohne zu bedenken, daß die bezeichnete Erfahrung bereits eine unter notwendigen Annahmen stehende ist.¹³³ „Das Resultat verdankte sich der Methode.“ (A. a.O., 212.) Das „Erkennen“ innerhalb der eigenen Positionen bleibt Bedürfnisbefriedigung – es formuliert keine Erkenntnis, sondern ein Sollen.¹³⁴ „Kant hat bewiesen, daß wir unter formallogischen Voraussetzungen und ohne Metaphysik Gott, die Welt und uns selbst nicht als existierende, sondern nur als Prinzipien oder Ideen ansehen müssen, und daß wir darin von ihm ab nicht mehr frei sind, […] jeweilig anders zu denken.“ (Selbstbewußtsein, 101.) Dagegen vertritt die alte Metaphysik die Vorstellung eines real existierenden, transzendenten e n s r e a l i s s i m u m , das die Welt der Dinge aus sich heraussetzt. „Die vorkantische Metaphysik hatte das Logische als die Vernunft angesehen, die man im strengen Sinn nur Gott zusprechen konnte, weil er allein solche Gedanken habe, die zugleich wirkliche Dinge sind. In ihm allein konnte die volle Methexis von Denken und Sein stattfinden. Der Platonische Gedanke der Idee des Guten, die zugleich Seins- und Erkenntnisgrund der Dinge ist, wurde in der christlichen
„immer in der echten Allheit der Sphäre eines Gottes gebunden [..]. Solange man innerhalb seiner Systematizität steht, sieht man den Gott nicht und hält sich für so weit vorurteilsfrei, wie es Menschen möglich ist.“ (SuB VI/3, 93.) 132 „Die Nichtbeachtung der Dialektik innerhalb der Begriffsbildung ist zwar nicht die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis, aber die oberste Bedingung der Möglichkeit, Erkenntnis als Annäherung an solche Dinge zu verstehen, die in sich durchgängig bestimmt sind.“ (A. a.O., 461.) 133 „Im kosmologischen Beweis dagegen haben wir den Schluß auf ein Wesen (das ens realissimum), aus dem die Notwendigkeit erst resultieren soll, während der Schluß auf dieses Wesen schon aus dem Begriff der Notwendigkeit resultierte.“ Und weiter: „Das Resultieren der Notwendigkeit der Existenz aus dem Begriff des ens realissimum aber ist der im kosmologischen Beweis versteckte ontologische.“ (A. a.O., 209.) 134 „Die Zubereitung der Welt der Positivität dagegen besteht darin, daß die Anschauung dem Verstand unterstellt wird und sich nur noch innerhalb seines Herrschaftsgebietes regen darf.“ (A. a.O., 77.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Tradition zu den Gedanken eines göttlichen Wesens hypostasiert, das in der Existenzweise der absoluten Position Dasein und solche Gedanken, wie die Platonischen Ideen, als Eigenschaften an sich hat. Gott schien die Welt nicht, wie im Alten Testament, gesprochen, sondern gedacht zu haben. Dabei konnte man sich das Denken Gottes immer nur via negationis zu dem jeweilig erreichten Denken des Menschen vorstellen. Augustinus konnte annehmen, daß die Platonischen Ideen die Gedanken Gottes seien, und daß die Heiden die Verehrung Gottes mit der Verehrung seiner Werke verwechselt hätten.“ (SuB VI/1, 161.) Wenn sich aber – Kant zufolge – die Ordnungsleistung des Verstandes auf die Dinge als seiende Ausdifferenzierungen eines nicht verursachten Grundes alles Daseins bezieht, ergreift das Denken doch nie das i p s u m e s s e , sondern lediglich dessen Prädikate. „Gott in Prädikationen fassen zu wollen, hieße im Ansatz an seiner Wirklichkeit vorbeidenken.“ (SuB III, 127.) Gott ist das Absolute, in dem alle Prädikationen aufgehoben sind. Die höchste Wirklichkeit kann somit niemals Gegenstand der Betrachtung sein, weil in dieser alle Möglichkeiten zugleich gedacht werden müßten. Der Beweis des höchsten Wesens läuft demzufolge ins Leere, die transzendentalphilosophische Reflexion bringt die metaphysischen Höhenflüge zum Absturz: „Denn theoretische Beweise sind nur in einem Gebiet möglich, das an vom Menschen gesetzten Prinzipien hängt und aus ihnen deduzierbar ist.“ (A. a.O., 280.) Kant erteilt der Metaphysik als Wissenschaft vom Absoluten eine klare Absage. Formale Logik beweist seiner Ansicht nach in bezug auf das, was über die Gegenstände der Erfahrung hinausgeht, nichts. Diese Ablehnung der Erkennbarkeit einer realen Existenz Gottes läßt jedoch die Systematizität der Welt der erscheinenden Dinge nicht kollabieren – sie ist deren Bedingung. Als Garant der innerweltlichen Ordnung der Dinge darf Gott laut Kant nicht existieren, wenn unter einer solchen Existenz reales Dasein verstanden wird. Da es alle Möglichkeiten in sich enthielte, wäre ein existierendes e n s r e a l i s s i m u m nicht durchgängig bestimmt, sondern unbestimmt, sofern es sowohl Bestimmtes als auch Unbestimmtes hervorzubringen vermöchte. „Man kann niemals wissen, was ein existierender Gott anstellen könnte.“ (SuB V, 296.) Ein real existierendes e n s r e a l i s s i m u m wäre ein Gott, dem man mißtrauen müßte. ¹³⁵
135 „Wir sind um der Vermeidung des Widerspruchs willen, den wir uns aufzulösen nicht getrauen, der Ansicht, daß wir zuerst als schon Seiende denken und darin so etwas wie das Sein denken. Aber was wir da denken, müssen wir dann als ein dem Denken unterlegtes, abstrakt Endliches, weil exakt Bestimmbares vorstellen. Das ist der logische Status des Endlichen, das das Unendliche, d. h. sein eigenes Denken als von ihm toto coelo Abgetrenntes ansehen muß, weil es unter dem Spiritus rector der Angst steht, von einem Wirklichen, das es nicht vorher als bestimmtes Wirkliches angesehen, das es nicht schon a priori positiviert hat, verschlungen zu werden.“ (SuB VI/1, 380.)
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Die Existenz eines e n s r e a l i s s i m u m ist nur dann eine Garantie der durchgängigen Bestimmung aller Dinge, wenn diese Existenz absolute Position ist.¹³⁶ Ein reines Ideal ist als solches unveränderlich, ein Seiendes – und sei es das i p s u m e s s e – nicht. Die Beständigkeit der Ordnungen, anhand derer oder als die wir unsere praktisch-technischen Weltzugänge entwerfen (z. B. die Annahme der durchgängigen Bestimmung der Dinge), hängt an der Idee der Unveränderlichkeit, die in der Gottesidee Ausdruck findet. An dieser Stelle drängt sich erneut der bereits konstatierte Zusammenhang zwischen dem Gottesbegriff und der Freiheit des Menschen in den Fokus der Diskussion. Die reine Idealität einer o m n i t u d o r e a l i t a t i s erweist sich als Bedingung für einen Handlungsspielraum des Menschen.¹³⁷ Wären alle Dinge in Wahrheit durchgängig bestimmt, könnte die Vernunft nicht arbeiten, sofern ihre Erkenntnisleistung synthetisch ist.¹³⁸ Es darf keine reale durchgängige Bestimmung geben, denn „[n]otwendig können nur Verhältnisse an einem Zufälligen sein.“ (SuB IV, 637.) Wenn die o m n i t u d o r e a l i t a t i s real existierte, wäre die Weltenordnung nie garantiert, sofern wir keine Einsicht in ihre Notwendigkeit hätten. Wäre alles von Gott arrangiert, so stünde auch unser Denken komplett in diesem Arrangement und vollzöge lediglich gegebene Strukturen mit. Alles erschiene als notwendig – ohne 136 Vgl. SuB IV, 285. Es hat „sich bei der sogenannten Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises um eine im Beweis nicht vorhandene, also erschlichene Widerspruchfreiheit gehandelt [..]. Die objektive Motivation zur Widerlegung liegt in der richtigen Annahme, daß alle Dinge als durchgängig bestimmt angesehen werden müssen, wenn formale Logik im Gewande der transzendentalen Logik Erkenntnisdignität haben soll und nicht nur die Minimalbedingung zur Erkenntnis und Mitteilung von Resultaten darstellt. Eine wirkliche omnitudo realitatis würde diese durchgängige Bestimmtheit niemals garantieren.“ (Gedanke, 138 f.) – Kant kann also die Annahme einer prästabilierten Harmonie, wie Leibniz sie deklariert, nur ablehnen, weil auch in dieser Harmonievorstellung nicht die Möglichkeit ausgeschlossen ist, daß die Verhältnisse der Dinge von Gott in dessen absoluter Freiheit neu geordnet werden könnten. „Spricht man z. B. von einer prästabilierten Harmonie zwischen Leib und Seele, so sind beide als Objekte gesetzt. Gott setzt als gewaltiger Herr die Harmonie. Es hängt von der Freiheit der Willkür eines Herrn ab, der die also Unfreien verknüpft hat, aber auch anders verknüpfen könnte.“ (SuB VI/3, 383.) 137 Das Postulat einer o m n i t u d o r e a l i t a t i s verheißt die Sicherheit einer Welt, in der alles an seinem durchgängig bestimmten Platz ist. Das Ordnungskriterium einer solchen Welt ist die Nützlichkeit. „Aber wir haben vergessen, daß die erste Unmittelbarkeit der Vereinigung von Glauben und reiner Einsicht die Nützlichkeit ist, die sich als être suprème eingeschlichen hat. Es ist eine Welt, in der jedes Ding jedem nützlich ist und eine solche, in der der Mensch sich nun von dieser seiner Herstellung her begreift und so des gutmütigen Glaubens bleibt, es sei ein Fortschritt erzielt, wenn jeder Mensch zu jeder Verrichtung nützlich, wenn jeder ersetzbar ist.“ (SuB V, 232.) 138 „Die Bedingungen der Möglichkeit dafür, daß synthetische Urteile a priori als auf den Inhalt gehende Erweiterungsurteile in Anspruch genommen werden können, liegen in der Idealisierung von Ich (logisches Ich), von Gott (transzendentales Ideal) und Welt (Idee).“ (SuB VII, 22.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
es sein zu müssen. Kant demaskiert die in der Annahme eines real existierenden Gottes vertretene Auffassung einer garantierten Weltordnung als versteckten Skeptizismus. Dennoch setzt das synthetische Operieren paradoxerweise die oben genannte Garantie eines beständigen und lückenlosen Konnexes von Bestimmungen voraus. „Das transzendentale Ideal genügt nur als Idee der Verständlichmachung ,der inneren Bestimmungen eines Dinges‘ in seiner durchgängigen Bestimmtheit. Ist aber nach dem Dasein eines solchen Wesens gefragt, so tut es gerade als göttliches Dasein der Frage nach den inneren Bestimmungen eines Dinges kein Genüge. Das wäre schon ein überirdisches Genügen in Gott, kein irdisches Vergnügen in ihm, da die Dinge seine Existenz ja spüren könnten und um ihre durchgängige Bestimmtheit gebracht würden, und der Mensch dann nicht erst die Idee der technischen Beherrschbarkeit der Welt fassen könnte.“ (A. a.O., 209.) Eine systematische und objektiv gültige Einheit der Natur ist an sich unbeweisbar – und ebensowenig zutreffend auf Erfahrung von Welt. Einzig als transzendentale Idee kann sie Kant zufolge als verbürgt gelten, da in diesem Fall die Garantie dieser Bestimmtheit in der Forderung der Vernunft liegt, die dem Verstand die Regel gibt. Zum Verständnis der folgenden Ausführungen ist es vonnöten, eine weitere Begriffsklärung vorzunehmen. Wo in der nachstehenden Argumentation der Ausdruck „Idee“ gebraucht wird, ist er in dem von Kant geprägten Sinne als transzendente Idee zu verstehen. Die Idee steht im transzendentallogischen Kontext für einen notwendigen Vernunftbegriff, der sowohl aus Schlußverfahren resultiert als auch Schlußstein sein soll. Der Idee als transzendenter entspricht kein Erfahrungsäquivalent, obschon sie auf die Erfahrung bezogen ist. Doch sie konstituiert diese nicht, sondern dient als Regulativ eines einheitlichen Bezugsrahmens, in den eingezeichnet die vereinzelten Erfahrungen einen Sinnzusammenhang ergeben. Die Idee ist eine unbedingte letzte Bedingung aller Erfahrung, die epistemologisches Postulat bleibt, dem man sich in seinen Erkenntnisbemühungen annähert, ohne es jemals zu erreichen. In der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant: „Ich verstehe unter der Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein congruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann.“ Die transzendentalen Ideen „betrachten alle Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen. Sie sind nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben und beziehen sich daher notwendigerweise auf den ganzen Verstandesgebrauch. Sie sind endlich transzendent und übersteigen die Grenze aller Erfahrung […].“¹³⁹ Diese Ideen stehen für eine Vollkommenheit, die in jeder logischen Bestimmung als Bestimmung des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem vorausgesetzt sein muß. Die drei Ideen der Metaphysik sind: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Die Idee hat eine nur positive Existenz. Im Kontrast zu diesem Verständnis von Idee steht die Besetzung des Begriffs „Idee“ durch Hegel. Für diesen ist die Idee der sich in das reale Sein entfaltende Begriff, die Einheit von Idealismus und Realität.Was Hegel als Idee beschreibt, entspricht bei Liebrucks der Rede
139 Kant, KdV I, 331 (B 384/A 327).
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vom Weltumgang.¹⁴⁰ Schon Hegel verwendet für diese Einheit von Geist und Sinnlichkeit, die sich auch als Einheit von Subjektivität und Objektivität paraphrasieren läßt, den Ausdruck Logos, erweist sich doch die Vielschichtigkeit der Bedeutung dieses altgriechischen Ausdrucks als hermeneutischer Schlüssel, mit dem sich der Zugang zur logischen Dialektik von Sein und Denken aufschließen läßt. Die Entfaltung der Idee als Weltprozeß trägt mannigfaltige Gesichter, aus denen uns die Bewußtseinsstufe der jeweiligen Gesellschaft anschaut. Als Logos ist die Idee „der logische Status, in dem Gott und Mensch in Einheit stehen, so daß meine Gedanken immer nur als die Gedanken Gottes meine Gedanken sind, daß Gott seine Gedanken nur in meinen Gedanken als seine Gedanken hat.“ (Ebd.) Dieses Motiv wird in der folgenden Darlegung noch einmal Aufnahme finden, an dieser Stelle genüge eine Deutung seiner als Umschreibung der Konkretion des Absoluten in den sprechenden Subjekten, somit aber als eines der Hauptgedanken des vorliegenden Kapitels, der noch ausgeführt werden wird. Da diese Untersuchung das Ziel hat, die Thesen sowie die Terminologie darzulegen, welche die philosophische Identität Liebrucks’ kennzeichnen, wird darauf verzichtet, die hegelsche Denk- und Sprechweise über Gebühr in den Text einzubringen. Oft genug ist dies ohnehin entweder kaum möglich oder nur schwer entscheidbar, da Liebrucks seine Philosophie als Zuspitzung der hegelschen Logik formuliert und ihr auch terminologisch verbunden bleibt. Im Zuge seiner sprachphilosophischen Pointierung der Logik Hegels bringt er aber ebenso eigene Termini in die Diskussion ein oder besetzt aus der ihm vorliegenden Denktradition ererbte Wörter inhaltlich neu. Dieser spezifische Sprachgebrauch Liebrucks’ ist Umsetzung seiner philosophischen Thesen. Die Charakteristika seiner Ausdrucksweise sind für sich genommen bereits Äußerungen seiner philosophischen Standpunkte. Daher kann weder auf ihren Gebrauch verzichtet werden noch die Ersetzung dieser Termini durch ihre Entsprechungen in verwandten philosophischen Entwürfen erfolgen. Letztere aufzuzeigen dient lediglich als Nachzeichnung des Geburtsweges der Thesen Liebrucks’ und somit deren Erhellung, bleibt aber hinter den eigentlichen Pointen noch zurück. So wird im vorliegenden Kontext der Gebrauch des Ausdrucks „Idee“ als Charakteristikum der hegelschen Philosophie angesehen, deren Kongruenz mit dem antiken und neutestamentlich verwen-
140 Die Idee ist der logische Status der Einheit von Gott und Mensch, sie ist „der Schnittpunkt der beiden Hauptprobleme der abendländischen Philosophie, die in die Subjektivität hinübergeworfene Objektivität wie die in die Realität eingetretene Idealität. Sie ist die coincidentia contradictorium der Welt der Positivität. Sie ist das Wort. Die Kunst, die Religion und die Politik leben dort, wo sie menschlich sind, nur in ihr. Sie ist der Zusammenfall dieser einzelnen guten Tat mit der in dieser Tat vorausgesetzten Prozessualität, daß alles, was geschieht, gut ist. Sie ist die Einheit der einzelnen guten Handlung mit dem Guten. Sie ist die immer procedierende Einheit von Prozeß und Resultat. Sie ist das Symbol als Einheit von pars und totum. Sie ist die Vereinigung jedes Menschen mit Gott im Gebet des Einzelnen. Sie ist die Vereinigung von gemachtem Kunstwerk und gewachsenem Organismus. Im von Hegel erreichten logischen Status dagegen ist sie die Vereinigung der Idee Platos als Grund alles Seins und Erkennens wie guten Tuns mit der Idee Kants als theoretische und praktische Vernunftforderung. Bevor wir diese Vereinigung nicht in ihrem logischen Status erkannt haben, leben wir nicht aus unserer Situation, sondern überhören die eben angeführten Aussagen über die Idee als luftige Spekulation oder wie immer wir unser Vorübergehen am Zentrum unseres eigenen Lebens dann nennen.“ (SuB VI/3, 444.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
deten Wort „Logos“ von Hegel eingeführt, erst von Liebrucks aber sprachlogisch erörtert wird, weshalb hier vom Logos resp. der Sprache die Rede ist, wie Liebrucks sie begreift, nicht aber von der Idee, wie sie von Hegel logisch erfaßt wird.
Steht jedes logische Schlußverfahren unter der Voraussetzung der Bestimmtheit seiner Argumente, d. h. der Annahme, daß seine Prämissen und Ableitungen notwendig so und nicht anders sind, ist mithin bereits aufgezeigt, daß die Notwendigkeit durchgängiger Bestimmung nicht an sich besteht, sondern nur in Bezug zum Urteilsverfahren.¹⁴¹ Die durchgängige Bestimmung „Gottes“ darf stets nur Idee sein, ein für das technisch-praktische Operieren des Verstandes notwendiges, regulatives Prinzip: die Voraussetzung einer konstanten Grundstruktur der Realität, welche die Zuschreibung von Identitäten erlaubt. Nahm die alte Metaphysik eine existierende o m n i t u d o r e a l i t a t i s an, so war nicht dies ihr Fehler, sondern ihre undifferenzierte Verwendung des Wortes „ist“. Wird nicht zwischen verschiedenen Bedeutungen dieser Vokabel unterschieden¹⁴², kann jede Zuschreibung von Prädikaten durch diese Copula zugleich als Existenzbehauptung gelten. Die doppeldeutige Verwendung der Copula „ist“ orientiert sich am p r i n c i p i u m c o n t r a d i c t i o n i s : Kommen einem Ding bestimmte Eigenschaften zu, kann nicht behauptet
141 Liebrucks gibt zu: „Das sagt Kant allerdings nicht.“ (SuB IV, 191.) Er legt damit offen, daß er hier seine eigene Lesart der Kritik der reinen Vernunft präsentiert. – An anderer Stelle dokumentiert er die Unsittlichkeit einer durchgängig bestimmten Identität, die keine Mehrdeutigkeit zuläßt; schon Hegel zeigt eine in der formalen Strenge eines Schlusses liegende Unsittlichkeit auf. Ich zitiere hier die Zusammenfassung durch Liebrucks: „Zum Schluß gibt Hegel einen ernsten Hinweis. Setzt man nämlich die abstrakte Identität des Subjekts und des Prädikats als dasjenige, was den formalen Schluß auf der Spitze seiner Exaktheit zeigt, dann ergibt sich ein Schluß, der so aussieht. Alle Christen sind Menschen Die Juden sind keine Christen Also sind Juden keine Menschen […].“ (SuB VI/3, 339.) Hier offenbart die Einseitigkeit der formallogischen Strukturierung ihre Gefahr, zur Entmenschlichung zu werden. Daß dies kein Hysterie ist, mußte Liebrucks im sogenannten „Dritten Reich“ erfahren. 142 „Die ‚Ist‘ des ‚Etwas‘, des mathematischen Gleichheitszeichens, des Maßes, der Identität, des Unterschieds, des Widerspruchs, des Grundes usw. sind alle voneinander unterschieden. Dennoch bleiben sie in logischer Verbindung miteinander. […] Kant hatte gezeigt, unter welchen transzendentalen Bedingungen das Wort ‚Ist‘ nur als Verhältniswörtchen erscheinen darf. Hegel fragt nach den Bedingungen, unter denen das Wort ‚ist‘ nicht nur Verhältniswörtchen in Urteilen ist.“ (SuB VI/1, 137.) Das vorliegende Kapitel geht ebenso vor: Über die Darstellung der transzendentallogischen Einschränkung des Gebrauchs des Wortes „ist“ soll zu Möglichkeit und Wirklichkeit einer durch dieses Wort formulierten Existenzaussage vorgedrungen werden, die Liebrucks‘ von Hegel inspirierten Standpunkt verdeutlicht.
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werden, dieses Ding existiere, auch nur eines seiner Prädikate aber nicht.¹⁴³ Der Satz „Gott ist allmächtig“ sagt diesem Verständnis nach aus, daß Gott als allmächtiger existiert, d. h. das Prädikat ist von vornherein mit einer Seinsaussage verbunden. Von einer Nicht-Existenz göttlicher Allmacht kann demnach nur die Rede sein, wenn auch Gott nicht existiert. Dieses Entweder-Oder beruht auf der Auffassung von Identität als gleichbleibender Bestimmtheit. Solche kommt etwas zu, sofern es als Gegenstand betrachtet wird. Der alten Metaphysik ist somit der Vorwurf zu machen, auch Gott wie einen Gegenstand, das Unendliche wie ein Endliches zu denken.¹⁴⁴ Das p r i n c i p i u m i d e n t i t a t i s ist eine Sprachform, in der sich von Bestimmtem reden läßt. Wie aber kann von Dingen gesprochen werden, die unbestimmt sind? Eine Aussage über deren Nicht-Existenz könnte nicht greifen, weil nicht bezeichnet zu werden vermöchte, was an ihnen als nicht-existent gelten soll oder nicht. In bezug auf das Unbestimmte, Unendliche kann man höchstens sagen, es existiere nicht, wenn damit zum Ausdruck gebracht werden soll, daß ihm keine positive Existenz zukommen kann. Zu letztgenannter Einsicht gelangt jedoch erst Kant. Er unterscheidet die Funktion der Copula als Zuschreibung von Prädikaten von einem „ist“ als Existenzaussage.
Formallogische Notwendigkeit sagt nichts über eine reale Existenz des Geforderten aus. „Die formale Logik handelt von allen möglichen Welten, sie handelt von Gott als dem möglichen Gott.“ (SuB VI/2, 346.) Demgemäß kann im Bereich der erscheinenden Dinge „ist“ nicht als Existenzbehauptung ausgesprochen werden (Ontologie), sondern nur als Copula (= „es gelte für“). „Ontologisch sind wir mit den formallogischen Mitteln vom Nichts umgeben. Die praktisch-technische Weltbemächtigung dient unserer Selbsterhaltung und unter Umständen unserer Selbststeigerung.“ (Selbstbewußtsein, 100.) Die Gegebenheit der Totalität der Bedingungen eines Urteils ist eine apriorische Vernunftforderung. Sie scheint laut Liebrucks „etwas vom alten Gottesbegriff zu haben, der sich selbst verursacht.“ (SuB IV, 94.) Diese Selbstverursachung erfolgt als Ableitung eines Positivums aus Positivierungen. „Dabei ist die formale Logik nur ein neuer Name für einen neuen Gott. Sie ist nämlich das, was aus sich selbst ist und von sich selbst her auch verstanden wird. […] Dieser Gott aber hat sich inzwischen als Instrument entpuppt.“ (SuB VII, 81; vgl. SuB VI/2, 121.) Die formallogische Methode generiert ihre Voraussetzung aus sich selbst: So erweisen sich die „Ideen der durchgängigen Bestimmtheit und zweckmäßigen Einrichtungen der Dinge [als] die letzten In-
143 Zur folgenden Darstellung vgl. SuB IV, 192. 144 „Damit ist der alten Metaphysik gesagt, daß gerade sie es sein soll, die Gott selbst unter dem Begriff durchgängiger Bestimmtheit vorstellt, mit ihm also so verfährt wie mit den für die Welt der Positivität zubereiteten Erscheinungsgegenständen, die durchgängig bestimmt sein müssen, wenn Erkenntnis von ihnen möglich sein soll. Die alte Metaphysik soll also das in Bezug auf die Erkenntnis der Erscheinungen legitime transzendentallogische Vorgehen der Vernunft in ein transzendentes verwandelt haben, indem sie von Gott selbst erklärt, er sei ein existierender durchgängig bestimmter Gegenstand.“ (A. a.O., 205.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
itiatoren zur Bildung der Ideen Seele,Welt, Gott.“ (SuB IV, 243; Herv. S. L.; vgl. SuB VI/1, 323.) Kant hält demnach fest an der Notwendigkeit der o m n i t u d o r e a l i t a t i s , weist sie aber aus als Selbstbegründung der Logik. (Vgl. SuB IV, 211 ff.) „Die Totalität ist gesetzt, damit Funktionen und Argumente logisch unterscheidbar sind. […] Es ist gefordert, daß es etwas gibt, das aus ihm selbst heraus verständlich ist. Die Systematizität der Logik ist die Substanz, die a se concipitur, was man früher mit Gott zu bezeichnen pflegte.“ (SuB VI/1, 145 f.) Die vorkantische Metaphysik erschlich Existenz aus einer logischen Funktion, die sie jedoch nicht als solche erkannt hat. Doch „[b]ei den Gottesbeweisen wird eine nichteingesehene Notwendigkeit kein Beweis sein.“ (SuB IV, 127.) Mit Kant konstatiert Liebrucks, daß Gott „eines Beweises nicht fähig“ ist. (SuB III, 94.) Formallogische Beweise aber werden im Hinblick auf positive Existenz gefällt. Demnach ist ein Beweis der Existenz oder Nicht-Existenz Gottes jeweils unzutreffend, sofern Gott keine positive Existenz zukommt. Auch Kant sagt nicht, daß kein Gott ist. In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant lediglich vor, wie über die Wirklichkeit Gottes nichts auszusagen ist.¹⁴⁵ „Schränkt man den Charakter der Beweise auf das Gebiet wissenschaftlicher Methoden ein, so kann es schon deshalb keinen Gottesbeweis geben, weil ein solcher nur einen Gott als Lückenbüßer im Kampf um die Erhaltung des Lebens beweisen könnte, der dann aber nicht den Namen Gottes tragen dürfte, weil er selbst im logischen Bereich der emphatisch als absolut gesetzten Position seinen logischen Status hätte, d. h. aber für uns notwendig zufällig wäre.“ (Sinnfrage und Kontingenzerfahrung, 282.) Kants Hauptargument in der Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises ist, daß „in keiner wissenschaftlichen Weltbetrachtung der Schluß vom notwendigen Wesen auf das Dasein des ens realissimum möglich ist.“ (SuB IV, 209.) Wäre die letzte Notwendigkeit von derselben Existenz wie die erscheinenden Dinge,wäre auch sie zufällig und könnte nicht Bedingung der Zufälligkeit sein. Die Notwendigkeit als Bedingung der Zufälligkeit ist ein Gesetztes. Sie erscheint als äußere Notwendigkeit der Logik, ist dabei aber „innerkategorial“. (Sinnfrage, 282.) „Wenn Gott die Existenz ist, die alle übrige positive Existenz trägt, so kann er nicht positive Existenz sein. Als ens entium kann er nicht ens sein.“ (SuB IV, 190.) Eine Kette von Bedingtem a d i n f i n i t u m wird nie zu einem Unbedingten führen, das Möglichkeit und Geltungsanspruch von Bedingtheiten, Bestimmtheiten verbürgt. Jeder Beweis e c o n t i n g e n t i a m u n d i (Leibniz) bleibt ein Schluß innerhalb der Suggestionen eines Systems, ein lineares Verfahren, das einen Abschluß in einem alle Urteile
145 „Die ganze ‚Kritik der reinen Vernunft‘ mit allen ihren Beweisen und Ableitungen berührt Wirklichkeit außerhalb der Welt der Positivität an keiner Stelle. Die Wirklichkeit der Welt der Positivität aber geht darin auf, Möglichkeit zu sein.“ (SuB IV, 640.)
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und deren Voraussetzungen legitimierenden, vereinheitlichenden Prinzip sucht.¹⁴⁶ Als Resultat von Folgerungen innerhalb formallogischer, innerweltlicher Systemkoordinaten ist auch dieser erste oder letzte Begriff innerweltlich. Zumindest aber bleibt die Behauptung, es handele sich bei ihm um ein von der Welt Unterschiedenes, ein Postulat. Die transzendentale Logik gibt zu bedenken, daß nicht mit Notwendigkeit darauf geschlossen werden kann, daß außerhalb der Welt der Erscheinungen die auf diese anwendbaren logischen Kategorien ebenfalls gelten. Das Unbestimmte kann nicht mit den Mitteln zur Erschließung von Bestimmtheit begriffen werden. „Wollte jemand aber einen Gottesbeweis in der Art führen, daß er die Existenz Gottes als absolute Position versteht,wie notwendig die Existenz der Erscheinungen verstanden werden muß, so bewegt er sich immer noch in der Welt der Erscheinungen, ganz abgesehen davon, welche Namen er bemühte.“ (SuB IV, 185.) Die Postulierung einer über diese Welt hinausgehenden Wahrheit ist nicht deren Beweis. Vielmehr zeigt sich hier erneut die Dialektik der Gewinnung von Vernunft- und Verstandesbegriffen: Vernunftbegriffe erborgen ihren Sinn von ihrer Anwendbarkeit auf die Gegenstände der Erscheinung, die Verstandesurteile; zugleich erborgen die Verstandesurteile ihren Sinn von den Vernunftbegriffen, welche die Möglichkeit des Schließens durch ein alle Schlüsse vereinendes Prinzip bieten. Sofern Kant diese Vorgehensweise der formalen Logik aufschlüsselt, ist er für Liebrucks „der Erfinder der Dialektik.“ (SuB V, 313.) Ein notwendiges Seiendes anzunehmen, ist Basis des logischen Weltumgangs, auf welchem Reflexionsniveau sich dieser auch immer bewegen mag. „Wenn aber von Kant selbst aufgezeigt ist, daß der Existenzbegriff als absolute Position zu den obersten Bedingungen der Möglichkeit der Urteile innerhalb der Welt der Erscheinungen gehört, kann derselbe Existenzbegriff nicht die Bedingung der Möglichkeit der ,Urteile‘ außerhalb der Welt der Erscheinungen hergeben. So ist der Widerspruch aufgezeigt, der es dem Menschen unmöglich macht, die Nichtexistenz Gottes zu denken.“ (SuB IV, 193.) Das Gegenteil des gegenständlich Existierenden ist keineswegs die Nicht-Existenz, sondern eine entgegengesetzte Existenz. Die Existenz des Unendlichen ist der Existenz der erscheinenden Gegenstände kontradiktorisch entgegengesetzt, also ist die Existenz des Unendlichen nicht gegenständlich, nicht gesetzt und daher nicht aufhebbar. Eine Logik als Rede vom göttlichen Logos hat immer mit dem Sein zu beginnen – diese
146 „Die vorherbestimmte Harmonie hat daher Gott mit dem technisch-praktischen Weltumgang des Menschen verwechselt. Gott selbst ist darin als Hersteller von Maschinen konzipiert.“ (SuB VI/3, 380.) Trotz seiner – im weiteren Verlauf dieses Kapitels darzustellenden – philosophischen Wertschätzung des Monadenbegriffs, ist für Liebrucks in bezug auf die Vorstellung einer prästabilierten Harmonie deutlich, es habe „noch keine Philosophie, die sich von Leibniz her verstand, zum Begriff geführt.“ (Ebd.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Einsicht des kosmologischen Gottesbeweises legt Liebrucks auch seiner Sprachlogik zugrunde. „Alle Götter, die des Daseins entbehren, sind nicht.“ (SuB VI/1, 334.) „Dasein“ ist hiermit nicht als logische Setzung ausgesagt, wenn anders dieser Satz eine Tautologie wäre. Das Dasein Gottes ist nicht etwas, das die Logik erst beschließen würde – sie stellt es immer schon dar. „Hegel zeigt […], daß Sein als absolute Position nur ein Gebilde in irrealen Bedeutungsfeldern der Logik als einer formalen ist. Diese Bedeutungsfelder sind Erhebungen aus dem Eindeutigkeitsanspruch von Sein. Sie sind nicht erhaben, sondern erhebend. Auf wirkliches Sein stoßen wir erst im Begriff. Im logischen Status von Sein dagegen stoßen wir auf Nichts. Sage ich ‚Gott ist das Sein‘, so ist Sein als das Nichts der Welt der Positivität gedacht […]. Die Existenz Gottes ist das Nichts der Positivität, das zur Nullklasse der positiven Gegenstände gehört.“ (A. a.O. 267.)¹⁴⁷ Das Sein Gottes ist innerhalb der Welt der Positivität nur Symbol, so wie alle ihre Gegenstände symbolisch sind: Positionen, denen der Zugang zur Wirklichkeit verwehrt zu sein scheint. (Vgl. a. a.O., 267.) Dies ist die folgenreiche Einsicht der Metaphysikkritik Kants. Kant mißtraut dem Gott der alten Metaphysik, der als e n s e n t i u m Inbegriff alles Logischen sein und die Methexis von Denken und Sein verkörpern soll. Er lehrt uns indirekt aber auch das Mißtrauen gegen diesen Gott, sofern er unter dem Vorbehalt der formallogischen Unerkennbarkeit des absoluten Seins als absolute Position vorgestellt ist. Ein solcher „Gott könnte unser Denken und die Korrespondenz mit den Dingen eines Tages anders einrichten. Er könnte eine solche Korrespondenz auch auf dem Umweg über andere Wesen herstellen. Der logische Gedanke hätte, sofern er sich auf Wirkliches erstrecken soll, keine Notwendigkeit.“ (A. a.O., 161 f.) Ein Vertrauen in Gott ist nur begründet, wenn er weder Postulat noch Erscheinungsgegenstand ist. Für Liebrucks steht fest: „Gott ist weder nur, noch existiert er nur.“ (SuB VI/2, 254.) Unser logischer Weltumgang als das Zusammenspiel von Denken und Sein muß in der Logik Gottes aufgehoben sein, wenn unser In-der-Welt-Sein nicht ständig der Bedrohung ausgesetzt sein soll, willkürlich zuschanden zu werden. Das bedeutet folglich, daß wir Gott vertrauen können, wenn Gottes Sein von dem unseren nicht unterschieden ist. Dieses Sein kann keine gegenständliche Existenz sein, sondern nur das Sein, in das wir eine gegenständliche Existenz bereits einzeichnen. Das Vertrauen in Gott, so läßt sich an dieser Stelle vorhersagen, läßt sich nur wiedergewinnen, wenn es logisch möglich sein sollte, sowohl das Anliegen des kosmologischen und des ontologischen Gottesbeweises, als auch die transzendentallogische Kritik Kants zu vereinbaren. Es wird sich in der Erkenntnis aussprechen, daß menschliche Logik
147 Daher hat die „Ununterschiedenheit von Sein, Dasein und Existenz bei Kant [..] zur unmittelbaren Folge die Selbstbestätigung der Logik als einer rein formalen.“ (A. a.O., 275.)
C. Kritik an der Kritik: Mit Kant über Kant hinaus
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nicht von der Logik Gottes unterschieden ist, daß Gottes Gedanken auch unsere sind, d. h. daß er sich nicht auch auf einem anderen Weg als dem Umweg über uns menschliche Subjekte denken kann. Dies zu behaupten, ist einer formalen Logik unmöglich. Erst Hegels Theorie des Absoluten macht es denkbar, daß menschliches Leben von göttlichem Leben nicht verschieden ist, und löst dadurch logisch ein, was uns in der jüdisch-christlichen Verkündigung als die Versöhnung des Menschen mit Gott, der sich in Schöpfung und Erlösung selbst ins endliche Sein entäußert, zugesagt ist. Es wird im folgenden darzustellen sein, wie sich die absolute Identität Gottes über die menschliche Identität denkt und somit die Logik des menschlichen Weltumgangs erzeugt.
C. Kritik an der Kritik: Mit Kant über Kant hinaus „Ich kann hundert Male von Gott, dem Absoluten einer Realzeit usw. sprechen, ohne doch in Wahrheit das Gebiet der Erscheinungsgegenstände zu verlassen. Diese seine große Errungenschaft ist Kant aber im Hauptargument gegen den ontologischen Gottesbeweis selbst entgangen, indem er in ihm für die Welt der Noumena den gleichen Existenzbegriff in Anspruch nimmt wie für die Welt der Phänomena. Dieser gilt schon nicht mehr für das menschliche Bewußt-Sein, weil innerhalb seiner nicht die Existenz, sondern Sprache und Begriff begründend sind. Kant müßte auch im ersten Teil der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ den gleichen Existenzbegriff für die Existenz von Ich in Anspruch nehmen, was er dort ausdrücklich nicht tut.“ (SuB IV, 197.) Kant hat bewiesen, daß Gottes Existenz innerhalb der Erkenntnisparameter formaler Logik nicht zu erkennen und daher unbeweisbar ist. Liebrucks kommentiert lakonisch: „Das sollte man auch nicht erwarten.“ (A. a.O., 200.)¹⁴⁸ Wenn Kant aber sagt, für ein Ding der erscheinenden Welt müsse notwendig dessen Existenz als absolute Position angenommen werden, die Notwendigkeit einer Existenz Gottes sei dagegen nicht einsehbar, so verfällt er laut Liebrucks dem Denkfehler, den er der alten Metaphysik anlastet: „Er verwechselt an dieser entscheidenden Stelle der Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises den transzendentalen Gebrauch des Existenzbegriffs als absoluter Position mit dem transzendenten.“ (SuB IV, 197.) Wenn der formallogische Existenzbegriff als Zuschreibung absoluter Position nichts über eine wirkliche Existenz Gottes aussagt, muß daraus nicht folgen, daß es logisch grundsätzlich un148 „Sollte ein Mensch tatsächlich der Ansicht gewesen sein, es könne Gott nicht geben, weil er ihn bei der Durchsuchung des Kosmos nicht habe finden können, so wäre ihm zu antworten, daß der Weg zu Gott über das konkret Allgemeine führe, das in dieser Natur nicht zu finden ist, weil sie unter den Bedingungen erstellt wurde, daß es in ihr nicht zu finden ist.“ (SuB V, 357.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
möglich ist, Aussagen über eine Existenz Gottes zu machen. Liebrucks vertritt diesbezüglich eine klare Position: „Mein Einwand gegen diese immer als Kernsatz der Argumentation innerhalb der Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises angesehene Behauptung lautet: Der Satz: ‚Sein ist kein reales Prädikat‘ ist ein Vernunftgrundsatz, dessen legitimer Gebrauch nur der transzendentale, d. h. der sich auf unsere Erkenntnis von positiven Gegenständen beziehende ist. Dagegen ist der von Kant geübte transzendente Gebrauch des Satzes, der sich nicht nur auf Erfahrungsgegenstände, sondern auf alles, was zu denken möglich ist, auf Gegenstände überhaupt bezieht, illegitim.“ (A. a.O., 196.) Wenn Kant sagt, die Existenz Gottes sei etwas, das der Verstand nicht wissen könne, legt er in dieser Behauptung die Einschränkung des Existenzbegriffs zugrunde, die er auf die Bestimmung von Erscheinungsgegenständen bezogen anwendet: „Sein“ ist kein reales Prädikat, sondern absolute Position. Behauptet Kant, dieser Seinsbegriff sei bezogen auf die erscheinenden Dinge einsehbar, ist nicht verständlich, wie dieser Seinsbegriff auch in bezug auf Gott anzunehmen sein könnte; denn das würde bedeuten, daß die erscheinenden Dinge und Gott unter denselben formallogischen Bedingungen stünden, die Kant doch auf den Bereich der erscheinenden Dinge begrenzt wissen will. Liebrucks erinnert: „Gott sagte im Alten Testament: Macht euch die Erde untertan, und nicht: seht meine Existenz als eine solche an, die ihr euch untertan machen könnt.“ (A. a.O., 199.) Liebrucks folgt Kant in dessen Kritik des ontologischen Gottesbeweises, grenzt sich aber von dessen Verwendung des Existenzbegriffs ab: „Von da her rührt meine Kritik an der Kritik des ontologischen Gottesbeweises, die als Kritik zweiten Grades die Bestimmung des Daseins als absoluter Position innerhalb der Erscheinungswelt für notwendig, außerhalb ihrer für falsch hält.“ (A. a.O., 223.) Im transzendentalen Gebrauch des Existenzbegriffs ist nicht die Existenz von etwas ausgesagt, sondern dessen bloßes (Gesetzt‐)Sein als Gegenstand der Verstandeshandlung. So kann man von Gott oder Ich nicht reden. (Vgl. a. a.O., 199.) „Die Setzung des Seins als absoluter Position gilt nur innerhalb des von Kant ausgeschrittenen Gebiets der Positivität. Sie gilt weder für Gott noch für Ich.“ (A. a.O., 196.) Absolute Position zu sein kann für keine Vernunft gelten, die eine absolute Position denkt. Die Reflexion auf eine Unterschiedenheit absoluten Seins und absoluter Position setzt ein logisches Verhältnis beider zueinander voraus, aus dem heraus sie voneinander unterschieden werden können. In der Unterschiedenheit aufeinander bezogen zu sein, begründet, warum die postulierten Bestimmungen, obwohl sie keine Abbildung der Wirklichkeit sind, dieser trotzdem affin zu sein scheinen, wenn anders ein formallogisch begründeter Weltumgang unmöglich wäre. Soll auch jener Vergleichsgrund – einen r e g r e s s u s a d i n f i n i t u m vermeidend – nicht wiederum ein Postulat sein, muß er das „Ist“ als Aussage eines realen Seins, als Prädikatisierung und ebenso als Positivierung enthalten. Er muß den Denkenden wie das
C. Kritik an der Kritik: Mit Kant über Kant hinaus
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Gedachte in sich begreifen, wenn der Denkende sich – wie Kant es darstellt – unter selbstgegebene logische Gesetze stellen können soll. Hier ist man bei der Frage angelangt, wie Begriffe als Einheit von Allgemeinem und Besonderem, von Idealität und Realität gebildet werden können. Es ist die Frage nach der Methexis. In jeder Verstandeshandlung steckt die Vernunftforderung, daß die begriffliche Bestimmung auf die wahrgenommenen Dinge überhaupt applizierbar ist. Kant setzt hierbei auf das Vermögen der Urteilskraft. Diese ist das Vermögen, einzelne Konkretionen unter Regeln zu subsumieren, sich somit das Besondere in einem Allgemeinen enthalten vorzustellen. Während die bestimmende oder logische Urteilskraft ein gegebenes Allgemeines voraussetzt, schafft sich die reflektierende Urteilskraft allgemeine Prinzipien (orientiert am kritischen Prinzip der Zweckmäßigkeit). Weil Kant Erkenntnis auf den Bereich der erscheinenden Dinge einschränkt, muß er letztlich auch die bestimmende Urteilskraft der reflektierenden unterstellen, so daß die bestimmende Subsumption ein Aspekt der reflektierenden Urteilskraft ist. Die Unerläßlichkeit der apriorischen Vernunftforderungen zeigt, daß Erkenntnis nicht auf den dem Verstand zugänglichen Bereich beschränkt ist. Dies tritt unter anderem darin zutage, daß sich die reflektierende Urteilskraft zugleich als bestimmende verstehen muß; sie schafft Prinzipien, die sie zugleich als gegeben darstellt. Kant unterscheidet reflektierende und bestimmende Urteilskraft, kann aber eine Dialektik beider nicht umgehen. Damit ist die Voraussetzung bezeichnet, unter der die Urteilskraft ihre Bestimmungen vornehmen muß: die Voraussetzung einer sinngebenden Einheit aller in Urteilen (aktualisierten) Möglichkeiten. Die Begrenzung auf den Bereich der Erscheinungen hängt an einer Spekulation über den Bereich außerhalb der Erscheinungen. Wenn aber über diesen Bereich keine Erkenntnis möglich ist, kann auch das Urteilen, das in diesem Bereich seine Bedingung und Möglichkeit findet, strenggenommen nicht Erkenntnis genannt werden. Es handelt sich bei der von Liebrucks so genannten „Zubereitung“ der Welt um Verfügungswissen, das im Verhältnis zu Erkenntnis am ehesten als einer von deren Momenten angesehen werden kann.
Das An-Sich der Dinge ist unter sinnlicher Erfahrung zugegen, sofern „das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte diesseits im Bewußtsein ist“.¹⁴⁹ Diese Einsicht Hegels darf auch als von Kant akzeptiert angenommen werden. Doch vermag Kant eine Einheit von Transzendenz und Immanenz nicht zu denken. „Kants bedeutendster Satz ist vielleicht der, daß es unsere Sinnlichkeit ist, die den Gedanken erst ihre Bedeutung verschafft. Aber vor diesem Satz muß er so zurückweichen wie die Welt der Wissenschaft vor dem universale fantastico Vicos.“ (SuB V, 308.) Tatsächlich nimmt Kants Transzendentalphilosophie ihren Ausgang in der strikten Differenzierung zwischen immanenten und transzendenten Grundsätzen, also zwischen logischen Sätzen, die sich entweder auf den Bereich möglicher Erfahrung beziehen oder darüber hinauszugehen versuchen. Kants Kritik der reinen Vernunft unterzieht die Erkenntnisweisen von sinnlicher
149 Hegel, Enzykl., 144.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Anschauung, Verstand und Vernunft einer epistemologischen Prüfung. Die Vernunft gilt ihm aufgrund ihrer Fähigkeit zur Selbstprüfung als höchstes Erkenntnisvermögen. Diese Selbstbefragung im Hinblick auf ihre Erkenntnisdignität fällt für die Vernunft „kritisch“ (im Sinne von „aburteilend“) aus, sofern sie sich als reine, d. i. erfahrungsenthobene mißversteht. Der Richtspruch über die Vernunft lautet, auf das Übersinnliche tendierende Spekulationen zu unterlassen und den auf die erfahrbaren Dinge bezogenen Verstandesgebrauch einheitlich zu ordnen. Dies leistet das vernünftige Subjekt als transzendentale Apperzeption. Liebrucks gibt zu bedenken: „[Die] Versammlung der Mannigfaltigkeit in die Einheit der transzendentalen Apperzeption, also die logische Form zu denken, ist in ihrer Bedeutung an die Unterscheidung der Phänomena von den Noumena gebunden und an die Einschränkung der Reichweite der so aufgefaßten logischen Form auf die Erkenntnis von Erscheinungen. Das Prinzip der Einheit der transzendentalen Apperzeption und das Prinzip der Trennung der Welt der Erscheinungen sind als ein und dasselbe Prinzip anzusehen, womit m. E. der Erweis erbracht ist, daß Kants größter und einzig relevanter Widerspruch in seinem Hauptwerk darin besteht, daß er den logischen Gebrauch des Verstandes doch nicht auf die Erkenntnis der Erscheinungen eingeschränkt hat.“ (SuB IV, 467.) Um das An-Sich vom Erscheinen des Dinges unterscheiden zu können, muß beiden dieselbe logische Struktur inhärieren. Das Scheitern an der epistemologischen Einholung einer solchen Identität in Unterscheidung wurzelt in der Ungeklärtheit der Methexisfrage. Dies ist bereits der alten Metaphysik vorzuhalten, da sie nicht zwischen einem wirklichen und einem zugeschriebenen Sein zu unterscheiden scheint. Erst von einer solchen Unterscheidung aus könnte aber die Einheit des Unterschiedenen logisch in den Blick kommen. Kant führt eine solche (termino) logische Differenzierung in die erkenntnistheoretische Debatte ein, dennoch gelingt es ihm nicht, beide Existenzverständnisse miteinander in Einklang zu bringen.¹⁵⁰
150 „Die alte Metaphysik war inkonsequent, Gott als dem Unendlichen eine Existenz zuzuschreiben, während er zugleich absolute Position, absolute Positivität, d. h. bleibende Endlichkeit sein sollte. Kant war konsequent, aber er trug in seinem Denkduktus denselben Widerspruch mit sich.“ (SuB VI/1, 363.) Die Substanz der alten Metaphysik wird bei Kant als Funktion entlarvt – ohne den substanzhaften Status dieser Funktion zu überwinden. Jedoch ist die Behauptung der Einheit der transzendentalen Apperzeption „nicht das Ausklauben von positivem Dasein, sondern der Existenz der Erkenntnis. Das ist hier so berechtigt wie im alten Gottesbeweis.“ (SuB V, 307.) Liebrucks geht demnach davon aus, daß „im kosmologischen Gottesbeweis die Dauerverbeugung vor einem Denkduktus enthalten [ist], aus dem weder die alte Metaphysik noch Kant herausgegangen sind.“ (SuB VI/1, 182.) Denn Kant hat „die Erschleichung der Substanz gesehen, die Erschleichung der Funktion hat er nicht gesehen. Sonst müßte er sagen: Die transzendentale Deduktion ist immer noch metaphysisch geblieben.“ (SuB IV, 476 f.) In der Kritik
C. Kritik an der Kritik: Mit Kant über Kant hinaus
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Die alte Metaphysik vereint alles bestimmbare Sein in einem göttlichen e n s r e a l i s s i m u m , bei Kant konzentriert das zum Gottesersatz verabsolutierte Subjekt alle Gegenstände der Erscheinung in einer vom Subjekt selbst postulierten Idee (Prinzip der transzendentalen Apperzeption).¹⁵¹ Doch das Problem der Methexis wird nicht dadurch gelöst, die Verbürgung eines Ganzen aller einzelnen Verstandeshandlungen vom Gottesbegriff in den Menschen als erkenntnistheoretisches Subjekt zu verlegen. Das argumentative Vorgehen bleibt strukturell dasselbe, es wird lediglich die vereinende Instanz ausgetauscht.Verharrend in den Strukturen der eindeutige Zuordnungen verlangenden, formalen Logik muß Kant das In-der-Welt-Sein des Menschen als Subjekt-Objekt-Beziehung beschreiben, in welcher das erkennende Subjekt den es umgebenden bzw. von ihm geschaffenen Objekten in strikter Entgegensetzung kontrastiert bleibt. Kant erweist sich im Kern seiner Überlegungen als Meister des buchstäblich zu verstehenden Auseinandersetzens. Doch trotz des transzendentallogischen Auseinandertreibens von Wesen und Existenz unterstellt er die Ideenwelt den Bedingungen der möglichen Erfahrung und kann die noumenale nur als positive Welt denken. Wenn sie als zweiter Bereich oder Gegenstück zur Welt der Phänomena gedacht wird, ist sie zumindest als eine von „zwei Hinsichten“ in der Weise der positivierten Gegenstände vorgestellt. (A. a.O., 154.) Der positive Entwurf einer noumenalen Welt wird hier zum Korrektiv des bestimmenden Entwerfens der phänomenalen Welt. Die Transzendentalphilosophie steht vor einem fundamentalen Problem: Erkenntnisdignität kann nicht durch etwas begründet sein, das selbst nicht von der Erkenntnis eingeholt werden kann. Doch in der Tat gewährt ausgerechnet die Vergessenheit der eigenen Genese die Bestandsgarantie für die formale Logik. (Vgl. SuB V, 38.) Diese fragt nicht nach dem „Woher“ ihrer selbst. (SuB IV, 461.) Bei Kant hängt das Aufgehen logischer Forderungen von der Forderung nach diesem Aufgehen ab:Vernunft soll die Verstandeshandlungen begründen, obwohl nur der Verstand zu Erkenntnis gelangen kann, und die Vernunft eine Idee proklamiert, die keine Erkenntnis ist – deren Wahrheit also uneinsichtig bleibt. „Die Vernunft verlangt vom Verstand ein Vertrauen in Ideen, deren Uneinlösbarkeit der Verstand eingesehen hat.“ (A. a.O., 93.) Die Selbstbestätigung der Vernunft macht diese zu
der reinen Vernunft, vor allem in der Kritik der praktischen Vernunft kehrt Liebrucks‘ Auffassung nach der kosmologische Gottesbeweis „in der Deduktion zwischen den Zeilen ebenso wieder wie der ontologische. Sage ich nämlich, die Welt sei bedingt, so habe ich Gott schon in diesem Satz als unbedingt gesetzt. Sage ich, die Welt ist Inbegriff von Erscheinungen, habe ich schon in diesem Satz Ich als existierendes Prinzip gesetzt.“ (SuB IV, 506.) 151 „Kant zeigt, daß die Selbstbegründung der Logik nur darin liegen kann, daß der Ideencharakter der Ideen gewahrt bleibt, womit an die Stelle Gottes das Subjekt der Erkenntnis tritt.“ (A. a.O., 99; vgl. a. a.O., 477.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
einem „mythische[n] Vermögen“ im Sinne einer rational nicht einzuholenden, unbedingt zu akzeptierenden Größe. (A. a.O., 101.) Kant „glaubt, daß die Deduktion der Kategorien durch die verblüffend einfache Annahme geleistet werden kann, daß wir ohne die Annahme ihrer Richtigkeit überhaupt keine Vorstellungen als bewußte Vorstellungen haben können.“ (A. a.O., 483.) Die Grundsätze der transzendentalen Logik können ebensowenig bewiesen werden wie die Existenz Gottes. Die nach Verstandesgrundsätzen hergestellte Realität „ist nicht weniger erschlichen als ein antiker Gott. Wir sind nur ein wenig mehr an sie gewöhnt.“ (A. a.O., 569; vgl. 464.) Die Gewöhnung an eine Denkungsart sagt aber nichts über deren Wahrheit aus. „Wir werden sehen, daß die Tendenz zu einer hier so genannten schlecht-mythologischen Auffassungsweise des Verstandes und seiner selbst als Vernunft in dem Maße wächst, in dem Kant sich dem ganzen System seiner Philosophie, insbesondere dem Kernstück ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ nähert. Hier handelt es sich um Metaphysik im alten Sinne, der Kant im theoretischen Feld gezeigt hat, daß die sogenannten reinen Begriffe so rein nicht sind, da sie ja an der Erfahrung gewonnen wurden, worin die Lösung der Antinomie der Vernunft besteht.“ (A. a.O., 67.)¹⁵² Liebrucks hält Kant vor, die bedeutenden erkenntnistheoretischen Einsichten, die er in der Kritik der reinen Vernunft gewonnen hat, in der Kritik der praktischen Vernunft auszuhebeln. Die praktische Vernunft befiehlt ein sittliches Sollen, welches freiheitliche Selbstbestimmung des Menschen bekundet, indem es diese zur Voraussetzung hat. Die Freiheit des Menschen erweist sich darin, daß er zur Erfüllung sittlichen Sollens ebenso aufgefordert wie fähig ist. Er kann sich auch
152 Das „schlecht“ mythologische oder metaphysische Denken ist das Denken, das seine Schlüsse in vermeintlicher epistemologischer Bescheidenheit innerhalb des Bereichs der Erscheinungsgegenstände zieht, ohne darauf zu reflektieren, daß die für diesen Bereich geltenden Denkgesetze ebenso spekulativ sind wie eine über diesen Bereich hinausgehende Reflexion. Die formallogischen Prinzipien haben denselben logischen Status wie einst die Götter der antiken Mythen. (Vgl. a. a.O., 547.) „Denn diese bloßen Gedankenformen sind mythische Gebilde. Sie unterscheiden sich in ihrer Irrealität von den Göttern Griechenlands nur dadurch, daß ihnen auch noch die Anschauung fehlt.“ (A. a.O., 531.) Die formallogischen Herstellungen des Verstandes sind auf ihre logische Funktion hin zu befragen, das Denken ist zu denken, wenn der Mensch in der logischen Struktur seines Weltumgangs diese auf ihre Wahrheit hin befragen können soll. Wahrheit erschließt sich erst auf diesem Umweg. Die „Metaphysik der Positivität“ (SuB III, 213) aber, die „leugnet, daß der Mensch nur auf Umwegen zu sich gelangt, ist […] die wahre Sanktionierung der Gewalt. Diese Sanktionierung wiegt viel schwerer als die Aufforderung zur Gewalt.“ (A. a.O., 627.) Die Gewalt besteht in der Folgerichtigkeit formaler Schlüsse. Diese Richtigkeit, die sich auf die endliche, gegenständliche Gestalt der Dinge bezieht, ist nicht gleichzusetzen mit Wahrheit. Wahrheit gibt sich in der Darstellung der Unendlichkeit des Endlichen zu erkennen. Auf die Richtigkeit des formalen Verfahrens hin befragt, ist laut Liebrucks auch Hitler „legitim“ zur Macht gekommen.
C. Kritik an der Kritik: Mit Kant über Kant hinaus
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gegen die sittliche Pflicht verhalten und andere Möglichkeiten als die gebotenen wählen. Angesichts eines bewiesenen Gottes wären all unsere sittlichen Handlungen lediglich legal – wir führten das Gesetz dieses Gottes aus, um vor ihm bestehen zu können. In der Ungewißheit eines existierenden Gottes bzw. der selbständigen Vernunftforderung der Annahme eines Gottes manifestiert sich menschliche Freiheit und damit auch ein sittliches Handeln um seiner selbst willen, also nicht als bloßer Gesetzesgehorsam, sondern als sittliche Ausrichtung der Gesinnung, die auch bestünde, e t s i d e u s n o n d a r e t u r. Die Nichtbeweisbarkeit Gottes fordert den Menschen auf, ein eigenes sittliches Bewußtsein und Handeln auszubilden. Man soll nicht nur legal (Gesetzesgehorsam, J u s ), sondern sittlich handeln (sittliche Gesinnung, E t h o s ). Dem metaphysisch begründeten Verpflichtet-Werden wird von Kant eine autonome Selbstverpflichtung entgegengesetzt. Sittlichkeit als Zweck der Handlungen zu setzen, ist ein Akt der Freiheit: Man steht unter keinem äußeren, sondern einem inneren, d. h. selbstauferlegten Zwang. Die Aufforderung zur sittlichen Pflichterfüllung ist legitimiert durch ihre Vernünftigkeit, die in Kongruenz von einem durch sittlich angemessenes Handeln erworbenen Anspruch auf ɛυδαιμονια und widerfahrender Glückseligkeit besteht. Als Einheitsgrund des Anspruchs und der Erfüllung, als Einheit des Wirklichen und Möglichen, muß eine über diesen Gegensatzpaaren stehende Instanz gedacht werden. Diese Instanz der Aufhebung ist bei Kant „Gott“, der gleichwohl als Postulat, und zwar der praktischen Vernunft gelten muß. Er ist eine notwendige Idee. Kant gesteht jedoch demzufolge ein, daß er sich in seinem Denken einer transzendenten Letztbegründung nicht entziehen kann. „Kant ist nicht Atheist, er ist nicht so dumm, sich als solchen zu verstehen.“ (SuB IV, 243.) Er verlagert aber das Anliegen der rationalistischen Metaphysik von der theoretischen in die praktische Philosophie. Die Konversion von Metaphysik in Moraltheologie überträgt der praktischen Vernunft die Funktion der Zusammenführung bzw. des Verbürgens der Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit, welche den Geltungsanspruch der postulierten Ideen begründet. Der Unterschied zur rationalistischen Metaphysik besteht darin, daß Kant die Idee einer absoluten Einheit als notwendiges Postulat des praktischen Vernunftgesetzes darstellt und somit nicht davon spricht, wie Gott erkannt werden könne. Erkenntnis ist als formallogisch definierte auf den Bereich der erscheinenden Dinge begrenzt, zu denen Gott nicht zählt. Bei Kant sind es Moralität und Theologie, die sich gegenseitig begründen. (Vgl. SuB III, 279 ff.)¹⁵³ So werden alle drei Kritiken Kants 153 Das von Kant geforderte sittliche Bewußtsein hat anerkannt, „daß die Allgemeinheit in der moralischen Weltanschauung als Herr des moralischen Bewußtseins aufgetreten war, der eigens dazu postuliert worden war, damit es sich auf die Dauer in der moralischen Weltanschauung halten konnte. Dieser Herr durfte genauso nur Idee sein wie Gott in Kants Widerlegung des
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
zusammengehalten durch die Idee von einem Gott, der als die Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit bewirkender Welturheber allen sittlichen Entscheidungen vorgängig sein muß.¹⁵⁴ Laut Liebrucks hängt Kant selbst in der theoretischen Philosophie „alles nicht mehr an Gott, sondern an der Lehre vom höchsten Gut auf […].“ (SuB IV, 68.) Liebrucks zufolge schickt sich die Konzeption eines sittlichen Sollens als „[e]ine solche Maxime, die gegen alle Wahrscheinlichkeit auf Gott vertraut, […] aber nicht zur allgemeinen Gesetzgebung in einem verständigen Gehirn, sondern führt zum Zusammenbruch seiner Verständlichkeit. So ist die sittliche Forderung an den Menschen nur angesichts des christlichen Gottes und seiner Wirklichkeit denkbar.“ (SuB III, 545 f.) Gott als Prinzip kann keine Freiheit schenken, denn er ist Produkt des menschlichen Verstandes, Teil eines Systems, dem er selbst nicht entrinnen und ebensowenig den Menschen befreien kann. Dies ist der „Gott“, gegen den die Religionskritik zu Recht Sturm läuft und ihn als sich vom Menschen selbst verordnetes und sich in den Weg gestelltes Hindernis der Verwirklichung eigener Freiheit verurteilt. „Ein solcher ‚Gott‘ kann sich in einer Staatsform, einer Kirche, in Gesellschaftsformen manifestieren, wobei nur die Vokabeln wechseln. Ein solcher Gott ist nicht das Göttliche, das den Menschen in seinen großen Schöpfungen als Mitspieler entgegenkam, sondern nur ein vom Menschen Hergestelltes.“ (A. a.O., 160.) Mündig erweist sich der Mensch erst, wenn er zur sittlichen Ordnung der Welt keinen Gott mehr braucht. Ich möchte hier an Bonhoeffer erinnern: „Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. […] Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen.“¹⁵⁵ Die Postulierung eines Gottes als Garanten einer Wirklichkeit, die sich unserer Kenntnis entzieht, ist nicht die Tat eines freien Menschen, sondern logisches Einspinnen in eine Abhängigkeit von einem Gott, den der Mensch benötigt, um seine Objektivierungen als wahr ansehen zu dürfen. Dieser Gott schenkt keine Freiheit – er kann keine schenken, denn er ist selbst
ontologischen Gottesbeweises. Dort hatte er die durchgängige Bestimmtheit und Bestimmung der Dinge zu garantieren, damit sie formallogisch betrachtbar seien. Hier hat er die Eindeutigkeit der moralischen Handlung zu garantieren, wobei man nicht mehr weiß, ob das sittliche Tun im Menschen oder im moralischen Welturheber steckt. Erst die absolute Sittlichkeit weiß um die Falschheit dieser Alternative. Erst sie weiß, daß mein Glaube an Gott zugleich seine Handlung ist.“ (SuB V, 249.) 154 „Auch in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ wurde nicht Gott, sondern ein objektives Wesen unter dem Namen Gottes postuliert, wenn begründbar sein sollte, unter welchen Bedingungen der Mensch überhaupt als verpflichtbares Wesen anzusehen sein und auf die Dauer moralisch handeln können soll […].“ (SuB VII, 16.) 155 Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg.v. Bethge, Eberhard, Gütersloh 199716, 191.
C. Kritik an der Kritik: Mit Kant über Kant hinaus
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nicht frei, sondern ein (vom Menschen gesetztes) Prinzip. Ein Prinzip unter anderen, wie Liebrucks betont: „Der Mythos würde einen solchen Gott nur als Gott unter anderen Göttern gelten lassen. Wir haben allen Grund, ihn zu verehren, weil er bei jeder Mitteilung gegenwärtig sein muß. Aber was wir da mitteilen, muß nicht ausschließend von ihm kommen.“ (SuB VII, 81.) Wenn Gott ein Postulat ist, kann es sich bei der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen nicht um eine Unmündigkeit gegenüber Gott handeln. Die Unmündigkeit ist selbstverschuldet, da wir uns vor etwas unmündig erklären, das von uns selbst allererst postuliert wird. Die Unmündigkeit ist so selbstverschuldet, wie das Postulat einer Totalität der Bedingungen „etwas vom alten Gottesbegriff zu haben [scheint], der sich selbst verursacht.“ (SuB IV, 94.) Daher betont Liebrucks, daß nicht Gott, sondern der Mensch den Menschen entmündigt. Anstatt als Schöpfer dieses Gottes auf dem Höhepunkt seiner Freiheit angelangt zu sein, ist der Mensch sich selbst ausgeliefert, da er sich damit begnügt, seine Freiheit als Setzungsfreiheit auszuüben. Innerhalb dieses Systems ist der Mensch (ebenso aber Gott) Objekt unter Objekten in einer durch ein oberstes Objekt verbürgten Ordnung. Kant versuchte, menschliche Freiheit darin zu entdecken, daß er diese Objektivierungen als solche des Subjekts herausstellte. Doch dieses erscheint in einem solchen System ebenso leblos und zum Gegenstand gestempelt wie Gott. Der Mensch ist frei in dem Maße, in dem er Gott Freiheit zugesteht; dann empfängt er seine Freiheit aus der Freiheit Gottes. Wenn Gott ein formallogisch erschlossener Gegenstand ist, ist auch dem Menschen nicht zugestanden, mehr als das zu sein.¹⁵⁶ Nimmt Liebrucks Anstoß daran, so verrät ihn das abermals als auf den Spuren Hegels wandelnd. Dieser schilt Kants philosophischen Entwurf einen „subjektiven Idealismus“, der es versäume, die Idealität des Endlichen zu denken. Dieser Idealismus als Prinzipienphilosophie stelle die logische Form einer Vorstellung von äußerer Realität gegenüber, anstatt in dieser die wahre Form zu erkennen, in welcher die Frage nach einer Objektivität der an sich seienden Dinge aufgehoben ist. Für Hegel partizipiert menschliches Denken als Spekulation an der sich dialektisch in Unendlichkeit und Endlichkeit bewegenden Wirklichkeit des Geistes. Liebrucks arbeitet Hegels Ansatz, diesen Geist mit dem neutestamentlich bezeugten Logos zu identifizieren, aus und erklärt die spekulative Partizipation als sprachliche. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Festzuhalten ist bis hierher: Kants Philosophie ist ein engagiertes Selbsterhaltungsunternehmen formaler Logik. Das Bewußtsein dieser Selbsterhaltung unterscheidet ihn von der alten Metaphysik, ausdrücklich folgt sein Denksystem
156 Diesen Fehler gemacht zu haben, unterstellt Liebrucks schließlich auch Hegel, der letztendlich den Geist auf den Weltgeist reduziert.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
„innerlogischen Gründen“. (A. a.O., 95.) In der Konsequenz ist „[u]nter der Frage nach der erkenntnismäßigen Relevanz der formalen Logik [..] der Begriff Gottes in praktisch-technischer Hinsicht notwendig zur Idee im nominalistischen Sinn zusammengeschrumpft.“ (Selbstbewußtsein, 100.) Diese Idee – das beanstandet bereits Hegel, in Aufnahme dessen ebenso Liebrucks – ist eine positive Begründung der Positivität. Hegel setzt das Denken der Negation dagegen: Ist Identität durch ihre Unterschiedenheit von Anderem bedingt, so erweist sich Negation als wesenhaftes Moment eines jeden Positiven.¹⁵⁷ Erfolgt aber Bestimmtheit durch Abgrenzung, sprich: Negation eines Positiven, so ist darin ein Relationsgefüge angezeigt. Einheit und Unterschiedenheit kann es nicht als statisch nebeneinander befindliche Größen geben, vielmehr bilden sie sich aneinander aus. Dieses reziproke Bedingen kann nicht mit einer dem p r i n c i p i u m c o n t r a d i c t i o n i s verpflichteten Logik gedacht werden, obschon dieser jene dialektische Einheit beider zugrundeliegt. Die Einheit von Identität und Nicht-Identität ist keine formale, prinzipielle Einheit, sondern eine sich inhaltlich forttreibende; keine Vernunftforderung, sondern die sich selbst generierende Wahrheit in Entfremdung und Übereinstimmung. Die Negation der Negation ist die o m n i t u d o , das Ganze als Beziehung auf sich selbst: Wahrheit als inhaltliche Selbstübereinstimmung in Selbstunterscheidung statt einer Widersprüche ausschließenden Richtigkeit einer Aussage nach formalen Grundsätzen. Um klären zu können, wie doch gedacht werden kann, was sich die „alte“ Metaphysik zu denken vornahm, hätte Kant laut Liebrucks das vollziehen müssen, was Hegel die „absolute Reflexion“ nennt: Die aufhebende Einheit transzendenten und transzendentalen Vernunftgebrauchs, die Einheit bestimmender und reflektierender Urteilskraft, die Einheit von sinnlicher Erscheinungswelt und Intelligibilität. Für Liebrucks steht Kant auf der Schwelle zur dialektischen Logik. Kant schaut erkenntnistheoretische, physikalische sowie sittliche Begriffsbestimmungen zusammen und läßt in diesem erkenntnistheoretischen Panorama die gemeinsame Struktur dieser Weltzugänge sichtbar werden: Sprache. Zu dieser Aussage gelangt Kant selbst allerdings nicht. Er will Wirklichkeit (das Sein der Dinge „überhaupt“) und gegenständliche Erscheinungswelt trennen, spricht aber in der Herleitung seiner Kategorienlehre von „Gegenständen überhaupt“, ebenso vom „bestimmten Denken des Übersinnlichen“¹⁵⁸. Begrifflichkeiten wie diese zeigen eine Dialektik an, die Kant vermeiden will, und es dennoch nicht kann.¹⁵⁹
157 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik, Bd. II: Erster Teil: Die objektive Logik/Zweites Buch. Zweiter Teil: Die subjektive Logik, Theorie-Werkausgabe, Bd. 6, hg.v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt 1986, 55. 158 Kant, KdpV, 275.
D. Gott gibt (sich) zu denken
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D. Gott gibt (sich) zu denken In der formalen Logik ist die Nichterkennbarkeit des eigentlichen Seins Bedingung der Erstellung einer Welt positivierter Dinge, der Welt der (Natur‐)Wissenschaft. Die Vernunft darf nicht erkennen, wenn die Verstandesordnung bestehen soll. „Wissenschaftlich lassen wir Gott immer schon draußen, wie auch alle Wirklichkeit.“ (SuB VII, 135.)¹⁶⁰ Liebrucks formuliert mit der für ihn typischen Vereinnahmung des Lesers: „Auch wir sind der Meinung, daß die Möglichkeit der Erkenntnis sich nicht weiter erstreckt als die Möglichkeit der Erfahrung des Menschen. Aber da gibt es viele Weisen der Erfahrung. Wir sind aber gegen Kant der Überzeugung, daß ‚die Möglichkeit der Dinge‘ sich weiter erstreckt, als eine auf die Möglichkeit der Erfahrung restringierte Erfahrung reicht.“ (SuB IV, 641.) Erkenntnis kann nach Liebrucks weder innerhalb der von uns hergestellten Bestimmungen liegen, noch in einem Wissen um das wirkliche Wesen der Dinge bestehen. Sie betrifft das Zustandekommen der Dinge als bestimmtes Eigendasein. Liebrucks’ und Kants „Denkungsart“ ist sich also sehr ähnlich, lediglich eine – gleichwohl bedeutsame – Akzentverschiebung unterscheidet ihre Erkenntnistheorien. Kant prolongiert das Erkennbare in einen Bereich der Transzendenz (dessen er dann doch zumindest durch Postulate habhaft zu werden bemüht sein muß), Liebrucks sieht die Wahrheit im Offenbarwerden der Grenzen logischer Erschließungsversuche aufleuchten. „Die Vernunft ist kein höheres Vermögen, sondern das, was Kant an ihr kritisierte, der dialektische Weltumgang des Menschen.“ (SuB III, 427.) Die Wahrheit aller Dinge, die nur im Logos Eigendasein haben, ist also im Vollzug des Denkens – welche Form es auch haben mag – stets präsent.Wahrheit als Selbstübereinstimmung in Selbstunterscheidung ist bei sich selbst, indem sie in den Dingen ist. Wahrheit ist kein Abstraktum, sondern ein Konkret-Allgemeines. Ihre logische Struktur findet Liebrucks in der Sprache, die sich, indem sie sich zu ihren Gegenständen verhält, zugleich zu sich selbst verhält.
159 „Eine der schwerwiegenden Konsequenzen, die sich aus unserer Betrachtung ergeben, ist die, daß Kant zwar der unbewußte Entdecker des dialektischen Begriffs ist, vor diesem aber zurückschreckt und erklärt, eines solchen Begriffs sei nur Gott fähig.“ (SuB IV, 517.) 160 „Solches Ungöttliche, den Menschen Versklavende erscheint heute in der Verabsolutierung der Positivität der Wissenschaften. Das Heilmittel dagegen kann in nichts anderem bestehen als in der Analyse dieser Positivität.“ (SuB III, 21.) Demgemäß erfolgt die Selbsterkenntnis des Menschen via Reflexion der Logik seines Weltumganges. „Nur die Selbstinterpretation des handwerklichen wie des sittlichen Tuns als eines nur technisch-praktischen und eines nur moralischen steht der Selbsterkenntnis des Menschen im Weg. […] Die Selbsterkenntnis des Menschen ist nicht im Reich der Positivität möglich, sondern nur und ausschließlich im Reich der Logik. Nur in ihr ist die Voraussetzung, die wir in jeder Handlung, sogar in der Herstellung, schon gemacht haben, erkennbar.“ (SuB VI/3, 578 f.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Darum ist sie Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung: Das sprechende Subjekt verhält sich zum sprechenden Subjekt, wie es sich zum Objekt verhält. Erkenntnis, die als solche durch ihr Ziel der Wahrheitsfindung gekennzeichnet ist, ist Liebrucks zufolge „nicht relativ zum Urteil, sondern relativ zum sprechenden Menschen.“ (SuB V, 19.) Worauf es Liebrucks philosophisch ankommt, ist, die Struktur der Logik nachzudenken, welche sich in dieser selbst thematisiert. „Man verschließe sich vor der Selbsterkenntnis der Logik, wie immer man wolle, man nenne sie Gott, Ich,Weltgrund oder wie immer. Sobald begriffen ist, daß es sich hier um Kinder der Logik handelt, wird die Frage nach dem Ursprung der Logik unvermeidlich.“ (SuB IV, 213.) Von diesem Ursprung können wir keinen Beweis führen, aber einen Begriff.
I. Vom Beweis zum Begriff Liebrucks formuliert seinen Gottesbegriff in Abgrenzung zu den vorkantischen Gottesbeweisen und ebenso in Abgrenzung zur transzendentallogischen Widerlegung der Beweise. Seine Argumentation speist sich hauptsächlich aus den von Hegel entwickelten Verständnissen der Kategorien Sein, Wesen und Begriff. Verdeutlichen läßt sich dies anhand Liebrucks’ Kritik an Anselm: „Im ontologischen Gottesbeweis des Anselm von Canterbury wurde nicht der Begriff des Begriffs vorausgesetzt, sondern der ‚Begriff eines Wesens‘.“ (SuB VI/1, 275.) Das Wesen ist Übergehen des Seins in den Begriff. Allerdings sind Sein und Begriff im Wesen erst äußerlich vermittelt. Im Übergehen in das Wesen erweist sich das Sein, bloße Erscheinung zu sein. Äußerlich ist die Verbindung zwischen Sein und Wesen, insofern zwar eine Beziehung zwischen beiden angezeigt ist, die aber noch nicht logisch entfaltet wird. Sie ist noch nicht begrifflich. Erst im Begriff sind Sein und Wesen als Momente des Begriffs aufgehoben, da im Begriff die Unterschiedenheit von Sein und Wesen gedacht wird, in welcher beide zugleich unterschieden und aufeinander bezogen sind. Begriffslogisch ist erfüllt, was der ontologische bzw. kosmologische Gottesbeweis voraussetzt: Die logische Kohärenz von Begriff und Sein, die im Beweis unvermittelt in Beziehung gesetzt werden. Wesenslogisch stehen sich Seins-Ist, Wesens-Ist und Begriffs-Ist wie voneinander Unabhängige gegenüber. Daher läßt sich wesenslogisch ein Absolutes als Identität seiner Beziehungen nicht denken, sondern allein als etwas, das in Beziehung steht. „Logisch muß das Seins-Ist vom Wesens-Ist, vom Existenz-Ist und vom WirklichkeitsIst unterschieden werden. Von Gott zu sagen, er sei in einem dieser ‚Ist‘, ist Blasphemie in der Form der Vergeßlichkeit des Unterschieds […].“ (SuB VI/2, 317.) Wäre Gott in einem dieser „Ist“, so wäre er im anderen nicht bzw. stünde nur zu diesem in Beziehung. Das Absolute jedoch hat alle seine Unterschiede in sich. Es
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ist im Gang in seinen Unterschied bei sich selbst. Der vom Verstand entwickelte „Gott“ ist „nicht mehr als ein vorgestellter Gott, der uns so eingerichtet hat, daß unsere Denkkategorien, die doch die einer der Logik äußeren Reflexion wären, mit den Seinskategorien partiell identisch wären, es ist da kein Sein, das untergründig diese Arbeit besorgte. Es ist vielmehr der logische Status des absoluten Verhältnisses selbst, das diese Auslegung nicht erst vorzunehmen braucht, weil es diese Auslegung sowohl im Sinne des Seins-Ist wie des Wesens-Ist ist.“ (A. a.O., 414.) Das Wesen zeigt den Unterschied zum Sein an, der Begriff als absolutes Verhältnis enthält ihn. Für Liebrucks „ist festzuhalten: Gott ist nicht Wesen, sondern mindestens Wirklichkeit. […] Die Wendung, die vom Wesen Gottes spricht, ist seit dieser Logik [d. i. Hegels Logik, S. L.] zersungen. Als Natur ist Gott deus absconditus, ebenso als Geschichte, die als eine solche der Welt angesehen wird. Denn die Weltcharaktere sind logisch gewesene Charaktere. Die Trümmer von gestern und die von heute sind der in seiner Unmittelbarkeit erscheinende Gott, etwas, worauf der Mensch als natürliches, untersprachliches Wesen allenfalls abbildbar wäre.Von Entsprechung kann hier logisch nicht die Rede sein.“ (A. a.O., 317.)¹⁶¹ Im logischen Status des Wesens wird – folgt man Hegel¹⁶² – der Begriff eines Seienden konstituiert, der den Übergang von der Unmittelbarkeit des Seins zur Vermittlung eines Seienden mit sich selbst formuliert. Dieser Begriff ist gesetzter, unveränderlicher Allgemeinbegriff, der in veränderlichem Sein aufscheint. Das Wesen ist folglich das Moment des dialektischen Prozesses, das im Reflexionsdenken als äußerliche Notwendigkeit der Dinge diesen Zuordnungsschemata auferlegen läßt. Es ist noch nicht die Identität, die Hegel den Begriff des Begriffs nennt. Dieser erschließt sich als die logische Bewegung, die als Bezug des Seins zum Wesen offenbar wird. Sie ist der logische Gang des Geistes, in dem sowohl Sein als auch Wesen aufgehoben sind: Liebrucks nennt ihn Sprache. Das Wesen ist die einfache Negation des Seins; insofern ist das Wesentliche untersprachlich. Der Begriff ist die Negation der wesentlichen Negation, in welcher Sein und Wesen als Momente von Identität erscheinen. Erst in dieser zweifachen logischen Negation
161 An einer vereinzelten Stelle nennt Liebrucks auch die Sprache einen D e u s a b s c o n d i t u s . Sprache ist „der irdische Gott, der im Verborgenen herrscht, weil er gar nicht beachtet wird. Erst wenn er betrachtet wird, kann sich zeigen, ob es sich um einen Gott oder nur um einen Dämon gehandelt hat, in der Kantischen Weise zu sprechen.“ (SuB III, 332.) Die Verborgenheit der Sprache ist deren Selbstverständlichkeit. Ihre Gegenwart in ihrem Vollzug wird aufgrund ihrer Permanenz nicht bemerkt und somit als ihr Gegenteil erfahren. Nebenbei bemerkt zeigt sich hier zum widerholten Male, daß Liebrucks Termini in unterschiedlicher Bedeutung oder Zuordnung gebraucht. 162 Vgl. Hegel, Enzykl., § 112 f.
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ist eine Einheit der Welt zu denken, die in einem formallogisch-physikalischen Weltbild in vereinzelte Tatsachen zerfällt. Die Wirklichkeit läßt formallogische Begriffe auf sich abbilden; daß sie dies zulassen kann und darin sie selbst ist, zeigt, daß sie ihren eigenen Begriff aus sich selbst entwickelt, ihr eigener Begriff bzw. absolute Identität ist. „Die Wirklichkeit ist wohl von sich aus affin, unter verschiedenen Formen betrachtet und behandelt zu werden. Ihre eigene Form enthüllt sie nur dem Begriff, der sie so sein läßt, wie sie ist, sofern er nicht mehr von der Lebensangst des Menschen diktiert ist, sich am Leben erhalten zu müssen. Hätten wir Menschen nicht Angst in der Welt, sondern die Angst überwunden, so erstrahlte alle Wirklichkeit in ihrer eigenen Form und Gestalt vor uns. Es gäbe in dieser Welt die Liebe,welche der Begriff ist. Es erschiene vor unseren Augen das göttliche wahre Gesicht der Welt. Solange das nicht der Fall ist – und es kann niemals „der Fall“ sein -, muß diese Logik [die formale, S. L.] als erste Pionierleistung des Menschen auf dem Weg zum Begriff angesehen werden. Der Begriff in seiner Unerlöstheit ist nicht nur unerlöstes, noch nicht menschliches Denken, sondern zugleich unerlöste, nicht menschliche Welt.“ (SuB VI/2, 432.)¹⁶³ Angst vor dem Selbstverlust drängt uns zur Selbstbehauptung gegen die Welt. Doch nicht die Welt ist zu überwinden, sondern die Angst, wie es bei Liebrucks in Abwandlung von Joh 16, 33 heißt. Gleichzeitig geht aus den oben zitierten Sätzen hervor, daß die Angst – ähnlich wie Kierkegaard es darstellt¹⁶⁴ – Antrieb des Menschen ist. Angst gibt den Impuls zum Überlebenskampf; Angst vor Selbstverlust bringt den Menschen ebenfalls dazu, sich seiner selbst bewußt zu werden und sich als Ich auszusprechen. Selbstunterscheidung ist ein Moment der Genese des Begriffs, also ein Moment von dessen Wahrheit. Diese verkehrt sich jedoch in ihr Gegenteil, wo ein Moment schon als das Ganze gilt, aus dem sich die Momente erst als solche empfangen. Insofern kann Liebrucks ebenso sagen, die durch Verlustangst motivierte formale Unterwerfungslogik sei „erste Pionierleistung des Menschen auf dem Weg zum Begriff“ und zugleich zu überwinden, wenn der Begriff jemals in seiner Wirklichkeit „erstrahlen“ soll. Daß Selbstunterscheidung ein Moment des Begriffs sei, kann als zentrale These der hegelschen Theorie des absoluten Geistes bezeichnet werden. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird sich erweisen, daß dieses Motiv einer Selbstentsprechung in Entäußerung an das Andere seiner selbst gewissermaßen als argumentativer Stützpfeiler desgleichen den von Liebrucks formulierten Gottesbegriff trägt. Die logische Erörterung, wie sich der absolute Begriff über die Ent-
163 „Es liegt nicht in der menschlichen Subjektivität, sondern schon in den Dingen begründet, in welchem Maße sie ‚für uns‘ sind und vor allem, daß sie es sind.“ (SuB I, 322.) 164 Vgl. hierzu das Kapitel über die Gestalt des Adam.
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äußerung in den Menschen als existierenden Begriff zu sich treibt, und wie auch der Mensch seine Selbstentsprechung in der Selbsthingabe an das Absolute im anderen Subjekt findet, wird sich als Selbstauslegung der dialektischen Philosophie der Sprache erweisen. Mit den Mitteln der formalen Logik ist der Begriff eines Gottes zu formulieren, der nicht Mensch werden kann. (SuB VI/1, 49.) Er bleibt das Abstraktum einer absoluten Notwendigkeit, die in sich selbst ruht, nicht in einem Anderen ihr Bestehen hat. Daher ist der so vorgestellte Gott ein solcher, der den Menschen fern und fremd bleibt. „Jeder logische Denkschritt geschieht in den von diesem obersten Gott vorgezeichneten Denkbahnen. Es ist daher unmöglich, für ihn noch einen Gottesbeweis zu führen.“ (SuB VI/2, 122.) Der Gott der formalen Logik ist als eine von unserem Verstand geforderte absolute Position ein D e u s a b s c o n d i t u s . Vom D e u s a b s c o n d i t u s sagt Liebrucks, er sei nicht der „wirklich christliche“, sondern der platonische Gott. (Vgl. a. a.O., 369.) Dieses platonische Gottesbild hält letztlich noch Kant aufrecht, wenn er zwar die platonische Idee hinsichtlich der theoretischen Philosophie als Spekulation verurteilt, sie aber für die Begründung praktisch-sittlicher Gesetze akzeptieren kann. Anders als der platonische ist der christliche Gott in der Welt präsent als der stets schaffende Gott, der die Kenosis ins reale Sein als seine eigene Genese vollzieht. Alles Sein hat als Moment der Genese des Absoluten eine Eigenbedeutung, die im Ganzen des Absoluten aufgehoben ist, das keines seiner Momente jemals in die Bedeutungslosigkeit entläßt.¹⁶⁵ Der formallogische „Gott“ aber ist Postulat einer notwendigen Zufälligkeit in Natur und Geschichte, welche die Voraussetzung für die Bestimmbarkeit der Dinge zu Erscheinungsgegenständen bildet. Diese Weltdeutung beurteilt Liebrucks als Nihilismus und bezeichnet hiermit eine in bezug auf Wirklichkeit und Möglichkeit indifferente, von jeglicher Eigenbedeutung losgesagte Welt, die sich als solche den Bestimmungen des menschlichen Verstandes unterwerfen läßt. (Vgl. a. a.O., 369.) Er warnt davor, die „intellektuelle Vergewaltigung der Natur, die Technik heißt, [..] mit Erkenntnis“ zu verwechseln. (SuB IV, 519.) „Vergißt der Mensch, daß er sich selbst zu wissenschaftlicher Weltorientierung bestimmte, versteht er sich als zu solcher Weltorientierung durch seine ‚Natur‘ bestimmt, so richtet er damit einen Gott vor sich auf, der als Dirigent in seinem Bewußtsein sitzt und ihn keine Sekunde aus seiner Herrschaft entläßt.“ (Ebd.) Ich biete folgende Auslegung des Dirigentenbildes an: Der Dirigent fordert dem von ihm vorgegebenen Takt gegenüber Gehorsam. Er hat die Gestaltungs-
165 „Das Christentum hat den Menschen aus der geradezu stoisch zu nennenden Unfreiheit gegenüber einer gegen ihn gleichgültigen Welt, in der er selbst ein Stück innerhalb der Welt ist, herausgenommen, indem es ihm sagte, er sei ein Kind Gottes. Das Christentum hält damit die Mnemosyne an den im Diesseits offenen Himmel des sympathetischen Weltbildes fest.“ (A. a.O., 405.)
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hoheit, die er in technischer Präzision – Schlagen des Taktes, Bestimmung von Interpretationsstrukturen – ausübt. Er schafft Verbindlichkeit, Orientierung und Koordination. Doch er selbst ist abhängig von den Schlagfiguren, die er vorgibt. Löst er sich von ihnen, spielt das Orchester nicht mehr in Harmonie. Seine Aufgabe erfüllt der Dirigent in der Vereinheitlichung der Vielfalt von Gesangslagen und Tönen, unter seiner ordnenden Tätigkeit fügen sie sich zu einem stimmigen Gesamtklang. Alles Individuelle aber ist dieser Konzeptionierung schon untergeordnet. Es ist kein Platz für Einzelstimmen, die wie Mißtöne das Kunstwerk stören. Im Bild der Musik findet sich hier die metaphorische Umschreibung der Verstandestätigkeit. Ausgerechnet, möchte man sagen, da doch die Kunst, also auch die Musik, darzustellen vermag, was die Möglichkeiten des Verstandes übersteigt. Vielleicht hilft die Differenzierung zwischen Kunstfertigkeit und Kunst. Während die erstgenannte als technische Perfektion gelten mag, erblüht letztere in der Unberechenbarkeit ihrer Ausübung. Die Improvisation entzieht sich dem Zugriff des Dirigenten. Sie ist die Unbestimmtheit innerhalb der Harmonie – und muß diese doch nicht nur aufbrechen, sondern kann sie zu einem Neuen ihrer selbst erheben. Dagegen ist die Festlegung auf das transzendentallogisch begründete Erkenntnisprinzip Aufrichtung eines Götzen, der „wie das goldene Kalb vor uns aufgerichtet“ steht. (SuB VI/1, 83.)¹⁶⁶ Der Verstand behauptet sich gegen Gott, indem er ihn beweist, weil er Gott nicht zugesteht, sich selbst zu denken zu geben. Der bewiesene Gott ist ein D e u s a b s c o n d i t u s , weil das Resultat eines formallogischen Schlußverfahrens nur eine positive Existenz sein kann. Dies ist die Einsicht, die Kant in seiner transzendentallogischen Metaphysikkritik formuliert: Formallogische Beweise sagen nichts über ein wirkliches Sein Gottes aus. So betrachtet sind sie eine Form von Atheismus. „Jeder Gottesbeweis, der Gott als Sein im Sinne der absoluten Position ansieht, ist atheistisch, die Leugnung Gottes. Er ist das Gegenteil dessen, wofür er sich ausgibt. Die Maske, die er sich aufgesetzt hat, dient allein der Hartnäckigkeit des Verstandes im Festhalten am Absolutheitsanspruch des rein formallogischen Verstandesgebrauchs. Es ist das bis in die Welt der Tiere hinabreichende Imponiergehabe, das beim Menschen allerdings auch der Angst entstammt, die Kant so gut verstanden hat. Man braucht die Existenz Gottes und ahnt, daß sie unseren
166 „Es wird keine Religion mehr als eine ursprünglich-qualitative möglich sein, nachdem der Gott der Philosophen als unbewegter Beweger des Denkens selbst sich an ihre Stelle gesetzt hat. Dieser Nihilismus ist entweder das Ende des Menschen als Menschen oder er kann nur im geduldigen Gang durch die weiteren Teile der Logik soweit überwunden werden, daß wir in ihnen den Beginn des Ganges zu einer Logik von der Sprache her erblicken können. Die Sprache ist nicht das Innerste des Menschen, wie sein bisheriges Denken, sondern der zu sich selbst als Mensch hinzutretende Mensch, der Weltumgang ist.“ (A. a.O., 812.)
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Verstandesgebrauch zerrütten müßte.“ (SuB IV, 226 f.) Die formale Logik behauptet sich unter der Selbstverordnung eines Gottes, der nur absolute Position sein darf, wenn die formallogischen Geltungen Bestand haben sollen. Die erkenntnistheoretische Bescheidenheit, die Kant der theoretischen Vernunft verordnet, dient tatsächlich der Legitimierung der Verstandeshandlungen. Auch Kant teilt noch die Angst der von ihm kritisierten Metaphysik: Es ist die Angst um das Bestehen der Welt, sollte Gott wirklich in ihr Platz nehmen. Kant ebnet aber den Weg zu der Einsicht, daß die Verborgenheit Gottes eine Forderung der dem Verstand die Regeln diktierenden Vernunft ist. Er kann daher als – unfreiwilliger – Wegbereiter einer Logik gelten, die begrifflich zu entfalten imstande ist, warum meine Gedanken nur meine Gedanken sind, sofern sie zugleich die Gedanken Gottes sind. In einer solchen Logik erweist sich „die Verborgenheit Gottes als Schein gesetzt. Die Einsicht in den logischen Status, in dem Gott uns mit Notwendigkeit als verborgener erscheint, ist zugleich das Erscheinen Gottes wie des Menschen als Personen. Die Unterschiede sind das Scheinen als Scheinen, das logische Gegenteil des von der absoluten Notwendigkeit hingeworfenen Unterschieds. Die Geschichte des Menschen erscheint zum erstenmal als der als gesetzter Schein gesetzte Schein.“ (SuB VI/2, 377.) Das logische Erscheinen des Menschen hängt am logischen Erscheinen Gottes. Diese doppelte Epiphanie entdeckt Liebrucks in Jesus Christus. Sofern aus der vorangegangenen Darstellung hervorgeht, daß jeder Beweis Gottes eigentlich ein Hinausdrängen Gottes aus der vom Menschen unterworfenen Welt ist, wird deutlich, daß kein Christ einen Gottesbeweis führen wollen dürfte, sofern der Glaube an Jesus Christus bekennt, Gott sei Mensch geworden. „Als Christen könnten wir einwenden, daß schon das Ansinnen eines Gottesbeweises – immer im Kantischen Feld der Reflexionsphilosophie – die Verzweiflung ist.“ (SuB III, 280.) Gemeint ist die Verzweiflung an Gottes Dasein, die den Menschen befällt, zumal er in der absoluten Freiheit eines seienden Gottes die eigene Freiheit bedroht, nicht aber begründet sieht.¹⁶⁷ Jede auf eigenen Setzungen beruhende Selbstbegründung aber kann als Positivum aufgehoben werden.¹⁶⁸ Erst wenn die in dieser Begründungstechnik liegende Unsicherheit eingesehen ist, kann logisch in den Blick kommen, daß der Mensch nur frei ist, sofern seine
167 Verzweiflung ist Trennung von Gott. „Solange der Mensch das [Gottes Liebe als in allem wirksam erkennen, S. L.] als einzelner kann, ist er Christ, wenn er das nicht mehr zu können glaubt, ist er im christlichen Sinne verzweifelt.“ (Ebd.) 168 Wiederum ist es Hegel, der aufgezeigt hat, „daß der ontologische Anspruch der mathematisch bestimmten Kontinuität scheitert. Erst dieses Scheitern setzt uns logisch in den Stand der Reflexion, weil der logische Status der Reflexion erst durch die Erkenntnis dieses Scheiterns gewonnen wird. Dagegen zerfällt in der physikalisch interpretierten Welt nicht nur das Uran, sondern alles mehr oder weniger langsam.“ (SuB VI/1, 144.)
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Freiheit nicht seine Herstellung ist.Weil er sie sich nicht selbst geben kann,vermag er seine Freiheit auch weder zu verlieren, noch sich ihrer zu entledigen. Der Weg zur Erkenntnis, seine Freiheit aus der Freiheit Gottes zu empfangen, verläuft über die im Doppelsinn des Wortes begriffene Selbstaufgabe. Die Selbsterhaltung des Bewußtseins liegt im Selbstverlust: Man muß den Verstand verlieren. Um die Freiheit des Menschen erkennen und Wirklichkeit sein lassen zu können, „ist ein Gottesbegriff notwendig, der Gott als den dialektischen Logos begreift, den wir nur gewinnen werden, wenn wir uns im vollen Vertrauen auf Christus in den sogenannten Atheismus fallen lassen, der zur Gewinnung der nächsten Stufe des Gottesbegriffes die notwendige Voraussetzung ist.“ (SuB III, 285.) Hier präsentiert Liebrucks ein anderes Verständnis von Atheismus als das bereits erwähnte. Fordert Liebrucks, wir müßten im Vertrauen auf Christus atheistisch werden, um Gott zu erkennen, so fordert er den Abschied vom notwendigen Gott, denn dieser Gott ist tot: Er ist ein logisches Faktum, ein Götze, in dem der lebendige Logos zum Stillstand kommt. Die vom Subjekt vollzogene Apperzeption neuer Bewußtseinsinhalte beruht auf der Annahme durchgängiger Bestimmtheit und Bestimmbarkeit der Dinge der erscheinenden Welt, ein Postulat, dessen Erkenntnis mit den Mitteln der es benötigenden Logik nicht eingeholt werden kann. Insofern ist dieses Postulat ein Instrument der Herrschaft, denn es steht als nicht in Frage zu stellender Befehl vor allen Erkenntnisbemühungen. Die Unbedingtheit dieses Anspruchs zeigt die Widersprüchlichkeit aller Herrschaft. (Vgl. SuB IV, 92.) Jegliche Herrschaft trägt die Spannung zwischen Anspruch und Widerspruch in sich. Der „[…] innere[] Widerspruch, der in aller Herrschaft liegt“, ist die Begründung eines Geltungsanspruchs, der seinen Postulatcharakter niemals ablegen wird. (Ebd.) Die Imperative, unter welche sich die andringende Welt fügen muß, entziehen sich der Überprüfung auf ihre Wahrheit (d. h. deren Kongruenz mit dem An-sich der durch sie verobjektivierten Dinge). Ihr Geltungsanspruch ist verbrieft in gelingender Funktionalität und systematischer Konsistenz. Die Funktionstüchtigkeit des positivierenden Denkens „beruht auf der Annahme ihrer Allgemeingültigkeit: Sie besteht als Unterordnung der Mannigfaltigkeit unter ein Einheitsprinzip (transzendentale Apperzeption), das als solches Alternativen zu sich selbst ausschließen muß. In dieser Intoleranz besteht laut Liebrucks die Grenze der positivierenden Logik. (Vgl. a. a.O., 538.) Sie muß zwecks Selbsterhaltung für ausgeschlossen halten, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde geben kann, als sich die Schulweisheit träumen, d. h. als sich vorstellen läßt. „Mythische Vermögen wären schließlich noch etwas Wirkliches. Aber die Wüste um die Welt der Positivität muß vollständig sein, wenn formallogisches Denken mit Erkenntnisanspruch weiter auftreten können soll.“ (A. a.O., 543 f.) Die vermeintliche Bescheidenheit der transzendentalen Logik ist ein „Pauschalurteil“, in dem be-
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hauptet wird, menschliche Erkenntnis sei auf den Bereich der erscheinenden Gegenstände beschränkt. (A. a.O., 596 u. ö.) „Die Einschränkung des Herrschaftsbereichs ist seine Rettung.“ (A. a.O., 550.) Über alles darüber Hinausgehende können in der Tat keine positiven Aussagen gemacht werden. Eine einzig mögliche Verhältnisbestimmung von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit wäre ebenso widerlegbar wie ein einzig möglicher Gottesbeweis. (Vgl. a. a.O., 622.) Doch solche einzig mögliche Verhältnisbestimmung anzunehmen ist die Selbsterhaltungsbedingung der formalen Logik. Sie funktioniert nur durch den Anspruch der Singularität als Weltzugang. Die formallogische Gottesidee beschreibt ein Absolutes, das alle Indifferenz ausschließen soll. Sie formuliert folglich die von Hegel sogenannte erste Negation (aller Indifferenz zu einer bestimmten und bestimmbaren, daher aber verfügbaren Umwelt). Das von der dialektischen Philosophie gedachte Absolute ist dagegen die Negation der Negation der Indifferenz. Die Freiheit des Menschen ist laut Liebrucks noch nicht damit ausgeschöpft, Handlungsfreiheit zu sein. Freiheit besteht in der Erkenntnis ihrer Bedingungen. Dieser Entwicklung des Verhältnisses von Freiheit und Abhängigkeit korrespondiert ein Gottesbegriff, den Liebrucks den „Gottesbegriff der Dialektik“ nennt und als das Gegenteil des als „Aufhänger fungierenden Absoluten“, wie es in der alten Metaphysik und auch von Kant erklärt wird, einordnet. (A. a.O., 95.) Formallogisch ist „Gott“ ein Aufhänger, d. h. ein Postulat, das als Abschlußfigur eines Denksystems dessen Kohärenz verbürgt. Sofern diese Gottesidee das Funktionieren der Weltdeutung und -behandlung erlaubt und sofern sie vom Subjekt gesetzt ist, ist sie „Diener des Menschen qua Erkennendem“. (Ebd.) Dies ist die Einsicht der transzendentallogischen Kritik. Bei Kant ist der Herr das Absolute als Postulat des Urteilssubjekts, das sich dieses Absolute selbst zum Herrn setzt (absolute Position), weil es dieses für das Aufgehen und Bestehen seiner eigenen Verstandestätigkeit benötigt, das ihm letztlich also nicht Herr, sondern Diener ist. Dieses Absolute ist – anders gesagt – Gegenstand des formallogischen Erkenntnissubjekts. Erkenntnis hängt an den Forderungen der Vernunft, die selbst nicht deduzierbar und daher ungerechtfertigt sind. Erkenntnis steht hinter der Forderung praktischer Handlungsfähigkeit zurück. Als formallogisch definierte basiert sie gar auf der Voraussetzung, daß ihre Prinzipien nicht auf Erkenntnis beruhen, sondern auf Notwendigkeit. Kants Programm einer Autonomiebegründung der menschlichen Vernunft erklärt die Vernunft als Gehorsam fordernden Herrscher, der dem Verstand die Regel gibt. Daß in dieser Selbstunterwerfungsfigur der dialektische Grund seiner Transzendentallogik angezeigt ist, kann Kant nicht e x p r e s s i s v e r b i s eingestehen. Das Wissen um die erkenntnistheoretisch uneinholbare Faktizität der Vernunft aber zeichnet sich ab und verweist damit auf die Einsicht, daß diese Autonomie keine wirkliche ist, weil ihre Voraussetzungen bereits verdankt sind. Doch der Speku-
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lation über diese letzte Wirklichkeit muß die auf die Welt der Erscheinungen ausgelegte Logik entsagen.¹⁶⁹ „Die Welt der Positivität ist dadurch charakterisiert, daß nur nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit gefragt werden darf, weil die Bedingung ihrer Wirklichkeit ihren Absolutheitsanspruch in Bezug auf die Erkenntnis stören würden.“ (SuB IV, 643.) Kants transzendentallogische Kritik hat die Selbstbegründung formaler Logik an die Einschränkung des Erkenntnisanspruchs auf die erscheinenden Gegenstände gebunden. Die sich in dieser Selbstthematisierung ausdrückende Selbstüberschreitung läßt sich unter den selbstgegebenen Denkgesetzen nicht denken. Daher steht die kantische Transzendentalphilosophie auf der Schwelle zur Dialektik: In ihr ist sich die Vernunft Gegenstand geworden, ohne jedoch das logische Gewordensein des Gegenstandes denken zu können. Darum bleibt sich die Vernunft auf diesem Reflexionsniveau letztlich auch bloßer Gegenstand. Das Gewordensein des Gegenstandes begreift erst ein Denken, das sich selbst als die logische Aufhebung von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit denkt, diese Aufhebung also allein dort sucht, wo sie vollzogen wird, nicht in einem Prinzip aus sich heraussetzt. Liebrucks erblickt diese Einheit von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit in der logischen Struktur der Sprache. Eine Philosophie der Sprache setzt seiner Ansicht nach also dort ein, „wo der Mensch zu denken beginnt, daß außerhalb der Welt der Positivität noch etwas zu erkennen ist.“ (SuB V, 304.)
II. Gottesbegriff – Gott als Begriff „Es gibt Philosophen, die Gott sagen und die formale Logik meinen, es gibt Philosophen, die Gott sagen und ein durchgängig Bestimmtes meinen, obwohl sie Gott nur als Garanten der durchgängigen Bestimmtheit aller Dinge erfunden haben.“ (SuB IV, 219.) Wenn Liebrucks „Gott“ sagt, so spricht er von Gott als dem „dauernden Korrespondenten von Sprache und Bewußtsein“. (Vgl. a. a.O., 188.) Der Auslegung dieser Formulierung eines Gottesbegriffs widmet sich die nachstehende Erläuterung.
169 „Moses befreite sein Volk von der wirklichen Knechtschaft. Er gab ihm zugleich das Gesetz als absolutes. Hölderlin nannte Kant den Moses unserer Nation. Die geistige Knechtschaft ist erst in der Erfahrung der Moralität hinwegzuarbeiten. Diese Knechtschaft besteht darin, daß das Bewußtsein seinen Gegenstand noch in zwei Welten hat. Es ist die Zerreißung der Welt in die Phänomena und die der Noumena. Der Mensch gibt sich das Gesetz. In diesem Geben des Gesetztes hat er sich ihm eodem actu unterstellt. Es ist ein dialektisches Geben, das zugleich Nehmen ist.“ (SuB V, 236.)
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Den Weg zum als Begriff zu denkenden Gott ebnet Kant, indem er die in der vorkantischen Metaphysik als formallogisch bewiesen geltende o m n i t u d o r e a l i t a t i s als formal notwendiges Postulat, als absolute Position demaskiert. „Mit der Einsicht in die Nichtexistenz eines solchen Gottes, der der Gott keiner Religion, sondern der ‚Gott der Philosophen‘ ist, beginnt die Sprachphilosophie.“ (SuB I, 74.) Die auf der hegelschen Dialektik aufbauende Sprachphilosophie Liebrucks’ erhebt die Gedankenbrücken zum Thema, die der Mensch baut, um sich Welt zu erobern. Sie denkt die Bedingung der Möglichkeit dieses Brückenbaus, also das Denken selbst. Damit ist sie wiederum über Kant hinaus. Sprachphilosophie macht Anhalte zum Inhalt. „Kant dagegen sieht sie [die Kategorien, S. L.] nur als Anhalte, als Geländer, an das alles Denken sich halten muß. Nur ein Bewußtsein, das sich auf den Anhalt nicht einfach stützt, sondern von ihm distanziert ist, kann den Anhalt zum Inhalt machen. Diese Distanz ist die Distanz zwischen Kant und Hegel. […] Die Dialektik denkt die logische Form zu Urteilen als Anhalte des Denkens, nicht als das Denken selbst. Es denkt das wirkliche Denken der Wirklichkeit, nicht die festen Prinzipien, an die sich das wirkliche Denken zwar hält, die es aber nicht mit sich identifiziert.“ (SuB IV, 607.) Das spezifische Sprachverständnis Liebrucks’ kann anleiten, die Präsenz Gottes neu zu denken. Wie eine Sache im Wort präsent ist, so ist Gott im Logos präsent. Entscheidend ist dabei, wie diese Präsenz gedacht wird: als reale Stellvertretung, als „bloß“ symbolisch, als Abbild? In Liebrucks’ Sprachverständnis ist deutlich das Wort nicht schon oder nicht mehr die Sache. Das Wort ist Aufforderung, die einer Sache entsprechende Vorstellung in sich zu erzeugen. Dieses Erzeugen ist zugleich die wohl innigste Beziehung, die man zu etwas unterhalten kann – ein schöpferisches Gestalten aus sich selbst heraus, das Erschaffen einer Verbindung, die beide Relate in einer lebendigen, lebensspendenden Relation hält, ohne daß eines vom anderen je Besitz ergreifen könnte. Im Erzeugen ist etwas in seine Freiheit als Erzeugtes entlassen. Genaugenommen verhandelt Liebrucks in seinen Ausführungen nicht einen Gottesbegriff, sondern spricht davon, daß Gott „Begriff“ ist, Logos. Als dieser Begriff kann er nicht inhaltsleer, also zunächst bloße Form sein und dann auch Bedeutung. Sein Offenbarwerden hängt am Inhalt, als der er sich verkündet. Der in den biblischen Schriften bezeugte Gott ist nicht allein allmächtig. Er bestimmt seine Allmacht, die als indifferente bloße Willkür wäre, zur Macht der Liebe. Diese aber ist niemals Prinzip, vielmehr schafft sie Verhältnisse im Eröffnen und Aufheben von Gegensätzen. Nur als Liebe ist Gott Logos, sprachphilosophisch gesprochen die Einheit von Idealität und Realität: Begriff.¹⁷⁰ „Nehme ich Gott als existierenden an, so wird eine solche Annahme nur
170 Zur „Existenz Gottes als Begriff“ vgl. SuB V, 20.
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dadurch erträglich, daß Gott zugleich als die existierende Liebe aufgefaßt wird. Kant hat aber einen Gottesbegriff, nach dem Gott nur Majestät ist.“ (A. a.O., 331.) Das Majestätische dieses Begriffs besteht darin, sich nicht in das menschliche Sein herabzulassen. Für Kant, das ist vorangehend dargestellt worden, ist Gott ein logisches Postulat, dessen Sein absolute Position ist. Als Idee des Ideals bleibt der transzendentallogische Gott ein Abstraktum. Liebrucks unterstreicht dies: „Der nichtdialektische Begriff vermag keinen göttlichen Weltcharakter zu fassen.“ (A. a.O., 308.) Eine formale Logik denkt das Absolute als Abstrakt-Allgemeines, ein dialektischer Begriff formuliert das Absolute als Konkret-Allgemeines. Unter der Konkretion sei hier der unmittelbar aus der Anschauung gewonnene Begriff verstanden, wohingegen der abstrakte als der Begriff gilt, der wesentliche Merkmale benennt. In der klassischen Definition sind „abstrakt“ und „begrifflich“ synonym, von „konkreten Begriffen“ zu sprechen, muß als Widerspruch gelten, da ein Begriff immer schon Resultat einer Abstrahierungsleistung ist. Hegel durchbricht diese Definitionstradition, indem er den Begriff als ebenfalls konkret ansieht. Ein Begriff ist nur abstrakt, sofern wir ihn rein formell fassen und als Ort seiner Erfassung unser vernünftiges Denken angeben, d. h. zugestehen, daß er nicht (allein) im konkret Sinnlichen erfaßt werden kann, da in diesem der Begriff stets vermittelt ist. Dieser „formelle Begriff“ ist aber vom „existierenden Begriff“ zu unterscheiden.¹⁷¹ Das Allgemeine ist nie vom (sinnlich erfahrbaren) Konkreten zu trennen, sofern es die Einheit der Vielheit des Konkreten beschreibt, also immer schon auf es bezogen ist.¹⁷² Das Konkret-Allgemeine ist der Begriff, der zur Konkretisierung kommt und darin das Allgemeine in sich darstellt. Soweit denkt Liebrucks mit Hegel, um dann die Sprache als die logische Verbindung von Konkretem und Abstraktem zur Geltung zu bringen. Sprache spricht die Logik des konkret-allgemeinen Begriffs vor: Auch in ihr ergeben formallogische Aussagen keinen Sinn, wenn sie nicht in einem konkreten, d. h. inhaltlichen Kontext stehen.¹⁷³ Sprachphilosophisch kann man dem Anliegen der alten Metaphysik eine neue Chance geben.¹⁷⁴ Liebrucks selbst bestimmt seine Stellung zur „alten Metaphysik“
171 Vgl. Hegel, Enzykl. § 164. 172 Vgl. a. a.O., § 82. 173 Liebrucks sieht sich mit seiner sprachphilosophischen Version des dialektischen (Gottes‐) Begriffs durchaus der Kritik ausgesetzt: „Sagen wir z. B., der christliche Gott sei heute, bei unserem Bewußtsein, nur noch im dialektischen Begriffe erfahrbar, so werden die Fetischanhänger unserer Zeit wie ein Mann aufstehen und gerade unseren Gottesbegriff als abstrakt brandmarken, während er doch der einzig konkrete ist.“ (SuB I, 413.) 174 Diskutable Entwürfe zur Legitimation des ontologischen und kosmologischen Gottesbeweises finden sich auch in der zeitgenössischen Theologie, etwa bei Tillich oder Pannenberg.
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wie folgt: Mit Kant, dem Überwinder der althergebrachten metaphysischen Denkkonstruktionen (für die vornehmlich der ontologische Gottesbeweis steht), muß die Enge des Erkenntnisradius formaler Logik anerkannt werden, um dann gleichwohl über Kant hinausgehend zu begreifen, daß die formale Logik nicht mit Logik überhaupt gleichzusetzen ist. Diese Einsicht „muß zur Rehabilitierung vieler Inhalte der alten großen Metaphysik führen, nicht aber zur Rehabilitierung ihres Denkduktus.“ (SuB IV, 244.) Erst eine sprachliche Logik überwindet einen statischen Gottesbegriff und denkt Begriffsverhältnisse, indem sie nicht allein das Verhältnis der Urteile zueinander erörtert, sondern auch, wie sie sich darin zu den Dingen verhalten (Idealrealität). Liebrucks hat mit der vorkantischen Metaphysik gemeinsam, nach einer Logik des Absoluten zu fragen. Was die Gottesbeweise der alten Metaphysik im Blick haben, ist die Frage nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.Worin steht alles miteinander im Verhältnis? Der Mensch kann diese Frage nicht abstrakt behandeln, sondern allein in bezug auf sich selbst. Welt besteht immer nur für ihn, und zwar nie in dem Sinne, daß Ich und Welt als an sich voneinander unabhängige Größen existierten, die durch eine bestimmte Handlung oder ein Ereignis zueinander in Beziehung träten. Ich und Welt haben ihr jeweiliges Eigendasein in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, die Liebrucks als Sprache vorführt. Insofern kommt der Logos in die Welt, insofern wird er Mensch. Die Menschwerdung des Logos kann aber nur gedacht werden, wenn er in seiner Menschwerdung sein Gottsein erweist, das bedeutet: Wenn das Konkrete als Moment des Absoluten begriffen ist. „[S]o wird die Erkenntnis nicht dadurch menschlich, daß die Einheit der transzendentalen Apperzeption nicht mehr als wirklicher Gott, sondern als oberstes Prinzip verstanden wird. Es ist derselbe wirkliche Gott, der nur im Herzen der Erkenntnis, im Verstand Platz genommen hat.“ (A. a.O., 514.) Wir können nur einen wahren Begriff von Gott haben, wenn Gott von sich begrifflich reden läßt. Theo-Logie setzt voraus, daß Gott sprachlich ist und dieselbe Sprache spricht wie wir Menschen. Der Begriff ist nie von seinem Inhalt abstrahiert, er kommt erst in seinem Inhalt zu sich. „Die Darstellung Gottes im Begriff ist er selbst.“ (SuB VI/1, 203.) Dieses Beim-Anderen-bei-sich-selbst-Sein ist es, das Liebrucks in dem in seinen Widerspruch gehenden Gott des Christentums wiedererkennt. Im vom Neuen Testament verkündeten Logos ist somit auf dem Niveau religiöser Bewußtseinsentwicklung ausgesagt, was Hegel den „Begriff“ nennt. „Hegel trägt seinen Begriff vom Begriff zwar unter der wesentlichen Maske des Gottesbeweises vor, während er doch nur die Rühmung Gottes und des
Diese sind aber nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, der Hinweis auf sie möge daher genügen.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Menschen ist. Ist der Begriff platonisch-Kantischer Begriff, so gibt es keinen Gottesbeweis. Ist er in seinem Begriff erkannt, so ist an die Stelle der Blasphemie der Gottesbeweise die Rühmung Gottes getreten, die die einzige Freude, das Glück und die Kraft aller Religionen ist. Sie ist zugleich der einzige Status, in dem der Mensch nüchtern bleibt.“ (SuB VI/3, 164.) Wenn von der vom Menschen erfahrenen und ihn betreffenden Welt die Rede sein soll, muß dafür eine logische Form gefunden werden, die über positive Existenz hinauszudenken vermag.¹⁷⁵ Liebrucks gewinnt eine solche Philosophie in seinen Betrachtungen zur Sprache, die sich ihm als ein Einheitsgrund darstellt, der Verhältnis ist und Verhältnisse schafft, weil in ihm die Dinge nicht eindeutig sind.¹⁷⁶ „Wenn wir einen klaren und distinkten Begriff von der Notwendigkeit Gottes hätten, wären wir mehr als Gott, wir stellten Gott als untermenschlich vor, also nicht als Gott. Deshalb dürfte der Nachweis, daß Gott als Gegenstand im Kantischen Sinne unbeweisbar ist, eher eine Verbeugung vor seiner Wirklichkeit sein. Gott ist kein Positives.“ (SuB III, 123.) Das bedeutet auch: In keinem einzelnen Wort ist das Absolute ausgedrückt. Dies will in der vorliegenden Untersuchung zur Formulierung eines Gottesbegriffs durch Liebrucks berücksichtigt sein. „Gott geht in keinem Begriff auf, den Menschen sich bisher von der Wirklichkeit gebildet haben. […] Sprache und Bewußtsein gehen gleichfalls in keinem Begriff auf, den sich Menschen bisher von der Wirklichkeit wissenschaftlich haben bilden können.“ (A. a.O. 123 f.) Solche Formulierungsnöte resultieren daraus, daß der menschlichen Vernunft, die Liebrucks mit der Wendung „Sprache und Bewußtsein“ als „Bewußt-Sein“ umschreibt, ihre eigene Faktizität immer entzogen bleibt. Die Vernunft kann sich nicht von außen betrachten. Das Denken denkt sich nur auf Umwegen. Diese Umwege gilt es im folgenden nachzuzeichnen.
E. Gottes Sein ist im sprachlichen Werden Liebrucks stimmt der von Kant vorgenommenen Absteckung der Reichweite formallogischer Eroberungskraft des menschlichen Verstandes zu, um sogleich zu betonen, daß man zwar die Existenz Gottes nicht beweisen könne (da Beweise in die Zuständigkeit der formalen Logik fallen), daß man sie aber zu denken vermag – indem man das Denken denkt. Die νοησις νοησɛως - ein von Aristoteles ge-
175 „Das unter den Techniken der modernen Logik Erfahrbare darf nicht mit dem menschlich Erfahrbaren verwechselt werden. Es ist ein Moment in ihm, das nur dann menschliche Erfahrung gewährleistet, wenn es in seinem eingeschränkten logischen Status gehalten, d. h. am logischen Zügel gehalten wird.“ (SuB VI/1, 184.) 176 Vgl. dazu den ersten Hauptteil über den Sprachbegriff.
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schaffenes, von Hegel aufgegriffenes Theorem – wird daher zu einem zentralen Motiv in der Philosophie des Logos. Aristoteles bestimmte Gott als das sich selbst denkende Denken. Hegel expliziert dieses Denken als absolute Subjektivität, die als solche nie rein geistig sein kann; sie begreift sich als das Allgemeine in der Hingabe an das Konkrete, d. i. das endliche Sein, von dem aus sie wieder zu sich zurückkehrt. Hegels spekulative Philosophie zeichnet dieses Geschichtlichwerden des Geistes nach und schafft somit die Möglichkeit, den Begriff der νοησις νοησɛως in die christliche Verkündigung des menschgewordenen Gottes zu integrieren: Der christliche Gott ist der menschlichen Logik niemals transzendent. Liebrucks greift diese Applikation des aristotelischen Vernunftbegriffs auf die christliche Religion auf, um sie in sprachphilosophischer Zuspitzung dahingehend zu akzentuieren, daß es die christliche Religion sei, die den bisher uneingeholten Durchbruch zur Erkenntnis der sprachlogischen Verfaßtheit des menschlichen Weltumgangs geschafft hat. „Alle Bewußt-Seinsverwandlungen des Menschen sind [..] immer auch Verwandlungen in seiner Auffassung Gottes und der Götter.“ (SuB I, 310.)¹⁷⁷ Unterschiedliche Bewußtseinsstufen bilden unterschiedliche Begriffe aus, auf niederen Entwicklungsstufen kommt es noch nicht zu einem Begriff. Das Christentum aber hat nicht nur einen Begriff von Gott, es verkündet Gott – wenn auch noch auf vorphilosophischem Niveau – als Begriff, als Logos. Das verschafft der christlichen Religion und Theologie eine herausragende Stellung in der Evolutionsgeschichte des Bewußtseins.¹⁷⁸ Schon in der Gottesgestalt des Christentums wird der Übergang von einer Gottesvorstellung zu einem Gottesbegriff bewältigt. Die christliche Religion (wie allerdings bereits das Judentum) wendet sich ab von der Vergegenständlichung Gottes in Bildern und Dingen: „Gott war das Wort (Logos)“. (Joh 1, 1.) Der christliche Gott erscheint als Gestalt¹⁷⁹, die spricht – eine Gestalt, die das Gegenständliche zugleich an sich hat und hinter sich läßt.¹⁸⁰ In Jesus Christus nimmt
177 “ Gott wird als Seinsgrund, Wesensgrund oder begrifflicher Grund vorgestellt, je nach dem Bewußtseinsstand, in welchem sich eine Religion befindet.“ (SuB VI/2, 193.) 178 Das Absolute ist als solches in allen Ausformungen ausgelegt: „Die Auslegung Gottes ist auch als erste Identität absolute Identität. Den Löwen mag Gott als Löwe erscheinen, den vorkantischen Philosophen formallogisch, Kant nur als Idee, einer unphilosophischen Zeit als gänzlich verschwunden: es ist immer die absolute Auslegung Gottes. Gott spricht mit den Steinen, den Tieren und den Menschen so, wie sie es vertragen können.“ (A. a.O., 345.) 179 Zum sprachphilosophischen Motiv der Gestalt vgl. das Kapitel Die Erzählungen der Bibel als Spiegel der Bewußtseinsentwicklung. 180 „Die Übersetzung der Gebildecharaktere einer Religion, die sich im Medium des Kultus und des Ritus manifestiert hat, […] in den Übersetzungsprozeß von der Objektivität der Gebilde und Begehungen in die Subjektivität, ist die Übersetzung in die Religion des Wortes.“ (SuB VI/3, 473.)
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Gott Menschengestalt an und verkündet zugleich die Aufhebung aller Gestalt in seinem Tod und seiner Auferstehung. Die christliche Botschaft von Gott als dem unablässig Schöpfenden (c r e a t i o c o n t i n u a ), der, wie er in der Schöpfung das Sein gegen das Nicht-Sein bestätigt, auch vom Tod zum ewigen Leben erweckt, bewahrt die Einsicht, daß die Vollkommenheit Gottes nicht bedeutet, mit seinem Werden und Tun jemals abgeschlossen zu haben. Damit setzt im Christentum eine Reflexion des Absoluten ein, welche das gegenständliche Denken hinter sich läßt. Im folgenden sei der Erörterung des christlich begründeten Gottesbegriffs bei Liebrucks eine Skizze vorbegrifflicher Gottesverständnisse vorangeschickt. Diese soll verdeutlichen, weshalb der Durchbruch vom gegenständlichen Denken zu einem Denken, das die Momente der Vergegenständlichung und Entgegenständlichung als Momente der eigenen Denkbewegung logisch zu erschließen vermag (vgl. SuB II, 283), für Liebrucks der Durchbruch zu einem Gottesbegriff ist, der, weil er Gottes Gegenwart im menschlichen Sein und Denken beschreibt, den Menschen zu seinem eigenen Begriff führt, in dem er seine Wahrheit und somit seine Freiheit hat.
I. Unmittelbares Bewußtsein, unglückliches Bewußtsein und Glaube Wie dargestellt worden ist, hat sich die formale Logik Gott als Gegenstand gesetzt. Als absolute Position ist er unbewegter Beweger, ein Gott als oberstes Prinzip, der aus einem Jenseits des endlichen Seins dessen logische Unterwerfung begründen soll. (Vgl. SuB VI/2, 23.) „Dieser Gott ist der Wirklichkeit des Menschen insofern transzendent, als die logische Folgerichtigkeit trotz des Bemühens des Aristoteles, einen Abstand von Platon zu gewinnen, niemals aus sich zur Wirklichkeit gelangt. Es gibt keine formallogische Brücke von den Systeminvarianzen der formalen Logik zu irgendeinem Ding, das in unserem sprachlichen Weltumgang wirklich begegnet.“ (A. a.O., 338.) Die Verdinglichung des Göttlichen ist aber schon Kennzeichen einer vorphilosophischen Erkenntnisstufe, auf der sich ein Bewußtsein eines Ganzen entwickelt, das, obwohl es als göttlich verehrt wird, die Charakteristika des technischen Weltumgangs trägt. (Vgl. SuB V, 170 f.; vgl. SuB VI/ 2, 23.) Dementsprechend sind die Göttergestalten der dieser Bewußtseinsstufe zuzuordnenden Religionen und Kulte meist Tiergestalten. Das Tier verkörpert die perfekte Anpassung, es steht für einen Einklang mit der es umgebenden Natur und repräsentiert eine Widerspruchslosigkeit, die das größte Bedürfnis des natürlichen Menschen ist. Der natürliche Mensch resp. Verstand ist das Subjekt der Subjekt-Objekt-Beziehung, das in der Entzweiung von Bewußtsein und Gegenstand verharrt. Ihm entgegengesetzt ist – in
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Anlehnung an Hegel gesprochen – das philosophische Bewußtsein, welches das Tätig-Sein des Bewußtseins in jeglicher Wahrnehmung thematisiert. Erst vom philosophischen Bewußtsein her wird das natürliche als solches erkennbar. Die Wissensformen, die das natürliche Bewußtsein den erscheinenden Dingen beilegt, sind als Zuschreibungen der Veränderlichkeit, das bedeutet aber: dem Untergang geweiht. Da das natürliche Bewußtsein in der Perpetuierung von Werden und Vergehen noch nicht die eigentliche Bewegung des Bewußtseins zu erkennen vermag, sträubt es sich gegen den Verlust jener Formen in der Furcht vor Selbstverlust und strebt danach, s u u m e s s e c o n s e r v a r e (Spinoza).¹⁸¹ Im Verlauf dieses Kapitels wird sich herausstellen, daß erst die Transzendentalphilosophie Kants über die Stufe des natürlichen Verstandes oder Bewußtseins hinausgelangt, indem Kant die Tätigkeit des Verstandes in der Anschauung der andringenden Welt erkenntnistheoretisch analysiert. Dennoch sprechen selbst seine Ausführungen zum Ich, sofern es formallogisches Prinzip bleibt, allein von diesem unmittelbaren Bewußtsein, das seine Identität mit sich und die Identität der Dinge mit sich für konstant halten muß.
Auf dieser Bewußtseinsstufe wird Anpassung mit Freiheit verwechselt. Das Tier erscheint frei, weil es sich in den Widrigkeiten seiner Umwelt zu behaupten scheint. Aber es weiß nicht um seine Freiheit und besitzt keine Individualität, sofern es nicht Ich sagen kann. Religionen und Mythen, auf welche die vorangegangene Beschreibung zutrifft, haben keinen Sinn für jene die Dinge und vor allem die Menschen umgebenden Unbestimmtheitshöfe; diese erscheinen ihnen vielmehr als Mangel. Insofern haben sie das Sinnganze, das ihnen in ihrem Weltund Selbstverhältnis aufscheint, noch nicht als Absolutes begriffen. Das Absolute ist das, was sein Anderes immer in sich hat; demnach auch das Unbestimmte und das eigene Vergehen. Als die Dialektik seiner Momente ist es permanentes Werden und erweist sich darin als vollkommen. Die Bewußtseinsstufe der unmittelbaren Begegnung mit dem Göttlichen hält dagegen das Perfekte (im lateinischen Wortsinn) für das „Beendete“. Was im Werden ist, wird nicht als vollkommen begriffen: Es ist dem Verständnis dieser Bewußtseinsstufe gemäß noch im Werden, noch nicht das Ganze. Es ist das Bewußtsein eines Ganzen, das aber als Gegenstand angebetet wird. Insofern ist die Gottesbeziehung dieser Bewußtseinsstufe unmittelbar: Der Mensch sieht sich mit Gott konfrontiert, nicht versöhnt. Den Übergang zu einer nicht-gegenständlichen Auffassung Gottes bildet die Bewußtseinsstufe, die Liebrucks in Aufnahme Hegels die „unglückliche“ nennt. Auf dieser Bewußtseinsstufe befinden sich die ersten christlichen Gemeinden. „Das unglückliche Bewußtsein ist relativ zum unmittelbaren Selbstbewußtsein das höhere Bewußtsein.“ (SuB V, 104.) Es hat dem „In-sich-Reflektiertsein“¹⁸² des unmittelbaren Selbstbewußtseins die Gewißheit voraus, seine eigene Wahrheit
181 Auch die freudsche Verdrängungstheorie betrifft das natürliche Bewußtsein. 182 Hegel, Logik II, 204.
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aus der Wahrheit des Absoluten zu empfangen. Diese Gewißheit ist aber ebenso erst unmittelbar: „Das unglückliche Bewußtsein hatte von fern die Ahnung des Unwandelbaren als des erschienenen Christus.“ (SuB V, 129.) Es ahnt die Gegenwart der Wahrheit im endlichen Sein, ohne logisch erfassen zu können, wie sich diese Gegenwart vollzieht, aus der es sich selbst empfängt. Es ist noch nicht sein eigener Begriff. Das Unglück des Bewußtseins besteht in seinem Wissen um den Widerspruch von realer Wandelbarkeit und idealer Unwandelbarkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit. Es entdeckt beide Aspekte an sich selbst. Es ist Bewußtsein von sich selbst, es weiß um sich als Identität. Aber es erfährt sich als zerrissene Identität, weil es noch nicht das wechselseitige Erzeugen von Idealität und Realität zu denken vermag. Sein Unglück besteht in der Ungelöstheit der Methexisfrage. Ist das Absolute als solches das in allem wirksame, so muß das menschliche Tun als das Tun Gottes erkannt werden. Zu dieser Erkenntnis aber ist das unglückliche Bewußtsein noch nicht vorgedrungen. „Das Unglück des Bewußtseins besteht immer darin, daß es sein einzelnes Tun nicht zugleich für das Tun Gottes hält, sondern ausschließlich für das Tun Gottes, den es allerdings nicht als Gott, sondern als Natur, Schicksal oder was immer begreifen mag.“ (A. a.O., 109.) Es erfährt „das Unwandelbare als den Unwandelbaren“. (A. a.O., 104.) Weil es dieses Unwandelbare bzw. diesen Unwandelbaren als den „ganz Anderen“, eine sich selbst äußerliche Größe, erfährt, bleibt es hinter sich zurück.¹⁸³ Darum fühlt es sich zerrissen: Ihm fehlt die Versöhnung. „Es ist an sich schon die Freude, mit dem Geist versöhnt zu sein. Für sich ist es zunächst das Unglück.“ (SuB V, 104.)¹⁸⁴ Die Versöhnung des Menschen mit Gott, des Reichs des Sohnes mit dem Reich des Vaters ist noch nicht vollzogen: Dann wäre das Glück des Bewußtseins die Erkenntnis der eigenen Unendlichkeit, die ihm als Marionette des unendlichen Logos eignet. Das unglückliche Bewußtsein erfährt sich unmittelbar in der Ge-
183 Das zeigt sich in der nachösterlichen Gemeinde: „Die christliche Gemeinde dagegen spricht an dieser Stelle in mythologischen Vorstellungen vom Vater und Sohn. Die Gemeinde kann nicht erkennen, daß die Gedanken des Menschen nur dann menschliche Gedanken sind, wenn sie zugleich die Gedanken Gottes sind. Für sie ist Gott der Fremde schlechthin. Sie hält es für gottlos, Gott in dieser Welt zu erfahren. In zwei Jahrtausenden hat sie es tatsächlich fertig gebracht, das Bewußtsein so weit herunterzubringen, daß es nicht mehr weiß, daß es an sich in allen seinen Erfahrungen Gott erfährt. Es wähnt sich in der Eitelkeit des wissenschaftlichen Bewußtseins dazu noch bescheiden.“ (A. a.O., 283.) Mit Liebrucks‘ Einschätzung der ersten Gemeinde setzt sich auch die Einleitung zum Kapitel Die Erzählungen der Bibel als Spiegel der Bewußtseinsentwicklung auseinander. 184 „Das religiöse Bewußtsein ist die Versöhnung in der Form des Ansichseins, das absolute Wissen dagegen die Versöhnung in der Form des Fürsichseins. Die Versöhnung in der Form des Anundfürsichseins wird die Logik sein. Die Religion ist der absolute Inhalt, das absolute Wissen ist die absolute Form. Beides zusammen ist die Logik.“ (A. a.O., 289.)
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genwart des göttlichen Logos stehend; es ist aber noch nicht in der Lage, die Gegenwart Gottes im Menschen zu denken. Auf seinem Reflexionsniveau stehen sich Unendliches und Endliches gegenüber. In der Konsequenz rühmt es nicht den gegenwärtigen Gott, sondern erwartet die Widerkehr des Unwandelbaren. (Vgl. a. a.O., 220 f.) Insofern ist es als unglückliches zugleich Bewußtsein der Hoffnung. Liebrucks findet diese u. a. ausgedrückt „in den Bildern des Gottesdienstes. Diese haben als sinnliche noch die ganze Sprödigkeit eines Wirklichen. Die Hoffnung bleibt Hoffnung, doch ohne Erfüllung in der Gegenwart.“ (A. a.O., 104.) Es bleibt weitestgehend offen, an welche liturgischen Momente Liebrucks hier denkt. Eher eine Anmerkung bleibt die Nennung des Abendmahls. Die Zerrissenheit des unglücklichen Bewußtseins bringe es mit sich, daß es Heiliges und Profanes strikt voneinander unterscheidet. So versteht es sein eigenes Handeln nicht als Vollzug des göttlichen Logos, sondern trennt das Handeln des Menschen von dem Handeln Gottes. „An dieser Stelle treten nicht wir als Geburtshelfer auf, sondern das Unwandelbare selbst. Es gibt seine Gestalt preis und überläßt sie uns zum Genusse. Es ist eine entfernte Andeutung des Abendmahls. Es ist eine entfernte Andeutung der Transsubstantiation der Substanz in das Subjekt. Dagegen kann das Bewußtsein keine eigene Handlung aufbringen. Der Verzicht des Unwandelbaren auf seine Gestalt: ‚dies ist mein Leib‘, hilft dem Bewußtsein zwar, das Unwandelbare nicht mehr nur als den Unwandelbaren zu nehmen. Es hat dafür aber nur die Möglichkeit des Dankes.“ (A. a.O., 106.) Weil sich das Bewußtsein in diesem Status schon als sich behauptendes erfahren hat, begreift es den Dank als seine selbsttätige Handlung. Es begreift auch, daß der Dank nur die Erwiderung auf das Opfer des Unwandelbaren und daher doch nicht rein selbsttätig ist. Dieser Widerspruch ist sein Unglück. Das unglückliche Bewußtsein „ist das christliche Denken in seiner unwahren Gestalt, da der wahre christliche Gedanke das Jenseits im Diesseits ergreift.“ (A. a.O., 105.) Dieser „wahre christliche Gedanke“ stellt sich mir als dasselbe dar, was Liebrucks als Bewußtseinsstufe des Glaubens beschreibt. Oft fällt der Begriff des Glaubens im Werk Liebrucks’ nicht. Wo er verwendet wird, ist der Ausdruck meist in der Auslegung Hegels gebraucht bzw. auf diese bezogen. „Glaube“ steht für eine Bewußtseinsstufe, die noch in der Trennung der Welt, wie sie erscheint, von der Welt, wie sie in Wirklichkeit ist, verharrt, zugleich aber bereits den Gedanken der u n i o ¹⁸⁵ führt – eins zu sein mit seinem Gegenstand, als welcher ihm
185 Insbesondere Meister Eckhart führt das Motiv der Unterscheidung ohne Unterschied zur Umschreibung der Fülle des Vollkommenen; vgl. Haug, Walter, Predigt 63: „got ist mynne“, in: Steer, Georg/Sturlese, Loris (Hgg.), Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, 201– 217; vgl. ders., Das Wort und die
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Gott erscheint. Sofern dieser ihm gegenständliches Gegenüber bleibt, hat auch der Glaube den Widerspruch zwischen Unendlichem und Endlichem noch nicht überwunden. Er ist aber das Bewußtsein davon, daß der Widerspruch zugelassen werden muß, wenn Einheit, Versöhnung, sein soll. Die Welt der Positivität muß überwunden werden, der Glaube strebt zu einem Jenseits dieser Welt. Zugleich ist der Gott, den er anbetet, ein Gott, der in die Welt gekommen ist, ein diesseitiger Gott. In der christlichen Gemeinschaft als Leib Christi ist dieser Widerspruch am deutlichsten: Der Geist Gottes ist in der Gemeinde in Verkündigung und Sakrament präsent – das Jenseitige nimmt in der diesseitigen Gemeinde Platz. Der Glaube beginnt, die Zerrissenheit des unglücklichen Bewußtseins hinter sich zu lassen, kommt aber seinerseits nicht über den Vorstellungsaspekt des Denkens hinaus. „Das unglückliche Bewußtsein hat in der ersten Unmittelbarkeit erfahren, daß seine Vorstellungen nur dann seine Vorstellungen sind, wenn sie zugleich die Gedanken Gottes sind. Es verlor sich in seinem Gott, den es als jenseitigen vorstellte. Dieser Verlust war seine Auferstehung als Vernunft. Indem das Selbstbewußtsein sich in seiner äußersten Form als unglückliches Bewußtsein aufgab, gab es sich als von der Welt isoliertes auf.“ (SuB V, 113.) Auch in der Aufgabe des unglücklichen Selbstbewußtseins im Glauben bleiben Gott,Welt und Ich jenseitige, weshalb dem Glauben von Liebrucks eine gewisse Naivität bescheinigt wird. (Vgl. a. a.O., 220.) Das glaubende Subjekt weiß, daß es sich aus der Beziehung zu Gott und Welt empfängt. In ihm wird erstmals die Einheit von Immanenz und Transzendenz gedacht. Darum geschieht im Glauben die Auferstehung der Vernunft. Der Glaube hat jedoch das substanzhafte Denken noch nicht überwunden.¹⁸⁶ Bleibt auch ihm Gott letztlich ein Anderes, ein Gegenstand und insofern jenseitig, thematisiert der Glaube in der Hingabe an seinen Gegenstand lediglich die eigene Entfremdung. Er gelangt noch nicht zu der Erkenntnis, „daß Ich von derselben Seinsweise ist wie Gott.“ (A. a.O., 219 f.) Der Glaube vermag nicht logisch auszusprechen, das seine Endlichkeit ein Moment des Unendlichen ist. Er kann sein Tun nicht als das Tun Gottes, seine Gedanken nicht als die Gedanken Gottes denken, weil er in den logischen Abgrund schaut, in den die positivierte Welt immer stürzen muß; er sieht das Ganze aller Setzung und Aufhebung darin
Sprache bei Meister Eckhart, in: ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, 579 – 591. 186 Dem Glauben haften noch die Eierschalen des wesentlichen Denkens an. Gott ist ihm höchstes Wesen. Zugleich ist ihm dieses Wesen nicht mehr „ein heidnisch Göttliches, das ein Wesen hat oder ist und dann in die Welt eingreift, zu den Menschen kommt oder auch nicht. Es ist überirdisch-irdisches Wesen, die Einheit von Vater und Sohn als Geist, das in die Welt von Haus aus eingreift und immer schon eingegriffen hat. Dieses Wesen ist die gegenständliche Vorstellung des Eingriffs des Denkens in die Welt, der Logos: die Sprache.“ (A. a.O., 221.)
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aufleuchten. Weil er aber um die Bedingtheit seines Denkens und Handelns weiß, kann er diese nicht als Moment des Unbedingten akzeptieren. Es ist eine starke Pointe Liebrucks’ zu behaupten, ausgerechnet der Glaube sei das Bewußtsein, indem sich das menschliche Ich selbst vor Augen trete. Diese Behauptung entsteht im Horizont der hegelschen Geistphilosophie: Die Identität des Subjekts empfängt sich aus der logischen Struktur der absoluten Identität. „Die unmittelbare Gewißheit des Glaubens ist [bereits] Identität des Menschen mit Gott.“ (SuB III, 429.)¹⁸⁷ Aber diese Identität ist dem Glauben selbst nicht bewußt. In der Unmittelbarkeit der Identität von Gott und Mensch ist Gott „der ganz Andere.“ (SuB III, 429.)¹⁸⁸ Glaube wird von Liebrucks offensichtlich stets mit dem christlichen Glauben identifiziert. „Im christlichen Glaubensbekenntnis erscheint der Glaube in seinem Hauptmoment, nämlich Denken zu sein, das Denken als die Wirklichkeit des spekulativen Satzes: hier noch als ein Geschehen vorgestellt. Der Glaube sieht, nachdem er den Relativismus der Welt der Bildung versinken sah, seinen Gegenstand, der doch nur er selbst als Denken ist, als ein göttlich Geschehen, das im unglücklichen Bewußtsein als die Preisgabe von ferne erschien, jetzt aber als Geburt, Passion und Auferstehung Christi vor ihm steht. Der Glaube hat eine Vorstellung, er hat sein Denken, sich selbst als das von ihm vorgebildete, ihm von seiner Geschichte her entstandene Vorbild.“ (SuB V, 221.) Glaube ist das Bewußtsein von der Gegenwart des Absoluten. Es ist ihm konkret in Jesus Christus. Der Glaube vereint schon Subjektivität und Objektivität, begreift Tod und Auferstehung als Wirken des einen Geistes. Er sieht diesen dennoch von außen an, „als gegenständliches Wesen, als die Nachricht, die Erzählung von dem Geschehen im Neuen Testament.“ (A. a.O., 222.) Er ist „das Gespräch mit der Geburt, dem Leiden und der Auferstehung des göttlichen Wesens“, aber er kann noch nicht aussprechen, daß sich das Absolute im sprachlichen Weltumgang des Menschen vollzieht. (A. a.O., 221.) Ambivalenz ist das hervorstechende Charakteristikum des Glaubens: Einerseits sieht er in der Welt nicht das Vereinzelte, sondern Zusammenhänge. Darum ist ihm auch Geschichte keine Abfolge von Geschehnissen, 187 So behauptet sich der Glaube selbst auch in dem Selbstverständnis, seine Selbstbeziehung in seiner Beziehung zum Absoluten aufgehoben zu wissen. „Die Aufklärung sagt zum Glauben: was du da als das Absolute ausgibst, das bist du selbst. Aber das wußte der Glaube längst. Er wußte: indem Gott sich liebt, liebt er mich als diesen da. Mein Auge, das Gott sieht, ist das Auge Gottes, das mich sieht.“ (SuB V, 229.) 188 Ob diese Formulierung absichtlich eine Kernaussage der Theologie Karl Barths aufnimmt, muß offenbleiben. Immerhin kann man aus den Darlegungen Liebrucks‘ erschließen, daß ihm die sogenannte „Dialektische Theologie“ oder „Theologie des Wortes Gottes“ eher ein Auseinandertreiben des menschlichen Subjekts und des göttlichen Absoluten sein dürfte, in welcher folglich das Absolute nicht als solches gedacht ist.
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sondern eine Heilsgeschichte. „Man kann hier nicht mehr mit dem Einwand kommen, der Gegenstand des Glaubens sei doch etwas anderes als er selbst. Der Glaube ist Denken. Der Gegensatz von Denken und dem, was ich im Denken vorstelle, ist als solcher, nicht als Moment innerhalb des Denkens, längst als unwahr erkannt.“ (A. a.O., 226.) Der Glaube ist Denken, das Unterscheiden von Denkendem und Gedachtem (Humboldt). „Aber er ist das Denken in seiner Unmittelbarkeit.“ (SuB VI/2, 269.) Er bleibt das Abarbeiten an den paradoxalen Formeln, in denen er historische und eschatologische Bedeutung Jesu Christi als Christusgeschehen auszudrücken versucht. Der Glaube denkt den Begriff, ohne ihn in einen Begriff fassen zu können. „Der Begriff sagt dasselbe, was der Glaube sagt. Der Glaube ist das Denken, das die ersten beiden Stellungen des Gedankens zur Objektivität hinter sich hat. Aber dieses Denken mißversteht sich selbst, weil es die Natur des Begriffs nicht kennt. Der Begriff sagt dasselbe, was der Glaube sagt. Aber er sagt es auf eine durch die Weisen und Stufen der Logik hindurchgegangene ‚Weise‘.“ (SuB VI/1, 170.) Der Glaube der Gemeinde begründet ihre Aufgabe. Diese besteht darin, den in ihr als Gemeinschaft lebendigen Geist ebenso als Geist des Individuums zu erkennen. Erfüllt sie diese Aufgabe, ist das „Werden des Einzelnen zur Gemeinde [..] das im mythischen Bild gefaßte Geschehen des Begriffs selbst. Indem der Einzelne in seiner Gemeinde verschwindet, seine Substantialität freigibt, steht er in ihr als Subjekt auf. Darin erfährt er die Auferstehung des Begriffs. In der Gemeinde stirbt der Einzelne nicht als Daseiender, sondern seine Vorstellungen sterben und auferstehen zu neuen Vorstellungen […].“ (SuB V, 287.) Die verklingenden Laute eines sprechenden Subjekts sind aufgehoben in der Gemeinschaft aller sprechenden Subjekte. Das Subjekt selbst ist aufgehoben in der logischen Struktur der Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, die Liebrucks hier in der christlichen Gemeinde nicht nur vollzogen, sondern auch angezeigt sieht. Die Gemeinde gibt Worte weiter, allen voran das Wort, als das Gott in Jesus Christus erschienen ist. So gründet die Botschaft Jesu Christi eine Gemeinde als dessen „Leib“, in dem der Logos lebendig ist. Die von Liebrucks als Sprachgemeinschaft begriffene Gesellschaft hat ihr Urbild in der christlichen Gemeinde, „die von den antiken Gesellschaften dadurch unterschieden ist, daß sie ihre Existenz dem existierenden Begriff verdankt, den sie als ihren Herrn vorstellt. Als Gemeinde ist der Geist nicht mehr nur vorgestellter Geist, sondern als allgemeiner existent.“ (A. a.O., 285.)¹⁸⁹
189 Diese Ein- und Wertschätzung der Gemeinde als Geistgemeinschaft kann Liebrucks offensichtlich nicht mit den aus ihr erwachsenen historischen Formen von Kirche vereinbaren, die pauschal als Institutionalisierungen der formalen Logik verunglimpft werden. Selbst wenn Anspruch und Faktizität auseinanderdriften, ist doch der Anspruch der Kirche, Gemeinde des Geistes Christi zu sein, damit nicht nivelliert. – Zu Liebrucks‘ Kritik an der Selbstverfehlung der
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Ihre Verkündigung, d. i. das eine Wort in immer neuen Entsprechungen in den Mund zu nehmen und es somit mitten unter sich lebendig sein zu lassen, ist eine Darstellung des Begriffs in seiner logischen Struktur des bewegten Sich-selbstgleich-Bleibens. Diese Darstellung der Aufhebung des Endlichen im Unendlichen ist der Versöhnungsauftrag der Gemeinde. (Vgl. a. a.O., 286.) Sie hat ihn erkannt und angenommen, aber erfüllt ist er noch nicht. „Die christliche Gemeinde [..] tritt zunächst noch nicht in der Form von Technikern auf. Sie preist Gott und hebt das sinnliche Gewissen auf. Die Gemeinde gelangt so als Gemeinde zu einer Überwindung der sinnlichen Welt. Aber für den Einzelnen bleibt diese Überwindung illusionär.“ (A. a.O., 222.) Die Gemeinde hat noch nicht erkannt, daß der Begriff in seiner Darstellung bereits zugegen ist. Weil sie den Begriff als „letzte Stufe des Bewußtseins immer noch nur in der Vorstellung, also vor sich hat, hat sie diese als in der Zukunft zu erwartende. […] Das Vorsichhaben der Vorstellung ist eschatologisch, zeitliches Vorsichhaben, geworden.“ (A. a.O., 288.) Ebenso wie der Begriff des Glaubens bleibt bei Liebrucks das Verständnis von Eschatologie recht fadenscheinig. Spricht Liebrucks von Eschatologie, so ist darunter anscheinend stets eine futurische zu verstehen. Ob somit die eschatologische Erwartung der Gemeinde treffend charakterisiert ist, bezweifle ich. Das spezifische Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens formuliert sich als proleptische Spannung. Der Christ lebt in der Hoffnung auf eine bestätigende Enderwartung der Versöhnung Gottes und des Menschen, derer er gegenwärtig im Zuspruch dieser Versöhnung teilhaftig ist. Wie wir jetzt leben, ist bestimmt von einer in ungewisser Zukunft eintretenden Vollendung dieses Lebens, deren in Jesus Christus erschienene Wahrheit in deren Verkündigung bewahrt ist. Das Christentum fand dafür Sprachformen wie die Zusage des Anbrechens der Heilszeit als Anbrechen der Gottesherrschaft. Diese wurde von den ersten Christen tatsächlich in naher Zukunft erwartet. In bezug auf diese ersten Christen greift Liebrucks’ Kritik, die Gegenwart Gottes, durch die betroffen sie sich als Anhänger Jesu Christi, in dem diese Gegenwart offenbar wurde, zusammenfanden, in ein Jenseits zu verdrängen, das der Deushomo als immer zugleich diesseitig verkündet hatte. Die Parusieverzögerung bewirkte aber schon im Stadium des Verfassens der zum Neuen Testament kanonisierten Zeugnisse dieser Erkenntnis der Präsenz des Unendlichen im Endlichen eine Entwicklung von futurischer Eschatologie zu präsentischer Eschatologie (in den johanneischen Schriften) oder zumindest das Nebeneinander präsentischer Eschatologie und futurischer Apokalyptik (Paulus). In der eschatologischen
Gemeinde bereits in der ersten Christengeneration vgl. die Hinführung zum Kapitel Die Erzählungen der Bibel als Spiegel der Bewußtseinsentwicklung.
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Spannung, „schon jetzt und noch nicht“ des ewigen Lebens teilhaftig zu sein, liegt die Begründung der Heilszuversicht. Wird diese Differenzierung des christlichen Eschatologieverständnisses nicht berücksichtigt, ist zu fragen, inwieweit der christliche Glaube sein Selbstverständnis in seiner Auslegung durch Liebrucks wiederzufinden weiß. Möglicherweise ist ein präsentisches Verständnis von Eschatologie, wie es sich bereits in den paulinischen Briefen herauszukristallisieren beginnt, die theologische Sprachform für Liebrucks’ Einsicht, daß das, was wir von Gott erkennen können, durch Gott „nicht mehr verborgen [..] und doch geborgen“ bleibe. (Hölderlin, 208.) Am Ende dieser Skizze vorbegrifflicher Gottesvorstellungen sollte deutlich geworden sein, daß die Vergegenständlichung Gottes – zu einem Bild, einer Vorstellung, einem Prinzip – eine Transzendierung Gottes ist. Der Gegenstand ist Objekt, im lateinischen Wortsinn das, was einem „entgegensteht“. Als Gegenstand hat sich der Mensch Gott stets selbst entgegengestellt. Dem Absoluten eignet es, bei uns sein zu wollen. Es zeigte sich in der vorangegangenen Darstellung, daß die nicht zugelassene Gegenwart Gottes für den Menschen zur Folge hatte, nicht Gott von sich fern zu halten, sondern vielmehr sich selbst. Gottes- und Selbsterkenntnis des Menschen zeigen sich miteinander verwoben. Diese These leitet über zur Darstellung des Gottesbegriffs, wie er von Liebrucks formuliert wird.
II. Theogonie als Anthropogonie Das Absolute kann als solches nie Gegenstand der Erkenntnis sein, denn als Zusammenhang von Wesen und Existenz, dem Ansichsein und den Vorstellungen von Dingen ist es selbst Möglichkeit und Wirklichkeit von Erkenntnis. „Das Begreifen Gottes ist ein Moment innerhalb des Menschen als sprachlichen und begrifflichen Wesens. Aber er begreift Gott nicht als von Gott emanzipiertes Wesen, sondern soweit, als er als Begriff mit Gott in jener Identität steht, die die Momente des Unterschieds und der Verschiedenheit in sich selbst hat.“ (SuB VI/2, 129.) Die Erkenntnis des Absoluten ist also immer schon dessen Vollzug. Es ist weder Prinzip noch Substanz, sei es als existierend gedacht oder postuliert. Es ist die diagnostizierbare Wirklichkeit des In-der-Welt-Seins der Individuen sowohl in ihrem individuellen Sein als auch in ihrer Gemeinschaft. Insofern kann Liebrucks zur Beschreibung dieses Absoluten die christliche Abendmahlslehre heranziehen und davon sprechen, daß sich der absolute Geist an die Welt austeile. „Das Sein dieses Geistes ist nicht absolute Position, sondern der sich in dem demütigen Herabsteigen Gottes, in der Austeilung seines Leibes verwirklichende spekulative Satz.“ (SuB V, 183.) Die Rede vom Absoluten ist immer spekulative Rede, da nur in dieser – wird sie im Sinne Hegels aufgefaßt – die Beziehung von Identität und
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Nicht-Identität ausgesagt ist. Der spekulative Satz bricht mit der Zuordnungseindeutigkeit einer Subjekt-Objekt-Beziehung und zeigt die Mehrstrahligkeit der semantischen Relationen an, in denen der Logos nie zum Stillstand kommt. Im Beziehungsgeflecht des Logos, der Vernunft als Sprache, hat alles seine jeweilige Bedeutung vom Anderen her: Es ist ein Moment des Unendlichen. Dies ist im Abendmahlmotiv angezeigt, sofern die Austeilung des Leibes den Postulatcharakter einer transzendentallogisch bestimmten o m n i t u d o r e a l i t a t i s kontrastiert, indem sie veranschaulicht, daß die Verwirklichung des Absoluten als spekulativer Satz die Dialektik von Bewußt-Sein ist, die jedes Subjekt konstituiert. In dieser Dialektik ist das Subjekt der Inhalt des Begriffs, d. h. es setzt nicht Begriffe und Gegenstände in Beziehung, sondern ist diese Beziehung. Dieses Subjekt nennt Liebrucks in Anschluß an Hegel das „wissende Ich“. „Das wissende Ich […] ist der existierende spekulative Satz.“ (A. a.O., 17.) Die Erkenntnis des Absoluten braucht demnach das Erkenntnissubjekt. „Der Aufgang der Sonne des Absoluten ist an die Selbstentzündung des Lichtes in uns und durch uns gebunden.“ (A. a.O., 336.)¹⁹⁰ Sprache bedeutet nicht nur eine c o o p e r a t i o von Gott und Mensch, sondern c o n c r e a t i o : Der Logos wird durch uns geboren.¹⁹¹ Die Identität und Nicht-Identität Gottes und des Menschen werden im Subjekt offenbar. (Vgl. SuB V, 369; vgl. SuB VII, 85.) „Sprache gibt es genuin auf unserer Erde nur dort, wo des Menschen Erfahrung zugleich die von etwas Göttlichem ist. Nur da, wo Göttliches innerhalb der wirklichen Erfahrung des Menschen auf dieser Erde ist und nicht in einem überhimmlischen Ort, antwortet der Mensch notwendig nicht durch direkte Handlung, sondern durch Sprache und Handlungen, die eines Tages dann selbst sprachlich sein möchten.“ (A. a.O., 296.) Das Absolute realisiert sich als Selbstkommunikation in den menschlichen Subjekten, die seine Sprache sprechen, indem sie das Absolute als Sprache aussprechen. Die Sprache als die im Bindestrich des Wortes „Bewußt-Sein“ ausgesprochene Bewegung des Geistes zwischen Wesen und Existenz ist als diese Bewegung die Aufhebung der Gegenübersetzung von Wesen und Existenz. „Diese Bewegung ist keine nurseiende, keine wesentliche, sondern die Begriffsbewe-
190 Tatsächlich kann Liebrucks auch davon sprechen, daß „Gott seine Zwecke auf dem Umweg über die Freiheit des Menschen erreicht […].“ (SuB VI/3, 594; vgl. 532; 568.) Das bedeutet aber nicht, den Menschen zu instrumentalisieren: Gott erreicht seine Zwecke nicht darin, den Menschen zu seinem Knecht zu machen, sondern ihn frei sein zu lassen. Das Absolute bringt sich im Menschen als die Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit zur Geltung. 191 „Wir Menschen haben unsere Creativität nur als Nachfolger dieses Begriffs. Die Sprache ist darin, daß sie den Graben zum Individuum nicht überspringt, beim Individuum, weil noch dieses Nichtüberspringenkönnen als durch das Versicherungsstreben gesetztes erkannt ist.“ (SuB VI/3, 214.)
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gung, für die es kein formallogisches Bildnis gibt. Es ist daher nicht nötig, innerhalb des Begriffs zu sagen, ‚du sollst dir kein Bildnis machen‘. Vom Begriff können wir uns kein Bildnis machen. Bildnisse sind wesentlich. Sie sind schriftlich. Das einzige Bild, das der Mensch von Begriff, d. h. von sich selbst wie von Gott hat, ist der Mythos, das gesprochene Wort.“ (SuB VI/3, 306.) In jedem Wort eines Subjekts, das dieses an ein anderes Subjekt richtet, hat sich das Subjekt selbst ausgesprochen und ebenso den göttlichen Logos, der sich als Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung, in welcher Gegenständlichkeit und Übergegenständlichkeit, Sein und Denken aufgehoben sind, vollzieht. „Von Gott weiß der Mensch immer so viel und so wenig, wie er als Denkender existiert.“ (A. a.O., 371.) Der Mensch als existierender Begriff empfängt seine Logik aus dem absoluten Begriff. Darum hat er, wenn er von sich spricht, immer schon von Gott gesprochen. „Die Andeutung, daß es sich beim Begriff nicht nur um Ich, sondern um den göttlichen Begriff handelt, ist die Anzeige davon, daß die Entwicklung des Begriffs zur Einzelheit etwas mit der Selbstbestimmung Gottes zum Einzelnen zu tun hat.“ (Ebd.)¹⁹² Damit ist durchaus eine Identität von Gott und Mensch ausgesprochen. Wird diese Identität als absolute begriffen, ist deutlich, daß Gott und Mensch dennoch voneinander unterschieden sind. (Vgl. ebd.) Wir müssen einsehen, „daß der Mensch […] die Grenze zwischen dem ist, was er sterbliche Menschen und unsterbliche Götter genannt hat. Diese Grenzbestimmung wird immer innerhalb des sprachlichen Weltumgangs des Menschen vorgenommen.“ (A. a.O., 595.) Wo immer von der „Bestimmung“ des Menschen die Rede ist, wird dessen Marionettendasein ausgesprochen. Daß der Mensch eine Bestimmung habe, ist meines Erachtens bei Liebrucks vor dem Hintergrund der hegelschen Geistphilosophie ein anderer Ausdruck dafür, daß das menschliche Subjekt Moment des absoluten Geistes sei. Damit ist aber schon gesagt, daß die Bestimmung des Menschen als Mitbestimmung zu denken ist. Die Mitteilung des Logos geschieht immer unter der Mitgestaltung, der Vermittlung des Menschen. Als Geist vom Geiste ist der Mensch zugleich sich empfangende und selbsttätig ausdrückende Identität, „[d]er Mensch, der sich mit Gott verbunden weiß und ihm doch in Freiheit gegenübersteht.“ In diesem Geist „kommt nicht nur die Sprache, also der Logos zur Sprache, sondern der Mensch handelt nur noch als sprachliches Wesen.“ (SuB V, 262.) Seine Worte findet der Mensch selbst. In diesem Finden und Etablieren drückt sich seine Freiheit aus, in welcher er sich seine Bestimmung aneignet, sie aber auch verfehlen kann. Gott diktiert dem Menschen nicht. Dieser bringt das Göttliche in jedem seiner Worte und Gedanken, seiner Erfahrungen und Handlungen frei, d. h.
192 Die Selbstbestimmung Gottes zum Einzelnen hat die Unvertretbarkeit des Einzelnen c o r a m D e o zur Konsequenz.
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ihm individuell entsprechend, zum Ausdruck. In seiner Mitwirkung liegt immer die Komponente seiner Subjektivität. Gott und seine Mitteilungen stehen also nie als ein Objektives vor uns. „Wäre es [das Absolute, S. L.] objektiv, so wäre der Mensch dadurch, daß es sich im menschlichen Aussprechen ausspricht, eine unfreie Marionette.“ (SuB III, 431.) Der Mensch spricht aber das Absolute nicht nur für das Absolute aus, sondern auch für „sich“. (Vgl. ebd.) „Es ist die Güte Gottes, daß er sich über den Menschen als ein freies Wesen ausspricht, daß er den Menschen in Freiheit an seinem Werk mitwirken läßt.“ (Ebd.) Darin, daß im Sprechen des Menschen sich der Logos selbst mitteilt, liegt das Marionettendasein des Menschen. Doch der Logos ist ihm eigen, also ist der Mensch in diesem Mitteilen zugleich frei. Die Genese des Absoluten im Individuum drückt sich in der Sprache des Christentums aus als das Fleischwerden des Logos, als die Kenosis des Gottessohns, der zum Menschensohn wird und sich so tief herabwürdigt, daß er am Kreuz stirbt. (Vgl. a. a.O., 205.) In diesem Opfer seiner selbst verwirklicht sich das Absolute. Es ist schon immer dieses Opfer, sofern es als Dialektik begriffen wird: als Bei-sich-Selbst-Sein im Sein-bei-Anderem. Das Zu-sich-selbst-Kommen des Absoluten ist damit aber ebenso deutlich als Ins-Sein-Rufen des menschlichen Individuums gekennzeichnet. Metaphorisch ausgedrückt: Das Marionettendasein des Menschen besteht in der Partizipation am Absoluten.¹⁹³ Dieses ist somit als dialektische Beziehungseinheit beschrieben, nicht als Summa aller Möglichkeiten. Es ist die Einheit aller Relationen zwischen bewußtseinsbegabten Subjekten, die sich durch diese Relationen konstituieren. In diesen Relationen vollzieht sich unablässig die Kenosis des Absoluten. In der Beziehung zum Anderen wird aber desgleichen das menschliche Subjekt als das sich Beziehende und das, worauf andere Subjekte und Objekte in Beziehung stehen, geschaffen und offenbar. Die Herablassung des Absoluten ist logische Konstituierung des Subjekts. Der subjektive Geist ist es, wozu sich der absolute Geist opfert. Im Selbstopfer an den Anderen sich selbst zu verwirklichen, ist ebenso der Vollzug eines Subjekts. Zum einen ist somit deutlich, daß sich das Subjekt geschichtlich konstituiert, d. h. im realen Umgang mit dem Anderen. Zum anderen zeigt sich, daß im Moment der Selbstaufgabe das Selbst erst aufscheint: Ein beziehungsloses Subjekt ist ein Absurdum. Die Beziehung geht es aber ein, indem es von sich absieht. Im Absehen von sich selbst erkennt es sich. So betrachtet, wird in der Gestalt Jesu Christi das, was die Philosophie „Subjekt“ nennt, zum ersten Mal in der Geschichte der Be-
193 Die Wortwahl – partizipieren, teilhaben oder teilhaft sein – ist laut Liebrucks „noch einigermaßen formallogisch“, doch ist nicht über diese Ausdrucksweise hinauszukommen. (Vgl. SuB VI/2, 174.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
wußtseinsentwicklung begriffen. (Vgl. SuB V, 184.) Der im Neuen Testament verkündete Gott treibt das eigene Werden in den tiefsten aller Widersprüche. Mythisch ausgedrückt, lautet dies: Um menschlich zu werden, stirbt Gott. Sprachphilosophisch übersetzt, ist damit die Einsicht ausgesagt, daß der Selbstbezug des Bewußtseins über seine eigene Negation erfolgt. Identität ist immer Identität im Widerspruch. Das ist die – sprachlogisch reflektierte – Botschaft des Gekreuzigten, laut Liebrucks die bisher tiefgründigste Einsicht, welche in Bezug auf die Gemeinschaft des Menschen mit Gott im Logos gewonnen werden konnte. Sie hält Einzug in die logische Reflexion durch Hegels Kritik, der Satz der Identität (A = A) sei eine bloße Tautologie, eine Kritik, die von Liebrucks zur einer tragenden Säule seiner Sprachphilosophie gemacht wird. Das p r i n c i p i u m i d e n t i t a t i s ist ein Denkgesetz, nicht aber Denken.¹⁹⁴ „Denken ist Identität des Bewußtseins und des Seins, Bewußt-Sein.“ (SuB III, 50.) Das Identitätsprinzip dagegen ist die rein formale Forderung, daß zur technisch-praktischen Verfügung über die Dinge als Erscheinungsgegenstände diese als anhand sich durchhaltender Eindeutigkeit definiert gelten müssen. Dieses Postulat ist eine Abstraktion der erfahrenen Welt, die sich dem Menschen zu keinem Zeitpunkt eindeutig, sondern als permanenter Veränderlichkeit unterworfen zeigt. Identität ist in ihr folglich nicht das, was Kraft eines abstrahierenden Aktes formaler Bestimmung aus diesem lebendig sich verändernden Zusammenhang herausgenommen wird. Identität ist Beziehung. Sie ist das, worauf sich die Aussagen von Identität und Nicht-Identität beziehen; sie besteht, indem sie in ihrem eigenen Widerspruch auf sich bezogen bleibt. Formuliert wird sie im Satz des Widerspruchs – Negation ist Moment jeder Identität. Daher ist seine totale Entäußerung die Offenbarung¹⁹⁵ Jesu Christi als absoluter Identität. Empfängt sich Identität aus der bezeichneten logischen Struktur des Absoluten, so kann Liebrucks sagen, das Bewußtsein müsse zu der Einsicht
194 „Nur wenn innerhalb des logischen Ortes der formalen Logik, nur wenn bei Beachtung der Folgerichtigkeitsforderungen der formalen Logik gezeigt werden kann, daß die Identität nicht ohne den Unterschied und der Unterschied nicht ohne die Identität ist, erscheint innerhalb der formalen Logik ihr dialektischer Kern.“ (SuB VI/2, 89.) 195 „Die Offenbarung erscheint als der existierende Begriff. […] Das Herabsteigen Gottes ist kein positives Herabsteigen. Deshalb muß es das Herab- und Heraufsteigen des Absoluten genannt werden […].“ Die Erniedrigung des Höchsten in den Niedrigsten ist die einfache Bewegung, in der die ganze Wahrheit des Logos steckt. „Die Oberfläche der Offenbarung ist ihre Tiefe. Das sind Kategorien, die auf die Sprache als Sprache zutreffen.“ (SuB V, 281.) Die Sprache spricht ihre Wahrheit vor: Sie ist stetes Geborenwerden und Vergehen und Auferstehen. Darin bildet sie in jedem artikulierten Laut, in jedem gefaßten Gedanken die von Hegel beschriebene Bewegung des Geistes in die Existenz und zurück ins Wesen ab.
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gelangen, „daß es selbst Christ ist.“ (A. a.O., 105.)¹⁹⁶ Christ ist es in der Nachfolge Christi, „der als dieser einzelne da die Wahrheit ist.“ (A. a.O., 105.) In diesem Ausspruch rekurriert Liebrucks auf die aristotelische Bezeichnung des Individuums als τ ο δ ɛ τ ι , das ebenso ausgesprochen ist im Ausruf des Pilatus – e c c e h o m o . (Joh 19, 5; vgl. SuB VI/3, 520.) Im D e u s - H o m o erscheint der absolute Geist, das Allgemeine i n c o n c r e t o . In der Gestalt Jesus Christus werden wir des Bewußt-Seins ansichtig, denn in ihr fallen das Jenseitige (mit Hegel gesprochen: das An-sich) und das Diesseits (das Für-sich) zusammen. Jesus Christus ist Offenbarung des Anundfürsichseins.¹⁹⁷ Die Nachfolge Christi vollzieht sich als Denken dessen, was in der Gestalt Jesus Christus repräsentiert ist. Der Weg zu Gott ist angetreten in jenem Bewußtsein, das weiß, „[…] daß Gott nicht in Bildern verehrt, sondern im Geiste angebetet, d. h. gedacht sein will.“ (SuB V, 104 f.) Im denkenden Nachvollzug der Dialektik zwischen Absolutem und Besonderem, Sinn und Sinnlichkeit, die Liebrucks im Bindestrich des Wortes Bewußt-Sein andeutet, ist diese Dialektik Wirklichkeit. Wirklichkeit hat keinen Ort außerhalb dieses Denkens und Seins von Bewußt-Sein. Daher ist „Wirklichkeit [..] nur dem Denken gegenüber nicht spröde. Wo sie noch spröde ist, wurde nicht gedacht.“ (A. a.O., 105.) Eine christliche Philosophie muß demgemäß immer dialektisch sein. (Vgl. SuB IV, 280.) Dies läßt sich wie folgt wenden: Die Dialektik ist das christliche Moment in der Philosophie. (Vgl. SuB VI/3, 211.)¹⁹⁸ Die Nachfolge Christi erfolgt als Selbstaufgabe des Urteilssubjekts, die ein Ausgang aus der selbstbestimmten Welt der endlichen Dinge ist, die Negation der eigenen Setzungen, in welcher sich der Mensch als der Setzende erfährt. Als solcher kann er nicht dem Endlichen nur gleich, sondern muß zugleich auch über dieses hinaus sein. Die vorangegangene Darstellung sollte erhellen, daß Gotteserkenntnis keine Zugabe ist, die ein bereits bestehendes Weltverhältnis des Menschen bereichert. Vielmehr wird im Gottesbegriff die Grundverfaßtheit des Daseins logisch zum Ausdruck gebracht. Entscheidend ist, den Gottesbegriff als Herz der Logik zu erfassen, in der als „Kritik des Denkens“ Erkenntnis nicht allein analysiert, sondern allererst generiert wird. Ob damit freilich etwas anderes geleistet ist, als eine Letztbegründung? Liebrucks selbst deutet an, daß die Kontingenzbewältigung im menschlichen Weltumgang immer von der Sehnsucht nach einem
196 „Religiös gesprochen hat es [das Bewußtsein, S. L.] Christus als sich selbst. Als Wissen hat es alle seine Gegenstände als sich selbst, aber wie es in der Religion Christus doch zugleich als seinen Herrn hat, so hat es zugleich auch alle seine Gegenstände nicht als es selbst.“ (A. a.O., 288.) 197 Der wahre christliche Gedanke besteht nach Liebrucks darin, daß er „das Jenseits im Diesseits ergreift.“ (SuB V, 105.) 198 „Keine nichtdialektische Philosophie kann christlich sein.“ (SuB III, 280.)
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Schlußstein des eigenen Gedankengebäudes „Welt“ getrieben ist. (Vgl. SuB IV, 8.) Wer einen Gottesbegriff formuliert, fragt nach dem οντως ον, ob er es als Gegenstand formuliert oder als dynamische Größe, ändert daran nicht das Geringste. Liebrucks ist davon überzeugt, „daß jede Weltansicht sich auf ein Letztes stützt, unter welchem Namen dieses auch ins Bewußtsein gelangen, oder, wenn es ahnt, daß es damit eine bestimmte Gottesauffassung mitbringt, aus modernen konformistischen Gründen verdrängt werden mag.“ (SuB V, 263.) „Gott“ ist auch bei Liebrucks ein Abschlußgedanke. Aber er faßt diesen nicht als Prinzip oder Gegenstand, sondern als den Logos, in dem sich der menschliche Umgang mit der Welt vollzieht. Gott ist die Unendlichkeit des Seins im Werden des Endlichen, der Logos, in dem alle menschlichen Äußerungen geboren werden, zugrundegehen und aufbewahrt sind. Der göttliche Logos als Sprache ist Liebrucks das, was Hegel die affirmative Unendlichkeit nennt. „Die affirmative Unendlichkeit hat Gott noch als Lückenbüßer. Wir müssen heute Gott aus den Maschinen gewinnen als einen deus ex machina, der kein Betrug mehr sein wird. Diesen Umweg müssen wir seit den industriellen Revolutionen einschlagen, weil wir nicht das W i s s e n von der Güte Gottes haben, die die Lücken meiner falschen Erfahrung so ausfüllt, daß ich nicht zugrundegehe.“ (SuB VII, 29.)¹⁹⁹ In diesen „Lücken“ erscheint die logische Bewegung des sich über seine Selbstwidersprüche zu sich forttreibenden Begriffs als absolute Identität. Wiederum sei auf Hegel verwiesen, der die Auffassung vertritt, der Begriff einer Sache sei nicht von außen an sie anzulegen, sondern aus ihr selbst heraus zu entwickeln. Der Begriff gebiert sich selbst. Daß so verstanden die Genese der Wahrheit eines ihrer Momente ist, zeigt bereits die Verwendung des Wortes „Erkenntnis“ an, zumal man damit zugleich einen Akt oder Prozeß und dessen Ergebnis bezeichnet. Gott als der Logos ist der Vollzug von Philosophie oder grundsätzlicher: der Vollzug von Sprache und Denken in all deren Entwicklungsstufen. Der Vollzugsgedanke hebelt die Auffassung Gottes als eines (höchsten) Gegenstandes aus und macht somit ernst mit der biblischen Verkündigung des lebendigen Gottes. „Die Erkenntnis dessen, was in Wahrheit ist, ist nicht die Erkenntnis eines Gegenstands, sondern die Erkenntnis Gottes.“ (SuB IV,
199 Die Güte Gottes ist definiert als die Aufhebung des Vergangenen, die Anamnese der verschollenen Momente des Bewußt-Seins in dessen Zu-sich-Kommen in der Sprache. „Jedes Ding, das Dasein ist, hat dieses Moment [d. i. das Verschwinden des Verschwindens, S. L.] an ihm aus der Güte Gottes, die vor unserem Denken war, das nur dann Denken ist, wenn es das Unmittelbare nicht als ein irrational Vorhandenes, zu Bearbeitendes vorstellt.“ (SuB VI/1, 310.) Als Sprechender steht der Mensch in der Gegenwart des Logos, die sich ihm als Dialog mit den sprechenden Mitmenschen vollzieht. So betrachtet erfährt er die Güte Gottes als Güte der Mitmenschen: „Jedes Ich lebt von der Güte des anderen Ich, das es als Ich ansieht.“ (SuB VI/3, 172.) Zu diesem Motiv der Anerkennung vgl. den entsprechenden Abschnitt innerhalb dieses Kapitels.
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620.) Liebrucks ist „der Ansicht, daß Leibniz im Phänomen der völligen Isoliertheit der Monaden voneinander das Phänomen des Bewußtseins getroffen hat. Das Band zwischen zwei vollständig isolierten Bewußtseinsexistenzen aber ist die Sprache. Jedenfalls unter uns Menschen. […] Die Distanz wird nicht aufgehoben. Menschen können miteinander nur diskret verkehren. […] Das alles sieht Kant nicht und meint, über den großen Leibniz einfach hinwegfahren zu dürfen, indem er die Vermittlung Gottes zwischen den Substanzen als deus ex machina ansieht. Es ist gerade kein deus ex machina, vielmehr der natürlich-übernatürliche Assistent der Sprache, der hier hilft. Gott hilft hier als Wort.Wenn die Wissenschaft der Logik bei Hegel zu dem Resultat kommt, daß die gesamte Logik mit allen ihren Kategorien das Wort sei, so ist das bei ihm ihr Gottesbeweis. Es ist ein Gott, der nicht aus der Theatermaschinerie hervorgeht, sondern ein Gott, der Bewußtsein mit Bewußtsein verbindet. Dieser Gott ist der logische Ort alles Denkens, weil er der logische Ort aller Sprache ist.“ (A. a.O., 645.)²⁰⁰ Der Mensch hat ebensowenig wie Gott oder sich selbst die Welt jemals als Gegenstand im positiven Sinne. Sie wird in jedem Moment von ihm ersprochen im Weltumgang, den Liebrucks als den Logos bestimmt. Die Welt gibt es nicht ohne den göttlichen Logos, sofern der Logos die Einheit des Bewußtseins als BewußtSein ist, anders gesagt die „letzte Stufe“ des Bewußtseins, die in allen Bewußtseinsstufen gegenwärtig ist und ohne die „der Mensch so wenig einer Bewußtseinsregung fähig [wäre] wie ohne die Gegenwart Gottes eines Atemzuges.“ (SuB V, 9.) In dieser Ermöglichung des In-der-Welt-Seins des Menschen ist der Logos Diener des Menschen, „Assistent“, im Wortsinn als der, der sich hinzustellt, ohne ein Hinzugefügtes zu sein.²⁰¹ Er ist die Beziehung zwischen Subjekt, Subjekt und Objekt, in welcher sich diese erst konstituieren und erkennen. „Der Geist als christlicher Logos ist zugleich Diener und Herr. Er ist der einzige, innerhalb dessen
200 „Hier ist die Sprache der Philosophie das göttliche Tun, die Unmittelbarkeit sofort in ihr Gegenteil zu verkehren. Das kann nur eine Sprache, die zugleich die Erkenntnis der Bewußtseinsstufe ist. Es kann sich nur um eine Intention handeln, deren Richtung auf die Sache immer zugleich die Richtung auf das Bewußtsein eingeschlagen hat, innerhalb von Bewußt-Sein sich auf dem Strich bewegt, der die Bewußtheit von Sein sowohl auseinanderhält wie zugleich in diskreter Kontinuität verbunden hält. Dieses Tun des Bewußtseins ist seine Sprachlichkeit, die bei H e g e l das absolute Wissen heißt.“ (SuB V, 320.) Diese diskrete Kontinuität sieht Liebrucks bereits in den von Vico beschriebenen fantastischen Allgemeinbegriffen des Mythos erreicht, das u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o gilt ihm somit als Sprachkategorie. (Vgl. SuB VI/3, 93.) 201 „Die Sprache, der Logos ist ein solcher dienender Gott, den es natürlich – allen Eseln sei es gesagt – nicht gibt, der aber als Möglichkeit immer so unsere geistige Sphäre bildet, wie die Luft um die Erde schwebt und die die Erde selbst mit ihren Auffassungsorganen – wenn sie welche hätte – nicht wahrnehmen könnte. Gerade dieses Nichtseiende, die Sprache, die aus lauter Verhältnissen besteht, ist schwächer – und stärker als alles Seiende.“ (Reflexionen, 167.)
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der Mensch frei ist.“ (SuB VI/3, 94.)²⁰² Natürlich-übernatürlich ist er, präsent und wirkend in der Welt der Erscheinungen, ohne zu ihr zu gehören oder in ihr aufzugehen. „Als solcher ist er der eine Gott. Aber dieser Eine hat nichts mehr mit der 1 zu tun. Man kann, so wunderlich das den Anhängern der Welt der Positivität auch erscheinen mag, mit ihm nicht rechnen.“ (SuB IV, 669.) Der Eine ist in allem, weil er keine Identität im Sinne eines positivistischen „A = A“ innehat. Er ist das All-Eine nur als Identität aller Identität und Nicht-Identität. Darum kann er auch als dialektischer Begriff bezeichnet werden, der immer schon seine eigene Negation inkorporiert und als diese Reziprozität von Affirmation und Negation er selbst ist. Er ist keine durchgängig bestimmte Identität. Er ist, was er ist, in seinem Vollzug. Jedes Positivum, jede Negation ist eines seiner Momente. Er ist „dauernde Natalität“. (SuB VI/2, 406.) Die vorkantische Metaphysik proklamierte mit ihrer Gottesdefinition der p r i m a c a u s a eine formallogische Anfangsvorstellung. Dieser Auffassung inhäriert das Verständnis von Welt als s u m m a aller Gegenstände der Erscheinung: Sie beginnt mit der ersten Wirkung der p r i m a c a u s a als Schöpfung und faßt in sich alle folgenden Wirkungen. Kants Transzendentalphilosophie reduziert die Welt auf eine Welt der Erscheinungsgegenstände, über einen Anfang der Welt an sich spekuliert sie nicht. Kant umgeht damit die Methexisfrage, die Hegel in seiner Dialektik einholt, die das Werden des Begriffs als einen sich stets vollziehenden Anfang beschreibt. (Vgl. SuB VI/1, 266.) So ist das Ganze immer in seinen Teilen verwirklicht, die Verwirklichung des Absoluten vollzieht sich i n c o n c r e t o im dialektischen Ineinander-Übergehen des Allgemeinen und Besonderen, die jeder Anfang ist. Der Anfang ist das Logische als logischer Weltumgang. Das Ganze ist nicht etwas in der Zukunft Vollendetes, sondern stets gegenwärtig. In dieser Logik des Absoluten ist immer schon mit der Kategorie Sein angefangen. „Zuerst mußte Gott die Dinge so sein lassen, wie sie an ihnen von da ab sind. Das ist die erste Vorbedingung dazu, daß wir sie eines Tages so sein lassen könnten, wie sie sind. […] Wenn irgendein logisch fester Begriff überhaupt etwas mit den Dingen zu tun haben soll, auf sie denn also in Gottes Namen zutreffen soll, so kann er nur unter der Bedingung auf die Dinge zutreffen, daß in ihnen die logische Voraussetzung von Dasein schon steckt.“ (A. a.O., 315.) Dieses (Da‐)Sein ist aber immer schon das konkrete, keine vorsprachliche oder unabhängige Größe. „Der Anfang mit Sein ist die immer seiende Natalität als das Natale.“ (A. a.O.,
202 „Wenn im Christentum Gott Mensch wird, so wird er weder Herr noch Knecht, sondern die Einheit von Individuum und Kollektiv. Er ist der oberste Herr, weil er m i r dient. Das wird in der Religion immer noch in einer, im vagen Verständnis von Gegenstand, gegenständlichen Weise mitgeteilt.“ (SuB VII, 229.)
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266.)²⁰³ Das Sein ist als die Seienden, die Sprache ist als die Sprechenden; das Absolute ist als die seienden und sprechenden Individuen. „Aber die Einheit von Einheit und Vielheit ist nicht eine Ordnung, die wir setzen, sondern das Gesetztsein der Gesetztheit dieser Ordnung selbst, das logische Individuum. Dieses logische Individuum ist nicht der unbewegte Beweger. Es ist auch nicht der Spiegel ²⁰⁴ oder das Sein-Denken. Es ist noch die letzterreichbare Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit davon, daß wir die Welt wie in einem Spiegel sehen. Es ist der Hegelsche Begriff, dessen logische Augen vom Mythos bis zu allen möglichen Techniken einer formalen Logik blicken. Dieses logische Individuum ist der Logos selbst, das, was Humboldt Denken genannt hat, das der Unterschied von diesem Denkenden da als einem Denkenden und der unterschiedenen Gedachten ist.“ (SuB VI/3, 59.) Der Begriff als absolute Identität hat seine Unterschiede oder Möglichkeiten an sich. Die Realisierung seiner Möglichkeiten ist die Negation seiner als wirkliches Ganzes, das aber in dieser Negation angezeigt ist als das, was verneint wird. Die Verneinung der Verneinung ist die Rückkehr des Begriffs zu sich selbst. „Als Begriff schwebt Gott nicht über der Wirklichkeit. Er hat sie als Begriff in sich. Die Wirklichkeit hat ihn in sich.“ (SuB VI/2, 254.) Sofern alle seine Möglichkeiten in der Wirklichkeit des Begriffs aufgehoben sind, ist er das Universum, dasjenige, in welches alle Möglichkeiten „in eins gekehrt“ sind. „Das Universum wohnt innerhalb des Begriffs, der es selbst als ein passives setzt.“ (A. a.O., 439.) Insofern übersetzt sich das Absolute in die Individuen in einer „immerwährende[n] Natalität“. Diese „ist die Geburt des Kindes, das in der Krippe liegt.“ (SuB VI/3, 473.)²⁰⁵ Als sprachliche sind die Dinge im Moment, da sie ins Sein
203 Vgl. SuB VI/3, 477. Der Ausdruck „Natalität“ legt eine Assoziierung Hannah Arendts nahe. (Vgl. Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 20053.) Laut Arendt ist der Mensch Anfang (I n i t i u m ), d. h. sein Menschsein konstituiert sich dadurch, daß der Mensch selbst Anfang ist und Anfänge initiieren kann. Arendt entwickelt ihren Begriff von Natalität dabei in Orientierung an dem antiken Dualismus zwischen ζωη und βιος. Die körperliche Geburt erhält ihren sie über bloße Reproduktion hinaushebenden Sinn erst vermittels der politischen Geburt des Individuums in der Gesellschaft. Die biologische Menschwerdung bedarf der gesellschaftlichen Menschlichwerdung – damit ergeben sich Parallelen zur Absage Liebrucks‘ an eine logische Selbstfindung des Menschen über reine Innerlichkeit: Die Geburt des Individuums ereignet sich in der sprachlichen Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, die sein Weltumgang ist. Die Analogisierung soll nicht überstrapaziert werden, daher genüge dieser kurze Hinweis. 204 Vgl. zum Begriff des Spiegels das entsprechende Unterkapitel Mensch und Welt im Spiegel des Logos. 205 „Das ist die wirkliche Erscheinung des höchsten logischen Status, den die Könige aus dem Morgenland anbeten. Diese Erscheinung des Friedens auf der Welt wird von dem Reich der Objektivität in der Gestalt der Politik immer mit der Gegenmaßnahme beantwortet, die der Natalität ihr Gegenteil, den von Herodes befohlenen Kindermord, entgegensetzt. Die Erscheinung des wirklichen Friedens auf dieser Erde hat nicht die Sentimentalität auf den Plan gerufen.
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treten, ihrer Vergänglichkeit enthoben. Denn in der Sprache ist die Geburt schon das Sterben. Im Sterben der Worte konstituiert sich aber ihre Kohärenz, z. B. zu Sätzen. Das Vergehen der Worte begründet ihr Bestehen. „In der Sprache ist das Verschwinden […] die Konstitution des Sinnes.“ (SuB VI/1, 362.) Geburt ist also nicht der Eintritt ins endliche Leben, sondern ins unendliche. Diesen Moment der Aufhebung von Endlichkeit und Vergänglichkeit nennt Liebrucks auch den „Augenblick der Natalität.“ (Ebd.) Er ist der Anfang, der immer mitgeht und daher kein gesetzter oder angenommener, sondern Anfang als das, wohinter nicht zurückgegangen werden kann. Der Mensch ist das Lebewesen, das Sprache hat, ohne die Sprache selbst aussprechen zu können. Aussprechen könnten wir Sprache nur, wenn wir außerhalb ihrer stünden. Sprache wird daher von Liebrucks als „Urfactum“, Urgemachtes vorgestellt, d. h. als etwas, das wir nicht aussprechen können, weil es immer schon die Einheit von Mensch, Gott und Natur ist. (SuB I, 306.)²⁰⁶ Sprache ist immer schon (diese Einheit). Darin ist sie Urfactum, dessen Gemacht-Werden, dessen Anfang uns entzogen ist und gleichzeitig immer mitgeht und wieder neu, kontinuierlich geschaffen wird, wo gesprochen wird. „Omnis determinatio est negatio christiana cogitationis formalis. Der Begriff ist dadurch alle Macht, daß er so existiert, ‚ita existit‘, daß er zu seiner Existenz keiner anderen Sache bedarf. Er existiert als dauernd gegenwärtiger Anfang, den es in der Welt der Positivität nicht gibt.“ (SuB V, 20.) Sprache ist nicht nur Gemachtes, sondern auch kreativ. Sie ist „der Schöpfer Himmels und der Erde“, wie sie von sprachlichen und darin geschichtlichen Menschen wahrgenommen werden. (SuB I, 306.) Sprache ist Schöpferin des Himmels und der Erde, d. h. der übersinnlichen und der sinnlichen Welt²⁰⁷, sofern uns deren Wahrnehmung immer durch Sprache vermittelt ist. Sprache ist Schöpferin der Dinge, wie sie für uns als sprachliche Wesen erfahrbar
Die Sprachlichkeit der Wahrheit ist sofort auf der Flucht, nachdem sie das Zeichen des Wortes empfangen hat.“ (Ebd.) Das Reich der Positivität ist ein Be-Reich, ein Herrschaftsbereich, dessen Aufrechterhaltung auf seiner beschränkten Reichweite beruht. Daher ist es innerhalb dieses Reiches „nicht zu sehen, warum es, wenn doch von Zeit zu Zeit der Kindermord befohlen wird, dann gut sein soll, daß Könige aus dem Morgenland nicht von einem Irrtum sondern von einem Stern geführt das Kind anbeten […].“ (A. a.O., 474.) 206 Ist der Terminus „Urfactum“ in Abgrenzung zu Wittgensteins Rede von der Sprache als „Urphänomen“ gebraucht? (Vgl. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe in acht Bänden, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914– 1916. Philosophische Untersuchungen, neu durchges. v. Schulte, Joachim, Frankfurt a. M. 1984, § 654.) Dann steht das Urfactum für die Einheit von Aktivität und Passivität des menschlichen Geistes im Erzeugen des Logos, während Wittgenstein es hinnimmt, daß das Sprachspiel immer schon gespielt werde und eben deswegen keine Erklärung des Urphänomens Sprache zu erwarten sei. 207 Liebrucks spricht an anderer Stelle davon, daß „die Welten des Sinnlichen und des Übersinnlichen[] in der Genesis Erde und Himmel genannt“ werden. (SuB VI/2, 341.)
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sind. Sprache ist sich stets vollziehende Bewegung, c r e a t i o c o n t i n u a , nicht p r i m a c a u s a , die am Anfang eines Prozesses steht. Sprache ist mäeutisch. „In jedem Gespräch vollzieht sich eine Geburt.“ (SuB I, 319.) Mit diesem sokratischen Motiv ist eine platonismuskritische Einsicht umschrieben: Es gibt keine überhistorische Sphäre feststehender Bedeutungen. Auch geprägte Verständnisse mit allgemeingültigem oder gesetzgebendem Anspruch unterliegen sowohl geschichtlichem Wandel als auch der Mannigfaltigkeit der sich entsprechenden, aber niemals identischen Aneignungen durch die sie gebrauchenden Subjekte. Kein Verständnis gibt es zweimal. Begriffe schaffen Identitäten, die sich als solche durchhalten, weil sie steter Veränderung unterworfen sind. Es besteht eine gewisse Notwendigkeit der Unbeständigkeit, die sich in der dialektischen Bewegung der Negation ergibt: Eindeutigkeiten versagen an der sich stetig verändernden Welt. „Darum ist der Bestand der Reflexion schon ihre Selbstzerstörung.“ (SuB III, 427.) Dies betrifft ebenfalls den Gottesbegriff. „In der Unmittelbarkeit des Wesens geht es um Gottes Sein, aber nicht um ihn unter der Vokabel des Seins als Sein, sondern um das Sein als das Gespiegelte. Erst im Begriff haben wir das Ersprochene.“ (Rede, 341.) Gott als Logos ist Α und Ω: Als Anfang ist Gott nicht Prinzip, sondern zugleich Endpunkt, Resultat eines Prozesses. Sein Gewordensein drückt sich im Begriff aus, ist in ihm aufgehoben. „Die schöpferische Macht des Begriffs bleibt in sich, indem sie sich in die Welt der Äußerlichkeit begibt. Im christlichen Geschehen, in dem Gott sich verdinglicht, ist das erste Bild für Dasein, Wesen und Begriff, als Mensch ausgesprochen. Es ist ein Bild, das nicht mehr nur logisches Bild im Sinn der formalen Logik ist. Indem die schöpferische Macht aus sich herausgeht (Sein), bezieht sie sich auf sich selbst (Wesen) und reflektiert sich dann noch einmal zum Begriff.“ (SuB VI/3, 214.) Das Gewordensein des Begriffs ist aber zugleich der Hinweis auf den logischen Anfang, der in diesem Begriff aufgehoben und präsent ist. „Der Anfang wird in seinem logischen Status erst am Schluß der Logik erkannt. Das Fortschreiten der Logik wird ein solches sein, in dem der Anfang mitgeht. Deshalb ist der Anfang nicht ein hypothetisch angenommener […].“ (SuB VI/1, 242.) Die Frage nach dem Anfang ist laut Hegel die zentrale Frage der Philosophie. In ihrem Anfang gibt Logik sich bereits in all ihren konstitutiven Momenten preis. „Alle logischen Stufen sind Sprachstufen im sympathetischen Weltbild.“ (SuB VI/2, 73.) In der Sympathie mit dem Absoluten, dem Mitleiden als Nachahmung spricht sich der Mensch in derselben Sprache aus, die auch die Sprache des Absoluten ist. Insofern zeigt alles menschliche Sprechen auf das Absolute, aus dessen Logik als Sprache es sich empfängt. „Das Hinhören auf den Begriff ist seine beginnliche annuntiatio.“ (A. a.O., 257.) Die unterschiedlichen logischen resp. sprachlichen Stufen des menschlichen Weltumgangs ergeben sich daraus, daß menschliches Sprechen in variabler Deutlichkeit die Gegenwart des Absoluten in den eigenen Äußerungen zur Geltung bringen kann. Alle Sprach-
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bilder zeigen auf das Absolute, „[n]ur der Logos selbst ist nicht bildhaft, weil er der Anfang ist. Dieser zeigt als Augenblick auf die Dimension hin, in der er selbst sein Leben hat. Er zeigt auf das ‚im Anfang‘, in dem nach einer alten Urkunde Gott Himmel und Erde erschuf, in dem Gott nach einer neueren Urkunde als Logos war. Die Hegelsche Logik ist der philosophische Finger, der auf ihn als den menschgewordenen hinweist. In diesem Hinweisen besteht ihr im zweiten Teil hervortretender ontologischer Charakter. Er weist nicht auf den Gott der Philosophen, sondern auf den wirklichen.“ (A. a.O., 73.) Der Anfang ist das in aller Begriffsbildung vollzogene Absolute. In all unserem Denken sind wir demnach immer in diesem Anfang. „Auch der Künstler und der homo religiosus stehen in diesem Anfang, in dem auch noch im Menschen der Himmel und die Erde geschaffen werden. Die Fortsetzung der Schöpfung Gottes haben wir uns nicht so vorzustellen, als verfertige er als Demiurg aus interstellarer Materie immer neue Sterne und Sternensysteme, die doch nur die Erscheinungen innerhalb der Welt der Positivität sind. Die Fortsetzung der Schöpfung geschieht in der menschlichen Erkenntnis.“ (SuB VI/3, 191.) Der Hergang der Argumentation zeigt: Der Gottesbegriff ist stets nur im Zusammenhang mit dem Subjektbegriff zu entwickeln. Der Aufbau des vorliegenden Kapitels trägt dem Rechnung, ebenso der Titel dieser Untersuchung: Die Formulierung des Gottesbegriffs bei Liebrucks wird anhand der Begründung der Freiheit des Menschen als Marionette Gottes zu erläutern versucht. Die materiale Notwendigkeit dieses Vorgehens erhellt sich geradezu von selbst, je näher man zum Gottesbegriff bzw. zu Liebrucks’ Auffassung von Gott als Begriff vordringt. Ist unser Weltumgang das Äußerste, Unhintergehbare, das wir von uns und der Welt wissen, hat die Frage nach Gott als der Wahrheit der Welt auch hier ihren Ort: in der Frage nach der erkenntnistheoretischen Beschaffenheit des menschlichen Weltumgangs. Ist die Welt, die wir gestalten und die uns widerfährt, Trug oder Wahrheit? Der technisch-praktische Umgang mit der Welt muß eine Affinität der Dinge zu den ihnen als Erscheinungsgegenständen auferlegten Bestimmungen annehmen. „Die Dinge an sich müssen an ihnen wohl die Möglichkeit der Behandelbarkeit haben, wenn so etwas wie Zubereitung der Welt zu einer Welt der Positivität möglich und wirklich sein können soll. Das ist immer schon vorausgesetzt. So ist auch in den Naturwissenschaften die Idee des Wahren immer schon vorausgesetzt, wie sie in jedem Gespräch vorausgesetzt ist. Die Natur antwortet immer mit Ja oder Nein, wenn ich unter dem Erwartungsvorgriff bestimmter Hypothesen ein Experiment anstelle.“ (A. a.O., 510.)²⁰⁸ Damit ist die Methexis angesprochen, die Liebrucks von einer Randbemerkung zur zentralen Aussage
208 „Nur eine an-sich vernünftige Wirklichkeit ist behandelbar.“ (A. a.O., 579.)
E. Gottes Sein ist im sprachlichen Werden
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macht, die in bezug auf den Konnex von Realität und Wirklichkeit getroffen werden kann. „Die Wirklichkeit als begreifbare ist nur in einer Logik auffindbar, die das Logische in der Methexis des menschlichen Denkens mit der Wirklichkeit sieht.“ (Denken, 216.) Die Methexis wird von Liebrucks als Korrespondenz gedacht, wodurch er dem transzendentallogischen Postulat einer o m n i t u d o r e a l i t a t i s auf zweierlei Weise einen spekulativen Einheitsbegriff entgegensetzt. Zum einen bezeichnet er mit „Korrespondenz“ das Gegenteil einer postulierten Einheit (wie der transzendentallogischen Apperzeption).²⁰⁹ Zum anderen bricht er die Trennung zwischen Erscheinungswelt und An-sich auf. „Die Bestimmung Gottes als Inbegriff aller Realitäten ist ein logisch bedeutungsloser Begriff.“ (SuB VI/1, 327.) Die Einheit von gestalteter und von sich aus begegnender Welt muß eine Einheit sein, die den Widerspruch zulassen kann. Allein auf diese Art und Weise ist das Bestehen einer behandelbaren Realität möglich. Demnach muß diese Einheit absolut sein. „Diese absolute Einheit könnte als absolute die Einheit der vollständigen Realität und Idealität sein, wie der Hegelsche Begriff und die menschliche Sprache. Wenn dem so ist, dann ist in Wahrheit noch kein Mensch, der der Sprache mächtig gewesen ist, Atheist gewesen […]. Atheistisch kann der Mensch nur in dem Fall werden, in dem er sich ‚entschließen‘ sollte, Sprache und Bewußtsein aufzugeben.“ (SuB IV, 187 f.)²¹⁰ Das Absolute kann als solches nicht jenseits unseres Weltumgangs sein, sondern ist immer schon in ihm präsent. In der Beantwortung der Frage nach dem Absoluten, nach Gott, darf somit nicht „vom Menschen gefordert werden, er solle sich auf ein ungeschichtliches Bewußtsein herunterbornieren, das so tut, als hörten wir das Wort Gottes in einer Klarheit, die ohne Geheimnis ist.“ (SuB I, 306.) Die Methexis der vom Menschen gestalteten Dinge an der Wirklichkeit der Dinge ist der Weltumgang des Menschen. Darum ist die Erkenntnis dieser Einheit geschichtlich und vermittelt. So wenig der Mensch sich von seinem Weltumgang distanzieren kann, so wenig vermag er sich in der Erkenntnis des Absoluten außerhalb dessen aufzuhalten. Weil er sich dem Absoluten nie entziehen kann, bleibt ihm dieses letztlich entzogen. Das macht das Absolute zu einem Geheimnis. Im Sprechen von ihm sind Anthropozentrismus
209 „Diese Entsprechung wird nicht einfach behauptet. Sie ist die Voraussetzung, unter der wir immer gelebt und erkannt haben.“ (SuB VI/3, 581.) – „Innerhalb der Entsprechung geht die Logik in ihren Anfang zurück.“ (SuB VI/3, 629.) 210 „Die sich Skeptiker und Atheisten nennen, widerlegen sich schon dadurch, daß sie sich sprechend so nennen.“ (SuB VI/3, 497.) Atheismus kann bei Liebrucks auch als Annahme des Fehlens eines ordnenden Prinzips im Weltgeschehen verstanden werden und damit eigentlicher Ausdruck der Furcht des Nihilisten vor der Macht des Chaos sein. Diese Furcht demaskiert Liebrucks als verkappte Gottesfurcht: „Gott wird als absolute Macht gerade von denen verehrt, die sich als Atheisten fühlen.“ (SuB VI/1, 182.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
und Theozentrismus nicht voneinander zu trennen. Zu jeder Zeit bildete der Mensch „Gott nach seinem Bilde, wie Gott ihn nach seinem Bilde erschuf. Über diese Dialektik ist noch keine Philosophie hinausgekommen.“ (SuB V, 301.)²¹¹ Die Sätze, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei (Protagoras), und daß Gott das Maß aller Dinge sei (Platon), sind nie getrennt voneinander auszusagen. (Vgl. SuB I, 290.) Verwirklicht sich der Logos im logischen Weltumgang des Menschen, können wir die Nichtexistenz Gottes nicht denken, ohne zugleich Sprache und Bewußtsein hinter uns zu lassen. „Sobald wir [..] einen Gott angemessenen Existenzbegriff auszubilden beginnen, bemerken wir, daß wir Gott auch nicht für einen Augenblick am Schreibtisch als nichtexistent annehmen können.“ (SuB V, 296.) Unter der Prämisse, daß Gott mit dem Absoluten gleichgesetzt wird, ist bereits ausgesprochen, daß es keinen Moment menschlichen Seins gibt, in dem dieses nicht in der Wirklichkeit Gottes steht. Dieser Gedanke Liebrucks’ ist nicht neu. Neu ist, wo er diese Einheit zu finden meint: im Vollzug der Sprache. „Göttliches kann überhaupt nur in dem von uns erörterten sprachlichen Sinne aufgenommen werden, daß der Mensch dabei nicht passiv bleiben kann, sondern es in sich neu erzeugen muß.“ (SuB III, 127.) Von einer objektiven Wahrheit könnten wir nichts wissen. Erkenntnis ist folglich als Aneignung charakterisiert. Es liegt in der Wahrheit als Wahrheit des Logos selbst begründet, daß sie die Möglichkeit zu ihrer Aneignung in sich trägt. Diese Aneignung ist „dadurch möglich, daß wir eine zweite sinnliche Welt, nämlich die von Tönen hervorbringen, mit denen zugleich ihre Bedeutung entspringt.“ (SuB IV, 547.) Erkenntnis „ist nur dann das Tun Gottes an uns,wenn dieses Tun zugleich unser Tun ist.“ (SuB V, 261.) Als der uneinholbare und kontinuierliche Anfang hat Gott immer schon an und durch uns gehandelt. Zu unserem Tun wird das göttliche Tun, wenn wir uns darin als selbständiges Subjekt begreifen, und uns die göttliche Wahrheit in diesem Sinne zu eigen machen. Damit ist ausgesagt, wofür die diesem Buch den Titel gebende Metapher steht: Der Mensch entfaltet sein Menschsein, indem er sich bewußt wird, nur als Marionette Gottes frei zu sein. „Nur unter der Voraussetzung, daß der Gang des Menschen zu Gott zugleich der Gang Gottes zum Menschen ist, ist Erkenntnis möglich.“ (SuB III, 126.) Das bedeutet: Nur unter der Voraussetzung der Teilhabe am Absoluten ist es dem Menschen möglich, sich Begriffe von der Welt und sich damit überhaupt eine
211 „Immer formt er [der Mensch, S. L.] Gott nach seinem Bilde, wie Gott ihn nach seinem Bilde geschaffen hat. Nur in diesem Widerspruch bleibt der Mensch Mensch. Nur in diesem Widerspruch lebt die Logik als Logos des menschlich-sprachlichen Weltumganges.“ (SuB VI/2, 282.) – „Die Absolutheit des Geistes besteht darin, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf und daß der Mensch Gott immer nach seinem Bilde schafft. Das ist die Preisgabe Gottes an den Menschen, daß er ohne diesen Menschen kein Sein hat, daß er ihn nicht nicht lieben kann, weil sein Sein nicht den Charakter der absoluten Position hat.“ (SuB V, 184.)
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Welt zu schaffen. In der Aneignung wird die Wahrheit des Absoluten subjektiv und bleibt doch das Allgemeine, denn sie ist die Aneignung selbst. Darin liegt begründet, daß sie jedem Subjekt offensteht und auch in dieser Hinsicht allgemein ist. „Gott ist der logische Ort aller Örter, er ist der logische Ort der Logik selbst, aber der Logik, mit der der Mensch das Denken denkt, der logische Ort der Dialektik. Dieser logische Ort ist das Wort. Hamann sagte: ,Vernunft ist Sprache‘. Gott ist das Wort, was am Schluß der Logik Hegels erscheinen wird.“ (SuB IV, 303.)²¹²
III. Gottes Dasein unter den Menschen: Versöhnung Sprache ist die Verwirklichung des Absoluten in der Konstituierung des individuellen Subjekts. Sie ist der Ort, an dem die Gottes- und die Selbsterkenntnis des Menschen zusammenfallen. Dies läßt sich ebenso anhand des Begriffs der Versöhnung durchspielen. Hier bildet die johanneische Rede von Jesus Christus als dem Wort Gottes den Ausgangspunkt für die sprachphilosophische Reflexion auf das Absolute. „Die Welt des Vaters, die Welt der Götter, ist in die Welt des Sohnes eingekehrt. Die Versöhnung ist die Heraufkunft des Sohnes als das Wort Gottes.“ (A. a.O., 261.)²¹³ Das Absolute ist die unhintergehbare Einheit aller Widersprüche, die der Mensch in Denken und Erfahrung in der Sprache vorfindet und erfindet. Sie ist der immer mitgehende Anfang (der „Vater“ als Schöpfer), aufgrund dessen alle Herstellungen des Menschen (die als „Götter“ oder Götzen bezeichneten Postulate des technisch-praktisch agierenden Verstandes)²¹⁴ bewerkstelligt werden können. Versöhnung steht somit für die Logik des menschlichen Weltumgangs, die Verwirklichung des Absoluten ist. Alles Sprechen ist eine fortlaufende Verhältnisbestimmung von Allgemeinem und Besonderem. Jeder Begriff ist Vollzug dieser Verhältnisbestimmung, auch der Mensch als existierender Begriff. Die im Begriff bezeichnete Identität ist solche nur in Entfremdung von und zu
212 „Wie der Leser bemerkt, spricht Hegel in einem Atemzug sowohl von der menschlichen Erkenntnis wie von Gott. Kant wußte, daß die Frage nach der menschlichen Erkenntnis von der Stellung abhängig ist, die ein Philosoph zur Frage der Gotteserkenntnis einnimmt. Diesen Zusammenhang erkannte schon Descartes. Hegel dagegen unterscheidet nun die antike Gottesauffassung als die noch substantielle von der christlichen als der subjektiven.“ (SuB V, 365.) 213 Vgl. a. a.O., 104. Liebrucks‘ Verständnis der Versöhnung erschließt sich meines Erachtens vor dem Hintergrund der Bestimmung dieses Begriffs bei Hegel. Eine ausführliche Behandlung des Versöhnungsverständnisses bei Hegel findet sich bei Ringleben, Joachim, Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitätslogische Konstruktion eines theologischen Begriffs, Berlin/New York 1976, insbes. 192 ff. 214 Dies ist schon ein alttestamentliches Motiv: JHWH ist Herr auch über die Götter; vgl. Dtn 10,17.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Anderem. Der Geist stößt sich von sich ab zu einem Sein-bei-Anderem, aus dem heraus er wieder auf sich selbst Bezug nimmt. Entfremdung ist somit dialektisch: von sich zum Anderen seiner selbst, von diesem Anderen zu sich selbst. Damit ist ein unverbrüchliches Beziehungsganzes vorausgesetzt, das sich im Ausdruck „entfremden“ selbst abzeichnet: Entfremdet ist etwas stets von etwas, es ist bestimmt über seine Relation zu dem, wovon es sich abgrenzt. Gibt es diese Beziehung nicht, so gibt es auch keine Entfremdung, ohne Entfremdung aber auch keine Identität. Der Begriff der „Versöhnung“ zeigt an, daß es zur Einheit der Entfremdung bedarf. In ihm formuliert sich das Bewußtsein davon, daß in aller Entfremdung Gott als absoluter Geist einer bleibt, denn nur aufgrund der Einheit des Absoluten kann es eine Entfremdung von dieser geben. Wie sich nun der absolute Geist über seinen Gang in den subjektiven Geist auf sich selbst zu bewegt, so konstituiert sich die identitätsstiftende Einheit des Subjekts in der Hingabe an ein anderes Subjekt. Die logische Beziehung zwischen beiden wurde als die logische Bewegung des absoluten Geistes benannt; daher läßt sich ebenso sagen, das Subjekt empfange sich aus der Hingabe an das Absolute. Bis hierher mit Hegel gedacht, eröffnet Liebrucks eine sprachphilosophische Dimension des Versöhnungsbegriffs, indem er darauf besteht, die Versöhnung müsse „ausgesprochen werden, damit der absolute Geist Gottes Dasein hat unter den Menschen.“ (SuB V, 261.) Versöhnung vollzieht sich als Subjekt-SubjektObjekt-Beziehung im Logos. In ihm spricht der Mensch zugleich den absoluten Geist Gottes aus und sein menschliches Ich. „In der Versöhnung ist der absolute Egoismus zugleich die absolute Entsagung.“ (A. a.O., 262.) Alles, was der Mensch von Gott sagen kann, ist in bezug auf die menschliche Existenz auszusagen. Ebenso ist jeder sprachliche Ausdruck auf irgendeine Weise eine Verhältnisbestimmung von Allgemeinem und Besonderem, von Identität und Nicht-Identität, und sagt insofern immer den göttlichen Logos aus. Alles Sprechen verkündet den Logos, der Weltumgang des Menschen ist ein andauerndes „Neuschaffen seiner [d. i. Gottes, S. L.] Verkündigung in Natur, Geschichte und Wort“. (SuB I, 326.)²¹⁵ Die Existenz des Menschen legt in jedem ihrer Momente Zeugnis des Logos ab. Eben dies drückt sich im neutestamentlichen Reden vom in die Welt kommenden Logos aus: Alles ist durch ihn gemacht (Joh 1, 3). Diese Aussage über den göttlichen Anfang der Welt ist schon die Aussage ihrer Versöhnung mit Gott. Die formale Logik kennt den Anfang nur als Vorstellung eines „Übergangs nicht von Sein zu Nichts, nicht von Nichts zu Sein, sondern von Nichts zu Etwas. Damit wäre schon der entscheidende Positivierungsschritt getan, der alles Wirk-
215 „Natur und Geschichte wie der menschliche Leib sind verborgenes Gotteswort. Sprache und Schrift dagegen halb offenes Menschenwort.“ (SuB II, 388.)
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liche schon als bestimmtes Wirkliches angesehen hat und nach dieser Voraussetzung vorgibt, mit dem Anfang anzufangen. […] Der Anfang mit dem Anfang wäre als Übergang von Nichts zu Etwas der Anfang mit einem schon positivierten Anfang, also nicht der Anfang mit dem Anfang.Will man wirklich mit dem Anfang anfangen, so muß man mit Sein anfangen, da nur Sein zugleich als Inbegriff von Seiendem als omnitudo realitatis und als die abstrakteste Kategorie der Logik denkbar ist.“ (SuB VI/1, 243.) Das Axiom „e x n i h i l o n i h i l f i t “ ist eines der formalen Logik. Unsere Vorstellung braucht immer einen markierbaren Anfang. (Vgl. a. a.O., 169.) Aber: „Die Interpretation der Geschichten in der Genesis und der Worte am Anfang des Johannesevangeliums als ein positiver Anfang ist in einem Zeitalter obsolet geworden, das seit Kant die Uneinsehbarkeit eines ontisch vorgestellten Anfangs eingesehen hat.“ (Ebd.) Die formale Logik fragt nicht nach einem Anfang, sondern nach einer Ursache und geht somit immer schon von einem Sein aus, das sie in die „schlechte“ Unendlichkeit verlängern muß. (Vgl. a. a.O., 598.) Die hegelsche Redeweise von einer „schlechten“ oder „negativen“ Unendlichkeit bezeichnet ein Verständnis von Unendlichkeit, das eine sich in einen r e g r e s s u s a d i n f i n i t u m perpetuierende Negation des Endlichen vollzieht.²¹⁶ Durch eine bloße Negation des Endlichen wird lediglich ein weiteres Endliches erzeugt. Die „schlechte Unendlichkeit“ gibt allenfalls einem Sollen der Aufhebung von Endlichkeit Ausdruck, sie selbst bleibt beim Aussprechen des Widerspruchs von Endlichkeit und Unendlichkeit stehen, ein perennierendes Fortsetzen des Wechsels einander herbeiführender – wesentlicher – Bestimmungen. Das wahrhaft Unendliche erhält sich als Affirmatives, indem es das Endliche zu seinem Moment hat. Die Aufhebung des Endlichen ist dessen Idealität, welche der Gegenstand aller Philosophie ist. Diese ist für Hegel folglich immer Idealismus.
Die formale Logik kann ein ihren Kategorien entzogenes Werden e x n i h i l o nicht denken, daher keine echte Unendlichkeit und auch keinen echten Anfang. „Die Religion ist von solchen conditiones sine qua non ausgeschlossen. Denn es muß formallogisch unverständlich bleiben, wie im Anfang das Wort gewesen sein soll, Gott selbst das Wort war und das Wort zugleich ‚apud Deum‘, προς τον θɛον war.“ (SuB VI/1, 229.) Die Unendlichkeit des endlichen Menschen haben wir in dem Vertrauen darauf, daß „die Seele und das Leben in Gott“ sind. (SuB III, 113.) In diesem Vertrauen erkennen wir ausgerechnet in der Erfahrung des Widerspruchs zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit den „Zeigestab – in einer angemessenen Sprache kann das kein Mensch sagen – auf die göttliche Bitte an den Menschen, er möge es einmal so ansehen, als ob es so wäre.“ (A. a.O., 559.) Im Zulassen des Widerspruchs zeigt sich Versöhnung, keine reine Harmonie zu sein. Versöhnung
216 Hegel, Enzykl. §94 f.; vgl. ders., Logik I, 263 f.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
braucht diese innere Reflexivität, sonst zerbricht sie an inhaltlicher Leere.²¹⁷ Allein im dialektischen Einholen des eigenen Widerspruchs als der uns „im Neuen Testament zugerufenen Kraft der Verzeihung“ erkennt Liebrucks die „höchste[] Geistigkeit des Menschen“, woraus er die Aufgabe der Philosophie ableitet, „denken zu lernen, was Verzeihung ist.“ (A. a.O., 533.) Versöhnung muß den Widerspruch aushalten, anstatt ihn zu nivellieren, denn „einseitige Versöhnung bleibt Verzweiflung.“ (SuB VI/3, 442.) Es „ist die Verzweiflung der einseitigen Versöhnung, die sieht, daß die Welt so eingerichtet sein sollte, als hätte Gott sie eingerichtet, und die doch unter der Botmäßigkeit ihres Existenzbegriffs als absoluter Position darin den Skeptizismus sieht. Wie der Knecht vor dem Herrn, so zittert sie in der Sorge um die Sicherheit der Erkenntnis […].“ (A. a.O., 569.) Dieses Aushalten des Widerspruchs zwischen Endlichem und Unendlichem kann es nur in einer Reflexion geben, die den Widerspruch konstatiert und zugleich, sofern er als Widerspruch erkannt ist, nicht mehr in ihm verharrt. Versöhnung findet dort statt, wo sich der am Widerspruch Leidende logisch in diesen begibt, um sich, diesen denkend zu ihm in Widerspruch zu setzen. „Die Kraft der Liebe strahlt nicht von einem Objektiven auf mich herab, was im schlechten Sinne mythologisch bliebe, sondern ist die Verwandlung des ganzen Lebensvorganges, die Verwandlung der auf mich zurückgenommenen Trennung in der Versöhnung.“ (SuB III, 112.) Versöhnung ist solche von Subjektivität und Objektivität.²¹⁸
217 Ob dem unmittelbar von seinem Schicksal Getroffenen und an ihm Leidenden diese begriffslogische Deutung nahezubringen ist, und ob sie ihn tröstet, ist auch für Liebrucks mehr als fraglich: Hier sollte Liebrucks selbst weitestgehend unkommentiert zu Wort kommen – aus Respekt und weil er selbst wohl die treffendsten Worte für das fand, was er mitzuteilen hatte: „In einem Lazarett in London von meinen körperlich schwer leidenden Kameraden um Philosophie befragt, sagte ich u. a., daß die immanente Gerechtigkeit dieser Welt die Gerechtigkeit Gottes sein könnte. Einer von ihnen fragte inmitten seiner Schmerzensschreie nach einer Oberschenkelamputation, ob ich das, was er jetzt erlitte, auch für die Gerechtigkeit Gottes ansähe. Ich antwortete, daß es sich nicht um einen allgemeinen Satz handle, der über andere Menschen hinwegspräche. Diese Konzeption, die ich für die des Neuen Testaments hielte, sei vielmehr das liebende Herausrufen des Christus aus der Schriftgelehrsamkeit aller Reflexionsphilosophie. Es sei eine Frage an den einzelnen Menschen, die nur der einzelne Mensch für sich beantworten könnte. Ich habe darauf keine Antwort erhalten und habe auch nicht die Schamlosigkeit besessen, eine zu erwarten.“ (Ebd.) 218 „Die Optik betrachtet die Farbe als Spektrum ‚auf der Schwebe zwischen der Subjektivität und Objektivität‘. Das scheint schon jene alte Geschichte geahnt zu haben, als sie im Regenbogen das Zeichen für die Versöhnung Gottes mit dem Menschen sah, nachdem auf ihn nur die Unmittelbarkeit herabgeregnet war.“ (SuB VI/3, 545.)
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IV. Rehabilitation des ontologischen Gottesbeweises „Die jüdische Religion faßte das Logische als den Anfang, in dem Gott sprach. Das Johannesevangelium hat das Logische als das Wort ausgesprochen, das im Anfang war, und zugleich gesagt, daß Gott das Wort war.“ (SuB VI/1, 202.) Liebrucks deutet somit die alttestamentliche und die neutestamentliche Schöpfungserzählung sprachlogisch. Schöpfungsgeschichten thematisieren den Ursprung des Seins, sie versuchen sich in der Beantwortung der Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts. Sie reflektieren damit auf einen Anfang, in dem das Sein und das Nicht-Sein aufgehoben sein müssen, um in ihrem Unterschieden-Sein als Schöpfung zu erscheinen. „In der jüdisch-christlichen Religion ist vom Erschaffen der Welt durch Gott die Rede. Darin haben wir die mythologische Aussage über den Begriff. Denn der Begriff ist das Ins-Dasein-Treten des Allgemeinen.“ (SuB V, 283.) Dieses Ins-Dasein-Treten des Allgemeinen erscheint als Unterschiedensein von Sein und Begriff. Beider Generieren aus einem logischen Anfang ist die Voraussetzung, unter der Gottesbeweise geführt werden. Die einfache Untrennbarkeit von Sein und Begriff aber ist „erst die ‚abstrakte Definition Gottes‘. Gott wird in diesem Status als das Sein angesehen und ist in diesem Status zugleich das Sein, das als unbestimmte Macht so seiend wie tätig wie allwissend ist. […] Unser logischer Status aber besteht schon jetzt darin, daß wir wissen, daß der Satz ‚Gott ist das Sein‘ dasselbe sagt wie ‚Gott ist das Nichts‘. Der Grad, in dem wir von der Einheit der beiden Sätze nicht überrascht sind, ist der Grad unseres Verständnisses des ersten logischen Status, in dem Werden, Dasein, Etwas und ein Anderes gerade auftauchten. […] Die Weltgeschichte ist bisher am logischen Zügel von solchen gegangen, die die Sätze ‚Gott ist das Sein‘ und ‚Gott ist das Nichts‘ für eine vollständige Disjunktion hielten, wobei denn mit Notwendigkeit nur einer von ihnen wahr sein konnte. Ob sich die Lenker der Weltgeschichte […] dabei atheistisch oder theistisch verstanden […], ist logisch gleichgültig.“ (SuB VI/1, 281.)²¹⁹ Liebrucks lehnt den formalen Schluß von einem Gedachten auf dessen Existenz ab, weil in diesem Schlußverfahren Existenz nicht als wirkliches, sondern als positives Sein vorgestellt ist, der Beweis an sich somit aber hinfällig wird. Dennoch nähert sich Liebrucks der Formulierung seines Gottesbegriffs insofern über eine Rehabilitation des ontologischen Gottesbeweises, als er dessen Prämisse, den Zusammenhang einer Existenz im Denken und einer Existenz in Wirklichkeit, in das sprachphilosophische Denken einholt.
219 „Wenn schon am Anfang der Logik das Sein das Unbestimmte, das Unbestimmte logisch das Nichts, das Sein also das Nichts war, so war Werden der noch schlußlose Schluß Gottes als des Begriffs, der hier nicht mehr als Schluß ist.“ (SuB VI/3, 367.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Konsternierend ist Liebrucks’ vehementes Konterkarieren jeglicher Ontologie einerseits, sein Anschluß an die im folgenden angesprochene Rehabilitierung des ontologischen Gottesbeweises durch Hegel andererseits. Offensichtlich kommt es ihm einzig darauf an, wie mit dem Verständnis von „Ontologie“ und „Beweis“ umgegangen wird. Beide Termini sind hier nicht im formallogischen Sinne gebraucht, sondern als Lehnworte, die in den Dienst der Sprachphilosophie gestellt werden. Eine terminologische Neugeburt wäre wünschenswert gewesen – die Mehrfachbesetzung von Begriffen, die Liebrucks anderen anlastet, ist bei ihm selbst unangenehm oft zu finden.
Bei Anselm begegnet die Möglichkeit einer erweiterten Bewußtheit als id, q u o m a i u s c o g i t a r i n o n p o t e s t . Für ihn ist dieser Gedanke kein Objekt, das unter den apriorischen Bedingungen unseres Denkens steht und daher Deduktionsprodukt ist. Er stellt es vor wie etwas, das mit Hegel und Liebrucks als „sprachlich Gedachtes“ bezeichnet werden kann, zumal sich für Anselm in diesem Gottesbeweis menschliche Denkmöglichkeiten und Wirklichkeit verbinden. Die Prämisse Anselms lautet: Alles, was ist, kann gedacht werden, es gibt kein „Mehr“ über das Denkbare hinaus (das „n i h i l “ ist auch nichts). Gott ist für Anselm inhaltlich so zu begreifen, wie sich dieser selbst nach Ex 3, 14 bestimmt: Als (einzige) Einheit von Unbedingtem und Bedingtem, p r i n c i p i u m e t p r i n c i p i a t u m . Der ontologische Gottesbeweis beruht demnach auf denselben logischen Voraussetzungen wie Hegels Theorie der notwendigen gegenseitigen Voraussetzung von Idee und Wirklichkeit. Die Vorbedingung bei Anselm wie bei Hegel ist, daß Existenz eine Eigenschaft des Begriffs ist – darum kann von der Eigenschaft Existenz auf ihren Träger geschlossen werden. Es ist ebenfalls vorausgesetzt, daß der Begriff sich in der Realisation seiner Eigenschaften konstituiert. Worauf es demnach in dieser Argumentation ankommt, ist der gelingende Übersprung vom Begriff zur Realität, den Kant als „Erschleichung“ kennzeichnet. Diese Subreption ereignet sich aber in jedem Moment der Sprache. (Vgl. SuB I, 15.) Die „Sprachlichkeit des Denkens“ besteht nämlich darin, „daß man mit dem Erschleichungscharakter des obersten Prinzips als Begriffsexistenz ernst macht.“ (SuB IV, 541.) Der gesamte Weltumgang als sprachlicher beruht auf dem Übergehen vom Begriff in das Sein und vom Sein in den Begriff. Ohne diesen Übergang wäre der Mensch bewußtseinslos und handlungsunfähig, er hätte weder Welt noch sich selbst. Im Begriff sind Existenz und Bedeutung schon vereint als vermittelte Wirklichkeit. Daher kann Liebrucks sagen: „Innerhalb des Begriffs existiert Gott […].“ (SuB VI/3, 367.)²²⁰ In jedem Moment des sprachlichen Weltumgangs 220 „Die Existenz Gottes wird nicht dadurch angetastet, daß wir unsere Vorstellungen und Gedanken von Gott als Modellvorstellungen ansehen, die aber toto coelo von den Modellvorstellungen der Physik unterschieden ist. Die Existenz Gottes wird deshalb nicht angetastet, weil sie an ihr ist, von ihr selbst als Begriff gesetzte Existenz ist.“ (SuB V, 279.)
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wird im Übergehen vom Begriff ins Sein und umgekehrt „ein kleiner Gottesbeweis“ erbracht. (SuB I, 109; vgl. a.a.O., 54.) Der Existenzbeweis Gottes „wird in allen Taten und Unterlassungen aller Menschen nicht einen Augenblick nicht geführt. Nicht die durchgängig bestimmten Dinge sind Einschränkungen Gottes. Vielmehr sind die Zeitalter der Menschen die jeweiligen Beschränkungen des von ihnen immer zu führenden und geführten Gottesbeweises. Das ist die Weise, mit der der Mensch sich nicht nur am Leben erhält, sondern mit dem er sich als Mensch auf dieser Erde weiter bewegen kann.“ (SuB V, 364.) Daher ist „[d]ie Verehrung Gottes [..] immer genauso so groß, wie sie sich in der Sprache ihrer Zeit darstellen läßt.“ (A. a.O., 48.)²²¹ Die Vielfalt der Erfahrung und die Individualität alles Sprechens läßt selbst jeden einzelnen Menschen „immer seinen ihm eigentümlichen sittlichen Gottesbeweis“ leben. (SuB III, 288.) Statt des ontologischen Gottesbeweises ist auch von dessen Variante, dem kosmologischen Gottesbeweis, die Rede. Beiden gemeinsam ist der Schluß eines Endlichen auf die absolute Notwendigkeit eines Unendlichen. Erst in die sprachliche Dialektik der Begriffslogik eingeholt, offenbart sich die tiefe Einsicht dieses logischen Anliegens in die Wirklichkeit des Logos, nur eben nicht in der Form eines Beweises. Innerhalb der formallogischen Welt der Erscheinungsgegenstände wird jeglicher Schluß von diesen endlichen Gegenständen auf eine unendliche Größe als Spekulation abgetan werden müssen; das lehrt uns Kant. Derart verstanden, ist „[d]er kosmologische Gottesbeweis [..] der logische Ausdruck des Verlustes der Welt der Positivität.“ (SuB VI/2, 176.) Denn er holt das Denken des Unendlichen in die Logik hinein. Als Beweis führt er sich selbst a d a b s u r d u m , weil er die Prämissen der formalen Logik außer Kraft setzt (worüber ihn erst die Transzendentalphilosophie belehrt). Er ist somit Ausdruck des Scheiterns des Endlichen an sich selbst. Dieses Scheitern kann nur erkenntnistheoretisch sichtbar werden, weil das Endliche darin zugleich über sich hinaus ist. „Der Versuch des kosmologischen Gottesbeweises liegt nicht in dem Versuch eines Endlichen, aus sich herauszuspringen, sondern in dem ersten Schimmer der Einsicht, daß es sich als Endliches nur bestimmen kann, sofern es nicht nur Endliches ist. Es ist der erste Schimmer des Einfalls der Wahrheit ins Bewußtsein, daß wir keinen Augenblick als nur Endliche existieren könnten, wenn uns nicht das Unendliche in der Existenz hielte.“ (Ebd.) In der Einsicht des Scheiterns des Endlichen am Beweis des Unendlichen wird der Versuch, Gott den endlichen
221 „Heute könnte die göttliche Epiphanie durch den Anblick von Hochhäusern umsprochen und in ihm erfahren werden. Das Bewußtsein der ersten Aufklärung, die gerade in die erste Stufe der Reflexion gelangt ist, wird dann wieder sein Erstaunen darüber aussprechen, wie es doch Menschen geben kann, die mit Häusern schwatzen, die sie doch selbst erbaut haben.“ (SuB VII, 47.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Strukturen zu unterwerfen, abgelöst durch die „Rühmung“ Gottes. (Ebd. u. ö.) In der Erkenntnis des Menschlichen als des am Absoluten Teilhaftigen wird Gott die Ehre gegeben. „Der Beweis der Unmöglichkeit aller Gottesbeweise ist die Stelle, an der wir einzusehen beginnen, daß wir über die Unendlichkeit nicht verfügen können. […] Die Logik ist erst dann der Ort, in dem an die Stelle aller vergeblichen Gottesbeweise die Rühmung Gottes tritt, wenn sie begriffen hat, daß innerhalb der Welt der Positivität Kant mit Recht für sich in Anspruch genommen hat, die Unmöglichkeit aller in abgeschlossenen Systemen möglichen Gottesbeweise mit systematischer Vollständigkeit vorgetragen zu haben. Es ist daher seit Hegel an der Zeit, daß die Logik als der Ort erkannt wird, in dem des Ewigen Ehre gerühmt wird. Es sind die Himmel im Plural.“ (A. a.O., 176 f.) Das logische Verdienst des kosmologischen Gottesbeweises ist das Einbringen des Seins als den immer mitgehenden Anfang einer Logik: Alles Seiende ist Verweis auf das Sein. Allein „in der Identifizierung von Denken und Sein, von Wahrheit und Gott ist Gott weder Gott noch die Wahrheit, sondern beides zugleich.“ (SuB V, 367.) Der kosmologische Beweis spricht von Sein nicht als von einer abstrakten Kategorie, die ebenso wirklichkeitsfern wäre wie alle formallogischen Errungenschaften, sondern vom empirischen Sein. Damit ist Kants Vorwurf, der kosmologische Beweis wolle a p r i o r i beweisen und lege doch ein empirisches Datum zugrunde, eigentlich eine logische Pointe, die Kant verpaßt. Der kosmologische Beweis beginnt mit dem Sein und erweist – so lautet Liebrucks’ an Hegel orientierte Auffassung – das Sein somit als den Anfang des Logischen. Es gibt kein außerlogisches Sein. Auch das Nichts wird, indem es bezeichnet wird, wie ein Seiendes behandelt. Das verweist auf die Identität und Nicht-Identität von Sein und Nichts. „Die Schöpfung der Welt kann von uns als ‚eine Abstraktion vom Nichts‘ ausgesprochen werden. […] Nur das Bewußtsein davon, daß die Schöpfung Gottes nicht in formallogischen Begriffen einfangbar ist, erlaubt solche Rede, die als mythischer Hinweis auf die Wahrheit verstanden sein will, nicht als etwas, was der Mensch nun in seinem positiven Wissen hat.“ (SuB VI/1, 297.) Sein und Nichts sind identisch und nicht-identisch im Werden des Begriffs. „Deshalb ist Werden als reine Form undenkbar.“ (A. a.O., 287.) Sein und Nichts als Gegensätze zu begreifen, ist schon eine formallogische Handlung. Sein und Nichts befinden sich in einem andauernden Übergehen ineinander. Die Logik dieses Übergehens ist als die Dialektik des Absoluten die Dialektik von Bewußt-Sein. (Vgl. SuB VII, 27.) Dies zu erörtern, wird im folgenden Abschnitt endlich zur expliziten Formulierung des Gottesbegriffs führen, zu der Liebrucks gelangt ist.
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V. Gott als Korrespondent von Sprache und Bewußtsein Die Unableitbarkeit einer Existenz Gottes aus den transzendentallogischen Herstellungen des Verstandes legt Kant plausibel dar. Die Wirklichkeit Gottes als absoluter Begriff hingegen wird von ihm nicht bestritten, da er sie gar nicht erst denkt – allerdings in seinen Ausführungen voraussetzen muß. „Unsere These in der Interpretation der Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises durch Kant lautet: […] Er hat bewiesen, daß die Existenz Gottes als Gegenstand unerkennbar sein muß. Er hat nicht bewiesen, daß Gott als dauernder Korrespondent von Sprache und Bewußtsein unerkannt bleiben muß.“ (SuB IV, 188; Herv. S. L.) Kant hat die Wirklichkeit Gottes als nicht-positiv angezeigt, während sein Denken konsequent positivistisch bleibt. „Gott ist irreal, weil wirklich!“ (SuB VII, 774.) Liebrucks kontrastiert die Diskussion über den Existenzbeweis mit einem Vollzugsgedanken. Gottes Sein ist im sprachlichen Werden. Begrifflich drückt sich diese Einsicht aus in der Rede von Gott als Korrespondenten.²²² Wird Gott als Korrespondent bezeichnet, so ist damit seine Erkennbarkeit ebenso wie seine Entzogenheit ausgesagt. Als Korrespondent von Sprache und Bewußtsein ist Gott nicht mit diesen kongruent. Als Korrespondenz begegnet hier in einem anderen Wort der Begriff der Entsprechung, den Liebrucks sowohl bei Hegel als auch bei Humboldt vorgegeben findet. Gott ist die Entsprechung von Sprache und Bewußtsein. Mit diesem Begriff der Entsprechung ist ausgesagt, was jede theistische Logik voraussetzt: Es wird angenommen, daß Gott so denkt wie der Mensch. Diese Annahme ist statthaft, solange sie nicht als bewiesen gilt. „Wir werden auch nicht zu einer Letztbegründung gelangen, die sich von nichts anderem speist als von der Sehnsucht nach einem solchen Ursprung.“ (A. a.O., 8.) Der Ausdruck „Entsprechung“ signalisiert diesen Vorbehalt. Das Entsprechende umgibt ein Hof von Unbestimmtheit. (Vgl. SuB I, 346 f.) Es bleibt uneindeutig und bewahrt die unverfügbare Eigenbedeutung der Sprechenden sowie ihrer Gesprächsinhalte. Die Ausdrücke „Entsprechung“ und „Korrespondenz“ stehen für eine Identität von Identität und Nicht-Identität. Diese kontrastiert eine naturwissenschaftlich bestimmte Identität, die unveränderlich sich durchhaltende, durchgängig bestimmte ist: Gegenstände korrespondieren nicht. (Vgl. SuB IV, 472.)²²³ Korrespondenz ist keine Verstandeshandlung, sondern sprachliche Handlung. Sie setzt die jeweilige Selbständigkeit der miteinander Korrespondierenden voraus. (Vgl. SuB IV, 512.) Die Integration der Nicht-Identität der Korrespondierenden nennt Liebrucks auch 222 Liebrucks konstatiert: „Ich habe Gott den dauernden Korrespondenten von Sprache und Bewußtsein genannt.“ (SuB IV, 193.) 223 Den Dingen als Erscheinungsgegenständen wird abgesprochen, daß sie „an ihnen selbst geistig sind, ja, daß sie Sprachen Gottes sind.“ (SuB V, 304.)
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„Jeweiligkeit“ oder die „Vielgötterei verschiedener Räume und Zeiten“. (Ebd.) Damit ist auch umschrieben, daß jeder in seiner eigenen Welt lebt, seine eigene Sprache spricht. Keine Welt oder Sprache gibt es zweimal. Gerade deshalb ist Entsprechung singulär. Wie es keine Arten von Denken oder Bewußtsein gibt, so auch keine der Entsprechung. Sie ist das Integral aller einzelnen Äußerungen, eine Einheit in Vielheit. „Entsprechung ist weder Integration noch Isomorphie.“ (SuB VI/3, 629.) Der Verstand, den Kant beschreibt, befürchtet, im „Jeweiligen“ unterzugehen, weil er nicht begreifen kann, daß er gerade in diesem permanenten Untergehen Bestand hat. Formallogisch bestimmte Wahrheit besteht in der Widerspruchslosigkeit von Urteilen. Demgemäß kann sie keine Grenze denken, nur Zustandsmomente. Grauzonen lassen sich durch sie nicht nachvollziehen, sie rechnet mit einem klaren Entweder-Oder, Schwarz oder Weiß. Die Strittigkeit mancher Definitionen verweist aber auch die Wissenschaft darauf, daß Bedeutungen von Begriffen sich in konkreten Kontexten und „jeweilig“ ergeben. Wann ist man zum Beispiel alt, wann jung? Wann glücklich, wann „verrückt“? Was etwas ist, entscheidet sich an dessen Gegenteil; wann etwas in sein Gegenteil übergeht, ist jedoch nicht immer exakt zu bestimmen. Identitätsbestimmung erweist sich daher als unabgeschlossener, „jeweilig“ zu vollziehender Prozeß.²²⁴ „Übergang ist immer.“ (SuB IV, 556.) Eine feststehende, eindeutige Identität ist nicht mehr als ein Postulat zur Ermöglichung technisch-praktischen Handelns. So wird deutlich, „daß der Grundsatz des Widerspruchs nur in der fixierten, ganz und gar erfrorenen Welt der Positivität gilt. Denn ‚Übergang‘ ist ihr zu denken unmöglich.“ (Ebd.)²²⁵ In der menschlichen Welt gibt es keine sich auch nur für zwei Augenblicke durchhaltende Identität. Mit dieser Einsicht „beginnt auch alle Kunst und Religion, sofern diese nicht nur auf dem monotheistischen Stamm unserer Erkenntnis beruhen, sondern sich dazu bequemen, den polytheistischen Stamm unserer Erkenntnis anzuerkennen. Es ist der Sprachstamm unserer Erkenntnis.“ (SuB IV, 557.) Unter „monotheistisch“ wird hier der Exklusivitätsanspruch des transzendentallogischen Erkenntnisprinzips verstanden. „Es gehört zu den Bedingungen der Existenz der Welt der Positivität, daß sie keine anderen Welten und Götter neben sich dulden kann.“ (SuB V, 307.)²²⁶ „Monotheistisch“ in diesem Sinne ist das
224 Auch dies läßt sich meines Erachtens an der Gestalt Jesus Christus beobachten, die als solche bestimmt ist durch die Perichorese seiner beider Naturen: Als v e r e d e u s e t v e r e h o m o gewinnt in ihm die Erkenntnis von Identität als Übergang Ausdruck. 225 „Übergänge von einem logischen Status in den anderen sind nur sprachlich darstellbar.“ (SuB VI/1, 475.) 226 Wenn Denken ausschließlich als formallogisches definiert ist, stünde ein eventuelles „anderes“ Denken Gottes im Widerspruch zur Definition des Denkens. Gott würde also denken
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Postulat durchgängiger Bestimmtheit der Dinge, das die formale Logik in all ihren Berechnungen voraussetzen muß. Es erklärt einen Stillstand des sich eigentlich stets Verändernden und kann diese Forderung nur durch Behauptung eines strikten Singularitätsanspruches ihrer Vorgehensweise aufrechterhalten. Im Gegensatz dazu bezeichnet Liebrucks mit dem Ausdruck „polytheistisch“ Unbestimmtheit und Vielfalt der Gestalten, Identität im Werden; mit anderen Worten: die Identität von Identität und Nicht-Identität. Als „Polytheismus der Sprachen“ gilt ihm die Vielfalt der Erfahrung, die sich doch immer in dem einen Logos ereignet. (A. a.O., 641.) Alles Denken – auch die Irrtümer – ist Logos. Insofern sind auch alle (logischen) Katastrophen „die Liebe Gottes“. (A. a.O., 561.) „Wir werden daher annehmen dürfen, daß sogar noch das Sich-gegen-die-Wahrheit-sträuben zur Wahrheit gehört.“ (SuB V, 26.) Bibelkundige mögen sich an den von Paulus in der Areopagrede gegebenen Denkanstoß erinnert fühlen, es sei der Gott, von dem wir keine Vorstellung haben, den wir unwissend verehren. (Vgl. Acta 17, 23.) In der Tat stützt sich Liebrucks zur Erörterung des Logos als Weltumgang auffallend oft auf das paulinische Wort Act 17, 28, keinem Menschen sei Gott jemals fern – „denn in ihm leben, weben und sind wir“. Daß die Welt durch den Logos gemacht ist und nichts ist, das nicht durch ihn gemacht wäre, ist ebenfalls so zu begreifen, daß die Welt dem Logos entspricht, zugleich mit ihm identisch und nicht-identisch ist. „Die Auslegung des Absoluten ist noch nicht seine absolute Auslegung. Die Auslegungen des Menschen sind es nie.“ (SuB VI/2, 329.) Der Mensch braucht die Form der Darstellung, das Absolute hat Formen nur als seine Momente. Erst in deren Überwindung scheint es auf. Diese Epiphanie ist seine Selbstauslegung, aus der wir erst von seiner Wirklichkeit, vom Absoluten als Wirklichkeit erfahren.²²⁷ (Vgl. ebd.) „Diese Wirklichkeit ist zugleich die Wirklichkeit des Menschen, in der er als freie Marionette Gottes die Selbstfindung Gottes ist.“ (SuB VII, 711.) Die Welt ist nicht der Ausspruch Gottes, in diesem Sinne etwas von ihm Unterschiedenes. Es ist die Logik unseres Weltumgangs, die den Logos darstellt.²²⁸ Darum begegnet uns in allem Gott als der
und zugleich nicht „denken“ im Sinne der Definition. Eine solche Aussage aber ist für die formale Logik sinnfrei, für Liebrucks schlichtweg „komisch“. (Vgl. SuB IV, X.) 227 An dieser Stelle läßt sich gut skizzieren, worin nach Liebrucks die Crux der Hegelschen Philosophie besteht: Während Hegel in der Phänomenologie und der Logik noch das Werden des Absoluten als dessen Gang in die Unmittelbarkeit und dessen Rückgang in sich beschreibt, legt er das Absolute in seiner Theorie des Weltgeistes auf den wesenhaften Aspekt fest. „Die Auslegung des Absoluten als Weltgeist ist […] bereits Götzendienst.“ (SuB VI/2, 329.) 228 Auch diese Auffassung geht auf Hegel zurück: „Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt d i e D a r s t e l l u n g G o t t e s i s t , w i e e r i n s e i n e m e w i g e n We s e n v o r d e r E r s c h a f f u n g d e r N a t u r u n d e i n e s e n d l i c h e n G e i s t e s i s t .“ (Hegel, Georg Wilhelm
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cusanische D e u s e x p l i c a t u s . (Vgl. SuB VI/2, 333.) „Gott ist die erste und die letzte Kategorie der Logik.“ (A. a.O., 174.) Darstellung Gottes „ist das Logische zu allen Zeiten, wenn auch dem logischen Status entsprechend, in dem der Stein, das Tier und der Mensch jeweilig sitzen.“ (SuB VI/1, 202.) Das Logische selbst ist die Korrespondenz, die Relationalität zwischen Subjekten und Objekten. Diese Korrespondenz verwirklicht sich in Sein und Denken, sie trägt das Gesicht ihrer jeweiligen Zeit und Entwicklungsstufe des Bewußtseins; sie ist wissenschaftlich, religiös, künstlerisch, technisch und poetisch. Der Logos ist in jeder sprachlichen Gestalt präsent, doch nicht in allen erscheint er. Die Epiphanie Gottes hängt an der Sprachform, die wir wählen; sie ereignet sich in der Dichtung, nicht in der mathematischen Formel. (Vgl. SuB VII, 100.)²²⁹ „Die Identität der Identität und Nichtidentität von Mensch und Gott in der Gegenwart ist nicht in formallogischer Sprache sagbar.“ (SuB VI/3, 79.) Eine begrifflich angemessene Rede von einem konkreten Absoluten kann daher nicht auf Bilder oder Metaphern verzichten, die das Absolute veranschaulichen, auf unsere Lebenswelt beziehen und in diese einzeichnen, es in diesem Sinne in Szene(n) setzen. Das Bilderverbot in bezug auf das Reden von Gott unterläuft dieses selbst. Es konnte bisher auch kaum eingehalten werden: Verzichten Judentum und Christentum zwar auf ein Portrait ihres Gottes, so ist dessen Verkündigung doch ohne metaphorische Rede undenkbar – zumal Verkündigungsinhalte wie die Auferstehung der Toten eine metaphorische Ausdrucksweise benötigen, weil sie von etwas kündet, das noch niemand erfahren hat. Gott selbst verkündet sich in Gleichnissen, er verkündet sich als Vater und Sohn, eine Beziehung, die uns zu einem hermeneutischen Bezugsrahmen wird, in dem wir uns selbst begreifen können. Das Begreifen setzt jedoch voraus, daß wir das Bild nicht für dessen Aussage nehmen, Gott nicht als den Abbildbaren mißverstehen. Das Bild muß uns immer zum Begriff (auch des Bildes) führen. „Die Projektion des bildlosen Gottes auf die Philosophie hat zum Verlust der Philosophie geführt.“ (SuB VII, 10 f.) Als Darstellung Gottes ist die Welt nicht Summe aller Realitätsmomente, wie das All-Eine in einer positivierenden Deutung der Welt als Welt von Erscheinungsgegenständen betrachtet wird. In der Auffassung des Logischen als Darstellung Gottes ist die Methexis der Erscheinungsgegenstände und ebenso der
Friedrich, Wissenschaft der Logik I. Die Lehre vom Sein (1832), Neuausgabe der Gesammelten Werke, Bd. 21, Hamburg 1990, 33 f.) 229 Daß das Erscheinen Gottes in der Welt eine eigene Sprachform, eine l i n g u a n o v a , evoziere, thematisiert bereits Luther; vgl. Bayer, Oswald, Das Wort ward Fleisch. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, in: ders./Gleede, Benjamin (Hgg.), Creator est Creatura. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, Berlin/New York 2007, 5 – 34, 31 f.
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nicht in die formallogischen Schemata einzupassenden Eindrücke an der Wirklichkeit der Dinge bezeichnet. Spekulativ bleibt diese Annahme, das kann jeder Kantianer ihr vorwerfen, ohne daß sie sich gegen diesen Einwand zu verteidigen vermöchte. Desgleichen ist sie eine logikimmanente Aussage. Aus einer solchen Binnenperspektive vermag die menschliche Vernunft sich aber niemals zu befreien, da ihr ihre eigene Faktizität entzogen ist. Sie kommt sich selbst nie näher als in der Thematisierung ihrer Selbstentsprechung in der Selbstentzogenheit, die sich die Sprachlogik zur Aufgabe macht. Diese erhebt die Grenzen des Erfahrens und Denkens nicht allein zum Anhalt, sondern zum Inhalt des Denkens. Liebrucks meint, in den epistemologischen Grenzmarkierungen der Transzendentalphilosophie das angezeigt zu finden, was als das Logische sowohl das Denken innerhalb der formal bestimmten Grenzen als auch ein darüber hinausführendes Denken umfaßt, von dem aus die Grenzen formaler Logik allererst reflektiert werden können. „Das Logische ist auch der Inhalt jedes menschlichen Weltumgangs, wie es der Inhalt aller Entsprechungen in der Welt ist.Würde dieses als eine dogmatische Auffassung mißverstanden werden, so kann man dem hinzufügen, daß dieser Inhalt in jedem Geschehen, in jeder Bewegung der Gestirne, in jedem Verhalten der Tiere wie in jeder Handlung des Menschen, schließlich in einem erkennenden Denken als immer schon vorausgesetzter Inhalt angesehen werden muß und auch wird, sobald wir mit einem anderen Menschen sprechen. Darin liegt die logische Genesis der Sprache. Es wird hier nicht die Aufforderung an uns gerichtet, eine solche dann leicht metaphysisch genannte Voraussetzung zu machen. Es ist uns gesagt, daß wir sie immer machen, gemacht haben und machen werden.“ (SuB VI/1, 203.)²³⁰ Liebrucks macht es sich zur Aufgabe, diese Einsicht ins Bewußtsein zu heben und verspricht sich davon nicht weniger als „eine neue Erschaffung der Natur“, ein „Erwachen zum menschlich-sprachlichen Denken“. (A. a.O., 203.) Der logische Weltumgang des Menschen ist die Methexis, weil der Mensch Bewußt-Sein ist. „Die absolute Idee ist die Entsprechung der Sätze der Wirklichkeit in unserer menschlichen Erfahrung. Sie ist weder Innenwelt noch Außenwelt, weder phänomenale noch noumenale Welt, noch ein Gott, der über beiden als Herrscher thront.“ (SuB VI/3, 581.)²³¹ Als absolute Idee ist Entsprechung ubiquitär. Der Ausdruck „Ent-sprech-ung“ zeigt bereits an, daß deren Omnipräsenz
230 Die Dialektik dieser Logik läßt uns „von der logischen Genesis der Sprache sprechen, die zugleich die sprachliche Genesis der Logik ist.“ (A. a.O., 780.) 231 „Aber wenn das Absolute, das, was aus ihm selbst stammt, nur vernichten würde, würde es sich selbst vernichten. Der göttliche Grund kann schon in seiner Unmittelbarkeit nicht einfach der Abgrund dessen sein, was aus ihm stammt. Logica de profundis clamat: in aeternis non confundar. Die Unmittelbarkeit des Absoluten ist selbst Schein.“ (SuB VI/2, 328.)
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sprachlich zu begreifen ist: Sie ist die sich auf den Sprachbahnen zwischen Subjekten und Subjekten und Objekten vollziehende Logik. Entsprechung ist die logische Kategorie, in welcher wir Welt als Weltordnung haben. Sie ist aber keine den Dingen äußerlich auferlegte Ordnung, keine Zuordnung, „sondern das an und fürsichseiende Zuordnen und die Zugeordnetheit.“ (SuB VI/3, 583.) Entsprechung ist ein anderer Ausdruck für die absolute Identität, die Identität von Identität und Nicht-Identität, wie sie bei Hegel als Begriff des Begriffs bzw. als absolute Idee erscheint, oder auch als Logos, durch den die Welt gemacht ist. (Vgl. Joh 1, 10.) „Der Begriff ist nicht wieder relativ zu einem anderen Begriff. Zwar erhebt sich unser menschliches Denken auf den Sprachbahnen, aber diese haben den Begriff als ein Moment ihrer selbst in sich.“ (SuB V, 278.) Darum ist der Begriff göttlich, absolut: Hinter ihn ist nicht mehr zurückzugehen. Darum ist er auch menschlich: Weil der Mensch sich in ihm ausspricht. Das Menschwerden Gottes ist Menschwerdung des Menschen. „Die Welt hat ihr Dasein nur innerhalb der Entsprechung, die in unserer christlichen Tradition das Wort Gottes heißt.“ (SuB VI/3, 632.) In diesem Wort sind Menschen mit Menschen und Dingen, sind Menschen mit Gott versöhnt, ohne einander gleich werden zu müssen; Versöhnung ist keine Arten- oder Gattungsbildung. Wird Entsprechung nicht als etwas Ausstehendes oder zu Leistendes, sondern als Logik begriffen, aus der heraus der Mensch seine Denk- und Handlungsschritte in der Welt macht, ist ebenso begriffen, daß in allen gesetzten Unterscheidungen, die der Mensch zum Behelf seiner Weltbewältigung vornehmen muß, die Versöhnung des in der Positivierung (voneinander) Abstrahierten vorausgesetzt ist.
VI. Logik als Darstellung Gottes Auf die Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit von Erkenntnis „gibt es nur die christliche Antwort, daß das Absolute von Haus aus bei uns sein will. Ohne diese fällt alle Erkenntnis in sich zusammen.“ (SuB V, 334.) Der christliche Gott der Liebe kontrastiert den aristotelischen unbewegten Beweger, der nicht liebt, sondern auf den sich alles liebend zubewegt. Liebrucks wendet diese klassische Kontrastierung epistemologisch: Der unbewegte Beweger ist das Prinzip einer durchgängige Bestimmtheit repräsentierenden und garantierenden o m n i t u d o r e a l i t a t i s , der Gott der formalen Logik. (Vgl. SuB VI/2, 23.) „Dieser Gott ist der Wirklichkeit des Menschen insofern transzendent, als die logische Folgerichtigkeit trotz des Bemühens des Aristoteles, einen Abstand von Platon zu gewinnen, niemals aus sich zur Wirklichkeit gelangt. Es gibt keine formallogische Brücke von den Systeminvarianzen der formalen Logik zu irgendeinem Ding, das in unserem sprachlichen Weltumgang wirklich begegnet.“ (A. a.O., 338.) Die Prämissen der
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formalen Logik sind unbewegte Beweger, auf denen das System von Sätzen und Urteilen gründet. (Vgl. SuB VI/1, 18; vgl. SuB VI/2, 23)²³² Sie halten das Denken auf eindeutig gezogenen Bahnen. „Diese Disziplinierung ist eine vom Menschen sich selbst auferlegte Disziplin. Dieser Gott ist vom Menschen so gemacht, wie dieser sich von ihm eodem actu disziplinieren läßt. Er ist selbstgegebenes Gesetz.“ (SuB VI/1, 641.) Es ist dabei vorgestellt, daß nicht der Mensch die Formen setzt (Subjektivität), sondern das System aus der reinen Form generiert (Objektivität). „Die Form ist forma formata forma formans. Der Beweger ist als unbewegter Beweger Beweger. […] Das Geheimnis der formalen Logik besteht in dem Widerspruch, daß der Beweger nur als unbewegter Beweger bewegt.“ (SuB VI/2, 65.) Für Liebrucks dagegen ist allein „[d]ie Bewegung des Begriffs als absolute Tätigkeit [..] göttliche Tätigkeit.“ (SuB VI/3, 595.) Nur in der Bewegung, der Dialektik von Sein und Begriff ist Gott die Methexis beider. Die Teilhabe des Seins am Begriff e t v i c e v e r s a ist nicht prinzipiell verordnet, sondern tätig hervorgebracht. Sein und Begriff erzeugen sich wechselseitig. In dieser Dialektik erzeugt sich der absolute Begriff selbst, der den Begriff und das Sein zu seinen Momenten hat. Diese dialektische Selbsterzeugung erhält laut Liebrucks in der neutestamentlichen Verkündigung Gottes als des sich ins endliche Sein entäußernden Logos bisher unvergleichlichen Ausdruck. Liebrucks erkennt in diesem das endliche Sein in sich aufhebenden unendlichen Logos die logische Struktur der Sprache umschrieben: Gottes Sein ist sprachliches Werden. Es kann demzufolge nicht in ausschnitthaften Sätzen und Urteilen festgestellt werden. „,Gegenstand‘ der menschlichen Erkenntnis kann Gott nur sein, wenn er kein Gegenstand in der Welt der Positivität ist.“ (Sinnfrage, 280.) Übernimmt Liebrucks auch den Ausdruck „Gottesbeweis“, so sind seine sprachphilosophischen Erörterungen doch nicht als Beweisführung zur Existenz Gottes mißzuverstehen. (Vgl. SuB I, 54; 109; SuB III, 288; SuB V, 364.) Gottes Existenz ist nicht in dem Satz „Gott ist x“ ausgesprochen, sofern die Existenz am Wort „ist“ hängt. Gottes Existenz ist im Aussprechen dieses Satzes wirklich und präsent, wie sie im Bilden eines jeden Satzes, im Artikulieren eines jeden Wortes verwirklicht ist, in dem der Geist ins Sein eingeht und wieder zu sich zurückkehrt als die Einheit von Idealität und Realität. Sie ist die logische Struktur, in welcher jede Selbstaussage des Menschen, jeder Eindruck von Welt immer schon zustande kommt. Keinen Moment menschlichen In-der-Welt-Seins gibt es, das sich nicht aus der Logik des Absoluten empfinge, das als Aufhebung von Sein und Begriff stets ideale und reale Existenz zugleich ist. Es
232 „Die Einhaltung der Folgerichtigkeitsforderungen ist der unbewegte Beweger der formalen Logik.“ (SuB VI/1, 164.) – „Der unbewegte Beweger unseres Denkens sind die Folgerichtigkeitspostulate der formalen Logik.“ (Handlung, 347; vgl. 349.)
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hat seine reale Existenz in uns, die wir Konkretionen des Absoluten sind. In jedem Moment unseres Weltumgangs sprechen wir das Absolute aus – indem wir uns aussprechen. Die vorgängige Faktizität unseres In-der-Welt-Seins macht uns zu Marionetten Gottes. Jede unserer Selbstaussagen legt daher Zeugnis ab von unserem Verwiesensein auf den absoluten Logos. Weil wir aber in diesem Logos wirklich uns selbst aussagen, sind wir als Marionetten Gottes frei, und die Entzogenheit der Faktizität unseres vernünftigen Weltumgangs erscheint als „die Güte Gottes, daß er sich über den Menschen als ein freies Wesen ausspricht, daß er den Menschen in Freiheit an seinem Werk mitwirken läßt.“ (SuB III, 431.)²³³ Liebrucks vertritt die These, „daß die Bedingungen der Wirklichkeit der Erkenntnis in dem Beweis der Existenz Gottes als Logos, als Sprache, in dem Beweis davon liegen, daß, wie Hamann sagte, Vernunft Sprache sei.“ (A. a.O., 486.) Die Bedingungen der Erkenntnis Gottes liegen in der von Herder beschriebenen c o o p e r a t i o , in welcher menschlicher und göttlicher Ursprung der Sprache sich zueinander verhalten: „In der Welt haben immer menschliche und göttliche Ordnung die Gewalt inne.“ (SuB V, 160.) Der Mensch erspricht sich eine Welt durch das In-Beziehung-Setzen des Besonderen als des konkret erfahrenen Seins und des begrifflichen Allgemeinen mittels der Sprache. In dieser ist das Absolute als Einheit von Sein und Begriff, Allgemeinem und Besonderem, Identität und NichtIdentität erfahrbar und nachweisbar. (Vgl. SuB III, 427.) Für Liebrucks bedeutet somit die Selbstreflexion des Menschen, Gott zu denken. Die Vorstellungen des Menschen sind sogar nur die seinigen, sofern „sie zugleich die Gedanken Gottes sind.“ (SuB V, 107.)²³⁴ Der Blick für das Gewordensein der Objekte in der Dialektik des Erzeugens und Sich–Gebens des Begriffs (Hegel) führt geradewegs zu einer dialektischen Logik, die „der menschliche Begriff, der Geist des Menschen ist, sofern dieser am Geiste Gottes teilhat.“ (SuB IV, 551.) Der Weltumgang des Menschen ist logisch, vernünftig, was für Liebrucks gleichbedeutend ist mit sprachlich. Zu diesem vernunft- resp. sprachbegabten Wesen macht der Mensch sich nicht selbst. Er findet sich, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau, so doch immer schon sprechend vor: Er ist die Marionette des Logos. „[…] 1. Prämisse: Vorstellungen sind nur dann Vorstellungen, wenn sie meine Vorstellungen sind. Das ‚meine‘ ist als ‚der höchste Punkt‘ unausgesprochener Gott. Hegel tut gar nichts anderes als dieses Letzte nun auch auszusprechen. 2. Prämisse: Vorstellungen sind nur dann meine Vorstellungen und also Vorstellungen, wenn sie zugleich die Gedanken Gottes sind. Daraus folgt als Conclusio: Vorstellungen sind 233 „Die Existenz der positiven Dinge ist als absolute Position zu setzen, damit wir sie erkennen können. Die Existenz des Menschen dagegen wie die der wirklichen Dinge hängt an der Güte Gottes. Die Existenz Gottes selbst liegt hier noch in weiter Ferne.“ (SuB IV, 201.) 234 Vgl. SuB IV, 551; SuB VI/3, 366; 444; 455.
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Vorstellungen nur dann, wenn sie zugleich meine und die Gottes sind. Nur als Marionette Gottes denke ich spontan.“ (SuB V, 265.) Diesem Satz liegt die Einsicht in Gottes Transzendenz-Immanenz zugrunde. Liebrucks formuliert hier in formallogischer Manier eines Syllogismus eine dialektische Einsicht und bringt damit zum Ausdruck, daß alle formallogischen Operationen des Subjekts in der logischen Struktur vollzogen werden, in welcher sich das Subjekt als Moment der logischen Selbsterschließung des Absoluten empfängt. „Vorstellungen sind nur dann meine Vorstellungen, wenn sie zugleich die Gedanken Gottes sind.“ In bezug auf die logische Struktur seines Weltumgangs ist der Mensch Marionette Gottes. Sofern der Mensch sich nur an den Fäden der Logik des Absoluten bewegt, ist somit jeglicher Vorstellung einer totalen Andersheit und Jenseitigkeit Gottes eine Absage erteilt. Gott ist stets im Endlichen präsent. Der vernünftige Weltumgang des Menschen ist nur als Tun Gottes auch menschliches Tun. (Vgl. a. a.O., 108.) „Ohne dieses Zugleich hätte der Mensch kein einziges Wort hervorgebracht.“ (SuB IV, 552.) Darum denkt der Mensch, indem er sein Denken denkt, den Logos: So ist er beim Anderen bei sich selbst, schaffend und empfangend zugleich. Die Einsicht, „[…] daß meine Vorstellungen nur dann meine Vorstellungen sind, wenn sie zugleich die Gedanken Gottes sind“, ist daher „das höchste Wissen, zu dem der Mensch gelangen kann.“ (SuB V, 107.) Der Mensch empfängt seine Götter, seine logischen Stützen der Weltbewältigung, dadurch, daß er sie schafft. Das gilt für die unmittelbare religiöse Erfahrung ebenso wie für die philosophische Reflexion auf einen Begriff des Absoluten. „Diese göttliche Wirklichkeit besteht darin, daß wir Gottes Wort nur hören, indem wir es zugleich erfinden.“ (SuB I, 326.) Liebrucks’ Werk durchzieht daher die von Hamann geprägte Einsicht, der Weg Gottes zu den Menschen sei der Weg des Menschen zu Gott. Damit ist die Grundeinsicht der dialektischen Sprachphilosophie formuliert, „daß aber Vorstellungen nur unter der Bedingung meine Vorstellungen sind, als sie zugleich die Vorstellungen Gottes sind, der hier im genitivus subjectivus und objectivus steht. Die dialektische Philosophie ist somit nichts weiter als die Erstellung des sprachlichen Bodens der menschlichen Erfahrung, der Kunst, Religion und Philosophie als die eigentlich sprachlichen Weisen des menschlichen Weltumgangs zeigt, der aber auch die Bedingung der Möglichkeit der Erstellung der Welt der Positivität hergibt.“ (SuB IV, 620; vgl. SuB V, 29.) Es bleibe lediglich angedeutet, daß diese Auffassung der Präsenz Gottes im Vollzug des Logos eine deutliche Referenz zum Theologoumenon der Rechtfertigung aufweist. Im Grunde nicht mehr als eine Randbemerkung innerhalb der Deutung von Hegels Ausführungen zur moralischen Weltanschauung (in der Phänomenologie des Geistes), dennoch aufschlußreich bleibt Liebrucks’ Hinweis, die Rechtfertigung als s o l a g r a t i a geschehende sei nicht als Handeln Gottes am Menschen mißzuverstehen, vielmehr gehe es hier um Rechtfertigung als Bewußtwerdung. (Vgl. SuB V, 240.) Dem kurzen Kommentar ist meines Erachtens zu ent-
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nehmen, daß von Gott insofern nicht am Menschen gehandelt werde, als der Mensch nicht zu etwas (anderem) gemacht oder in einen veränderten Zustand gesetzt wird. Rechtfertigung bezeichnet hier den Durchbruch des Bewußtseins, das Handeln Gottes als das eigene Handeln, den einen Logos in allen Dingen und Beziehungen zu entdecken. Liebrucks spricht davon, daß die Tat Gottes des Menschen Freiheit sei. (Vgl. ebd.) Diese Aussage aber läßt sich unschwer als Paraphrasierung des Marionettenmotivs erkennen. Die lutherische Theologin kommt an dieser Stelle nicht umhin zu betonen, daß – wie es sich auch bei Liebrucks und in den von ihm verwendeten Bildmotiven ausdrückt – die Rechtfertigung als immer schon geschehene anzusehen ist. Sprachphilosophisch gesprochen: Die alle Widersprüche versöhnende Einheit des Logos ist im Vollzug alles Sprechens präsent und wirklich. In dem Grade, in dem der Mensch seine in diesem Vollzug liegende Freiheit begreift, ist er laut Liebrucks frei.
Logik ist die Doppeldarstellung Gottes und des Menschen. „Wir sind nicht in Gott als einem objektiv Wesentlichen, wenn nicht zugleich hinzugefügt wird, daß Gott als nur wesentliche Idee doch in uns als existierenden Begriffen als den sprechenden Menschen und den in allen Lagen immer sprachlich umgehenden Menschen ist. Gott ist weder der nur Erhabene noch ein erhebender Inhalt, der uns als das Logische zu ihm erhebt. […] Nur indem der Mensch sich ausdrückt, stellt er Gott dar und nur indem Gott nicht als omnitudo realitatis, sondern als die Darstellung der Welt seine Darstellung ist, können wir uns ausdrücken, d. h. sprachlich miteinander umgehen.“ (SuB VI/1, 204.) Als Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung stellt der Mensch in seinem Weltumgang nicht nur Welt dar, sondern auch sich selbst. Ist diese Logik der Vollzug des Logos, so ist in jeder Welt- und Selbstdarstellung des Menschen Gott dargestellt. Der Inhalt des Logischen ist zu allen Zeiten und für alle Menschen das eine Logische, die Relationalität, die Räume und Zeiten schafft, die Subjekte und Objekte verbindet, die ebenso Beziehung zu anderen und (als solche) zu sich selbst ist. „Dieses Worin ist aber darin dialektisch, daß es als Worin der menschlichen Erfahrung wiederum auch in der Erfahrung ist.“ (Ebd.) In bezug auf solche Aussagen über die Gegenwart Gottes in menschlicher Erfahrung ist zu beachten: Der Mensch ist nicht Gott, Gott ist nicht die Logik. „Dieses Eine [der Inhalt des Logischen, S. L.] ist nicht Gott, dessen Erhabenheit jenseits bleibt, sondern seine Darstellung in jedem uns als anorganisch Erscheinenden, jedem Grashalm, jeder menschlichen Empfindung, jedem Gefühl, jeder Anschauung und schließlich dem Denken, vor dem solche Darstellung als Darstellung ist.“ (Ebd.) Liebrucks behauptet durchaus eine „identitäthafte Verknüpfung“ von Gott und Mensch. (Vgl. SuB VI/3, 79.) Es ist aber eine Identität der Identität und Nicht-Identität. Wirklichkeit „konstituiert sich in den Verhältnissen Ganzes-Teil, Kraft und Äußerung, das Äußere und das Innere. Die Einheit der beiden letzten ist die menschliche Wirklichkeit. Diese menschliche Wirklichkeit wird in ihrer Unmittelbarkeit als ‚das Absolute‘ erscheinen. Das ist ein
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bedeutender Fingerzeig dieser Logik auf die Vermittlung des Absoluten in der Sprache. Die Vermittlung des Absoluten in der Sprache ist der zum Gedanken hinzutretende Mensch (Bacon, Humboldt). Der Logos des Menschen, der menschliche Begriff, ist die Einheit von Wesen und Sein. In ihm ist das Absolute enthalten.“ (SuB VI/2, 301.) Den Schlüssel zu dieser Erkenntnis liefert das Christentum mit seiner Botschaft vom menschgewordenen Gott – eine Denkunmöglichkeit für die von hellenistischer Philosophie geprägte Antike, die es nicht vermochte, das Zugleich von Identität und Nicht-Identität Gottes mit dem Menschen zu denken, zumindest nicht in der als skandalös empfundenen Konkretheit des Christentums. Der Abschied vom Mythos, der solche formalen Widersprüche integrieren kann, führte zu einer Logik der formalen Eindeutigkeit, die es den Griechen verwehrte, einen D e u s h o m o denken zu können. Mythos und Logik werden nicht in ihrer Dialektik begriffen, die Liebrucks in einem Buchtitel zum Ausdruck bringt: Irrationaler Logos und rationaler Mythos. Das dialektische Denken, das im griechischen Denken durchaus gepflegt wurde, kam in Platons Philosophie zu seinem Höhepunkt, in dieser und der Philosophie seines Schülers Aristoteles jedoch zugleich zum Erliegen. Der Siegeszug der technisch-praktischen Fortschritt ermöglichenden formalen Logik erklärt den logischen Widerspruch als dem vernünftig denkenden Menschenverstand widerspenstig. So dominant ist dieser Erkenntnisanspruch, daß selbst das Christentum die Apologien seiner Botschaft in Aufnahme hellenistischer Denkkategorien zu bewerkstelligen sucht, welche die Götter in ihrem weltordnenden Status beerbt haben. Die Dogmengeschichte legt Zeugnis ab von dem Versuch, sich logisch anzupassen, aber auch davon, wie das antike Denken mit seinen eigenen Kategorien zu überwinden versucht wird (etwa von den Kappadoziern), wie eine neue Logik, eine neue Sprache sich etablieren muß, weil die semantische Mehrstrahligkeit der Offenbarung in Christo keine widerspruchsfreie Definition zuläßt. Liebrucks zufolge gibt schließlich die hegelsche Logik „die Genesis der Sprache, in der ich mich als moderner Mensch so bewege, daß ich das Apologetentum gegen die göttlichen Gestalten der Griechen, das sich die Christen nennenden eh‘ und je geübt haben, durchschaue und weiß, daß ich für den Horizontentwurf der Logik verantwortlich bin, innerhalb dessen ich das Gedachte habe.“ (SuB VI/3, 89.)²³⁵ Für Liebrucks bewältigt erst Hegels Logik das Aushalten der Spannung, die zwischen der Vieldeutigkeit lebendiger Erfahrung und der die Handlungsfähigkeit des Menschen betreffenden Notwendigkeit eindeutiger Bestimmtheit besteht. Sie löst begrifflich ein, was uns in der Botschaft Jesu Christi noch unter dem Schleier des Mythischen
235 „Der logische Hersteller des factum ist nicht Gott, sondern bin ich im logischen Status des technisch-praktischen Weltumgangs.“ (A. a.O., 126.)
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verkündet ist. „Hegel denkt vom christlichen Stamm unserer Erkenntnis, in dem uns gesagt ist, daß wir vollkommen sein sollen wie Gott, nachdem dieser auf der Erde erschienen war. Dazu müssen wir lernen, wie wir uns als Formallogiker verhalten, wenn dieser Gott auf dieser Erde erscheint.“ (A. a.O., 79.) Liebrucks selbst spricht von einer „christlichen Verbindung“, die er in Hegels Logik ausgeführt sieht. (Vgl. a. a.O., 89.) Verbunden werden die antiken Eindrücke einer beseelten Welt und die aufklärerische Verstandeslogik. Diese Verbindung ist keine Verbindung von Begriffen, die aufgrund der Widerspruchsfreiheit ihrer Verbindung eine Möglichkeit benennt.²³⁶ Die christliche Verbindung ist die Initialzündung einer Logik, welche die Wirklichkeit als den Widerspruch von Identität und Nicht-Identität begreift, in dem sich das Absolute selbst auslegt. Das Absolute ist Aufhebung aller Gegensätze: Es ist daher seine Eigenheit, im Anderen bei sich selbst zu sein. Gott ist „wirklicher Gott“ nur „für uns“. (SuB VI/1, 331.) Ein wirklicher Gott muß das Sein zu seinem Moment haben. Die Darstellung des Absoluten als menschliche Darstellung ist dem Absoluten also niemals äußerlich. Der Logos als die Identität und Nicht-Identität von Sein und Begriff ist erst begriffen, wenn er als „menschlich ausgesprochene[r]“ begriffen ist. (A. a.O., 354.) Seine Unendlichkeit trägt das Endlichwerden an sich. Folglich trägt alles Endliche ebenso das Unendliche an sich. „Darin liegt die ganze Konzeption der Hegelschen Philosophie. Sie besteht in dem einfachen Satze, daß Gott den Menschen nicht verletzt. Aber in des Menschen Freiheit ist gestellt, ob er als deus revelatus oder als deus absconditus auf dieser Erde erscheint.“ (SuB III, 54.)
VII. Transzendenz und Immanenz „Das Verfahren der Vernunft, die sofort bis zum Absoluten springen möchte, ist ein übereiltes Verfahren. Es ist aber nicht nur in dem Sinn übereilt, daß wir die totale Reihe der Bedingungen nicht kennen können, sondern auch darin, daß es die Frage nach den Bedingungen der Bedingungen stellen zu können glaubt, ohne die Architektonik ihres logischen Schlußverfahrens zu überprüfen, welches hier im-
236 Liebrucks grenzt die „christliche Verbindung“ explizit von Kants Verständnis der Möglichkeit einer Verbindung ab: Für Kant ergibt sich eine Möglichkeit als logische Verbindung zweier logischer Begriffe – ohne daß ein Widerspruch entsteht. Vorausgesetzt ist in einer solchen Verbindung, daß das Verbundene unterschieden ist, was an der Verbindung zutage tritt. Eine Möglichkeit ist an die logische Realität aller Begriffe, die miteinander verbunden werden können sollen, gebunden. Eine o m n i t u d o r e a l i t a t i s ist Bedingung solcher Möglichkeit: Gott als Grundbedingung alles Denkens als Verknüpfung von Begriffen. (Vgl. Kant, KdV I, § 15, Von der Möglichkeit einer Verbindung überhaupt.)
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mer der Schlüssel bleibt.“ (SuB IV, 85.)²³⁷ Die Rolle des Architekten der formalen Logik kommt Kant als dem ersten Erkenntnistheoretiker zu. Ihm verdankt sich die Aufklärung darüber, daß man nicht zur Wirklichkeit Gottes gelangt, indem man v i a e m i n e n t i a e von den Erscheinungsgegenständen auf den größten aller Gegenstände schließt.²³⁸ Formallogisches Denken bleibt immanent in seinen Versuchen, die Transzendenz zu definieren. Die Transzendenzvorstellung der alten Metaphysik ist keine Unterscheidung einer Wirklichkeit Gottes von der gestalteten Realität, da in ihr lediglich eine zweite positivierte Realität behauptet wird. Darüber ist sie von Kant belehrt worden. Dieser gelangt nun seinerseits aber nicht über die Entzweiung des An-sichs der Dinge und ihres Seins als erscheinende Gegenstände hinaus. Freilich kommt auch Kant nicht ohne den Gedanken einer absoluten Identität aus und führt in seiner praktischen Philosophie die Idee eines Welturhebers ein, welcher das Zusammenstimmen sittlicher Forderung mit sittlichem Lohn verbürgt. Der reine Postulatcharakter dieser praktischen Gottesidee straft aber laut Liebrucks sämtliche Zeugnisse erlebter Immanenz einer Heilswirklichkeit Lügen. „Wer die Transzendenz aus der Welt in ein Jenseits hinausprojiziert, wird auch die Heilserwartung in eine Zukunft verlagern und schließlich die Vorwegnahme des Paradieses durch die Darstellungsweisen des Menschen in Ritus, Kultus, Mythos und Kunst für ideologisch erklären, weil dadurch die Verwirklichung verhindert würde.“ (SuB III, 286.) Den mythischen und künstlerischen Gestalten von Heilsgegenwart wird ihr Erfahrungsgrund abgesprochen. Sie werden heruntergespielt, Verehrung einer Pseudo-Objektivität zu sein, die in (selbst)betrügerischer Absicht durch die Erhebung eines religiösen Urgefühls – eine aus empfundener Bedrohlichkeit der diesseitigen Welt sich nährende Hoffnung auf Erlösung im Jenseits – in den Erkenntnisrang gehoben werde. Doch die Stilisierung des Heils zu einem bloßen Gegenstand ist eher der transzendentallogischen Kritik vorzuwerfen. Das Hinausdrängen des Heils in eine von der Immanenz abgetrennte Transzendenz ist Verobjektivierung des Heils, das als ein von der Immanenz wesenhaft Unterschiedenes diese nicht betreffen kann. Heil besteht in der Versöhnung aller Widersprüche. Hegel umschreibt dies logisch als den Prozeß des Begriffes, der in dialektischer Weise seinen Gegensatz
237 „Die Vernunft [..] glaubt, sie könne sofort und mit einem Schlage bis zu Gott hindenken, der dann allerdings unter dem emphatischen Begriff des Absoluten folgerichtig als Gegenstand vorgestellt wird.“ (A. a.O., 95.) Somit „sind alle Versuche, die seit Fichte an Argumentationswege glauben, auf denen man sich sozusagen gradlinig zum Absoluten hindurchfragen könnte, von einer Naivität, die vor der Erkenntnis des Ausmaßes der Unwissenheit schützt.“ (A. a.O., 112.) 238 Die Unmöglichkeit des Schlusses vom Bedingten auf ein (seiendes) Unbedingtes betrifft ebenso v i a n e g a t i o n i s und c a u s a l i t a t i s .
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erzeugt, um sich mit diesem in einer höheren Einheit aufzuheben. Das Erzeugen dieses Gegensatzes ist der Gang des Geistes in das Sein, aus dem er sich zur Einheit des Begriffs erhebt, der das Geistige und das Sein zu seinen Momenten hat. Das Absolute kann demnach kein jenseitiges sein. „Die göttliche Seite der Logik besteht nicht darin, daß unsere menschliche Welt überflogen wird. Unter der Hauptfrage dieser Logik überfliegt die formale Logik dadurch, daß sie sich nicht als Moment in der Logik, sondern als die Logik versteht, die Welt der menschlichen Erfahrung.“²³⁹ Liebrucks beschreibt dagegen die Logik des Begriffs als „Logik, die dadurch, daß sie menschlich ist, göttlich ist und doch dadurch, daß sie göttlich ist, menschlich ist.“ (SuB VI/1, 224 f.) In diesem dialektischen Sich-selbst-Erzeugen ist der Begriff, „transzendent-immanent.“ (SuB IV, 188.) Der Ausdruck „transzendentimmanent“ ist gleichbedeutend mit „idealreal“. Beide Wendungen bringen zum Ausdruck, daß ausgeschlossen werden muß, Gott könne immaterieller a c t u s p u r u s sein.²⁴⁰ Gott als der Logos hat das Sein zu seinem Moment. Das ist die Botschaft des vom Neuen Testament verkündeten, menschgewordenen Gottes. „Christlich erfahre ich die Ewigkeit in der Zeit, den Sinn in den Trümmern, wenn auch nicht nur in ihnen.“ (SuB III, 280.) Die Erfahrung der Ewigkeit in der Zeit ist die Erfahrung der Unendlichkeit des Endlichen. Die Trümmer, die vereinzelten Momente des vergänglichen Seins, erscheinen als Momente ein und derselben Wirklichkeit, der Wirklichkeit Gottes. Diese Erfahrung ist Erfahrung des Heils.Was der Theologe als „Heil“, der Philosoph als das „Gute“ bezeichnet, ist für den Menschen ungetrübte Selbstentsprechung: Er ist „heil“, wenn er all seine Widersprüche zu einer Identität aufzuheben weiß. Diese Identität findet er, indem er sich als Bewußt-Sein begreift, das als sprachliches zugleich sich und sein Gegenteil aussprechen kann. „Nur Bewußt-Sein […] hält den Widerspruch aus.“ (SuB VI/1, 287.) Als sprachliches vereint es Endlichkeit des Seins und Unendlichkeit des Begriffs in sich. Das Bewußt-Sein als eine Identität von Identität und NichtIdentität empfängt sich, d. h. seine logische Struktur aus der Logik des Logos. Die
239 Dies mag eine Anspielung auf Kants Kritik am spekulativen Denken Platos sein, der versuche, sich in rein theoretischen, d. i. anschauungsenthobenen Betrachtungen, auf den „Flügeln der Ideen“ direkt bis zum Göttlichen zu erheben; vgl. Kant, KdV I, 50 f. 240 Für Aristoteles, auf den sich später die scholastische Metaphysik vornehmlich stützt, ist Gott eine ɛνɛργɛια ohne δυναμɛις. (Vgl. Aristoteles, Metaphysik VII-XIV, übers. v. Bonitz, Hermann, neu bearb, v. Seidl, Horst, Hamburg 19913, XI 7, 1072bf.;vgl. XII 6 f.) Noch Leibniz stellt Gott als oberste Monade vor, die als a c t u s p u r u s gedacht werden müsse, die körperlos das Universum in höchster Klarheit vorstellt und rein aktiv ist. (Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm, An Rud. Chr. Wagner, 4. Juni 1710, in: ders., Die philosophischen Schriften, Bd. VII, hg.v. Gerhardt, Carl Immanuel, Hildesheim 1961, 530. [= Berlin 1890]). Weitere Beispiele für den Begriff Gottes als a c t u s p u r u s ließen sich finden, zwei einschlägige, die als Gegenstück zu Liebrucks‘ Gottesbegriff gelten dürfen, sind damit aber benannt.
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Vereinzelung seiner Lebensmomente ist zu einer Identität aufgehoben. Darin ist der Mensch existierender Begriff. Er ist der existierende Begriff des Absoluten, der seiende Geist. Er ist somit ebenfalls Begriff seiner selbst im Wandel des Seins. Sowohl als Moment des absoluten Begriffs als auch als Begriff seiner selbst ist seine Identität Entsprechung: Entsprechung des Absoluten und Selbstentsprechung. Nur in der logischen Struktur der Entsprechung haben alle Einzelmomente ihren Platz im Ganzen der Wirklichkeit. Entsprechung ist die Form der Versöhnung, die keine nivellierende Harmonisierung, sondern Integration des Widersprüchlichen ist – Versöhnung als Anerkennung von Individualität.²⁴¹ Das Heil des Menschen besteht in der logischen Struktur der Wahrheit, die sich über ihren eigenen Gegensatz selbst erzeugt. Dies liest Liebrucks in der Selbstaussage des inkarnierten Logos, wie sie in Joh 14, 6 verzeichnet steht: „Der Weg und die Wahrheit fallen zusammen.“ (SuB V, 354.) Das Absolute ist der Weg zu sich selbst und das Resultat: Das Wahre ist das Ganze. Wahrheit ist keine statische Größe, vielmehr befindet sie sich in unablässigem Werden. Die Genese der Wahrheit ist eines ihrer Momente. In all ihren Momenten ist die Wahrheit transzendent-immanent. Liebrucks behauptet somit, daß das Sein Gottes von dem des Menschen nicht verschieden ist. Sein Gottes und Sein des Menschen sind ebenfalls nicht nur analog. Die Vorstellung einer a n a l o g i a e n t i s behauptet eine Ähnlichkeit in Verschiedenheit zwischen endlichem Sein und Gott, zwischen Immanenz und Transzendenz. Die Annahme dieser Seinsanalogie ist Bedingung der Möglichkeit der formallogisch geführten Gottesbeweise. In diesem logischen Gebrauch des Analogiearguments wird die unterstellte Grunddifferenz zwischen Gott und endlichem Sein aber unterlaufen. Der Analogieschluß von der positivierten Welt auf deren Schöpfer behandelt diesen ebenfalls als Gegenstand. Auch der Inbegriff von Positivität bleibt ein Positives. Die Welt der Positivität besitzt ausgerechnet darin ihre Beständigkeits- und Funktionsgarantie: nicht über sich hinauswachsen zu können. Ein Positives ist als Positives nicht von einem anderen Positiven unterschieden. Wird in einer auf formalen Setzungen beruhenden Logik auf Gott geschlossen, ist dieser denselben Denkbedingungen unterstellt, wie die Dinge als
241 In der Theologie hat Eberhard Jüngel einen vergleichbaren Begriff von Entsprechung entwickelt. Für Jüngel beginnt Religion dort, „wo die Welt in ihrem Widerspruch erfahren, ernst genommen und eben deshalb nicht sich selbst überlassen wird.“ (Jüngel, Eberhard, Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, Tübingen 20023, 7.) Die Versöhnung der bestehenden Widersprüche denkt auch Jüngel als „Entsprechung“, die er daher „heilend“ nennt (vgl. ebd.): Die Entsprechung zwischen Gott und Mensch begründet eine Entsprechung der Widersprüche in der erfahrenen Welt. – Ein Vergleich der Schriften Jüngels mit denen Liebrucks‘ wäre lohnend (zumal beide einen sprachphilosophischen Ansatz vertreten), kann aber in der vorliegenden Untersuchung lediglich angeregt, nicht ausgeführt werden.
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Gegenstände der Erscheinung. Liebrucks schilt dies entschlossen als „Blasphemie“. (SuB IV, 188.)²⁴² Das Gotteslästerliche der formalen a n a l o g i a e n t i s besteht darin, im Gegensatz zur logischen Figur der Entsprechung keine Identität in bestehender Nicht-Identität denken zu können: Entweder ist das Analoge identisch, oder es ist es nicht. Der dem Menschen „analoge“ Gott ist unter der formalen Logik immanenten Bedingungen erstellt und daher ein der erfahrenen Welt des Menschen letztlich transzendent bleibendes Abstraktum. Von ihm ist kein Heil zu erwarten. Er ist das Postulat einer durchgängig widerspruchsfreien Selbstübereinstimmung, zu welcher das veränderliche Sein nie versöhnt werden kann. Wahrheit als allumfassende Wirklichkeit muß auch das andere ihrer selbst zu ihrem Moment haben. Wahrheit liegt in Übereinstimmung. Aber diese ist nicht tautologisch. Eine Identität, die unbewegt mit sich gleichbleibend ist, ist keine Identität, die das Sein als Veränderliches in sich trägt. Alles unbewegt mit sich Identische ist der vom Menschen erfahrenen Welt transzendent. Diese Transzendenz ist aber eine prinzipielle. Sie ist die einzige, welche die formale Logik behaupten kann, um ihrer Aufgabe der Bereitstellung von Strukturinvarianzen nachzukommen. Formale Identität ist immer tautologisch. Der Satz „A=A“ ist eine rein formale Verwaltungsform der erfahrenen Wirklichkeit. Sie betrifft Sätze und Begriffe, auch den Begriff Gottes als die durchgängige Bestimmung der Dinge garantierenden o m n i t u d o r e a l i t a t i s . Es ist zu differenzieren: „Nicht Gott ist transzendent, sondern der Satz ,A=A‘. Diese Transzendenz ist eine dem Menschen zur Beherrschung von Mensch und Natur gegebene.“ (Denken, 196.) Der formallogische Satz der Identität sagt nichts über Inhalte aus, sondern über syntaktische und strukturelle Beziehungen.²⁴³ Liebrucks deutet die Unterwerfung der Welt unter diese Struktur der Kalkulierbarkeit als Erfüllung des sogenannten Herrschaftsauftrags: „Macht Euch die Erde untertan!“ (Vgl. Gen 1, 28.) Der Mensch erhält diesen Auftrag der Weltunterwerfung aber von einem Gott, der selbst in die Welt eingeht. Nur weil Gott sich zum Diener des Menschen macht, kann dieser herrschen. Liebrucks legt eine erkenntnistheoretische Interpretation der christlich verkündeten Kondeszendenz Gottes vor: Weil Gott als der absolute Begriff das Sein in sich begreift,
242 Die Gottesbeweise des Verstandes sind blasphemisch, weil er sich zum Beweisen Gottes über diesen stellen muß. „Alle Beweise, die von Gott zeigen möchten, daß er vorhanden ist, sind blasphemische Veranstaltungen.“ (SuB VI/1, 452.) Vgl. SuB I, 307; SuB III, 300; SuB VII, 81; Gedanke, 140; Sinnfrage, 282. 243 „Entweder also gibt es keine Erkenntnis und keine Wahrheit, sondern nur immer von neuem festzulegende Gewißheit, oder der Begriff muß innerhalb seiner selbst, ohne aus sich herauszugehen, schon bei der Wirklichkeit sein. Das aber ist für alles an Vorstellungen gebundene so genannte Denken nonsens.“ (SuB III, 49.)
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kann der Mensch in der Partizipation an der Logik des Absoluten sich einen Begriff von Sein machen. Das Endliche ist in diesem Begreifen über das Sein erhaben, unendlich, weil das Unendliche nicht das Gegenteil des Endlichen und auch nicht dessen Analogie ist, sondern das endliche Sein zu seinem Moment hat. „Gott [..] ist nicht nur transzendent, sondern der Erhabene, der die göttliche Demut des Herabneigens geübt hat, damit wir wissen, wie es mit uns bestellt ist, wenn Wahrheit erscheint.“ (Denken, 196.) Wahrheit erscheint im Widerspruch. Sie blickt uns an wie aus einem Spiegel. Davon wird der nächste Abschnitt handeln.
VIII. Mensch und Welt im Spiegel des Logos Die Geburt des Widerspruchs ist die Geburt der Reflexion, wortwörtlich verstanden der Spiegelung, also des Bruchs eines Strahls an einer Grenzfläche. Bricht sich im physikalischen Spiegel das Licht, so bricht sich im Spiegel des Bewußtseins das Denken am Sein. Die Grenzfläche ist dabei keine definitorisch auszumachende. Sie ist bezeichnet in dem Bindestrich des Wortes „Bewußt-Sein“. Ein kurzes Verweilen beim Bild des Spiegels²⁴⁴ leitet im folgenden Abschnitt den Übergang innerhalb dieses Kapitels vom Gottesbegriff zum Begriff des menschlichen Ichs ein. Dieser Übergang nimmt die vorangegangene These über die Transzendenz-Immanenz des absoluten und in diesem auch des subjektiven Geistes auf. „Die Transzendenz Gottes besteht nicht darin, daß er als ipsum esse, als Wirklichkeit der Idee im platonischen Sinn vorgestellt wird. Die Transzendenz Gottes besteht vielmehr darin, daß in seinem Reich die Verhältnisse der positiven Welt verkehrt sind. So ist er nicht transzendent im Gegensatz zur Immanenz.“ (SuB IV, 188.) Die Verkehrung der Welt der Erscheinungen im Reich Gottes ist keine einfache Negation, sondern die Aufhebung von Negation und Affirmation. Als solche ist sie spiegelnde Verkehrung: Im Spiegel erscheint das sich Spiegelnde, nur eben spiegelverkehrt. Das göttliche Unbestimmte ist nicht der ausschließende Gegensatz zum Bestimmten, es ist weder ein Bereich noch eine Substanz hinter der Grenze des menschlichen Erkenntnis- und Wirkungsbereiches. Gott ist selbst Grenze. Jedoch keine, jenseits derer Wirklichkeit sich dem menschlichen Blick entzöge, sondern ein Horizont, an dem Wirklichkeit erscheint und sich – nicht in einer Luft-, sondern einer Sprachspiegelung – erfahren läßt. Wir wissen nicht, ob
244 Eine ausführliche Erörterung der Logik als Spiegel findet sich als Auseinandersetzung Liebrucks‘ mit Josef König in SuB VI/3. König behandelt das Motiv des Spiegels in Sein und Denken, 68 ff.
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wir jemals eine Bewußtseinsstufe erreichen werden, in welcher uns die Welt nicht mehr als Spiegelbild ihrer Wirklichkeit erscheint. Auch die Metapher des Spiegels wird von Liebrucks offenbar doppeldeutig verwendet. Zum einen spricht er vom Spiegel der formalen Logik, in dem die Dinge als Objekte zu sehen sind. (Vgl. SuB VI/1, 160.) Im Spiegel der formalen Logik erscheint die Wirklichkeit unter den Konditionen, unter welchen die Welt sich der Zubereitung durch den Menschen beugt. Der Spiegel zeigt eine Welt, die der von uns erfahrenen transzendent ist: eine Welt, in die wir nicht eintreten können, in der wir nicht leben können, eine Welt der Vorstellung. ²⁴⁵ Der Spiegel zeigt uns eine Welt, hinter die wir blicken könnten, würden wir hinter den Spiegel schauen. Doch wo im Spiegel die Welt erscheint, ist – um die Metapher aufzunehmen – in Wirklichkeit eine Wand, an welcher der Spiegel hängt. (Vgl. ebd.) Der Spiegel gibt das Bild nur im Spiegel, d. h. innerhalb der positivierten Welt. Formale Logik „erstellt logische Spiegelbilder, womit sie nicht die Bilder, sondern die Bildfelder meint, die mit Hilfe von Modellen festgehalten werden.“ (A. a.O., 41.) Daher sehen wir im Spiegel strenggenommen kein Bild, sondern das Erscheinen von jemandem oder etwas im Hinblicken des Betrachters. „Der Schein ist nicht autark. Nur in bezug auf den Sich-Spiegelnden ist das Spiegelbild Bild. […] Undialektisch aufgehoben wäre im Spiegelbild nichts zu sehen.“ (A. a.O., 31.) Der Blick des Betrachters in den Spiegel ist somit nie Subjekt-Objekt-Beziehung gewesen. Die Objektivität des Gespiegelten ist abhängig vom Subjekt, das in den Spiegel schaut.²⁴⁶ „Der Spiegel gibt sozusagen nur den objektiven Augenblicksgott.“ (SuB VI/3, 39.) Das Spiegelbild lebt, stirbt, verändert sich, ist in keinem Moment, wie es im anderen war. Das Bild eines Malers dagegen appelliert zwar auch an seinen Betrachter, es sich subjektiv anzueignen. Aber zugleich ist doch das Abgebildete vergegenständlicht: An ihm verändern sich nur die Deutungen, die es auslöst; im Bild selbst bewegt sich aber nichts mehr. Der Spiegel zeigt in seinem Bild das Werden und Vergehen jeder Bildung. „Ich weiß, daß hinter dem Spiegel nicht das ist, was ich dahinter sehe.“ (SuB VI/2, 30.) So hebt Liebrucks zum anderen von diesem Spiegel der formalen Logik den „Spiegel der sprachlichen Wirklichkeit“ ab; dieser „ist nicht ein selbst objektiver Spiegel, ist nicht das Licht, sondern der Begriff als das wache Bewußt-Sein, in dem alle bisher entdeckten und noch zu entdeckenden Sphären ruhen.“ (SuB VI/3, 95.) Vielleicht ist auch nicht der Begriff des Spiegels bei Liebrucks zweideutig, und die Zweideutigkeit bezieht sich viel-
245 „Weder Instrumente, noch die logischen Bilder, noch die Spiegel, noch das Wesen umgeben das Sein. Solange wir uns in der Logik des technisch-praktischen Weltumgangs bewegen, sehen wir die Welt nur wie in einem Spiegel.“ (SuB VI/2, 56.) 246 Ähnlich bereits bei Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft II, Werke in zwölf Bänden, Bd. 4, hg.v. Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a. M. 1974, 565.
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mehr auf den Blick des Betrachters: Der Spiegel ist immer die Sprache; was wir in ihm erkennen, hängt von den erkenntnistheoretischen Vorzeichen ab, die wir vor die Weltbetrachtung in diesem Spiegel setzen. Nehmen wir das Spiegelbild als Gegenstand von positiver Existenz? Oder sehen wir in den Spiegel, indem wir das Spiegeln sehen? Dann sähen wir uns als den Betrachter im Bild selbst, das Eigendasein des Bildes gebunden an unseren Blick. Im Blick auf das Spiegelbild sind wir dann beim Anderen des Spiegelbildes bei uns selbst. „Der Spiegel ist Spiegel nur dadurch, daß er das spiegelt, was er nicht ist.“ (SuB VI/2, 41.) Man kann „logisch den Spiegel als Spiegel niemals sehen, wenn ihm nicht schon etwas beigefügt ist, das ihm einen Rahmen gibt. Ein Spiegel ohne Grenze wäre als Spiegel nicht sichtbar. So scheint er formallogisch nicht denkbar zu sein, wenn wir von Kant zurecht gelernt haben sollten, daß die Kategorien ihre Bedeutung nur als Bestimmtheitsmöglichkeiten an Anschauungsgegenständen haben. Der Spiegel ohne Rahmen ist kein Anschauungsgegenstand.“ (SuB VI/3, 56.) Er vermag nicht, sich selbst zu reflektieren. Er zeigt stets nur etwas, das nicht er selbst ist. Der Spiegel ist somit Metapher für den absoluten Unterschied. Ein Spiegel kann sich nicht von sich abstoßen, er ist nur im Spiegeln. Der Unterschied ist das,was in einen Rahmen gesetzt ist. Er ist nicht für sich, sondern abhängig von dem, der in den Spiegel blickt. Die Spiegelung ist die Gnade des Absoluten, dessen Unendlichkeit jeden möglichen Erkenntnisrahmen ihres endlichen Betrachters sprengen würde, sofern sie ihn nicht integriert. Deutlich ist also Unendlichkeit nicht das simple Gegenteil von Endlichkeit (sofern es sich eben nicht um die von Hegel so bezeichnete „schlechte“ Unendlichkeit handelt). Die Erkennbarkeit des Unendlichen für die endliche Vernunft ist der Hinweis darauf, daß diese auch unendlich ist.²⁴⁷ Der Spiegel selbst „hat kein Wesen. Vielmehr hat das Wesen ihn.“ (SuB VI/2, 42.) Er spiegelt eine Bestimmtheit seines Gegenstandes, die es nicht in Wirklichkeit gibt. Der Spiegel wird als solcher sichtbar in der Negation seiner selbst. (Vgl. a. a.O., 41.) Er bildet etwas ab, das es nicht gibt. Im Spiegel erscheint die „Gegenständlichkeit des Nicht-Daseins“. (A. a.O., 30.)²⁴⁸ Sie ist Spiegel-Bild, etwas Gebildetes, das im Werden des Begriffs nur ein zu überwindendes Moment ist. Im Überwinden des Bildes wird das Abgebildete als sich lebendig bewegende Identität sichtbar. Im Spiegel erscheint etwas; das Spiegelbild ist das, was Kant transzendentallogisch als Erscheinung dargelegt hat. Identität zeigt sich in der logi-
247 „Wenn das Unendliche [..] das kontradiktorisch Entgegengesetzte zum Endlichen ist, so kann es nicht außerhalb des Endlichen sein. […] Unendliches vorgestellt ist außerhalb des Endlichen. Unendliches gedacht ist innerhalb des Endlichen. Es kann keinen anderen logischen Ort haben.“ (Gedanke, 143; Herv. S. L.) 248 „Das Nicht-Sein erscheint als sichtbarer Gegenstand.“ (A. a.O., 30 f.)
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schen Erschließung der Einheit von Spiegel und Gespiegeltem. Dies geht in dialektischer Denkweise über Kant hinaus, der Spiegel und Gespiegeltes nur getrennt denken kann, obwohl er im Begriff der Erscheinung bereits eine Dialektik beider voraussetzen muß. Der Spiegel ist der Unterschied, den der adäquate Begriff an sich hat. Er gibt den formellen Begriff, dessen Überwindung den adäquaten Begriff zu sich selbst vorantreibt. Der Spiegel ist der absolute Unterschied, den jede Identität an sich hat. Er hat kein selbständiges Sein, sondern ist der Übergang. Der Spiegel ist die Metapher für die Negation, die jede Identität konstituiert. Identität ist der Selbstbezug eines Bewußtseins, der vollzogen wird, indem sich das Bewußtsein selbst ein Anderes wird. Im Rückbezug dieses Anderen, das es selbst ist, auf sich selbst vollzieht es die Negation der Negation. Das im Spiegel erscheinende Bild ist Verbildlichung der Negation, Hinweis auf all das, was im Spiegelbild nicht zu sehen ist. „Jede Figur ist ein Bild der ausschließenden Reflexion.“ (A. a.O., 55.) Die Figur ist nicht nur das auf der Spiegelfläche Sichtbare, vielmehr gewinnt in ihr das Spiegeln selbst Gestalt. Eine Figur als Spiegel zeigt immer schon ein Mehr an Bedeutung – weil sie spiegelt und nicht abbildet. Ein Spiegel zeigt nie nur etwas Konkretes, sondern verweist auf das Ganze des Konkret-Allgemeinen, ist also ein „Zeigen auf die menschliche Wirklichkeit anderer Personen, die zeigen immer zugleich auf den Menschen, auf dich und mich als nicht Isolierte und damit auf Gott. Sie zeigen auf die Wirklichkeit, nicht auf die Erscheinungen.“ (Ebd.) Die sprachliche Logik sieht den Spiegel als Spiegel, die Spiegelbilder in ihrer Figuralität, die Figuralität als Verkörperung der Negation. „In der Sprache haben wir die Dinge nicht mehr nur als gespiegelte.“ (A. a.O., 67.) Im Spiegel der Sprache begegnet sich der Mensch als Gottesebenbild. Das Absolute als die Einheit von gesetzter Realität und von sich aus bedeutender Wirklichkeit ist dem Subjekt im Spiegel der Sprache erkennbar, sofern das Spiegelbild seinen Bildcharakter verrät. Es ist nur da, wenn wir hinschauen; es zeigt den Bildausschnitt, den ihm sein Betrachter gestattet. In ihm erscheint die Welt als gestaltete. Der Spiegel zeigt die Endlichkeit unserer Setzungen. Er verweist damit zugleich auf das Unendliche, weil er anzeigt, daß es mehr gibt, als in ihm zu erblicken ist. Insofern blickt man in ihm als dem Mikrokosmos einen Makrokosmos an. Die Verkehrung der Welt im Spiegel „Sprache“ nennt Liebrucks die „göttliche Tat“ der Sprache. (Vgl. SuB I, 424.) Diese ist als „Urfactum“, jedoch „nicht als gegenständliches Wesen, als eine urige Sache vorzustellen, die damit an die Stelle von Gott oder des Seins träte.“ (A. a.O., 306; 307.) Liebrucks spricht von der Sprache nicht als Gott, sondern als einer „göttlichen Tat“. Sprache ist die logische Struktur des Logos. In ihr erzeugt sich der Logos als absoluter Begriff selbst als logischer Weltumgang der seienden Subjekte. Diese ersprechen sich eine
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Welt in der Erhebung unmittelbarer sinnlicher Gewißheit²⁴⁹ in eine zweite, übersinnliche Welt der Worte und Gedanken. Das Erheben des Seins in den Begriff ist Bedingung der Möglichkeit des Erschaffens von Welt im menschlichen Weltumgang. „Unmittelbar Gegebenes ist den Menschen so unbekannt wie das berühmte Ding an sich.“ (SuB I, 405.) Wir haben immer nur die verkehrte Welt der Sprachvermittlung. Wir haben die Dinge, indem sie immer schon durch die Sprache gegangen sind. Es gibt keine reinen Abbildungen. Der Mensch erkennt die Dinge nur im Spiegel der Sprache. „Es gibt aber für den Menschen nichts, was aus ihm selbst heraus verstehbar wäre.“ (SuB VI/2, 56.) Wiederum einzig in der Sprache können wir diesen Sprachspiegel entdecken und erkennen. Der Mensch hat die Welt im Spiegel „Sprache“, er kann sich nicht dagegen entscheiden oder hinter den Spiegel sehen. Er hat etwas im Spiegel – und hat es doch nicht. Er sieht etwas im Spiegel und kann es doch nicht greifen, geschweige festhalten. Tritt er aus dem Radius des Spiegels heraus,verliert er auch das Bild. So ist dieses Bild von seinem Betrachter abhängig: Ob und wie tritt er vor den Spiegel, welchen Ausschnitt und wie deutlich sieht er – steht er zu weit weg? zu nah davor? -, wie lange verweilt er anschauend? Bild und Abgebildetes sind nicht zwei selbständige Gegenstände. Das Bild hat sein Eigendasein nur in der Relation auf seinen Betrachter. Mithin ist es „das Gesehene, das es in der Realität nicht gibt.“ (Rede, 342.) Das Spiegelbild ist keine getreue Abbildung. Nicht einmal in der Selbstbetrachtung ist das Gespiegelte mit seinem Spiegelbild identisch. Es steht uns gegenüber, und wir sehen uns darin – jedoch „verkehrt“.²⁵⁰ Spiegel verzerren. Für den Spiegel der Sprache gilt dies in einem herausragenden Sinne. „Der Spiegel der Sprache verkehrt die Dinge in einem sehr viel radikaleren Sinne als die gegenständlichen Spiegel, weil in ihr nicht nur eine Verkehrung der ‚Seiten‘ vorgenommen wird. In ihr haben die Dinge überhaupt keine Seiten.“ (SuB I, 46.) Die Festlegung von „Seiten“, von Daten, Abmessungen und errechenbaren Merkmalen bestimmt die Methode der formalen Logik. Doch es ist bereits von Kant eingesehen, daß eine derart verfahrende Begriffsbildung keine Annäherung an ein Ding leisten kann, wie es an sich ist. (Vgl. a. a.O., 50.) „Denn die formale Logik ist eine Logik der Formen, die nicht die Dinge, wie sie sind, spiegeln. Sie geben wie die Spiegel die Dinge nur als Erscheinungen.“ (SuB VI/3, 40.)²⁵¹ Das Spiegelbild ist nicht bei der
249 Die „sinnliche Gewißheit“ ist eine in Hegels Phänomenologie des Geistes vorgestellte, unterste Bewußtseinsstufe, welche in der PhG zugleich abgearbeitet, im Sinne von: weggearbeitet wird. 250 „Der von mir als Gegenstand gesehene Mensch hinter dem Spiegel wird im Spiegel der Reflexion wahrgenommen.“ (SuB VI/2, 53.) 251 „Die Kantische Erscheinung ist das Bild, das das Sein spiegelt. Aber wir haben nach Kant nicht das Sein, sondern (als Gegenstand) nur das Gespiegelte.[…] Welches ist der logische
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Sache. Darum kann Liebrucks auch sagen: „Der Begriff hat innerhalb seiner selbst auch die Reflexion. Aber der Begriff ist kein Spiegel.“ (SuB VI/3, 57.) Das Spiegelbild hat den logischen Status des Wesentlichen inne. Das Wesen ist schon Allgemeinbegriff, zu dem der Geist aus dem Sein zurückkehrt. Insofern spiegelt der wesentliche Begriff den absoluten Begriff. Als dessen Spiegelbild ist er aber nicht mit ihm identisch. Der absolute Begriff erschließt sich erst im Denken der logischen Bewegung, deren Momente Sein und Wesen sind. Der wesentliche Begriff spiegelt einen Sachverhalt. „Der Schein war die logisch noch verhüllte Reflexion-in-sich. Das Wesen ist der logisch noch verhüllte Begriff. Der Schein ist der Spiegelcharakter als Moment innerhalb des Begriffs, der sich noch nicht an sich von sich abgestoßen hat. Erst der Begriff ist als an-und-für-sich seiendes Sich-von-sichAbstoßen hier zunächst vorzustellen. Der Begriff ist in der Weise, in der er bei sich ist, bei der Sache. Diese Sache ist kein Sachverhalt, sondern der Sachverhalt in der begriffenen Situation.“ (A. a.O., 142.) Der absolute Begriff „ist kein Spiegel“, er ist das Spiegeln. Demgemäß ist der absolute Begriff auch nicht wiederum Spiegel des wesentlichen Begriffs. „Er ist nicht mehr nur objektive Reflexion.“ (A. a.O., 45.) Als Subjektivität-Objektivität ist er wie das Spiegeln selbst nicht darzustellen. Er ist in seinem Vollzug. Er ist dies als Sprache, die sich, während wir sie bilden, jeder Bildhaftigkeit entzieht. „Die Erfindung des Spiegels war die gegenständliche Darstellung des spekulativen Satzes.“ (SuB V, 17.) Das sprechende Subjekt ist als Bewußt-Sein der Spiegel der Struktur Idealität-Realität, es ist der existierende spekulative Satz. „Dieser Sprachspiegel spiegelt mich als die Identität der Identität und Nichtidentität in mir. Dieser Spiegel zeigt innerhalb seiner selbst das wirkliche Denken des Menschen.“ (A. a.O., 32.)
F. Vom Gottesbegriff zum Subjektbegriff „Der Existenzbeweis Gottes und der Existenzbeweis von Ich, nicht als Substanz, sondern als Subjekt, gehen immer Hand in Hand.“ (A. a.O., 363, vgl. SuB IV, 259.) Die Diskussion der Existenzbeschaffenheit Gottes führt die Reflexion auf Möglichkeit und Wirklichkeit menschlicher Existenz mit sich. „Der erste logische Schritt auf die menschliche Wirklichkeit ist der erste Schritt im zunächst noch so genannten Gottesbeweis, nachdem Kant bewiesen hat, daß Gott als Mitglied aller unter dem Existenzbegriff ‚absolute Position‘ existierenden Gegenstände nicht
Status, in dem wir das Sein nur als ein von ihm Gespiegeltes haben? Es ist nicht der Kantische, nach dem wir das Sein weder haben noch es erkennen können dürfen, wenn wir mit formallogischen Mitteln logisch durchkommen sollen.“ (SuB VI/2, 31.)
F. Vom Gottesbegriff zum Subjektbegriff
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bewiesen werden kann. Darin liegt der Beginn des Hinweises auf Gott als wirklichen und wahren Gott.“ (SuB VI/2, 173.) Dieser wirkliche und wahre Gott muß – so ist es im bisherigen Verlauf des Kapitels argumentativ dargelegt worden – das veränderliche Sein zu seinem Moment haben. Es kann kein Sein außerhalb eines recht verstandenen Absoluten geben. Die Aufhebung des Seins im Absoluten wurde als Entäußerung des absoluten Geistes in den subjektiven Geist dargestellt. Damit ist aber zugleich ausgesprochen, daß das Sein des Subjekts ebenfalls nicht absolute Position sein kann. Sich aus der Logik des Logos empfangend, bestreitet das Subjekt seinen logischen Weltumgang als Ersprechen einer Welt in der Dialektik von Realität und Idealität. Sein logisches In-der-Welt-Sein ist ersprochene Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit. Dies gilt es in den folgenden Abschnitten näher zu erläutern. Die nachstehende Darstellung des von Liebrucks formulierten Subjektbegriffs wird die in bezug auf den Gottesbegriff getroffenen Aussagen aufgreifen. Wiederum wird die Transzendentalphilosophie Kants zum Ausgangspunkt gewählt, von der aus die Erörterung ihren Anlauf nimmt, um – in Aufnahme und Überwindung Kants – in einer von Hegels Dialektik geprägten, sprachphilosophisch pointierten Formulierung des Subjektbegriffs zu münden.
I. Das Ich als logisches Postulat Da Kant sämtlichen spekulativen Aussagen über eine göttliche Vernunft eine Absage erteilt, muß seiner Auffassung nach das die Welteindrücke vereinende Prinzip im Bereich der philosophischen Einsichten gesucht werden, welche in der transzendentalen Logik denkbar sind. So rückt das menschliche Subjekt an die Stelle des göttlichen Verstandes. Gleichwohl steht auch dieses erkenntnistheoretisch unter dem Vorbehalt, nicht in seinem Ansichsein erkennbar zu sein. „Wenn der Gottesbeweis nicht zu führen ist, dann auch nicht der logische Aufweis des Menschen als Ich, das erkennt.“ (Revolutionen, 89.) Kant beschränkt sich demgemäß darauf, die logische Funktion des Ichs als transzendentale Apperzeption zu beschreiben. Im erkenntnistheoretischen Rahmen der formalen Logik ist Ich ebenso wie Gott eine transzendentale Forderung, nicht aber eine transzendente Größe. Dieses transzendentale Ich ist ein unbewegter Beweger, ein Fixpunkt, auf den die verschiedenen, von ihm gebildeten Vorstellungen bezogen sein müssen, wenn eine gewisse Statik des formallogischen Erkenntnisgebäudes gesichert sein soll, sofern formallogischem Verständnis nach einzig der Kontingenz enthobene Aussagen als Erkenntnis gelten. (Vgl. SuB IV, 248.) Kant etabliert ein neues Metaphysikverständnis, in welchem die Metaphysik nicht mehr als Spekulation über ein der Erfahrung entzogenes Ansichsein der
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Dinge fungiert, sondern als Formulierung der Grenze menschlichen Erkenntnisvermögens. In seinen transzendentallogischen, also auf die Erkenntnisart von Gegenständen bezogenen Betrachtungen, kommt er zu dem Schluß, daß die Erkenntnis ermöglichenden Formen oder Kategorien erfahrungsunabhängig (apriorisch), zugleich aber immer auf Gegenstände als auf Gegenstände der Erfahrung bezogen sind (im Gegensatz zu transzendenten, über die Erfahrung hinausgehenden Inhalten, die zu erkennen dem menschlichen Verstand laut Kant versagt ist). So wird die Erkenntnis Gottes als unmöglich bestimmt, sofern Gott kein Gegenstand der Erfahrung ist. Zum m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s bleibt dem menschlichen Verstand der Erkenntniszugang verwehrt. Die thomasische Lehre von der Wahrheit als a d a e q u a t i o r e i e t i n t e l l e c t u s ist somit verabschiedet. Das Zurechtmachen der Wirklichkeit zu einer erkenn- und beeinflußbaren Realität sowie die Verständigung über diese aufgrund von transzendentallogisch geschaffener Kohärenz funktionieren ohne jeglichen ontologischen Anspruch.²⁵² „Gott, die Seele und die Welt werden nicht daraufhin befragt, was sie wohl sein möchten, sondern daraufhin, als was wir sie notwendig anzusehen haben, wenn wir formallogisch richtig denken.“ (Selbstbewußtsein, 100.) Die Entlarvung der o m n i t u d o r e a l i t a t i s als Postulat der Vernunft verlegt den von formallogischer Erkenntnisdefinition erforderten, durchgängig mit sich selbst identisch bleibenden Bezugspunkt aller Bestimmungen vom Gottesbegriff in den Subjektbegriff. Analog zur Formalisierung des Gottesbegriffs zum bloßen Ideal verbürgt nur ein formal postuliertes Ich die durchgängige Bestimmtheit aller Dinge, eine veränderliche Existenz vermöchte dies nicht.²⁵³ Die Begründung der numerischen Identität in Sprache und Bewußtsein schließt die Existenz des Subjekts ein, zugleich aber ein ontologisierendes Mißverstehen dessen aus. „Der Nachweis der Existenz eines solchen unveränderlichen Ich kann bei Kant unter seinen logischen Voraussetzungen ebenso wenig gelingen wie die Gottesbeweise.“ (Revolutionen, 89) Immerhin rückt er in der Reflexion des Subjektbegriffs ein gutes Stück von der Bestimmung der Existenz als bloß positiver ab. Während die reale Existenz Gottes (theoretisch-philosophisch) nicht notwendig gedacht werden müsse, macht das
252 Der Lapsus der kantischen Ausführungen ist, daß Kant selbst an entscheidender Stelle auf genau das zurückgreifen muß, was er der Dialektik und Metaphysik verbietet: Er nimmt die Vernunft nicht als Konstrukt an, sondern geht schlicht von deren Existenz aus, meint, sie „antreffen“ zu können. (Kant, KdV I, 14; vgl. Gedanke, 131.) 253 Kant „stellt nicht die Frage, ob denn Ich nicht von anderer Existenzweise sein müsse als der der absoluten Position. Schon die Stellung dieser Frage müßte die ganze ,Kritik der reinen Vernunft‘ ins Wanken bringen. Nach Kant müßte eine solche Frage das menschliche Denken selbst zerstören, denn sie wäre der Frage des absolut notwendigen Wesens analog, das nach dem Grund der absoluten Notwendigkeit fragt. Das wird Hegel tun.“ (SuB IV, 252.)
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alles Denken konstituierende Urteilssubjekt den Satz „Ich existiert nicht“ zum Absurdum. Wenn Ich sich als solches setzen kann, ist seine reale Existenz bereits vorausgesetzt.²⁵⁴ Kants Behauptung, eine Existenz Gottes im Unterschied zur Existenz des Ichs nicht zwangsläufig denken zu müssen, beruht darauf, daß Kant zum einen den Gottesbegriff durch den Subjektbegriff ersetzt und zum anderen die logische Bedingung der Möglichkeit dieser Selbstbestimmung des Ichs nicht zu denken unternimmt: Wie ist die logische Struktur zu denken, in welcher Allgemeines und Besonderes zu einer Identität verbunden sind, die in der Bestimmung der erscheinenden Dinge eine Affinität dieser Bestimmungen zum erkenntnistheoretisch entzogenen An-sich der Dinge plausibilisiert? Diese Frage, welche die Frage nach der Methexis ist, bleibt bei Kant unbeantwortet. Daher kommt Kant analog zu seiner praktisch-philosophischen Erklärung der Notwendigkeit Gottes als Forderung und Gültigkeit sittlicher Gesetze verbürgende Idee auch in der theoretisch-philosophischen Auseinandersetzung mit dem Subjektbegriff „nicht zu einer ‚epistemologischen Existenzhypothese‘ […], sondern zu dem Aufweis, daß das Ich als wissenschaftlich Erkennendes und darüber hinaus im ganzen praktisch-technischen Weltumgang nur als Prinzip angesehen werden darf.“ (Gedanke, 137.) Wie schon in bezug auf den Gottesbegriff wird davon Abstand genommen, erkenntnistheoretisch plausible Aussagen über die reale Existenz von Ich machen zu können. „Vor der Wissenschaft ist Ich ein verschwindendes.“ (A. a.O., 153.) Im Paralogismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft verwirft Kant die Möglichkeit einer Selbsterkenntnis, sofern er weiß, daß dieses Selbst kein Gegenstand der Erkenntnis sein kann, wenn es all meine Vorstellungen immer schon begleiten können soll. Die Resultate einer Verstandeshandlung verweisen zwar auf das sie konzipierende Subjekt. Solches Bewußtsein seiner selbst als transzendentallogische Notwendigkeit des Ichs als Erkenntnissubjekt ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Selbsterkenntnis. Die Existenz eines erkennenden Subjekts ist Bedingung jeglicher Erkenntnis, daher erkenntnismäßig nicht einzuholen – sie bleibt Postulat. „Der Mensch schuf den Gott des Monotheismus und sein Selbstverständnis als Ich eodem actu. Er schuf Gott nach dem Bilde von Ich und schuf das Ich nach dem Bilde von Gott. Bei Kant dagegen schafft der Mensch sein Ich nach dem Bilde
254 „Was Kant im ontologischen Gottesbeweis verbietet, nämlich das Ausklauben der Existenz aus dem Begriff, nimmt er hier in Anspruch, weil es nicht das Ausklauben positiver Existenz, sondern der Existenz der Erkenntnis ist.“ (SuB IV, 505 f.) – „Wenn die Existenz Gottes aber als nicht positive Existenz gesetzte Existenz sein könnte, so könnte auch die Existenz von Ich eine Existenz sein, die nicht als absolute Position gesetzt werden darf. Das lehrt Kant letzten Endes. Aber er lehrt es nur für Ich, nicht für Gott, bei dem die Notwendigkeit der Setzung seiner Existenz erst in der praktischen Philosophie eintritt.“ (A. a.O., 497.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
seiner Erkenntnis und schafft seine Erkenntnis als eine Erkenntnis der Welt der Erscheinungen nach dem Bilde von Ich.Wie bei Kant Erkenntnis untersprachliche Erkenntniskunst geblieben ist, so hat sie zu ihrem Korrelat nicht ein seiendes Ich, sondern etwas, was als Ich ‚angesehen‘ werden muß.“ Liebrucks nennt dieses Ich ein „Denkbild von Ich“. (SuB IV, 477.) Dieses Bild zeigt kein menschliches Ich, sondern die Verstandeshandlung eines transzendentalen Subjekts: Es zeigt die transzendentale Apperzeption. Die mit sich selbst gleichbleibende Identität des Urteilssubjekts ist Voraussetzung dafür, daß die Strukturierung der Mannigfaltigkeit von erfahrenen Eindrücken einen konsistenten Sinnzusammenhang ergibt, sofern die einzelnen Bestimmungen in ihrer Verbundenheit auf das eine Prinzip der transzendentalen Apperzeption (das in allen Subjekten als identisch vorausgesetzt wird) vereint sind. Spricht Kant vom Ich, so meint er damit nicht das individuelle, menschliche Subjekt, sondern den als „Ich denke“ allen Subjekten gemeinsamen Verstand, eine überindividuelle Bezugsgröße. Weil bei Kant die Erkenntnistheorie nicht über die transzendentallogischen Grenzen hinausschauen kann und darf, bleibt ihr auch eine Erkenntnis dessen, was Vernunft ist, verwehrt. Vernunft ist der Grenzbegriff der Erkenntnis: Von ihr kann nur gesagt werden, daß sie die Forderung der durchgängig bestimmten o m n i t u d o r e a l i t a t i s sei. Sie ist also selbst eine Forderung, über ein reales Sein ist nichts ausgesagt. Kant bedenkt nicht die Einheit des allen Menschen gemeinsamen Subjektprinzips und dieses einzelnen Menschen da. (Vgl. a. a.O., 497.) „Ich denke“ ist ein (allgemeiner) Singular, kein Individuum. Solche Einheit des allgemeinen und des besonderen Ichs ist der existierende Begriff (Hegel). An diesem erscheint begrifflich der Unterschied zwischen dem allgemeinen und dem individuellen Ich. Das von Kant postulierte Ich erfüllt seine systemtragende Funktion als formale Erkenntnisbedingung kraft seiner Definition als unveränderlich im Wechsel ihrer Bestimmungen bleibende Identität des Bewußtseins. Das kantische „Ich denke“ ist das, was Liebrucks im Anschluß an Hegel den „natürlichen Verstand“ nennt. Dessen formallogische Identität ist in Wahrheit erschlichene, weil kein Ding auch nur einen Augenblick identisch mit sich selbst bleibt. (Vgl. a. a.O., 470.) „Denn das Bewußtsein von mir selbst als existierendem Menschen ist nicht das Bewußtsein einer Identität, die sich durchhält.“ (A. a.O., 496.) Schon die Weitergabe von Gedanken eröffnet die Einsicht in die Unzulänglichkeit der Bestimmung eines menschlichen Subjekts als unveränderliches, formales Ich. Sofern ausgeschlossen ist, daß Gedanken substanzhaft weitergegeben werden, vielmehr also davon auszugehen ist, daß sich Gedankenaustausch als Hervorrufen und Erzeugen von Entsprechungen vollzieht, liegt es auf der Hand, daß das menschliche Subjekt als Dialektik von Identität und Nicht-Identität zu denken sein wird. Während das reflexionsphilosophische Ich in allen sich verständigenden Subjekten als identisch vorgestellt und anerkannt sein muß, ist in bezug auf den sprachlich sich
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vollziehenden Gedankenaustausch die Nicht-Identität der (wirklichen) Subjekte vorausgesetzt. (Vgl. a. a.O., 273.) Wie die Worte im Augenblick ihrer Äußerung schon vergangen sind, verliert der sie Artikulierende als solcher beständig seine Identität, sofern das Aufleben und Vergehen der von ihm gesprochenen Worte die Veränderlichkeit seiner Identität anzeigen. Der Mensch als sprechender ist mit sich selbst nicht-identisch. Das Ich hat sich nur als immer wieder im Selbstverlust auferstandenes. Allein ein so gedachtes Ich vereint in sich auch psychologische, soziologische sowie geschichtliche Entwicklung. (Vgl. SuB IV, 446.) Nur wo sie Nicht-Identität nicht nur setzt, sondern auch erfährt (und setzt, weil sie diese erfährt), kann Identität nach sich fragen. „Hier taucht wieder die Frage auf, die die Synthesis an sich nicht stellen kann, nämlich: ‚Woher denn ich?‘ Sie stammt aus der Indifferenz von Einheit und Vielheit, welche die Flüssigkeit des dialektischen Begriffs ist, in dem als dem wahren Element alles menschlichen Weltumgangs auch eine solche Synthesis den Grund ihrer Möglichkeit hat.“ (A. a.O., 464.) Innerhalb der erkenntnistheoretischen Grenzen verharrend, die er in seiner Transzendentalphilosophie selbst aufzeigte, muß Kant akzeptieren, über den apodiktischen Grundzug seines Ich-Begriffs nicht hinauszugelangen. Die Überwindung des Hiatus zwischen Erfahrungs- und Begriffswirklichkeit wird bei Kant in das denkende Subjekt als systemrelevantes Prinzip verlegt, ohne jedoch die somit aufgezeigte Vermittlungsleistung der Vernunft auf deren Ermöglichung hin zu befragen. Ist das Ich sich zugleich Gesetzgebender und Gehorchender, muß geklärt werden, wodurch ihm diese Doppelrolle zukommt, die formallogisch betrachtet doch als Widerspruch abgetan werden dürfte. Zugleich Befehlender und Gehorchender zu sein und als Ich seine Identität darin zu behaupten, Identität von Identität und Nicht-Identität zu sein, ist für Liebrucks aber Ausdruck der dialektischen Sprachlichkeit menschlicher Vernunft, da allein in der Sprache etwas zugleich sein Gegenteil zu sein vermag. Hierin zeigt sich wiederum die Freiheit des Menschen als Freiheit in Begrenztheit: Seine freiheitsbegründende Individualität verwirklicht sich im Hof von Unbestimmtheit, der seine formal vorausgesetzte Identität mit sich als allgemein-menschliches Erkenntnissubjekt umgibt. Die Herstellung einer sich durchhaltenden Identität als Postulat setzt überdies voraus, daß die herstellende Identität keine statische ist, sondern eine sich nicht-verändernde Identität zu ihrem Moment hat. Im transzendentallogischen Denken dagegen konzipiert sich das Bewußt-Sein als unbewegtes Subjekt, gleich dem aristotelischen unbewegten Beweger. „Die Annahme, daß ich auch nur einen Augenblick in voller Identität mit mir stehen soll, machte aus mir einen Gott, d. h. einen Fetisch.“ (SuB IV, 644.) Solcher ist ein gottgleich verehrter Gegenstand, dem geheimnisvolle Kräfte zugeschrieben werden. So beschaffen ist nach Liebrucks auch die transzendentallogische Auffassung von Ich. Sie erhält den unaufgeklärtmythischen Status einer auf wundersame, d. h. denkend nicht nachvollziehbare
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Weise die Welt und ihre Deutungen vereinigenden Kraft. Die Akklamation als Fetisch enthebt dieses Ich der Lebenswelt des Menschen. Überirdisch ist es, unmenschlich, unveränderlich. Derart bestimmt muß das transzendentallogische Verständnis von Ich, das von Liebrucks als Fetischisierung eingestuft wird, jegliche Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, schuldig bleiben. Bei Kant bleibt der Mensch als „von dem unbekannten Menschen entworfenes Prinzip“ zurück. (A. a.O., 477.) Als bloße Verstandeshandlung ist das Ich postuliertes Subjekt und selbst nichts weiter als postulierend; es ist nicht, was es tut. Dagegen ist das menschliche Ich nicht allein dadurch konstituiert, logisches Subjekt zu sein. Das menschliche Ich ist auch und gerade dann bei sich selbst, wenn formale Logik ihre Grenzen erfährt. „Da aber der Mensch und nicht eine Seele denkt, muß die Einheit der transzendentalen Apperzeption eine Bestimmung ihrer Existenz erfahren, die nicht die der absoluten Position ist. Diese Bestimmung ist dialektisch und als solche die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis stiftenden Einheit der transzendentalen Apperzeption […].“ (A. a.O., 270.)²⁵⁵ Der Mensch ist immer schon die Einheit von Existenz und Wesen.²⁵⁶ Als bloß logischer Ort des Bewußtseins (Prinzip der transzendentalen Apperzeption) ist der Mensch „nicht mehr Mensch, sondern oberster Gott, der an der Kette der Kausalität die Dinge zu sich heraufzieht und aus seinem Haupt die Göttin entspringen läßt, die den Dingen nicht nur ihre Verhältnisse vorschreibt, sondern ihnen auch das Zertifikat der Notwendigkeit ihrer Existenz verleiht.“ (SuB IV, 634.) Als Athene ist die Vernunft zwar Herrin der Wissenschaften, die den Menschen die intellektuellen Fähigkeiten zur Selbstbehauptung im Umgang mit der andringenden Welt einhaucht, aber sie bleibt p a r t h e n o s : Sie erzeugt nicht, d. h. sie schafft keine lebendige Welt, sondern eine Struktur, in welcher die lebendigen Eindrücke zur kategorisierbaren Form erstarren.²⁵⁷
255 Der Klärung dieses Zitats mag der Hinweis dienen, daß der Ausdruck „Seele“ offensichtlich im Sinne von Kants Definition als transzendentales Subjekt der Bewußtseinsprozesse verstanden ist. 256 „Nur als nicht nichtsein-Könnende sind wir Ebenbilder Gottes.“ (Denken, 195.) 257 „Solches Ungöttliche, den Menschen Versklavende erscheint heute in der Verabsolutierung der Positivität der Wissenschaften. Das Heilmittel dagegen kann in nichts anderem bestehen als in der Analyse dieser Positivität.“ (SuB III, 21.) – Es sei die Bemerkung erlaubt, daß das Bild der aus dem Haupte eines Gottes entsprungenen Göttin, die wohl nicht anders als mit Athene bzw. Minerva identifiziert werden kann, insofern ungünstig erscheint, um die Beschränktheit der formalen Logik ins Bild zu setzen, als Liebrucks‘ großes philosophisches Vorbild Hegel die Philosophie die „Eule der Minerva“ nennt und damit die dialektische Lebendigkeit des Geistes zum Ausdruck bringen will. – Liebrucks spricht häufig von griechischen Göttern, um die Prinzipien der hellenistischen Formallogik zu umschreiben. Die Logik beerbt den Mythos: Wo früher ein u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o Welterfahrung und Wirklichkeitsverständnis zu vereinen suchte,
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Sowohl Kant als auch die alte Metaphysik vertreten je auf ihre Weise einen Gottesbegriff, welcher „der Begriff von einem Positiven [ist].“ Entsprechendes gilt bei Kant für den Subjektbegriff. Liebrucks folgt dem nicht, da er „schon in BewußtSein eine nicht positive Wirklichkeit habe, bei der die Existenz von Ich nicht fundierend für das Wissen von Ich ist.“ (SuB IV, 180.) In der transzendentalen Logik hat die Existenz von Ich eine formale Funktion als Fundament, auf dem das naturwissenschaftliche Erkenntniskonstrukt gründet. Dies suggeriert eine Sukzessivität von Existenz und Selbstbewußtsein. Das trifft insoweit zu, als Existenz als positive verstanden ist.Wirkliche Existenz dagegen geht laut Liebrucks einher mit der Entwicklung des Selbstbewußtseins. Liebrucks spricht im Unterschied zu Kant vom menschlichen Ich, für das er auch den Ausdruck „existierender Begriff“ verwendet, um zu verdeutlichen, daß für den Menschen Ich-Bewußtsein und Wirklichkeit der Existenz stets als Einheit erfahrbar sind. Ich ist keine Begründungsfigur, sondern erfahrene Wirklichkeit. Damit ist ein Ich-Begriff formuliert, der einen hohen Anspruch an die Erfüllung der Selbstheit stellt: „Solange wir Ich nicht dialektisch zu denken vermögen, sind wir auch nicht im vollgültigen Sinn des Wortes: das wache Ich.“ (Ebd.)²⁵⁸ Dieses Ich ist im Sprechen, im Vollzug von Setzung (Affirmation) und deren Negation. „Ich hat seine Existenz von Gnaden seiner Setzung durch den sprechenden Menschen und zwar durch eine Sprache, die schon einen gehörigen Ausbildungsgrad hinter sich haben muß.“ (SuB IV, 180.) Es gibt kein Ich, das hernach zu sprechen beginnt, keine Substanz, deren Weltumgang nachkommend einsetzt. Mit dem Ausdruck „Weltumgang“ umschreibt Liebrucks die Erschließung von Welt durch den Menschen. Der Weltumgang des Menschen ist sprachlich. Dies verdeutlicht sich unter anderem an der Konstitution von Welt als Raum: „Der Raum ist Sprachresultat.“ (A. a.O., 334.) Raum wird geschaffen in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, im begrifflichen Sich-Erstrecken eines Subjekts zu anderen Subjekten. Indem ich mich zu Anderem verhalte,
verordnet nun ein Prinzip die Strukturen einer Erfahrung, die als vernünftig gelten darf (worunter doch nicht mehr gedacht wird als: verstandesgemäß). In seiner Funktion und seiner Tabuisierung ist es einem Gott gleich. Allerdings einem rein jenseitigen Gott. Der Mythos wußte noch von der Gegenwart des Unendlichen im Endlichen. Seine Götter waren menschlich. Die „Götter“ der griechischen Philosophie stehen dagegen wie Vorzeichen vor der sinnlichen Erfahrung, sie sind ungeschlechtlich. Erst das Christentum wird, eher dem Mythos als der ihn ablösenden Logik nahestehend, denken können, daß das Göttliche ins Sein geboren wird. „Die Göttin Athene ist nicht wie Christus dem Schoß der Maria entsprungen, obwohl er doch von Gott überzeugt war. Sie ist dem Haupt des Zeus entsprungen.“ (SuB VI/3, 49.) 258 „Frage ich dagegen nach dem Ich als einem bestimmten Objekt, so habe ich die Frage nach der Wahrheit von Ich schon aufgegeben. Denn die Objekte innerhalb der Welt der Objektivität sind unwahr, weil sie der Zubereitung zur Welt der Positivität unterworfen wurden, bevor nach ihrer Wahrheit gefragt wurde.“ (SuB VI/3, 502.)
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verhalte ich mich zu mir selbst. Ich verdeutlicht sich darin, nicht Substanz zu sein, sondern zum einen notwendiger formallogischer Bezugspunkt, zum anderen ein über seine Relationen sich generierendes und findendes Subjekt. Dieses Aus-sichHerausgehen im Bei-sich-selbst-Sein (anders gesagt: das Wechselspiel von Identität und Nicht-Identität) ist die sprachlich sich vollziehende Bewegung des Geistes. Sprachlich versetzt sich der Mensch: an andere Orte, in andere Zeiten, in andere Menschen. Die Fäden des so aufgebauten Relationsnetzes durchziehen die Welt. Es besteht keine Vorordnung der Form vor der Materie, beides wird zugleich empfangen und erzeugt. Raum und Zeit werden ersprochen, sie gewinnen Gestalt auf den Sprachbahnen zwischen den Sprechenden. Diese räumliche Auffächerung der Identität in die Nicht-Identität ist grundlegend für die Anerkennung anderer Subjekte als Subjekte, grundlegend ebenso dafür, sich über andere Subjekte selbst als Subjekt anzuerkennen.²⁵⁹ Semiotisch wird dieses sich Erstrecken zwischen Sinn und Sinnlichkeit im Bindestrich des Wortes „Bewußt-Sein“ angezeigt. In der Schreibweise „Bewußt-Sein“ verbirgt sich also meiner Meinung nach ein Bedeutungsäquivalent zu „Weltumgang“.
II. Den Menschen menschlich denken Die Leitfrage, die Liebrucks der die Entfaltung seiner Sprachlogik vorantreibenden Hegelrezeption zugrundelegt, ist folgende: „Als was muß das Logische angesehen werden, wenn es in seinem innerlogischen Status auf menschlich erfahrbare Wirklichkeit hinweisen können soll?“ Da die Beantwortung dieser Frage die gesamte Sprachphilosophie und auch die Formulierung des Gottesbegriffs prägt, kann sie auch für die vorliegende Untersuchung die Denkrichtung vorgeben, obwohl hier keine Auslegung der hegelschen Logik angestrebt ist. „Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten, daß das Logische selbst nicht in einem über der Sprache
259 „Zu begreifen, daß der Mensch den Raum so anschaut, wie er einen Satz bildet, d. h. die metaphysische Konzeption des unendlichen Behälters so vor sich her wirft wie der einen Satz Aussprechende dessen ganzen und einen Sinn, damit er den Satz aussprechen, d. h. von seinen Teilen her aufbauen, bzw. damit er den bestimmten Raum durch den Verstand bestimmen und doch zugleich als sinnliches Produkt haben kann, heißt die ersten Schritte zur Einsicht in die dialektische Natur der menschlichen Anschauung wie des menschlichen Verstandes wie der menschlichen Vernunft zu tun.“ (A. a.O., 350 f.) Wichtig ist für Liebrucks der folgende Zusatz, in dem ausgesprochen ist, daß dieses Raumverständnis – wie auch die übrigen Lehrstücke der Sprachphilosophie – nicht die Errungenschaften der formalen Logik (wie sie vornehmlich von Kant repräsentiert wird) Lügen straft: „Diese Einsicht in die dialektische Natur des Menschen als des existierenden Begriffes hat es nicht nötig, von den Bausteinen, die die ,Kritik der reinen Vernunft‘ zusammengetragen hat, auch nur einen einzigen zu verwerfen.“ (A. a.O., 351.)
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schwebenden reinen wesentlichen Feld stationiert sein muß. Es ist die Voraussetzung, daß die Sprachbahnen immer zugleich mit den Bahnen, auf denen unsere Erfahrung läuft, und mit ihren Resultaten verschränkt sein müssen.“ (SuB VI/1, 183.) Bleibt die Verbindung von Sein und Denken einer geheimnisvollen Instanz überlassen, die sich unserer Erkenntnis entzieht, ist die Logik in eine Sackgasse geraten. Der Mensch, dessen In-der-Welt-Sein sich als unablässige Reziprozität von Sein und Nicht-Sein vollzieht, bliebe sich selbst logisch entzogen. Wie könnte unter diesen Voraussetzungen mit Sinn und Berechtigung ein sittliches Handeln gefordert werden? Kant versucht auch dies über die Einführung von notwendigen Postulaten zu lösen. Problematisch bleibt, daß nicht logisch verifiziert werden kann, wie sich erfahrene und gesetzte Existenz entsprechen können. „Nur eine Logik, die Gott und den Menschen als Daseiende zu denken vermag, hat Gott und den Menschen nicht nur als Gottheit und Bewußtsein überhaupt. […] Gott und der Mensch: als elementarisierte Wirklichkeiten wären sie liquidierte.“ (A. a.O., 334.) Daß die Postulate einer formalen Logik den Konnex von Sein und Nicht-Sein bzw. Sein und Denken nicht zu klären vermögen, hat Kant selbst zum Thema seiner transzendentallogischen Metaphysikkritik gemacht. Diese Selbstthematisierung der Logik hat er der alten Metaphysik voraus, doch benennt er schließlich nur ein erkenntnistheoretisches Problem, das er bestehen läßt. Liebrucks ist das nicht genug: „Meine Kritik der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ […] enthält eine Kritik daran, daß dem Menschen über diese Bereiche [der technisch-praktischen und moralischen Zubereitung der Welt, S. L.] hinaus keine Einsicht gegeben werden soll.“ (SuB IV, 73.) Wenn der Mensch aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu einem adäquaten Begriff seiner selbst heraustreten können soll, um die sittliche Aufgabe seiner Selbstentsprechung in Denken und Handeln zu leisten, darf die Logik nicht in einer Denkungsart verharren, die der Selbsterfahrung des Menschen äußerlich bleibt. In der Welt der Erscheinungsgegenstände ist der Mensch selbst einer. „Das Wissen aber darum, daß er in der formalen Logik nur als Erscheinung ist, die Erscheinung der Erscheinung, das Gesetztsein des Gesetztseins, ist der wirkliche Begriff, der bei Hegel auf dem Weg über den objektiven gefunden worden ist.“ (SuB VI/3, 53.) Daß der Mensch wesentlich über sich sprechen kann, erweist ihn mehr zu sein, als in einem wesentlichen Abstraktum über Ich ausgesagt werden kann. Es zeichnet den Menschen vor allen anderen Lebewesen aus, sein eigener Begriff zu sein. Das ist die logische Leistung, unter der er nicht zurückbleiben darf. Es ist sprachlich vollbrachte Leistung. Ein Denken und Handeln, welche diese logische Leistung nicht zur Geltung bringt, ist untermenschlich und untersprachlich. Der Vorwurf der „Untersprachlichkeit“ ergeht in Liebrucks’ Schriften des öfteren und ist jeweils an die formallogische bzw. transzendentallogische Erkenntnistheorie gerichtet. Liebrucks zufolge führt etwa der Erkenntnisbegriff der Kritik der reinen Vernunft „nicht die
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Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis, sondern die einer untersprachlichen teleologischen Erkenntniskunst vor. Hier handeln nicht mehr die Götter, hier handelt noch nicht die Sprache und der sprachliche Mensch. Hier handelt der untersprachliche Verstand.“ (SuB IV, 466.) Erkenntnis tritt in einer formalen Logik als Erkenntniskunst im Sinne von t e c h n e , Kunstfertigkeit auf. Sprache fungiert hier nur als Instrument. Die Struktur dieser Logik bleibt untersprachlich, sofern ihr ein Subjekt fehlt: Sie ist Subjekt-Objekt-Beziehung. In ihr wird kein Mensch angesprochen, sondern mit Gegenständen gehandelt. Daher nennt Liebrucks sie auch sprachlos oder stumm. (Vgl. ebd.) Die logische Bewegung der SubjektSubjekt-Objekt-Beziehung dagegen ist als (ober‐)sprachlich ausgezeichnet. (Vgl. ebd.) Sie tritt zutage in der die Alltagssprache überflügelnden Dichtung, in der dialektischen Logik und in der Religion. Sie wird erfüllt in der sittlichen Forderung des im Neuen Testament bezeugten doppelten Liebesgebotes: Gott lieben und den Nächsten, d. h. im Nächsten das Menschliche in allen Menschen und das göttliche Absolute als das alle Menschen vereinende Ganze anzusprechen – darin erfüllt sich das Menschsein des Menschen.²⁶⁰ Kant muß sich daher von Liebrucks die Kritik gefallen lassen, „daß er in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ eine Selbstreflexion der formalen Logik vorführt, die das menschliche Selbstbewußtsein in einer Unmittelbarkeit beläßt, die immer noch nicht jener Bewußtseinsstufe entsprach, die in der christlichen Religion seit fast zweitausend Jahren erreicht war.“ (SuB V, 89.)
In der Rede vom Menschen steht eine epistemologische Grundsatzentscheidung am Beginn aller Ausführungen: „Entweder habe ich mein Dasein als das eines Erfahrungsgegenstandes, und ich bin nur eine Maschine, oder ich habe es aus Gott, dessen Dasein gleichfalls nicht das Dasein eines Erfahrungsgegenstandes ist.“ (SuB IV, 629.)²⁶¹ Liebrucks macht es sich zur Aufgabe, menschlich vom Menschen zu sprechen. (Vgl. SuB IV, 467.) Ausschlaggebend ist für ihn, daß der Mensch seine Lebenswelt nicht ausschließlich als unter Gesetzen stehend erfährt (f o r m a l i t e r s p e c t a t a ). Daher ist eine philosophische Rede vom menschlichen Ich nicht angemessen, die sich auf die Darstellungen eines formalen Urteilssubjekts bezieht. Liebrucks stellt sich der Aufgabe, menschlich vom Menschen zu reden, indem er auf eine zweifache Relationalität des menschlichen Ichs reflektiert: Der Mensch ist Ich im Verhältnis von Gott und Mensch und im Verhältnis der allgemeinen Menschheit zum Individuum. Allgemeines und individuelles Menschsein in sich zu vereinen, resultiert aus dem Verhältnis des Menschen zu Gott. Somit ist darauf verwiesen, daß der Mensch diese Verhältnisse oder Beziehungen nicht hat, sondern ist. Dies weist ihn als sprachliches Wesen aus. Daß die Möglichkeit, dies zu denken einer dialektischen Logik bedarf, ist anzuführen im Grunde überflüssig. Den Menschen zu denken bedarf es einer dialek-
260 Vgl. zu diesem Motiv den entsprechenden Abschnitt im Kapitel Bleiben ist nirgends: Jesus Christus. 261 Vgl. an anderer Stelle: „Habe ich mein Dasein als in der Zeit bestimmtes Dasein, so bin ich nur eine Maschine. Bin ich dagegen Mensch, so habe ich mein Dasein aus Gott.“ (SuB V, 313.)
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tischen Logik, da „[a]lle menschliche Erfahrung [..] dialektisch [ist], also auch alles Denken.“ (SuB V, 349.) Liebrucks betreibt seine philosophischen Analysen, weil er den Preis positivierender Weltzubereitung aufzeigen will. „Der Preis, den Kant bezahlte, war die Idealisierung des Augustinischen Dreiecks Gott-Seele-Welt.“ (SuB VI/2, 269; vgl. SuB IV, 246.) Werden Gott, Seele und Welt lediglich als regulative Ideen angesehen, ist aufgegeben, die logische Struktur zu denken, kraft derer sie zueinander affin sind. Erst begriffslogisch kann das gegenseitige Erzeugen von Sein und NichtSein, Existenz und Denken gedacht werden, in dem auch Gott, Seele und Welt als das erscheinen, was Liebrucks das „Universum“ nennt. „Das Universum wohnt innerhalb des Begriffs, der es selbst als ein passives setzte.“ (SuB IV/2, 439.) Das Universum ist das Eine, im lateinischen Wortsinn verstanden das „Gesamte“, das „in Eins Gekehrte“, das all seine Momente, indem es sie als Selbstunterscheidung aus sich entläßt, zugleich auf sich bezieht. Es ist Identität von Identität und NichtIdentität. Es ist als diese sich bewegende Sichselbstgleichheit die Dialektik von Sein und Nicht-Sein, die Liebrucks als logische Struktur der Sprache entdeckt und im menschlichen Weltumgang als Bewußt-Sein vollzogen sieht. Das Universum als die „Totalität der Dinge“ hat „nur in der Einheit von Bewußt-Sein seinen logischen Ort [..], nicht aber in den Dingen oder den Modellen.“ (A. a.O., 124; vgl. SuB VI/1, 358.) Die Einheit aller Erscheinungen und Begriffe liegt begründet in der Methexis der seienden Dinge an den Begriffen. Ihre Einheit ist keine ihnen auferlegte, sondern aus ihnen generierte: Die absolute Identität treibt sich als Gang in den Selbstwiderspruch des Seins und über diesen hinaus zum Begriff ihrer selbst. Sein und Begriff sind ihre Momente. Liebrucks begreift somit „das Universum als die Artikulation Gottes“. (SuB VII, 28.)²⁶² Artikuliert Gott sich selbst als die logische Struktur des Universums, ist von ihm nur in Ausdrucksweisen zu sprechen, welche das lebendige Selbsterzeugen des Begriffs zulassen. Formeln sind dazu nicht geeignet, sie konstatieren unbewegte Gesetzmäßigkeiten. Dagegen waren „Kunst und Sprache [..] noch niemals legitim.“ (SuB VII, 28.) Sie legen keinen Wert auf letztgültige Bestimmung von Aussagen, vielmehr zeichnen sie das Antlitz des Unendlichen im steten Vergehen und Werden ihrer Ausdrücke ein. Dieses Werden und Vergehen von Ausdrucksformen als Gegenwart des Unendlichen im Endlichen ist die Bewegung der Logik. In entsprechenden Präsentationsformen bezeugt sich die tiefe Einsicht, daß das endliche Sprechen vom Unendlichen darin seine Möglichkeit und Wirklichkeit hat, daß das Endliche Moment des Unendlichen und somit selbst auch unendlich ist. „Als nur endliche Begriffe könnten wir dieses
262 Dagegen ruhe die Welt der Positivität „nicht im Frieden der Hände Gottes, sondern ist von lauter Prinzipien umgeben.“ (SuB V, 298.)
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Gegenüber [das Universum, S. L.] nicht ertragen. Nur soweit der Mensch das aufgehobene Universum ist, kann er es sich gegenüber haben.“ (SuB VI/3, 413.) Die Unendlichkeit des Endlichen ist dessen Seele. „Wie die Seele nicht im Menschen, sondern der Mensch in seiner Seele ist, so ruht das Universum in der Existenz Gottes.“ (SuB IV, 188.) Die Seele ist „Bezüglichkeit“ des Menschen: zu seinen Mitmenschen, zu Gott. (Vgl. SuB III, 302 f.; SuB I, 298.) Daher ist der Mensch in seiner Seele, nicht die Seele in ihm. (Vgl. SuB IV, 188)²⁶³ Als beseelter ist der Mensch eine Identität: In seinen Selbstwidersprüchen sich zur Selbstentsprechung treibender, existierender Begriff. „In der menschlichen Welt ist die 1 ‚eines Apfels‘ von der 1 ‚eines Menschen‘ verschieden.“ (A. a.O., 670.)²⁶⁴ Einheit ist nicht Eins: Eins ist man als Gegenstand, zählbar.²⁶⁵ „Gott hat uns nicht als Stücke geschaffen, die man kaufen und verkaufen kann. Wir sind keine Erscheinungen Kants.“ (SuB VI/2, 170.) Die Einheit des Begriffs ist eine Einheit, die den Widerspruch aushalten kann. Darum ist sie Identität. Als solche ist sie immer zugleich allgemein und konkret, Substanz und Subjekt. Was für die absolute Identität gilt, gilt ebenso für die menschliche Identität, da die logische Selbsterschließung des Absoluten über das existierende Subjekt erfolgt. Das Absolute hat sich im Umweg über den Menschen. Der Mensch hat sich über den Umweg des Absoluten. Auch insofern ist der Gang Gottes zu den Menschen immer schon der Weg des Menschen zu Gott. Der Umweg über das Absolute ist der einzige Weg zum Menschen: Es kann keine Logik geben, die neben der Logik des Absoluten stünde. Die Logik des Absoluten wird als wechselseitiges Erzeugen von Existenz und Begriff von Liebrucks als Sprache identifiziert. Daraus folgt, daß „[d]er Ausdruck ‚Mensch‘ [..] so lange logisch unverständlich [bleibt], bis wir die Sprachlichkeit des menschlichen
263 „Wäre die menschliche Seele existierende Substanz, so wäre sie ein existierender Erscheinungsgegenstand.“ (A. a.O., 258.) 264 Die Existenz des Menschen ist „nicht mit der mathematischen zu verwechseln!“ (A. a.O., vgl. SuB V, 234 f.) 265 Der Konflikt eines Eindeutigkeit fordernden und eines Vielheit in Einheit logisch zulassen könnenden Denkens wird deutlich in der Trinitätstheologie. „Man kann mathematisch nicht begreifen wollen, daß Drei Eins sei. Die Operation mit Zahlen ist durch die Verweigerung solchen ‚Begreifens‘ definiert. Die Dreieinigkeit Gottes ist allerdings nicht unter die abzählbaren Dinge zu stationieren. Diese sind als abzählbare in der Beziehungslosigkeit aufeinander vorgestellt.“ (SuB VI/1, 500.) In der Trinitätslehre formiert sich der Gottesbegriff als Begriff, als Einheit von Identität und Nicht-Identität, die jede Zahlenlogik a d a b s u r d u m führt. Die Zahl ist das Abstrakte, der Begriff ist Relation. „Beim Namen der Trinität ist nicht gerechnet oder auf Etwas gerechnet worden. Die Zahl ist keine wesentliche Bestimmung des Inhalts. […] Schon wenn wir uns überlegen, wie weit wir mit oder auf einen Menschen rechnen können, haben wir nur seine Behandelbarkeit im Sinn, nicht seine Wirklichkeit. Man sollte daher auch nicht mit einem Begriff wie der Dreieinigkeit rechnen wollen.“ (Ebd.)
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Weltumganges durch die Einsicht verstanden (nicht erklärt!) haben, daß der Mensch nur auf dem Umweg über das Absolute der Wirklichkeit erfahrende Mensch ist.“ (A. a.O., 302.) Der subjektive Geist als Moment des absoluten Geistes empfängt die Logik seines Weltumgangs aus der Logik des Absoluten. Diese Logik ist Sprache. „Hätten wir die Sprache nicht, so hätten wir nicht die geringste Ahnung von diesem Logos.“ (SuB VI/1, 117.) Wie das Subjekt selbst Konkretion des Allgemeinen ist, vermag es, Konkretes und Allgemeines (sprach)logisch zu vereinen. So ist es selbst immer allgemeines menschliches Ich, wie es in allen Menschen vorauszusetzen und anzuerkennen ist, und zugleich individuelle Person. „Wahrer Mensch ist der Mensch, in dem er als einzelner zugleich die Menschheit in seiner Person ist.“ (SuB VI/3, 519.)²⁶⁶ Auf dieses Zugleich kann eine formale Logik keine Rücksicht nehmen. „Das formallogische Denken ist in bezug auf das Individuum blind.“ (SuB VII, 232.) Formale Logik funktioniert nur in der Exklusion von Unvergleichbarkeit. Kants transzendentallogische Kritik versucht sich in einer Antwort auf die Fragestellung, wie wissenschaftliches Denken überhaupt möglich sei. „Kant wollte in seiner nichtempirischen Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung die Prinzipien und Regeln für alle wissenschaftlich mögliche Erfahrung geben.“ (Selbstbewußtsein, 118.) Für Liebrucks aber ist die Welt unserer Erfahrung nicht „eine der möglichen Welten. Sie ist vielmehr die einzige Ausnahme aller nur möglichen Welten.“ (SuB VI/3, 117.) Daher sei ihm die Frage erlaubt, „ob die Selbstdisziplinierung des Menschen zu wissenschaftlichem und praktisch-technischem Verhalten dieselbe ist wie die zur Philosophie.“ (SuB IV, 187.) Was Kant betrifft, muß dies bejaht werden, da er ein Verständnis von Philosophie vertritt, in dem diese als (Natur‐)Wissenschaft auftreten können muß. Liebrucks dagegen sieht die Aufgabe der Philosophie in der logischen Erörterung des vor aller wissenschaftlichen Analyse liegenden, diese begründenden Weltumgangs. Jeglichem Denken und Handeln ist dieser Weltumgang vorgeordnet, den man nicht wählen oder verwerfen kann. „Zu Sprache und Bewußtsein [..] entschließt der Mensch sich nicht.“ (A. a.O., 188.) Daraus folgert Liebrucks, „daß der wissenschaftliche Weltumgang des Menschen nicht der menschliche ist.“ (Ebd.)²⁶⁷ Naturwissenschaft und Technik kommen mit wesenslogischen Betrachtungen aus. Gesellschaftstheoretische Diskussionen benötigen die begriffslogische Reflexion. Erstere beschäftigen sich mit dem Verallgemeinern von Einzelbeobachtungen, letztere müssen das Allgemeine im Besonderen und das Besondere im Allgemeinen zur 266 „Die Person, in der die Menschheit ist, ist zugleich diese Person da, und allgemein.“ (Revolutionen, 94.) 267 „Menschliche Wirklichkeit ist auch in den Wissenschaften nur dann zu Hause, wenn sie sich ihres logischen, d. h. sprachlichen Ursprungs bewußt sind.“ (SuB VI/3, 468.)
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Geltung bringen. „Die menschliche Praxis ist nicht die technische Praxis wie die menschlich-sprachliche Theorie nicht die Theorie ist, die von generellen Implikationen spricht, die rein logisch sein sollen.“ (A. a.O., 128.) Wissenschaftliche Erfahrung „ruht“ auf menschlicher. (SuB IV, 197.) Sie stilisiert das lebendig sich Forttreibende zu wesentlichen Allgemeinbegriffen, die Zustandsquerschnitte lebendiger Entwicklung festhalten. Eine lebendige Identität aber „ruht“ nie. „Den Menschen im menschlichen Umgang (πραξις) mit dem Menschen sollte das Dieses da als Individuum interessieren.“ (SuB VI/3, 144.) „Dieses da“, aristotelisch formuliert: Individuum, ist der Mensch nicht als absolute Position, sondern als existierender Begriff. Nur als solcher ist er frei, wenn Freiheit bedeutet, sich selbst entsprechen oder verfehlen zu können. Als absolute Position hat das Ich keine Freiheit zu sich. Diese Freiheit besteht in der Erkenntnis der Positivierungen als Positivierungen, weil er darin als das setzende Ich erscheint. Und zwar nicht als bloßes Urteilssubjekt, sondern als das Ich, das als Einheit von Sinn und Sinnlichkeit, als Vernunft und Leib solche Setzungen als Abstraktionen von Sinn und Sinnlichkeit vornehmen kann. Schon das Wort „Bewußt-Sein“ zeigt an, daß es keine Bewußtheit ohne Sein gibt. Man gelangt nicht durch Subtraktion des Leiblichen zum Ich. „Die logische origo von Ich ist nicht das asketische Opfer der Sinnlichkeit und Leiblichkeit des Menschen, sondern das logische Opfer des Leibes als Substanz.“ (A. a.O., 160.) In diesem Opfer geht die Prämisse der formalen Logik zugrunde, die erscheinenden Dinge unter den Anschauungsformen von Substanz und Kausalität zu betrachten, damit sie behandelbar seien.Wird von Kant die Existenz des Ichs in Analogie zum Gottesbegriff als absolute Position betrachtet, hält Liebrucks dagegen, die Existenz von Ich müsse als sprachliche gedacht werden. In dieser ist Ich zugleich als Urteilssubjekt und als existierendes Subjekt gedacht, als logisches Postulat und erfahrbares Dasein. Der Mensch als Wesen, das Sprache hat, kann kein bloß transzendentales Subjekt sein, zumal Sprache selbst die Dialektik von Sinn und Sinnlichkeit ist. Die logische Entfaltung eines Begriffs von Ich muß auf dessen In-der-Welt-Sein rekurrieren und – so will es die Sprachphilosophie – dieses als sprachlich geführte Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung nachvollziehen. Die Anerkennung des anderen Menschen als mir korrespondierendes, sprechendes Ich „ist die Bedingung der Möglichkeit von Sprache und Bewußtsein, wie es [das Ich, S. L.] umgekehrt auf dem Grunde von Sprache und Bewußtsein existiert und nicht als absolute Position.“ (SuB IV, 258.) Ich begegnet nicht erst in der transzendentallogischen Reflexion, sondern im konkreten Umgang mit der Welt. Das weist darauf hin, daß die Existenz von Ich in Aufhebung von absoluter Position (Kants Existenzbegriff) und gesetzter Position (Existenzbegriff der „alten“ Metaphysik, die in der Positivierung der Welt zugeschriebene bzw. vorausgesetzte Existenz) besteht. Damit ist zum einen Kant Tribut gezollt: Ich ist nicht existent in demselben Sinne, in dem man von der Existenz der
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Dinge der erscheinenden Welt spricht. Wenn von beiden mit Recht gesagt wird, daß sie existieren, ist die Bedeutung von „Existenz“ offenbar auszudifferenzieren – aber nicht in einem exklusiven Verfahren, wie es bei Kant zu finden ist: dem Ich gesetzte Position ab-, absolute Position zuzusprechen. Kant kann nicht erreichen, was er mit dieser Abgrenzung anvisiert: vom menschlichen Ich zu sprechen. Insofern bleibt Kant dem von ihm kritisierten metaphysischen Denken verhaftet. Er kann keinen anderen Existenzbegriff als den positiven denken. Dessen Unanwendbarkeit auf den Menschen ist jedoch offensichtlich: Dem Prinzip der transzendentalen Apperzeption entspricht keine Erfahrung. Das Postulat dieser Verstandeshandlung wagt nicht die Verknüpfung mit dem die Welt nicht nur beherrschenden, sondern auch erleidenden Menschen, es läßt sich nicht in die Menschlichkeit herab. (Vgl. a. a.O., 481.) Die Existenz Gottes wie des Menschen ist keine absolute Position, sondern Begriffsexistenz. (Vgl. SuB V, 278.) Als Begriff ist die Existenz gesetzt. Die Möglichkeit dieser Setzung gründet in der Wirklichkeit einer Existenz, die außerhalb der Welt der Positivität besteht. „Dieser in der Philosophie noch erst zu eruierende Existenzbegriff, dieser neue Existenzbegriff, den wir, sobald er erst einmal ausgesprochen ist, auch in der Geschichte der Philosophie (z. B. bei Nicolaus von Cues) wiederfinden werden, erscheint im Christentum in seiner ganzen Unmittelbarkeit.“ (A. a.O., 278 f.) Der christliche Glaube stellt sich die Einheit von Geist und Sinnlichkeit als menschliches Subjekt gegenüber: Jesus Christus. In ihm ist der Geist nicht in der Art einer o m n i t u d o r e a l i t a t i s existent, sondern in einer geschichtlichen Existenz. „Gott existiert außerhalb der Welt der Positivität.“ (SuB V, 266.) Das Christentum „denkt die Existenz Gottes [..] als die Existenz eines Menschen. Sie denkt die Menschwerdung Gottes, die nicht ein positives Geschehen ist, wie es immer beschrieben wird, daß Gott herabgestiegen ist zu uns armen Menschen usw., die vielmehr die verkehrte Existenz ist, in der die Menschwerdung Gottes zugleich die Vergöttlichung des Menschen nicht als Christianer, sondern als Christ ist. Beide zusammen sind zugleich die Menschwerdung des Menschen.“ (A. a.O., 279.) „Christianer“ ist nur ein Name, eine Formalität, die mit Nachfolge nichts zu tun hat. Als Christ ist man in der Nachfolge Christi als Nachvollzug des Sterbens und Auferstehens des Bewußtseins, der Annahme der eigenen Endlichkeit und der eigenen Unendlichkeit. „In diesem Herabsteigen wiederholt der Christ die Demut Gottes. Er gelangt in sein Eigentum. Er verläßt den antiken formallogischen Begriff, der sich als über den untergelegten Anschauungsgegenständen weiß, und ist das Herabsteigen des Begriffs zum Diesen da, wobei dieses Herabsteigen das eines Begriffs ist, der in sich bleibt, weil er gelernt hat, daß das Herabsteigen dieses sein Insichsein und Insichbleiben ist. Der Geist sieht sich selbst als Gang in die ausgedehnte Welt, sich als diese Ausdehnung.“ (A. a.O., 291.)
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Existenz ist als Existenz erkannt, wenn man einen Begriff von ihr hat. In der Begriffsbildung ist man also über die unmittelbare Existenz schon hinaus, Existenz ist im Begriff von ihr immer schon gewesene. Von seiner Existenz spricht das Bewußtsein demnach nur als von ihr auferstandenes. Die logische Erschließung der Begriffsexistenz ist die logische Erschließung des Bindestrichs im Wort Bewußt-Sein, in dem das In-der-Welt-Sein des Menschen angezeigt ist. Dieses bezeichnet, wie der Mensch in der Welt ist, indem er sie sich erspricht (SubjektSubjekt-Objekt-Beziehung). Die Einsicht in die Logik der Begriffsexistenz ist somit Erkenntnis der Menschwerdung des Menschen. Liebrucks zufolge ist die Dialektik von Begriff und Existenz zum ersten Mal in der Geschichte des Denkens in der Verkündigung Jesu Christi ausgesprochen worden. In der Botschaft von der Menschwerdung Gottes ist folglich ebenso die (logische) Menschwerdung des Menschen ausgesagt. Liebrucks verdeutlicht, daß das adäquate Verständnis der neutestamentlichen Botschaft am nachösterlichen Jesus als dem Christus hängt: „Der Christ existiert als solcher im Perfekt der Auferstehung des Herrn. Erst die Auferstehung ist die übergegenständliche Gegenständlichkeit seiner Existenz.“ (A. a.O., 282.) Christus ist in der nachösterlichen Gemeinde präsent nicht in der Tradierung eines Christusereignisses, das als solches für eine Einmaligkeit steht, welche die Nachfolge unmöglich macht. Christus ist p r a e s e n s , wo das Bewußtsein seine Begriffsexistenz begreift: „[…] es muß begriffen werden, was das ist, die existierende Erscheinung des Wortes.“ (Ebd.)²⁶⁸ Diese ist nur in dem Existieren des Begriffs und der Überwindung der Existenz zu sich selbst zu begreifen. Die Begriffsexistenz ist sprachliche Existenz, sie ist das Ersprechen von Welt, in welchem sich das Subjekt in einer Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung als zu anderen Sprechenden erfährt und damit beim Anderen bei sich selbst ist. Die Begriffsexistenz ist aufgehobene Existenz, sofern der Begriff immer Begriff von etwas ist. „Die Existenz des Geistes ist die Erstellung des Unterschiedes zwischen Begriff und Begriffenem, eines Unterschiedes, der nicht etwa in positiver Vorstellung nur innerhalb des Begriffs Platz hat […]. Die Erstellung des Unterschiedes ist vielmehr die Existenz des Begriffs selbst, der der Unterschied von sich selbst ist.“ (SuB V, 284.) Die begriffsbildende Erstellung des Unterschiedes ist nur als sprachliche möglich, in der etwas zugleich sein und nicht sein kann. Der Mensch als derjenige, in dessen Sprechen und Denken der Begriff als Unterscheidung von Denkendem und Gedachtem entsteht, ist der existierende Unterschied oder Begriff. Im sprachlich-vernünftigen Weltumgang steigt der Begriff in die Existenz. Liebrucks liest das Neue Testament als vorphilosophische Illustration dieser lo-
268 „Solange die Welt als sprachliche erfahren wird, ist Gott in seiner transzendenten Herrlichkeit im Diesseits gegenwärtig.“ (SuB I, 325.)
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gischen Einsicht: Wie Gott in die Welt, so kommt der Begriff in die Existenz. Das Herabsteigen vollzieht sich im Menschen. „Der Mensch kann dann Prädikat Gottes sein, wenn die Existenz Gottes nicht absolute Position ist. Dann hat er seine Spontaneität darin, daß er ‚nichts als‘ die Marionette Gottes ist. In diesem ‚nichts als‘ liegt seine Existenz beschlossen. Gott ist darin nicht als Substanz vorgestellt, sondern als Begriffsexistenz.“ (SuB IV, 259.) Nur so ist auch der Mensch als Subjekt, also als freiheitsbegabt und in diesem Sinne human gedacht. Ein „Prädikat Gottes“ zu sein, zielt so verstanden auf die i m a g o D e i im Logos, aufgrund dessen ein identitätsbildendes Ins-Verhältnis-Setzen von Allgemeinem und Besonderem möglich ist. Damit ist aber ebenso bestimmt, daß Freiheit nur in ihrem Vollzug ist. Prädikat Gottes zu sein, bedeutet, die logische Bewegung des eigenen Bewußt-Seins als Bewegung des absoluten Geistes zu vollziehen. Daher kann Liebrucks sagen: „Das menschliche Bewußtsein ist nur als Marionette Gottes der Spontaneität fähig.“ (SuB V, 30.)²⁶⁹ Freiheit ist „nicht eine in uns nun einmal so seiende Spontaneität […].“ Wir müssen vielmehr einsehen, „daß diese Spontaneität in der identitäthaften Verknüpfung des Menschen mit seiner Wirklichkeit als einer sprachlichen, von Gott gesprochenen Wirklichkeit besteht. Dieser Gott wird in den verschiedenen Zeitaltern je nach dem Bewußtseinsstand, den sie erreicht haben, angebetet, angeschaut, gedacht. Es ist ein Denken, das so Gefühl wie Glauben ist, das nicht von einer einzigen Fähigkeit des Menschen verschieden ist, weil es dann selbst als Denken nicht existierte.“ (A. a.O., 188.) „Das hinter dem Ich als gesetzter Position stehende Ich existiert nicht als absolute Position, sondern als der Widerspruch des existierenden Ichs […]. Dieser Widerspruch ist uns Menschen nur im Gespräch erträglich. Einsames Denken wäre immer das Denken eines Gottes, nicht das des Menschen.“ (SuB VI/3, 504.) Die Existenz des Menschen ist Aufhebung, d. h. sowohl Einheit als auch Überwindung absoluter und gesetzter Position: sprachliche Existenz. „Ich ist das Sich-zu-sichselbst-verhalten im Verhalten zu den Dingen.“ (SuB IV, 259.)²⁷⁰ Der sprachlogische Begriff von Ich ist kein Schluß von positiver Existenz auf einen Begriff, der dann auch lediglich Position ist, sondern logische Darstellung des Geistes als Dialektik zwischen Realität und Idealität. Insofern geht die Sprachphilosophie durchaus
269 Vgl. SuB VI/2, 253; SuB VI/3, 368. 270 Die Ausdifferenzierung des Existenzbegriffs ist „nur dialektisch möglich [..], weil die Existenz einer gesetzten Position gegenüber der Existenz als absoluter Position eine erschlichene Existenz ist. Da wir aber in Ich eine von der Sprache gesetzte Position vor uns haben, da Ich auf dieser Welt nur existiert, wenn es dem anderen Menschen im wortwörtlichen Sinn von Ich durch den anderen Menschen die Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz ist, muß hier Existenz eine andere Bedeutung haben. Sie ist weder ideale Existenz, die nicht nicht sein kann, noch absolute Position. Sie ist sprachliche Existenz.“ (A. a.O., 267.)
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von einem „mystischen Apriori“²⁷¹, wehrt aber den Vorwurf eines c i r c u l u s v i t i o s u s mit dem Argument ab, daß es sich hier nicht um ein Schlußverfahren handelt, sondern um eine Selbstreflexion der Vernunft: „Diese Selbstreflexion der logischen Formen des Denkens ist dialektisch. Sie verdankt sich der Dialektik des Bewußt-Seins, die darin liegt, daß die Erstellung der Objektivität der Erscheinungsgegenstände immer zugleich die Reflexion auf die Einheit der transzendentalen Apperzeption ist.“ (SuB IV, 259.) Damit ist als in der Bewegung der Sprache sich vollziehende Selbstreflexion der Vernunft beschrieben, was sich bei Hegel als Sich-von-sich-selbst-Abstoßen des Geistes findet.
III. Der Mensch als existierender Begriff Liebrucks’ philosophisches Vorhaben besteht darin, „nicht zu einer Metaphysik zurück[zu]kehren, die unmittelbar von Gott oder dem Sein spricht, weil uns diese nur noch als abstrakte Kategorien vorstellig sind. Aber wir werden versuchen, den menschlichen Begriff zu gewinnen.“ (SuB VI/1, 459.) Er gewinnt diesen menschlichen Begriff über seinen Begriff des Absoluten, seinen Gottesbegriff. Der menschliche ist der absolute Begriff als existierender. Das Absolute ist seine logische Entfaltung zum „Begriff des Begriffs“, einem von Hegel verwendeten Ausdruck für das Selbstbewußtsein. Der Begriff des Begriffs entfaltet sich selbst als Einheit seiner Allgemeinheit und seiner Besonderheit, seiner Vereinzelung. Er begreift Begriff und Existenz in sich. Der Gang des absoluten Geistes in die Existenz ist der Gang in den subjektiven Geist des existierenden Menschen. Dieser Gang Gottes zum Menschen ist zugleich der Gang des Menschen zu Gott. Denkt der Mensch sein Denken, so denkt sich das Absolute selbst. Es hebt dabei das Denken des existierenden Subjekts als Moment seiner Genese in sich auf. In dieser Aufhebung empfängt alle existierende Vereinzelung ihre Identität. Mit dem Begriff des Begriffs ist ein Begriff benannt, der die Existenz in sich enthält. Ein solcher Begriff wird von Anselm von Canterbury „Gott“ genannt. Liebrucks bedenkt: „Wir könnten ihn den Menschen nennen, was philosophisch ein gegenstandsloser Unterschied ist. Die Zeitalter setzen hier ihre verschiedenen Akzente.“ (SuB VI/3, 147.) Dieser Begriff des Begriffs kann auch Mensch genannt werden, weil das Sich-selbst-Denken des Absoluten im subjektiven Geist des Menschen als des existierenden Begriffs erfolgt. „Innerhalb des Begriffs existiert Gott, wie innerhalb des Begriffs das Ich als allgemeines und dieses Ich da existiert.
271 Der Ausdruck sei Tillichs Beschreibung des „theologischen Zirkels“ entlehnt, vgl. Tillich, Paul, Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 19563, 16.
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Beide sind Sprache.“ (A. a.O., 367.)²⁷² Sprache als sinnlich-sinnhafte Dialektik von Bewußt-Sein ist der Weltumgang des Menschen, in dem dieser nicht nur sich, sondern auch das Absolute darstellt. Das Absolute kommt im Menschen zu sich, v i c e v e r s a ist das menschliche Bewußtsein solches kraft seiner in jeder seiner Ausformungen sich vollziehenden Teilhabe am Absoluten. Menschliches Bewußtsein ist es als Identität, die als Ich ausgesprochen wird. Ein solches Ich muß bei sich selbst bleiben, indem es bei Anderem ist. Diese Einheit von Identität und Nicht-Identität ist im Absoluten verbürgt. Es zeigt sich, daß das menschliche Denken nicht allein ein unter Prinzipien stehendes sein kann, weil Prinzipien durch ihre Unveränderlichkeit charakterisiert sind. Denken zeigt sich als Dialektik zwischen Identität und Veränderung. Ich ist erst gedacht, wenn das Denken des Denkens gedacht wird. (Vgl. SuB IV, 303.) Dies zu vermögen, begründet die Göttlichkeit des Menschen, dessen i m a g o D e i . Das sich selbst denkende Denken (νοησις νοησɛως) ist die theoretisch-göttliche Vernunft. (Vgl. a. a.O., 364.) Es vollzieht sich erst im logischen Einlassen auf den Widerspruch, im Loslassen des formallogischen Prinzips eines unveränderlichen Erkenntnissubjekts. Der Widerspruch ist das Ich als Spannung zwischen Bewußtheit und Sein. Dasselbe drücken die Worte „existierendes Ich“ oder „existierender Begriff“ aus. Während bei Kant die transzendentale Apperzeption formales Postulat bleibt, ebnet Hegel in seiner Fassung des Begriffs den Weg für die Auffassung des Subjekts sowohl als logisches wie als menschliches Individuum.²⁷³ Die als durchgängig bestimmt gesetzte formallogische Identität ist „als solche Unmittelbarkeit selbst noch gegenständlich und nicht zugleich gegenständlich und übergegenständlich wie der Begriff. Er [der formallogische Begriff, S. L.] ist logisch noch objektiv. Die Identität erscheint darin als oberste Regelanweisung für die unmittelbar gebliebene Abtrennung des Logischen vom Wirklichen.“ (SuB VI/2, 108.) Sein Verständnis von Subjektivität entwickelt Hegel im Kontext der Lehre von Begriff, Urteil und Schluß. Zwischen dem „Begriff des Begriffs“ und dem Ich besteht eine strukturelle Parallelität. Diese Parallelität besteht in der logischen Entfaltung von Identität. Mit dem Ausdruck „Begriff des Begriffs“ bezeichnet Hegel das Begreifen als im Individuellen vollzogene Einheit des Allgemeinen und des Besonderen. Damit ist ebenso ausgesagt, daß das in allen Subjekten vorauszusetzende Ich, das all mein Denken begleiten können muß (Kant), immer nur als individuelle Person ist, die den Denkprozeß vollzieht. Der Begriff des Begriffs ist Selbstentsprechung: Sein eigener Begriff zu sein, kontrastiert die Unterscheidung von Gegenstand und Begriff, wie sie im Weltumgang der ersten Reflexi-
272 „Der Mensch ist Sprachwesen, sofern er tätiges, konkretes Allgemeines ist.“ (SuB I, 493.) 273 Hegel, Logik II, 229; 251 f.
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onsstufe kennzeichnend ist. Auch diese Unterscheidung liegt im Begriff selbst und wird ihn dort, wo dieser Unterschied zum Widerspruch wird, über sich hinaustreiben. In diesem Begriff des Begriffs erkennt Liebrucks daher die „Sprache, die die Kantische Vernunft, den Kantischen Verstand wie die menschliche Anschauung zu ihren Momenten hat.“ (SuB IV, 222.) Liebrucks setzt Hegels Rede vom Begriff des Begriffs gleich mit Humboldts Ausdruck der Verwandtschaft im Fremden. (Vgl. SuB VI/3, 210.) Der Begriff ist wie das Ich nicht als Abstraktion von sich verändernden Entwicklungen betrachtet, sondern als Konkretes, dem Identität nur darin eignet, daß es seine möglichen Unterscheidungen an sich hat. In diesem dauerhaften Unterscheiden von Anderem ist es bei sich selbst. Hegel schließt unmittelbare (Selbst‐)Erkenntnis aus. Das existierende menschliche Ich erlangt von sich Erkenntnis über die dialektische Bewegung der Bewußtseinsbildung (die bei Hegel mit Erkenntnis zusammenfällt, während für Kant Selbstbewußtsein nicht mit Selbsterkenntnis gleichzusetzen ist). So verstanden ist der Begriff bzw. das Ich kein abstraktes Allgemeines, sondern nur in der konkreten Beziehung zu allem, was von ihm unterschieden ist. Identität hält sich im Wandel der Zeiten und Situationen, weil sie diesen Wandel an sich vollzieht. Im Wandel von Bestimmungen ist sie die Einheit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Der Begriff erscheint als menschlicher Begriff, als zu sich selbst gekommenes Selbstbewußtsein, das sein eigener Begriff ist. „Der Mensch ist nicht im Besitz des Begriffs. Er ist der Begriff.“ (A. a.O., 165.) Der Begriff erscheint damit nie nur als logisches Mittel, sondern als Selbstzweck. Mit Hegels Begriffslehre ist laut Liebrucks logisch eingeholt, was Kants kategorischer Imperativ auszusprechen versuchte.²⁷⁴ Im Begriff des Selbstbewußtseins kommt Hegels Verständnis des Begriffs zu seinem vollkommenen Ausdruck. „Alle Kategorien der Logik sind in diesem Ich versammelt.“ (Ebd.) Es ist Sein und Wesen, Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Sinn und Sinnlichkeit, Identität in Identität und Nicht-Identität. Als solche vermag es sich zu denken und zu erfahren. Das Ich ist keine postulierte Einheit dieser Kategorien. Es ist die einzige uns in Denken und Erfahrung bekannte Größe, die einen Selbstbezug hat. (Vgl. ebd.) Alles andere, dem wir ein Ansich zusprechen, erfährt eine Parallelisierung zu uns selbst. In diesem Selbstbezug vereinen sich die logischen Kategorien. In ihnen ist das Ich in der Welt, im steten Rückbezug dieser Konkretionen auf sich selbst als deren Relat ist es deren Einheit, ist es selbst konkret-allgemeine Identität. Liebrucks bezieht sich in seinen Ausführungen auf Humboldts Definition des Denkens als Unterscheidung von Denkendem und Gedachtem. (Vgl. SuB IV, 266.) Diese Unterscheidung aber, so be-
274 „Erst die Hegelsche Logik gibt die Begründung für die Zweck-Mittelformulierung des kategorischen Imperativs.“ (A. a.O., 166.)
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stimmt es Liebrucks, sei einzig in der Sprache möglich. Die Sprache ist das die Unterscheidung von Denkendem und Gedachtem bildende Organ. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit der „Bildung von Ich.“ (Ebd.) Das Ich spricht sich aus in Identität und Nicht-Identität mit der es umgebenden und es angehenden Welt, es wird angesprochen und kann ansprechen. Es ist an und für sich als sprechendes. Selbstbewußtsein ist somit als geschichtliches umschrieben. „Ich erkennt sich nicht durch eine sogenannte Innenschau, sondern durch den Blick in seine Geschichte, in der Ich nicht war. Ich erkennt sich nur durch den Blick auf gewesene Ich. […] Diese Erkenntnis ist immer Erkenntnis innerhalb des Gesprächs, als welches Ich existiert.“ (SuB VI/3, 167.) Zur Verdeutlichung verwendet Liebrucks einen aus der christlichen Abendmahlslehre stammenden Terminus: Transsubstantiation.²⁷⁵ Liebrucks versteht unter Transsubstantiation eine Auflösung des substanzhaften Denkens von Ich, wie es bei Kant als Prinzip erscheint, in ein Selbstbewußtsein, das stets bewegte Einheit von Substanz und Idee ist. „Der Verstand ist die unabdingbare Bedingung der Möglichkeit der Transsubstantiation der Substanz in das Subjekt. Er ist nicht die Wirklichkeit der Transsubstantiation, die der wirkliche Begriff ist, dessen Dasein auf dieser Welt uns im Neuen Testament mitgeteilt worden ist.“ (A. a.O., 232 f.) Transsubstantiation ist der Untergang des Ichs als formallogisches Prinzip. (Vgl. SuB V, 106.) In der Transsubstantiationslehre wird die Reziprozität von Sein und Begriff zum Ausdruck gebracht. Sie kann allein von der christlichen Religion aufgestellt werden, da diese Gott in einem – konkreten – Menschen entdeckt. Der Mensch, in dem Gott sein Antlitz zeigt, ist eine individuelle Persönlichkeit, nicht aber ein postuliertes Ich. So wie Gott in Christus als einem konkreten Menschen gegenwärtig ist, so ist er in jedem Menschen konkret. Das Absolute ist im konkreten Subjekt gegenwärtig als die Logik, als die das Subjekt seinen Weltumgang als unablässiges Ins-Verhältnis-Setzen von Allgemeinem und Besonderem bestreitet: Sprache. In jeder sprachlichen Äußerung wird das endliche Sein in den unendlichen Begriff aufgehoben. Der Begriff kommt im Menschen in die Existenz. „Als menschlicher Begriff ist der Begriff endlich, als menschlicher Begriff ist er unendlich.“ (SuB IV, XIf.)²⁷⁶ In der Existenz ist er der Endlichkeit anheimgegeben,
275 Auch dieses Motiv, das menschliche Denken in Analogie zum christlichen Abendmahl zu denken, übernimmt Liebrucks von Hegel, vgl. SuB V, 303. 276 „Daher kann ich mir einen Begriff von mir nur machen, wenn ich […] begriffen habe, daß Gott mich nicht nach einem menschlichen Schema oder Bild, sondern nach seinem Bilde schuf. Philosophie ist immer das Totalexperiment des Lebens, sich die Bilder so zu machen, daß sie nicht Bilder des Scheines […], d. h. die der objektiven Reflexion sind, sondern solche Bilder, von denen ich nicht annehme, daß sie Bilder von Regeln sind, sondern Bilder des Begriffs als Idee.“ (Sprachaufstufung, 269.)
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als Begriff hat er die Endlichkeit zu seinem Moment. Da der Begriff nie anders verwirklicht ist als über die Sprache, die vom Menschen gesprochen wird, ist er nie anders als in der menschlich gestalteten Existenz, also nie anders als in der dialektischen Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit. „Die Schrankenlosigkeit und Freiheit des Begriffs ist der menschliche Begriff, sofern er an dem nicht endlichen Gott hängt.“ (SuB VI/3, 211.) Der endliche Gott ist die Idee des Ideals, als welche das Absolute in der transzendentalen Logik nur noch erscheinen darf. Diese Idee wurde eingeführt, um Widersprüche zu vermeiden, obgleich schon von Kant eingesehen war, daß eine durchgängige Bestimmtheit der Dinge allein postuliert, nicht als real angenommen werden darf, wenn synthetische Urteile gefällt werden können sollen. Die Korrespondenz von Anschauung und Begriff kann einzig in einer Logik geklärt werden, die den Widerspruch zwischen Anschauung und Begriff als ihr Proprium begreift. Allein in einer solchen Logik kann ein Begriff – ebenso Gottes wie des Menschen – formuliert werden, der, weil er weder aus Ableitungen hervorgeht noch als rein formale Forderung besteht, ein uneingeschränkt freier Begriff ist. Freiheit aber erweist sich im Aushalten des eigenen Unterschiedes, des Widerspruchs. Nur ein Begriff, der über seinen Widerspruch gewonnen wird, ist der Begriff eines Freien. Über einen solchen Begriff sind auch die Freiheit des Menschen und die Freiheit Gottes nicht mehr gegeneinander auszuspielen. Die hegelsche Begriffslogik bietet die Grammatik, in welcher die Aussage zu begreifen ist, daß der Mensch als Marionette Gottes frei sei. Wird die Freiheit des Menschen als Vollzug des göttlichen Absoluten begriffen, sind die Freiheit des Menschen und die Freiheit Gottes keine rivalisierenden Größen mehr.Wird Gott als der absolut mit sich Identische, Widerspruchslose verstanden, ist alles Andere eine Störung Gottes. „Dann ist nämlich so etwas wie Bewußt-Sein eine Sekundärerscheinung, ein Abfallprodukt des ganz und gar positiv Seienden. Es ist dann eine Umweltverschmutzung der Welt, das Karzinom der Erde. Es ist dann nicht Kind Gottes, sondern nur eine Einschränkung der omnitudo realitatis, was doch gerade die Definition alles als bestimmt angesehenen Wirklichen war, nicht eines Wirklichen, das von Gott gesprochen war.“ (SuB VI/2, 160.) Im Wirklichen, das von Gott gesprochen ist, d. i. in der sprachlichen Bewegung des Logos als Entfaltung des Absoluten spricht das Absolute sich aus, indem es den Menschen ausspricht bzw. spricht der Mensch das Absolute aus, indem er sich ausspricht. Die Freiheit des Subjekts innerhalb der Sprache als seines logischen Weltumgangs ist Aufweis der Freiheit des Absoluten. Freiheit generiert sich im Widerspruch: in der Endlichkeit des unendlichen Gottes und in der Unendlichkeit des endlichen Menschen. Beides besteht zusammen allein in der logischen Struktur der Sprache. Die sinnliche Artikulation vergeht im Moment, da sie ins Sein tritt. Ihr Vergehen ist ihr Aufgang in Bedeutung, in welcher sie bewahrt bleibt und wiederum ihr entsprechende
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Äußerungen hervorrufen kann. Sein und Begriff haben in der Sprache aneinander teil, evozieren sich gegenseitig. In dieser Methexis des Seins am Begriff, man kann ebenso sagen: des Konkreten am Allgemeinen, des Endlichen am Unendlichen ist in jedem Wort Transsubstantiation vollzogen. „In jeder Mitteilung geschieht die Transsubstantiation des Endlichen in die in ihm wohnende Unendlichkeit. Die Sprache ist nicht die noch seiende Grenze zwischen Realität und Idealität als zweier Welten, sondern das Hinausgehen des endlichen Organismus über sich selbst. Nur in diesem logischen Übergang teile ich dem Partner etwas mit. Die Sprache ist immer der Übergang eines Endlichen zu seiner Unendlichkeit.“ (SuB VI/1, 397.)²⁷⁷ Transsubstantiation ist auf den Flügeln der Sprache vollzogenes Denken. „Jeder ausgesprochene Satz sagt: Dieses, was ihr da zunächst als die Substanz des Brotes und des Weines vor euch seht, ist mein Leib und das für euch vergossene Blut, das ihr, wenn ihr es begriffen habt, als meinen Geist aufnehmen könnt, wenn ihr aus der Angst der geistig erblindeten Kinder der Welt der Positivität hinausgelangen wollt. Es ist kein Hokuspokus dabei, sondern nur die Erkenntnis davon, was des Menschen höchste Kraft ist, das Denken. Es ist das, was jeden Augenblick geschieht: die Übersetzung des organischen Weltumgangs der Menschen in den von Sprache und Bewußtsein. Darin liegt der philosophische Beweis dafür, daß der Mensch als Geist existiert. Dieser Beweis hat mit den Beweisen, die in der Welt der Positivität stattfinden, nur das gemeinsam, daß noch jene Beweise an die Grenze gelangen, an der sie ihren Beweisgrund, nämlich die Erfahrung der Wissenschaft selbst, als das zu Beweisende erstellen. Auch dieser Beweis erstellt seinen Grund als seinen Gegenstand: die menschliche Erfahrung dessen, was Denken ist. Der spekulative ‚Beweis‘ geht nicht in indefinitum.“ (A. a.O., 389.) Der Begriff ist nie anders als existierend, Existenz kommt ihm nicht als Eigenschaft zu. Der Begriff, der Logos ist der sich dialektisch bewegende Geist, von Liebrucks semiotisch anzudeuten versucht durch den Bindestrich im Wort Bewußt-Sein. Im Umkehrschluß gilt: Existenz ist immer begriffliche. Darin liegt begründet, daß sie begreifen kann. Zum Begreifen geht sie also nicht aus sich heraus (was sie nicht kann), sondern bleibt ganz bei sich selbst. Die Einheit von Sein und Begriff als Selbstentsprechung ist die Wahrheit des Subjekts. Seine Wahrheit ist dem Subjekt nie äußerlich, sonst wäre es nicht seine Wahrheit. Das Subjekt vollzieht seine Wahrheit selbst als Bewußt-Sein. „Das Wahre kann nur das Subjekt sein. Christlich heißt das: die Transsubstantiation des Subjekts des Satzes
277 „Die Analogie zum Abendmahl ist der Umweg, auf dem das gedacht wird, was keinen Augenblick nicht geschieht: die Transsubstantiation der Bewegungen unseres Organismus in Sprache und Bewußt-Sein.“ (SuB V, 303.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
in das Prädikat.Wie sich Kants Widerlegung der Gottesbeweise als Selbstreflexion der Vernunft artikulierte, wobei er den Existenzbegriff der absoluten Position auch für Gott beibehielt, so behielt er auch im Paralogismuskapitel den Existenzbegriff für das Subjekt als absolute Position, d. h. hier als Substanz, bei, obwohl er selbst ‚Substanz‘ als Grundsatz verstanden hatte. Wie Gott nur Idee in individuo, also Ideal nur in der Idee sein durfte, weil er im Grunde Substanz blieb, diese aber als Grundsatz für das Gebiet der Erscheinungen bereits in Anspruch genommen war, so blieb auch die Existenzform der Seele Substanz und konnte analog dazu nur als ‚Substanz in der Idee‘ angesehen werden.“ (A. a.O., 362.) Die Verschiebung der Wahrheit in ein der Erkenntnis transzendentes An-sich, an dessen Stelle das Postulat – eines moralischen Welturhebers, eines Urteilssubjekts – tritt, läßt die erfahrene Welt eine sich unaufhebbar entfremdete sein. In bezug auf das Subjekt bedeutet dies, daß ihm eine Selbstentsprechung immer verweigert sein wird, weil es keinen Begriff von sich haben kann, der nicht erst von ihm postuliert würde. Seine Setzungen sind aber immer schon weniger als der Mensch selbst. „Frage ich [..] nach dem Ich als einem bestimmten Objekt, so habe ich die Frage nach der Wahrheit von Ich schon aufgegeben. Denn die Objekte innerhalb der Welt der Objektivität sind unwahr, weil sie der Zubereitung zur Welt der Positivität unterworfen wurden, bevor nach ihrer Wahrheit gefragt wurde.“ (SuB VI/3, 502.) Liebrucks liegt daher an der Erinnerung daran, daß „der Begriff nicht etwas ist, was ich herstelle, sondern auf dem Grund meiner Existenz liegt […].“ Darin besteht „die uns Menschen mögliche Freiheit.“ (Vgl. Sinnfrage, 293.) Sie besteht darin, sich selbst zu entsprechen oder aber sich verfehlen zu können. Das setzt voraus, daß der Mensch seine Wahrheit in sich trägt. „Der absolute Geist hat den Menschen in seine Freiheit entlassen. Das heißt logisch, daß er als existierender Begriff auf dieser Welt lebt und leben soll. Diese Sollensforderung hat nur dann einen Sinn, wenn der Mensch frei ist, ihr nicht zu entsprechen.“ (SuB VI/2, 330.) Der Begriff des Begriffs,von dem hier die Rede ist, ist kein emphatischer wie in der alten Metaphysik und noch bei Kant, sondern ein dialektischer.²⁷⁸ Er ist menschlicher Begriff, bzw. wird der Mensch mit der Bezeichnung „existierender Begriff“ charakterisiert als das Wesen, dessen In-der-Welt-Sein sich in der Dialektik zwischen sinnlicher Erfahrung und intellektueller Erschließung vollzieht. Diese Dialektik wird semantisch ausgedrückt in dem Bindestrich, den Liebrucks zwischen die Wortbestandteile „Bewußt“ und „Sein“ setzt, um so zu verdeutlichen, daß das Wort „Bewußtsein“ keine Eigenschaft oder feststehende Größe 278 „Die transzendentale Reflexion Kants ist daher nur scheinbar die Reflexion der Reflexion. Er weißt nicht, daß die Reflexion nicht mehr Reflexion, sondern der menschliche Begriff als dialektischer und sprachlicher ist.“ (SuB IV, 682.) – „Wie der menschliche Begriff außerhalb des Begriffs der Welt der Positivität steht, so enthält er diesen doch in sich.“ (SuB V, 30.)
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bezeichnet. Erneut bemüht er eine metaphorische Ausdrucksweise: Das Bewußtsein „ist das Segel, mit dem das Schiff fährt, sofern der Wind Gottes hineinbläst. Daß die Bedingung der Möglichkeit zur Trennung von Idee und Ideal die Einheit von diesem Einzelnen da und der Allgemeinheit ist, das ist die Annahme des Hineinblasens des göttlichen Windes. Gott begegnet […] in einem Begriff.“ (SuB IV, 173.) Der Begriff als Segel: Er erzeugt seinen Sinn einzig, wenn er sowohl bei der Sache, als auch bei sich selbst bzw. dem ihn Aussprechenden oder Denkenden bleibt. Er muß aus sich herausgehen (zur Sache kommen), er darf aber nicht in der Sache aufgehen. Der Begriff ist also die Spannung, das Segel zwischen Sache und Idee, deren unablässig bestehende Korrespondenz. Nur in dieser Spannung bleiben Sache und Idee sowohl verbunden als auch unterschieden. (Vgl. a. a.O., 562.) So ist der Begriff Bewußt-Sein. Er „segelt“ auf dem Bindestrich des Ausdrucks Bewußt-Sein, dem Bindestrich, der die Bewegung der Sprache anzeigt.²⁷⁹ „Das Segel Sprache wird langsam aufgerollt. Erst wenn es ganz aufgerollt ist, bläst der Wind Gottes als günstiger Wind herein.“ (SuB VI/2, 265.) Das Bewußt-Sein ist Spannung, d. h. Unterscheidung von Denkendem und Gedachtem (Humboldt). „Es ist das aufgeblähte Segel, in das der Wind Gottes hineinbläst. Die Folge dieser Aufblähung ist, daß das Bewußt-Sein sich bewegt.“ (SuB V, 346.) Ist das Bewußt-Sein die sprachliche Einheit von sinnlicher Erfahrung und geistiger Reflexion, sind alle Dinge unserer Erfahrung immer schon innerhalb dieser Einheit von Sinn und Sinnlichkeit erfahren. In diesem Sinne sind sie uns nicht äußerlich, zumal die räumliche Vorstellung eines Innen und Außen dem Koordinationshandeln des Verstandes entspringt. Alle Erfahrung zeigt sich, immer schon vernünftig gewesen zu sein. Dementsprechend gibt es auch keine Chronologie von Erfahrung und Reflexion, von Ich und Außenwelt. Die Segelmetapher verwendet Liebrucks auch, indem er sie mit dem Bibelvers Joh 3, 8 verbindet: „Das Aufspannen der Gegenwart ist die Selbstentfaltung der Monade bis zu den Segelenden Bewußtheit und Sein. Der Mensch wäre nicht imstande, auch nur einen einzigen Gedanken zu denken, wenn in dieses Segel nicht der Wind Gottes bliese. Schon das Aufspannen des Segels bedarf jenes Windes, von dem wir nicht wissen, von wannen er kommt und wohin er fährt.“ (SuB IV, 291.)²⁸⁰ Der Wind, der das Segel Bewußt-Sein, den subjektiven Geist,
279 „Das Aufspannen des Segels Bewußt-Sein muß im Verbindungsstrich ausgesagt werden, weil wir in jeder Mitteilung des Gedankens schon an die positive untersprachliche Erscheinung seiner selbst gebunden sind.“ (SuB V, 386.) 280 „Im Begriff ist das Licht wie Gott, der immer in Kontinuität zu uns Menschen steht und doch um die Unendlichkeit der Transzendenz von uns unterschieden bleibt. Solange wir endliche, wenn auch schon existierende Begriffe sind, werden wir aus diesem logischen Dilemma
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
spannt, ist die Bewegung des absoluten Geistes, der Sprache, des Logos. In jedem Wort, das wir sprechen, ist der Logos ausgesprochen, in keinem Wort ist er eingefangen – er, der selbst das Wort ist. „Im Logos bleibt Gott der Wind, von dem wir nicht wissen, von wannen er kommt und wohin er fährt. Kein Philosophierender kann an dem Nachtgespräch des Herrn mit Nicodemus vorbeigehen, ohne auf der Stelle den Weg zur logischen Idiosynkrasie anzutreten. Wir erhalten uns wie die Arten am Leben im logisch-ideologischen Tun, das ein teleologisches ist. Aber es ist uns gesagt, daß wir keine Sorge darum haben sollen. Das ist nicht die Aufforderung zur logischen Ungenauigkeit, sondern zum logischen Hinhören auf den Unterschied zwischen dem teleologisch-ideologischen Status und dem Logos selbst.“ (A. a.O., 442.)²⁸¹ Dem Bild des göttlichen Windes, der den menschlichen Gedanken trägt, korrespondiert die Metapher der Taube, die im luftleeren Raume nicht zu fliegen vermag. Das Bild der Taube übernimmt Liebrucks indes von Kant, der es in der Kritik der reinen Vernunft verwendet, um spekulatives Denken, das reine, d. i. ohne Anschauung unterlegte Formen zu erkennen vermeint, zu kritisieren.²⁸² Liebrucks wendet dieses Motiv gegen Kant, indem er ihm unter-
nicht hinausgelangen. Als wirklicher Weltumgang lebt Ich immer in dieser Aufgespanntheit. Es ist nur als Marionette Gottes frei.“ (SuB VI/1, 469.) 281 „Der Geist weht, wo er will, und wir hören sein Sausen wohl, aber wir wissen nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt. […] Das dem Nicodemus in der Nacht gesprochene Wort ist auch heute noch das Wort, das in die Nacht unserer wissenschaftlichen Zeit scheint.“ (SuB VI/3, 591 f.) Vgl. SuB III, 619. 282 „Überdem, wenn man über den Kreis der Erfahrung hinaus ist, so ist man sicher, durch Erfahrung nicht widerlegt zu werden. Der Reiz, seine Erkenntnisse zu erweitern, ist so groß, daß man nur durch einen klaren Widerspruch, auf den man stößt, in seinem Fortschritte aufgehalten werden kann. Dieser aber kann vermieden werden, wenn man seine Erdichtungen nur behutsam macht, ohne daß sie deswegen weniger Erdichtungen bleiben. Die Mathematik gibt uns ein glänzendes Beispiel, wie weit wir es, unabhängig von der Erfahrung, in der Erkenntnis a priori bringen können. Nun beschäftigt sie sich zwar mit Gegenständen und Erkenntnissen bloß so weit, als sich solche in der Anschauung darstellen lassen. Aber dieser Umstand wird leicht übersehen, weil gedachte Anschauung selbst a priori gegeben werden kann, mithin von einem bloßen reinen Begriff kaum unterschieden wird. Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft eingenommen, sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Eben so verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Widerhalt, gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen, und woran er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen. Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Spekulation, ihr Gebäude so früh, wie möglich, fertig zu machen, und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gut gelegt sei.“ (Kant, KdV I, 50 f.)
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stellt, das Methexis-Problem im Grunde nicht anders zu lösen als Platon, dem von Kant ein logischer Höhenflug im luftleeren Raum vorgeworfen wird. Die Postulate der transzendentalen Logik fordern ebenso ein Vertrauen in strukturelle Zusammenhänge – sei es in der theoretischen oder in der praktischen Philosophie –, die reiner Notwendigkeit entspringend das Erscheinen der Gegenstände unter Gesetze stellen, von denen die transzendentale Logik sogar bekräftigt, sie würden dem An-sich der Dinge nicht kongruent sein. Notwendigkeit ist logisch blind, sofern sie die Identität dessen postuliert, das noch nicht erschienen ist. Entsprechen müssen sich Erscheinung und An-sich der Dinge aber doch, wenn die Gesetze der formallogisch zugänglich gemachten Welt (zumindest partiell) greifen sollen. Logisch „luftleer“ ist der Raum eines Denkens, das die Methexisfrage zu beantworten vernachlässigt. Dieser Vorwurf trifft Platon noch weniger als Kant; das von diesem beschriebene „Vernunftvermögen gleicht dem der Taube, zu glauben, sie könne im luftleeren Raum besser fliegen als in der Luft. Es ist nicht das Vermögen der Taube zu fliegen.“ (SuB IV, 92.) Allein Sprache vereint Identität und Nicht-Identität, allein in der Sprache kann etwas zugleich mit seinem Gegenteil gedacht werden und wirklich sein. „Sprache ist unentrinnbares Gefängnis des Denkens und zugleich die Luft, die die Taube trägt.“ (SuB I, 15.) Sprache ist das unendliche Gefängnis ohne Mauern. (SuB III, 436.) Sie hält den Menschen in sich gefangen, der außerhalb ihrer nicht wäre.²⁸³ „In der Sprache kreuzen sich wie im Menschen Individuum und Gemeinschaft, Gegenwart und Geschichte, Subjekt und Objekt, Einzelnes und Allgemeines. In diesen Verhältnissen sind Sprache und Mensch streng identisch.“ (SuB II, 179.) In diesen Verhältnissen sind Mensch und Sprache identisch, d. h. der Mensch ist nicht die Sprache, aber er ist nie anders als sprachlich in der Welt. Sprache ist keine autarke Größe; sie hat ihre Existenz im Menschen. Es gibt keinen menschlichen Weltumgang neben dem sprachlichen. Insofern können „Sprache und Mensch […] nicht identisch genug gedacht werden.“ (A. a.O., 185; SuB VI/3, 89.) In der ethischen Konsequenz bedeutet dies: Wer die Sprache auf einige ihrer Aspekte reduziert, reduziert damit den Menschen auf einige seiner Aspekte. Wer die Sprache und ihre Macht verkennt, verkennt den Menschen. Entsprachlichung ist Entmenschlichung.
Das Aufspannen des Segels Bewußtsein wird von Liebrucks mit dem von Leibniz geprägten Philosophem der logischen Entfaltung der Monade verbunden.²⁸⁴ Die Monade gilt Liebrucks als Paradebeispiel des In-sich-Seins, das zugleich immer schon bei der Welt ist, der Einheit von Einheit und Vielheit. Liebrucks interpretiert Leibniz hier anders als Hegel ihn verstanden hat (und wohl auch Leibniz‘ philosophische Intentionen überflügelnd) als Einheit von Realität und Idealität, der die Kraft zukommt, „die Vielheit der zukünftigen Gestalten in der Einheit des gegenwärtigen Seins an sich auszudrücken.“ (SuB VI/1, 415.) Die Monade ist eine Identität in Identität und Nicht-Identität: alle Bestimmungen in ihr sind zugleich aufgehobene. Mit dem Bild der „Falte“ nimmt Liebrucks außerdem die berühmte
283 „Steigen wir aus der Sprache und der Sprachlichkeit unseres Weltumganges heraus, so steigen wir aus uns selbst heraus.“ (Weltumgang, 43.) 284 Zur Applikation der Sprachphilosophie auf Leibniz‘ Monadologie vgl. SuB IV, insbes. 666 ff.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Erkenntnismetapher aus Leibniz‘ Monadologie auf, deren Ausdruckskraft und Einfluß auf die Barockkultur namentlich von Deleuze herausgearbeitet wurde. „Ist Denken die sprachliche Entfaltung der Falte der Monade in die Spannung Bewußtheit-Sein, – wobei Bewußtheit nur in Bezug auf ‚Sein‘, also nur als existierende Bewußtheit eine Bedeutung hat, Sein nur in Bezug auf Bewußtheit, also nur als gewußtes Sein eine Bedeutung hat – dann ist die Synthesis der Einheit der transzendentalen Apperzeption dasjenige Sekundärphänomen von Denken, in dem Denken nur noch in seiner Funktion der Zubereitung der Welt der Positivität gedacht wird.“ (SuB IV, 295.) Die von Leibniz „Monade“ genannte metaphysische Substanz, formal als unräumliche, ohne eine Wechselbeziehung zu ihrer Außenwelt habende Entelechie vorgestellt, bestimmt sich inhaltlich in unterschiedlichen Abstufungen von Vorstellung, Perzeption wie Apperzeption. Die Vorstellungsvorgänge gestalten sich als beständiges Glätten (oder Entfalten, d e v e l o p p e r ) der Falten (p l i s ) zu einer Art gespannten Leinwand. Liebrucks erkennt daher im Begriff „Monade“ ein Pendant zu seiner Rede vom Bewußt-Sein als dem sprachlichen Weltumgang. (Vgl. SuB VI/3, 510.) Die Monade ist die existierende Individualität, ansichseiende Einheit von Einheit und Vielheit. Die Faltung (r e p l i s ) der Außenwelt und Falten (p l i s ) der Monade sind nicht substanzhaft gedacht und kraft der Vorstellung verbunden. Hier mag der Anknüpfungspunkt für Liebrucks liegen, die Faltenmetapher für die Beschreibung der Gründung des Eigendaseins der Dinge in der sprachlichen Dialektik des Geistes heranzuziehen. Die Entsprechung von Faltung und Falte, ihr nicht-ontologisierendes Wechselspiel, das auf der Leinwand des Bewußt-Seins Gestalt gewinnt, erinnert an das Bild der schwingenden Klaviersaite, das von Humboldt zur Schilderung von Gedankenübertragung herangezogen wurde. Eindrücke werden nicht substanzhaft weitergegeben, sondern vermittelt. Als vermittelte sind Eindrücke Spuren eines sich selbst Abbildenden, werden jedoch zugleich nur unter der Gestalt sichtbar, die ihre Projektionsfläche zuläßt und verleiht. Die Faltenmetapher bringt die Spannung von Aktivität und Passivität sowie den Aspekt der spiegelnden Verfremdung in der Wiedergabe eines Eindrucks, die stets Gestaltung ist, zum Ausdruck: Die innere Seite einer Falte korrespondiert ihrer äußeren, sie ist deren Negativ. Realität und Idealität offenbaren hier ihre nie zu unterbindende und nie stagnierende Korrespondenz in der „Aufgespanntheit“, die im Spiegelstrich des Ausdrucks Bewußt-Sein angezeigt ist.²⁸⁵
285 „Nur fensterloses Bewußtsein kann sich mit fensterlosem Bewußtsein verbinden. Geschieht das bewußt, so haben wird das menschliche Bewußtsein mit dem Verbindungsglied Sprache, geschieht das unbewußt, so haben wir die Monaden als ansichseiendes Bewußtsein, als Perzeptionen, die durch ihr inneres Prinzip mit einander verbunden sind, wie ich auch im Sprechen und Hören mit dem Sprechpartner nicht äußerlich verbunden bin, sondern rein innerlich, indem
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IV. Der Umweg über den Nächsten: Anerkennung Gemäß der hegelschen Philosophie des Absoluten, die Liebrucks sich gleichsam als Muster seiner eigenen, sprachphilosophischen Ausführungen wählt, ist der Weg des Geistes immer ein Umweg.²⁸⁶ Der Umweg ist der logische Gang in den eigenen Unterschied, den zu denken das Unterscheiden des Denkenden und des Gedachten ist, d. i. ist die logische Struktur des Geistes, der seinen Selbstbezug im Bezug auf das Andere seiner selbst gewinnt. So denkt sich das Absolute im subjektiven Geist, so denkt sich das Subjekt im anderen Subjekt. Die Dialektik des Geistes zwischen Identität und Nicht-Identität ist Liebrucks zufolge die logische Struktur der Sprache. Geist ist „die sprachliche Bewegung des Menschen, die das, was sie ist, immer durch den Umweg über das jeweilige andere ist, das sie bedeutet […].“ (SuB II, 57.) In der Wendung, das jeweilig andere werde bedeutet, ist ausgesprochen, daß das Sein-beim-Anderen als sprachliche Vermittlung nie aus der semantischen Mehrstrahligkeit der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung herausgenommen ist. Eine Bedeutung teilt sich stets selbst mit, sie wird nicht verwendet wie ein Gegenstand, vielmehr werden, wo sie ausgesprochen ist, Entsprechungen ihrer erzeugt. Jedes Wort ist in diesem Sinne bedeutend, nicht in jeder Sprachform aber ist diese Grundfigur der Sprache auch angezeigt. In bezug auf den Menschen darf nie anders als bedeutend gesprochen werden, wenn sittlich von ihm gesprochen werden soll: in der Verallgemeinerung zur Menschheit stets das Individuum bedenkend. Nur ein Begriff, der das Begriffene auch bedeuten läßt, ist als konkret-allgemeiner Begriff ein sittlicher Begriff. Das unterscheidet ihn von allen wesentlichen Verallgemeinerungen. Vom lebendigen Menschen als sittlichem Subjekt ist nicht prinzipiell zu sprechen. Das e c c e h o m o wird in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, die der Logos ist, unablässig neu ersprochen. Das Subjekt spricht sich aus, indem es andere, ihm entsprechende Subjekte anspricht und von ihnen angesprochen wird. Anders als in diesem sprachlichen Verhältnis ist der Mensch nicht und hat er sich selbst nicht. „Man kann auf sich selbst nicht unmittelbar zeigen, sondern nur ich in mir die den zu mir herübergelangenden Schällen entsprechenden Bedeutungen erwecken können muß. Das ist distanzierte Verbindung zwischen den Monaden.“ (SuB IV, 680.) Eine Monade begegnet einer anderen, indem sie – ohne aus sich herauszugehen – mit der anderen spricht. So ist sie beim anderen bei sich. 286 Der Umweg zum Menschen ist also nicht das zu Vermeidende, sondern der einzige Weg zum Menschen. Mit dieser Lesart wendet sich Liebrucks gegen eine marxistische Hegel-Interpretation (Vgl. SuB III, 412.) – Zum Umweg des Selbstbewußtseins zu sich selbst über den Mitmenschen in religionsphilosophischer und psychologischer Sicht vgl. Ringleben, Joachim, Der Mitmensch bei Hegel und Freud, in: ders. (u. a.), Der Mit-Mensch in der Psychotherapie (1988), Bethel-Beiträge 37, 7– 27.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
durch die Vermittlung der Sprache. ‚Du sagst es‘ (Matthäus 26, 64).“ (SuB I, 443; vgl. a. a.O., 162.) Liebrucks zitiert das Verhör Jesu vor dem Synhedrium, um zu verdeutlichen, daß es der Andere ist, der uns zuspricht, daß wir ein Subjekt seien. Auf die Frage des Hohepriesters, ob er der Sohn Gottes sei, antwortet Jesus bei Matthäus²⁸⁷: „Du sagst es.“ Kind Gottes ist der Mensch in der logischen Selbsterschließung Gottes im Wort, das ein Subjekt an ein anderes Subjekt richtet. „Sprache und Bewußtsein sind niemals bei sich selbst bei sich selbst, sondern immer nur im jeweiligen Anderen. Sie sind, was sie sind, immer nur auf den Umwegen über ihre Complemente.“ (SuB II, 3.) Diesen Umweg gilt es im folgenden anhand des Motivs der Anerkennung sprachphilosophisch nachzuvollziehen. „Der Mensch findet sich nur auf dem Umweg über die Transzendenz seiner selbst.“ (SuB III, 616.) Der Mensch hat sich nur auf dem Umweg über das Absolute. Dieser Umweg ist der Weg der Sprache, der über den anderen Menschen verläuft. Die Logik des Absoluten, d. i. die Selbstentsprechung in der Selbstentäußerung an ein Anderes seiner selbst, ist die Logik menschlichen Weltumgangs als SubjektSubjekt-Objekt-Beziehung, in welcher das sprechende Subjekt beim anderen bei sich selbst ist. Die Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung wird in jeder sprachlichen Äußerung vollzogen. Auch in einem Selbstgespräch spreche ich ein menschliches Ich in mir an, sind meine Worte an ein menschliches Ich gerichtet, daß insofern allgemein ist, als es in allen Menschen vorausgesetzt wird: das sprechende Ich. „Es gibt keine logische Kategorie, die die Subjekt-Subjektbeziehung nicht schon vorausgesetzt hat.“ (SuB VI/1, 314.) Wir können in Denken und Handeln darüber entscheiden, ob wir diese intersubjektive Beziehung zur Geltung bringen oder nicht. Daran entscheidet sich die Sittlichkeit unseres Denkens und Handelns. Sittlich sind das Denken und Handeln, die Allgemeines und Besonderes in ihrer Reziprozität zum Ausdruck zu bringen vermögen. Das Besondere, das Subjekt, empfängt sich aus der logischen Bewegung des Allgemeinen, des Absoluten, das sich als logische Struktur der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung in Aufhebung von Allgemeinem und Absolutem vollzieht. Sittliches Denken und sittliche Handlung bringen also immer auch im Besonderen das Absolute zur Geltung. So ist Gott im Wort mitten unter uns. „Gott mag sich selbst auch ohne uns erkennen.“ (SuB VII, 712.) Unter den Endlichen aber ist er nur präsent, sofern sie ihn aussprechen, was sie mit jedem ihrer Worte tun. Dieser im bzw. als Wort präsente Gott ist der im Neuen Testament verkündete Logos. Liebrucks zitiert daher fast wortwörtlich Mt 18, 20. „Nur wo mindestens zwei im Namen von Christus vereinigt sind, ist überhaupt Bewußtsein auf dieser Erde.“ (SuB VII, 66.) Liebrucks versieht sein indirektes Bibelzitat mit einem nachdrücklichen Zusatz: „Hier wird nicht etwas
287 Anders bei Markus (Mk 14, 62): Hier spricht Jesus sich selbst als Sohn Gottes aus.
F. Vom Gottesbegriff zum Subjektbegriff
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gläubig hingenommen, sondern von ihm deshalb gesprochen, weil es sprachlich logisch durchdacht ist.“ (Ebd.) Der Gang Gottes zu den Menschen ist die logische Selbstunterscheidung des absoluten in den subjektiven Geist, dessen Teilhabe an der Logik des Absoluten der Gang des Menschen zu Gott ist. „Der Mensch gelangt aber zu sich selbst […] nur auf dem Umweg über Gott […]. Der Mensch ist nicht in sich selbst in sich, sondern nur in Gott. Dieser Gott ist als Logos menschengewordener Gott. Indem ich den Menschen als Vernunftwesen konzipiere, habe ich ihn schon mitkonzipiert.“ (SuB III, 368.) Gott und Mensch sind jeweils in ihrem Anderen bei sich.²⁸⁸ Sie sind dies im Logos, d. i. der Vernunft, die Sprache ist. Das Beim-Anderen-bei-sich-selbst-Sein als Selbstentsprechung in der Selbsttranszendierung läßt sich ebenfalls mit dem Begriff der Anerkennung umschreiben. (Vgl. SuB I, 307, vgl. SuB IV, 272.)²⁸⁹ Liebrucks selbst prägt für diesen Anerkennungsprozeß den Terminus „Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung“. Im Gegensatz zu dieser sprachlichen Konstitution des Subjekts in der Anrede an und im Angesprochen-Werden durch das andere Subjekt ist das formale Ich-Prinzip Postulat eines Ichs, das dem Menschen zukommt, bevor er spricht. (Vgl. SuB IV, 312.) Diese Vorstellung von Ich steht deutlich im Widerspruch zur Auffassung der Konstitution des menschlichen Ichs, das im Umgang mit Welt und in der Beziehung zu anderen menschlichen Subjekten, die es ihrerseits als Ich erkennt, als Ich angesprochen ist. „Die Anerkennung als Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit der Existenz von Ich ist Anerkennung durch Sprache.“ (SuB V, 34.) Indem ein Subjekt mit dem anderen spricht, hat es anerkannt, daß dieses andere ein sich selbst entsprechendes Subjekt ist.Wird es von diesem Subjekt angesprochen, ist es dadurch selbst als ein dem anderen sprechenden Subjekt korrespondierendes
288 „Gott und Mensch können nicht in abstrakter Geschiedenheit begriffen werden, ja, nicht einmal die menschlichen Individuen untereinander.“ (SuB I, 230.) Folglich ist „[a]lle Göttlichkeit [..] in der Erfahrung menschlichen Daseins gegeben oder überhaupt nicht.“ (SuB II, 230.) 289 Die Anerkennungsfigur ist wiederum von Hegel übernommen (vgl. Hegel, PhG, 129 ff.), desgleichen findet sie sich bei Humboldt: „Im Menschen ist aber das Denken wesentlich an gesellschaftliches Daseyn gebunden, und der Mensch bedarf, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungsbeziehungen, zum blossen Denken eines dem Ich entsprechenden Du. […] Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber ist die einzige Vermittlerin die Sprache, und so entsteht auch hier ihre Notwendigkeit zur Vollendung des Gedanken. Es liegt aber auch in der Sprache selbst ein unabänderlicher Dualismus, und alles Sprechen ist auf Anrede und Erwiederung gestellt. Das Wort ist kein Gegenstand, vielmehr den Gegenständen gegenüber etwas Subjectives, dennoch soll es im Geiste des Denkenden ein Object, von ihm erzeugt und auf ihn zurückwirkend werden.“ (Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (1963), 201.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
anerkannt.²⁹⁰ „Menschliches Denken ist die ständige Bewegung des Übergehens vom Sprachfeld in das Erfahrungsfeld und umgekehrt […] Jeder denkende Mensch muß sein Denken als existierendes Denken ansehen. Diese Existenz ist von aller Substanz innerhalb der Welt der Erscheinungen dadurch unterschieden, daß es in zugleich strenger Identität und Nichtidentität mit allen anderen denkenden Existenzen angesehen werden muß.“ (SuB IV, 259.) Menschliche Subjekte bilden sich nur aneinander aus, nicht an ihren Objekten. ²⁹¹ Erst wenn sie mit einem anderen Subjekt über ein Objekt reden, ist in diesem Gespräch die logische Bewegung der Entäußerung und Rückkehr des Geistes zu sich selbst vollzogen. Nicht so in der Subjekt-Objekt-Beziehung. Das Objekt kann das ihn bestimmende Subjekt nicht anerkennen. In der Subjekt-Objekt-Beziehung ist das Subjekt nicht von einem ihm Entsprechenden angesprochen; es ist daher nicht als menschliches Subjekt konstituiert, sondern als Urteilssubjekt. Der Mensch verhält sich immer zugleich zu den Dingen und darin zu sich selbst. Die Erfahrung des eigenen Selbst und der Welt sind damit untrennbar verbunden: Behandle ich die Welt ausschließlich technisch-praktisch, verstehe ich mich selbst auch in diesem Sinne. „Der Mensch formt sein eigenes Leben, indem er das Leben nicht direkt gestaltet, sondern auf dem Umweg über die Gestaltung seiner Umgebung.“ (SuB III, 313.) Die Weltgestaltung des Menschen ist Antwort auf die ihm begegnende Welt. Je nachdem, wie seine Antworten (und Fragen) ausfallen, positioniert er sich selbst in der Welt. In Religion, Mythos und Kunst befreite sich der Mensch von der andringenden Welt, indem er sich nicht polemisch dieser entgegenstellt, sondern sie sich zum Partner macht, zum Gesprächspartner. In Ritus, Kult und künstlerischer Darstellung eignet sich der Mensch Welt an, in formaler Logik schiebt er sie vor sich her. (Vgl. SuB III, 561.) Ich und Du sind keine feststehenden Größen. Selbst wenn man sie als Beziehungsgrößen bezeichnet, darf man sie sich nicht als eindeutig umrissene Relate einer Beziehungsbewegung vorstellen, die wie in einem Baukastensystem die dritte Größe ist. „Die Hypostasierung von Verhältnisbegriffen wie Ich und Du hat seine Zeit gebraucht. Heute erkennen wir ihren Hypothesencharakter.“ (SuB II, 353.) Ich und Du als Eckpunkte der semantischen Relation sind nur in Beziehung, was sie sind: Ein Ich bezieht sich über den Umweg eines Du auf sich. In dem sich gegenüberstehenden Ich erkennt man sich selbst. Ein Du ist Du, indem es auf ein
290 „Im Sprechen erhalte ich mich als dieses Selbst. Ich werde darin erst dieses Selbst, indem ich dieses Selbst dem anderen hergebe. […] Um die Erhaltung des Selbst brauche ich keine Sorge zu haben. Ich spreche, also bin ich, aber als durch den Partner Anerkannter.“ (A. a.O., 255.) 291 Das Sich-selbst-Gestalt-Werden des Selbstbewußtseins im anderen Selbstbewußtsein beschreibt Hegel in PhG, 139 wie folgt: „Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein.“
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Ich bezogen wird. Ein Du ist ein Gegenüber, das man als das anerkennt, was man selbst ist: ein Ich. Die Anerkennung durch das Du macht ein Ich zum Ich. „Die Identität vom Ich-Du sowohl im Ich wie im Du ist die Bedingung des Gesprächs.“ (A. a.O., 350.) Ich und Du sind nur im Sprechen, im sprachlichen Bewußtsein wahrnehm- und erkennbar. „Daß Ich den Fremden als Du sieht, dazu ist nicht weniger notwendig als die Identifizierung mit ihm, die unmittelbarste Form der Verallgemeinerung.“ (A. a.O., 191.) Ich konstituiert sich durch ein anderes Ich, von dem es anerkannt wird. Demgemäß umschreibt Liebrucks die Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, die der sprachliche Weltumgang ist, auch als „seiendes Setzen“ einer Bestimmtheit an ihm selbst. (Vgl. SuB VI/1, 343.) Das Ich setzt sich nicht erst als solches (Fichte), sondern erfährt sich immer schon als solches. Ein Setzen des Ichs hat zur Voraussetzung, daß es schon Ich, also eine mit sich identische Einheit ist. Setzungen können nur von einer Identität ausgehen, sofern sie Eindeutigkeit und Konsistenz verlangen: Setzung ist Kontingenzbewältigung. Ein Ich ist also nie allein durch sich selbst gesetzt: „1. Das x, das wir Mensch nennen, hat sich sprachlich zu Ich gemacht. 2. Es wird als dieses Ich von allen anderen Menschen, die sich gleichfalls als Ich verstehen und darin Ich sind, anerkannt. Es wird an dem wahrgenommenem Leib ein Ich erkannt. Der Leib wird nicht nur als Leib, sondern als Ich anerkannt. 3. Schon im einsamen Denken, das sprachlich ist, ist die dauernde Einheit von 1 und 2 vorausgesetzt.“ (SuB III, 516.) In ihrem Moment der Kontingenzbewältigung durch Sinnvermittlung setzt Sprache ebenso Identität voraus wie sie Identität schafft. Im angeführten Zitat erscheint zudem die unauflösbare sprachliche Einheit von Individuum und Gesellschaft: Kein Ich kann es geben, ohne als von anderen unterschieden erst als Ich, als Individuum erkennbar sein zu können. Ich weiß um sich in der Konfrontation mit anderen. „Jede Macht ohne Opposition ist Ohnmacht. Das Individuum als nur seiendes, als nur positives Ding ist – nichts. Das Unmittelbare als nicht zu vermittelndes ist – nichts. Interne logische Relationen sind als nur interne ebenso nichts,weil Formlosigkeiten, wie ein der Logik transzendent sein sollendes Externes.“ (SuB VI/1, 329.) Ich ist ein Ich in Anerkennung durch die Anderen. Diese Anerkennung ist keine zu leistende, sondern immer schon sprachlich vollzogene. Jeder Sprechende erkennt den oder die Angesprochenen als ein eben solches Ich an, wie er es selbst von sich annehmen muß. Die Anerkennung als Ich ereignet sich im Ansprechen als Annahme, der Andere sei ebenso sprachliches Wesen wie man selbst und dadurch ansprechbar, zum Gespräch fähig. Sinnlich wahrnehmbar ist dieses Ich in seiner leiblichen Präsenz. Die Identifikation als Ich ist keine der körperlichen Erscheinung zusätzlich zukommende oder nachträglich zugeschriebene. Ich ist nie anders als leiblich zugegen, ein Leib nie anders wahrgenommen denn als leibliches Ich. Eigenständige Setzung und erfahrene Anerkennung – in dieser Zusammen-
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schau erkennt man die in Aufnahme Humboldts immer wieder von Liebrucks betonte Einheit von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, welche den sprachlichen Weltumgang des Menschen kennzeichnet. Sprache selbst ist diese Einheit von Setzung und Anerkennung, die sich daher nicht erst und ausschließlich in explizitem Dialog zweier Menschen ereignet, sondern im sprachlichen Weltumgang überhaupt, von dem der Mensch nie absehen kann. „[W]o ich auch bewußtseinsmäßig hingelange, Gott und Ich habe ich immer schon im Rücken.“ (SuB IV, 276.) Aber „[w]ir anerkennen die Dinge nicht als die, die sie sind, bevor wir unsere Angelegenheiten mit unserem Nächsten in die menschliche Ordnung gebracht haben, die die Ordnung des amor intellectualis dei ist.“ (SuB VI/1, 314.) Liebrucks greift hier zurück auf ein Theorem Spinozas.²⁹² Die geistige Liebe zu Gott entspringt der adäquaten Erkenntnis des ewigen und unendlichen Seins Gottes. S u b s p e c i e a e t e r n i t a t i s erkennt sich der Mensch als Teil Gottes, als konkrete Modifikation der einen Substanz. Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis des Menschen fallen zusammen. Die im a m o r in t e l l e c t u a l i s d e i erfolgende Kongruenz von Affekt und Erkenntnis bildet die Spitzenaussage der Ethik Spinozas: Liebe tritt an die Stelle der Affekte. Unkenntnis über Affekte liefert uns ihnen aus. Spinoza formuliert daher ein Tugendideal der Freiheit bedeutenden Leidenschaftslosigkeit. Das als solches allen Menschen gemeinsame s u m m u m b o n u m ist die Vervollkommnung der Vernunft, in welcher sich die Selbstverwirklichung des Menschen als Vernunftwesen erfüllt. Ist Gotteserkenntnis gleichbedeutend mit menschlicher Selbsterkenntnis, so ist die Gottesliebe des Menschen Selbstliebe Gottes in dessen Modifikationen. Dieser Gedanke Spinozas flankiert Liebrucks’ Darlegung des Zu-sich-Kommens des Absoluten in seinen Konkretionen, das er ebenfalls als Liebe benennt.
„Gegenseitige Anerkennung üben heißt vernünftig sprechen und im Rahmen dieses vernünftigen Sprechens sprachlich handeln. Dabei ist schon das Wort ‚Rahmen‘ eine Verwesentlichung der Sphäre zwischen Menschen und Menschen. Bleibt es bei dieser Verwesentlichung, so haben die Dinge selbst keine Aura. Wir sind dann über sie, die ihr Sein in der Vernunft haben, nur verständigt.“ (SuB VI/1, 325.) In der Vernunft sind die Dinge und ist auch der Mensch stets gegenständlich und ungegenständlich zugleich, in diesem Sinne aber transzendent-immanent. Zugleich Gegenstand und übergegenständlich, Sein und Begriff ist ein Ding, ist ein Subjekt allein in der Vernunft als Sprache, welche gegenständliches Sein und begriffliche Übergegenständlichkeit zu ihren Momenten hat. Unter dem Sprachblick erscheinen die Dinge in diesem Zugleich, das sie als ihre Bedeutung wie eine
292 Spinoza, Baruch de, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Sämtliche Werke, Bd. 2., übers., hg. u. mit einer Einleitung vers. v. Bartuschat, Wolfgang, durchges. u. verb. Aufl., Hamburg 2007, vgl. bes. V, prop.
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Aura umgibt. Das Eigendasein der Dinge in der Sprache ist ein unablässiges Oszillieren zwischen Sein und Begriff, das sich in jeder sprachlichen Äußerung als Logik des Logos selbst ausspricht. Jeglicher Laut erstirbt in dem Moment, da er ins Sein geboren wird. Jede Äußerung ist im selben Augenblick in die Wirklichkeit geboren und schon verstrichen. Das Aussprechen des Wortes „jetzt“ hängt dem damit bedeuteten Zeitpunkt bereits hinterher. Das konkret Vergangene ist jedoch aufbewahrt, da es in die Allgemeinheit des Logos, der Sprache, aufgenommen wurde. In jedem Wort, das wir sprechen, sind sämtliche Erfahrungen und Schöpfungen aller Menschen, sind alle möglichen und wirklichen Entwicklungen bewahrt und präsent. Das einzelne (Sprach‐)Ereignis ersteht in seinem Eingehen in die Allgemeinheit der Sprache auf zu seiner Bedeutung. Eine Bedeutung liegt nicht in einem Ereignis selbst, sie wird im Erzählen von diesem Ereignis geboren. (Vgl. SuB I, 143.) Die Bedeutung liegt nicht im Gegenstand, sondern im Wort. Die Bedeutung vermittelt den Gegenstand innerhalb eines konkreten, geschichtlichen, gesellschaftlichen Kontextes. Man versteht eine Bedeutung, indem man eine entsprechende Erfahrung in sich nachahmt oder erinnert, auf die jene Bedeutung verweist. Eine Bedeutung wandelt sich geschichtlich, indem sie auf das verweist, dessen übersinnliche Aufhebung sie ist. In diesem Erzeugen des Begriffs im Sein und des Seins im Begriff erweist sich die Bedeutung als Grundkategorie aller sprachlichen Äußerung. Eine Bedeutung bildet ein Ereignis nicht ab, sie spricht es andeutend aus und gewährt Spielraum für ihre Weiterentwicklung. Bedeutung ist wie ein Horizont, in dem das Bedeutete erscheint. Durch ihre Mehrstrahligkeit verweist eine Bedeutung auf das Ganze der Sprache, indem sie auf das vergangene Einzelereignis verweist, aus dem sie hervorging und zugleich eine Mannigfaltigkeit an dem Sprachursprung entsprechenden Deutungen zuläßt. In der Bedeutung ist die konkrete Situation in das Bewußtsein aufgehoben, das Konkret-Allgemeine, dessen logische Struktur die Sprache ist. Im Konkret-Allgemeinen der Sprache erst kann eine Situation als konkret und individuell, somit als unterscheid- und vergleichbar erscheinen. Sprache hält als Er-Innerung, als Einholen des Ereignisses in das Bewußtsein²⁹³,Vergangenes präsent, das uns gewisse zukünftige Ereignisse
293 „Aber Erinnerung hat auch einen anderen Sinn, den die Etymologie gibt, den: Sich-innerlich-machen, Insichgehen; dies ist der tiefe Gedankensinn des Worts. In diesem Sinne kann man sagen, daß das Erkennen des Allgemeinen nichts sei als eine Erinnerung, ein Insichgehen, daß wir das, was zunächst in äußerlicher Weise sich zeigt, bestimmt ist als ein Mannigfaltiges, – daß wir dies zu einem Innerlichen machen, zu einem Allgemeinen dadurch, daß wir in uns selbst gehen, so unser Inneres zum Bewußtsein bringen.“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte II, Theorie-Werkausgabe, Bd. 19, hg.v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt a. M. 1971, 44 f.) Vgl. Theunissen, Michael, Reichweite und Grenzen der Erinnerung, hg.v. Herms, Eilert, Tübingen 2001.
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erwarten läßt. (Vgl. SuB I, 71.) In seiner sprachlichen Struktur ist das Bewußtsein ebenso über die Zeit erhaben, wie es selbst in den Lauf der Zeit eintaucht. In der Sprache erzeugen sich m e m o r i a und e x p e c t a t i o wechselseitig. Sprache ist konspektiv. In ihr sind wir daher über Zeit erhaben.Vergangenes kann ebenso wie Zukünftiges vergegenwärtigt werden. Insofern ist der Mensch in der Sprache unsterblich, vergehen seine Artikulationen auch in dem Moment, da sie geboren werden. Diese Unendlichkeit des Endlichen, die Transzendenz am Menschen zu zeigen, ist die Aufgabe der Nachkriegsphilosophie des 20. Jahrhunderts, die Liebrucks unter dem Eindruck der Greueltaten des nationalsozialistischen Regimes formuliert als Antwort auf die Frage, wie einer Entmenschlichung entgegengewirkt werden kann. Man muß den Menschen der bloßen Verfügbarkeit und der Uniformierung entziehen, um endlich mit Kants Formulierung des kategorischen Imperativs ernstzumachen, welche die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen zu beachten einfordert. Das Gegenstück zum direkten Zugriff auf den zum Gegenstand degradierten Menschen ist der Weg zum Individuum als Umweg über den Nächsten. Auf diesem Umweg der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung ist der Mensch transzendent-immanent. Allein in der Sprache ist das Endliche zugleich unendlich. „Die aktuale Unendlichkeit ist nicht die der Mathematik mögliche, sondern die des menschlich-endlichen Begriffs.“ (SuB VI/2, 444.) Die aktuale Unendlichkeit ist nur in der Aufhebung von Substantialität und Subjektivität. Diese Aufhebung ist – nicht als Sentiment, sondern als höchste dialektische Kategorie – die Liebe. „[Z]wei Menschen können sich so lieben, daß sie in dieser Liebe zugleich die Liebe Gottes erfahren.“ (SuB VI/1, 93.) Die Liebe ist kein Sentiment, sondern das grundlegende Strukturmoment der Wirklichkeit: der Dialektik. (Vgl. SuB VI/3, 373.) Die Logik der Liebe ist die Struktur der Logik überhaupt. Das Beim-Anderen-bei-sich-selbst-Sein wird von Liebrucks als erfülltes Doppelgebot der Liebe begriffen: Im Nächsten Gott zu lieben ist das Aussprechen des Logos, wo immer ein Subjekt ein Wort an ein anderes Subjekt richtet.²⁹⁴ „Jedes Wort ist Ausdruck der Liebe zum Nächsten, welches die Liebe zum Vater ist, der nicht als ein Herrscher über den Wolken thront, sondern immer zugleich als Christus unter uns ist. Seit der Hegelschen Logik glauben wir das nicht nur, sondern haben den logischen Status erkannt, in dem es, wenn auch unter neuen Vokabeln, so ist.“ (SuB VII, 683.) Diesen neuen Vokabeln – der Geistphilosophie Hegels – verleiht Liebrucks wiederum eine neue Übersetzung, indem er sprachphilosophisch die Gegenwart des Absoluten als vom menschlichen Bewußt-Sein 294 Im doppelten Liebesgebot formuliert sich „die Ansicht von der Verbundenheit des Menschen mit Gott – die die Verbundenheit mit seinem Nächsten, also auch die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß Verstand ‚stattfindet‘ – das menschliche Erkennen und Denken als sprachlich zu begreifen anfängt.“ (SuB V, 347.)
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ersprochene Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung umschreibt. „Mein Umgang mit dem anderen Menschen entscheidet immer über die Weise, in der Gott für mich wirklich ist.“ (SuB I, 306.) Liebrucks spricht nicht davon, daß meine Gottesauffassung über mein zwischenmenschliches Verhalten entscheidet. Der Mensch ist nie anders als sprachlich in der Welt, d. h. er hat immer schon mit dem anderen Menschen Umgang in seinem Weltumgang, der als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung Sprache ist. Was als Bindestriche in dem Ausdruck Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung angezeigt ist, ist das Absolute als Logos. Das Absolute wird somit in jedem Wort des Menschen ausgesprochen. Diese Einsicht ist laut Liebrucks unabhängig von der Verkündigung der christlichen Botschaft im Gewissen unmittelbar präsent, welches weiß, „daß es selbst nur im Umgang mit dem Nächsten ist.“ (SuB V, 250.)²⁹⁵ Das Bewußtsein weiß um die Konstituierung des Menschen im Anderen „nicht in der entfremdeten Gestalt einer Nachricht davon, was ein sogenannter Religionsstifter vor zweitausend Jahren ausgesprochen hat. Es weiß dieses als es selbst.“ (A. a.O., 250.) Liebrucks spricht hier von dem zur Erkenntnis seiner Sprachlichkeit gelangten Bewußtsein, das „nur dadurch bei sich selbst ist, daß es darin zugleich bei dem Nächsten und bei der Sache ist. […] Es weiß, daß die Nächstenliebe die Liebe Gottes zum Menschen und die Liebe des Menschen zu Gott ist. Es weiß, das der absolute Geist im menschlichen Individuum und nicht in den Engeln, die nur als infimae species anzusehen sind (Thomas von Aquino), zu sich selbst gelangt.“ (Ebd.) Der Mensch ist immer zugleich für sich wie für andere. Er kann für andere nur sein, indem er für sich ist. Er kann für sich nur sein, indem er für andere, bei anderen ist. Das ist die dialektisch-logische Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung der Sprache. „Von da ab ist schon Metaphysik nötig, um wieder denken zu lernen, daß Ich nicht einfache Existenz ist, sondern existierender Begriff, also zum mindesten existierendes Verhältnis.“ (SuB II, 354.) Das menschliche Ich ist sowenig Substanz wie Gott. (Vgl. a. a.O., 354.) Die wechselseitige logische Anerkennung der Subjekte in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung ist nicht die Einwirkung einer Substanz auf eine andere. „Die Wechselwirkung besteht darin, daß etwas zugleich Ursache und Wirkung ist.“ (SuB VI/2, 444.) Das Subjekt konstituiert und empfängt sich in der Hingabe an seinen eigenen Unterschied, in dem es auf sich bezogen bleibt. Sein Selbstbezug erscheint logisch erst in der Selbstunterscheidung. Ursache und Wirkung zugleich, Allgemeines und Besonderes ist das Subjekt nicht als c a u s a s u i , weil es sich nicht ohne die Entäußerung an ein Anderes seiner selbst be295 Da es hier um die Anerkennungsfigur geht und Liebrucks eine ausführliche Besprechung seines eigenen Verständnisses von „Gewissen“ vermissen läßt, wage ich es, auf eine nähere Ausführung dieses theologisch zweifelsohne bedenkenswerten Begriffs zu verzichten. Zu Liebrucks‘ Auslegung des hegelschen Gewissenbegriffs vgl. a. a.O., 245 ff.
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greifen kann. Er ist Ursache und Wirkung zugleich, weil der Begriff sich von sich entfremdet, um logisch zu sich zurückzukehren und in dieser unablässigen Dialektik Selbstentsprechung ist: eine sich permanent von sich weg auf sich zu bewegende Sichselbstgleichheit des Geistes, die sich nur über ihren eigenen Widerspruch hat. Die Selbstentsprechung steht der aristotelischen Definition von Identität als „A = A“ entgegen. Sich zu entsprechen, bedeutet, den eigenen Begriff auf mannigfaltige Weise zur Geltung zu bringen. Daher kann man auf den Menschen als Person, d. i. das individuelle Subjekt der Sittlichkeit, nicht direkt zeigen. (Vgl. SuB III, 516.) Der existierende Begriff kann nur der sich selbst entsprechende Begriff sein, kein statisches Prinzip. Nur der sich selbst entsprechende ist der lebendige, existierende Begriff: der menschliche Begriff. Der Mensch spricht so in jedem seiner Worte zugleich das Wort, die Logik des Absoluten, welche die Logik seines Weltumgangs ist, und sich selbst aus. Der existierende Begriff ist Entsprechung des Absoluten, des Begriffs des Begriffs, der im logischen Weltumgang des Menschen die Existenz als eines seiner Momente in sich aufhebt. Der existierende Begriff ist zugleich das Selbstbegreifen der allgemeinen Menschheit in den konkret existierenden Menschen. Der Ausdruck „Entsprechung“ zeigt noch an, daß die Methexis der Existenz am Begriff und des Begriffs an der Existenz in der Logik der Sprache vollzogen ist. „Die Sprachlichkeit des menschlichen Weltumgangs ist seine Logizität. Diese Logizität ist nicht von der Mathematik, sondern von der Sprache her zu gewinnen, wie noch die Mathematik von ihr her gewonnen wurde. […] Der Zusammenhang der Welt ist ansichseiender Erkenntniszusammenhang, der im menschlichen Begriff zum Fürsichsein gelangt. So ist der Organismus ansichseiende Sprache. Diese Weltansicht endet in der höchsten Kategorie der Hegelschen Logik, der Entsprechung.“ (SuB VI/1, 151.)²⁹⁶ In dieser logischen Kategorie der Entsprechung fallen Bewußtsein, Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand zusammen. Die Kategorie der Entsprechung referenziert somit die dialektische Kategorie des Anundfürsichseins, das die logischen Momente der dialektischen Genese – Ansichsein und Fürsichsein – in sich aufhebt. Das Ansichsein ist das Unmittelbare, das sich nicht mitteilt. Seine Unterschiedenheit von anderem sieht es selbst nicht, da es sich nicht in Beziehung setzt; sie ist nur erkennbar für den es Betrachtenden. Das Ansichsein ist das unmittelbare Sein, ein Sein ohne Nichtsein. Es ist noch untersprachlich, sofern es sein Anderes nicht als Moment seiner Begriffsidentität in sich trägt. Das Ansichsein ist noch nicht in die dialektische Entzweiung hinausgetreten. Erst das Fürsichsein
296 Die Bemerkung über die Logizität der Mathematik ist in Richtung Wittgensteins ausgesprochen, der Sprache als Zeichensystem darstellt. Zu Liebrucks‘ Auseinandersetzung mit Wittgenstein vgl. Band VI/1 von Sprache und Bewußtsein.
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wagt es, in die dialektische Entfremdung hinauszutreten und ist insofern bereits beim Anderen bei sich selbst. (Vgl. SuB III, 34.) Es ist in den Unterschied getreten, den es nur am Anderen hat. Es begreift jedoch nicht das Unterscheiden des Unterschiedenen als Bewegung seines Bewußtseins als Bewußt-Sein, d. h. es hat das Unterscheiden nicht als Moment des eigenen Begriffs erkannt. Das Fürsichsein hat noch nicht den Widerspruch in sich aufgehoben. Bewußtsein als Fürsichsein erkennt das Ansichsein des Anderen (an), es ist aber kein Bewußtsein davon, daß dieses Ansichsein nur eines für das Fürsichsein ist, daß beide nur innerhalb der sprachlichen Beziehung sowohl an als auch für sich sind, als solche nur in der Sprache ein Eigendasein haben. Das Fürsichsein hat das Ansichsein schon in sich aufgehoben; es ist eine Überwindungsstufe. Es ist diese aber erst im Sein, noch nicht im Denken. Das Fürsichsein ist der Bewußtseinsstatus des formallogischen Urteilssubjekts, das seinen Weltumgang als Subjekt-Objekt-Beziehung vollzieht. In diesem Status behauptet sich das Subjekt gegen sein Anderes, nicht über sein Anderes. Fürsichsein ist Negativität, weil es nicht bei sich bleibt (erste Negation). Anundfürsichsein ist zweite Negation, in welcher erkannt ist, daß, da Negation immer ein Abstoßen von sich selbst ist, das Negierende im Abstoßen bei sich bleibt. Negation ist ein Beziehungsbegriff: Negation von etwas zu etwas. Es handelt sich hierbei um eine logische Bewegung, die ihren Grund und ihr Ziel immer zugleich in sich trägt. Ansichsein ist Unmittelbarkeit, Fürsichsein Vermittlung. Das Auseinanderhalten beider ist künstlich, ein Zugeständnis an das begrenzte Vorstellungsvermögen des Verstandes. Erst vernünftig gedacht – und für Liebrucks impliziert dies im Rückgriff auf Hamann, daß zugleich sprachlich gedacht ist –, erschließt sich im Denken des Denkens die Einheit von Vermittlung und Unmittelbarkeit, welche von Hegel als Anundfürsichsein benannt ist. Das Anundfürsichsein ist die vollendete Geistbewegung des Absoluten. Anundfürsichsein ist der hegelsche Ausdruck für den Begriff des „Umwegs“, den man häufig bei Liebrucks findet. „Beim Anderen bei sich selbst zu sein“ ist eine alternative Formulierung für „Anundfürsichsein“. Ein Fürsichsein stellt ein Gegenüber als Ansichsein vor und erkennt darin sich selbst als ein ebensolches Ansichsein an. Das ist die Grundgestalt der Sprache, die als Gestalt gegenständlich und nichtgegenständlich zugleich ist: Sein und Begriff, unmittelbar und vermittelt. „Nur nachdem der Gegenstand in Ich aufgehoben ist, hat es An- und Fürsichsein. Dieses Ich ist als Begriff Weltumgang, weil es nicht mehr wesentlich, nicht mehr idealistisch ist.“ (SuB VI/3, 171.) Der Gegenstand wird aus dem Sein in die Idealität gehoben, vom Besonderen (Sein) ins Allgemeine (Begriff), aus dem er seine Besonderheit als solche empfängt und daher ebenso in diesem bewahrt sieht. Im Begriff ist der Gegenstand zugleich vom Begriff unabhängig (Identität von Identität und Nicht-Identität). Mit dem Ausdruck „Umweg“ ist die holistische Bewußtseinstheorie Hegels ins Bild gesetzt: Alles ist im Bewußtsein, selbst das Andere
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des Bewußtseins. Bewußtsein ist Synthese von Unterscheidung und Identität. Bewußtsein ist bei seinem Gegenstand bei sich selbst, es ist immer Bewußtsein von etwas. Eben dies drückt sich in der Schreibweise „Bewußt-Sein“ aus, welche die Dialektik von Bewußtheit und Existenz bedeutet. Beides kann nicht getrennt werden. Das Bewußtsein bezieht sich auf etwas, das es dabei zugleich von sich unterscheidet. Somit ist das Bewußtsein Ansichsein (Differenz) und Sein für Andere (Beziehung). Die Reflexionsbestimmungen von An-sich-sein und Für-esSein haben beide ihren Ort im Bewußtsein, sofern es beides ist: Auf–sich-Beziehen und Von-sich-Unterscheiden resp. An- und Fürsichsein. Das Bewußtsein ist kein anderes Sein als das An- und Fürsichsein, sondern es ist dieses An-und-Für-sichSein selbst. Das von sich Unterschiedene wird aber auch außerhalb dieser Beziehung, die das Bewußtsein ist, als seiend gesetzt. Sein ontologischer Ort ist nicht in unserem Bewußtsein, aber seine Gegenständlichkeit, sofern sie sich daraus ergibt, daß etwas einem Bewußtsein Gegenstand ist. So betrachtet haben die Dinge ihr Eigendasein im Bewußtsein. Es ist das Bewußtsein, das einen Gegenstand als solchen bestimmt, denn daß etwas als Gegenstand von meinem Bewußtsein unabhängig gesetzt ist, ist ein Akt des Bewußtseins. Ein c o g i t o als vom Gegenständlichen unabhängigen Bereich des Bewußtseins gibt es nicht.
V. Allgemeines und individuelles Ich Aus der vorangegangenen Darstellung sollte deutlich geworden sein, daß Wahrheit als der adäquate Begriff sich selbst generiert. Dies gilt für den Gottesbegriff ebenso wie den Begriff des Menschen. Wahrheit kann nicht wie Richtigkeit zugeschrieben werden, sondern ist in ihrem Unterschied bei sich selbst. In ihrer logischen Struktur als Selbstbezug in der Selbstunterscheidung in Begriff und Sein ist Wahrheit deshalb Selbstübereinstimmung, weil sie ihren Unterschied an sich hat. Sie ist dieselbe, indem sie mannigfaltige Gesichter trägt. Als solche ist sie Konkret-Allgemeines. Wahrheit als adäquater Begriff kann dem Begriffenen nie äußerlich sein. Als Prinzip bleibt sie ein nie erreichbares Sollen. Der nur notwendige Begriff stellt etwas vor, das uns fremd bleibt: Der Gott, den wir brauchen, ist der Gott, den wir schon aus der Welt hinausgedrängt haben. „In jeder Theologie, die als Wissenschaft auftreten können soll, kann Gott nur als Idee angesehen werden und muß daher außerhalb der Wissenschaft bleiben. In jeder Logik, die als Wissenschaft auftreten können soll, muß die Einheit von diesem Menschen da und der Menschheit im Sollen bleiben.“ (SuB VI/3, 520.) Auch die Selbstentsprechung des Menschen verlangt eine logische Korrelation von Allgemeinem und Einzelnem. Der Mensch ist Mensch nur als Individuum. Den Menschen gibt es nie als rein theoretisches Abstraktum. Die Menschheit ist nur in den einzelnen In-
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dividuen verwirklicht. Jedes Individuum ist Entsprechung des Begriffs. Ein Begriff, in dem sich der Mensch begreifen können soll, muß ein Begriff sein, der die Existenz, in welcher sich der Mensch immer schon vorfindet und von der er nicht abstrahieren kann, beinhaltet. Ein solches Verständnis vom Begriff sieht Liebrucks von Hegel entwickelt. „Die Existenz liegt dem Hegelschen Begriff nicht zugrunde, sondern stammt aus ihm. Das ist der einzige Begriff, der den Namen ‚menschlicher Begriff‘ verdient.“ (SuB II, 169.) Das wirkliche menschliche Ich ist – in Anlehnung an Hegel gesprochen – die Unmittelbarkeit des menschlichen Begriffs. (Vgl. SuB VII, 147.) „Ich ist die erste fürsichseiende Reflexion. […] Ich ist die erste Unmittelbarkeit des Menschen als existierender Begriff.“ (SuB VI/3, 167.) Ein nur wesenhafter Begriff vom Menschen formuliert ein Abstraktum, zu dem man keine Entsprechungen hervorrufen kann. Vielmehr läßt ein Abstraktum nur weitere Abstraktionen von sich zu. In jeder dieser Abstraktionen aber geht etwas verloren. Der adäquate Begriff vom Menschen ist der Allgemeinbegriff, der die Unterschiedenheit aller einzelnen Menschen aushält, weil er sie in sich begreift. Dieser Begriff vom Menschen ist der Begriff, der sich erst über die jeweilige Andersheit der Individuen entfaltet. Wir befinden uns erst „auf der Wanderung zum individuellen Ich“, wenn wir die bloß objektivierende Sicht der Dinge peu à peu überwinden und uns als individuell wie auch allgemein empfinden. (Revolutionen, 95.) Denn „Ich ist das Allgemeine als Einzelner.“ (SuB III, 116.) Das Allgemeine wird als Einzelnes ausgesprochen. Allein in der Sprache „bin ich als Ich da, d. h. auf dieser Welt.“ (Handlung, 353.) Sprache ist der Weltumgang des Ichs. „Der Mensch als Ich ist als dieses Ich immer schon sprachlicher Weltumgang für sich. Er ist schon als Ich nicht nur reines sich gleichbleibendes Prinzip, unter dem als Sonne seines Erkenntnistages die große Elementarisierung der Welt, heute seiner selbst, stattfindet. Er ist die erste wirkliche Einheit von Prinzip und Ereignis, der Begriff, der existiert. Er ist der Widerspruch von Sein und Wesen, der den Widerspruch aushält. Solange er das ist, hält er sich aus, welche Kraft ihm heute zu entschwinden scheint. Der logische Grund zur Angst besteht immer nur vor solchen Wesen, die sich nicht aushalten.“ (SuB VI/2, 426.)²⁹⁷ Als existierender Begriff ist der Mensch endlich und unendlich zugleich. Liebrucks kann daher vom menschlichen und vom göttlichen Menschen sprechen. Menschlich ist der Mensch nur als göttlicher, göttlich nur als menschlicher. Seine Menschlichkeit und seine Göttlichkeit bilden sich als seine Sprachlichkeit aneinander aus. In der Sprache ist der Mensch geistig und sinnlich,
297 „Erst der Mensch wird als existierender Begriff und Weltumgang dieses bestimmte Ich da, zugleich das logische Urteilssubjekt Kants wie eine innerlogische Kategorie in dieser Logik sein.“ (SuB VI/1, 166.)
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er kann sich zu etwas stilisieren, weil er im Aussprechen jeder Selbstabstraktion (etwa zum Urteilssubjekt) schon über diese hinaus ist. In jeder seiner Äußerungen ist der Mensch der Welt, die er sich erspricht, immanent und transzendent zugleich. „Ich ist wirklich existierendes Ich, dieser wirkliche Mensch da. Ich ist aber auch allgemein, Bewußtsein überhaupt. Beide müssen in dieser Unterscheidung zugleich als nicht unterschieden angesehen werden.“ (SuB V, 84.) Diese Transzendenz-Immanenz ist wiederum ein anderer Ausdruck für das Beim-Anderenbei-sich-selbst-Sein, das sich als sprachliches Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnis vollzieht. „Wenn im Gespräch mit diesem Gaius da die transzendente Sphäre gegenwärtig ist, spreche ich mit ihm als diesem Menschen da.“ Kant dagegen kann die Transzendenz des Immanenten, die Unendlichkeit des Endlichen logisch nicht zulassen. (Vgl. SuB VI/3, 356.) Bei ihm bleibt der „göttliche Mensch“ ein Ideal. In bezug auf das menschliche Ich kann auch Liebrucks von einem Ideal sprechen. Das Ideal des „göttlichen Menschen“ ist entgegen Kants Verständnis eines Ideals aber kein „Richtmaß“. Maßstäbe gehören in die technisch-praktische Weltzubereitung, doch von dieser ist beim Ideal des „göttlichen Menschen“ nicht die Rede. Theoretisch unbelegbar, praktisch unerreichbar und doch – auch – existierend: In jedem einzelnen Menschen ist das Allgemeine des Menschen, die Menschheit realisiert. Das allgemeine Menschsein gibt es nicht anders als im konkreten menschlichen Individuum. Ein nicht immer schon existierendes Ideal, ein rein gedanklicher Maßstab könnte nicht vom Menschen verwirklicht werden, weil er dessen Wirklichkeit letztlich nicht betrifft, sofern diese immer Existenz einschließt. Als Maßstab wäre dieses Ideal ein vom Menschen Hergestelltes, damit aber weniger als er selbst: „Der Mensch kann nicht ein Teil des von ihm Gesetzten sein.“ (SuB III, 211.) Er ist Aufhebung (zumindest in Spannung) des Gegensätzlichen: Einheit von Allgemeinem und Einzelnem – und eben als solche „göttliches Kind“, nicht Logos oder Begriff, sondern existierender Begriff. (Vgl. SuB IV, 173.) „Ich als dieser Mensch da bin nur als Lebewesen dieser Mensch da. Und nur weil ich dieser Mensch da bin, bin ich Lebewesen. Der Unterschied zwischen beiden ist gesetztes Weil.“ (SuB VI/3, 205.) Der Mensch ist Mensch nur als dieser individuelle Mensch da, nicht aber in der Zuordnung zu einem Allgemeinbegriff „Mensch“, zu dem undifferenziert alle Menschen gehören. „Alle Menschen“ ist so gut wie gar keiner. Abstrakt kann nie von einem wirklichen Menschen geredet werden. „Innerhalb der Zubereitung der Welt der Positivität ist ein Mensch, dem alle Menschen widersprechen, wie wir es alle gegenüber dem Christus tun, bereits zum Element im System ‚alle Menschen‘ nivelliert.“ (A. a.O., 520). Seine Nonkonformität ist nur in bezug auf die Uniformität „aller Menschen“ bestimmbar, also ist er als der dem formal bestimmten Universalbegriff „alle Menschen“ Widerspenstige dennoch Teil dieses Systems. Als Teil eines Systems ist er aber nicht der konkrete Allgemeinbegriff „Mensch“. Sein Dasein als „dieser da“ wird nicht als Verwirklichung
G. Zwischenfazit: Die Sprache Gottes als Sprache des Menschen
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der allgemeinen Menschheit in ihm betrachtet, sondern als Abweichung von der Norm, wobei noch die Abweichung von der Norm bestimmt bleibt – sie wäre andernfalls nicht als Abweichung charakterisierbar. Die formale Logik darf, um die Gültigkeit ihrer Sätze zu sichern, die Göttlichkeit des Menschen nicht berücksichtigen. In ihrem Denksystem ist die Göttlichkeit des Menschen, wie sie in der Gestalt Jesus Christus anschaulich geworden ist, entweder abzulehnen oder zu einem Postulat zu degradieren. Der Ausschluß der vielschichtigen Gestalt des Christus aus dem positiven System „Menschheit“ sichert dessen Funktionalität: Würde für jeden Menschen angenommen, in ihm als Endlichem wäre das Unendliche gegenwärtig wie im inkarnierten Gott, könnten gesamtgesellschaftliche Konventionen keinen Geltungsanspruch aufrechterhalten. So schließt die formale Logik den Deushomo aus dem System „alle Menschen“ aus, wodurch „wir diesen Christus als den bisher vielleicht einzigen Menschen, der zugleich dieser da und die Menschheit war, außerhalb einer Logik haben, die ihrerseits außerhalb der Erkenntnis bleiben kann.“ (Ebd.)
G. Zwischenfazit: Die Sprache Gottes als Sprache des Menschen In seinen Confessiones inszeniert Augustinus den Werdegang seiner Theologie anhand seiner Autobiographie. Das Movens dieser Suche nach Gott wird von Hannah Arendt nicht vorrangig in der Frage nach Gott gefunden. Ihr zufolge ist das erzählende Subjekt der Bekenntnisse ein Subjekt, das sich selbst zur Frage macht. Seine eigene Wahrheit in der Wahrheit Gottes suchen – das ist ebenso das Motiv, welches Luther in seiner Jona-Auslegung illustriert: Jeder Mensch ruft zu seinem Gott, ohne zu wissen – ist Gott p r o m e ? Von Gott ist nicht zu reden, ohne daß nicht zugleich vom – individuellen – Menschen gesprochen würde. Die vorangegangene Darstellung hat diesen Grundgedanken erläutert. Das göttliche Absolute ist (vor dem Hintergrund der sprachlogisch akzentuierten Rezeption der hegelschen Geistphilosophie) als Konkret-Allgemeines zu denken, aus dem sich das menschliche Subjekt ebenso empfängt wie es in dieser Selbstempfängnis, die doch zugleich stets Selbstgestaltung ist, das Absolute zur Geltung bringt. Gott und die c o n d i t i o n h u m a i n e bleiben letztlich immer ein Geheimnis. Ein offenes Geheimnis, sofern sie in jedem Moment des Bewußt-Seins verwirklicht sind. Die d o c t a i g n o r a n t i a bedeutet nicht, daß wir nichts vom Absoluten wissen können. Ein offenes Wissen ist immerhin kein Nicht-Wissen. Weder Gott noch das menschliche Ich sind aber in einem Allgemeinbegriff auszusagen. Um dennoch von ihnen sprechen und sie begreifen zu können, schlage ich als Konsequenz der vorangegangenen Darstellung vor, sie – wie Barth oder Lyotard es anempfehlen –
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
zu bezeugen statt zu erklären oder zu definieren. Dieses Bezeugen ist ein lutherisches e x e g e s a t o : Gott (man mag hinzufügen: auch die menschliche Seele) hat nie jemand gesehen, bis Christus ihn verkündet hat. Wir hören Gottes Stimme, indem wir Gott aussprechen. Indem wir Gott aussprechen, sprechen wir uns aus als das Gott bezeugende Subjekt. So sind wir als sprechendes Ich alle Christus. Das Bezeugen Gottes ist der Verzicht darauf, ihm Namen zu geben, ihn in ein Bild fassen oder ihn beweisen zu wollen. Die Intensität der Nähe Gottes raubt die Worte für dessen Beschreibung. In Anlehnung an Gertrude Stein möchte man sagen: Gott ist Gott ist Gott. Wie spricht man vom Absoluten, das doch in keinem einzelnen Wort ausgedrückt werden kann, gerade weil es in jedem einzelnen Wort präsent ist? Liebrucks verzichtet auf die Bestimmung von Gottesprädikaten, -bildern oder –namen. Gott wird dargestellt in jedem Moment des menschlichen Weltumgangs. Ernster kann man den Begriff Gottes als des Absoluten, der allumfassenden Wirklichkeit nicht nehmen. In all unseren menschlichen Äußerungen ist Gott aber zugleich verneint: Sie sind der endliche Widerspruch des Unendlichen. Entscheidend ist, hier keine negative Theologie zu vermuten, die nur eine Theologie der einfachen Negation wäre („Gott ist das Gegenteil des Endlichen“), sondern eine Theologie der Negation der Negation. In dieser ist Gott weder das „ganz Andere“ des Menschen, das er als Absolutes gar nicht sein kann, noch ist er positiv ausgesagt, was – wie dargestellt wurde – dieselbe Vergegenständlichung Gottes wäre, wie die einfache Negation. Die Negation der Negation macht nicht aus zweimal Minus ein Plus. Sie behält den Widerspruch in sich, sie begreift ihn und hat ihn darin zu ihrem eigenen Moment. Der Begriff des Begriffs hält seinen eigenen Widerspruch aus.Versöhnung ist mit Hölderlin gesprochen in den „Dissonanzen der Welt“.²⁹⁸ Liebrucks verfaßt keinen pathetischen Harmonieentwurf, Freiheit und Ganzheit werden allein über ihren Widerspruch gewonnen. Versöhnung ist, wo Widersprüche anerkannt werden. Kein positiver Begriff kann ohne sein negatives Pendant ausgesagt werden. Die Rede von der Endlichkeit impliziert das Un-Endliche, der Rede von der Wandelbarkeit inhäriert der Begriff des Un-Wandelbaren. So kann man mit Liebrucks zu theologischen Aussagen gelangen, die weder nur positiv noch nur negativ sind. Es gibt kein „Zwischen“, kein Verbindungsstück von Diesseits und Jenseits. Das Diesseitige ist immer schon Jenseitiges und umgekehrt. Bewußt-Sein ist ein stetes Messen, inwieweit das „An-sich“ vom „Für-sich“ unterschieden ist. „Auch als Erkennende müssen wir uns hüten, der Wirklichkeit zu nahe zu treten – der Grundfehler eines Realismus.“ (SuB I, 375.) Zwischen der Welt und ihrem Beobachter bleibt immer
298 Hölderlin, Friedrich, Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797– 1799), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. III, hg.v. Beißner, Friedrich, Stuttgart 1957, 18 – 160, 160.
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eine Beobachterdistanz. Das Aushalten dieser Spannung ist die Kraft des BewußtSeins. Husserls Philosophie der Intentionalität zum Beispiel denkt nur die Beziehung, nicht die Unterscheidung. Insofern ist sie eher ein harmonisierender Entwurf. Doch allein, weil sich Bewußt-Sein in der Intention zugleich von der Sache unterscheiden kann, läßt es dem Intendierten seine Freiheit. Eine solche Entäußerung an die Sache kann Husserl nicht denken. Freiheit ist, wo Widersprüche ausgehalten werden. Wer die Wahrheit festhalten will, geht an ihr zugrunde. Dies ist die große Einsicht Hegels, anhand derer er das Bewußt-Sein als das in seinem steten Selbstverlust sich gewinnende darstellt. Liebrucks übernimmt Hegels holistisches Wahrheitsverständnis, aber harmonisierend im Sinne von annihilierend ist es nicht: Die konstitutive Größe dieses Entwurfs ist der Widerspruch. Wahrheit zeigt sich im Zugrundegehen unmittelbarer Gewißheit, sie erweist sich als solche in ihren Sollbruchstellen. Somit holt Liebrucks das zentrale Charakteristikum neuzeitlicher Selbstbeschreibung des Menschen in seine Reflexion auf Gottes- und Subjektbegriff ein: die Unvollkommenheit, den Mangel.²⁹⁹ Die säkulare Selbstbehauptung ist Verwaltung der Mangelhaftigkeit, die menschliches Denken und Dasein auszeichnet. Leerstellen werden fortan akzeptiert als Dynamik, die Systeme (Staaten und Gesellschaften ebenso wie „Systeme“ der Philosophie und Religion) am Leben erhalten. Systeme kollabieren, wenn sie keine Varianzen mehr zulassen. Auch theologische Systeme: Sie müssen z. B. die Theodizee offenlassen. Liebrucks weist darauf hin, daß das Zugeständnis der Offenheit aller Bestimmung bereits den Systemgedanken überwindet. Vergegenständlichungen müssen zugleich die Entgegenständlichung thematisieren, wenn sie auf die lebendig sich verändernde Wirklichkeit applizierbar bleiben wollen. Alle Vergegenständlichung aber wird in der Sprache vorgenommen, deren Schöpfungen stets ein Hof von Unbestimmtheit umgibt, der sichtbar wird in mythischer und metaphorischer Rede. Auf ihren sprachlichen Ursprung hin betrachtet, erweist sich alle Identität als gleitend: sich selbst entsprechend in unablässiger Bewegtheit. Denn „so wenig ein existierender Gott die durchgängige Bestimmtheit der Dinge garantieren müßte, so wenig tut das die Sprache.“ (SuB IV, 481.)³⁰⁰ Sprache ist unablässiger Übergang von der Idealität in die sinnliche Erfahrung e t v i c e v e r s a . Allgemeinbegriff und Konkretion bilden sich immer aneinander aus. Eines ist eine Identität also nie: abstrakt. Sie ist Identität von Identität und Nicht-Identität. Der dialektische Bezug zwischen beiden ist die Sprache. Sie ist 299 Vgl. Blumenberg, Hans, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (1971), in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, 104– 136. 300 „Darin liegt der Grund dafür, daß Kant gegenüber dem Satz Hamanns, daß Vernunft Sprache sei, taub bleiben mußte.“ (Ebd.)
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
„der direkte Übergang von der Zeitlichkeit und Realität in die Überzeitlichkeit und Idealität, sie ist der ständige Übergang des Einzelnen ins Allgemeine, genauer das Einzelne, das allgemein ist.“ (SuB I, 27.) Von Liebrucks wird der christliche Mythos der Auferstehung als mythische Beschreibung der Bewußtseinsentwicklung gedeutet (so schon bei Hegel).³⁰¹ Der Tod bezeichnet demnach die erste Negation vom konkret erfahrenen Sein zum wesentlichen Allgemeinbegriff, die Auferstehung umschreibt die Negation der Negation, die Aufhebung des Seins und des Wesens zu Momenten des Begriffs. Erst in der Sphäre des Begriffs artikuliert die Reflexion, die bis dahin nur die Bewegung vom Sein zum Wesen ausgemacht hatte, sich selbst als Urteil und Schluß. So ist „[d]er christlich verstandene Vorgang von Sterben und Auferstehen [..] Bedingung der Wirklichkeit der Erkenntnis.“ (SuB III, 119.) Der Übergang vom Leben in den Tod und vom Tod zum ewigen Leben veranschaulicht den Übergang des Logos in den Tod der abstrahierenden Vergegenständlichung und die Entgegenständlichung zur Bedeutung, der Aufhebung einer konkreten Situation in das Bewußtsein. „Die Grenze zwischen Realem und Idealem“ ist der Wortlaut als „Übergang vom realen Nursein zur idealen Bedeutung, zum idealen Wesen.“ (Sprache und Metaphysik, 22.)³⁰² Für die Erkenntnis ist es unerläßlich, Vergegenständlichungsakte vorzunehmen. Der Weg zur Erkenntnis für den Menschen verläuft immer über seine Herstellungen, er muß bei den Gebilden beginnen. Daher kann Liebrucks sagen, alle Erkenntnis beginne mit der Unwahrheit. (Vgl. SuB III, 42.) Dies ist eine alternative Formulierung für den Gang des Geistes in seinen Widerspruch, aus dem er sich zu seiner Selbstentsprechung vorantreibt: Die Unwahrheit ist ein Moment der Genese der Wahrheit. Vergegenständlichung und Entgegenständlichung sind daher nicht gegeneinander auszuspielen. „Erkenntnis ist weder Vergegenständlichung noch Entgegenständlichung, sondern die Einheit beider.“ (SuB V, 312.) Die Bewegung des Geistes vollzieht sich vom Schein gegenständlicher Bestimmtheit des Wissens zum reinen Wissen von sich selbst. Diese Bewegung stellt sich logisch dar in der Hinwendung des menschlichen Geistes von gegenständlichen Götzenbildern zum Begriff eines Gottes, der lebendiges Wort ist.³⁰³ Dieses Wort ist die doppelte Ne-
301 Näheres zu diesem Motiv findet sich im Kapitel Bleiben ist nirgends: Jesus Christus. 302 „Erkenntnis der Philosophie und Kunst ist der Nachvollzug des stets stattfindenden Opfers des Leibes zum Geist hin, was der Leib nur als bereits geistiger Begriff kann.“ (Rede, 336.) 303 Der Untergang im Gegenständlichen ist Ausdruck des Selbstekels, wie Sartre ihn in La Nausée beschreibt: „Die Gegenstände, das dürfte einen nicht berühren, denn das lebt ja nicht. Man bedient sich ihrer, man stellt sie wieder an ihren Platz, man lebt mitten unter ihnen: sie sind nützlich, mehr nicht. Aber mich, mich berühren sie, das ist unerträglich. Ich habe Angst, mit ihnen in Kontakt zu kommen, als wären sie lebendige Tiere.“ (Sartre, Jean-Paul, Der Ekel, übers. v. Aumüller, Uli, Hamburg 2004, 20.)
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gation der reinen Innerlichkeit des göttlichen Geistes im Eingehen in die Materie und von dieser im menschlichen Subjekt zur Identität im Begriff. Gottes Werden zur Welt hält als dialektische Selbstentsprechung in Sein und Begriff den Unterschied zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit aufrecht, indem sie beide aufeinander bezieht. Insofern haben „[w]ir endlichen Wesen [..] das Recht, für den Anfang des Denkens die Kategorie der Entgegengesetztheit der Verhältnisse zu gebrauchen.“ (SuB IV, 194.) Wird Gott aber allein aus dem Gegensatz zur Welt heraus gedacht, ist er von der Welt abhängig; er muß aus sich selbst heraus gedacht werden.³⁰⁴ Das „Göttliche“ ist keine Steigerungsform und auch nicht das Gegenteil des „Menschlichen“. Weder in der Rede vom e n s e n t i u m noch in der Rede vom „ganz Anderen“ wird über Gott gesprochen. Die Tragik beider Denkfiguren liegt im Scheitern an ihrem eigentlichen Vorhaben, die wesenhafte Differenz zwischen Gott und Mensch zu konstatieren. Beide Gottesbegriffe entstehen jeweils im Schluß von einem Positivum auf ein weiteres, dem der positive Charakter aber abgesprochen oder das zum Inbegriff des Positiven (o m n i t u d o r e a l i t a t i s ) stilisiert wurde. Liebrucks nennt dies im Anschluß an Kant ein ontologisierendes Verfahren, die Erschleichung eines transzendenten Seienden. Sowohl Kant als auch Liebrucks lehnen eine solche „schlechte“ Metaphysik ab, welche die Wirklichkeit eines nur Möglichen erklärt, während die positivierte Welt allein auf dem Grundsatz der Möglichkeit alles Wirklichen aufbauen kann. Darin drückt sich die Vorgängigkeit ihres Ermöglichungsgrundes aus, ebenso aber ihre Beschränkung auf das Herstellen einer so oder auch anders möglichen Realität. Von Wahrheit spricht sie nie. Unsere Freiheit hängt daran, daß unsere Wahrheit von uns begriffen werden kann, so daß wir uns entweder selbst erschließen oder uns entgehen können. Unsere Freiheit ist die Wahrheit des Absoluten, das sich über das andere seiner selbst – uns – an sich hat. „Ein Absolutes, das das andere seiner selbst nicht an sich hat, kann immer nur geglaubt, niemals begriffen werden.“ (SuB V, 124.) Das Selbstdenken des absoluten im subjektiven Geist aber läßt diesen im Begreifen des Absoluten sich selbst als dessen Moment erfassen. Im Denken des Begriffs des Begriffs als Aufhebung von Sein und Wesen erfaßt sich der Mensch als existierenden Begriff. Die Logik seines Weltumgangs empfängt er aus der Logik des Logos. „Die schöpferische Macht des Begriffs bleibt in sich, indem
304 Hier mag sich der theologische Leser an Karl Barth erinnern, wie schon aufgrund der Bezeichnung Gottes als des „ganz Anderen“. Barth kann sich aber in seiner obgleich dialektisch genannten Theologie nicht davon verabschieden, ein wesenhaftes Anderssein Gottes im Gegenüber zum Menschen zu betonen. Der Gottesbegriff der Dialektischen Theologie erliegt entgegen ihrem Ansporn der Objektivierung. Sie kann die Tiefe dialektischen Denkens nicht zulassen, in welcher die Präsenz des Logos nicht nur im, sondern als Weltumgang des Menschen gedacht ist.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
sie sich in die Welt der Äußerlichkeit begibt. Im christlichen Geschehen, in dem Gott sich verendlicht, ist das erste Bild für Dasein, Wesen und Begriff, als Mensch ausgesprochen. Es ist ein Bild, das nicht mehr nur logisches Bild im Sinn der formalen Logik ist. Indem die schöpferische Macht aus sich herausgeht (Sein), bezieht sie sich auf sich selbst (Wesen) und reflektiert sich darin noch einmal zum Begriff.Wir Menschen haben unsere Creativität nur als Nachfolger dieses Begriffs. Die Sprache ist darin, daß sie den Graben zum Individuum nicht überspringt, beim Individuum, weil noch dieses Nichtüberspringenkönnen als durch das Versicherungsstreben gesetztes erkannt ist.“ (SuB VI/3, 214.) In der Sprache sprechen wir mit jedem unserer Worte den Logos aus und unterscheiden uns doch von ihm. Sprache hat als logische Einheit von Sein,Wesen und Begriff das Unterscheiden an sich. Darum kann der Mensch sich in der empfangenen Struktur seines Weltumgangs selbsttätig behaupten, darum ist er als Marionette Gottes als des Logos frei. Sein Weltumgang als Dialektik von Denken und Sein, die Liebrucks BewußtSein nennt, „lebt immer aus der Hand Gottes […].“ (SuB V, 29.)³⁰⁵
I. Methexis Mit dem Ausdruck „Bewußt-Sein“ ist eine Formulierung dafür gegeben, wo Liebrucks die Methexis des Seins am Begriff verortet. Das Wort Methexis kann übersetzt werden als „Teilhabe“, es kann umschrieben werden als die Einheit der Momente des Werdens der Wahrheit. Diese Einheit ist keine formallogische Deduktion, sofern diese eine Getrenntheit der Momente voraussetzt, die sie dann einem Einheitsprinzip zuordnet. Liebrucks denkt vielmehr mit Hegel die Entwicklung eines (Einheits‐)Begriffs aus der Sache selbst. Darin denkt er die schon immer geschehene Versöhnung, die keine Getrenntheit voraussetzt, sondern diese als ihr Moment an sich hat. Das Getrenntsein besteht nicht für sich. Die Einheit von Entstehen und Vergehen ist eine konkret sich vollziehende, sie ist nicht außerhalb ihres Vollzuges denkbar. Einheit ist kein Gattungsbegriff, sondern das, was im Werden jedes Gedankens angezeigt ist. (Vgl. SuB VI/1, 304 f.) Aber „Werden kann sich unter der Hauptfrage als logische Kategorie nicht halten.“ (A. a.O., 308.) Es ist logisch unselbständig. (Vgl. a. a.O., 311.) Methexis ist die Bewegung zwischen Idealität und Realität, die sprachliche Vermittlung der Vernunft, die „Genese des Begriffs“. (SuB IV, 127 u. ö.) Diese Bewegung ist unablässig und reziprok, sie erscheint daher als Widerspruch. Platon, mehr noch Kant hat diesen Widerspruch
305 In Hegels Phänomenologie des Geistes findet Liebrucks Bewußt-Sein als „Verhältnis des Menschen zu Gott und Gottes zum Menschen“ gedacht. (Ebd.)
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manifestiert in der Unterscheidung der Erscheinung der Dinge von ihrem An-sich. Soll zwischen beiden eine logische Verbindung bestehen – so demonstriert es Liebrucks -, muß der Widerspruch als konstitutives Moment der Einheit, die er Realidealität oder Idealrealität nennt, erkannt werden. Dieser Grundzug der Sprachphilosophie, wie Liebrucks sie entwirft, hat sein Vorbild in der hegelschen Theorie des Absoluten. „Die Revolution der Logik [Hegels, S. L.] ist die Darstellung des Methexisproblems als innerlogisches, als das Logische.“ (SuB VI/1, 185.) Jede Philosophie, Logik und Wissenschaft lebt von der – ausgesprochenen oder unausgesprochenen – Voraussetzung einer Methexis der erscheinenden Welt an der Wirklichkeit an sich. „Wir setzen in allen Sätzen etwas voraus, was in allen formallogisch eindeutigen Sätzen unbeweisbar bleibt.“ (SuB VI/3, 133.) In jeder logischen Aussage „ist ein Erkenntnisdeal vorausgesetzt. Ein solches haben wir immer schon vorausgesetzt, wenn wir auch nur einen Satz bilden.“ (SuB V, 327.) Noch bei Kant „liegt das Methexis-Problem Platos ungelöst bis auf den heutigen Tag.“ (SuB IV, 97.) Es kann weder Platon noch Kant die Methexisfrage beantworten, weil beide nicht nach dem fragen, was die Weltordnung durchbricht, sondern nach dem, was als Ordnung besteht. Das klingt zunächst widersinnig und ist nur mit Hegel zu verstehen: Identität ist allein über ihren Widerspruch zu begreifen. Vernunft erweist sich als solche, weil sie Antinomien allererst aufdeckt. Damit ist sie aber schon über die Antinomien hinaus. Der Mensch kann sich immer nur insoweit beschreiben, wie er über sich hinweg ist. Er muß verstehen lernen, daß ebenso das, was er nicht versteht, in ihm selbst verankert ist. Sein wahres Menschsein verwirklicht er als Selbstentsprechung, worunter eine Selbstübereinstimmung verstanden werden darf, die darin besteht, daß sie auch all ihre Widersprüche als von sich unterschieden zugleich auf sich bezogen weiß. Die Dialektik von Auf–sich-Beziehen und Von-sich-Unterscheiden ist die logische Struktur des Bewußt-Seins als Identität von Identität und Nicht-Identität. Entsprechend zum Begriff des Absoluten, das sich im subjektiven Geist als BewußtSein selbst denkt, ist auch der Begriff eines Subjekts, das das andere seiner selbst nicht an sich hat, nur eines, das geglaubt, nicht aber begriffen werden kann. (Vgl. SuB V, 124.) Ein solches Subjekt ist zu ewiger Selbstentfremdung verdammt, an der es schon insofern leiden muß, als es sich in seinem phänomenologischen Selbsterleben nicht als nur produktives Subjekt erfährt, sondern immer schon als leiblich-seelische Einheit sowie als Bezüglichkeit, die Liebrucks „Seele“ nennt.³⁰⁶
306 Vgl. hierzu in vorliegender Untersuchung das Kapitel Kleider machen Menschen. – „Die Leiblichkeit steckt im ,lich‘ von ,Sprachlichkeit‘.“ (SuB I, 49; vgl. 14.) Bei Paulus kann σαρξ synonym mit κοσμος sein, womit Welt in ihrer Vorfindlichkeit, nicht etwa als Materie gemeint ist. (Vgl. I Kor 1, 20. 26.) Die Spannweite des neutestamentlichen Begriffs κοσμος wird darin deutlich, daß er sowohl αιων als auch σαρξ in sich aufzunehmen vermag.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
„Bei Kant gibt es die Methexis von Mensch und Welt nicht,“ dabei ist schon in der Leib-Seele-Einheit, als die der Mensch sich erfährt, Methexis gleichsam plastisch. (SuB VI/3, 11.) Sie wird unmittelbar erfahren im sympathetischen Weltumgang³⁰⁷ und reflektiert im hegelschen Panlogismus. Letzterer geht davon aus, daß Vernunft in der Welt ist. Insofern muß, was wahr ist, auch wahrnehmbar sein. „Die Wirklichkeit als begreifbare ist nur in einer Logik auffindbar, die das Logische in der Methexis des menschlichen Denkens mit der Wirklichkeit sieht.“ (Denken, 216.) Methexis bedeutet Teilhabe, nicht aber Zuordnung. Sie ist keine formale Identität zwischen Ideen und Dingen.Vielmehr ist die Frage nach der Methexis die Frage nach der Erkenntnisdignität von Sätzen. Wie sind Urteile möglich? Besteht eine Differenz zwischen einer beigelegten (Kant) und einer eigentlichen Bedeutung? Diese letzte Frage hätte Hegel entschieden verneint. Dieses Nein ist die Prämisse, unter der sein philosophisches Werk steht und die sich auch Liebrucks zur Arbeitshypothese wählt. „Die Hegelsche Logik ist die Antwort auf die Logik in der Spannweite von Aristoteles bis Kant.“ (SuB VI/1, 12.) Sie „wird mit dem Anspruch angefangen, daß es innerlogische Mitteilungen über Wirklichkeit gibt, daß man darüber hinaus nur vor die Wirklichkeit gelangt, wenn man sie in den λογοις aufsucht. Im Zusammenhang von ‚Sprache und Bewußtsein‘ hieße das, daß man nichts von der Wirklichkeit erfährt, wenn man sie nicht in der Sprache aufsucht. […] Die Logik fragt nach den Bedingungen, unter denen Vernunft nicht ein bedeutungsloser Name, sondern das Wort ist, in dem 1) etwas Seiendes 2) das Wesen 3) der Begriff vernehmbar sind. Die Frage, unter der die Hegelsche Logik steht, ist immer die Frage nach der Methexis der Idee mit der menschlichen Wirklichkeit wie die Frage nach der Verbundenheit und Getrenntheit von Subjekt und Erkenntnis und den Objekten. Als was muß das Logische angesehen werden, wenn es als solches auf Wirklichkeit hinweist? Die Sätze der Hegelschen Logik sind als Antworten auf diese Frage anzusehen.“ (A. a.O., 164 f.) Im Bewußtsein als Bewußt-Sein vollzieht sich die Methexis der Realität an der Wirklichkeit der Dinge. Er ist der Zusammenhang von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, Sinn und Sinnlichkeit, Besonderem und Allgemeinem, den Liebrucks den Logos, die Sprache nennt. Damit ist folgendes angezeigt: Erheben unsere in diesem Geist gemachten Entwürfe von Welt einen Wahrheitsanspruch (was sie zu ihrer Funktionstüchtigkeit müssen), so ist dieser Wahrheitsanspruch doch nicht in dem Entwurf einer realen Welt selbst begründet, sondern in der Methexis dieses Entwurfs an einer Wirklichkeit, die als solche wahr ist. Unsere Tat ist der Entwurf, die Methexis ist in diesem immer schon vorausgesetzt: Wir leben immer schon aus dem Geist, den wir nicht selbst schaffen. Besteht unser Bezug zu
307 Vgl. hierzu das Kapitel Adam – Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst.
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den Dingen in ihrer Wahrheit aber in der logischen Methexis, die als unser sprachlicher Weltumgang immer schon vollzogen ist, so ist Wahrheit wohl etwas von uns zu Schaffendes,wenn sie in jeder unserer sprachlichen Geistbewegungen, unseren Worten und Gedanken, verwirklicht ist. Wahrheit ist aber nicht unsere Herstellung, sie wird uns niemals Gegenstand. Die Ausdrücke, die wir in unserem sprachlichen Weltumgang finden, sind stets schon Antworten auf die uns vorgängige Wahrheit; sie sind Ausdrücke eines Eindrucks, sofern dieser immer schon von sich aus bedeutend ist (König). Liebrucks kann deshalb auch sagen, die Wahrheit sei „überbewußt.“ (SuB VI/3, 187.) Da alle Worte und Gedanken des Menschen stets in der ihm vorgängigen Methexis des Seins am Begriff geboren werden, kann niemals „ein Mensch in der Attitüde des Parakleten auftreten, der sich das ‚ich bin die Wahrheit‘ anmaßt. Er verfiele immer der verdienten Lächerlichkeit.“ (Ebd.)³⁰⁸ Die Wahrheit ist nicht unser Werk, und doch verwirklicht sie sich als unser logischer Weltumgang. Sie ist gegenwärtig in jedem Begriff, der aus der Dialektik des Absoluten emergiert. Die Wahrheit, das Absolute, ist Korrespondent von Sprache und Bewußtsein. „Sprechen […] kann der Mensch nur, wenn er die Welterfahrung des Menschen als durch den Logos, die Sprache selbst, gemacht weiß. Diese Erkenntnis ist im philosophischen Bereiche dieselbe, wie die Gottes im Bereiche der christlichen Religion.“ (SuB I, 307.) Sprache ist die logische Struktur des menschlichen Weltumgangs. „Sie ist nicht als gegenständliches Wesen, als eine urige Sache vorzustellen, die damit an die Stelle von Gott oder des Seins träte.“ (Ebd.) In der Methexis bleibt der Begriff die Entsprechung der
308 Der Ausdruck παρακλητος ist der johanneischen Literatur eigentümlich. (Vgl. Joh 14, 16.26; 15, 26; 16, 7, in den sogenannten Abschiedsreden) Der Paraklet ist vom Vater gesandt (14, 16), er ist nicht der Welt, sondern nur den Gläubigen sichtbar (14, 17), er lehrt und führt in die Wahrheit (14, 26; vgl. 16, 13), er geht vom Vater aus (15, 26), er legt Zeugnis ab für Jesus gegen die Welt und überführt die Welt der Sünde (15, 26; 16, 8), er redet nicht von sich aus (16, 13). Der Paraklet ist gesandt aus dem Bereich des Göttlichen als Lehrer der Gläubigen mit dem Auftrag der Führung zum Heil durch die Mitteilung von Offenbarung in Vergangenem und Zukünftigem. Er ist den Jüngern gesandt, nicht der Welt, die den Parakleten nicht begreift. Der Paraklet ist belehrend und zusprechend, tut Gottes Willen kund und will den Weg zu dessen Erfüllung zeigen. Er führt für den Menschen das Wort vor der Gottheit und ist somit Mittler zwischen Mensch und Gott. Der Ausdruck wird zum Titel des erhöhten Christus. Der Paraklet ist Gestalt dialektischer Zweiheit: Er ist Jesus, und er ist der Geist. (Bultmann übersieht diese dialektische Zweiheit beziehungsweise Einheit und versteht den Parakleten als parallele Gestalt zu Jesus. (Vgl. Bultmann, Rudolf, Das Evangelium des Johannes, KEK II. Abt., Göttingen 196418, 437). Der Paraklet ist das Pneuma, der Geist, der den Jüngern nach Jesu Fortgang verliehen werden soll: Heiliger Geist, Geist der Wahrheit. Er ist Anwalt, Fürsprecher (mitunter nach forensischem Verständnis), Helfer, Beistand; Sprecher „f ü r jemanden v o r jemanden“. (A. a.O., 438) Laut Luthers Bibelübersetzung ist der Paraklet der „Tröster“. Auf welche Begriffstradition Liebrucks sich stützt, wird nicht ganz deutlich.
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Wirklichkeit, eine Einheit von Selbstmitteilung und Sich-Vermitteln-Lassen des Logos, der sich in der Gestalt Jesus Christus als die Wahrheit verkündet. (Vgl. Joh 14, 6.) Aber „[w]ir sind nicht Gott geworden, sondern Menschen, die logisch begriffen haben, daß Wörter und Sätze mit dem in ihnen Dargestellten verschränkt sind.“ (SuB VI/3, 246.) Das Logische ist nicht Gott, es ist dessen Darstellung. „Das Logische wäre insofern Gott zu nennen, als es auch nur aus ihm selbst heraus verständlich sein soll. Es ist aber dasjenige, durch das wir in Methexis zur Welt stehen […].“ (Sinnfrage, 296.) Die Partizipation des Menschen am Logos ist begriffslogische Entsprechung. „Der Begriff ist nur in einer Logik der Methexis das ihr Ursprüngliche.“ (Rede, 336.) Der Begriff ist die Einheit von individuellem Sein und allgemeinem Wesen. (Vgl. a. a.O., 335.) „Nur im Begriff findet die Methexis statt.“ (SuB VI/3, 237.) Sie findet statt im Menschen als existierendem Begriff. „An ihr hat der Mensch in den verschiedenen Zeitaltern teil, wie er als einzelner immer nur in prägnanten Wissens-Augenblicken seiner Teilhabe und Nichtteilhabe an der Wirklichkeit bewußt wird. Er kann immer nur dessen bewußt werden, was ihn als ‚Vorbildner‘ schon begleitet hat.“ (A. a.O., 187.) Wahrheit aber ist in jedem Moment des sprachlichen Weltumgangs zugegen, da jedes dieser Momente im absoluten Geist aufgefangen ist. Das Ausgesprochene findet weder nur im Ausdruck noch nur außerhalb des Ausdrucks statt. Sprache umgrenzt keine Inhalte, sie ruft sie hervor: in der Verbindung von Vorstellung und sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen durch die Artikulation. Sprache evoziert. Wie Pinselstriche ein Motiv schaffen, anstatt es einzugrenzen, „so auch die Artikulation der Sprache als der Paraklet der Inhalte. Dieser evokatorische Charakter der Sprache bringt das Wunder zustande, daß wir durch Formung der Laute Weltinhalte formen.“ (SuB II, 127.) Der Weltumgang des Menschen ist nicht nur Mangelverwaltung. Liebrucks bezeichnet die Artikulation als den Parakleten der Sprache. Sie bringt menschlichen Raum in den göttlichen. Im Parakleten spricht Gott zum Menschen und der Mensch zu Gott. Artikulation ist keine formale Verbindung bestehender Relate, vielmehr spricht Liebrucks vom „Parakleten der Inhalte“. (A. a.O., 312.) Der Paraklet ist der In-Begriff der sinnlichen Geistigkeit. In der Artikulation ist Geist sinnlich, sie ist die Präsenzform des Geistes. Als solche werden in ihr keine Inhalte vermittelt, sondern geschaffen. Sinn besteht nie abstrakt, sondern in seiner Konkretion. Darum haben die Dinge ihr Eigendasein nur in der Sprache: Sie sind ihr Eigenes, eine Identität, in einem Dasein für uns, sofern wir sie in der Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung aussprechen. Sprache ist der Paraklet, der Geist, den der Mensch von Gott empfängt, um sich vor Gott auszusprechen. „Bewußt-Sein lebt immer aus der Hand Gottes […].“ (SuB V, 29.)
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II. Geschlechtlichkeit „[D]ie Vermittlung des Absoluten in der Sprache, diese und nichts anderes ist der Mensch. Damit aber werden wir bei der Einheit von Sein und Wesen, beim Hegelschen Begriff angelangt sein, der nichts anderes als der Logos des Menschen ist, in dem der absolute Logos enthalten ist. Das wiederum ist nur zu verstehen, wenn die Verhältnisse des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes so durchdacht worden sind, daß beide, sowohl der subjektive wie der objektive Geist, absoluter Geist sind, ja daß beide nur als absoluter Geist hier auf der Erde als der Geist des Menschen ihre Wirklichkeit haben. Daß das nichts mit den nachhegelschen Versuchen, die Hegelsche Philosophie auf den Menschen zu reduzieren (Feuerbach) zu tun hat, können wir erst sehen, wenn wir darin zugleich das Wesen des Menschen neu gedacht haben, nämlich als sprachliches. Daß der Mensch nur auf dem Umwege über das Absolute dieser empirisch zu fassende Mensch ist, können wir erst nach der Bestimmung des Denkens begreifen, nach der die Sprache ‚das bildende Organ des Gedanken‘ (Humboldt) ist.“ (Reflexionen, 172.) Methexis bedeutet nicht Zuordnung, sondern Teilhabe. Diese Teilhabe ist die logische Struktur der Sprache. In ihr ist die Teilhabe der Existenz am Begriff und des Begriffs an der Existenz in allen Momenten der Sprache vollzogen. So kann etwa Humboldt sagen, Sprache sei das bildende Organ des Gedankens.³⁰⁹ Als solches ist sie nicht das Bindeglied gegebener Tatsachen. Eine Copula ist eine inhaltslose Aussage, eine rein formale Zuordnung. Sie ist mechanisch, Sprache aber ist organisch. Alles Mechanische hat seinen Grund außerhalb seiner, alles Organische trägt ihn in sich und erzeugt ihn zugleich mit anderem Organischen. Dieses Erzeugen ist die Verbindung realen Seins mit einem idealen Begriff. Insofern kann die logische Struktur des Absoluten bzw. des Bewußt-Seins als Selbst (er)zeugung gedacht werden. Die Selbst(er)zeugung des Geistes ist laut Liebrucks Sprache. In diesem Sinne ist Sprache geschlechtlich. Den Gedanken der Geschlechtlichkeit der Sprache bringt Liebrucks in Anlehnung an Hamann ein, der sich auf die griechisch-philosophische Lehre vom l o g o s s p e r m a t i k o s bezieht.³¹⁰ Die Lehre vom l o g o s s p e r m a t i k o s ist eigentlich eine andere Formulierung für die Sinnlichkeit der Allgemeinbegriffe. Leiblichkeit und Geist sind in der Vorstellung vom l o g o s s p e r m a t i k o s verbunden. Die Vorstellung des „säenden“ Wortes ist die der Vernunft, die alles Leben
309 Vgl. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (1963), 191. 310 Die Geschlechtlichkeit der Sprachen findet Liebrucks ebenso in einem Ausspruch Luthers unübertrefflich ausgesagt: „Die Sprachen sind die scheyden da ynn dis messer des geysts stickt.“ (Luther, Martin, An die Burgemeyster und Radherren allerley stedte ynn Deutschen landen [1524], WA 15, 38, 8 f.).
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
erzeugt. Der Logos wird zum einenden Band von Leib und Seele, von Gott und Mensch. Bei Hamann stehen sich Gott und Mensch als zwei Sprachen gegenüber. Sprachen kann man in einander übersetzen. Für Hamann ist Sprache gar Übersetzung: „Übersetzt“ wird von der „Engelsprache“ in die „Menschensprache“ e t v i c e v e r s a . Dieses Dolmetschen ist laut Liebrucks das Oszillieren zwischen Begriff und Existenz. (Vgl. SuB I, 300.) Das Übersetzen ist die Tätigkeit der Vernunft als Sprache. Hamanns sprachphilosophischer Ansatz steht somit auf der Schwelle zwischen kantischem und dialektischem Denken als Kritik und Weiterführung der Kritik der reinen Vernunft. Hamanns These,Vernunft sei Sprache, ist eigentlich eine Tautologie, zumal sowohl „Sprache“ als auch „Vernunft“ Übertragungen des Wortes „Logos“ sind. Wenn Vernunft und Sprache logisch kongruent sind, ist Sprache unser höchstes Erkenntnisvermögen. Vernunft ist folglich allein durch Sprache zu erfahren. In Anlehnung an Hamanns christliche Bilder formuliert Liebrucks daher folgende These: Die Identität von Sprache und Vernunft besteht darin, daß Erkenntnis (Vernunft) des Nächsten, Gottes und des Selbst nie zu trennen sind. (Vgl. a. a.O., 305.) Vernunft ist somit als oberstes Erkenntnisvermögen verstanden, ebenso wie Kant sie bestimmt. Doch ist sie laut Liebrucks nicht einer von zwei Erkenntnisstämmen, deren anderer die sinnliche Wahrnehmung ist. Die Einheit apriorischer Konstruktion und aposteriorischer Hinnahme in jedem Sprachlaut ist die Einheit der Vernunft. (Vgl. a. a.O., 326.) Sprache ist die Einheit von Idee und Leib. „Die Sprache ist Leib und Seele in einem, also Geist. Menschlich-göttlicher Geist, geschlechtlich und geschlechtslos, die größte Bewegung, die es auf dieser Erde gibt, die zwischen dem geschlechtlichen Wesen Mensch und dem übergeschlechtlichen Wesen Gott.“ (A. a.O., 337.) Diese sinnlichgeistige Einheit umschreibt Liebrucks in Anlehnung an Hamann mit dem Wort „Geschlechtlichkeit“. „Die Sprache ist der Weg des geschlechtlichen Wesens Mensch zum übergeschlechtlichen Wesen Gott, ein Weg, der zugleich der Weg vom übergeschlechtlichen Gott zum geschlechtlichen Menschen ist.“ (A. a.O., 286.) Sprache selbst ist geschlechtlich. Sie ist M a s k u l i n u m , F e m i n i n u m und N e u t r u m . Sie wird allein in der Vereinigung wenigstens zweier Geister geboren. Wie zwei einzelne Menschen in der Zeugung eines neuen Menschen die Bewegung vom Individuellen zu einem „Mehr“, die Bewegung zu einem Verallgemeinern ihrer selbst durch Überwindung ihrer bloßen Individualität sind, so wird von Liebrucks die Bewegung des Geistes vom Individuellen zum Allgemeinen durch die Sprache mit dem Bild der geschlechtlichen Fortpflanzung, der Zeugung bedacht. „Die Begeistung der erfahrenen Welt geschieht auf dem Wege über die Sprache.“ (SuB III, 366.) Worte sind Organismen, sinnlich und immerfort zeugend, geschlechtlich. Auch Wörter haben einen Stammbaum, Etymologie, Traditionsgeschichte, sie sind zugleich geschichtliche und übergeschichtliche Sinneinhei-
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ten. Es gibt Wortfamilien, verwandte Ausdrücke. Wörter leben und sterben – in jedem Augenblick ihres Ausgesprochen-Werdens, in der Geschichte einer Sprache. Der l o g o s s p e r m a t i k o s ist der sich in die menschliche Geschlechtlichkeit herablassende Gott. Also ist auch der Ursprung der Sprache immer geschlechtlich, d. h. menschlich. Gemäß der dialektischen Struktur der Sprache erhebt sich der Mensch in seiner Sprachlichkeit zugleich zur Übergeschlechtlichkeit Gottes, ist demnach in seiner Extramundanität nicht der Leiblichkeit anheimgegeben. Die Geistigkeit des Leibes hat zur Konsequenz, daß der Mensch sowohl im Geschlecht wie im Begriff sich selbst transzendieren kann, d. h. über seine Innerweltlichkeit hinaus auch Extramundanität besitzt. Der Mensch ist immer Menschheit (als Gattung; ungeschlechtlich) und Individuum (geschlechtlich, als Mann oder Frau) zugleich. „Es gibt also keine Bejahung des Geistes ohne Bejahung des Geschlechts.“ (SuB I, 339.) Leib und Seele sind nie getrennt. Liebrucks spricht in Anlehnung an alttestamentliche Formulierungen von einer Ehe zwischen Leib und Seele, die von Gott geschlossen wurde und vom Menschen nicht geschieden werden soll. (Vgl. ebd.) Unter Absehung von seiner Geschlechtlichkeit ist der Mensch nicht mehr als Individuum berücksichtigt. Als ungeschlechtlicher ist der Mensch entsprachlicht. Geschlechtslosigkeit ist Sprachlosigkeit. Entsprachlicht ist der Mensch aber auch, insofern er auf seine Geschlechtlichkeit reduziert wird. Ohne die Zusammenschau der Geschlechtlichkeit und der Ungeschlechtlichkeit des menschlichen Wesens, der Leiblichkeit und der Geistigkeit, die beide im Umgang mit sich selbst und den Mitmenschen zu ihrem Recht kommen sollen, ist der Mensch ein „Wesen des Krieges“. (A. a.O., 337.) Liebrucks’ Ansicht nach ist insbesondere die Ontologie der Existenzphilosophie für eine „Rehabilitierung der Kriege“ verantwortlich, weil sie einen unmittelbaren Zugang des Menschen zu den Dingen selbst annimmt. (A. a.O., 339.) Diese Ontologie abstrahiert vom geistigen Bewußtsein und verläßt sich auf ein natürliches; sie ist Reduktion auf das Geschlechtliche. Die Konsequenz sei eine Reduktion menschlichen Denkens und Verhaltens auf einen s t r u g g l e f o r l i f e . Der Mensch versteht sich und seine Mitmenschen unter Absehung von der Geistigkeit des Menschen nur als behandelbares Objekt. „Ohne Geschlechtlichkeit des Menschen gäbe es keinen Gedanken, bleibt es jedoch bei ihr als abstrakter Ganzheit unseres Wesens, so bricht der Mensch die Beziehung zu Gott ab, wie er im Paradiese glaubte, er brauchte nicht hinzuhören, als Gott ihn rief. Damit verlor der Mensch die Einheit des Weges von sich zu Gott, der zugleich der Weg Gottes zum Menschen ist. Diese Einheit ist erst wieder langsam mühsam dialektisch zu erobern.“ (A. a.O., 338.) Die Reduktion auf die Geschlechtlichkeit ist die Konzentration Adams und Evas auf ihre Nacktheit, sie sehen nur ihre konkrete Leiblichkeit. Ihr Verbergen ist der Rückzug in ihr Fürsichsein, in dem sie ihr endliches Dasein durch die Behauptung gegen das Unendliche zu bewahren meinen. Diese Haltung ist die des säkularisierten
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
Selbstbewußtseins der (Post‐)Moderne.³¹¹ Doch das Ich ist solches allein in der „Dialogik“ (Humboldt) der Endlichkeit und Unendlichkeit resp. Geschlechtlichkeit und Ungeschlechtlichkeit, anders gesagt: als existierender Begriff. Die Geschlechtlichkeit ist die „Gattung“ des Menschen, seine konkrete Leiblichkeit. Die Momente dieses konkreten, leiblichen Daseins sind in der Unendlichkeit seines Geistes zu einer konkret-allgemeinen Identität als Identität von Identität und Nicht-Identität aufgehoben. Die Doppelbewegung des geschlechtslosen Gottes zum geschlechtlichen Menschen und des geschlechtlichen Menschen zum geschlechtslosen Gott ist für Liebrucks das, „was die evangelische Theologie Gnade nennt.“ (SuB I, 338.) Dieser Ausspruch bleibt unerläutert stehen. Liebrucks mag an die Rechtfertigung s o l a f i d e e t g r a t i a denken, d. h. die Lehre Luthers, der Mensch werde zum Heil würdig gesprochen durch die unverdienbare Gnade Gottes. Des Menschen Glaube ist die Antwort auf den göttlichen Freispruch: Der Mensch erhebt sich zu dem Gott, der ihm immer schon voraus ist in seiner Liebe, in welcher er, der Übergeschlechtliche, sich geschlechtlich mitteilt in seinem Sohn: In Jesus Christus sind wir der Dialektik von Geschlechtlichkeit und Übergeschlechtlichkeit ansichtig, des Logos, aus dem wir uns als Identität empfangen. Dieser Logos, die Sprache als die logische Struktur unseres Weltumgangs „ist darin, daß sie den Graben zum Individuum nicht überspringt, beim Individuum, weil noch dieses Nichtüberspringenkönnen als durch das Versicherungsstreben gesetztes erkannt ist.“ (SuB VI/3, 214.) Das Versicherungsstreben ist die übergeschlechtliche Abstrahierung zu einem formal bestimmbaren Ich, das in allen Menschen vorausgesetzt werden muß, sofern sie in einer Gesellschaft, einem Staat, einem Rechtssystem gleichberechtigt behandelt werden sollen. Dieses Ich ist nicht das sprechende. „Nur Gott fragt nach mir als dem unverwechselbaren Individuum.“ (SuB I, 339.) Geschlechtlichkeit ist ein Merkmal des Menschen; die Unterscheidung des Geschlechts in weiblich und männlich ist erst sekundär. Geschlechtlich ist der Mensch und gleichzeitig strebt er zur Befriedigung, zur Aufhebung seiner Geschlechtlichkeit; er strebt zum Ungeschlechtlichen. Er ist sinnlicher Geist, immer geistig und sinnlich zeugend in der Welt. So spricht er auch; die Bestimmung des individuellen Sprechens durch spezifische Lebenserfahrungen, psychische, physische oder sozio-kulturelle Prägungen von Mann und Frau sind erst zweitrangig. Der Mensch kann nur sprechen, sofern er nicht in bestimmten Verhaltensmustern gefangen ist. Der Mensch muß sprechen, sofern er nicht in bestimmten Verhaltensmustern einfach nur reagieren kann. Der Mensch kann allein als Einheit von Geschlechtlichkeit und Ungeschlechtlichkeit, Sinnlichkeit und Geist sprechen.
311 Vgl. hierzu das Kapitel Adam – Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst.
G. Zwischenfazit: Die Sprache Gottes als Sprache des Menschen
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Sprache ist menschlich-göttliche Schöpferkraft. Die zur Ungeschlechtlichkeit strebende Geschlechtlichkeit als geistig-sinnlich zeugende Weltgestaltung kann die Eröffnung der Erkenntnis des Göttlichen sein, da sich Erkenntnis nur als Erkenntnis des Allgemeinen und seiner Konkretion ereignen kann. Das Allgemeine und seine Konkretion sind aber immer nur in der Einheit der sinnlichen Erfahrung des Einzelnen und der geistig-idealen Verweisung auf das Ganze erkennbar. Diese Einheit von Allgemeinem und Konkretem, Geist und Sinnlichkeit, Geschlechtlichkeit und Ungeschlechtlichkeit erfährt der Mensch, indem er selbst geistig und sinnlich, geschlechtlich und ungeschlechtlich ist. Liebrucks stellt die These auf, daß die „Erkenntnis des Nächsten im alttestamentarischen Sinne als geschlechtliche Erkenntnis zu begreifen ist.“ (A. a.O., 304.) Die Befriedigung des Geschlechtstriebes bringt den Menschen vor den göttlichen Anblick der Natur, sofern die geschlechtliche Vereinigung der Aufschwung des Individuums zum Überindividuellen ist. „Im Geschlecht erkennt sich der Mensch vor dem anderen Menschen. Er erkennt sich im logischen Raum des übergeschlechtlichen Wesens Gottes, wie Hamann gelehrt hat.“ (SuB VI/3, 491; vgl. 521.) Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist das Streben zur Aufhebung der Geschlechtlichkeit in Übergeschlechtlichkeit. So verstanden wird der Mensch in der geschlechtlichen Liebe „frei zur Erkenntnis.“ (A. a.O., 491.) Sprache und auch Erkenntnis sind geschlechtlich, sofern sie keine bloße Informationsaufnahme sind, sondern das Erzeugen einer Entsprechung: „Maria empfängt den Christus durch das Ohr. Darin liegt die Hamannsche Erkenntnis vom Erkenntnisweg des Menschen von der Geschlechtlichkeit zum übergeschlechtlichen Wesen der Sprache. Die Geschlechtlichkeit ist darin aufgehoben und aufbewahrt. 2000 Jahre Christentum haben den letzten Satz nicht begriffen.“ (A. a.O., 521.) Wo die Geschlechtlichkeit der Sprache ignoriert wird, ist Sprache auf ihren Zeichencharakter reduziert. Schon Humboldt verneint einen (bloßen) Zeichencharakter der Sprache, sofern Zeichen lediglich einen Binnenverweis herstellen. Zeichen sind nicht selbstreferentiell, sie haben eine Stellvertretungsfunktion: a l i q u i d p r o a l i q u o . Sprache dagegen zeigt, indem sie auf sich zeigt, zugleich auf ihr Äußeres. In der Sprache ereignet sich ein stetes Umschlagen von Subjektivität in Objektivität et v i c e v e r s a . „Der Geist ist nicht nur die Einheit von Notwendigkeit und einem Geschehen, sondern das Auffassen und Aussprechen dieser Einheit. Mythologisch gesprochen heißt das, der Geist erzeuge sich ‚ein Anderes‘ […].“ (SuB V, 282.) Sofern der Mensch die Sprache nicht nur hervorbringt, sondern immer schon empfangen hat, kann Sprache als selbsttätig handelnd umschrieben werden. Diesen Gedanken findet Liebrucks bei Humboldt ausgesprochen. (Vgl. SuB II, 92 f.) Ein solches Wesen aber, „das selbst ‚handelt‘, kann nur gezeugt sein, nicht hervorgebracht.“ (A. a.O., 93.) Das von Humboldt geprägte Begriffspaar Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, anhand dessen er das Wech-
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
selverhältnis von Mensch und Welt beschreibt, kann in Analogie zum männlichen und weiblichen Moment der Geschlechtlichkeit, Zeugung und Empfängnis, begriffen werden. Auch Wilhelm von Humboldt vertritt die These, das geistige Schaffen des Menschen lasse sich nicht von dessen sinnlicher Natur trennen. In seiner Sprachforschung entfaltet er das Motiv der Geschlechtlichkeit als Erzeugung von Sprache durch ein Ich und ein diesem als entsprechend anerkanntes Du.³¹² Im Er-Zeugen zeigt sich die schöpferische Geschlechtlichkeit der Sprache. „Nur weil der Hörende nicht jedesmal genau denselben Inhalt mit dem Gesagten verbindet wie der vorher scheinbar ‚dasselbe‘ Aussagende, weil er immer von seiner Individualität hinzufügt, weil so die Sprachen selbst im Lesenden niemals ohne dieses reale Moment sind, können die Bedeutungen und die Charaktere sich geschichtlich fortpflanzen.“ (SuB II, 222.) Sofern der Mensch sprachliches Wesen und Sprache Zeugen ist, erzeugt sich der Mensch selbst. Diese „Zeugung in der Sprache ist Erweckung.“ (A. a.O., 99.) Er erweckt sich, das heißt er macht sich, seine Mitmenschen, seine Welt nicht zu Gegenständen (nicht nur), sondern erweckt sie zur Lebendigkeit, die immer die Bewegung des lebensspendenden Geistes ist. Der Mensch erweckt sich selbst als Menschen, als sprachliche, geistige Person, ebenso seine Mitmenschen und seine Welt, in welcher der Geist als von sich aus bedeutend begegnet. So erzeugt der Mensch durch seine Sprachlichkeit die Welt, in der er auch als natürlicher Mensch lebt. Der Mensch zeugt also auf zweierlei Weise: zur biologischen Fortpflanzung und als geschichtliches Wesen, das in der sprachlichen Bewegung seines Geistes an der Welt schöpferisch tätig ist. Geschichte, Kultur, Gesellschaft – sie alle sind Zeugung des Geistes in der Sprache. Sprache ist „eine Reihe von Zeugungen“, und soweit der Mensch sie spricht, ist sie „Kind des Menschen“. (A. a.O., 100.)
III. Die Sprache Gottes als Sprache des Menschen Die von Hegel übernommene Theorie des Absoluten, das seine logische Struktur über den subjektiven Geist entfaltet, korrespondiert der herderschen Theorie des Sprachursprungs. Liebrucks begreift Herders Schrift Über den Ursprung der Sprache als Eröffnungswerk der Epoche der Sprachphilosophie, in welchem Herder den Sprachursprung triadisch als natürlich, menschlich und göttlich
312 Vgl. Humboldt, Wilhelm von, Geschichte der Abhängigkeit im Menschengeschlechte (1827/ 8), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg.v. der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, durch Leitzmann, Albert, Berlin 1903 – 1936, 653 – 655. Vgl. ders., Ueber die männliche und weibliche Form (1795), Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg.v. Leitzmann, Albert, Berlin 1903, 335 – 369.
G. Zwischenfazit: Die Sprache Gottes als Sprache des Menschen
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vorführt. Auch Hamann stellt das Zusammenwirken von Mensch und Gott in der Sprache heraus. Insbesondere bei Hamann ist der Sprachursprung mit dem Verständnis von Schöpfung verknüpft. Schöpfung ist nicht die Emanation endlichen Seins aus einem e n s e n t i u m . Schöpfung ist Rede Gottes, ist Sprache. Also ist Sprache der immer mitgehende Anfang, c r e a t i o c o n t i n u a . In der Sprache erhalten die Dinge ein Eigendasein. „Gott spricht, aber nicht in einer Sprache neben den Dingen. Vielmehr sind die Dinge selbst seine Sprache.“ (SuB I, 321.) Schöpfung wird bei Hamann als „Anrede Gottes“ an den Menschen beschrieben, der in seiner Antwort auf diese Anrede Sprache nicht allein verstehe, sondern frei mit ihr umzugehen wisse. Das Erfinden der Sprache ist zugleich ein Empfangen. (Vgl. a. a.O., 324.) Der Mensch hat Gottes Wort immer nur als Menschenwort. (Vgl. a. a.O., 320.) In diesem Dialog zwischen Gott und Mensch ist es nicht die Sprache, die in der Welt entstehe, vielmehr werde Welt in diesem Dialog, in der Sprache geschaffen. In diesem sprachtheologischen Schöpfungsverständnis, das Liebrucks sich aneignet, ist die Methexis stets schon ausgesprochen. Wirklichkeit ist etwas, „das auch von Haus aus mit dem Menschen korrespondiert.“ (A. a.O., 322.) Diese Wirklichkeit ist für Liebrucks göttlich, denn sie „besteht darin, daß wir Gottes Wort nur hören, indem wir es zugleich erfinden.“ (A. a.O., 326.) Der Mensch „erfand“ Sprache vielleicht aus der Überlebensnot heraus – als Verständigungsmittel, das Gemeinschaft ermöglicht und ihn darin überlebensfähig macht. „Indem der Mensch auf die Sprache blickt, blickt er auf sich in allen Lagen.“ (SuB II, 83.) Sprachlichkeit ist keine transzendentale Prämisse, sie ist der Selbstvollzug des sprechenden Ichs als existierender Begriff. Seine Sprachlichkeit ist des Menschen Weltlichkeit, weil sie ihm als Unterscheidungsgeschehen eine logische Struktur gibt, in welcher er zugleich bei sich, beim anderen Menschen, bei den Dingen ist. So begegnet dem Menschen die Struktur seines Selbstverhältnisses als Struktur der Wirklichkeit: Alles erscheint ihm sprachlich – Leib, Natur, Kunst etc. Daher ist die „Schöpfung der Welt des Menschen nach dem Bilde seiner selbst zugleich die Schöpfung des Menschen nach dem Bilde seiner Welt“. (SuB I, 280.) Seine Welt ist sprachlich wie er selbst und ihm daher verwandt. „Unmenschliches läßt sich nicht sagen.“ (SuB II, 501.) Die Möglichkeit dazu, sich der Welt mit Sprachzeichen zu bemächtigen, muß als in den Dingen selbst liegend angenommen werden. Es liegt in den Dingen selbst, daß sie sprachlich vermittelbar in ihrer Wirklichkeit zugleich als Realität zur Erscheinung gebracht werden können. Nur weil Welt sprachlich vermittelbar ist, kann der Mensch auch sprechend auf sie antworten (und nicht nur als Handelnder). Die Begegnung mit der Welt als solcher, die den Menschen als Sprechenden antworten läßt, kann ebenso in dem Satze formuliert werden: „Gott lehrte den Menschen die Sprache.“ (SuB I, 325.) Gott lehrte den Menschen nicht wie ein Sprachlehrer. Daß und wie Gott lehrte, hat erst der Mensch erfunden, indem er die Natur als göttlich erfuhr und darstellte. Man kann somit formulieren,
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
die Erfindung der Sprache (durch den Menschen) sei die Lehre Gottes. (Vgl. ebd.) Diese Erfahrung der Natur als göttlich in einem unverstellten, sympathetischen Zugang zur Wirklichkeit schildern Judentum und Christentum im Bild des paradiesischen Zustandes (in anderen Kulturen: a u r e a s a e c u l a ). Der Einklang mit der Wirklichkeit der Welt ist das, was als Herrlichkeit einer Urzeit beschrieben wird. „Zu dieser ihrer Wirklichkeit gehört ihre Herkunft aus dem Worte Gottes. Der Engel Lüsternheit, Gottes Antlitz zu schauen, dort, wo die Transzendenz auf den Wiesen spielt, macht sie zu Dienern des Herrn. Sie sind die Boten, die Zeigestäbe der Dinge auf Gott.“ (Ebd.) Die Erfahrung der Welt voller Engel ist die Erfahrung der Welt mit dem Gespür für die Gegenwart sinnlicher Allgemeinbegriffe. (Vgl. ebd. u. ö.) „Die Sprachlichkeit Welt ist hier nichts weiter als die Herrlichkeit der Natur aus erster Hand, die die Natur als Einheit einzelner sichtbarer, hörbarer, tastbarer Wesen und engelhafter Anblicke von Allgemeinheiten ist.“ (Ebd.) Das ist die Natur des hegelschen Begriffs. Es ist die Natur, von der Hölderlin singt, daß sie Sprache sei. So liegt „der Ursprung der Sprache […] in ihrer natürlichen (Realität) – göttlichen (Wirklichkeit) Menschlichkeit.“ (SuB II, 508.) Göttlicher und menschlicher Sprachursprung schließen sich nicht gegenseitig aus. (Vgl. SuB I, 300 u. ö.) Das Verhältnis menschlicher und göttlicher Sprache erscheint bei Hamann ausdrücklich als „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum“.³¹³ Der Ursprung der Sprache ist „immer zugleich natürlich, menschlich-gesellschaftlich und göttlich.“ (SuB II, 410; vgl. SuB I, 75; 317 u. ö.) In ihrem dreifachen Ursprung erweist sich Sprache in jeder ihrer Äußerungen als Aufhebung von Gegensätzen, in jeder ihrer Äußerungen trägt sie deren Gegenteil in sich. „Solange die Welt als sprachliche erfahren wird, ist Gott in seiner transzendenten Herrlichkeit im Diesseits gegenwärtig.“ (A. a.O., 325.) Das Absolute zeigt sich in jeder sprachlichen Äußerung. „Wie alle Dinge zugleich menschlich, natürlich und göttlich sind, so auch der Ursprung der Sprache. Die Dinge haben ihre Dreifaltigkeit von der Sprache her.“ (A. a.O., 317.) Die sprachliche „Dreifaltigkeit“ ist bezogen auf die Dinge, deren Eigendasein – die Einheit von Dasein und Identität – ersprochen wird in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation, in welcher sich der subjektive Geist im absoluten Geist im Dialog mit einem anderen Subjekt über ein Objekt ausspricht. Die sprachliche Dreifaltigkeit wird somit als bühlersche Dreistrahligkeit semantischer Relationen zu verstehen sein. Es ist die Dreistrahligkeit semantischer Relationen der Sprache, die in ihrer quasi trinitarischen Relationalität auch den Dingen Dreifaltigkeit verleiht. Alles ist uns durch Sprache vermittelt. (Vgl. a. a.O., 320.) Sie ist das göttliche Absolute, das all seine Unter-
313 Hamann, Johann Georg, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Band III, hg.v. Nadler, Josef, Wien 1951, 27.
G. Zwischenfazit: Die Sprache Gottes als Sprache des Menschen
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scheidungen in sich trägt; sie ist menschlich als existierender Begriff; sie ist natürlich in der konkreten Sinnlichkeit ihrer Artikulationen. Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung des logischen Weltumgangs mit Sprache ist die Frage nach dem Ursprung der Sprache gleichbedeutend mit der Frage nach dem Ursprung der Welt: Schöpfung. Am Anfang ist immer das Wort. „Wir können heute zwar – wohl endgültig – nicht mehr so sprechen, als sei die Ansicht vom Sechstagewerk Gottes in der Unmittelbarkeit der biblischen Aussage philosophisch noch diskutierbar.“ (Sinnfrage, 297.) Auch wissenschaftlich ist sie das nicht – und will es nicht sein: Die biblische Schöpfungsgeschichte ist kein Konkurrenzmodell zur Urknallhypothese oder zur Evolutionstheorie. Schöpfungsgeschichten sind Ausdruck eines Wirklichkeitsverständnisses. Die Besonderheit eines Schöpfungsmythos‘ ist sein universaler Anspruch: Er will erzählen, wie alles begann. Das heißt auch, daß er nicht ein oberstes Prinzip darstellt, das er sich erschließt. Der Mythos spricht nie von einem Transzendenten, sondern er erzählt, d. h. er beschreibt eine Erfahrung. Mythos ist die Schilderung der Gegenwart des Unendlichen im Endlichen. Er ist Veranschaulichung einer unerwarteten Erfahrung, während wissenschaftliche Weltbetrachtung eine Erfahrung protokolliert, die sie der Natur unter bestimmten Bedingungen, gleichsam in einem Versuchsaufbau abgerungen hat. Eine Schöpfungserzählung ist kein Tatsachenbericht, sie legt Zeugnis ab von der Erfahrung des Ursprungs der Dinge, wie er gegenwärtig erfahren wird. Kein Verfasser eines Schöpfungsmythos hat den Anfängen beigewohnt, die er schildert. Unsere Anfänge sind uns entzogen. Wir können dennoch von ihnen reden, weil sie in ihrer uns entzogenen Faktizität zugleich in jedem Moment unseres logischen Welterlebens wirksam sind. „Demnach ist eine Ursprungsgeschichte von einer Schöpfung durch Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt, nicht als eine positive Aussage über einen tatsächlichen Vorgang anzusehen, weil dieser seinen logischen Ort nicht in der Wirklichkeit, sondern im Raum der wissenschaftlichen Realität hätte.“ (A. a.O., 301 f.) Wissenschaftlich muß ein Schöpfungsmythos wie eine Kette von Zufällen erscheinen. Die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, kann wissenschaftlich nur beantwortet werden, indem notwendige – physikalische, chemische, biologische, kausale etc. – Vorgänge erschlossen werden. „Daß Gott die Welt aus seiner Liebe geschaffen hat, muß wissenschaftlich immer unverständlich bleiben.“ (A. a.O., 302.) Diese Liebe ist die Selbstmitteilung des absoluten Geistes an und durch den subjektiven Geist. Sie ist der Selbstbezug in der Entäußerung an das Andere seiner selbst, wie es die christliche Dogmatik im Lehrstück von der Trinität logisch darzulegen versucht hat.³¹⁴ Die Benennung der Selbstmitteilung
314 Gewohnt sprachlich versiert in Szene gesetzt wird dieser Umstand von Eberhard Jüngel:
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3. Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks
des Absoluten als Liebe bringt zum Ausdruck, daß der Gang Gottes in die Welt keinen Zweck verfolgt. Liebe ist um ihrer selbst willen und in jedem Augenblick ihres Vollzugs vollkommen, weil sie immer bei sich ist, indem sie sich ihrem Anderen hingibt. Sie kann sich nur auf ihn beziehen, ihn lieben, indem sie den Geliebten den Anderen sein läßt. Liebe ist das Aushalten der Spannung zwischen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, Fürsichsein und Ansichsein, Identität und Nicht-Identität, die als dialektische Struktur des Absoluten beschrieben wurde. Die Liebe Gottes verwirklicht sich für den Menschen in der Teilhabe (Methexis) an dieser Liebe. Als Bewußt-Sein steht der Mensch keinen Moment seines Daseins nicht in der Beziehung zu Gott und ist doch von ihm unterschieden, ein sich selbst verantwortendes Ich. Die Teilhabe an der Liebe Gottes vollzieht sich in der dialektischen Anerkennung der Subjekte in der sprachlichen Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung. Im Dialog mit einem als sich selbst entsprechend anerkannten Subjekt erkennt sich das Ich als Bewußt-Sein, als geistig-sinnliche Identität, die mit dem Anderen das Menschsein als allgemeines teilt und dieses zugleich in der Differenzierung in ein individuelles Ich und ein individuelles Du erfährt. In der SubjektSubjekt-Objekt-Relation erscheinen die Subjekte als existierende Begriffe. Die sittliche Aufgabe, die Gegenwart des Absoluten in den sich anerkennenden menschlichen Subjekten zur Geltung zu bringen, ist formuliert im christlichen Doppelgebot, Gott und den Nächsten wie sich selbst zu lieben.³¹⁵ Die Erfüllung dieser Aufgabe ist die Verabschiedung eines objektiven Verständnisses von Gott und Ich. Das Christentum hat diese Verabschiedung geleistet und nach Liebrucks’ Auffassung zugleich seine eigene logische Revolution mit den Anfängen der dogmatischen Lehrbildung unterlaufen, in denen es die im Evangelium des menschgewordenen Gottes überwundene formalistische Logik der griechischen Antike in die Theologie einholte und den objektiv zu erklären versuchte, der sich als die lebendige Dialektik von Subjektivität und Objektivität verkündete. „Das Christentum sieht dort, wo es apologetisch auftritt, Gott nicht als den Herrn der Liebe und des Lebens an, nicht als das Eine, das schon a l s Eines, mythologisch gesprochen schon vor der Schöpfung bei der Welt war, sondern als das Eine, das in bezug auf sich selbst nur das Eine und sonst nichts ist.“ (Sinnfrage, 299.) Die
Gottes Sein ist im Werden, im Kommen. Gott kommt von Gott im Vater, Gott kommt als Gott im Sohn, Gott kommt zu Gott im Geist. Darin sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Gottes im ewigen Kommen Gottes aufgehoben. (Vgl. Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, um ein Vorwort erg. Aufl., Tübingen 20017, 518 ff.) Ein Vergleich der Denker Jüngel und Liebrucks kann – trotz naheliegender sprachphilosophischer Parallelen – im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht erfolgen, wäre aber sicher lohnend. 315 Vgl. hierzu das Kapitel Nächstenliebe als sprachliches Handeln.
G. Zwischenfazit: Die Sprache Gottes als Sprache des Menschen
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Apologeten behandelten den Herrn über Leben und Tod wie einen Gegenstand. Der apologetische, d. h. nach den Denkstatuten der hellenistischen Philosophie erstellte Gottesbegriff einer sich selbst unverändert gleichbleibenden Alleinheit bleibt der Konkurrent des Menschen. Gott als eine Identität, die nicht ihren Widerspruch zu ihrem Moment hat, der nur der Eine und nicht auch zugleich sein Anderes ist, kann nicht die Sprache des Menschen sprechen. „Die Ablehnung des göttlichen Ursprungs der Sprache richtet sich gegen einen gegenständlich vorgestellten Gott.“ (SuB I, 67.) Gott als absolute Position bleibt d e u s a b s c o n d i t u s , ein Gott, den wir immer schon bezeugen, ohne zu wissen, ob er p r o n o b i s ist.Wenn also Liebrucks in Anschluß an Herder einen menschlichen Ursprung der Sprache annimmt, dann widerspricht dieser Ursprung „einem göttlichen dann nicht, wenn Gott, Götter und Göttliches nicht als Gegenstände genommen werden, die nach dem Modell unserer Wahrnehmungsdaten, allenfalls nach dem Modell des Menschen hypostasiert sind.“ (A. a.O., 69.) Gott ist p r o n o b i s , sofern seine Wahrheit die unsere ist. „Die Aufklärung sagt zum Glauben: was du da als das Absolute ausgibst, das bist du selbst. Aber das wußte der Glaube längst. Er wußte: indem Gott sich liebt, liebt er mich als diesen da. Mein Auge, das Gott sieht, ist das Auge Gottes, das mich sieht.“ (SuB V, 229.) Jegliches Allgemeines hat sein Bestehen in seinen Konkretionen. Es darf diesen also nie wie ein Prinzip vorgeordnet werden. Ebensowenig ist das Besondere dem Allgemeinen vorzuziehen, da es sich erst aus dem Allgemeinen empfängt. „Wir beginnen vielleicht auch zu sehen, daß der christliche Gedanke des Lebens, das zugleich Wahrheit und vor allem der Weg ist, die Vereinigung beider ausgesprochen hat, wenn auch noch in einer gewissen mythologisch zu nennenden Weise.“ (Reflexionen, 178.) Die Frage nach der Wahrheit ist nicht mit einer für jeden Verstand gleichermaßen geltenden Gewißheit beantwortet, sondern wird vom Menschen in jedem Moment seines In-derWelt-Seins neu gestellt: Er ist diese Frage, in welcher immer der Verweis auf ihre Antwort angezeigt ist. Weil es die Antwort der Wahrheit gibt, kann der Mensch nach ihr fragen. „Quaeram te, domine, invocans te et invocem te credens in te […].“³¹⁶ Die Wahrheit des Logos ist das wechselseitige Sich-Erzeugen von Begriff und Erfahrung, Geistigkeit und Sinnlichkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit. Unsere Wahrnehmung und unser Denken sind immer schon Darstellungen dieses Logos, selbst wo sie diesen leugnen. So bezeugt alles menschliche Schaffen die göttliche Schöpfungsmacht. Das folgende Kapitel wird diesen Gedanken aufgreifen und vom Menschen als Marionette handeln, die aus ihrer Abhängigkeit von Gott Freiheit empfängt.
316 Augustinus, Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch, eingel., übers. u. erl. v. Bernhart, Joseph, Frankfurt a. M./Leipzig 1987, 12.
4. Freiheit als Marionette Gottes Die Metapher vom Menschen als Marionette Gottes hat eine lange Traditionsgeschichte. Eine kleine Auswahl sei bedacht, die sich an von Liebrucks rezipierten Autoren orientiert: Schon Platon skizziert in seinen Nomoi die Menschen als Drahtpuppen, als den Trieben von Lust und Schmerz ausgesetzte Geschöpfe.³¹⁷ Auch Kant verwendet das Bild der Marionette, um einen Menschen zu schildern, der denkend und handelnd seiner selbst nicht mächtig ist.³¹⁸ „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“³¹⁹ So erklingt die Klage Büchners, der das Bild der Marionette oder Puppe an den historischen Determinismus bindet und somit den Menschen als einen in die Hände des Schicksals gelegten, passiven Gegenstand umschreibt. Auch in den Briefen Kleists erscheint – im Gegensatz zu seinem berühmten Aufsatz³²⁰ – ein ähnliches Bild: „Ja, es ist mir so unbegreiflich, wie ein Mensch ohne Lebensplan leben könne, u. ich fühle, an der Sicherheit, mit welcher ich die Gegenwart benutze, an der Ruhe, mit welcher ich in die Zukunft blicke, so innig, welch‘ ein unschätzbares Glück mir mein Lebensplan gewährt, u. der Zustand, ohne Lebensplan, ohne feste Bestimmung, immer schwankend zwischen unsichern Wünschen, immer im Widerspruch mit meinen Pflichten, ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Drathe des Schicksaals – dieser unwürdige Zustand scheint mir so verächtlich, und würde mich so unglücklich machen, daß mir der Tod bei weitem wünschenswerther
317 „So wollen wir uns denn die Sache folgendermaßen vorstellen. Wir wollen jedes von uns lebendigen Wesen als eine sogenannte Marionette ansehen, welche die Götter, sei es bloß zu ihrem Spielzeug, sei es zu einem ernsteren Zwecke, gebildet haben, denn das wissen wir so recht eigentlich nicht. Das aber wissen wir, daß die ebengenannten Regungen in uns gleichsam wie innere Drähte oder Schnüre uns leiten und, wie sie selbst einander entgegengesetzt sind, auch einander entgegenwirkend uns zu entgegengesetzten Handlungen hinziehen, und daß eben hierin der Unterschied von Tugend und Laster beschlossen liegt.“ (Platon, Nomoi, I/15, in: ders., Nomoi, Buch I-III, übers. u. komm. v. Schöpsdau, Klaus, Göttingen 1993.) 318 „Der Mensch wäre Marionette oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denken Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung, und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchste doch aber gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird.“ (Kant, KdpV, 227.) 319 Büchner, Georg, Dantons Tod, Werke und Briefe, Münchner Ausgabe, hg.v. Pörnbacker, Karl/Schaub, Gerhard/Simm, Hans-Joachim/Ziegler, Edda, München/Wien 1988, 100. 320 Eine Auseinandersetzung mit Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater (1810) findet sich im Kapitel Wenn das Bewußtsein seine Balance verliert – Unschuld und Marionettenmetapher bei Liebrucks und Kleist.
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wäre.“³²¹ Auch Liebrucks kann das Bild der an Drähten gespielten Puppe im pejorativen Sinne verwenden. Er spricht dann von Menschen als Sklaven ihrer eigenen institutionellen Errungenschaften, die sich selbst entmündigen, indem sie wie „Marionetten bewegt werden, die mit ihren Fäden an Prinzipien gebunden sind“. (SuB V, 9.) Vor allem aber schreibt Liebrucks die Tradition des Marionettenmotives in ungewöhnlicher Weise fort: Bei ihm wird das Bild vom Menschen als Marionette zum Inbegriff des freien Menschen. Es ist hierbei entscheidend, wessen Marionette wir sind: „Nur als Marionette Gottes bin ich lebendig und frei.“ (SuB VII, 182.) Bevor wir dies nicht erkannt haben, müssen wir „die lähmende Trauer aushalten, die uns atmosphärisch umgibt, da wir den politischen Zustand, in dem wir nicht als Marionetten Gottes, sondern als die Marionetten anonymer Mächte leben, nicht durch eine Empörung wegwischen können, die uns den Gang zum Begriff in der Erkenntnis, in unserem ethischen Verhalten und in der Kunst ersparen möchte.“ (SuB VI/3, 210.) Liebrucks bindet die Freiheit des Menschen an dessen Gottesbezug und legt somit einen theologischen Grundzug seiner Philosophie offen. „Das Verhältnis von Philosophie und Religion ist heute wegen unserer philosophischen Halbbildung den Religionen gegenüber kaum noch vortragbar. Plato hatte von uns als Marionetten Gottes gesprochen. Er konnte nicht sehen, daß wir gerade als solche freie Wesen sind, die sich nur als diese ihres Verstandes ohne fremde Leitung bedienen können. Man glaubt gegenüber solcher Behauptung darauf hinweisen zu müssen, daß der Vf. sich noch in einem Konfirmandenstadium befinde, in dem er das,was er auf den Knien seiner Mutter gelernt hat, nicht vergessen konnte.Wird er womöglich kurze Zeit nach der Konfirmation Professor und glaubt darin die ersten Schritte getan zu haben, so ist es nicht verwunderlich, daß er zu solchem – gelinde gesagt – Mißverständnis gelangt. Man begegnet, hier einen Ausdruck Schadewaldts zu gebrauchen, in einer solchen Situation der Marionette Gottes sozusagen ,schulterklopfikos‘.“ (Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Vorwort, 14.) Im Bild des Menschen als Marionette ist die Hauptfrage der Auseinandersetzung eines Gottesbegriffs in Szene gesetzt: Wie kann man Gottes und des Menschen Freiheit zusammendenken? Diese Frage bildet stets den Hintergrund der Diskussion eines Gottesbegriffs. Mit der Annahme der Existenz eines Absoluten ist die menschliche Existenz immer schon als ein Moment dieses Absoluten ausgesagt. Darum muß in der Formulierung eines Gottesbegriffs ebenso der Begriff des menschlichen Ich Aufmerksamkeit finden, wie es im vorangegangenen
321 Kleist, Heinrich von, Brief an Ulrike von Kleist (Mai 1799), Sämtliche Werke, BKA IV/1: Briefe 1. März 1793 – April 1801, hg.v. Reuß, Roland/Staengle, Peter, Frankfurt a. M./Basel 1996, 62.
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Kapitel erarbeitet wurde. Die Quintessenz der dort erfolgenden Darstellung ist die Einsicht, daß der Mensch nicht ohne Gott zu haben ist und Gott nicht ohne den Menschen. Die Verhältnisbestimmung beider wurde über den Identitätsbegriff geführt. Hierbei war Hegels Philosophie des Geistes argumentationsleitend: Der absolute Geist gewinnt sich in der Entäußerung in sein Gegenteil, das materielle Sein, und aus der Rückkehr zu sich selbst im Denken des subjektiven Geistes als absolute Identität. Er ist sich selbst denkende Vernunft, Begriff des Begriffs, Identität von Identität und Nicht-Identität. Als Moment des absoluten Geistes empfängt der subjektive Geist die logische Struktur seines Weltumgangs aus der Logik des Absoluten. Darin liegt die Methexis seiner Weltgestaltung an der Wirklichkeit der Dinge begründet. Die logische Struktur des Absoluten ist die Dialektik von Begriff und Existenz, die Liebrucks auch Idealrealität resp. Realidealität nennt und als logische Struktur der Sprache erkennt. Entsprechend nennt er das Absolute auch den Logos, aus dem sich die Logik herleitet, in welcher der subjektive Geist seinen Weltumgang als sprachlichen bestreitet. „Die Sprachlichkeit des menschlichen Weltumgangs ist seine Logizität.“ (SuB VI/1, 151.) Die Dialektik von Begriff und Existenz ist die logische Struktur des Bewußt-Seins, ein Ausdruck, welcher der hegelschen Wendung vom existierenden Begriff gleichkommt und bei Liebrucks für den menschlichen Weltumgang steht. Der Begriff des „Weltumgangs“ entspricht dem, was man langläufig „vernünftiges Verhalten“ zu nennen pflegt. (Vgl. a. a.O., 16.) Der Mensch hat keinen Umgang mit der Welt, er ist sprachlicher Weltumgang. Daher ist die menschliche Welt „nicht eine dem Menschen als logischem oder metaphysischen Subjekt gegenüberstehende Welt, sondern die im Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnis erscheinende.“ (A. a.O., 89.) Dieses Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnis ist die Sprache, in welcher das Subjekt in der Anrede eines sich selbst als entsprechend anerkannten Subjekts sowohl sich als Ich ausspricht als auch das Absolute, dessen logische Darstellung seine Selbstdarstellung als sinnlich-geistige Identität in Sichselbstgleichheit und Selbstunterscheidung ist. Diese logische Struktur wird von Liebrucks umschrieben in der metaphorischen Rede vom Menschen als der Marionette Gottes. Bei ihr will das vorliegende Kapitel verweilen; im Gesamtaufbau der Arbeit bildet es das Bindeglied zwischen der Beantwortung der Hauptfrage der Untersuchung nach dem von Liebrucks formulierten Gottesbegriff und der Applikation der diesbezüglichen Untersuchungsergebnisse auf von Liebrucks rezipierte Texte und Motive der (jüdisch‐)christlichen Tradition. Demgemäß nimmt dieses kurze Zwischenkapitel ebenso Aussagen aus der bisherigen Darlegung auf, wie es einige im weiteren Verlauf der Arbeit noch zu klärende Thesen und Begriffe vorwegnimmt. Die Metapher der Marionette erweist sich als Veranschaulichung der hegelschen Philosophie des Absoluten. Wie diese das theoretische Gerüst für die von Liebrucks erschlossene Sprachphilosophie bildet, so erweist sich die Marionet-
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tenmetapher als der rote Faden, der das Werk von Bruno Liebrucks durchzieht. Die Verwendung des Bildes der Marionette funktioniert über dessen Brechung: Liebrucks wählt ausgerechnet eine bewußtseinslose Puppe als das Bild, in dem sich seine Bewußt-Seins-Theorie verdichtet. Die durch seine Kontextualität entstehende Widersprüchlichkeit des Bildes macht dessen Reiz aus und lenkt aufgrund der doppelten Paradoxalität – eine Puppe mit Bewußtsein, eine freie Marionette – die Aufmerksamkeit auf die Pointe der Sprachphilosophie, die Liebrucks entfaltet. Daher wurde diese Metapher titelgebend für die vorliegende Untersuchung. Um zu verdeutlichen, daß der Mensch seine Freiheit aus seinem logischen Weltumgang als Darstellung des göttlichen Logos empfängt, wird nicht von der Freiheit der Marionette gesprochen, sondern – so hält es auch Liebrucks – von der Freiheit des Menschen als Marionette Gottes. Das Wort „als“ kann eine symbolische Prägnanz bezeichnen (so bei Cassirer, König oder Husserl). Bei Liebrucks hingegen ist hiermit die dialektische Genese des Begriffs zum Ausdruck gebracht; ebenso in dem Wort „und“ oder dem Bindestrich des Wortes „Bewußt-Sein“. Das Marionettendasein steht bei Liebrucks für die Vorgängigkeit der menschlichen Vernunft. Diese scheitert erkenntnistheoretisch an ihrer eigenen Faktizität. Sie kann ihren eigenen Vollzug nie gänzlich zum Gegenstand ihrer Reflexion machen, weil sie nicht von sich selbst abstrahieren kann. Es steht der Vernunft aber frei, nach dem Ursprung ihrer Faktizität, dem „Woher schlechthinniger Abhängigkeit“ (Schleiermacher) zu fragen. Die Freiheit der Marionette besteht demnach in dem, was Herder die „zweite Reflexion“ nennt. In ihr thematisiert die Vernunft im Denken ihrer Gegenstände zugleich sich selbst als das Denken der Gegenstände: Die Marionette thematisiert die Fäden, an denen sie hängt. „Die Fäden werden zum Inhalt gemacht, ohne daß sie ihren Anhaltscharakter verlieren.“ (A. a.O., 261.) Die Frage der Vernunft nach ihren Voraussetzungen steht immer schon unter diesen Voraussetzungen. In der Thematisierung der Entzogenheit ihrer Faktizität denkt sich die Vernunft, indem sie ihre Grenze denkt. Diese Einsicht wird mit der Marionettenmetapher zur Geltung gebracht: Des Menschen Freiheit besteht im Aushalten seiner Unfreiheit. Seine Unfreiheit äußert sich darin, immer an etwas seine Grenze zu finden. Die Unfreiheit des Menschen besteht in seiner Endlichkeit; seine Freiheit besteht darin, um seine Unfreiheit, seine Endlichkeit zu wissen. „Freiheit ist immer im Maße des Wissens gegeben, das dem Menschen in der Erkenntnis seiner Endlichkeit zugemes[s]en ist.“ (SuB I, 17.) Paul Tillich weist in seiner Systematischen Theologie darauf hin, daß das Bewußtsein der eigenen Freiheit als endlicher das Bewußtsein als Angst ist. Sofern Tillich Angst als Bewußtsein eigener Endlichkeit mit dieser gleichsetzt, kann er
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behaupten, die Freiheit des Menschen müsse „sich ängstigende Freiheit“³²² genannt werden.³²³ Auch Liebrucks erklärt, den wahren Status unserer Logik zu erkennen, mache Angst. Diese Angst ist eine unbestimmte Form von Furcht vor dem Irrationalen, Unberechenbaren. Es ist eine Angst ebenso vor uns selbst, denn unsere eigene Wahrheit läßt sich wesentlich nur in Momentaufnahmen fassen. Gott und Mensch entfliehen jeder Definition. „Die Angst vor der bestimmten Negation ist die Angst vor der Irrealität, die wir Menschen sind. Sie ist die Angst vor dem freigewordenen Menschen.“ (Hölderlin, 218.) Diese Furcht vor der eigenen Freiheit äußert sich in einem Drang des Menschen zu strikter Institutionalisierung und zum Gewinn objektiver Erkenntnis. Unser eigener Begriff zu sein, bedeutet aber nicht, mit einem bestimmten Bild vom Menschen übereinzustimmen. „Immer vergreifen wir uns an uns selbst, wenn wir uns nach unserem Bilde von uns begreifen, was in die Lehre vom notwendigen Irrtum innerhalb der Erkenntnis gehört. Frei wären wir erst, wenn wir uns nach dem Bilde Gottes begreifen könnten und nicht mehr annehmen müßten, daß darin eine mythologische Aussage steckte, die logisch nicht zu rechtfertigen sei.“ (Sprachaufstufung, 259.) Nach dem Bilde Gottes geschaffen zu sein, bedeutet, die logische Struktur der absoluten Identität als die Struktur der eigenen Identität zu haben: Identität, die ihren Widerspruch zu ihrem Moment hat. Eine solche Identität kann nicht schematisch erworben werden, denn der Widerspruch ist dadurch charakterisiert, in kein Konzept zu passen. Er ist nicht systematisierbar. Ihn auszuhalten gelingt allein einer Identität, die sich darin als offene erweist, nicht Identität „im Unterschied“, sondern das Unterscheiden selbst zu sein. „Daher kann ich mir einen Begriff von mir nur machen, wenn ich […] begriffen habe, daß Gott mich nicht nach einem menschlichen Schema oder Bild, sondern nach seinem Bilde schuf. Philosophie ist immer das Totalexperiment des Lebens, sich die Bilder so zu machen, daß sie nicht Bilder des Scheines […], d. h. die der objektiven Reflexion sind, sondern solche Bilder, von denen ich nicht annehme, daß sie Bilder von Regeln sind, sondern Bilder des Begriffs als Idee.“ (A. a.O., 269.) Solche Bilder sind keine Abbilder einer transzendenten Wirklichkeit, sondern Entsprechungen eines Allgemeinen, das diesen sowohl transzendent wie immanent ist. „In dem Begriff als Idee sein heißt im absoluten Geist und damit auch in Gott sein.“ (A. a.O., 268.) Gott ist den Bildern von sich transzendent, sofern er in ihnen nicht unmittelbar zugegen ist; er ist ihnen als seinen Konkretionen dennoch zugleich immanent. In seiner Transzendenz-Immanenz bezeugt er sich als der Logos, als der sich die Methexis des endlichen Seins an der Unendlichkeit des Geistes vollzieht. Auf-
322 Tillich, Paul, Systematische Theologie, Bd. II, Stuttgart 19583, 41. 323 Vgl. das Kapitel Träumende Unschuld.
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grund dieser Methexis erweist sich die Selbstbehauptung des menschlichen Subjekts, Ausdruck dessen Gottesebenbildlichkeit zu sein. Wiederum mit Worten Paul Tillichs läßt sich pointieren, was Liebrucks in seinem über den Gottesbegriff erarbeiteten Freiheitsbegriff zum Ausdruck bringt: „daß die Möglichkeit der Abwendung von Gott eine Qualität der Struktur der Freiheit als solcher ist. […] Es ist das Ebenbild Gottes im Menschen, das die Möglichkeit des Falls schafft. Nur das Wesen, das Ebenbild Gottes ist, hat die Macht, sich von Gott zu trennen. Die Größe und die Schwäche des Menschen haben ein und dieselbe Wurzel. Selbst Gott kann die eine nicht ohne die andere aufheben.“³²⁴ In der Ebenbildlichkeit von Gott und Mensch liegt begründet, daß sich beider Freiheit am Widerspruch durch die Freiheit des anderen bewährt. Freiheit ist Aushalten der Freiheit des Anderen. Dennoch bleibt in diesem Wechselspiel eine Asymmetrie bestehen. Gott wird sowenig Marionette des Menschen, wie sich der Mensch aus seinem Marionettendasein befreien könnte: Die Struktur unserer Freiheit haben wir empfangen. „Der höchste Ernst des Menschen liegt darin, daß er sich in den Stand setzt, das in höchster Aktivität und durch sie Erreichte als Geschenk aus Gottes Hand zu empfangen. […] Der höchste Ernst des Menschen liegt darin, in jeder einzelnen Handlung die dialektische Würde des Begriffs nicht preiszugeben.“ (SuB III, 503.)³²⁵ Die Preisgabe dieser Würde ist die Leugnung der Widersprüchlichkeit der eigenen Freiheit als begrenzter, da im Aushalten dieses Widerspruchs der Rang des Menschen als des mit dem Logos begabten Wesens liegt. „[L]ernt der Mensch wissen, in welchem Maße er unfrei ist, wird er darin frei, so ist er dadurch nach vorne offen.“ (SuB II, 270.) Die Freiheit des Menschen ist selbst ein Widerspruch. Sie ist insofern begrenzt, als sie offen ist. Offenheit ist Ausdruck von Freiheit und zugleich deren Einschränkung. Die Freiheit des Menschen ist offen im Sinne von unvollendet, sofern sie im unablässigen Abarbeiten an der eigenen Begrenztheit besteht. Zugleich ist der Mensch offen im Sinne von frei, über seine Selbstwidersprüche seine Identität auszusagen. „Diese Offenheit hat er nur durch Sprache.“ (Ebd.) Sprache ist die logische Struktur der Vernunft, deren Momente sich aneinander erzeugen: Existenz und Begriff. Die Entsprechung von Existenz und Begriff besteht in deren Widerspruch. Die Existenz ist die Verendlichung des Begriffs, der Begriff ist die Aufhebung der Existenz in die Unendlichkeit der Bedeutung. In der Sprachlichkeit seines Weltumgangs „nach vorne offen“ ist der Mensch als existierender Begriff.
324 Tillich, SysTh II, 39. 325 Die sittliche Forderung an den Menschen besteht folglich darin, in seinen endlichen Handlungen das Unendliche zur Geltung zu bringen. Vgl. hierzu das Kapitel Sittlichkeit.
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Existierender Begriff zu sein, bedeutet, daß der Mensch Begriff seiner selbst stets in der Vermitteltheit des Seins ist. Der Mensch ist existierendes Individuum in einer Situation und zugleich Begriff. Vermittelt in der Welt zu sein, sein eigener Begriff zu sein, bedeutet „Puppe“ von sich selbst zu sein. (Vgl. SuB VI/1, 332.) Hier wird die Doppelbedeutung des Wortes „Puppe“ von Liebrucks ausgespielt: Zum einen wird „Puppe“ verstanden als Marionette, zum anderen als „Larve“. „Jedes Ding, jeder Mensch, jeder existierende Begriff, sie haben ihr Stehvermögen als Larven Gottes.“ (A. a.O., 333).³²⁶ Sie stehen in der logischen Struktur des Logos, d. h. ihr Eigendasein ist Darstellung Gottes. Hier bricht das Bild: Sind wir auch Marionette Gottes, so ist dieser Gott doch kein Drahtzieher. Das Marionettendasein des Menschen besteht darin, im selbsttätigen logischen Weltumgang Darstellung
326 Dieser Ausspruch erinnert auffällig an Luthers Rede von der Mummerei, den Masken oder den Larven Gottes, unter denen verborgen er wirkt. Schon Luther stellt damit Gott nicht als jeglicher Widersprüchlichkeit entrückte Sichselbstgleichheit dar, sondern erhebt den Gang Gottes in seinen eigenen Widerspruch zum elementaren Moment der göttlichen Wirklichkeit. (Vgl. zum Ausdruck „Mummerei“ Luther, Martin, Der 127. Psalm ausgelegt an die Christen zu Riga in Liefland (1524), WA 15, 373, 16 f.; von „Larven“ spricht Luther in der Vorrede zu Joh. Lichtenbergers Weissagung (1527), WA 23, 8, 37 f. Vgl. WA 9, 103, 23 – 25; WA 16, 491, 5; WA 40 1, 172 ff.) – Auch Liebrucks führt den Begriff der Maske, der den Ausdrücken „Verpuppung“ und „Larven“ zunächst synonym zu sein scheint. Die Maske steht im Unterschied zu jenen Begriffen meiner Auffassung nach aber eher für eine Form der darstellenden Vergegenständlichung, die den Aspekt der Entgegenständlichung nicht zur Geltung zu bringen vermag. Die Maske gibt den Dingen ein starres Gesicht, sie ist undurchlässig für die Vieldeutigkeit des sie Tragenden, der erst sichtbar wird, wenn man die Maske abnimmt. Die Larve dagegen ist eine Verkleidung, die den Verkleideten nicht verbirgt, sondern sichtbar macht (vgl. zu diesem Motiv der Verkleidung das Kapitel Kleider machen Menschen). So kann sich auch der Mensch „hinter jeder Maske verstecken, vor allem vor sich selbst.“ (SuB III, 112.) (Hier mag ein indirekter Verweis auf Hegel ausgesprochen sein, demzufolge das Gesicht nicht Merkmal von Individualität, sondern vielmehr eine Maske der Erscheinung sei. Das Individuum zeige sich eher in seinen Handlungen. Er wendet sich damit gegen zeitgenössische Theorien, charakterliche Eigenheiten eines Menschen anhand von Sprachzeichen oder Körperzeichen dechiffrieren zu können. Vgl. Hegel, PhG, 212.) Liebrucks bezeichnet offenbar die formallogische Positivierung von Welt zu einer behandelbaren Realität als Maskierung, welche die Dinge allein als Erscheinung im Sinne Kants sehen läßt. Erfolg und Notwendigkeit der Wissenschaften täuschen über deren begrenzten Handlungsspielraum und deren Degeneration hinweg. Die Bedrohung trägt eine Maske, die „lächelt“, sie ist „intelligent, lächelnd und stumm.“ (SuB I, 1.) Die Demaskierung als „Überschreiten der Realität ist nicht im pejorativen Sinn ‚spekulativ‘, sondern steht vor der entmaskierten Wirklichkeit, die ihre Maske nur vor dem Begriff als der Liebe in transcendentaler Empfindung ablegt.“ (SuB VII, 235.) Was Liebrucks hier in Aufnahme Hölderlins als „transcendentale Empfindung“ beschreibt, entspricht bei ihm selbst der sogenannten Augenblickserfahrung, der Erfahrung der Gegenwart des Unendlichen im Endlichen. (Vgl. a. a.O., 234.) Dieses Verständnis des bedeutenden Augenblicks wird im Kapitel „Verweile doch“– Die Erfahrung des Augenblicks näher erläutert werden.
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Gottes zu sein. Diese Darstellung wird von Liebrucks „Verpuppung“ genannt. Sie ist die einzige Darstellung Gottes, die der Mensch ertragen kann, weil Gott in der Sprache des Menschen spricht, sich ins Menschliche erniedrigt, anstatt es mit seiner Herrlichkeit zu überfordern, zu vernichten. Der D e u s N u d u s ist dem Menschen unerträglich.³²⁷ Darum entäußert sich Gott als Wort in die menschliche Welt. Gott begegnet uns, in dem wir ihn darstellen. „Als Daseiende sind wir die Puppen Gottes, nicht die einer Gottheit.“ (SuB VI/1, 332.) Wir sind kein Abbild eines Urbildes, vielmehr ist Gott in uns lebendig, indem wir Mensch sind. „Diese Puppe ist nur als Puppe Gottes nicht wesentlich Leben, sondern Lebendiges.“ (Ebd.) Wir stellen ihn dar in jedem Moment unseres Weltumgangs als Sprache, in dem Geist und Existenz sich vermählen. In seinem logischen Weltumgang Darstellung Gottes zu sein, umschreibt die – sprachlogisch gedeutete – Gottesebenbildlichkeit, die wiederum einen alternativen Ausdruck in der metaphorischen Rede davon findet, daß der Mensch Marionette Gottes und als solche frei sei. Ihre Ebenbildlichkeit ist Entsprechung von Gott und Mensch. Der Ausdruck „Entsprechung“ ist selbst Hinweis darauf, worin die Ebenbildlichkeit besteht: in der Sprache. In ihr stellen wir uns selbst dar und Gott. Diese Darstellung ist nicht Deutung unserer Lebensvollzüge und Erfahrungen auf ein oberstes Prinzip. Denn wie wir als Marionetten Gottes individuelle, freie Personen sind, so wären wir „als Marionetten der Evolution oder eines gegenständlichen ‚Gottes‘ unfreie reale Apparaturen“. (Sinnfrage, 304.) Auf einen positiven Gottesbegriff bezogen wäre „der Mensch“ ebenso nur ein wesentlicher Allgemeinbegriff, dem kein Individuum in der Mannigfaltigkeit seines phänomenalen Selbsterlebens oder der Erfahrung durch andere je entspräche. Es ist ein Ausdruck von Unfreiheit, sich einem Begriff von sich selbst zu unterstellen, welcher der Selbsterfahrung widerstreitet. Dies ist die Kritik an Kant, welche im vorangegangenen Kapitel entwickelt wurde: Der Mensch kann sich seine Identität nicht verstandesgemäß selbst geben, weil jede vom Verstand einsehbare Identität unter Ausschluß ihres Widerspruchs gewonnen ist. Wir sind unfrei, solange wir unsere Identität allein behaupten können, indem wir sie nicht auch in der Entfremdung ihrer selbst als unsere Identität erfahren und denken können. Kant weiß darum, daß Identität ihre Nicht-Identität aushalten können muß, wenn er in der zweiten Formulierung seines kategorischen Imperativs fordert, der Mensch dürfe niemals nur als Mittel, sondern solle zugleich auch als Zweck behandelt werden. Unsere Identität ist, so läßt sich mit Liebrucks folgern, kein Produkt unseres Verstandes, sondern die logische Struktur unserer Vernunft, in der wir uns immer schon in Bezüglichkeiten bewegen. Diese Struktur
327 Zur Unerträglichkeit des D e u s N u d u s – sowie des h o m o n u d u s – vgl. das Kapitel Die Unerträglichkeit des Unverhüllten.
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ist die Einheit von Identität und Nicht-Identität,von Sein und Begriff. Diese Einheit ist kein wesentlicher Allgemeinbegriff, kein Postulat, sondern einzig in ihrem unablässigen Vollzug. Es ist die Einheit des absoluten Geistes, der den subjektiven Geist in sich begreift. „Nur innerhalb der absoluten Idee, nur als Marionette Gottes, ist der Mensch dieses freie Subjekt da. Er ist es nicht als Mitglied einer noumenalen Welt, sondern innerhalb der absoluten Idee, was in der religiösen christlichen Vorstellung ‚Kind Gottes‘ heißt.“ (SuB VI/3, 601.) Wir sind Darstellung Gottes als Kind Gottes: Wir empfangen uns aus ihm als eigenständiges Subjekt. Das menschliche Bewußtsein ist nur als Kind Gottes bzw. „als Marionette Gottes der Spontaneität fähig.“ (SuB V, 30; vgl. a. a.O., 107.) Spontaneität ist Kant zufolge die Tätigkeit des Verstandes als das Vermögen, selbst Vorstellungen hervorzubringen. Spontan ist dieser Definition zufolge das logische Ich als reines Bewußtsein, d. i. nicht das Ich, wie es erfahren werden könnte, sondern wie es als das all meine Vorstellungen begleiten können müssende c o g i t o gefordert sein muß. Dieses transzendentale Subjekt ist als solches der Selbsterkenntnis unfähig, sofern es die Sprache des Verstandes spricht, der, strikt nach den von ihm bestimmten Denkgesetzen verfahrend, nicht das denken kann, was über diese Gesetze hinausgeht, d. h. auch nicht die logische Struktur, aus der sie erwachsen. Sich selbst aussprechen kann der Mensch allein, sofern er sich nicht ausschließlich als formales Subjekt benennt, sondern auch aussprechen kann, daß er sich zu einem solchen Subjekt setzt. Er ist damit in seinen Setzungen stehend zugleich über diese erhaben. „Des Menschen Rede ist seine Sprache nur, wenn er seine Spontaneität als Marionette Gottes hat und nicht in rührender stultitia auf eigenem Boden zu stehen glaubt.“ (A. a.O., 88.) Sein vernünftiger Weltumgang ist die Frage nach der Faktizität seiner Vernunft, in welcher sich der Mensch selbsttätig als Ich ausspricht, indem er sich als Ich empfängt. Das Absolute und seine Mitteilungen stehen nie als ein Objektives vor uns. „Wäre es [das Absolute, S. L.] objektiv, so wäre der Mensch dadurch, daß es sich im menschlichen Aussprechen ausspricht, eine unfreie Marionette.“ (SuB III, 431.) Der Mensch bringt das Göttliche in jedem seiner Worte und Gedanken, in all seinen Erfahrungen und Handlungen zum Ausdruck. Die Darstellung des Absoluten verläuft über die Darstellung der eigenen Subjektivität. So begriffen liegt das Glück des Menschen in seinem Marionettendasein, „das nicht Masochismus, wie es heute gerne heißt, sondern der Weg zum höchsten Glück ist, das der Mensch aus der Hand Gottes empfangen kann.“ (SuB V, 107.)³²⁸ Wovon der Mensch abhängig
328 „Wir können hinzufügen, daß in dem Absinken aus den Verhärtungen des jeweiligen Ich, im Absinken in Zustände, in denen wir von außen dann als Marionetten eines Gottes beschrieben werden mögen, das Beste, liegt, was der Mensch erreichen kann.“ (SuB I, 310.)
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ist, dient ihm zugleich. Er spricht das Absolute nicht nur für das Absolute aus, sondern auch für „sich“. „Es ist die Güte Gottes, daß er sich über den Menschen als ein freies Wesen ausspricht, daß er den Menschen in Freiheit an seinem Werk mitwirken läßt.“ (SuB III, 431.) Im Bild gesprochen: Das Marionettenspiel ist der Marionette Gottes, von der Liebrucks spricht, nicht äußerlich. „Frei bin ich erst als Marionette des christlichen Gottes, weil es sich hier um eine nicht objektive Leitung handelt, wie z. B. bei dem obersten unbewegten Beweger unseres Denkens, dem hos erōmenon Angegangenen des Aristoteles. Erst als Marionette des christlichen Gottes kann ich mich meines Verstandes ohne fremde Leitung bedienen, da dieser Gott in Christus dem Menschen dient und der Gott des Friedens ist.“ (Rede, 331 f.) Als Marionette des christlichen Gottes benutzt man den Verstand „ohne fremde Leitung“ (Kant), weil Gott uns nicht fremd ist: Sein Geist ist unser Geist. So verstanden ist der Gang Gottes in die Welt „die Freiheit der Individuen selbst. Das ist der geoffenbarte christliche Gott, den Hegel in das Denken der Philosophie eingebracht hat.“ (SuB III, 611.) Hegel bringt ihn in die Philosophie ein als den dialektisch sich forttreibenden Begriff des Begriffs, der sich als Identität über seine Widersprüche konstituiert. Dies ist die begriffslogische Fortschreibung des zentralen Motivs der christlichen Tradition: des in seinen tiefsten Widerspruch gehenden, d. h. des Mensch werdenden Gottes. Der christliche Gott erweist sich als Gott, indem er der kümmerlichste aller Menschen wird, verurteilt, verspottet, hingerichtet – und indem er vom Tode aufersteht zu seiner ganzen Herrlichkeit, in welcher sein Gang in den Selbstwiderspruch aufgehoben ist. Liebrucks sieht in Anlehnung an Hegel in der neutestamentlichen Verkündigung des ins Sein eingehenden göttlichen Logos, seines Todes und seiner Auferstehung nicht allein den Gang des absoluten Geistes, sondern auch den des subjektiven geschildert. Weil der Gang Gottes zu den Menschen ein Moment der Selbstentfaltung des Absoluten ist, ist er zugleich der Gang des Menschen zu Gott. Das ist die frohe Botschaft: Daß wir immer schon zur Unendlichkeit hin geschaffen sind, zu Gott, zu dem wir uns nach II Kor 5, 20 versöhnen lassen sollen. Diesen Aufruf entfaltet Hegel in seiner Philosophie des Absoluten als den Weg des Geistes, d. i. als Weg des Bewußtseins zu sich selbst, dessen Wenden nach „außen“ zugleich das Zusammengehen mit sich ist. Der Geist, die bewegte Wirklichkeit des Bewußtseins, generiert die Wahrheit, zu der er unterwegs ist, in dessen Selbstvollzug.Wahrheit ist – so wurde es bereits dargelegt – die Übereinstimmung von Allgemeinem und Besonderem. So ist die Wahrheit des Absoluten immer auch die des Subjekts. Die Freiheit des Menschen besteht darin, Besonderes im Allgemeinen zu sein. Das Besondere aber ist nicht trotz des Allgemeinen, sondern angesichts des Allgemeinen: Nur als Marionette Gottes sind wir frei. (Vgl. Sprachaufstufung, 251 u. ö.) Diese Einsicht ist nicht etwa „eine religiöse oder weltanschauliche Beteuerung“. (Ebd.) Sie ist die Einsicht, daß wir aus der als Logos sich vollziehenden, wechselseitigen Methexis
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von Existenz und Begriff die Freiheit dazu empfangen, uns einen Begriff von uns zu machen und unser eigener Begriff zu sein. Freiheit ist dialektisch, sie will nicht nur in einem negativen Sinn als „Freiheit von“, sondern auch in einem positiven Sinn als „Freiheit zu“ bestimmt werden, andernfalls ist sie hybride Willkürfreiheit. Freiheit als Willkürfreiheit kann unsittlich sein. Die Sittlichkeit der Freiheit hängt davon ab, wozu sie sich bestimmt. Wird Freiheit etwa ausschließlich als Selbstbestimmtheit definiert, ist sie verabsolutiertes Fürsichsein, das sich selbst nur in Unterwerfung des Anderen behaupten zu können meint. Wir sind jedoch nicht frei von dem, wovor wir ausweichen, was wir ausschließen müssen. Freiheit ist die Macht, auszuhalten, was sich mir widersetzt. Einzig solche Macht ist sittlich gut. „Nicht jede Macht ist böse. Aber nur die Macht im Dienste des Guten ist gut. Böse ist nicht nur die Macht im Dienste des Bösen, sondern schon die Macht um ihrer selbst willen.“ (SuB IV, 3.) Freiheit ist Anundfürsichsein, sich unterscheiden und sich beziehen zugleich. Freiheit ist Bewußt-Sein. Bewußt-Sein als Dialektik von Selbstbezug und Selbstunterscheidung ist Aushalten des Widerspruchs. Es ist die Freiheit des Geistes, der seine Wahrheit nur gewinnt, „indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.“³²⁹ Die Freiheit des Menschen besteht darin, nicht in der Unmittelbarkeit der Weltbegegnung verharren zu müssen. Freiheit besteht darin, zugleich bei den Dingen und bei sich selbst zu sein. „Der erste Befreiungsschritt aus einer Situation liegt im Aussprechen dieser Situation.“ (SuB I, 434.)³³⁰ Unmittelbaren Ausdruck findet menschliche Freiheit in den Abstraktionsleistungen des Verstandes, infolge derer die andringende Wirklichkeit als gesetzmäßig verknüpfte Ordnung erscheint. Die Freiheit des Menschen ist eine Freiheit, „die immer nur im Befolgen der immanenten Notwendigkeit der formalen Logik erreicht wird.“ (SuB VI/3, 161.)³³¹ Freiheit ohne Gesetzmäßigkeit ist Chaos. Um geäußert zu werden, braucht auch Freiheit Form, z. B. Sprachformen. So schwingt sich das Denken an den Formen der Grammatik „wie an Turngeräten“ empor. (Ebd.; vgl. a. a.O., 280.) Je differenziertere Ausdrucksmöglichkeiten eine Grammatik eröffnet, desto freier kann eine Person ihre Individualität aussprechen. Die Gestalten der Freiheit sind vielfältig. „Daß sie im menschlichen Leben in tausend und abertausend Gestalten aufgetreten ist und nur in diesen wirklich sein kann, ist die Entfaltung dieses Begriffs der Freiheit.“ (SuB III, 509.) Die Vielfalt ihrer Gestalten liegt in der Freiheit
329 Hegel, PhG, 26. 330 „Die Freiheit in der Sprache ist die Antwort des Individuums auf den Druck des Objektiven.“ (SuB II, 175.) 331 „Freiheit des menschlichen Lebens gibt es nur bei erfüllter Gesetzmäßigkeit.“ (SuB II, 233.)
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selbst begründet: Freiheit, die nur eine Ausdrucksform hätte, wäre keine Freiheit. Neben den eigenen Konstrukten keine Alternativen zuzulassen, ist kein Charakteristikum von Freiheit, sondern von Fanatismus.Wo Freiheit institutionalisiert wird, treibt sie immer schon über sich hinaus. Darin liegt u. a. begründet, daß der Mensch als Rechtsperson nicht kongruent ist mit der individuellen Persönlichkeit, als die er sich erlebt. Hieraus ergibt sich für Liebrucks folgende Konsequenz: „Unveränderlich an jeder Verfassung darf nur der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit sein. Diesem hat sie sich immer anzugleichen. Mache ich dagegen den Fortschritt zum Prinzip, so leugne ich die menschliche Freiheit.“ (A. a.O., 645.) Was Fortschritt ist, bestimmt sich vom Grad der Erfüllung der Freiheit her. Fortschritt an sich kann auch nur die Verwirklichung eines Aspekts menschlicher Freiheit bedeuten und insofern die Freiheit des Menschen, „nach vorne offen“ zu sein, sogar verleugnen. Die Freiheit zur Vieldeutigkeit trägt die Freiheit zur Eindeutigkeit in sich; umgekehrt kann dies nicht gelten. (Vgl. Sprachaufstufung, 241.) Daher entspringt Freiheit „in der Einsicht des Gesetztseins des Gesetztseins von Sein.“ (A. a.O., 252.) Die Selbstgesetzgebung dagegen, der sich der „gesunde Menschenverstand“ theoretisch und praktisch unterwirft, ist lediglich Ausdruck von Freiheit in deren Reglementierung. In seinen Selbstgesetzgebungen stellt sich das sie setzende Subjekt gleichzeitig unter sie. Es setzt sich aktiv zum passiven Subjekt und bleibt darin sich selbst unterlegen. Daß der Mensch sich in seinen Setzungen selbst ergriffe, ist die große Lebenslüge, mit welcher der Bewohner einer Gesellschaft lebt, die den Rang des Menschen über dessen technisch-praktische Selbsterhaltung definiert. Seine Freiheit wird der Mensch erst dann erfahren, wenn er im Kollabieren seiner Lebensgefüge das, was sich ihm widersetzt, in seine Identität aufzuheben weiß. Die Angst vor diesem Kollaps sollte aber nicht gering geachtet werden: Sie erhält uns am Leben.
„Gesetzmäßigkeit und Freiheit wachsen miteinander, nicht gegeneinander.“ (SuB II, 233.) Doch das formale und technische Moment des menschlichen Weltumgangs darf nicht vom Vehikel des Geistes zu dessen Stellvertreter werden, sonst ist der Mensch Marionette seiner eigenen Herstellungen, anstatt sich über diese zu begreifen. Der zeichenhafte Charakter der Sprache macht uns ihren Gebrauch möglich. Aber „[e]rst im überzeichenmäßigen Charakter der Sprache bin ich zur Freiheit aufgerufen und dazu, die Freiheit auch zu wollen.“ (Sprachaufstufung, 241.) Im Zeichencharakter der Sprache sprechen wir dem p r i n c i p i u m c o n t r a d i c t i o n i s gehorchende formale Identitäten aus. In diesem formelhaften Gebrauch der Sprache werden wesentliche Allgemeinheiten angestrebt. Ein Zeichen ist nach de Saussure die Verbindung zwischen Bezeichnetem (s i g n i f i é ) und Bezeichnung (s i g n i f i a n t ), es hat seine Funktion in der Eindeutigkeit seiner Zuordnung. Sprache und Denken gehorchen hier dem hellenistisch-philosophischen Axiom, Einheit habe Vorrang vor Vielheit. Zeichen sind ablösbar, selbst aber unveränderlich und „von der Geschichtlichkeit der Sprache abgetrennt.“ (SuB VI/ 3, 240.) Zeichensysteme sind das charakteristische Vokabular der Wissenschaften: eine instrumentalisierte Sprache, in welcher das Bezeichnete als Gegenstand „dingfest“ gemacht wird. (Vgl. SuB I, 358.) Die Eindeutigkeit des Zeichens ist formale Verkürzung von Inhalten zu wesentlichen Allgemeinbegriffen. Die Of-
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fenheit des Bezeichneten ist mit dessen Bezeichnung zum Paralipomenon gestempelt. In der Wissenschaft bleibt daher der Begriff des Individuums symbolisch: Auch die Aussage, jeder Mensch sei individuell, ist noch immer eine wesentliche Aussage. „Jede Berufung auf eine nur wissenschaftliche Instanz appelliert an eine nicht mehr menschliche Instanz, die, sobald sie zur Herrschaft gelangt, notwendig böse ist.“ (SuB IV, 3.) Für den Menschen als Individuum gibt es kein Zeichen, keine Formel, keine Definition. Den Begriff „Mensch“ gibt es nur in den Menschen als existierenden Begriffen. Dieser Begriff des Menschen muß schon als solcher ein Begriff von Freiheit sein, der die Mannigfaltigkeit seiner Gestalten aushält bzw. sich erst in dieser Mannigfaltigkeit bewährt. Als Begriff von Freiheit bezeugt der Begriff des Menschen, sich aus dem Begriff des Begriffs, der logischen Struktur des Absoluten zu empfangen. Der Begriff des Menschen ist ein konkret-allgemeiner: Die Menschheit ist niemals ein reiner Begriff, vielmehr ist sie immer schon inhaltlich geworden in den ihr zugehörigen Individuen. Die rein formale Identität des p r i n c i p i u m c o n t r a d i c t i o n i s trägt als Freiheitsbegriff nichts aus, weil Freiheit sich darin erweist, Widersprüche nicht auszuschließen, sondern über sie erhaben zu sein. „Freiheit erscheint [..] innerhalb der Sprache als bewegtem Gebilde.“ (SuB I, 490.) Der auf den logischen Bahnen der Sprache sich bewegende Geist hat als diese Bewegung seine Unterschiede an sich, indem er in sie eingeht und sie im Rückbezug auf sich selbst aufhebt, d. h. sie als Unterschiede auf sich bezieht. Das freie Ich ist das Ich, das seine Widersprüche zu sich als solche anerkennt und ihnen standhält. Als dieses Aushalten des eigenen Widerspruchs ist Freiheit aber immer schon inhaltlich. Als inhaltliche ist Freiheit nie Prinzip oder Postulat, sondern nur in ihrem Vollzug; sie ist nie abstrakt, sondern immer konkret und allgemein zugleich. „Ein Denken, das auf die Freiheit nur hinweisen kann, hat sie nicht in dieser Welt.“ (SuB III, 487.) Dieser Ausspruch formuliert Liebrucks’ Kritik an Kant, der Freiheit lediglich als Postulat gelten lassen kann. „Die Verwechslung der Freiheit des Verstandes mit der menschlichen Freiheit ist die Verwechslung der reinen Unbestimmtheit, in der Ich sich zu sich selbst verhält, mit dem wirklichen Ich.“ (A. a.O., 499.) Der Begriff der Freiheit ist der Begriff des Begriffs, der Wesen und Sein als seine Momente in sich trägt. Freiheit ist ersprochene Identität; sie ist ersprochen in der unablässigen dialektischen Evokation von Idealität und Realität. Der Mensch ist nicht nur Lebewesen, sondern das Lebewesen, das Sprache hat, sich einen Begriff von sich bildet, um ihm zu entsprechen oder zu widersprechen. Es entspricht ihm in seinem Widerspruch: Es ist bei sich, indem es bei seinem Anderen ist, dem Mitmenschen, der Welt. „Im Aushalten solchen Weltsprachspiels liegt der Rang des Menschen.“ (SuB II, 373.) Der Mensch hat „nur im Angesicht Gottes Dasein, Freiheit und Erkenntnis“. (SuB VI/3, 632.) Aus der Hand Gottes empfangen wir uns als endliche Wesen, die der Unendlichkeit teilhaftig sind. Diese Unendlichkeit schöpfen wir aus im üb-
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erzeichenmäßigen Charakter unserer Sprache. Die Sprachbahnen, auf denen die Bewegung unseres Geistes verläuft, sind die „Fäden“, an denen wir als Marionette des absoluten Geistes hängen. Unsere Unendlichkeit ist die des Absoluten, an dessen Führungskreuz wir uns bewegen. Das Führungskreuz ist der Logos als Koinzidenz menschlichen und göttlichen Tuns, die in der christlichen Tradition im Kreuz Jesu Christi begriffen ist. Damit sei der Übergang zur Applikation der bisher getroffenen sprachlogischen Aussagen auf die biblische Überlieferung und die protestantische Dogmatik bezeichnet.
5. Die Erzählungen der Bibel als Spiegel der Bewußtseinsentwicklung „Es gibt keinen Rückzugsort des Christen von der Welt, weder äußerlich noch in der Sphäre der Innerlichkeit.“³³² Was Bonhoeffer hier in seiner Ethik konstatiert, ist die Konsequenz der als Evangelium verkündeten Gegenwart Gottes, der in die Welt als „in das Seine“ kam. (Vgl. Joh 1, 11.) Kommt Gott in die Welt als „in das Seine“, so gibt es für den Menschen keinen Rückzugsort von Gott und ebensowenig von der Welt, sofern diese ein Moment des Selbstvollzuges Gottes ist. In Jesus Christus hat sich Gott als der zugleich weltliche und überweltliche erwiesen, als das Absolute, in dem die Momente des Seins und des Nicht-Seins aufgehoben sind. Dem, der die in Jesus Christus geschehene Offenbarung dieses transzendentimmanenten Gottes auf seinen eigenen Weltumgang bezieht, dem Christen, erschließt sich – mit Hegel gesprochen – die logische Struktur seines Weltumgangs als die Logik des Absoluten. Das vorangegangene Kapitel erläuterte diese logische Struktur des von der Theologie „Gott“ genannten Absoluten der Philosophie als das Selbstdenken des absoluten Geistes über dessen Entäußerung in den subjektiven Geist. In dieser Entäußerung ist der Gang des Geistes in die Endlichkeit des Seins als konstitutives Element der absoluten Identität beschrieben worden. Das Absolute als vollendetes Selbstbewußtsein, das Aristoteles als die sich selbst denkende Vernunft, Hegel als den Begriff des Begriffs bezeichnet, erweist sich als solches in seinem logischen Umweg über den existierenden Begriff, den Menschen. Dieser empfängt die Logik seiner Selbstaussage als Ich in Einheit von Substantialität und Subjektivität aus der Logik des absoluten Geistes. Diese Dialektik logischer Anthropogonie und Theogonie soll im folgenden in einer Erörterung rekapituliert werden, die sich an aus der biblischen Tradition übernommenen Motiven orientiert. Deren Auswahl erklärt sich durch die Rezeption dieser Motive bei Liebrucks. In drei Kapiteln wird jeweils eine Bewußtseinsstufe durch einen biblischen Charakter repräsentiert: Adam, Abraham, Jesus Christus. Jeder dieser Charaktere steht für ein Moment der Genese des absoluten Geistes, wie sie von Hegel philosophisch erarbeitet wird. Diese Lesart biblischer Texte, die Liebrucks bereits von Hegel übernimmt und die ich eine bewußtseinstheoretische nenne, macht einen Vorschlag, was in den betreffenden alt- und neutestamentlichen Texten auch gesagt sein könnte. Die sprachlogisch-philosophische Entfaltung der biblischen Testamente hat nicht den Anspruch, deren Botschaft zu erschöpfen. So sollte in der philosophischen Entfaltung biblischer Texte in
332 Bonhoeffer, Dietrich, Ethik, Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 6, hg.v. Tödt, Ilse/Tödt, Heinz Eduard/Feil, Ernst/Green, Clifford, München 1992, 47.
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„christlicher Demut [..] so gesprochen werden, daß die unendliche Entfernung zu jenen Worten immer gewahrt bleibt, weil sich an ihnen die Wahrheit und Unwahrheit der Zeitalter entscheidet und wir nicht ahnen können, wie groß auch unser Nichtbegreifen davon ist.“ (SuB III, 109.) Liebrucks’ philosophischer Zugang zur biblischen Verkündigung leitet sich aus Hegels Rezeption biblischer Tradition ab. Hegels frühe Schrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal liest Liebrucks als Präludium hegelschen Denkens, als Dokumentation der logischen Geburt hegelscher Kategorien. Die Grundüberzeugung der Philosophie Hegels erschließt sich Liebrucks als die These, daß der unsichtbare Geist mit Sichtbarem vereinigt sein müsse. (Vgl. SuB III, 18.) „Was Dialektik ist, begreifen wir aus der Erfahrung.“ (A. a.O., 81.) Dieses Begreifen artikuliert sich als eine Philosophie der Gestalten, die Hegel aus der johanneischen Überlieferung vom gestaltgewordenen Logos empfängt.³³³ Vom 333 Vgl. Hegel, PhG, 60. Die Vollendung gestalthaften Denkens entdeckt Liebrucks gleichwohl in der Dichtung Hölderlins. Dieser prägt in Grund des Empedokles den Begriff des Aorgischen, in dem reflektiert ist, was Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater (vgl. Wenn das Bewußtsein seine Balance verliert – Unschuld und Marionettenmetapher bei Liebrucks und Kleist) zur Diskussion stellt: Wie kann man im Menschlichen die Unmittelbarkeit des Natürlichen wiedergewinnen? Mit Hölderlin kann man die Antwort formulieren, der Mensch müsse aorgisch werden. Dies ist das Gegenteil aller Organisation. Natur wird durch den Menschen organisiert; selbst das Organismische bringt Hölderlin mit Organisation in Verbindung. Der Mensch soll seinen Lebensgrund nicht darin suchen, sich die Welt in technisch-praktischer Weise unterwerfen und zunutze machen zu können. Er kann sich nicht gegen die Natur begreifen, sondern allein im Bezug auf sie. Dieser Bezug ist ein geistig-lebendiger. Er wird thematisch in der Kunst als Fortsetzung der Natur durch menschliche Praxis. Die Aufforderung, „künstlich aorgisch“ zu sein, bedeutet dem Menschen, daß er durch Kunst wieder in den Grund seines Weltumganges zurückfinden soll; er soll mit den natürlichen Kräften umgehen, indem er sich mit ihnen identifiziert. Das Aorgisch-Werden ist die absichtslose Begegnung des Menschen mit der Natur, das „unschuldige“, „kindliche“ Begegnen-Lassen der Welt, die von sich her bedeutend ist und nicht nur unter dem Aspekt ihrer Behandelbarkeit erscheint. Kunst ist in diesem Sinne eine Blickwinkeländerung. Der Künstler befindet sich zugleich in der Sphäre, die er wahrnimmt und insofern vor ihr steht, wenn anders er sie nicht betrachten könnte. Legt der Mensch das rein technisch-praktisch behandelnde Verhalten gegenüber der Welt ab und entscheidet sich für eine Weltbegegnung, die sowohl gestaltet als sich auch dieser Gestaltung bewußt ist und in diesem Bewußtsein den bloß behandelnden Weltumgang überwunden hat, begegnet er also der Natur in der künstlerischen Einheit von Gegenständlichkeit und Übergegenständlichkeit, erscheint ihm Natur in Gestalten, die sowohl seiner Darstellung entspringen als auch ein „Eigenleben“ haben. Sie sind Gestalten, nicht Gestaltungen. Für Liebrucks erreicht bisher nur Hölderlin selbst, der das „Aorgisch-Werden“ fordert, das a l p h a p r i v a t i v u m vor die Organisation des Lebens schreibt, diesen Bewußtseinsstatus: „Das ist eine Erfahrung, die Hölderlin allein gehört, die seine Sprache verwandelt hat. Hegel deutet auf sie hin.“ (SuB III, 147.) Es ist die von Hölderlin vertiefte Hindeutung auf das Göttliche als die Einheit des Organischen und Aorgischen. „Was bei Hegel absolute Sittlichkeit ist, wird bei Hölderlin als die Sphäre, welche höher als die des
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Begriff der „Gestalt“ nimmt ebenso die folgende Zusammenschau der hegelschen Geistphilosophie mit der Überlieferung der beiden biblischen Testamente ihren Ausgang, daher soll er in diesem Kapitel eine kurze Einführung erfahren. Dem Verständnis von „Gestalt“ soll sich zunächst über seinen Gegensatz genähert werden: „Gestaltflucht“. Diese ist es, die Liebrucks der christlichen Urgemeinde unterstellt, welche – um das Bonhoeffer-Zitat aufzugreifen – die Weltlichkeit des Christen als Inbegriff der Gottesbeziehung nicht zu begreifen vermochte. Ursache dieses Unverständnisses ist die noch nicht aufgegangene Erkenntnis für die soteriologische Bedeutung Jesu Christi, die darin besteht, daß in ihm das sinnlich-ideelle Wohnen Gottes unter den Menschen offenbar wurde. Mit einem anderen Wort: die gestalthafte Gegenwart des Unendlichen im Endlichen ist nicht begriffen. Die Autoren des Neuen Testaments zeigen mit zunehmendem Abstand zum historischen Christusereignis einen Hang zur Vergöttlichung Jesu Christi. Je jünger die Schriften, desto ausgeprägter die Tendenz, Christi Menschlichkeit zugunsten seiner Göttlichkeit in den Hintergrund zu stellen. Das heißt aber auch: den Gott, der dem Menschen so nahe gekommen ist, wie er nur kommen konnte, indem er selbst Mensch wurde, zurückzudrängen in ein Jenseits. Die Transzendierung Gottes ist die erste und schwerste Blasphemie des jungen Christentums. (Vgl. a. a.O., 509.) Sie gründet laut Liebrucks in dem Unvermögen der Urgemeinde, die Gestalt Jesu zu begreifen. Nach Jesu Tod spricht sie diesem eine himmlische Existenz zu und trennt damit Jesu Christi Existenz von der eigenen. Sie will ihn mit dieser Verschiebung in die Idealität in der Gegenwart für sich bewahren, verliert ihn aber an die Abstraktion.³³⁴ Die Irrealität Gottes wird bei den ersten Christen zugunsten der Faktizität eines Objektiven eliminiert. Mit der Transzendierung Jesu Christi gibt die Gemeinde ihrem Unverständnis für die Botschaft ihres Herrn Ausdruck. Die Gegenwart des Absoluten im Besonderen erscheint ihr unerträglich. Wenn Wahrheit in der Dekonstruktion einer konkreten Gestalt gesucht wird, so ist die „Gestaltflucht [..] Weltflucht.“ (A. a.O., 16.) Gestalthaft gibt sich die Einheit von Allgemeinem und Besonderem als Logik unseres Ersprechens von Welt zu er-
Menschen ist, erscheinen, die er den Gott nennt.“ (A. a.O., 74.) Hölderlins Dichtung gibt dem – im Verlauf dieser Hinführung noch zu erläuternden – Bewußtsein des Sphärischen eine Gestalt. In ihrer Verbindung von aufgeklärtem Bewußtsein und Poesie ist sie der Prototyp des neuen Mythos. – Auch bei dem von Liebrucks geschätzten Vico lassen sich Motive ausmachen, die den im folgenden darzulegenden Gestaltbegriff vorbereiten: Als u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o ist das Göttliche das dem Menschen Entgegenkommende, das ihm schließlich als Gestalt begegnet. 334 „Das Schlimmste, was der Gemeinde passieren kann, ist, daß sie sich im Reich der Bildung verliert. Der Mensch muß sich jeden Tag bilden, aber er muß auch jeden Tag mit wachem Bewußtsein darüber hinausgehen.“ (SuB V, 283.)
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kennen. Doch „[d]ie erste christliche Gemeinde hat kein Verhältnis zur Welt, sondern nur eins gegen sie.“ (SuB II, 17.)³³⁵ Liebrucks konstatiert – mit Rückgriff auf Hegels Jugendschriften – einen aus ihrer Gestalt- bzw. Weltflucht entspringenden Sektencharakter der ersten Gemeinden. Jede Gemeinschaft ist Gemeinschaft in einer Gesellschaft. Die Isolation von dieser, das Sektieren, ist aber das Gegenteil der Liebe, die am Nächsten walten zu lassen die Gemeinde sich aufgefordert erkennt. Ihre Entgegensetzung zur Wirklichkeit des politischen Lebens außerhalb der Gemeinde läßt die Liebe, die ihr von Jesus Christus offenbart ist, nicht lebendig werden. „In der Vorstellung der christlichen Gemeinde, die von den Messiasvorstellungen nicht losgekommen ist, die Gott nicht als göttliche Erscheinung auf dieser Erde haben wollte, sondern als ein Objektives, das in Wahrheit unterhalb des Menschen wäre, in dieser Vorstellung, die sich nicht unter die göttliche Erscheinung beugt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt, liegt die ‚Lebenslosigkeit der Liebe‘ (Nohl, S 336).“ (SuB III, 20.) Liebe ist nur in ihrem Vollzug verwirklicht, sie ist immer absolut: in ihrer Konkretion ihr eigener Begriff. Damit ist sie die höchste dialektische Kategorie. Liebe ist die Gegenwart des Absoluten in seinen Unterschieden, die es aus sich entläßt. Das Absolute als solches ist immer als Konkret-Allgemeines, nicht als formales Abstraktum zu denken. „Das formal Allgemeine kann sich nicht herablassen. Die Herablassung ist von Hamann als Bild für die Liebe Gottes gebraucht worden. Die Herablassung des Herrn bleibt zugleich oben.“ (SuB VI/3, 324.)³³⁶ Das
335 „Die religiöse Gemeinde war das Bewußtsein und das Leben des Geistes in seiner rohesten und unmittelbarsten Form. […] In dieser Form hofft der Geist auf die Aufhebung der Welt als einer gegenüberstehenden und nimmt das Wort vom Himmelreich, das in uns ist, im barbarischen Sinne des bevorstehenden Weltuntergangs. Es ist dieses die harte Substantialität, mit der die ersten Christen vielleicht den Widerstand gegen eine Welt durchhalten konnten. Aber diese Hoffnung muß aufgehoben werden. Alle Eschatologie ist die Barbarei, den Geist noch als Substanz anzusehen.“ (SuB V, 290.) 336 Liebrucks variiert dieses Motiv in dem in seinem Werk wiederholt erklingenden Ruf: „Herab denn!“ (aus dem Hölderlingedicht „Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter“, in: Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke, Bd. II, hg.v. Beißner, Friedrich, Stuttgart 1953, 37– 39, 38). Dieser Ruf ergeht an die Gestalt des Gottes in der „Hybris einer Sphäre“. (Mythos und Freiheit bei Friedrich Hölderlin, 199.) Der Ausdruck, der die Überhebung als Überweltlichkeit kennzeichnet, ist stets zusammenzusehen mit der Abstiegsfigur, die im Hölderlinschen „Herab denn!“ nicht nur gefordert, sondern bestätigt ist. Es handelt sich um die Figur des Herabsteigens des Göttlichen in die Dimension der Realität; eine Figur, die zum Hintergrund offensichtlich das griechisch-mythologische Kosmos-Schema mit der Trennung einer „über“ der Erde angesiedelten Götterwelt bzw. die christliche Kenosisfigur hat (am anschaulichsten im sog. Philipperhymnus formuliert, Phil 2, 6 – 11). Die Gestaltwerdung ist die Kenosis der Hybris. Gesprochen wird das „Herab denn!“ vom Subjekt, das in Innigkeit den Bereich des Dichterischen betreten hat und über die sinnlich
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Zugleich von Herablassung und „Oben“-Bleiben ist die Aufhebung von Transzendenz und Immanenz im Absoluten, das sich in der logischen Struktur der Sprache in die Form entläßt und in der Sprache zugleich übergegenständlich
erfahrene Realität hinaus ahnt, sich öffnet für das, was weder nur der Subjektivität noch nur der Objektivität angehört. Hölderlins Texte transportieren mit diesem Befehl an den Gott, sich herabzulassen, zugleich die Forderung an den Menschen, seine Wahrnehmung zu verändern. (Vgl. Mythos und Freiheit bei Friedrich Hölderlin, 197 f.) Die geforderte Wahrnehmung ist– nach Liebrucks‘ Schema, das er auf die Hölderlintexte legt – die der Sphären und Gestalten. Damit soll der Einseitigkeit einer technisch-praktischen Weltbehandlung ein Gegengewicht gesetzt werden, in welcher die Dinge ebenso wie Menschen nur als behandelbare Gegenstände angeschaut werden. Diese Wahrnehmungsveränderung hat nichts Geringeres als die „Rettung des Menschlichen im Menschen“ zum Ziel. (A. a.O., 208.) Die Frage nach der Wirklichkeit des Menschen, die über Formallogik, Wissenschaft, Kultur und Geschichte trotz ihrer Gegenwart in ihnen erhaben ist, wird um so brisanter, je mehr wir in unserem Zeitalter der Globalisierung auf Menschen fremder oder gar unbekannter Kulturen schließen. Wo die formelhaft fixierbare Grundlage fehlt, muß es einen tieferen Grund des Verständnisses und der Anerkennung geben. Diese neue Wahrnehmung ist eine, die sämtliche etablierte Konventionen hinter sich zu lassen bereit ist – auch die der christlichen Tradition, der Metaphysik und der Wissenschaft. (Vgl. a. a.O., 208 f.) Wer Wirklichkeit erkennen will, muß sich offen halten in Empfangsbereitschaft für neue, unberechenbare Einsichten. Nur diese Offenheit ermöglicht z. B. interkulturellen Dialog, Dialog der Traditionen, Religionen. Die neue Wahrnehmung löst die „alte“ nicht ab, sie ergänzt sie, d. h. macht mit ihr zusammen das Ganze menschlicher Wahrnehmung aus. Die neue Wahrnehmung gilt nach Liebrucks „nicht dogmatisch [..] und nicht als allgemeingültig in einem wissenschaftlich geforderten Sinn“. (A. a.O., 209.) Diese neue Wahrnehmung ist gefordert, weil wir „keine Sphären zwischen den Dingen, zwischen den Dingen und Menschen wie zwischen den Menschen mehr wahr[nehmen]. Unsere Wahrnehmung ist als Wahrnehmung der voneinander Isolierten so regrediert, daß Göttliches nur noch in der Form der Katastrophe erscheinen kann. Daher das Interesse an der Kriminalität […].“ (SuB VII, 201.) Liebrucks bedauert eine mit einer „Regression der Wahrnehmung“ von Wirklichkeit einhergehende „logische[] Verblödung“. (A. a.O., 47.) Der aufgeklärte Verstand setzt das Göttliche mit den göttlichen Attributen gleich, mittels derer weniger die Kunst als vielmehr der Kitsch die Göttergestalten kostümiert. Beklagt oder höhnt der Verstand, derart ausstaffierte Götter in der von ihm erfahrenen und zur verständigen Erfahrung bereiteten Welt nirgends zu entdecken, kann ihm nur Recht gegeben werden. Diese – wissenschaftliche – Verstandeshaltung weist nichtsdestotrotz weniger auf die Verblendung einer religiösen Welterfahrung hin als auf die eigene. Götter werden nicht als Gestalt gewordene Funktionen des technisch-praktischen Weltumgangs erkannt, die in ihrer logischen Funktionalität auf die Logik zeigen: Alle Götter zeigen auf den Logos. (Vgl. a. a.O., 36.) Auch Liebrucks fordert, der Mensch solle in seiner Existenz Raum für den Geist schaffen. Der von ihm dafür gebrauchte Ausdruck „Wohnstatt“ erinnert an das im Johannesprolog geschilderte Wohnen des göttlichen Logos unter den Menschen oder das alttestamentliche Motiv des Wohnens des Namens Gottes unter seinem Volk Israel. (Sprache und Metaphysik, 34; vgl. Joh 1,14.) Liebrucks spricht sogar von einer „Einfriedung göttlicher Gewalten im menschlichen Raume“. (Sprache und Metaphysik, 34.)
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aufgehoben ist. Diese logische Struktur ist die des menschlichen Weltumgangs, die es im Verlauf des folgenden Kapitels als Beim-Anderen-bei-sich-selbst-Sein in der Erfüllung des Doppelgebotes der Liebe zu erörtern gilt: den Nächsten in Gott lieben, Gott lieben im Nächsten. „Die Liebe ist [..] der dialektische Begriff, sofern er gesellschaftlich existiert.“ (SuB III, 570 f.) So ist Gott im Wort (eines Subjekts zu einem anderen Subjekt) in der Welt. In der Gestalt des inkarnierten Logos erscheint Gott als der, der in menschlicher Gestalt mit dem Menschen spricht. Somit ist offenbar, daß Gott und Mensch sich dieselbe Logik teilen. Gestalt ist Entäußerung Gottes. Liebe ist gestalthaft gegenwärtig. „Das Absolute […] muß sich entäußern, […] weil es die Liebe ist.“ (SuB V, 335.) Liebe ist die logische Struktur des Absoluten, in der es sich entfaltet. Es entfaltet sich über sein Geliebtes: Der subjektive Geist empfängt sich aus der Liebe Gottes. Sich in dieser Liebe einzufinden ist das Einfinden in die logische Struktur unseres Weltumgangs als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, in der wir im Nächsten zugleich uns selbst und das Absolute als diese Beziehung ansprechen. Erst wenn der Mensch Gott antwortet, wird ihm dessen Gegenwart erträglich. (Vgl. SuB VII, 296.) Die göttliche Gestalt als das Hereintreten der Transzendenz in die Immanenz verweist den Menschen dann auf die eigene transzendent-immanente Identität.³³⁷ Der Mensch als das Wesen, das einen Begriff von sich hat, ist immer zugleich existent wie auch dieser Begriff. Er ist somit endlich und unendlich zugleich. Aber er ist dies allein als Moment des absoluten Geistes. Die Transzendierung Gottes ist das Charakteristikum einer Selbstbehauptung des Subjekts, in welcher dieses sich in seine Endlichkeit zurückzieht und sich somit selbst unterlegen bleibt. Dies wird anhand des adamitischen Bewußtseinsstatus vorgeführt werden. Der Gestaltbegriff ist eng verknüpft mit dem Begriff der Sphäre; beide erläutern sich wechselseitig. Das Auftreten gestalthafter Götter in Sphären ist ein Motiv, das Liebrucks von Hölderlin übernimmt, in dessen Poesie er die philosophisch-dichterische Vollendung des hegelschen Entwurfes entdeckt.³³⁸ Unter einer Sphäre ist ein in verschwommenen Grenzen sich bewegender geistig-sinnli-
337 „Man hält heute viel davon, den Menschen auf seine Endlichkeit hinzuweisen. Aber man ist logisch dazu nicht imstande. Denn endlich ist der Mensch im Angesicht der Götter oder Gottes. Sind diese in seinem Bewußtsein weggestrichen, so ist das gespielte understatement auf so etwas wie die Endlichkeit des Menschen ein sinnloser Hinweis.“ (SuB VI/1, 368.) 338 Die Ausführungen zum Begriff der Sphäre finden sich vornehmlich in dem Aufsatz Mythos und Freiheit bei Friedrich Hölderlin sowie in SuB VII, 408ff; der Begriff der Sphäre aber wird von Liebrucks in seinem Werk durchgängig verwendet. Im siebten Band von SuB, dem HölderlinBand, entfaltet Liebrucks die Begriffe der „Sphäre“ und der „Gestalt“ als Schlüssel zum Verständnis Hölderlinscher Texte. – In der gegenwärtigen Philosophie erfährt der Begriff ein Revival als das von Peter Sloterdijk gewählte, titelgebende Motiv für seine Trilogie zur Geschichte der Menschheit. Vgl. Sloterdijk, Peter, Sphären, Bd. I-III, Frankfurt a. M. 1998 ff.
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cher Raum zu verstehen, der sich über die formallogisch bestimmten Kategorien von Zeit und Raum erhebt. „Der Mensch hat, so lange er Mensch ist, in der Wahrnehmung von Dingen immer zugleich die Wahrnehmung der Sphäre, in der sie stehen. Solche Sphären sind die von Wald, Wiese, der Kleinstadt, der Großstadt, die Sphären von Paris, London, der Provinzstadt Frankfurt […].“ (SuB VI/3, 141.) Auf dem Bewußtseinsniveau des sphärischen Denkens formiert sich die Einsicht in die Neigung des Menschen, die ihm widerfahrende Welt zu „beseelen“, d. h. in der Natur Züge wiederzuerkennen, die den seinen verwandt erscheinen. Denn „es gibt keine Wissenschaft und keinen menschlichen Weltumgang, die nicht anthropomorph wären.“ (SuB VII, 350.) Sphären umschreiben Erfahrung. Sie umschreiben eine Erfahrung, in der sich die Welt nicht nur als Dasein unter Gesetzen darstellt, sondern dem Menschen ihr Antlitz zeigt. Wo z. B. die Sphäre des Meeres, die Sphäre der Liebe etc. erfahren wird, wird unmittelbar wahrgenommen, daß wir uns Welt sprachlich erobern. Sphären und die in ihnen auftretenden Gestalten werden zugleich ersprochen und erfahren. Die Erfahrung des Ersprechens kann „durch das mythische Umsprechen einer jeweiligen Sphäre dargestellt werden. Die gestalthafte Wahrnehmung ist schon die Wahrnehmung als sprachliche, ohne daß in ihr schon gesprochen werden muß. In der sprachlichen Wahrnehmung sind schon die Gestalten, die von der Natur und uns der Natur e i n g e b i l d e t werden, Umsprechen der direkt nicht aussagbaren Sphäre.“ (A. a.O., 235.) Die sphärische ist daher eine Bewußtseinsstufe, in welcher erstmals die logische Struktur der Sprache³³⁹ erfaßt wird, die in ihrem Verhältnis zu den Dingen, die durch sie ausgesprochen ihr Eigendasein erlangen, sich zu sich selbst verhält. (Vgl. SuB VII, 296.) In den Gestalten, die in den Sphären erscheinen, tritt sich das Bewußtsein selbst gegenüber. Es wird sich selbst Objekt; zugleich ist die Gestalt die Aufhebung des Objekts, weil sich das Bewußtsein im Bezug zu ihr auf sich selbst bezieht. Sphären eröffnen sich in einzelnen Worten und schließen sich zu einem Sinnkontext wie zu einem Satz. (Vgl. SuB VI/3, 94.) Immer bleiben sie aber diffus. Geschlossene Systeme lassen für sie keinen Platz. Sie repräsentieren lebendige Identitäten. „Jeder Mensch […] lebt in einer Sphäre.“ (SuB VII, 408.) Sphärisch umgibt ihn seine Unbestimmtheit als Hof seiner Individualität. In einer Sphäre ist aufgrund von deren Uneindeutigkeit auch Raum für mehrere Individuen. Sie ist dem von Vico beschriebenen fantastischen Allgemeinbegriff vergleichbar: Ein u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o ist sozusagen von einer Sphäre erfüllt.³⁴⁰
339 Liebrucks spricht auch von dem „Sphairos der Sprache“. (Reflexionen, 167.) 340 Vgl. hierzu die Einleitung zum Abraham-Kapitel Denken gestalten – Denken in Gestalten.
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Der Ausdruck „Sphäre“, der im Altertum das Himmelsgewölbe bezeichnete, steht hier für die im Wechselspiel von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit erfahrene Eigenbewegung des Geistes. Auf Pythagoras geht die Vorstellung der Strukturierung des himmlischen Gewölbes durch konzentrische, transparente Kugelschalen zurück, die sich in unterschiedlichen Drehungen bewegten und somit eine himmlische, „sphärische“ Musik erzeugten.Von der Astronomie in die Poesie und von dieser in die (sprachliche) Logik übernommen, steht die Sphäre für die gemeinsame Eigenbewegung subjektiver Geistessphären im Absoluten. „Das Allgemeine als Dieses da ist Gott, die besonderen Diese da sind Sphären.“ (SuB VI/3, 327.) Das Allgemeine als der Begriff des Begriffs entfaltet sich in seiner Entäußerung in die geschichtliche Existenz des subjektiven Geistes, in dem es zum Denken seiner selbst gelangt. Im Begriff des Begriffs ist somit der existierende Begriff logisch strukturell aufgehoben. So handelt es sich im Begriff „nicht um ein Bewußtsein überhaupt, nicht um abstrakt dieses Bewußtseiende da, sondern um dieses Menschen Bewußtsein, das zugleich allgemein ist.“ (Revolutionen, 93.) Die „Erscheinung des Individuellen im Gewand des Allgemeinen“ ist die Gestalt. (SuB III, 19.) Gestalten begegnen und Sphären eröffnen sich im Fortschreiten des Bewußtseins zu sich selbst. „Wenn ein Mensch sagt, er stamme von einem Gott ab, so könnte dieser Gott die Gestalt gewordene Sphäre der ganzen Ahnenreihe sein. So sagen wir heute, wir stehen in der Sphäre wissenschaftlicher Weltbetrachtung. Diese Sphäre könnte erst im Abschied von ihrer Gestalt erscheinen.“ (SuB VII, 71.) Das Erscheinen von Sphären und Gestalten verweist auf die im Kapitel über die Gestalt Jesus Christus zu behandelnde Geschichtlichkeit des Bewußtseins. Bewußtsein ist die Selbstthematisierung des Geistes, in welcher sich dieser selbst Gegenstand wird. Er wird sich gegenständlich in seiner bisherigen logischen Bewegung, die ihm vor Augen steht und damit schon überwunden ist. Wovon das Bewußtsein ist, darüber ist es hinaus. Es wird begrifflich in der Gestalt erfaßt, zu der es sich bis jetzt entwickelt hat. In dieser Gestalt sind die vergangenen Stufen des Werdens gegenwärtig, sofern sie zur jetzigen Gestalt führten. Die in den Sphären begegnenden Gestalten tragen ihr Gewordensein sichtbar an sich. Insofern ist der Begriff, den das Bewußtsein von sich hat, sphärisch. Damit ist die Sphäre als bewußtseinstheoretische Größe betrachtet. Sphären sind solche der – unmittelbaren – Reflexion. (Vgl. a. a.O., 98.) Diese Bewußtseinsstufe, in welcher dem Subjekt sein eigener Weltumgang als Ganzes gleichsam vor Augen steht, wird anhand der Gestalt des Abraham erörtert werden. “,Die Sphäre, welche höher ist als die des Menschen, diese ist der Gott.‘ Das ist das Schlüsselwort Hölderlins zum Begreifen des Übergangs von der Sphäre in die Erfahrung der Gestalt, die nicht in einem der Erfahrung transzendenten Bereich liegt, sondern hier auf der Erde begegnet.“ (Mythos und Freiheit bei Friedrich
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Hölderlin, 194.) Die Sphäre ist eine Präsenzform. Das Sphärenhafte ist die wechselseitige Durchdringung (man möchte sagen: c o m m u n i c a t i o ³⁴¹) von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Idealität und Realität, von Transzendenz und Immanenz, von Allgemeinem und Besonderem. „So sind die Götter niemals realiter existierende Einzelgestalten gewesen, sondern sinnliche Allgemeinbegriffe.“ (SuB II, 98.) Das dialektische Denken versteht die göttlichen Sphären nicht mehr als hypostasierte Götterfiguren, sondern sieht in Göttergestalten und auratischen Erfahrungen ein unmittelbares Erfassen des absoluten Begriffs, der sich in Form dieser sphärenhaften Erlebnisse zur Erfahrung bringt. „Die Sphären sind als Gestalt wahrgenommene Götter.“ (SuB VII, 426; vgl. a. a.O., 11.) Göttergestalten sind Ideale, also die Begegnung der Idee i n i n d i v i d u o . „Die Götter sind die gestalthaften Sphären der objektiven Reflexion, die vor der Reflexion des Weltumgangs im Gedicht Homers Ausdruck und Darstellung einer Weltbegegnung sind, die noch nicht zur metaphysischen Trennung von Denken und Anschauung, von Idealität und Realität regrediert ist.“ (A. a.O., 106.)³⁴² Gestalten zeigen auf den Logos, aus dem sie gezeugt sind.³⁴³ In jeder Gestalt ist zugleich ihre Gestalthaftigkeit repräsentiert. So verweist sie auf die ihr inhärierende Logik, welche die des absoluten Geistes und die des menschlichen Weltumgangs ist. „Die Gestalt ist hier so gedacht, daß sie immer schon das Leben des Begriffs, die begriffene Sache
341 Das Absolute als Sprache gedacht, wird von Liebrucks nicht als Kohärenz bezeichnet (zumal dieser Terminus für formallogische Systeminvarianzen steht), sondern als c o m m u n i c a t i o und c o m m u t a t i o . (Vgl. SuB VI/2, 343.) Mit diesen beiden Tropen beschreibt Liebrucks die Reziprozität von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, die sich in der sprachlichen Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung als Verwirklichung des Absoluten vollzieht. So spricht er ebenso von einer „communicatio des Menschen mit Gott, die zugleich eine communicatio mit dem Nächsten ist“. (SuB VI/3, 97.) Öffnet sich hier ein Dialog mit Luther über dessen Theologoumenon von der c o m m u n i c a t i o i d i o m a t u m der göttlichen und der menschlichen Natur in Jesus Christus? Die zitierten Stellen aus Liebrucks‘ Werk bleiben weitestgehend unerläutert und stehen vereinzelt; an den Stellen, an denen Luther explizit genannt wird, läßt sich nur mit Mühe darauf schließen, welchen erkenntnistheoretischen Stellenwert Liebrucks Luthers Theologie beimessen will. Da Luther aber eine am Sprachgeschehen orientierte Theologie bietet, liegt es auf der Hand, ihn mit Liebrucks in ein fingiertes philosophisches Gespräch zu bringen – auch wenn dies nicht in der vorliegenden Untersuchung erfolgen kann. 342 „Wenn die magischen Sphären in die Gestalten gebannt sind und als solche gesehen werden, steht der Mensch in klarer homerischer Rationalität den Göttern gegenüber, die darauf hinzeigen, was nicht in ihm als Individuum, sondern in ihm als dem Teilhaber am allgemeinen Leben unsterblich ist. Der einzelne Held wird immer auf seine Sterblichkeit hingewiesen, während er doch erfahren hat, daß im Kampf die Götter mitgekämpft haben. So ist er in der Erfahrung des Göttlichen und seiner Sterblichkeit der existierende Begriff.“ (A. a.O., 147.) 343 „In der Gestalt ruht das Geheimnis sowohl des innersprachlichen Zeigens (synsemantisch) wie des Bedeutens der Gegenstände.“ (SuB II, 311.)
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enthält, während die Form den Inhalt oder die Materie sich gegenüber, als ein anderes hat.“ (Sprache und Metaphysik, 31) Die formalistisch organisierte Welt muß vergessen, daß sie ständig logisch geboren wird und stirbt, um die ihre Funktionalität absichernden Ansprüche auf a p r i o r i bestehende Unveränderlichkeit zu behaupten. Die formallogischen Prinzipien sind nicht selbstreflexiv. Liebrucks nennt sie „begrifflich sprachlos“. (SuB VI/3, 146.) Als Konstruktionen des Verstandes innerhalb des von diesem bestimmten Regelsystems laufen sie „nicht an den Gängelbanden der Götter. Sie sind nicht Marionetten Gottes, als welche wir allein, jeder für sich, frei sind.“ (Ebd.) Ihre Unfreiheit besteht darin, nicht erkennen zu können, daß sie erstellt sind. Sie erkennen ihren Ersteller, den Verstand, nicht als solchen. „Sie erkennen nicht, da sie kein Fürsichsein haben. Sie können daher den Ersteller als ihren anonymen Gott weder anschauen, noch anbeten, noch verehren, geschweige denn denken. Ihre Hörigkeit unter ihm ist total. Sie stehen unter ihm bewußtlos. Die Gefangenschaft im logischen Bild erschien, vielleicht bis Fichte, als Befreiung aus dem mythischen.“ (Ebd.) Die Überwindung des Mythos ist die Überwindung der Welt, die zum Menschen sprach. Dessen säkulare Selbstbehauptung setzt ihn allein zum Sprechenden. Die logische Kohärenz des menschlichen Weltumgangs wird nicht mehr erfahren und empfangen, sondern im „logischen Bild“ in das Urteilssubjekt verlegt. Die Synthese seiner Urteile beruht auf der Annahme einer durchgängigen Bestimmung aller Dinge, die durch die Existenz eines e n s r e a l i s s i m u m garantiert sei. Es wurde dargestellt, daß die formallogische Funktion des e n s r e a l i s s m i m u m daran hängt, daß dessen Existenz absolute Position ist.³⁴⁴ Dies ist der Gott, der sich nicht herablassen kann, weil seine Theogonie schon unter den Bedingungen der Endlichkeit geschieht. Als bloßes Postulat bleibt er anonym. Die ihn einfordernde Reflexionsphilosophie hat logisch keine Möglichkeit, eine Idealrealität zu denken. Sie teilt sie in zwei Bereiche und spricht ihnen zwei Gestalten zu: Gott bzw. Transzendenz, Logos bzw. Realität oder Schöpfung. Ein Zugeständnis an die – von ihr noch nicht denkbare – dialektische Einheit ist die versuchte Überbrückung eines Dualismus durch das Aneinanderbinden von Gott und Logos als Substanz und Eigenschaft: Gott ist nicht Sprache, er spricht. Spielt er diese Eigenschaft nicht aus, schweigt er. Schweigen als sprachliche Äußerung kann ebensowenig gedacht
344 „Das transzendentale Ideal genügt nur als Idee der Verständlichmachung ‚der inneren Bestimmungen eines Dinges‘ in seiner durchgängigen Bestimmtheit. Ist aber nach dem Dasein eines solchen Wesens gefragt, so tut es gerade als göttliches Dasein der Frage nach den inneren Bestimmungen eines Dinges kein Genüge. Das wäre schon ein überirdisches Genügen in Gott, kein irdisches Vergnügen in ihm, da die Dinge seine Existenz ja spüren könnten und um ihre durchgängige Bestimmtheit gebracht würden, und der Mensch dann nicht erst die Idee der technischen Beherrschbarkeit der Welt fassen könnte.“ (SuB IV, 209.)
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werden wie die Idealrealität. „Gott als Substanz ist also von seiner Eigenschaft, Logos zu sein, getrennt.“ (SuB III, 204; Herv. S. L.) Nur der in der Gestalt des ursprünglichen Wortes sich als der immer mitgehende Anfang aller subjektiven Äußerungen offenbarende ist der Gott, der sich als die Einheit von Allgemeinem und Besonderem in das Besondere und somit dieses in dessen Fürsichsein entläßt. Dieser Gott kann sich selbst denken, indem er die Subjekte sich selbst denken läßt. So sind diese als Marionetten Gottes frei. Sie konstituieren sich als das Besondere im Allgemeinen, indem sie ihren logischen Weltumgang als das unablässige InsVerhältnis-Setzen des Allgemeinen und des Besonderen vollziehen. „Wenn der Begriff der immer mitgehende Anfang der Logik ist, in dem wir unsere Räume und Zeiten, unsere Natur wie unsere Geschichte konzipieren und vor uns hinstellen, so ist das Hinstellen der Götter in den Homerischen Hymnen sowie in der Ilias und Odysse als die sprachliche Verabschiedung von Mächten anzusehen, denen er bis dahin als anonymen Mächten ausgeliefert war und denen wir morgen wieder ausgeliefert sein könnten, da wir als Techniker keinen Namen für sie haben.³⁴⁵ […] Die Objektivierung der Mächte in der Gestalterfahrung der homerischen Helden wäre dann schon Arbeit des Begriffs gewesen, auch wenn der Begriff darin noch nicht zu seinem Selbstbewußtsein als Begriff gelangt war.“ (Rede, 336.) Das gestalthafte Begegnen von Welt ist – so deutet die vorangegangene Erläuterung bereits an – Charakteristikum der mythischen und der dieser nahestehenden religiösen Bewußtseinsstufe. Religion ist erste Darstellung der Erfahrung des Geistes in Gestalten. Insofern kann Liebrucks sagen: „Religion ist erster Institutionalisierungsschritt des Geistes.“ (SuB III, 171.) Dem religiösen Selbstbewußtsein erscheint die Einheit von Geist und sinnlich Erfahrbarem als anschaubares Gegenüber. „Ohne die Achtsamkeit der Religion auf die Sphäre ist der Mensch […] zum Tode verurteilt.“ (SuB VII, 433.) Diese Achtsamkeit der Religion vor der Sphäre des Göttlichen ist Achtsamkeit vor der Sphäre, in welcher der Mensch lebt. Es gibt für den Menschen keinen anderen Lebensraum als den in der Logik des Absoluten erschlossenen. Religion hat ein unmittelbares Bewußtsein für diese Bezogenheit des Einzelnen auf das Ganze der Wahrheit. (Vgl. a. a.O., 411.) „Die Aufgabe und zugleich Leistung der Religion ist die Gestaltung und Umgestaltung, die Übersetzung der Liebe aus der Unendlichkeit in die Endlichkeit, nicht der fixierten Form eines Positiven, sondern der lebendigen Gestalt.“ (SuB III, 20.) Sie verleiht der Welt, die sie anschaut, ein eigenes Selbstbewußtsein. „Die Gestalten der Religion sind Geistgestalten.“ (SuB V, 267.) Aber sie sind als Gestalten nie reiner Geist, sondern auf die sinnliche Erfahrung bezogen. Sie geben der
345 „Der Atheismus gegenüber Göttern als Objekten ist die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung der Sphären.“ (SuB VII, 235.)
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Wahrnehmung der Natur als begeisteter Ausdruck. „Menschen, die noch nicht in der Welt der Positivität ertrunken sind, kennen diese Stufe. Sie erfahren einen Sonnenaufgang als geisterfüllt, als solchen nicht als subjektives Gefühl. Sie erfahren äußerlich erscheinende Wirklichkeit als begeistet, d. h. als Sprache.“ (A. a.O., 268.)³⁴⁶ Das religiöse Bewußtsein blickt sich selbst aus seinen Gegenständen an, entdeckt Verwandtschaft im Fremden. „Jede Religion stellt das Bewußtsein als Weltgestalt vor.“ (Ebd.) Die Religion wird sich – wie noch zu zeigen ist – vom Mythos dadurch abheben, daß sie beginnt, die Gestalten als Gestalten zu denken. Die Bewußtseinsstufe der Religion ist hierbei gekennzeichnet durch eine Zwiespältigkeit: Sie ist einsetzende Überwindung der Unmittelbarkeit, die in einer unmittelbaren Einsicht verharrt. Sie beginnt jedoch, an der unmittelbaren Gegenüberstellung von Mensch und gestalthaft begegnendem Gott zu leiden und steht somit an der Schwelle der Erkenntnis, daß sich, bildlich gesprochen, der Mensch in der Gestalt des Gottes selbst anblickt. Die logische Selbsterschließung des subjektiven Geistes wird von dieser Erkenntnis ausgehen, und im denkenden Nachvollzug der Dialektik des absoluten Begriffs zu seinem eigenen Begriff gelangen. Den Boden dieser philosophischen Entfaltung bildet aber „die Begegnung von Göttern und Menschen als das gestalthaft gewordene sphärische Kunstereignis des Mythos [..], in dem vielleicht der Stoff zu jeder Weltbegegnung steckt, insofern sie sich über die Ränder des in einer jeweiligen Zeit Eingespielten und Gewohnten hinaus bewegt.“ (Rede, 318 f.) Der „Gott“ im Mythos ist Gestalt, er ist „die Bewegung der gesamten menschlichen Erfahrung.“ (SuB I, 406.)³⁴⁷ Insofern wird eine Philosophie der Sprache und Dialektik immer auf den Mythos rekurrieren müssen, ohne „von der Verhimmlung der göttlichen Gestalten zu ihrer Verteufelung“ überzugehen. (A. a.O., 491.) Weil in den mythischen und religiösen Gestalten die Logik des Begriffs offenbar, die logische Erschließung des Begriffs aber noch nicht geleistet ist, erfahren „die einzelnen Gestalten [..] den spekulativen Karfreitag ohne Auferstehung. Sie erfahren immer nur den Tod Gottes, der ihr eigener Tod ist.“ (SuB V, 354.) Der „spekulative Karfreitag“ ist der Ausdruck Hegels für die Ablösung der Religion durch die Philosophie. Die ins Denken gehobene Gestalt wird zur Selbstthematisierung des Bewußtseins als Bewußt-Sein. Solange die gestalthaft sich präsen-
346 „Wenn man einen Sonnenuntergang ansieht oder ein Streichquartett anhört und dabei seinen Gefühlen freien Lauf läßt, so wird man weder den Sonnenuntergang sehen noch das Streichquartett hören. Man verhält sich wie ein Mensch, der Kunst und Kitsch nicht zu unterscheiden vermag, nachdem er der Kunst jeden Erkenntniswert abgesprochen hat. Wenn es um die Befriedigung subjektiver Gefühle geht, so wendet man sich besser an die letzten Erzeugnisse der Welt der Positivität, nämlich Drogen.“ (Ebd.) 347 „[..] im Gott begegnet gestalthaft die ganze Weltbegegnung.“ (A. a.O. 411.)
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tierende Dialektik des absoluten Geistes nicht begriffslogisch eingeholt ist, werden die einzelnen Momente des Bewußt-Seins noch nicht als ein und derselbe Geist gedacht, sondern in der Vielfalt von Gestalten, in welcher der Untergang der einen schon der Aufgang einer neuen Gestalt ist. „Die logische Entwicklung des Begriffs zur Einzelheit und zum einzelnen Individuum ist mythisch gesagt die Selbstbestimmung Gottes von den vielen Göttern zum einzigen Gott.“ (Rede, 339.) Folglich gesteht Liebrucks den Sphären und Gestalten der jüdisch-christlichen Tradition einen besonderen erkenntnistheoretischen Rang zu.³⁴⁸ „Die Religionen unterscheiden sich voneinander durch die Bestimmtheit der Gestalten, in denen der Geist sich immer schon als Geist weiß.“ (SuB V, 267.) Jesus Christus gilt ihm gar als – freilich philosophisch noch einzuholende – vollkommene Offenbarung Gottes, als die er auch der christlichen Theologie gilt. Seine Gestalt ist Veranschaulichung des Bewußtseins als Anundfürsichsein: Ein Fürsichsein (Adam) stellt ein Gegenüber als Ansichsein vor (Abraham) und erkennt darin sich selbst als ein ebensolches Ansichsein an (Christus). Damit ist aber für Liebrucks die Grundgestalt der Sprache umschrieben, die als Gestalt gegenständlich und nicht-gegenständlich zugleich ist. Auch alle Sprachformen sind Gestalten, ideal und real, geistig und leiblich. (Vgl. SuB II, 137.) Liebrucks spricht davon, daß Gestalten im „Vokativ“ stünden. (Mythos und Freiheit bei Friedrich Hölderlin, 199.) „Die Gestalt ist nicht Objekt, sondern ruft über ihre bloße Vorhandenheit hinaus den sie Erblickenden zur Aktivität, der sprachlichen Antwort auf sie, des künstlerischen Umgestaltens oder des politischen Handelns auf. […] Diesen Aufforderungscharakter hat sie weder als reale noch als ideale, sondern von der ursprünglichen Verbundenheit beider in ihr.“ (SuB II, 227.)³⁴⁹ Ihr Aufforderungscharakter weist die Gestalt als Repräsentation der Logik des menschlichen Weltumgangs als Sprache aus. Sprache ist laut Liebrucks „evokatorisch“. In ihr werden Inhalte „nicht als vorhandene, sondern als evozierbare Inhalte transportiert.“ (SuB II, 313.) Der Begriff der Evokation steht daher dem der Entsprechung nahe. Beide charakterisieren sprachliche Verständigung als
348 Mit der einsetzenden Theologie sei laut Liebrucks aber „[v]on der konkreten Erfahrung [..] nur der abstrakte Wert zurückgeblieben.“ Durchgängig kritisiert Liebrucks in seinem Werk die apologetischen Versuche jüdischer und christlicher Denker, die religiösen Erfahrungen, von denen ihre Überlieferung zeugt, in die Kategorien des etablierten hellenistischen Denkens zu überführen, um sie logisch zu plausibilisieren. Auch diese theologische Transzendierung ist eine Form der Gestaltflucht, wie Liebrucks sie bereits für die erste Gemeinde konstatiert. „Im Judentum und Christentum wurde die Axt an die Wurzel der Faszination durch alle Bilder gelegt.“ (SuB III, 193.) 349 „Die Epiphanie der Götter hat für den heutigen Menschen und schon für Hegel keinen Aufforderungscharakter mehr. Das hat zu seinem Grund, daß wir den Begriffscharakter in den göttlichen Erscheinungen nicht mehr sehen.“ (Rede, 337.)
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„Selbsterzeugung des Gedankens im Hinhören auf das vom Partner Gesagte innerhalb des allgemeinen Bedeutungshofes.“ (A. a.O., 286.) Jede Mitteilung ist die Aufforderung an ihren Empfänger, in den Unbestimmtheitshorizont der empfangenen Worte seine eigenen Vorstellungen, die er aufgrund der Mitteilung erzeugt, einzuzeichnen. Die Sprache des Anderen ist ein Vokativ an uns, Entsprechungen zu dessen Gesagtem in uns zu erzeugen. Im Ausdruck „Ent-Sprechung“ bleibt der kreative Antwortcharakter des Verstehens anschaulich. Sprachlogisch ausgedrückt, ist das evokatorische Sprechen die als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung sich lebendig forttreibende Logik der Sprache im Unterschied zu einer imperativischen Subjekt-Objekt-Beziehung, die der Welt die Antworten abtrotzt, die zu deren technisch-praktischer Bewältigung notwendig sind. Aus der ausschließlich objektivierten Welt sind die Gestalten verschwunden. Als erscheinende Dialektik von Realität und Idealität ist die Gestalt das erscheinende Allgemeine des Begriffs. Sie ist daher die einzig adäquate Erscheinungsform des Absoluten als des lebendigen Gottes. Jedes Bild eines Gottes ist eine stumme Form; nur die Gestalt nimmt den Dialog, den sie repräsentiert, mit uns auch auf. Als diese Gestalt ist uns Gott ebensosehr zugewandt wie entzogen. Über Gestalten kann man nicht verfügen; man kann sich mit ihnen auseinandersetzen. (Vgl. SuB III, 16.) In der Dialektik ihrer Gegenwart und Entzogenheit wird die Realidealität des Logos zur Geltung gebracht. „Nur die Irrealität, d. h. die Übergegenständlichkeit des Göttlichen, bewahrt die Göttlichkeit der Gestalt.“ (A. a.O., 19.) In der Teilhabe des Subjekts an der Logik des Absoluten ist auch die subjektive Identität immer zugleich weltlich und überweltlich, irreal. Darin besteht ihre Freiheit. „Der Mensch ist nur dort in einer freien Welt, wo ihm in allem, was er erfährt, das Antlitz des Fremden und zugleich verwandten Menschen, des göttlich-menschlichen Menschen entgegenleuchtet.“ (A. a.O., 509.) Dieses göttlich-menschliche Antlitz des Menschen leuchtet uns in der Gestalt Jesus Christus entgegen. Das folgende Kapitel will versuchen, die im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung erarbeiteten Aussagen zum Gottesbegriff bei Liebrucks auf dessen Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition zu applizieren. Das Auswahlkriterium für die alttestamentlichen und neutestamentlichen Motive ist die eben skizzierte Philosophie der Gestalten, die Liebrucks bei Hölderlin und Hegel ausgeführt sieht. In der Auffassung des Absoluten als Begriff des Begriffs und in der triadischen Struktur der Logik als Präexistenz, Entäußerung und Rückkehr des absoluten Geistes zu sich selbst entwickelt Hegel den Gedanken, daß sich das Absolute selbst auslege. In dieser Selbstauslegung erkennt Liebrucks die Logik der Sprache. (Vgl. Sprache und Metaphysik, 29.) In Hegels Beschreibung des absoluten Geistes sieht Liebrucks den Gottesbegriff in die Philosophie eingeführt, in dem alle (bisherigen) religiösen Erfahrungen versammelt und logisch entfaltet werden
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können. Hegel selbst bietet in seinen theologischen Jugendschriften – fragmentarisch gebliebene – Deutungen biblischer Charaktere, die er als gestalthafte Repräsentation der logischen Struktur der Philosophie des absoluten Geistes erkennt, die er zu formulieren antritt. Das Absolute erscheint in einer Vielfalt von Gestalten. Die Begegnung mit dem Göttlichen kann „mental, rational ausgesprochen werden, sie ist nicht an den Ausdruck des Mythos oder welche Entmythologisierungen immer gebunden. In diesem Sinne sind die Götter noch nicht gestorben. Vielleicht die Götterbilder. Aber in Sphären lebt der Mensch immer.“ (SuB VII, 147.) Unterschiedliche Bewußtseinsstufen kennen daher unterschiedliche Gestalten. Als Momente der Dialektik des Geistes sind sie stets aufeinander bezogen, die Grenzziehung zwischen ihnen ist ein methodischer Kunstgriff. Drei dieser Gestalten seien im folgenden vorgeführt: Adam, Abraham und Christus. Jede von ihnen steht für eine Überwindungsstufe des Bewußtseins. In den Gestalten tritt dem Subjekt das Absolute in einer Form entgegen, zu welcher sich der bisherige logische Weltumgang des Subjekts verdichtet hat. Adam ist Gestalt der Trennung; in Abraham wird dem Bewußtsein diese Trennung selbst Gegenstand; Christus gibt der Einheit der Dialektik des Geistes Gestalt.
6. Adam – Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst „Es stehen überhaupt noch viele schöne und merkwürdige Erzählungen in der Bibel, die ihrer Betrachtung wert wären, z. B. gleich am Anfang die Geschichte von dem verbotenen Baume im Paradiese und von der Schlange, der kleinen Privatdozentin, die schon sechstausend Jahre vor Hegels Geburt die ganze Hegelsche Philosophie vortrug. Dieser Blaustrumpf ohne Füße zeigte sehr scharfsinnig, wie das Absolute in der Identität von Sein und Wissen besteht, wie der Mensch zum Gott werde durch die Erkenntnis, oder was dasselbe ist, wie Gott im Menschen zum Bewußtsein seiner selbst gelange – Diese Formel ist nicht so klar wie die ursprünglichen Worte: Wenn ihr vom Baume der Erkenntnis genossen, werdet ihr wie Gott sein!“ Heinrich Heine ³⁵⁰
In den folgenden drei Kapiteln wird eine Typologie vorgestellt, in welcher der Einbezug jüdisch-christlicher Tradition in die von Liebrucks entwickelte Sprachphilosophie nachvollzogen werden soll. Anhand der Interpretation der biblischen Charaktere Adam, Abraham und Christus als Gestalten des Bewußtseins an den entscheidenden Wendepunkten seiner Genese erfolgt die Applikation der zuvor dargelegten zentralen Aussagen von Liebrucks’ Logosphilosophie auf die biblische Überlieferung. Diese drei Gestalten werden als im mythischen Bild überlieferte Repräsentanten je eines Moments des zu sich kommenden Geistes, als Stadien des Bewußtseins, gedeutet.³⁵¹ Jedes zu sich hin denkende Bewußtsein ist demnach Adam, Abraham und Christus. Darin ist ein universaler Anspruch des biblischen Kerygmas bewußtseinstheoretisch begründet. Das erklärt ebenfalls die
350 Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Vorrede zur 2. Aufl., in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 5, hg.v. Briegleb, Klaus, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981, 505 – 641, 510 f. Entgegen Heines Einschätzung der „Schlange“ als mythischer Entsprechung zu Hegels Theorem der Negation der Negation sieht Liebrucks die Sündenfallerzählung noch nicht als Vorwegnahme des Ankommens des Absoluten bei sich selbst, sondern als den Aufbruch. 351 So setzt Hegel die Verständnisse von Geist und Bewußtsein in der Phänomenologie des Geistes miteinander Beziehung – ein Verständnis, das zweifelsohne von Liebrucks dessen eigenen bewußtseinslogischen Erörterungen zugrundegelegt wird. Zur Zusammenführung einer Theorie des Bewußtseins und einer Theorie des Geistes in Hegels Phänomenologie des Geistes vgl. Iber, Christian, Hegels Paradigmenwechsel vom Bewußtsein zum Geist, in: Kunes, Jan/ Karasek, Jindrich/Landa, Ivan (Hgg.), Hegels Einleitung in die Phänomenologie des Geistes, Würzburg 2006, 125 – 140, 135.
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6. Adam – Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst
Auswahl der Gestalten: Jede von ihnen behauptet schon in der biblischen Tradition Universalität – Adam ist der „Vater“ der Menschen, Abraham der „Vater“ aller Völker; Jesus Christus ist der Logos, ohne den nichts gemacht ist, was gemacht ist. (Vgl. Joh 1, 3.)³⁵² Liebrucks’ Zugang zur Tradition der zwei biblischen Testamente ist in der Hinsicht christozentrisch, als Jesus Christus für ihn das gestaltgewordene BewußtSein darstellt, dessen sprachlogischer Explikation seine Philosophie gewidmet ist. Der Bindestrich im Ausdruck „Bewußt-Sein“, dessen Erläuterung seiner Sprachphilosophie die Aufgabe gibt, begegnet ihm auf vorphilosophische Weise in der Figur des D e u s h o m o . In ihm entdeckt er, was schon Hegel in der trinitarischen Ausdifferenzierung des christlichen Gottes zum Ausdruck gebracht findet: die Einheit des Geistes in der Aufhebung seiner Widersprüche zu einer absoluten Identität. Liebrucks hebt die Bezeichnung des sich entäußernden und sich mit sich versöhnenden Geistes als Logos hervor und findet darin den Anschluß für seine Sprachphilosophie. Im Logos, der mit Hamann als Sprache begriffenen Vernunft, ist der absolute Geist im subjektiven Geist auf sich selbst bezogen. Die Reflexion auf den Logos hebt für Liebrucks die christliche Überlieferung, die er terminologisch unsauber oft als „das Christentum“ bezeichnet, von allen philosophischen, mythischen und religiösen Weltzugängen ab.Wenn es auch mythisch im Sinne von vorphilosophisch bleibt, weil es sein Wirklichkeitsverständnis noch auf der Schwelle von narrativer zu begrifflicher Reflexion artikuliert, befindet es sich doch bereits auf einem höheren Bewußtseinsniveau als die antike Religion: „Was dort [in der antiken Religion, S. L.] noch in der mythischen Weise einer Geschichte gegeben wurde, erscheint im Christentum als Logos.“ (SuB III, 480.) Mit dieser Einschätzung ist dem Christentum keine höhere Abstraktionsleistung zugeschrieben. Entscheidend ist seine Einsicht in die Genese der Wahrheit des Absoluten über dessen Selbstverkündigung in der sinnlich-geistigen Identität des menschlichen Subjekts als eines logosbegabten. In dieser Genese der Wahrheit stehen die alttestamentlichen Gestalten Adam und Abraham für Stufen des noch nicht zu sich gekommenen Bewußtseins. Gleichwohl Momente der Wahrheit sind sie je für sich genommen jedoch deren Entfremdungen. Sowohl Adam als auch Abraham repräsentieren in gestalthafter Form den Selbstwiderspruch des absoluten Geistes, in dessen ausstehender Überwindung er sich erst noch als das Absolute erweisen muß. Somit beschränkt Liebrucks den hermeneutischen Zugang des griechischen Testaments zum hebräischen indirekt darauf, daß sich die 352 Alles, was ist, ist durch den im Sohn zur Gestalt gewordenen Logos gemacht. So ist auch die Gottesmutter noch Kind des in ihrem Sohn erscheinenden Gottes, wie der kurze Fingerzeig auf die Divina Commedia zu bedenken gibt: „Maria ist noch die Tochter ihres Sohnes (Dante: Gebet des heiligen Bernhard).“ (SuB VI/2, 336.)
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neutestamentliche Christus-Verkündigung als erkenntnistheoretische Überwindungsstufe der alttestamentlich bezeugten Gotteserfahrungen zu erkennen hat. Ihr christlicher Hintergrund kann indes niemals Argument dafür sein, die Plausibilität der sprachlogisch dialektischen Bewußtseinstheorie zu belegen, denn Argumente gehören in die Struktur einer Logik, die ihre Setzungen zu verteidigen hat. Die Philosophie des Logos ist keine Beweisführung.Vielmehr will sie „die Emanzipation der menschlichen Vernunft als ihre Weltverbundenheit aufzeigen“ (SuB VI/1, 463.) Sie versucht nicht, Wahrheit aufgrund der Notwendigkeit von Urteilen zu ergründen: „Hier wird nicht gleich für irrationale sogenannte metaphysische Ausflüge plädiert, sondern für die Achtsamkeit auf die menschliche Erfahrung auch dort, wo sie nicht schon durch einen ‚richtigen‘ Interpretationsschlüssel abgesichert ist.“ (A. a.O., 113.) Die Wahrheit eines Textzugangs wird sich immer darin erweisen, eine Mehrdimensionalität von Bedeutungen zulassen zu können, im Sinne Ecos „offen“ zu sein.³⁵³ Dieses Zugeständnis der Offenheit wird nicht durch die Entschlossenheit eines Vortrages eingeschränkt, der sich daraus erklärt, daß (neue) Thesen mit gewisser Vehemenz vorgetragen sein wollen, wenn es ihnen vergönnt sein soll, gehört zu werden. Der sprachphilosophische Ansatz selbst, der hier als Interpretationsschlüssel vorgestellt wird, lehrt, daß sich in jedem Wort der Sprache die Erfahrungen aller Menschen zu allen Zeiten aussprechen. Somit erhebt die in diesem Kapitel wie auch an übrigen Stellen der vorliegenden Arbeit erfolgende Auslegung biblischer Tradition aus der Sichtweise der von Liebrucks vorgetragenen Sprachphilosophie weder den Anspruch, einzig mögliche noch erschöpfende Erschließung der jeweiligen Bibelperikopen zu sein. Die biblischen Geschichten haben ein Wirklichkeitsverständnis zum Gegenstand, das einen eigenen, nicht okkupierbaren Wahrheitsanspruch geltend macht. In ihrer Rezeption ist aber ebenso das jeweilige Kommunikationsgeschehen bedeutsam, das sich zwischen den biblischen Erzählern und ihren Adressaten entwickelt. Die biblisch verkündete Wahrheit ist als Wahrheit nur eine, aber sie trägt verschiedene Gesichter. Der Adressatenkreis der biblischen Schriften ist in bezug auf seinen historischen und sozio-kulturellen Hintergrund unbestimmt, der Anspruch der Erzählungen universal. Auch insofern ist keine Schriftdeutung entweder eindeutig richtig oder falsch. Vermag nun Liebrucks’ Bibelrezeption im folgenden zu überzeugen oder nicht: Sein explizites Bekenntnis zu seiner Bindung an die christliche Denktradition eröffnet in jedem Fall Türen für einen Dialog mit der Theologie.
353 Zum Begriff des „offenen Textes“ und „pluraler Lektüren“ vgl. Eco, Umberto, Die Grenzen der Interpretation, München/Wien 1992, 46.
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Deren exegetische Disziplinen sind es überdies, denen traditionsgeschichtliche oder literarkritische Analysen der Bibeltexte überlassen werden. Die folgenden Kapitel intendieren lediglich, Liebrucks’ Philosophie als ein Abarbeiten (an) der Denktradition des christlichen Abendlandes zu erschließen. Einerseits entwickelt er seine sprachphilosophischen Thesen unter Einbeziehung biblischer Motive, andererseits betrachtet er die biblische Verkündigung im Lichte seiner dialektischen Theorie von Sprache und Bewußtsein. In der Voreingenommenheit ihres Vorgehens liegen sowohl Reiz als auch Grenze dieser philosophischen Bibellektüre, die sich zudem ganz von der hegelschen Geistphilosophie geprägt zeigt. Bei allen hier vorgetragenen bewußtseinstheoretischen Adaptionen biblischer Überlieferung steht der Hegel der Theologischen Jugendschriften Pate. Die Schrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal wertet Liebrucks als Geburtsstunde hegelscher Kategorien und liest sie als Entree in hegelsches Denken in Gestalten. Dieses bildet den Hintergrund für die folgende Interpretation der biblischen Charaktere Adam, Abraham und Christus. Wie auch an anderen Stellen verleiht Liebrucks der Vorarbeit seines philosophischen Vorbildes durch eine sprachphilosophische Pointierung eine eigene Note.³⁵⁴
A. Unschuld Die Versuchung Adams ist der Reiz der eigenen Freiheit. Die Freiheit des Menschen (so stellt es sich bei Liebrucks dar) besteht aber darin, ganz Mensch zu sein. So begriffen ist der Mensch als Mensch darauf angelegt, frei zu sein. Die Verwirklichung seines Menschseins hängt demnach daran, der Versuchung zur eigenen Freiheit nachzugeben. Ist diese als Moment der Selbstbewußtheit beschrieben worden, nimmt es nicht Wunder, wenn Liebrucks folgerichtig die alttestamentliche Sündenfallerzählung als Erwachen des Selbstbewußtseins zu sich selbst auslegt. In der Erläuterung dieses hermeneutischen Zugangs zum Buch der Ge-
354 Die Verknüpfung der Untersuchung von Sprachkonzeptionen mit der Lektüre biblischer Erzählungen (die etwa als narrative Sprachreflexion interpretiert werden), ist indes vor allem in der Sprachwissenschaft nicht neu: Wilhelm Köller, selbst Vertreter eines solchen Auslegungsansatzes, verweist auf Jacobis oder Mauthners Hinterfragung biblisch-mythischer Erzählungen hinsichtlich deren sprachtheoretischer Implikationen. Vgl. Köller, Wilhelm, Narrative Formen der Sprachreflexion. Interpretationen zu Geschichten über Sprache von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin/New York 2006, 61 ff. Köllers Identifizierung der „Schlange“ als Sinnbild für Sprache will mir allerdings nicht einleuchten. (Vgl. a.a.O., 69 ff.) Generell erscheint bei Köller die Sprache eher als Instrument; dies wird seinem Auslegungsansatz als eines literaturwissenschaftlichen nur gerecht, steht damit aber auch deutlich im Kontrast zur sprachphilosophischen Betrachtung, wie Liebrucks sie bietet.
A. Unschuld
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nesis lassen sich meiner Auffassung nach abermals inhaltliche Verbindungslinien zur Marionettenmetapher ziehen, die im folgenden nicht allein in der Prägung durch Liebrucks, sondern auch durch Heinrich von Kleist Erwähnung finden soll. Durch das Aufzeigen einer parallelen Verwendung argumentationstragender Motive bei theologischen Autoren, die ich Liebrucks im Verlauf dieses und der folgenden Kapitel zur Seite stelle, erhoffe ich, Liebrucks’ philosophische Eigenständigkeit formal und material zu erschließen – sofern gelten mag, daß eigenständige Profile sich aneinander ausschärfen. Dementsprechend werden neben Kleist ebenfalls Sören Kierkegaard und Paul Tillich zu Gewährsmännern Liebrucks’ gemacht, wenn es sich um die Deutung der Unschuld als einer Metapher für den vorlogischen Stand des Bewußtseins handeln wird. Eröffnet sei diese Darlegung zunächst jedoch mit einer sprachphilosophischen Implikation der biblischen Anfangserzählung, die sich Liebrucks von Hamann erborgt. Mit diesem folgert er, die paradiesische Glückseligkeit des Unschuldigen bestehe darin, daß diesem alles Wort sei. „Alles, was Adam sah und betastete, war ein Wort.“ (SuB I, 342.)³⁵⁵ Unschuld ist gewissermaßen ein Rezeptor der Selbstvorstellung der Natur. Der Unschuldige hat sich noch nicht an der Natur vergangen, sie keinen Zwecken und Gesetzen unterworfen. Unschuld ist ateleologisch. Das heißt aber auch: Der Unschuldige ist noch nicht zur Behauptung seiner selbst durchgedrungen. Sein Selbstbewußtsein ist noch nicht erwacht, es „träumt“. So sieht „der schlafende Säugling, dessen Bewußtsein noch vor der Spaltung von Subjekt und Objekt lebt, [..] aus, als befände er sich noch im Paradies.“ (SuB VII, 106.)
I. Träumende Unschuld Ich stelle im folgenden der bewußtseinstheoretischen Deutung der alttestamentlichen Sündenfallerzählung, wie sie von Liebrucks vorgenommen wird, wie angekündigt Beobachtungen Kierkegaards und Tillichs zur Seite. Dies geschieht zum einen in der Hoffnung, das bei Liebrucks entdeckte, schon auf den Hegel der Theologischen Jugendschriften zurückgehende Motiv des Erwachens des Bewußtseins zu sich selbst als das Thema des Sündenfallmythos zu erörtern; zum anderen soll in dieser Zusammenschau interpretatorischer Parallelen ein Dialog der Liebrucks-Rezeption mit theologischen Denkern eröffnet werden. 355 Bei Hamann heißt es: „Alles, was der Mensch am Anfang hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort.“ (Hamann, Johann Georg, Sämtliche Werke, Bd. III: Schriften über Sprache, Mysterien, Vernunft (1772– 1788), hg.v. Nadler, Josef, Wien 1951, 32.)
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6. Adam – Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst
Es kommt Tillich zu, die von Kierkegaard ererbte Metapher der „träumenden Unschuld“ entscheidend geprägt zu haben.³⁵⁶ Seine bewußtseinstheoretische Deutung von Genesis 3 beschreibt den Sündenfall als Symbol³⁵⁷ der Verwirklichung menschlicher Freiheit. Hier eröffnet sich eine Parallele zu Liebrucks, obgleich für dessen Genesis-Interpretation nicht die psychologisierenden Tendenzen zu verzeichnen sind, welche Tillichs Auslegung aufweist. Tillich dient die Metapher der „träumenden Unschuld“ zur Erläuterung des Gegensatzes von Essenz und Existenz, der das Agens seines theologischen Entwurfes bildet. Als „Essenz“ bezeichnet Tillich die eigentliche Natur des Menschen³⁵⁸, seine potentielle Vollkommenheit³⁵⁹ und wirkliche Bestimmung. Das aktualisierte Sein des Menschen, in welchem dessen essentielle Natur stets nur in Verzerrung verwirklicht ist, nennt er die „Existenz“.³⁶⁰ Essenz und Existenz sind keine voneinander zu separierenden Größen. Die Essenz erscheint stets unter der Existenz. In der mythischen Darstellung des Eigentlichen des Menschseins wird dieses zu einem vor- und übergeschichtlichen Zustand stilisiert, dem „Paradies“ oder Zustand der „träumenden Unschuld“. Laut Tillich ist die letztgenannte Wendung als Symbol geeignet, das potentielle Sein des Menschen zu umschreiben, weil sie in beiden Wortelementen die Spannung zum Ausdruck bringt, in welcher die Essenz zur Existenz steht. So ist „die Wirklichkeit [..] verschieden von den Bildern des Traumes, aber nicht absolut verschieden.“³⁶¹ Traumwelt und Lebenswelt teilen dieselben Dinge (oder die Bilder von ihnen), wenn auch Traumbild und erscheinendes Ding nicht zusammenfallen. Traum und Realität
356 Vgl. Tillich, SysTh II,39 ff. 357 Tillich spricht in bezug auf die „träumende Unschuld“ oder die „Versuchung“, ebenso in bezug auf die biblischen Erzählungen von Schöpfung und Sündenfall von Symbolen. Nach Tillich können alle Aussagen über das göttliche Unbedingte nur symbolisch sein, weil sie als zum Seinsbereich gehörig zwar zum göttlichen Sein-Selbst in a n a l o g i a e n t i s stehen, zugleich aber als endliche Sprach- und Denkformen lediglich einen Ausschnitt des Unendlichen zeigen. Theologie hat ihren Ermöglichungsgrund darin, daß Gott als das Sein-Selbst allem endlichen Sein die Struktur gibt und sich folglich an dieser Struktur offenbart. Die Prämisse, unter der das symbolische Reden von Gott steht, ist, daß der Grund-Satz der Theologie kein symbolischer Satz sein darf: Gott ist das Sein-Selbst. Dieser Satz ist in jedem weiteren theologischen Satz mitgesprochen. Das Unbedingte ist als solches keiner strukturellen Bedingtheit unterworfen: Es ist im Endlichen symbolisch gegenwärtig. Durch die Wechselbeziehung zwischen Symbol und Symbolisiertem liegt im Symbol jedoch Wahrheit. Dessen Teilhabe an der Wirklichkeit desjenigen, wofür es steht, begründet seine Unaustauschbarkeit. (Vgl. Tillich, SysTh I, 237 ff.) 358 Vgl. Tillich, SysTh II, 10; 31. 359 Vgl. a. a.O., 69. 360 Vgl. a. a.O., 10. 361 A. a.O., 40.
A. Unschuld
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sind zwei Dimensionen derselben Welt. Auch das Wort „Unschuld“ steht für die Spannung, mehr noch für das Tendieren von der Potentialität zur Aktualität, denn es ist ein relational bestimmter Begriff: Man ist immer unschuldig in bezug auf etwas. Dieses „etwas“ ist in dessen Vermeidung durch den Unschuldigen stets angezeigt. „Man ist unschuldig nur im Hinblick auf etwas, das – wenn es aktualisiert wird – den Zustand der Unschuld beendet.“³⁶² Damit ist zugleich beschlossen: „Der Zustand der träumenden Unschuld treibt über sich hinaus.“³⁶³ Unschuld geht – notwendig – einher mit Versuchung, womit für Tillich der Drang zur Entscheidung umschrieben ist. Den Zustand der Unschuld interpretiert er demnach als Unentschiedenheit.³⁶⁴ Vornehmlich an dieser Stelle darf man an den von Hegel philosophisch nachgezeichneten Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst denken, die Notwendigkeit der Entzweiung von sich selbst, um sich selbst ansichtig zu werden, das sich Entfremdete bewußt anzuerkennen und erst damit zu einer Einheit des Entfremdeten zu gelangen, welche die Bezeichnung „Versöhnung“ verdient³⁶⁵. Erst in solcher Versöhnung ist der Mensch vollkommen. Dieses Verständnis von Versöhnung sei später näher erläutert. Hier ist zunächst festzuhalten, daß, wird der sogenannte Sündenfall als Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst gedeutet, somit zugleich Kritik geübt wird an der traditionell-theologischen Auffassung, der praelapsarische Mensch hätte sich in einem Zustand der Vollkommenheit befunden (sofern man in bezug auf Vollkommenheit von einem Zustand sprechen kann).³⁶⁶ Dagegen wird gehalten, der Mensch vor dem Fall und der erlöste Mensch seien nicht identisch. Tillich sieht das n o n p o s s e n o n p e c c a r e nicht als Schwäche Adams an, sondern versteht es als „Freiheit zur Sünde“ und unterstreicht, „daß die Möglichkeit der Abwendung von Gott eine Qualität der Struktur der Freiheit als solcher ist. Die Möglichkeit des Falls beruht auf allen Eigenschaften der menschlichen Freiheit in ihrer Einheit. Symbolisch gesprochen: Es ist das Ebenbild Gottes im Menschen, das die Möglichkeit des Falls schafft. Nur das Wesen, das Ebenbild Gottes ist, hat die Macht, sich von
362 Ebd. 363 A. a.O., 41. 364 Vgl. ebd. 365 Zu Tillichs Hegel-Rezeption (insbesondere der theologischen Jugendschriften) vgl. Ringleben, Joachim, Die Macht des Negativen. Paul Tillichs Ontologie und Theologie des Lebendigen, in: ders., Gott denken. Studien zur Theologie Paul Tillichs, Berlin/Hamburg/Münster 2003, 103 – 120, 106. 366 Hier sei insbesondere an das von der altprotestantischen Orthodoxie formulierte Lehrstück vom s t a t u s i n t e g r i t a t i s erinnert. (Vgl. Schmid, Heinrich, Die Dogmatik der ev.-luth. Kirche (Frankfurt a. M. 1843), 9. Aufl., darg. u. durchg. v. Pöhlmann, Horst Georg, Gütersloh 1979, 150 – 181.)
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Gott zu trennen. Die Größe und die Schwäche des Menschen haben ein und dieselbe Wurzel. Selbst Gott kann die eine nicht ohne die andere aufheben.“³⁶⁷ Christus als der zu vollem Bewußtsein seiner begrenzten Freiheit gelangte, insofern vollkommene Mensch, ist kein Analogon zum praelapsarischen Adam. Die widersprüchlich erscheinenden Kreuzesworte der neutestamentlichen Überlieferung bringen eben dies in den Blick: Die Klage über die Gottverlassenheit (Mk 15, 34 par) bezeugt die Entschiedenheit des Menschen Jesus zu sich selbst, seine demütige Gottverbundenheit inszenieren die Worte „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Lk 23, 46) sowie das johanneische „Es ist vollbracht!“ (Joh 19, 30). Jesus Christus steht für die Vollkommenheit des Menschen, die sich nicht als im Sinne Tillichs verstandene reine Essenz präsentiert, sondern als Aufhebung der Spannung von Essenz und Existenz. Beide Elemente menschlichen Seins bleiben in dieser Aufhebung erhalten. Das Bestehen der Unterschiedenheit von Potentialität und Aktualität ist Voraussetzung der Freiheit des Menschen, die sich als Fähigkeit der Entscheidung vollzieht. Dabei ist eine basale Unterscheidung allen weiteren Unterscheidungen unterlegt: die selbstbestimmte (Unter‐)Scheidung von Gott in der Behauptung des „Ichs“. So findet sich das Verständnis menschlicher Freiheit bei Tillich in vergleichbarer Weise zu Liebrucks’ Freiheitsbegriff bestimmt: Freiheit liegt im Bewußtsein eigener Potentialität und der Fähigkeit, sich zwischen Möglichkeiten zu entscheiden. Freiheit liegt im p o s s e p e c c a r e . Die Unentschiedenheit des noch unschuldigen Adam ist Kennzeichen eines noch nicht erlangten Bewußtseins der eigenen Freiheit. Solange der Mensch nicht „Ich“ sagen kann, kann er auch nicht „Gott“ sagen, weil er, indem er sich nicht behauptet, auch kein Gegenüber erkennen kann. Über das Menschsein ist somit ausgesagt, daß dessen wesenhafter Bestandteil ein Selbstbewußtsein ist, ein Bewußtsein also, das seine Voraussetzungen vorfindet, sie aber selbständig verwirklichen muß. Der dem Bewußtsein als solchem inhärierende Auftrag lautet, sich selbst als Synthese sinnlich-leiblicher Existenz und geistigen Lebens zu konstituieren. „Die Frucht des Baumes der Versuchung ist zugleich sinnlich und geistig.“³⁶⁸ Dergestalt ist deutlich bezeichnet, daß die Existenz kein Makel des Menschen als eines eigentlich rein geistigen Wesens ist; vielmehr ist mit Tillich zu konstatieren: „Nur die bewußte Einheit von Existenz und Essenz ist Vollkommenheit.“³⁶⁹ Diese Vollkommenheit muß mit dem Preis der Unschuld bezahlt werden. Liebrucks aber weiß: „In der mythologischen Vorstellung des Alten Testaments wird das nicht als notwendig, sondern als eine Geschichte erzählt, von
367 Tillich, SysTh II, 39. 368 A. a.O., 43. 369 A. a.O., 41.
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der man sich vorstellt, daß sie auch anders hätte verlaufen können.“ (SuB V, 284.) In der bewußtseinstheoretischen Deutung der Sündenfall-Episode durch Liebrucks und deren verwandte theologische Entwürfe bei Tillich oder Kierkegaard ist der Lapsus dagegen ein alternativloses Geschehen: Adam n o n p o t e s t n o n p e c c a r e , zu keinem Zeitpunkt seines Seins ist dies nicht so. Die biblische Gestalt des Adam ist Veranschaulichung eines Status des Bewußtseins. Bewußtsein aber ist definiert als Bewußtsein von etwas, es ist eine relationale Größe. Es ist Abgrenzung: Entfremdung ist dem Bewußtsein wesenhaft. Dies ist die große Einsicht Hegels, die allen bewußtseinstheoretischen Einsichten Liebrucks’ zugrundeliegt. Im Hinaustreiben über sich selbst erweist sich das Bewußtsein, Geist zu sein: erscheinender, sich als Subjekt auf ein Anderes seiner selbst bezogener, und eben darin bei sich seiender Geist. Das wird vollends offenbar im trinitätstheoretisch verstandenen Jesus Christus, der geschichtlichen Konkretion Gottes, der sich in der identitätsbestimmenden Selbstmitteilung in der Hypostase des Sohnes als Liebe erweist.³⁷⁰ Jan Rohls hat die religionsphilosophische Annahme Hegels, das trinitarische Dogma erfasse Gott als Geist, auf den Punkt gebracht: „Daß Gott seiner logischen Struktur nach absolute Idee ist, wird durch die Deutung der immanenten Trinität als Geist oder Liebe vorgestellt. Denn das Dogma von der immanenten Trinität thematisiert ja Gott, wie er an und für sich außer der Welt ist, und zwar soll Gott als Geist oder Liebe das Setzen des Unterschiedes und die Aufhebung dieses Unterschiedes sein.“³⁷¹ Der Begriff des Geistes, wie Hegel ihn vertritt, erfüllt den Anspruch der Totalität, der ihm von Hegel beigelegt ist, in der logischen Struktur des Hinausstrebens über sich selbst, m. a. W. der Dialektik des Ganges in seinen eigenen Widerspruch, in dessen Aufhebung er wieder zu sich zurückkehrt. Die Trinitätslehre begreift dies in der Selbstmitteilung Gottvaters im Sohn, mit Hegel gesprochen: Der Geist wird Bewußtsein. Wie Gottvater und Sohn unterschieden, aber nie getrennt sind, befinden sich auch Geist und Bewußtsein in einer nicht aufzukündigenden Reziprozität. Im D e u s h o m o kann sich der Mensch als das bewußtseinsbegabte Wesen als Geist erkennen. In Jesus Christus wird damit zum ersten Mal deutlich, worin die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht.³⁷² In der Gottesebenbildlichkeit seiner Logosbegabung drängt es den Menschen ebenso über sich hinaus, wie Gott immer der kommende, der sich entäußernde ist. Ist dieser Drang als der Übergang von der
370 Vgl. Jüngel, Entsprechungen 265 ff.; vgl. ders., Gott als Geheimnis der Welt, 524 ff. 371 Rohls, Jan, Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. I: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 443. 372 Wie das Unterkapitel Kleider machen Menschen zeigt, wird bei Liebrucks die i m a g o D e i als Sprachlichkeit begriffen, was die Folge seiner Auffassung von der Bewegung des Geistes als Sprache ist.
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Unschuld in die Schuld, von der Indifferenz in die Entscheidung bezeichnet, so ergibt sich in der Konsequenz eine starke Pointe: Gottes Kommen in die Welt ist ebenso ein Verlust von Unschuld. Gott ist ein Gott der Entscheidung. In seiner Entäußerung in den eigenen Widerspruch wird seine absolute Macht im Teilmoment der Gewalt verwirklicht. Deshalb haben wir Gott ebenso zu fürchten wie zu lieben. Darauf wird im Fortgang der Darstellung noch einzugehen sein. Als existierender Begriff steht der Mensch immer in der Spannung von Selbstunterscheidung und Selbstentsprechung. Sein Weg zum individuellen Ich ist immer zugleich der Gang ins Allgemeine als Gang in den Abgrund des Individuums. Dem natürlichen, d. h. philosophisch unreflektierten Bewußtsein erscheint der Verlust seiner selbst skandalös. Ihm gilt ein sich überwindendes Bewußtsein als naiver Mythos, die Selbstbehauptung dagegen als das sich innewohnende Ziel. Von Verlustangst getrieben, ist es stets bemüht, seine selbständige Unmittelbarkeit zu behaupten. Doch die Selbstbehauptung ist der eigentliche Selbstverlust.³⁷³ Denn erst wenn der Geist sich in den Zwiespalt von Selbstbehauptung und Selbstverlust begibt, kann er als die Dialektik zwischen beiden sich selbst erkennen. Insofern ist sein eigener Untergang die höchste Form des Selbstbewußtseins. Laut Liebrucks ist es Aufgabe der Philosophie, die Notwendigkeit des Selbstverlustes im Zu-sich-Kommen des Bewußt-Seins begreifbar zu machen, und somit das Bewußt-Sein darüber aufzuklären, daß es in diesem Selbstverlust eine Gewalt erleidet, die von ihm selbst ausgeht.³⁷⁴ Der Todeskampf der einen Bewußtseinsstufe als die Geburtswehe einer neuen ist die „Grunderfahrung des menschlichen Bewußtseins“ und insofern eine „echte[] Erfahrung“. (SuB III, 80.)³⁷⁵ Das Bewußtsein muß sich sterben, um zu sich aufzuerstehen. Nur „wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren.“ (Lk 9, 24; vgl. 17, 33; Mt 10, 39; Joh 12, 25.) Das Individuum aber, das sich in das Allgemeine des Logos verliert, wird sich erhalten. Aufgehoben in die Unendlichkeit des Begriffs bewahrt das sich überwunden habende Bewußtsein seine früheren Stufen in sich. Seine Selbstüberwindung vollzieht es, indem ihm seine bisherige Genese zum Gegenstand wird, sein Ursprung vor ihm liegt. Der Gegenbegriff zum „natürlichen“ Bewußtsein ist demnach das „dialektische“: ein Bewußt-Sein, das Negation und Affirmation zugleich aushält. In der Überwindung eines Status seiner selbst, ist das
373 Eine unbedingte Verfechtung solcher Selbstbehauptung findet sich zum Beispiel in der spinozistischen Tugendlehre, in welcher die Erhaltung des eigenen Wesens (s u u m e s s e c o n s e r v a r e ) als Grundlage aller Tugend gilt, sofern kein Mensch bestrebt sein könne, das eigene Sein um eines anderen Wesens willen zu bewahren. 374 Vgl. Hegel, PhG, 62 f. 375 „Innerhalb der Grundfigur Bewußt-Sein […] findet sich [..] der unendliche Schmerz als reiner Begriff, der das absolute Leiden ist.“ (A. a.O., 83.)
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Überwundene im Überwindenden gegenwärtig. Die Überwindungsstufe ist bestimmt durch das, wovon sie Überwindung ist. Hegels Theorem der Aufhebung bildet hier den Verständnishintergrund. Ist Negation als Beziehung begriffen (Negation von etwas), wird deutlich, daß das Negierte als Relat in dieser Überwindungsfigur stets erhalten bleibt.³⁷⁶ Die neuen Inhalte des Bewußtseins können nur in ihrer Abgrenzung zum durch sie Negierten bestimmt werden. Schon bei Hegel finden sich Ansätze, in dieser dialektischen Aufhebung die Bewegung des Geistes als eines sprachlichen aufzufassen, da allein in der Sprache widersprüchliche Bedeutungen – selbst in einem einzigen Wort – vereinigt werden können.³⁷⁷ Die Angst vor dem Selbstverlust ist aber mehr als dessen Begleiterscheinung. Daher soll sie an dieser Stelle in ihrer Ambivalenz als Hemmung und Antrieb, als das „Zwischen“ der Status „Unschuld“ und „Schuld“ skizziert werden. Dazu seien einige einschlägige Typisierungen Kierkegaards und Tillichs angeführt, die mir die Erschließung der bewußtseinstheoretischen Lapsus-Deutung durch Liebrucks in erhellender Weise zu begleiten scheinen. Angst wird von Kierkegaard³⁷⁸ als Keimzelle menschlicher Freiheit beschrieben. Gleichzeitig ist es seine Freiheit, die den Menschen ängstigt. Als Erwachen aus dem Traum der Unschuld umschreibt Kierkegaard das Aufgehen des Bewußtseins dafür, daß es an ihm ist, seine unendliche Bestimmung unter den Bedingungen des endlichen Seins zu verwirklichen. Die Einheit seines sinnlichen und seines geistigen Seins findet der Mensch nirgendwo anders als in sich selbst: Er muß sie herstellen, indem er sich als Ich ausspricht. In der Fähigkeit dazu besteht seine Freiheit. Die Ahnung dieser Freiheit versursacht dem unschuldig träumenden Adam jedoch Schwindel. Seine Freiheit eröffnet sich als die Möglichkeit zur Entscheidung zu allem Möglichen. Die Unendlichkeit der Möglichkeiten mutet ihm aber gleichsam als Nichts an. Die Erfahrung dieses Nichts ist die
376 „Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts ist das Unmittelbare; ein Aufgehobenes dagegen ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseiende, aber als Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist; es hat daher die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich.“ (Hegel, Logik I, 113 f.) 377 „Wir sehen hiemit wieder die S p r a c h e als das Dasein des Geistes. […] Sie ist das von sich selbst abtrennende Selbst […]; es vernimmt ebenso sich, als es von den andern vernommen wird, und das Vernehmen ist eben das z u m S e l b s t g e w o r d e n e D a s e i n . Der Inhalt, den die Sprache hier gewonnen, ist nicht mehr das verkehrte und verkehrende und zerrißne Selbst der Welt der Bildung; sondern der in sich zurückgekehrte, seiner und in seinem Selbst seiner Wahrheit oder seines Anerkennens gewisse, und als dieses Wissen anerkannte Geist.“ (Hegel, PhG, 428; vgl. 392.) 378 Vgl. Kierkegaard, Sören, Der Begriff Angst (1844), übers. u. mit Einl. u. Kommentar hg.v. Rochol, Hans, Hamburg 1984.
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Geburt der Angst. Als Nichts stellt sich dem noch unschuldigen Adam dar, wozu er noch nicht gekommen ist: Selbstbewußtsein. Das träumende Bewußtsein verspürt den Drang des Hinausstrebens über den Stand, in dem es sich befindet, weiß aber nicht, wozu es sich gedrängt erfährt. Dieses Nicht-Gewußte bzw. das, was noch nicht ist, ist das Nichts. Erst in seinem Freiheitsakt, dem Aussprechen des Selbstbewußtseins, erscheint dem sich bewußt werdenden Menschen, was ihn zu seiner Entscheidung, in bestimmter Weise „Ich“ zu sagen, geführt hat. Angst ist eine ambivalente Größe; sie läßt nicht nur zurückschrecken, sie treibt auch an. Für Kierkegaard ist Angst das Movens der Entwicklung des Menschen. Angst verursacht den Fall.³⁷⁹ Dieses Motiv findet sich ebenso bei Tillich, der die im unschuldigträumenden Menschen „,erregte Freiheit‘“³⁸⁰ als bleibend „sich ängstigende Freiheit“³⁸¹ charakterisiert. Tillich akzentuiert insbesondere den Drang des Übersich-hinaus-Strebens des unschuldig-natürlichen Bewußtseins bis hin zu der Aussage, in Adam bestünde ein „Wunsch der Sünde“³⁸².Wird die endliche Freiheit sich ihrer selbst bewußt, drängt sie von ihrer Potentialität zu ihrer Aktualisierung – so vollzieht sich laut Tillich der Fall von der Essenz in die Existenz. Mit dem Begriff „Versuchung“ ist für Tillich der Konflikt ausgesprochen, in dem sich das sich ängstigende Bewußtsein angesichts der Wahl vorfindet, sich zu verlieren – entweder durch Selbstverwirklichung oder durch Nichtverwirklichung. Die „Entscheidung gegen die Selbstbewahrung zugunsten der Selbstverwirklichung“³⁸³, der Sprung in die Existenz unter Einbüßen der Unschuld ist Beginn der t r a goedia conscientiae.
II. Die Unumgänglichkeit der Schuld – Sündenfall und Macht des Schicksals Im Gegensatz zum „Sprung“ in die Sünde wird unter dem Begriff „Schicksal“ langläufig eine Ansammlung von Ereignissen umschrieben, zu denen der Mensch sich nicht entscheidet. Schicksal wird über jemanden verhängt, z. B. von Göttern. Folgt man dagegen Hegel und Liebrucks, kann das unberechenbare und unabänderliche Geschehen, das der Mensch als Schicksalsmacht erleidet, Ausdruck
379 Angst erscheint dabei als uneindeutiges Moment, während die Sünde, in welche die Angst den Menschen treibt, eindeutiges Handeln ist. Zwischen Angst und Sünde besteht eine qualitative Differenz, so daß sündhaftes Handeln nicht durch das angstbedingte Getrieben-Sein gerechtfertigt werden kann. (Vgl. a. a.O., 43.) 380 Tillich, SysTh II, 42. 381 A. a.O., 41. 382 A. a.O., 42. 383 A. a.O., 43.
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seiner eigenen Freiheit sein. Wenn dies zutreffen soll, werden die Symbole des Sündenfalls und des Schicksals zusammengeschaut werden müssen. Der Sündenfall ist insofern schicksalshaft, als er die Initiation des Schicksals bedeutet. Mit dem Eintritt in die mündige Unterwerfung der Welt, beginnt der Mensch selbstverantwortlich sein Schicksal zu schmieden. Der Begriff „Schicksal“ changiert in seiner Bedeutung. Zum einen bezeichnet er widerfahrene Ereignisse, zum anderen das Handeln des Menschen, der diese Ereignisse hervorruft oder auf sie reagiert. Im Schicksalsbegriff amalgamieren die Hauptmomente des menschlichen Weltumgangs: Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Liebrucks verwendet den Begriff des „Schicksals“ wie andere für seine Philosophie entscheidende Begriffe hauptsächlich in der inhaltlichen Prägung durch Hegel: „Im Schicksal summieren sich alle Taten und alle Unterlassungen aller Menschen innerhalb einer Gesellschaft und kommen dieser Gesellschaft als Gegenstand entgegen.“ (SuB III, 224.)³⁸⁴ Das Schicksal ist einem u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o gleich ein Allgemeinbegriff weniger der Reflexion als vielmehr der Erfahrung. Darauf beruht seine Eigenheit: Die Durchschlagskraft unerwarteter Ereignisse potenziert sich durch deren dem denkenden Nachvollzug undurchdringliche Kausalität. „Schicksal“ ist der Begriff für die Summe derjenigen durch menschliche Handlungen hervorgerufenen Wirkungen, von denen der Mensch nicht auszumachen vermag, welche seiner Taten auf welche Weise oder zu welchem Zeitpunkt zurückschlagen. „Das Schicksal hat ein so ausgedehntes Gebiet, daß wir es als endliche Wesen nicht übersehen können, wir fassen es nicht in die Gestalt.“ (Ebd.) Insofern bleiben wir als endliche Wesen, denen eine solche Übersicht nicht zukommen kann, weil wir die Grenzen unseres Verstandes nicht zu überwinden vermögen, dem „Schicksal“ ausgeliefert. Das Schicksal lehrt uns die Unberechenbarkeit der Welt, die uns unsere technisch-praktischen Verstandesoperationen vorgaukeln wollen. Kann „Schicksal“ somit als Bezeichnung für die Unberechenbarkeit der menschlichen Handlungskonsequenzen aufgefaßt werden, ist klar bezeichnet, daß es weder Naturgewalt noch göttliche Intervention oder eine eigenständige metaphysische Größe, sondern ein Aspekt menschlichen Handelns ist. Der Begriff des Schicksals, wie Hegel ihn anführt und Liebrucks ihn aufnimmt,
384 Vgl. a. a.O., 111 f.: „Das Schicksal ist das objektive Entgegenkommen der Trennung, die ich verursacht habe und die sofort auf mich zurückschlägt. […] Im Schicksal, das mir, dem Bewußtseienden, als eine fremde Macht begegnet, hat sich die Trennung objektiviert, darin ist etwas geschehen, was mit meiner Tat identisch ist. Im Schicksal komme ich mir selbst entgegen. Die eigene Fremdheit, deren Ausmaße kein Mensch kennt, kommt mir als fremdes Schicksal entgegen.“ Liebrucks orientiert sich hierbei vornehmlich an den Theologischen Jugendschriften sowie der Phänomenologie des Geistes. Zu Liebrucks‘ Darlegung der von Hegel vorgenommenen Differenzierung zwischen Schicksal und Strafe vgl. a. a.O., 197 ff.
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spricht dem Menschen folgerichtig Schuld zu. Unter „Schuld“ verstehe ich hier eine (zumindest anteilige) Eigenverantwortlichkeit für gewisse Taten und Ereignisse. Schuldig ist der Mensch demgemäß in jeder seiner Entscheidungen und Handlungen, Schuldiger ist er als Verursacher und Mitwirkender³⁸⁵. Offenkundig wird der Schicksalsbegriff weder bei Hegel noch bei Liebrucks zu dem Zweck verwendet, den Menschen von Eigenverantwortlichkeit freizusprechen, im Gegenteil scheint er die Verwirklichung menschlicher Freiheit zu erläutern. Bezeichnet der Ausdruck „Schicksal“ die unberechenbaren Tatfolgen der Menschen, ist der Verursacher von erfahrenem Leiden der Mensch; auch insofern ist er schuldig. „Der ungeheuerliche Satz, der von jedem Leiden sagt, daß es Schuld sei, erklärt nicht jedweden Zusammenhang als vom Menschen durchschaubar. Wir leiden nicht nur für die eigene Schuld, sondern auch für die Schuld anderer. Außerdem kennt niemand das Ausmaß der eigenen Schuld.“ (SuB III, 225.) So erkennt der Mensch im „Schicksal“ gleichermaßen eine Demonstration menschlicher Freiheit als auch deren Begrenztheit; beide Momente sind stets zusammenzuschauen. Das „Schicksal“ begegnet in der Geschichte des Bewußtseins ebenso als Gestalt wie als Begriff. Beide Formen sind Äußerung eines Bewußtseins, das zur Erkenntnis der eigenen Sprachlichkeit vorgedrungen ist. „Schicksal [..] gibt es nur dort, wo es Taten gibt. Schicksal gibt es nur dort, wo diese Taten sprachlich begriffen sind.“ (A. a.O., 224.) Das sprachliche Begreifen steht für die Einsicht der Dialektik des menschlichen Weltumgangs. Es gibt weder eine reine Innerlichkeit noch eine reine Äußerlichkeit. Immer schon steht der Mensch im Wechselspiel von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Je nachdem, auf welcher Entwicklungsstufe das Bewußtsein angekommen ist, wird es diese Einsicht als das Entgegenkommen einer Gestalt oder als logisch reflektierten Begriff erfassen. Es beschreibt in jedem Fall sich selbst. Eine Überlegung Løgstrups scheint mir diesbezüglich eine treffende Zusammenfassung zu bieten: „Beim Schicksal handelt es sich nicht um Verdientes und Unverdientes. Sein Schicksal nimmt der Mensch auf sich, nicht
385 „Schuld“ im sittlichen Sinne laden wir auf uns, wenn wir mit Menschen und Dingen untersprachlich umgehen, d. h. in unseren Handlungen nicht die ihren Ermöglichungsgrund bildende Gegenwart des Absoluten zum Ausdruck bringen, das ebenso die Wahrheit und Freiheit all derer Subjekte ist, an denen wir handeln. Wo untersprachlich gehandelt wird, wird das Andere nicht mehr als Entsprechung des eigenen Selbst im Geist anerkannt. Die Subjekt-SubjektObjekt-Beziehung, in welcher die Subjekte als Momente des Absoluten in der Welt stehen, depraviert zu nihilistisch-utilitaristischer Handlungsgewalt, in der sich das Subjekt einer Welt von Objekten gegenüber und überlegen sieht. (Vgl. Sinnfrage, 299.)
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weil er es verdient hat, sondern weil er damit sein unverwechselbares Selbst verwirklicht.“³⁸⁶
III. Wenn das Bewußtsein seine Balance verliert – Unschuld und Marionettenmetapher bei Liebrucks und Kleist In einer Untersuchung, die sich das Bild der Marionette zum materialen wie formalen Leitfaden wählt, darf ein Hinweis auf Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater ³⁸⁷ nicht fehlen. Er sei in diesem Kapitel erwähnt, da Kleist in seinem kurzen, ein wenig nebulös anmutenden Schriftstück die Marionette zum Sinnbild der Unschuld stilisiert. In den Berliner Abendblättern vom 12. und 15. Dezember 1810 beschreibt Kleist eine wohl fiktive Unterhaltung mit einem „Herrn C.“, der eine Anstellung als Ballettänzer an der Oper innehat. C. weist den Erzähler des Aufsatzes auf den Vorzug einer Marionette im Gegenüber zu menschlichen Tänzern hin. Dieser Vorzug bestehe genau genommen in einem Mangel: Die Marionette entbehre jeglicher „Ziererei“, was ihre Bewegungen letztlich makelloser erscheinen ließe als die Künste der sich angestrengt gebärdenden menschlichen Tänzer. Ziererei wird hier als Gegenstück zur Unschuld behandelt und steht für das Überlegen, das den Menschen bei seinem Handeln begleitet.³⁸⁸ Diesem ist die Leichtigkeit der Unvoreingenommenheit, des unbekümmerten Sich-treiben-Lassens abhanden gekommen.³⁸⁹ Die Marionette fungiert hier als Gleichnis des (sich) noch nicht reflektierenden, in diesem Sinne unschuldigen Menschen, wie er in der Genesis-Erzählung als der noch sündenlose Adam vorgestellt wird. Die Ziererei erweist sich als Unausgeglichenheit: Der Geist des sich geziert Gebenden ist nicht „bei der Sache“. Das Geziere steht somit für das Bewußtsein der Mittelbarkeit, während die Unschuld ein unmittelbares In-derWelt-Sein bedeutet. In dieser Auffassung kreuzt sich Kleists Verständnis der Un-
386 Løgstrup, Knud E., Norm und Spontaneität. Ethik und Politik zwischen Technokratie und Dilettantokratie, Tübingen 1989, 144. 387 Kleist, Heinrich von, Über das Marionettentheater (1810), in: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3, hg.v. Streller, Siegfried u. a., Berlin/Weimar 1978, 473 – 480. 388 Den Gedanken der durch Überlegung gestörten Balance eines Bewegungsablaufes verfolgt Kleist auch in anderen Schriften: „Jede erste Bewegung, alles Unwillkürliche, ist schön; und schief und verschroben alles, sobald es sich selbst begreift. O der Verstand! Der unglückselige Verstand!“ (Brief an Rühle von Lilienstern am 31. August 1806, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, hg.v. Sembdner, Helmut, 9. verm. u. rev. Aufl., München 1993, 769.) Vgl. ders., Von der Überlegung. Eine Paradoxe, in: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3, hg. von Streller, Siegfried u. a., Berlin/Weimar 1978, 471– 472. 389 Vgl. Kleist, Marionettentheater, 476.
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schuld und des Falls aus ihr in den Stand der Sünde mit den Ausführungen zu diesen Motiven, wie sie sich bei Liebrucks finden. Bei Kleist steht wie bei Liebrucks die Marionette nicht als Allegorie des rein Mechanischen, Seelenlosen. Im Gegenteil wird bei Kleist die Marionette als beseelt dargestellt, wenn er darin auch die Präsenz ihres Spielers in ihrem Tanze sieht. Der Spieler tanzt gleichsam in seiner Puppe. Liegt hier ein Anknüpfungspunkt für die im zentralen Kapitel dieser Untersuchung aufgestellte These vor, das Absolute verwirkliche sich in den konkreten Individuen?³⁹⁰ Allerdings ist bei Kleist die Marionette zwar nicht seelenlos, aber doch bewußtlos. Sucht man den Vergleich mit Liebrucks, eröffnet sich zunächst eine Parallele in der Auffassung, die Unschuld der Marionette bestehe darin, daß ihr kein Selbstbewußtsein aufgegangen sei. Die Stärke in Liebrucks’ Verwendung der Marionettenmetapher liegt dann aber in dem Bruch des Bildes begründet, indem er die Bedingung der Möglichkeit zur Ausbildung eines Bewußtseins im Marionettendasein verankert. Die Marionette,von der Liebrucks spricht, kann ihre Unschuld durchaus einbüßen.Was sich bei Kleist andeutet – die Präsenz des Spielers in der Puppe – wird bei Liebrucks bewußtseinslogisch entfaltet in die Vermählung der antiken Auffassung des Menschen als ζωον λογον ɛχον und der christlichen Logos-Verkündigung. Das Selbstbewußtsein des Menschen ist bei sich angelangt, wenn es sich zugleich als frei und als Marionette Gottes, mehr noch: sich als Marionette des (christlichen) Gottes als frei begreift. Liebrucks verwendet das Bild der Marionette im Unterschied zu Kleist nicht dazu, sie als bewußtseinslose Puppe dem reflektierenden menschlichen Subjekt zu kontrastieren; vielmehr charakterisiert er den Menschen als Marionette. Darum kann er von einem Bewußtsein der Marionette sprechen. Das Bild der bewegten und sich bewegenden Puppe kann ihm somit dazu dienen, die beiden fundamentalen Elemente des Menschseins – das Geistige und das Sinnlich-Materielle – in bezug auf die vom Subjekt zu leistende Aufgabe der Synthese beider vorzuführen. Ebenso wie Kleist betont Liebrucks dabei, daß sein Bewußtsein den Menschen aus dem Gleichgewicht bringt: Bewußtheit bedeutet Anstrengung, (Selbst‐)Beherrschung. Der Harmonie der sich an die Situation hingebenden Unschuld steht der „Schwindel der Freiheit“ (Kierkegaard), das Schwanken des sich ergreifenden Geistes entgegen, der sich durchaus verfehlen kann. Nur da „kann der Geist nicht irren, [..] wo keiner vorhanden ist“, weiß auch Kleist.³⁹¹ Der sich bewußte Mensch will und muß sich kontrollieren, d. h. aber entscheiden, was er tut. Im Entscheiden lädt der Mensch Schuld auf sich in dem
390 Kleist läßt Herrn C. sagen, daß nur ein Gott der ungezierten Ausgeglichenheit der Marionette vergleichbar agieren könne. (Vgl. a. a.O., 477.) 391 A. a.O., 476.
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Sinne, daß er bestimmte Dinge oder Abläufe wählt, andere vernachlässigt. Seine Entscheidungen bringen Ungleichgewichte mit sich. Er ruht nicht mehr in sich und der Welt wie der träumend Unschuldige es tut, der von Kleist mit dem Bild des harmonischen Tanzes der Marionette bedacht wird. Kleist läßt seinen Dialogpartner „Herrn C.“ mahnen, man müsse das erste Buch Mose mit Aufmerksamkeit lesen. Denn „wer diese erste Periode aller menschlichen Bildung nicht kennt, mit dem könne man nicht füglich über die folgenden, um wie viel weniger über die letzte, sprechen.“³⁹² Dieses letzte Kapitel der Geschichte menschlicher Bildung soll – davon träumt die Romantik und mit ihr Kleist – die Rückkehr zur Unschuld sein. Kleists Essay bleibt genregemäß zu aphoristisch (dies zumindest hat Liebrucks an vielen Stellen seiner Arbeit mit Kleist gemein), als geklärt werden könnte, wie sich dieses letzte Kapitel im Buch von der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins lesen würde. Ob Kleist bei seiner Rede vom Paradies eine religiöse Erlösungsvorstellung vor Augen hat, kann nicht mit Gewißheit gesagt werden. Hinsichtlich der Rückkehr zur Unschuld finden sich allenfalls Anhaltspunkte, die indes differente Varianten andeuten: Einerseits scheint der Erzähler der Überzeugung zu sein, daß sich die Unschuld nicht wiedergewinnen lasse.³⁹³ Das könnte derart verstanden werden, daß sich unter eine einmal erreichte Bewußtseinsstufe nicht zurückgehen lasse. Die Wächter stehen vor der Pforte des Paradieses und verwehren dem Gefallenen den Zutritt. Wolle er die Unverfälschtheit seiner selbst wiedererlangen, müsse er sich einen neuen Zugang suchen, sinniert „Herr C.“. Denn „das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“³⁹⁴ Andererseits taucht im weiteren Verlauf der literarischen Szene die Anspielung auf ein Wiedererlangen der Unschuld auf, als der Erzähler erneut den Gedanken an eine Rückkehr ins Paradies aufgreift: „Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“³⁹⁵ Ist damit beschlossen, daß die Befreiung des Menschen zu sich selbst, für die das Ablegen der Ziererei stehen kann, einer Absage an die bewußte Selbstbehauptung gleichkommt? Erneut soll vom Baum der Erkenntnis gegessen werden. Wie das in
392 A. a.O., 477. 393 „Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden.“ (Ebd.) 394 A. a.O., 476. 395 A. a.O., 480.
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dieser Aussage durchscheinende Motiv der Negation zu denken ist, könnte nur spekuliert werden. Von einem „Durchgang durch das Unendliche“ ist die Rede, welchen die Erkenntnis zu leisten habe.³⁹⁶ Es liegt nahe, hinter dieser Wendung die Sehnsucht der Romantik nach einem Unendlichen zu sehen, das Hegel als das „schlechte Unendliche“, eine einfache Negation des Endlichen, verwirft. In diesem Sinne verstanden wäre der „Durchgang durch das Unendliche“ nichts weiter als eine Regression in die Unbedarftheit des nicht zur (Selbst‐)Reflexion durchdringenden Bewußtseins. Dies klingt, als dürfe der Mensch nicht Mensch sein, wenn von Vollkommenheit die Rede ist. Ob diese letztgenannte Annahme in Kleists Sinne ist, und ob Kleist mit Hegel gelesen recht verstanden ist, lasse ich offen. Kleist selbst klärt nicht, wie die Umkehrung des Verlustes der Unschuld bewußtseinstheoretisch zu verstehen ist. Das ist bei der Kompaktheit des Aufsatzes auch nicht zu erwarten. Die in Kleists Schrift niedergelegten Aphorismen zur Unschuld der Marionette sind daher beachtenswert, aber keinesfalls überzubewerten. Zudem ist zu bedenken, daß der Essay wohl vor allem eine Kritik an der zeitgenössischen Ästhetik der darstellenden Künste formuliert, nicht aber eine Bewußtseinslogik. Daher sei die hier aufgeworfene Frage, ob die verlorene Unschuld des Bewußtseins zurückzugewinnen sei, aufgenommen und an Liebrucks gestellt.
IV. Rückkehr zur Unschuld? Das Paradies ist ein Symbol für die Stillung menschlicher Sehnsucht: Als solches hat es sich auch im säkularisierten Sprachgebrauch erhalten. Der Verlust der Unschuld, so wird es ebenfalls bei Kleist deutlich,weckt die Sehnsucht danach, sie zurückzugewinnen: die Sehnsucht nach Vollkommenheit. Seine Entschiedenheit läßt den Menschen Möglichkeiten wählen und andere notwendigerweise vernachlässigen. Im Status der Entscheidung kann es Vollkommenheit nicht geben. Aber gibt es eine Rückkehr zur Unschuld? Liebrucks’ Antwort lautet zunächst: „Man sagt leicht, man könne zur Unschuld nicht zurückkehren. Aber schon die Unschuld war Interpretation.“ (Gedanke, 152.) „Unschuld“ ist eine Metapher.³⁹⁷ Was Unschuld ist, darum weiß der Unschuldige nicht. Erst von der Warte der Schuld aus kann der vom Schuldigen überwundene Status des Bewußtseins als „Unschuld“ betitelt werden. Unschuld ist demnach immer schon eine Deutung. Im 396 Ebd. 397 Zur Unschuld als in den Gedichten Hölderlins begegnenden Gestalt einer Verkündigung der Gegenwart des „Himmlischen“ vgl. Liebrucks‘ Aufsatz Mythos und Freiheit bei Friedrich Hölderlin.
A. Unschuld
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Hinblick auf die Möglichkeit der Wiedergewinnung von Unschuld ist ausschlaggebend, als was sie gedeutet wird. „Die Unschuld, die nicht wiedergewonnen werden kann, ist niemals Unschuld gewesen, sondern war immer schon als Ding an sich betrachtet.“ (SuB VII, 691.) Geht man von Kants Definition des Dings an sich aus, die Liebrucks zweifelsohne zugrundelegt, ist die Unschuld ein der Erkenntnis Verborgenes, vom denkenden und erfahrenden Subjekt unabhängiges Seiendes.Wer Unschuld in dieser Weise (miß)versteht, für den ist ein „Rückgang in ein adamitisches Bewußtsein verwehrt“ und die Unschuld für immer verloren. (Gedanke, 154; vgl. 155.) Für Liebrucks dagegen steht fest, daß es Unschuld niemals jenseits des Menschen geben kann. Soll Versöhnung möglich sein, muß Unschuld ein Moment des Menschseins sein, unverlierbar und daher in der Versöhnung gemeinsam mit der Schuld aufzuheben. Unschuld ist ein Moment des Bewußtseins, das wie die Schuld den Weltumgang des Menschen unablässig konstituiert. Im Mythos wird als punktuelles Ereignis geschildert, was im menschlichen Leben ein wiederkehrender Vorgang ist. So verstanden ist der Sündenfall auch kein Zufall. Er beschreibt die sich stetig vollziehende Entwicklung des Geistes. Ebensowenig wie eine dem Bewußtsein transzendente Größe ist Unschuld also ein Zustand, der chronologisch in der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins abzugrenzen wäre. Demgemäß darf nicht erwartet werden, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt ein solcher Zustand wiedererlangt werden könnte. Liebrucks spricht sich gegen eine entsprechende eschatologische Hoffnung aus, welche auf eine zukünftige, als Rückkehr zur Unschuld begriffene Versöhnung wartet. „Das eschatologische Schielen auf die Zukunft [..] hat das Gericht verdorben, bevor es angerichtet wurde.“ (SuB III, 493.) Liebrucks’ Faible für Wortspielereien wird hier markant in seinem Umgang mit dem Wort „Gericht“, das man im unmittelbaren Textumfeld, in dem Begriffe wie „prophetisch“ und „eschatologisch“ fallen, wohl mit der jüdisch-christlichen Vorstellung vom „Jüngsten Gericht“ assoziieren muß – und sicher auch soll, damit Liebrucks’ Wortwitz um so besser wirkt, welcher den Ausdruck „Gericht“ in dessen gastronomischer Bedeutung „serviert“. Daß man an den juristischen Terminus denken soll, ist unbestreitbar. Doch auf das Verderben der Speise des Lebens, der Erkenntnis des Logos, der uns mit Freiheit und Unendlichkeit nährt, ist m. E. ebenso angespielt. Auf beiden Bedeutungsebenen ist das Gericht verdorben, wenn die Versöhnung als ein gleichsam von außen an den Menschen herangetragenes Ereignis an einem dubiosen Ende der Zeiten erwartet wird.Versöhnung ist nicht das, was erst noch geschehen muß, sondern das, was ausgesprochen werden muß.³⁹⁸
398 Vgl. das Kapitel Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks.
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Das Gericht ist ebenso verdorben, wenn nicht geklärt ist, worauf sich die erhoffte Versöhnung bezieht: einzelne Taten (oder Tatsünden) oder das gesamte Menschsein in seinem Widerspruch, der den Status des Gefallenen kennzeichnet. Bezieht sich die Hoffnung auf ersteres, so ist weniger an Versöhnung als an Vergeltung gedacht. Die Vorstellung des Vergoltenwerdens aber gehört in den Bereich des technisch-praktischen Weltumgangs, zu dem auch moralische Wertsysteme zählen. Bestimmte Taten zielen auf eine ihnen gemäße Belohnung oder Strafe; Rechtsordnungen helfen aus, wo diese vorausgesetzte Kausalität nicht direkt funktioniert. Diese Vergeltungsvorstellung bleibt auf der Stufe der ersten Reflexion, einem gesetzten Tun-Ergehen-Zusammenhang, der seine Wirksamkeit darin besitzt, Widersprüche in der Tatfolge auszuschließen.³⁹⁹ Dieser Ausschluß von Widersprüchen vollzieht sich genau genommen aber als deren Vertiefung:Was „gut“ ist, darf nicht plötzlich „böse“ sein, der „Schuldige“ nicht zugleich „unschuldig“. Menschliche Gesetze vermögen wertmäßige Trennungen nicht aufzulösen, sondern allein zu vertiefen. Als Errungenschaft der ersten Reflexion bauen die Ordnungen von Moral und Recht auf der Eindeutigkeit ihrer Zuordnungen auf. Sie bleiben der Entschiedenheit treu und sind darin selbst Geschöpfe der Schuld, zumal sie sich über individuelle Eigenheiten hinwegsetzen müssen: Sie können fehlgehen oder sich in unbeirrter Befolgung in ihr Gegenteil verkehren. Liebrucks faßt dagegen „Versöhnung“ in Anschluß an Hegel als spekulative Struktur der zweiten Reflexion. Der Ausdruck „Versöhnung“ bzw. „Verzeihung“, wie er von Hegel geprägt und ebenso bei Liebrucks verwendet wird, benennt folglich die logische Struktur der Aufhebung der Widersprüche.⁴⁰⁰ Versöhnung bezieht sich demnach nicht auf einzelne Tatsünden, sondern die Sünde als Struktur menschlichen In-der-Welt-Seins. „Diese Sünde ist nicht eine aufzählbare Anzahl von Verfehlungen, sondern unsere Struktur, die Struktur unseres Organismus wie unseres Geistes, die der Selbsterhaltung dienen. Aus dieser Struktur gelangen wir als sterbliche Menschen so wenig heraus wie die Tiere.“ (SuB VII, 459.) Versöhnung ist folglich weder Ausgleich noch Genugtuung einzelner Taten, noch ist sie Be-
399 Biblisch wird die Differenz von Versöhnung und Vergeltung in eindrücklichster Weise wohl in der lukanischen Episode vom verlorenen Sohn reflektiert. (Vgl. Lk 15, 11 ff.) Man könnte den älteren Bruder als Repräsentanten einer formallogisch aufgebauten Rechtsvorstellung einstufen, während sein Vater die Rückkehr des Verlorenen aus der Entfremdung höher belohnt als die Treue seines Ältesten: Erst der verlorene Sohn hat erkannt, was sein Eigen ist, sein Bruder muß sich dies von seinem Vater vorsagen lassen. 400 Hegel belegt den Begriff der „Versöhnung“ mit einer Doppelbedeutung: Neben der Einführung des Begriffs als spekulatives Strukturmoment behandelt er „Versöhnung“ im Rahmen praktisch-philosophischer Erläuterungen ebenso in ihrer politischen Bedeutung. Im vorliegenden Kontext ist diese zweite Bedeutungsebene jedoch nicht von vorrangigem Interesse und kann daher vernachlässigt werden.
A. Unschuld
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seitigung der Sünde: Als Strukturmoment des Bewußtseins ist diese nicht zu tilgen, sie gehört zur Verwirklichung menschlicher Freiheit. Das wußte auch Luther, als er den gerechtfertigten Menschen als s i m u l i u s t u s e t p e c c a t o r beschrieb. Der sich in der Welt behaupten müssende Mensch kann nicht anders, als Sünder zu sein. Ist Versöhnung, Verzeihung aber nicht der Ausschluß von Sünde, so ist sie „als höchste dialektische Kategorie unmittelbar das Gegenteil ihrer selbst.“ (SuB III, 229.) Verzeihung ist Aufhebung eines Widerspruchs, der in ihr keiner mehr ist. Als diese Aufhebung der Widersprüche ist sie „die enge Pforte zum Paradies.“ (A. a.O., 230.) Der versöhnte Mensch ist ebensowenig wieder wie „vor dem Fall“, wie er ein anderer geworden ist. In Unschuld und Sünde ist der Mensch derselbe. Der Sündenfall ist eine Statusveränderung des Bewußtseins: Der Mensch geht aus dem Status der Unschuld über in den Status der Sünde. Sowohl als Unschuldiger als auch als Sünder ist er der von Gott Geliebte. „Der Geist der Liebe hat die Unterscheidung von Schicksal und Gesetz ermöglicht.“ (A. a.O., 233.) In dieser Liebe Gottes sind Unschuld und Schuld des Menschen aufgehoben, in der Liebe des Vaters kann das menschliche Herz seine Unschuld wiedererlangen. „Das auszusprechen ist deshalb nicht Hybris unsererseits, weil man sich ein unschuldiges Herz nicht anschaffen kann wie Kleider, Häuser, Möbel und wesentliche Kenntnisse. Nur im Raum der Sittlichkeit der Unschuld oder wiedergewonnener Unschuld, nachdem unsere Hände von Freveln gereinigt sind, ist Erkenntnis möglich. Diese zweite Reflexion kehrt logisch zum Sein zurück.“ (SuB VII, 691.) Der Sündenfall beschreibt metaphorisch das Eintreten des Bewußtseins in die erste Reflexion. Adams Erkenntnis, nackt zu sein, seine Scham und der Versuch, sich vor Gott zu verstecken, versinnbildlichen das Aufgehen des Bewußtseins, einer bewußtseinsjenseitigen Außenwelt gegenüberzustehen. So „hat der Mensch die Vertreibung aus dem Paradies selbst vorgenommen, als Adam glaubte, er könne sich vor Gott verbergen, indem er seinen Ruf nicht zu vernehmen vorgab. In diesem Adam ist das Bewußtsein in sich gegangen.“ (SuB V, 284.) Das Erwachen aus dem Traum der Unschuld ist die Absonderung des Denkens von dessen Inhalt. Ich und Nicht-Ich, Denken und Sein zeigen sich als Kontrast, der in der Reflexion des Subjekts als logische Struktur von Positivität und Negation gespiegelt wird. Im Bild der Vertreibung aus dem Paradies wird die duale Struktur dieser Reflexion manifestiert, die insofern erste Reflexion zu nennen ist, als sie einfach ist. Erst eine Reflexion auf die Reflexion vermag eine theoretische Einheit des Bewußtseins als Selbstbewußtsein zu eröffnen, in welcher die erste Negation in einer Reflexion eingeholt wird, die sowohl das Reflektieren auf ein Objekt, als auch die Reflexion des Objekts im Subjekt vollzieht. Während die erste Reflexion sich auf das Sein bezieht, richtet sich die zweite auf die Einheit von Sein und Denken. Aus dieser Einheit ist das Bewußtsein einst in die erste Negation resp. Reflexion gefallen, in der zweiten gelangt es zu ihr zurück. Doch während die ursprüngliche Einheit von
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Sein und Denken der unreflektierte „Traum“ der Unschuld war, geschieht die Rückkehr zur Unschuld in der höchsten Reflexionsleistung, die das Bewußtsein zu erbringen vermag: im Denken der Identität von Identität und Nicht-Identität. Durch den Fall in die dualistische Logik der ersten Reflexion bewegt sich das Denken im logischen Raum der Endlichkeit, in welchem Abgrenzungen die Identitäten bestimmen. Das endliche Leben ist das Leben im Widerspruch. Die zweite Reflexion schwingt sich auf zum Absoluten, indem sie den formallogischen Dualismus der ersten Reflexion thematisiert. Damit ist sie über deren Struktur hinaus, hinaus auch über die Endlichkeit dieser Struktur. „Daß wir sterben müssen, zeigt uns als Mitglieder der Welt der Positivität. Unsterblichkeit ist uns nur in dem geringen Maß gewährt, in dem wir im Bewußtsein den Mehltau der Welt der Positivität beseitigen und zur Erkenntnis der Aura der Welt gelangen, in der Erkenntnisverhältnisse herrschen, die denen der Welt der Positivität entgegengesetzt sind. Bevor der Mensch aus der Welt nicht das verlorene Paradies macht, das sie immer war, kann er nicht zur Erkenntnis davon gelangen, daß die Erstellung der Welt der Positivität nicht Erkenntnis ist.“ (SuB IV, 592.) In der zweiten Reflexion als dem neu errungenen Stand der Unschuld „sind wir unsterblich.“ (SuB VII, 691.) Dies ist kein religiöser Bekenntnissatz und ebensowenig eine Aussage über ein objektiv bestehendes ewiges Leben, in das ein Subjekt eintreten kann. Unsterblichkeit ist dem Menschen eigen in der Unendlichkeit seines endlichen Seins. „Unsterblich sind wir als die Sterblichen, die wir sind.“ (SuB VII, 691.) Die Auferstehung zum ewigen Leben setzt den Tod immer voraus, wie die Vollkommenheit sich nur an der Entzweiung begreift. Der Mensch „hat vom Baume der Erkenntnis gegessen. Gott vertreibt ihn aus dem Paradies, nicht weil er den Weg des Wissens eingeschlagen hat, sondern damit er nicht zugleich vom Baum des Lebens esse. Erst von Christus ist uns gesagt, daß wir vollkommen sein sollen, wie unser Vater im Himmel vollkommen ist, d. h. aber nichts anderes, als daß wir auch vom Baum des Lebens essen sollen.“ (SuB III, 213 f.) Diese mythische Unterscheidung der „Bäume“ kann logisch überführt werden in die Differenzierung zwischen der ersten Negation (Baum der Erkenntnis) und der zweiten (Baum des Lebens). Die zweite Reflexion setzt die erste voraus. Darum muß dem Menschen – mythisch gesprochen – die Frucht des Baumes des Lebens zunächst verboten werden. Liebrucks pointiert die biblische Erzählung vor dem Hintergrund des hegelschen Bewußtseinsverständnisses dahingehend, daß der Mensch ebenfalls von der Frucht des Baums des Lebens essen soll und begründet dies mit einem Jesuslogion aus dem Matthäusevangelium: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Mt 5, 48.) Die Annahme seiner Gottesebenbildlichkeit ist vom Menschen gefordert. Sie kann aber nur über die Annahme des Menschseins geleistet werden. Dies geschieht in der zweiten Reflexion. Der positive Charakter der Welt kommt in der ersten Reflexion zu Be-
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wußtsein, indem das Subjekt sich die Welt, die Natur zum Objekt setzt. Die Reflexion der Reflexion betrachtet Mensch und Welt nicht länger nur als Subjekt und Objekt, sie betrachtet auch das die Welt in dieser Gegenüberstellung betrachtende Subjekt. Die zweite Reflexion, wie Hegel sie definiert, entspricht somit bei Liebrucks der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, als welche er die Sprache begreift. Die Annahme der Gottesebenbildlichkeit (das kann hier mit einem Verweis auf das nachfolgende Kapitel vorweggenommen werden) erfolgt in der Erkenntnis der Sprachlichkeit des eigenen Weltumgangs. In diesem sind, wie es auch von der zweiten Reflexion gesagt ist, Identität und Nicht-Identität, Sein und Denken vereint. Sprachphilosophisch ausgedrückt, besteht also die Rückkehr zur Unschuld, die Versöhnung darin, daß von der Natur zu erkennen ist: „Sie war sprachlich vom ersten Tage an und muß wieder in die Sprache hereingeholt werden, damit Natur nicht als Werk des Menschen, sondern als Werk Gottes erscheint, das immer herrlich ist wie am ersten Tag, und damit die Weltgeschichte als die Geschichte des Menschen erfahren wird.“ (SuB III, 230.) Durch den Menschen verwirklicht sich der Geist, aber dieser ist immer schon der Grund alles Schaffens der Menschen. „Als Äste am Baume des Lebens sind sie der ganze Baum.“ (A. a.O., 205.)
B. Vertiefung: Der Sündenfall als Aufbruch des Bewußtseins zum Anundfürsichsein Liebrucks befürchtet, daß „mancher Leser in dem Augenblick, in dem er Geschichten von Adam im Paradiese gehört hat, an die philosophische Relevanz unserer Überlegungen keinen Gedanken mehr verschwendet.“ (SuB I, 342.) Daher sei den vorangegangenen Ausführungen ein philosophisches Ritardando angeschlossen, um die bewußtseinstheoretische Ergründung der Reflexionsbewegung, die Liebrucks in Genesis 3 umschrieben sieht, anhand intensiverer Bezugnahme zu Hegel auszubauen.⁴⁰¹
401 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Werke in 20 Bänden, hg.v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Band 11: Berliner Schriften 1818 – 1831, Frankfurt a. M. 1986, 239 ff. – Zur Beschäftigung Hegels mit Genesis 3 vgl. Ringleben, Hegels Theorie der Sünde. Zu den biblischen Motiven in Hegels Philosophie vgl. ders., Hegels neue Philosophie des Lebens – von der Bibel aus, in: ders., Arbeit am Gottesbegriff. Bd. II: Klassiker der Neuzeit, Tübingen 2005, 173 – 191. Desgleichen Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels.
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I. Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst. Ansichsein und Fürsichsein Liebrucks interpretiert den Sündenfallmythos als vorphilosophisches Bild für den Eintritt des Menschen aus der bloßen Einbettung in naturgegebene Zusammenhänge in die erste Reflexion: Die biblische Erzählung rekapituliert die notwendige Selbstverantwortlichkeit des Menschen in der ihn zum Überlebenskampf herausfordernden Welt.⁴⁰² Sich die Erde untertan machen zu sollen und dies zu vermögen, setzt voraus, Ordnungen, Maßstäbe und Regeln aufstellen zu können. Diese Fähigkeit wird dem Menschen in Genesis 3 attestiert. Die Aufklärung beurteilte die Paradiesszene daher nicht als Fall der Menschheit, sondern als deren Aufstieg im Sinne einer Emanzipation, in welcher unter Führung der Vernunft das animalische Dasein überwunden wird.⁴⁰³ Der Sündenfall steht folglich nicht für körperliche Verführung, auch wenn sich vor allem dieses Motiv in Kunst und Volksglauben in den Vordergrund drängte. Versucht wird der Mensch nicht sexuell, sondern in bezug auf die Geistigkeit seines Personseins – Objekt der Begierde ist die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Der Mensch ist versucht zur Eigenverantwortlichkeit, die in der Freiheit besteht, unterscheiden und entscheiden zu können. Der Sündenfall ist somit ein Symbol für den Übergang vom Ansichsein zum Fürsichsein: Das Bewußtsein konstituiert sich als Urteilssubjekt.⁴⁰⁴ Im Paradies fehlt es dem Menschen an nichts. Doch das Paradies ist nur ein begrenzter Bereich.⁴⁰⁵ In der paradiesischen Verträumtheit des Ansichseins⁴⁰⁶
402 Rainer Albertz hat herausgearbeitet, daß es sich bei den Konsequenzen, die sich für den Menschen mit dem Sündenfall ergeben, in der altisraelischen Welt durchaus um angesehene Gegebenheiten handelt: „Sachlich geht es um die ‚ganz normale‘ Befähigung des Menschen mit Weisheit und damit zur eigenen mündigen Lebensführung, nicht um irgendeine Form von Hybris, mit der der Mensch sich an die Stelle Gottes hätte setzen wollen.“ (Albertz, Rainer, „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 3,5), in: Crüsemann, Frank/Hardmeier, Christof/Kessler, Rainer (Hgg.), Was ist der Mensch…? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments (FS H. W. Wolff), München 1992, 11– 27, 21.) Abweichend von dieser sachlichen Deutung spricht die theologische durchaus einen Hybrisvorwurf aus. Dieser wird noch Gegenstand des vorliegenden Kapitels sein. 403 Vgl. u. a. Kant, Immanuel: Muthmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, in: Kants gesammelte Schriften, I. Abt./Bd. VIII: Schriften nach 1781, hg.v. der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig 1923, 109 – 123, 109 f. 404 „Im Mythos vom Sündenfall, in dem Gott dem Menschen verbietet, vom Baum der Erkenntnis zu essen, sieht Hegel das Fürsichsein des Geistes in der Natur ausgedrückt.“ (SuB III, 116.) 405 Vgl. Jeremias, Joachim, Art. παραδɛισος, ThWNT V, Stuttgart 1966 [= 1954], 763 – 771. Der griechische Ausdruck ist ein Lehnwort aus dem Altiranischen und bezeichnet ursprünglich „eine Umwallung, dann den von einem Wall umgebenen Park“. (A. a.O., 763.) Erst das Judenchristentum hob diesen zunächst profanen Begriff auf die Ebene religiöser Bedeutung in der Rede vom „Garten Gottes“.
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kann der Mensch sich weder selbst entsprechen noch verfehlen. Das Ansichsein ist noch nicht in die dialektische Entzweiung hinausgetreten und insofern identitätslos, wenn Identität mit Hegel als Einheit von dialektischer Entzweiung in Identität und Nicht-Identität bestimmt wird. Der paradiesische Status des Ansichseins ist der Status der Unmittelbarkeit. Seine Unterschiedenheit von anderem sieht das ansichseiende Bewußtsein nicht, da es sich selbst nicht als relationales begreift. „Im paradiesischen Zustande bezieht der Mensch noch nicht die Dinge auf sein Ich.“ (SuB I, 321.) Ein ansichseiendes Bewußtsein ist nur erkennbar für den es Betrachtenden, nicht für es selbst. Seine Identitätslosigkeit ist daher gleichbedeutend mit Unfreiheit. Freiheit zur Selbstentsprechung oder Selbstverfehlung setzt voraus, daß der Mensch einen Begriff seiner selbst hat, der er werden kann. Bewußtsein ist erst, sofern sich solches aussprechen kann. So betrachtet ist Ansichsein analphabetisch im Sinne von vor- oder untersprachlich. Aussprechen kann es sich als Subjekt in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, die Liebrucks auch den Weltumgang nennt. In diesen tritt der Mensch ein im „Fall“ in das Fürsichsein. (Vgl. SuB III, 29.) Der Genuß der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis eröffnet Selbsterkenntnis. Es wird Adam und Eva plötzlich klar, daß sie nackt sind. Ihre mit dieser Erkenntnis ausgelöste Empfindung von Scham kann erst aus dem Wissen um ein Gegenstück zur Nacktheit resultieren. Die Erfahrung einer Diskrepanz verweist auf die eigentliche Einheit des voneinander Abweichenden. Der Bewußtseinsstatus des Falls als Status der Selbstabgrenzung ist demnach der erste Schritt auf dem Weg zurück ins Paradies des sympathetischen Weltumgangs. Diese Rückkehr besteht im Durchbruch des Bewußtseins zu sich selbst als Selbstbeziehung in Fremdbeziehungen, d. h. als eine die Gesamtheit ihrer Unterschiede in sich enthaltende Identität. Eine so verstandene Identität, die sämtliche ihrer Widersprüche in sich aufzuheben vermag, ist in ihrer Selbstentsprechung als bewußter Begriff ihrer selbst ebenso wahr wie frei. Freiheit ist demzufolge als im Bewußtsein angelegte Möglichkeit beschrieben, deren Verwirklichung in der perpetuierenden Erzeugung des eigenen Gegensatzes erfolgt, dessen Überwindung die Freiheit zu sich selbst führt. Ausgehend vom „An-sich“ vollendet sich das freie Bewußtsein zum An-und-für-sich. Es ist Träger aller seiner
406 Ansichsein bedeutet bei Kant etwas anderes als bei Hegel, dessen Bestimmung des Terminus im folgenden zugrundegelegt wird. Bei Kant ist das Ansichsein ein Grenzbegriff für den Bereich der Erscheinungen; alles was jenseits dieses Bereichs liegt, ist „an sich“, ein vom Bewußtsein Unabhängiges, dessen Wirklichkeit der menschlichen Vernunft unzugänglich bleibt. Dagegen kann bei Hegel das Ansichseiende gerade nicht für es selbst sein, sondern ist es nur für andere. Weder nimmt es sich selbst wahr, noch hat es ein Selbstbewußtsein; es ist in seinem Eigendasein in den Augen anderer, für diese.
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Unterschiede und daher deren Totalität. Dieses Zu-sich-Kommen des Bewußtseins ist die zweite Negation, zu der das adamitische Bewußtsein erst aufbricht, in dem es sich in der ersten Negation die erscheinende Welt als Objekt gegenübersetzt und somit sich selbst als Subjekt konstituiert. Dieser Aufbruch zu sich selbst im Ungehorsam gegen das Verbot, das Essen der Frucht der Erkenntnis zu unterlassen, beschert den beiden ersten Menschen also keinen Zuwachs an Verfügungswissen. Es ist ihr Umgang mit der Welt, der sich verändert. Sie können nicht mehr in bloß Vorgegebenem leben, sondern erkennen innerhalb dessen einen Spielraum, in dem sie selbst Regeln aufstellen müssen. Durch die explizite Nennung der Unterscheidung von „Gut“ und „Böse“, derer der Mensch durch den Genuß der verbotenen Frucht fähig wird, ist die Sündenfallerzählung traditionell zunächst als Initiationsgeschehen im Hinblick auf das sittliche Handeln des Menschen gedeutet worden.⁴⁰⁷ Mit der Befähigung zur ethischen Beurteilung und Handlungsausrichtung ist aber eine noch grundlegendere Veränderung im Menschen geschehen, die in der sittlichen Ausrichtung schließlich ihren Ausdruck findet. Es ist der Widerspruch aufgetan – zwischen „Gut“ und „Böse“, aber auch zwischen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, Fremdheit und Verwandtheit, hergestellter (bzw. herzustellender) Welt und der Bedeutung der Dinge, die diese von sich aus sehen lassen. Die Geburt des Widerspruchs ist die Geburt der Reflexion, wortwörtlich verstanden der Spiegelung, also des Bruchs eines Strahls an einer Grenzfläche. (Vgl. SuB III, 117.) Bricht sich im physikalischen Spiegel das Licht, so bricht sich im Spiegel des Bewußtseins das Denken am Sein.⁴⁰⁸ Damit ist der Widerspruch aufgetan, die Entfremdung. In ihr macht sich der Mensch auf den Weg zu sich selbst, den Weg, der als Weg des sich dialektisch forttreibenden Bewußt-Seins ein steter Umweg ist.
II. Verkehrte Verhältnisse: Der Mensch der Reflexionsstufe Im Status des Fürsichseins unterscheidet sich das Bewußtsein als Selbstbewußtsein, als subjektiver Geist vom absoluten Geist. Diese Unterscheidung ist das Denken und Aussprechen eines „Ichs“. Die Unmittelbarkeit der „träumenden
407 Vgl. Rad, Gerhard von, Das Alte Testament, Göttingen 1949/50, 65. Von Rad bemerkt, daß der hebräische Text es vor dem ihm zugrundeliegenden Verständnishorizont nahelegt, in der Formulierung „Erkenntnis von ‚Gut‘ und ‚Böse“‘ durchaus nicht nur eine moralische Implikation ausgesprochen zu haben. Vielmehr sei in diesen Worten der Gegensatz ausgedrückt, daß der Mensch eine Art „Allwissenheit“ erlange, während er vor dem Fall nichts wußte. 408 Zum Motiv des Spiegels in Liebrucks‘ Bewußtseinstheorie vgl. das Kapitel Mensch und Welt im Spiegel des Logos.
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Unschuld“ ist überwunden in einem Bewußtsein der Vermitteltheit, der Relationalität des In-der-Welt-Seins. In diesem Relationsgefüge erkennt sich das Ich als eines der Relate. Diese Selbstsetzung erfolgt über die einfache Negation, in welcher dem Ich alles, was Nicht-Ich ist, Objekt, d. h. dem eigenen Selbst transzendent ist. Auch „Gott wird aus der Welt hinausgeschoben, transzendiert, Objekt.“ (SuB III, 176.) Für Liebrucks ist damit die Geburtsstunde positiver Religion umschrieben: Gott erscheint als Objekt, als das ganz Andere, das der Welt fremd und von ihr ausgeschlossen ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Gott Gegenstand im Sinne eines archaischen Götterbildes ist oder ein metaphysisch ersonnenes Prinzip. Die im Fürsichsein erbrachte Distanzierungsleistung kann verschiedene Gesichter tragen. Im Sündenfallmythos wird sie illustriert im Davonlaufen des Menschen vor Gott, gegen den er ungehorsam geworden ist. Die Fähigkeit zur Selbstunterscheidung weckt den „Glauben Adams, er könne sich vor Gott verstecken.“ (Ebd.). Spätestens an dieser Stelle fällt die Kongruenz zwischen der philosophischen und der theologischen Beschreibung des Standes des Gefallen ins Auge, der in einer theologischen Liebrucks-Rezeption zumindest einen Exkurs wert ist. Was Hegel und mit ihm Liebrucks als Fürsichsein darstellt, läßt sich in der Theologie als Stand der Sünde identifizieren: die Entscheidung des Menschen für sich, nicht für Gott.⁴⁰⁹ Insbesondere Luther charakterisiert – sich in eine mit Paulus einsetzende theologische Tradition einordnend – Sünde als Verkehrung. Prägnant ist seine Schilderung des Sünders als h o m o i n c u r v a t u s i n s e i p s u m ⁴¹⁰, dessen Verkehrung (p e r v e r s i o ) dem zu entsprechen scheint, was von Hegel als erste Negation benannt wird. Dieses Motiv der Verkehrung findet sich ebenso bei Liebrucks. Der Mensch als Marionette des Logos gebärdet sich in seiner Selbstbehauptung notwendig als der Drahtzieher aller Vorgänge, die er seine Welt nennt. Er bedient sich dazu der Gabe, die er sich weder selbst verleihen noch der er sich
409 Stellvertretend sei eine Sündendefinition Rudolf Bultmanns zitiert, der davon ausgeht, daß der zwischen Gott und Welt stehende Mensch sich zu entscheiden habe: Wen läßt er seinen Herren sein? Sünde ist „die Grundhaltung des natürlichen Menschen, der es nicht aushält, in der Ungesichertheit vor Gott zu leben, sondern der nach der Sicherung seines Daseins verlangt und sie sich zu beschaffen bemüht.“ (Bultmann, Rudolf, Glaube und Verstehen, Band III, Tübingen 1960, 42). Vgl. Luthers Auslegung des ersten Gebotes im Großen Katechismus, in: Lutherisches Kirchenamt (Hg.), Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, bearb. v. Pöhlmann, Horst Georg, 2. verb. Aufl., Göttingen 1952, 565, 11 ff. Nach Luther kann der natürliche Mensch nicht wollen, daß Gott wirklich Gott sei, weil er von diesem die eigene Selbstbehauptung bedroht sehen müsse: „Non potest homo naturaliter velle deum esse deum, immo vellet se esse deum et deum non esse.“ So gegen Gabriel Biel gesprochen in der Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), WA I, 225, 1 f. 410 Vgl. Luther, Martin, Dictata super Psalterium (1513 – 15), WA 3, 212, 36; vgl. ders., Römerbriefvorlesung (1515/16), WA 56, 356, 5 f.
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entledigen kann: der Sprache. Sein sprachlicher Weltumgang ist die verkehrte Welt des Menschen, in der gilt, „daß Denken die Welt nicht abbildet, sondern eine Verkehrung mit ihrer Unmittelbarkeit vornimmt.“ (SuB II, 169.) Kennzeichnend dafür ist die „ideal-typische[] Abstraktion der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt“. (Ebd.) Auch Liebrucks benutzt den Ausdruck „Perversion“ zur – an Hegel anschließenden – Darstellung des Fürsichseins in der Form des positiven Glaubens. „Seine [des Glaubens, S. L.] Positivität ist die Perversion des Verhältnisses des Menschen zu Gott. Gott mag sein, aber ohne mich.“ (SuB III, 176.) Entsprechend kennzeichnet Luther den in die Sünde gefallenen Menschen als sich von Gott abwendend (a v e r s i o a D e o ⁴¹¹) und sich gegen ihn auflehnend (r e b e l l i o ⁴¹²). Seine Selbstbehauptung scheint um den Preis gewonnen zu sein, daß der Mensch Gott nicht mehr Gott sein lassen kann und sich selbst zum Gott ausrufen muß.⁴¹³ Oswald Bayer gibt eine treffende Zusammenfassung des lutherschen Sündenverständnisses, die den Sprachaspekt der p e r v e r s i o berücksichtigt: Sünde wird von Luther vornehmlich als Fall in den Widerspruch verstanden, d. i. Verkehrung einer ursprünglich gewährten Gemeinschaft von Gott und Mensch. „In dieser Verkehrung wird der Mensch zwar nicht beziehungs- und verhältnislos, aber seine Verhältnisse zu seinem Schöpfer und seinen Mitgeschöpfen werden zu Mißverhältnissen. Der Sünder lebt nicht mehr – auch – in einem Selbstverhältnis, wie es seiner Schöpfungsbestimmung entspräche, sondern als Selbstverhältnis. Alles, was ihm begegnet, bezieht er auf sich; in allem sucht er das Seine […]. Dies kann durchaus in frommer Absicht geschehen – auch in der Rede von Gott. In solchem Selbstbezug aber wird Gott nicht mehr als Gegenüber gehört, er wird funktionalisiert zum Vehikel menschlicher Ichfindung und Selbstverwirklichung und verfällt auf diese Weise der vereinnahmenden Selbstverabsolutierung des Sünders. So ist Sünde verkehrte Kommunikation, ein Missverhältnis.“⁴¹⁴ Luther sieht den Sündenfall als Vertrauensbruch gegenüber Gott.⁴¹⁵ Anstatt darauf zu vertrauen, daß Gott ihn zur Entfaltung seiner Bestimmung führen wird, nimmt der Mensch sein Leben selbst in die Hand. Er will sein eigener Herr sein. Für Luther ist die Freiheit des Sünders jedoch nur eine vermeintliche, denn er wendet sich in der a v e r s i o a D e o vom Grund der eigenen Freiheit ab. Freiheit ist etwas, das der Mensch zu allererst empfängt und dann gestalten, nicht aber aus eigenen Stücken
411 Luther, Martin, Große Gensisvorlesung [Gen 31– 50] (1535 – 45), WA 44, 472, 38 (zu Gen 42,6 f). 412 Vgl. Luther, Martin, These 30 der Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), WA 1, 225. 413 Vgl. ebd. 414 Bayer, Oswald, Martin Luthers Theologie, 3. ern. durchges. Aufl., Tübingen 2007, 163 f. 415 Vgl. Luther, Martin, Große Genesisvorlesung [Gen 1– 17](1535 – 45), WA 42, 120, 25 – 122, 19.
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erschaffen kann. Die a v e r s i o a D e o ist somit eine a v e r s i o von sich selbst: Der gefallene Mensch spricht nicht sich aus, sondern ist ein Selbstwiderspruch. Diese Selbstentfremdung des Sünders ist notwendiges Moment des menschlichen Selbstverhältnisses; weil aber dieses „nur in der Erkenntnis des wahren Gottes zurechtkommen kann, muß es selber wahre Selbsterkenntnis (nostri cognitio) werden […] Unsere Erkenntnis Gottes (sui cognitio) hängt aber an der Erkenntnis, die Gott von uns hat, d. h. seinem Urteil über uns als mendaces, peccatores, inusti […] Darum vermittelt Gott (infert) durch unsere Erkenntnis von ihm (per sui cognitionem) seine wahre Erkenntnis von uns an uns (nobis) als wahre Selbsterkenntnis (nostri cognitionem). In dieser dialektischen Einheit von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis, wie Luther sie denkt, ist Gott wirklich Gott und der Mensch wahrhaft Mensch.[] Wahre Selbsterkenntnis ist Glaube an den rechtfertigenden Gott.“⁴¹⁶ Die Denkwege Luthers sowie Hegels und Liebrucks’ kreuzen sich in der Verknüpfung des Wahrheits- und des Freiheitsbegriffs. Wahrheit ist – mit Hegel gesprochen – „Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst“.⁴¹⁷ Solche Übereinstimmung findet sich nicht in den Abstraktionen von etwas, etwa den Werken einer Person. In seinem Wirken muß sich der Mensch als endlicher entscheiden: entweder eine Möglichkeit zu aktualisieren oder eine andere. Der Zwang zur Entscheidung bezeugt seine Unfreiheit. Nur das Ganze seiner Möglichkeiten ist seine Wahrheit. In der Konsequenz ist das Ganze seiner Möglichkeiten als die Wahrheit des Menschen auch dessen Freiheit. Hegel betrachtet die Thematisierung dieser Übereinstimmung des Subjekts mit dem göttlichen Absoluten, das als dieses absolute Ganze die Wahrheit ist, als das Anliegen der (christlichen) Religion, deren zentrales Moment daher die Subjektivität sei.⁴¹⁸ Darin sieht er die Möglichkeit für einen Brückenschlag von seiner Geistphilosophie zur Theologie der Reformation. Die Anknüpfung geschieht über Hegels Auffassung von Versöhnung als Zu-sich-Kommen des Subjekts im Zu-sich-Kommen des absoluten Geistes. Luther zeichnet den Status der Sünde als eine überzogene Selbsttätigkeit, während die Versöhnung in Christo den Menschen dazu öffnet, sich selbst aus Gottes Hand zu empfangen, indem ihm Gerechtigkeit zugesprochen wird (i m -
416 Mit Bezug auf WA 56, 229, 24 f. und 304, 15 – 17 sowie WA 3, 124, 12– 14 Ringleben, Joachim, Die Einheit von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Beobachtungen anhand von Luthers Römerbrief-Vorlesung, in: ders., Arbeit am Gottesbegriff. Band 1: Reformatorische Grundlegung, Gotteslehre, Eschatologie, Tübingen 2004, 18 – 28, 27 f. 417 Vgl. Hegel, Enzykl., 86. 418 Vgl. u. a. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte III, Theorie-Werkausgabe, Bd. 20, hg.v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt a. M. 1971, 53.
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p u t a t i o ). In vergleichbarer Auffassung vollzieht sich Versöhnung nach Hegel als Aufhebung des Rückzugs in die von Hegel so bezeichnete „höchste“ Subjektivität; Liebrucks paraphrasiert diese als „Ansichhalten des Menschen, de[n] Verlust der Liebesbeziehung, die Flucht Adams aus dem Paradies.“ (SuB III, 115.) Wer sich behaupten und herrschen will, so liest man in dieser Zusammenfassung Hegels durch Liebrucks, darf nicht lieben. Er muß sich lossagen von allem, was ihn bindet. Adam scheint es deshalb, als fliehe er aus dem Paradies; als Vertriebener begreift er sich nicht. Das im Fürsichsein ausgesprochene „Ich!“ ist gleichsam eine Kampfansage an alles, das Nicht-Ich ist. Doch der Rückzug in eine solche Abstraktion schließt das Subjekt in Unfreiheit ein. Besteht die Freiheit des Menschen in der Übereinstimmung seiner selbst mit dem göttlichen Gegenstand, ist sie somit als relationale Größe behauptet. Die Freiheit des Subjekts besteht darin, – unabhängig von seinen Werken⁴¹⁹ – aus der bloßen Beziehung zu Gott heraus selbständiges Ich zu sein. Das Subjekt kann seine Freiheit folglich nicht bei sich suchen, was es im Fürsichsein resp. im Status der Sünde tut. In der Subjekt-ObjektBeziehung, in welcher das Subjekt der ersten Reflexionsstufe steht, hält es die Widerständigkeit der ihm begegnenden Welt nicht aus und meint, seine Selbstbehauptung nur durch Unterwerfung allen Gegenübers – und sei es Gott – zu schaffen. Doch zu unserer Freiheit gelangen wir erst in der Erkenntnis unserer Grenzen. Unsere Freiheit ist „nichts weiter als das Maß der Einsicht in unsere Abhängigkeit, das wir gerade noch ertragen.“ (SuB II, 281.) Freiheit drückt sich aus im Aushalten des Anderen. Im Anschluß an Hegel formuliert Liebrucks demgemäß seine Aussage, daß „der Mensch nur in dem Maße frei ist, in dem er das Ausmaß seiner Unfreiheit erkennt und in einer gesellschaftlichen Lage lebt, die ihn solche Erkenntnis aushalten läßt.“ (SuB III, 120.) Wenn Luthers Theologie auch insofern von Hegel in den Anspruch gedanklicher Verwandtschaft genommen werden kann, als nach dessen Überzeugung der Mensch sich ausschließlich m e r e p a s s i v e hat⁴²⁰, scheint eine nie aufgegebene Gegenüberstellung von Schöpfer und Geschöpf auf Seiten Luthers Hegels Geistphilosophie als dialektischer Ausführung des aristotelischen Theorems der sich selbst denkenden Vernunft entgegenzustehen.⁴²¹ Für Hegel ist ein in seinen Augen
419 Vgl. Luther, Martin, WA 7, 32, 4– 9 u. ö. 420 Vgl. WA 18, 697, 25 – 30. 421 Wie fein die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch in der Dialektik von Gottes- und Selbsterkenntnis bei Luther zu denken ist, führt Joachim Ringleben vor: „Gott kommt durch sein Herausgehen nicht etwa unmittelbar ‚in‘ uns (hinein), sondern wir gelangen dazu, selber ‚in uns gehen‘ zu können […]. Gott kommt nur so zu uns, daß wir zu uns kommen. Das heißt: als unser Zu-uns-Kommen kommt Gott zu uns. […] Das göttliche Wirken ist als Geist von indirekter Art: als (mitgehender) Anstoß und (stets wirksame) Ermöglichung einer Veränderung gegen uns und bei
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überzogenes Sündenbewußtsein letztlich sogar ein Grund zu harscher Kritik an der protestantischen Lehre.⁴²² Dennoch liest sich seine Theorie, der subjektive Geist des Menschen sei ein Moment des absoluten Geistes, als würde hierin die von Luther verteidigte These des s e r v o a r b i t r i o bis in die letzte Konsequenz ausgespielt. Liebrucks übernimmt Hegels Geisttheorie in sprachphilosophischer Akzentuierung: Mit jedem menschlichen Wort sei der eine Logos ausgesprochen, mit jedem Gedanken gedacht. Der in der Theorie von der Absolutheit des Geistes resp. des Logos entwickelte Gedanke, daß sich der göttliche Geist im konkreten, subjektiven Geist anschaue, führt zu der ebenfalls von Luther vertretenen Ansicht, Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis des Menschen fielen zusammen. Diese Erkenntnis ist aber erst als Entfaltung des Geistes zu sich selbst in der Überwindung des Fürsichseins gewonnen. Dieses Moment der Selbstüberwindung ist dem Geist inhärent: Besteht Wahrheit in Selbstübereinstimmung, so treibt es den Geist als den absoluten über jeden Widerspruch hinaus. Insofern stellt sich die – unbeantwortet bleibende – Frage an Hegel und Liebrucks, wie das Bewußtsein im Fürsichsein stagnieren kann. Diese Stagnation ist es schließlich, die Liebrucks als die „Signatur unserer Zeit“ angreift und mit seiner Philosophie aufrütteln will. (SuB I, 226.) Eine Entscheidung über Chancen und Grenzen einer Vergleichbarkeit von Luther und Hegel bzw. Liebrucks ist hier nicht zu treffen. Der Exkurs will lediglich theologische und philosophische Rekonstruktion der biblischen Sündenfallepisode in einen Dialog bringen, um die Liebrucks-Rezeption für die protestantische Dogmatik zu plausibilisieren.
III. Vom Lieben und Fürchten: Die Konstitution des Subjekts in sprachlichen Verhältnissen Im folgenden soll die Unterscheidung des Fürsichseins als Initiation des sprachlichen Handelns vom analphabetischen Ansichsein, in welchem Subjektivität und Objektivität noch nicht entdeckt sind, näher beleuchtet werden. Für die sprachphilosophische Akzentuierung seiner Philosophie liefert Hegel selbst die Vorlage; die Ausarbeitung des Sprachbegriffs gibt der von Liebrucks
uns.[] Geist ist, was so Gottes ist, daß es zugleich an uns ist, ohne je allein unsers zu sein.[] Gott ist nur so ‚in‘ uns, daß er es in unserm In-uns-Gehen ist. Gerade durch diese Indirektheit ist er in uns von unserm Inneren unterschieden, und als Gegenteil alles unmittelbaren In-seins gerade der von außen Kommende.“ (Die Einheit von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis, in: ders., Arbeit am Gottesbegriff, 26 f.) 422 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte III, 505.
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entfalteten Bewußtseinstheorie ihr eigenständiges Profil. Er faßt die Dialektik des von Hegel beschriebenen absoluten Geistes als die dialektische Subjekt-SubjektObjekt-Beziehung auf, als die er Sprache benennt. Sprache ist ihm das Unendliche, in dem alle endlichen Bestimmungen aufgehoben und zueinander in Beziehung gesetzt sind: Identität von Identität und Nicht-Identität. Nur in einem solchen dialektischen Ganzen können Bedeutungen in Verweisungszusammenhängen Sinn ergeben, können über die Grenzen von Raum und Zeit hinaus Individuen sich aufeinander beziehen und sich in dieser (Sprach‐)Gemeinschaft als Einzelne konstituieren. Der Logos als absolute Identität ist die Logik unseres Weltumgangs. Der Mensch ist das Lebewesen, das Welt hat, indem es Sprache hat. Anders formuliert: Sein Menschsein besteht in seiner Sprachlichkeit, seiner Teilhabe an der Sprache als Logos. In der Sprache als Logik des Absoluten sind Gott und Mensch immer vereint. Das Fürsichsein ist wie das Ansichsein ein Moment des Bewußt-Seins. Allerdings hat es das Ansichsein schon in sich aufgehoben; es ist eine Überwindungsstufe: erste Negation. Fürsichsein ist erste Negation, indem es zu sich „ja“ sagt. Diese Selbstbehauptung ist Selbstunterscheidung. Das Ich stößt sich ab von etwas zu etwas. Einerseits bleibt sein Sich-Abstoßen von sich und seinen Nächsten zu sich selbst eine Bewegung, die ihren Grund und ihr Ziel zugleich in sich trägt. Insofern bezieht sich das Fürsichsein in seinem Sich-Abstoßen ganz auf sich selbst. Es ist das Selbstverhältnis als Selbstverabsolutierung des Sünders. Andererseits muß das Sich-Abstoßen von allem Nicht-Ich als Beziehung begriffen werden. „Fürsichsein als Bewußtsein ist beim anderen bei sich selbst. Darin ist es sprachlich. In der Einsicht, daß ich mein Weltverhältnis nur auf dem Umwege über meinen Nächsten habe, liegt die christliche Komponente.“ (SuB III, 34.) Meiner Auffassung nach variiert Liebrucks Hegels Formulierung des „Im-Anderen-beisich-Seins“ zu einem „Beim-Anderen-bei-sich-selbst-Sein“, um die Bedeutung des sprachphilosophisch interpretierten Moments der Anerkennung für die Konstituierung des Subjekts einzuholen. Die Differenz ist folgende: „Im Anderen“ kann auch eine sich gegenübergestellte Sache bedeuten; „beim Anderen“ ist das Selbst bei einem Nächsten. Das Subjekt ist nicht allein in der Gegenüberstellung zu einem Nicht-Ich bei sich selbst, sondern vor allem, indem es von einem anderen Bewußtsein als ein ebensolches angesprochen, d. i. anerkannt wird. (Vgl. ebd.) Das andere Bewußtsein, das ich als mir selbst entsprechendes Bewußtsein anerkenne und das mich als sich selbst entsprechendes Bewußtsein anerkennt, ist biblisch gesprochen mein Nächster. Den Nächsten zu lieben, ist im Status des Fürsichseins allerdings als Forderung ausgesprochen, die noch erfüllt sein will. Lieben kann erst das absolute Subjekt, das den Anderen nicht als seine Grenze hat, sondern dessen Geist als den eigenen erkennt. Diese Stufe des Bewußtseins nennt Hegel das Anundfürsichsein, die Einheit von Unmittelbarkeit (Ansichsein) und
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Vermittlung (Fürsichsein).⁴²³ Das Fürsichsein kann seinen Nächsten noch nicht lieben, weil es ihn zur eigenen Selbstbehauptung benutzt. Das kennzeichnet es als den Status des Bewußtseins von Vermittlung. Was es nicht lieben kann, das muß das Bewußtsein fürchten. Wie der Tod der Auferstehung, so geht die Furcht der Liebe voraus. Im Herausgehen des Ichs zu Anderem ist die existentielle Furcht vor dem Selbstverlust unvermeidlich. So fürchtet der sich selbst behaupten wollende Adam Gott und versucht, sich vor diesem zu verstecken. Erst diese Furcht aber treibt ihn Gott letztlich in die Arme. Sie repräsentiert den Widerspruch, über den das Bewußtsein hinausstrebt. „Gott ist zuerst immer zu fürchten […].“ (SuB V, 94.) Zu fürchten ist er als der ganz Andere, uns transzendent Bleibende, dessen Allmacht wir als Bedrohung unserer Freiheit verstehen müssen. Das Fürsichsein ist der Widerspruch: Es konstituiert sich in der Beziehung zu diesem Anderen und fürchtet ihn doch als Bedrohung seiner selbst. In diesem bzw. als dieser Zwiespalt erweist sich das Fürsichsein als Status der Entschiedenheit. Entweder ist Gott allmächtig; dann ist die eigene Freiheit des Subjekts bedroht. Oder das Subjekt vermag, sich selbst zu behaupten; dann aber kann es eine Allmacht Gottes nicht akzeptieren und drängt ihn aus seiner Welt hinaus. Dieses Entweder-Oder ist repräsentiert in der Erkenntnis als Wahlmöglichkeit, wie sie sich mit dem Essen der verbotenen Frucht auftut: „Gut“ oder „Böse“. Liebe oder Furcht. Eine Liebe, welche die Furcht zu vermeiden können glaubt,wird indes von Liebrucks als „sentimentales Insichgekehrtsein“ verworfen, denn allein der Mensch, der in die Welt hinausblickt und nicht nur ihr Gutes, sondern auch das Böse in ihr sieht, wird Gott als den Herrn über diesen Widerspruch, d. h. aber auch als den Urheber des Schlechten begreifen.⁴²⁴ (A. a.O., 95.) Die Frucht vom Baum des Lebens bleibt dem Menschen verwehrt. Herr über Leben und Tod ist allein Gott. Daher ist dieser zuerst immer zu fürchten, weil es der Tod ist, in dessen Eintreten der Mensch seiner begrenzten Freiheit bewußt wird.
423 Daher gilt Hegel das Theologoumenon vom trinitarischen Gott, einer durch Liebe in Einheit gehaltenen Vielheit, als Pendant seiner spekulativen Theorie des absoluten Geistes, der Einheit von Ansichsein, Fürsichsein und Anundfürsichsein. In der Trinitätslehre erweise sich der sich von sich selbst unterscheidende als der mit sich identische Geist, somit aber als das sich selbst denkende Denken, wie es von der dialektischen Logik des (Neu‐)Platonismus als Gottesbegriff eingeführt werde. 424 Die hier zusammengefaßte Passage bei Liebrucks, welche die Frage einer Theodizee allerdings nicht mehr als anschneidet – wie kann man Gott angesichts des Bösen in der Welt lieben? – erinnert an das Dilemma, das den jungen Luther quälte und zu seinem rechtfertigungstheologischen Durchbruch treibt, der in der Tat als Überwindung einer Bewußtseinsstufe erscheint: der Stufe der technisch-praktischen Gesetzesfrömmigkeit eines ausgebildeten Fürsichseins, die im göttlichen Zusprechen von unverdienter Gerechtigkeit den Menschen in die Dialektik des s i m u l i u s t u s e t p e c c a t o r aufhebt.
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Der Tod als tiefgreifendste aller Abstraktionen verweist jedoch auf das, wovon abstrahiert wird. Der Tod eröffnet in diesem Sinne die Perspektive des Unendlichen. Jeder Tod hat das Zeigen auf das Leben an sich. Der Tod ist mitten im Leben, weil er mitten in der Sprache, im Weltumgang des Menschen ist. In den realen Gestaltungen des Menschen kommt die Lebendigkeit der Wirklichkeit zum Erliegen. Möglich ist dies nur, weil Sprache die Einheit von Leben und Tod, von Endlichkeit und Unendlichkeit ist.Weil sie unendlich ist, kann sie endlich werden, ohne in den endlichen Abstraktionen aufzugehen. Darum können die Laute, die im Moment ihrer Artikulation schon gestorben sind, von den sie Hörenden wiederbelebt und in dieser Wiederbelebung angeeignet werden. Erst wer zu dieser Einsicht gelangt, muß den Gott-Logos nicht nur fürchten, sondern kann ihn auch lieben. Ihn, der sich als Liebender erweist, indem er immer wieder von neuem aus Totem Leben schafft. Der Ursprung der Sprache „ist der an den Rändern des Lebens in der Todesfurcht zitternde oder im höchsten Glück des Anblicks göttlicher Gestalten erzitternde Mensch.“ Er bringt das Erzittern „in seine Macht, indem er die zunächst wohl einfach hinausgeschrieenen Laute reflektierend artikuliert. Das ist das bildende Moment innerhalb der Sprache.“ (A. a.O., 96.) Es erinnert abermals an Kierkegaard, wenn Liebrucks die Angst „den höchsten Adel der Menschheit“ nennt, weil sie der Motor ist, der den Menschen zu sich selbst antreibt. (A. a.O., 95.) Er realisiert seine Wahrheit, seine Freiheit, indem er sich ausspricht. In der Sprache und im Denken kann sich der Mensch zu allem in Beziehung setzen. In der Sprache markiert er Unterscheidungen und setzt sich zugleich über sie hinweg. Schon in Genesis 3 ist das Menschsein über die Sprachlichkeit seines Weltumgangs charakterisiert. Der Schöpfungsmythos des Alten Testaments erzählt von der Weitergabe der Sprache als ordnender Kraft an den Menschen: Er soll den Mitgeschöpfen Namen geben. In dieser vorphilosophischen Skizze einer positivierenden Welterschließung erscheint Sprache als Charakteristikum des Menschen. Von einer Schöpfung der Sprache ist nicht die Rede. Sie ist gleichursprünglich mit Gott, über sie stehen Gott und Mensch a b o r i g i n e in Verbindung.⁴²⁵ „Am Anfang war das Wort. Es schuf Himmel und Erde wie den Menschen. Deshalb ist die sprachliche Besinnung des Menschen auf sich selbst zugleich die Besinnung des Menschen auf seinen Ursprung als sprachliches
425 Gott lehrte den Menschen nicht wie ein Sprachlehrer. Daß und wie Gott lehrte, hat erst der Mensch sprachlich erfunden, indem er die Natur als „göttlich“ erfuhr und darstellte. Der Sprachunterricht Gottes ist das „integre[] Sein Adams“ selbst, denn dieser empfängt die „Natur aus der Hand Gottes, der der Logos selbst ist. […] Gott spricht, aber nicht in einer Sprache neben den Dingen. Vielmehr sind die Dinge selbst seine Sprache.“ (SuB I, 320 f.) Adams „Gefühl“ für Sprache resp. Logos vergleicht Liebrucks mit dem absoluten Gehör für das Musikalische. (Vgl. a. a.O., 321.)
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Wesen.“ (SuB II, 5.) Die Freiheit des Menschen gründet in dessen Sprachlichkeit, weil sich in ihr alle Gegensätze vereinigen und aufgehoben sind; in der Sprache steht der Mensch über den Gegensätzen, denen er aufgrund seiner Endlichkeit realiter ausgeliefert ist. Frei ist er in der Sprache, kraft seiner Logosnatur, denn als sprechender hat er teil an der Unendlichkeit Gottes, des Logos. Darin besteht, wie sich noch zeigen wird, seine i m a g o D e i . Daher ist Liebrucks’ Philosophie ein Plädoyer an den Menschen, die Welt mit dem „Sprachblick“ anzusehen.⁴²⁶ Zunächst aber blickt der Mensch mit dem Blick des Eroberers auf die Welt, die er sich zu seinem Nutzen unterwerfen will (und muß). Der Mensch gibt den Dingen Namen, nicht Bedeutung. Die Welt-Anschauung des technisch-praktisch orientierten Menschen ist nicht „wie die Anschauung Gottes, die Dinge ins Leben ruft, sondern alles virtualiter tötet, was es auch nur anblickt.“ (SuB IV, 148.) Der Basiliskenblick ist Kompensation der Angst, die der Mensch angesichts andringender Unbestimmtheit der Welt befällt. Angriff ist die Verteidigungsstrategie des natürlichen Menschen. Er macht sich die Welt im technisch-praktischen Weltumgang untertan. Doch Unterwerfung ist nicht Überwindung. Erst wenn erkannt wird, wovor und worum die Angst des Menschen besteht, kann auch erkannt werden, daß sie und in ihrer Folge der technisch-praktische Weltumgang berechtigt sind. Dann wird aber ebenso deutlich, daß die Unterwerfungsreaktion den Grund der Angst nicht berührt. Der Mensch kämpft bleibend mit der Angst, wenn er sie sich – bewußt oder nicht – zum Widersacher erklärt, gegen den er sich zu behaupten hat. Ein Kampf verläuft über stete, asymmetrische Machtsteigerung. Auch für den Sieger ist der Kampf nie beendet, will er seine Macht behaupten. Die Machterhaltung durch stete Machtsteigerung verläuft über die Kehrseite der Macht, die Gewaltausübung. Das d o m i n i u m t e r r a e ist unmittelbarer Zugriff auf die Welt. Dagegen erscheint im sprachlichen Handeln die Welt vermittelt, d. h. in ihrer Gegensätzlichkeit, so daß in ihrer bleibenden Unbestimmtheit nicht nur Bedrohung, sondern auch die Freiheit in ihrer unaufhebbaren Koinzidenz mit Abhängigkeit begriffen werden kann. Dann kann mit der Akzeptanz der Angst auch ihr Gegenstück sichtbar und angenommen werden, welches, definiert man die Angst als Angst vor der Unbestimmtheit, die Erkenntnis der Verwandtschaft im Fremden (Humboldt) sein dürfte. Unter dem Sprachblick erscheint im Logos der gemeinsame Grund von Mensch und Welt. Die Welt trägt nicht mehr die Maske des ganz Anderen, sondern läßt ihr Antlitz sehen. Logisch entfaltet bedeutet dies: Die Welt wird nicht allein zu behandlungsfreundlichen Schematismen und Eindeu-
426 Dem Sprachblick kontrastiert Liebrucks die formallogische Erblindung. „Die Ursache dieser Erblindung der Anschauung des Menschen ist die seit Plato und Aristoteles geübte Logik.“ (SuB VI/3, 183.)
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tigkeiten stilisiert, vielmehr kann sich in einem ausgewogenen Verhältnis von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit ebenso ihre eigene Bedeutsamkeit zeigen und vom sie betrachtenden Menschen ausgehalten werden. Hier wird das Freiheitsthema am Angstbegriff durchgespielt, ist doch Angst als etymologische Ableitung von „Enge“ (lat. a n g u s t u s ) synonym zu Unfreiheit. So verständlich das Aufbegehren des Menschen ist und so notwendig für das Überleben, so sehr gehört die Unbestimmtheit, vor der er sich ängstigt, doch zu ihm selbst und macht sogar dessen Freiheit aus. Angst wie Unfreiheit lassen sich nicht vermeiden oder besiegen, man muß sie integrieren. Diese Integration vorzubereiten, ist Aufgabe der Philosophie. „Philosophie ist dann existent, wenn sie durchschaut hat, daß das Imponiergehabe aller Herrschaft der Verdeckung einer Schwäche diente, die wir nur verlieren, wenn wir diese Schlechtweggekommenheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, unerschrocken vor den Blick unseres Denkens stellen.“ (Ebd).
IV. Der Ruf Gottes Schon das Fürsichsein macht die Erfahrung der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, die Sprache ist – jedoch „noch von sehr fern“. (SuB V, 94.) Es tritt in sie ein, indem es sich zugleich von ihr distanziert. Die bewußtseinstheoretische Deutung legt die Vertreibung aus dem Paradies paradoxerweise als Insichgehen des Bewußtseins aus. Dieser interpretatorische Ansatz orientiert sich an Adams Ignoranz des Rufens Gottes. „[S]o hat der Mensch die Vertreibung aus dem Paradies selbst vorgenommen, als Adam glaubte, er könne sich vor Gott verbergen, indem er seinen Ruf nicht zu vernehmen vorgab. In diesem Adam ist das Bewußtsein in sich gegangen.“ (A. a.O., 284.) Adams Weghören ist die in Szene gesetzte erste Negation. Sie ist bereits sprachliches Handeln, so wie alles Handeln des Menschen seinen Grund in der Sprachlichkeit des Weltumgangs hat. Aber Adam weiß nicht, daß er mit jedem Wort, das er spricht, ebenso den Logos ausspricht. „Als Gott Adam im Paradiese rief, glaubte dieser ihn überhören zu können. Er wähnte sich von Gott emanzipiert. Heute wähnt dieser Adam sich von der Sprache emanzipiert und hat daher die Erwähnung vom Ereignis nur getrennt.“ (SuB VI/3, 550.) Adam scheint durch seine Selbstbehauptung Gott von sich wegzutreiben. Doch Gott ist dem Menschen nie näher als in dessen Selbstaussprache. „Sprache trägt im Moment das ganze Leben.“ (SuB II, 400.) Als ζωον λογον ɛχον spricht der Mensch mit jedem seiner Worte den Logos aus. Darin besteht – um Liebrucks eigene Metaphorik zu bemühen – die Freiheit des Menschen als Marionette Gottes. Seine Freiheit erweist sich im Weltumgang des Menschen, in welchem er sich eine Welt erspricht. Selbsttätig gesetzte und empfangene Bedeutungen haben einen ge-
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meinsamen Grund: Die a d a e q u a t i o von Begriff und Gegenstand setzt eine Sprachaffinität der Dinge voraus, eine Identität aller möglichen Verweisungszusammenhänge in Bewahrung von deren Nicht-Identität. Eine solche Identität muß eine unendliche sein, die als solche ihren eigenen Unterschied, die endliche Bestimmung, an sich hat. In allem Endlichen ist das Unendliche gegenwärtig, alles Positive trägt die doppelte Negation seiner selbst an sich – das Heraussetzen aus der Unbestimmtheit zu einem Positiven, das wiederum auf das zeigt, was es negiert. Das fürsichseiende Bewußtsein aber ist nur insoweit in die Sprachbewegung eingetreten, als es die erste Negation vollzieht. Es negiert darin seine eigene Unendlichkeit. Diese Haltung bewahrt es sich bis in philosophische Höhen. Noch Kant meint, über die gegenständlich erscheinenden Dinge hinaus nichts mit Vernunft sagen zu können, obwohl seine Transzendentalphilosophie in all ihren Prämissen auf die Partizipation des Endlichen am Unendlichen verweist. Es wurde gezeigt, daß Kant insofern Recht zu geben ist, als das Unendliche, Gott, nicht mit den Mitteln einer technisch-praktisch orientierten Verstandeslogik zu beweisen ist. Liebrucks konstatiert, daß wir Gott „nur im Vokativ anrufen können.“ (SuB VI/ 2, 141; vgl. SuB VI/1, 297.) Gott begegnet in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung der Sprache als der Angesprochene und Ansprechende. Als diese Einheit der Subjektivität und der Objektivität – die bei Hegel absoluter Geist und bei Liebrucks Sprache, Logos, heißt – ist Gott in jedem Moment des menschlichen Weltumgangs gegenwärtig. Damit ist die christliche Lehre von den Eigenschaften Gottes sprachphilosophisch-epistemologisch eingeholt: o m n i p r a e s e n t i a , o m n i p o t e n t i a , o m n i s c i e n t i a D e i erweisen sich in der sprachlichen Logik, in der wir selbsttätig und empfangend in der Welt sind, eine Welt haben. Sprechen wir mit jedem unserer Worte Gott aus, so sind wir selbst in jedem unserer Worte von ihm gerufen. Doch „Adam sieht nicht, daß Gott die Liebe ist, die den Menschen niemals verläßt. Adam war es auch, der am Kreuz hing, an dem auch die Ansicht, Gott habe den Menschen verlassen, gekreuzigt wurde. Gott ruft jeden Menschen zu allen Zeiten, wenn auch in den stummen göttlichen Sprachen der Kunst, der Religionen und der für uns Menschen als nur endlichen Wesen stummen Offenbarung.“ (SuB IV, 3.) Man denke an den biblisch bezeugten Ruf Gottes, der Menschen in die Erfüllung ihres Menschseins einlädt und auch befiehlt: im paradiesischen Garten, zum Prophetenamt, in der Anerkennung seines Sohnes bei dessen Taufe im Jordan – um nur einige biblische Illustrationen anzuführen. Nie ist der Mensch unsprachlich, d. h. aber auch: Nie ist er von Gott verlassen. So wenig er seine Logosnatur abzulegen vermag, so vehement kann er sie dennoch leugnen, „wie Adam glaubte, er könnte so tun als hörte er nicht, als nicht ein Mensch, sondern Gott ihn rief.“ (SuB I, 163). Diese Leugnung bleibt, das zeigt das Zitat, ein „So-tun-als-ob“, mit dem der Mensch Gott nicht von sich fernzuhalten vermag. Aber er hält sich von sich selbst fern. Beim Weltzugang der Positivität
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„handelt [es] sich [..] nicht um die Vertreibung des Menschen aus dem Paradiese, sondern aus dem Bewußt-Sein.“ (A. a.O., 226.) Das seiner Sprachlichkeit bewußte Subjekt entdeckt sein In-der-Welt-Sein als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung der Sprache, in der es zugleich selbsttätig und empfangend seine Identität als eine sich ausbildende Relationsgröße behauptet. Die sprachlich erworbene Identität des Subjekts ist das, worauf sich seine Aussagen und die Aussagen anderer Subjekte von Identität und Nicht-Identität beziehen. Identität ist, was im Antagonismus von Erscheinungen und Begriffen auf sich bezogen bleibt. Das Kapitel Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks stellte Identität bereits als durch den Satz des Widerspruchs formuliert vor. Die Negation als Moment jeder Identität wurde dabei in der neutestamentlichen Schilderung des Todes und der Auferstehung Jesu Christi veranschaulicht dargestellt: In der Gestalt des christlichen Gottes ist für Liebrucks erstmalig in der Geschichte des Bewußtseins die Selbstbeziehung des Bewußtseins im absoluten Geist ausgesprochen. Die Selbsterkenntnis des Bewußtseins, eine sich in der Dialektik von Identität und Nicht-Identität forttreibende Selbstentsprechung, in diesem Sinne aber: der lebendige Begriff seiner selbst zu sein, „ist die Schädelstätte, auf der die Substanz nicht mehr nur Substanz, sondern zugleich Subjekt geworden ist, auf der Adam wieder Mensch wurde, eine Geschichte, die wir im Durchgang durch die Welt der Positivität der Wissenschaften erst noch gewinnen müssen.“ (SuB V, 292.)⁴²⁷ Liebrucks reiht sich hier ein in die Tradition einer Adam-Christus-Typologie: Auf Golgatha kehrt zu sich zurück, was in Eden die Entzweiung seiner selbst erfuhr. Der Typologie liegt die hegelsche Theorie der Selbstwerdung des absoluten im subjektiven Geist zugrunde, wie es der Wortlaut des Zitats verrät. Die Substanz als das natürliche Bewußtsein in der Unmittelbarkeit sinnlicher Gewißheit, wie sie als Ansichsein der träumenden Unschuld beschrieben ist, setzt ein Selbstbewußtsein als Träger der sinnlichen Eindrücke voraus. Dieses kommt in der Subjektivität zu sich, in der Unterscheidung seiner selbst von der es umgebenden natürlichen Wirklichkeit. Hierfür steht symbolisch der Sündenfall. Das Selbstbewußtsein unterscheidet sich von der natürlichen Wirklichkeit der Substanz; indem es sich von dieser unterscheidet, zeigt es sich aber zugleich als unauflösbar an diese gebunden. Erst in der das Denken denkenden Vernunft erfolgt die Synthese von Substanz und Subjektivität in der Erkenntnis, die man mit Humboldt die Erkenntnis der Verwandtschaft im Fremden nennen möchte. Das Selbstbewußtsein begreift seine Substantialität als die der es umgebenden Welt. Da Liebrucks die Vernunft mit Hamann als Sprache begreift, kann diese dritte Stufe des Be-
427 „Das Sterben des Bewußtseins ist immer die Zersetzung der Substanz in die Subjektivität.“ (A. a.O., 287.)
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wußtseins auch als Erkenntnis der eigenen Sprachlichkeit bezeichnet werden. In der Sprache sind Unendliches und Endliches, Bestimmtes und Unbestimmtes, Allgemeines und Besonderes, Sinnliches und Geistiges in dialektischer Einheit aufgehoben. In ihr allein ist diese Dialektik ebenso denkbar und erfahrbar. Darum nimmt sie bei Liebrucks die prominente Stellung in dessen Philosophie ein. In jeder sprachlichen Äußerung, die ebenso ein Wort wie ein Gedanke sein kann, vollzieht sich die triadische Logik des von Hegel beschriebenen Geistes: dessen Entäußerung in sein Anderssein in der materiellen Welt; das Hineintreten in den Gegensatz zu sich selbst, einerseits unmittelbar mit der Welt verbunden und doch eine individuelle Bedeutung behauptend zu sein; schließlich die Einheit von Identität und Nicht-Identität, von Sinn und Sinnlichkeit an sich zu haben. Diese Einheit wird geboren im Widerspruch, über den es den Geist hinaustreibt. Wird somit Negation als notwendiges Moment von Identität begriffen, wird deutlich, warum das Werden des Menschen zu sich selbst mit dem Ungehorsam gegen denjenigen beginnen muß, der ihm diese Menschwerdung gewährt. Der Aufbruch des subjektiven Geistes zu sich selbst ist daher nicht als Hybris abzuwerten; zu dieser wird er erst, wenn das Bewußtsein vergißt, daß sein Zu-sich-Kommen bedeutet, von etwas herzukommen und nicht autark zu sein. „Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, ist das Verbot der falschen Erkenntnis, die in der Zweiheit stehen bleibt.“ (SuB III, 116, Herv. S. L.) Der Umweg über die Entfremdung ist notwendig. Mit Hegel und Liebrucks gelesen, ist der biblische Vers Gen 3, 22 frei von jeglicher Ironie: „Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“⁴²⁸ Der Mensch wird in seinem Aufbruch zu sich selbst von Gott anerkannt. In seiner Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ist der Mensch Gott ebenbildlich. „Einen anderen Begriff von der Erkenntnis des Menschen hat noch keine Philosophie, die ihres Namens würdig ist, gehabt.“ (SuB III, 117.) Liebrucks selbst findet die i m a g o D e i , das kann als Konsequenz der vorangegangenen Ausführungen ohne zusätzliche Erläuterung geschlossen werden, in der Sprachlichkeit: „Wir fanden den Ursprung der Sprache in der Natur des Menschen, die zugleich göttlich ist.“ (Ebd.) In dem „Zugleich“ von menschlicher und göttlicher Urheberschaft ist Hegels Einsicht ausgesprochen, daß Gott seine Logik im
428 Theologische Parallelen zur Wertung des Sündenfalls als notwendiges Moment der Menschwerdung finden sich bei Blum, Erhard, Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottähnlichkeit. Überlegungen zur theologischen Anthropologie der Paradieserzählung, in: Gönke, Eberhardt/ Liess, Kathrin (Hgg.), Gottes Nähe im Alten Testament, Stuttgart 2004, 9 – 29.; Spieckermann, Hermann, Ambivalenzen. Ermöglichte und verwirklichte Schöpfung in Genesis 2 f, in: Graupner, Axel/Delkurt, Holger/Ernst, Alexander B. (Hgg.), Verbindungslinien (FS W. H. Schmidt), Neukirchen-Vluyn 2000, 363 – 376. Hier liegen allerdings eher entwicklungspsychologische als begriffslogische Argumentationsschemata vor.
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(sprachlichen) Weltumgang des Menschen vollzieht. Im subjektiven Geist des Menschen denkt sich der absolute Geist selbst als den „Begriff des Begriffs“, als Einheit von Subjektivität und Objektivität. Als dialektische c r e a t i o c o n t i n u a erzeugt er in der Wirklichkeit wie im Denken beständig seinen eigenen Gegensatz, um sich in dessen Überwindung selbst in seiner Entfaltung voranzubringen. Ausgehend vom „An-sich“ vollendet sich der Begriff zum An-und-für-sich, zum selbstbewußten Begriff. Er ist Träger aller Unterschiede als Entsprechungen seiner selbst. Als diese Totalität, in der jedes der Momente das Ganze ist, ist er die sich selbst generierende Wahrheit. Jedes Moment der Wahrheit ist als deren Genese wahr; darin ist seine Individualität geschützt. Die Vereinigung alles Einzelnen in diesem Concret-Absoluten als Selbstbeziehung in Fremdbeziehung „ist der göttliche Finger des Begriffs, der das Einzelne nichtberührend berührt. Er ist das principium nicht als nur wesentliches, sondern das, in dem das Wort war. Er ist noch in jedem Anfang welcher Wissenschaft auch immer gegenwärtig. Vielleicht ist das der Sinn der Darstellung der Erschaffung Adams durch Michelangelo, in der Gott, als der absolute Begriff, den erwachenden Adam nichtberührenderweise berührt.“ (SuB VI/3, 550.) Unangetastet zu bleiben, macht den Menschen frei, das Absolute in sich zu individueller Entfaltung zu bringen. Es sind nicht irgendwelche Menschen, die der Mythos von Schöpfung und Fall als erste Erdenbewohner einführt; es sind eigenwillige Persönlichkeiten, sie halten Zwiesprache mit Gott. Sprechende Subjekte sind nicht uniform, sie entsprechen einander: Darin können sie bei den anderen zugleich ganz bei sich selbst sein. Desgleichen ist der subjektive Geist nicht schon der absolute: Zwar hat die Welt „ihr Dasein nur innerhalb der Entsprechung, die in unserer christlichen Tradition das Wort Gottes heißt.“ (A. a.O., 632.) Doch als der dauernde Korrespondent von Sprache und Bewußtsein ist Gott nicht mit diesen identisch.⁴²⁹ Im Begriff der Korrespondenz resp. Entsprechung ist die Relation von Schöpfer und Geschöpf als Ebenbildlichkeit und wesenhafter Unterschiedenheit, als Einheit von Identität und Nicht-Identität ausgesprochen. Diese Relation ist für den Menschen unantastbar, er selbst ist es in ihr ebenfalls: Die Marionette liegt nicht in der Hand ihres Spielers, sie bewegt sich an den Fäden, die sie mit ihrem Spieler verbinden. Die Präsenz des Absoluten im subjektiven Geist ist die Präsenz der Unendlichkeit in allem Endlichen. Formallogisch muß der ewig lebendige Grund aller endlichen Setzungen vergessen werden, damit diese Setzungen Geltung erlangen. Die Funktionstüchtigkeit des technisch-praktischen Weltumgangs basiert auf dem Anspruch ihrer Bestimmungen, daß nicht alles auch noch ganz anders sein
429 Vgl. zum Begriff Gottes als dauerndem Korrespondenten von Sprache und Bewußtsein das Kapitel Der Gottesbegriff bei Bruno Liebrucks.
B. Vertiefung: Der Sündenfall als Aufbruch des Bewußtseins zum Anundfürsichsein
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könnte. Falsifikationslehren haben ihre Berechtigung in der Wissenschaftstheorie, nicht in der Praxis. Der Mensch erweckt in seiner technisch-praktischen Weltunterwerfung Formen zum Leben, die dem Tod nicht allein geweiht sind: Sie tragen ihn in sich als Abstraktionen der Mannigfaltigkeit andringender Eindrücke zu einem beherrschbaren System. In der von ihm gestalteten Realität lebt der Mensch immer in der Vergangenheit, seine Lebens-Formen sind Produkte der Stillegung lebendiger Entfaltung. Alles Neue wird eingezeichnet in vorhandene Parameter. In dieser Gegenüberstellung von Subjekt und der Welt als dessen Objekt „ist nicht von einem sympathetischen Weltumgang die Rede, sondern von dem ,Machen‘ des Menschen darin.“ (SuB III, 115.) Im Eintritt in die erste Reflexion resp. Negation, entgeht der Gefallene selbst der Versuchung, die Früchte vom Baum des Lebens essen zu wollen. Der in die unmittelbare Reflexion Gefallene hat keinen Blick mehr für die Ewigkeit des Lebens, weil er zum Überlebens-„Techniker“ geworden ist.⁴³⁰ Der Mythos erzählt davon, daß die Kultivierung der Welt zur Mühsal und die Fortpflanzung zum Schmerz wird – so leben Adam und Eva, nachdem sie die Fähigkeit erlangt haben, sich in ihren Handlungen zu entscheiden. Die Folgegeschichte von Kain und Abel schildert, wie die Selbstbestimmung des Menschen zum Kampf wird: Selbstbehauptung wird bezahlt mit dem Totschlag des Konkurrenten. Außerhalb des Garten Eden ist das Leben fokussiert. Die Dinge erscheinen nicht mehr in der Gegenwart des ewigen Logos, sondern unter dem Aspekt ihrer Gegenständlichkeit. Die Konzentration auf diese läßt ihren Sprachcharakter unsichtbar werden. Das postlapsarisch-adamitische Bewußtsein kann es nur als Widerspruch empfinden, daß jemand oder etwas zugleich endlich und unendlich sein soll. Ihm erscheint alles als endlicher Gegenstand, auch Gott selbst. Darum wird es versuchen, die Existenz dieses Gottes zu beweisen. (Vgl. a. a.O., 206.) In diesem Status des Bewußtseins begreift sich das Subjekt nicht als von derselben Substanz wie die es umgebende natürliche Wirklichkeit. Insofern ist der „tierisch-paradiesische[] Zustand“ der Selbstverständlichkeit des unreflektierten sympathetischen Weltumgangs zwar „ein niedrigerer“, da noch kein Bewußtsein der eigenen Freiheit und Geistigkeit entwickelt ist; zugleich ist er aber „vollkommenerer“, weil in ihm die Dialektik der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung des Weltumgangs nicht zu einer asymmetrischen Subjekt-Objekt-Beziehung depraviert ist. (A. a.O., 117.) Adams Verlust der Unschuld ist eine Metapher für das bewußtseinstheoretische Erwachsenwerden des Menschen. Das unreflektierte, daher noch unschul-
430 „Der die Natur bearbeitende Mensch ist der Mensch der Reflexionsstufe. Er bearbeitet die Natur, um in neuer Verbindung mit ihr die Entzweiung in theoretischer und praktischer Hinsicht aufzuheben.“ (SuB III, 117.)
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6. Adam – Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst
dige Bewegen in der Einheit des Geistes vor dem Fall ist wie die Kindheit des Bewußtseins. Die Gestalt des gefallenen Adam steht für die Pubertät des Bewußtseins: Das Kind Gottes will erwachsen werden, sich vom Vater abgrenzen. Diese Abgrenzung von Vater und Kind ist die Voraussetzung ihrer gegenseitigen Anerkennung: Ein Vater erweist sich als solcher nur in bezug auf seine Kinder; Kinder erkennen ihren Vater an, indem sie sich als dessen Kinder anerkennen. Der Sündenfall ist demnach Moment der Einheit des Menschen mit Gott – sofern wir der Aufforderung Jesu folgen, uns mit dem Vater wieder versöhnen zu lassen, indem wir werden wie die Kinder. Mit Hegel formuliert, heißt dies: „Aus der Entzweiung soll der Geist zum Anundfürsichsein gelangen.“ (A. a.O., 116.) Kind bleiben soll der Mensch nicht. Es wieder werden, bedeutet, die Einheit, von welcher das Bewußtsein sich zur Reflexion aufschwang, ins Bewußtsein einzuholen. Zu werden wie die Kinder heißt, zur Einheit des Lebens finden – aber als zu sich erwachsenes Bewußtsein, d. h. als Bewußtsein dieser Einheit, welches das Kind nicht hat. Als ζωον λογον ɛχον hängt für den Menschen sein Menschsein – seine Wahrheit, seine Freiheit – an der Entfaltung seines Logos: Er muß sich selbst entsprechen. Im Fürsichsein ist er aber noch Selbstwiderspruch, weil sich dieses dagegen verschließt, Moment des Absoluten zu sein. „In der vorphilosophischen Ebene religiöser Diktion gesprochen, ist Verschlossenheit des Menschen die Verschlossenheit Adams vor Gott. In Christus wird sie gekreuzigt, als Jesus in den fragenden Ruf ausbricht, warum Gott ihn verlassen habe.“ (SuB III, 27.) Der Ruf nach Gott ist das Eintreten des Bewußtseins in die Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, in der es sich in seiner Bezogenheit auf das Andere seiner selbst konstituiert begreift. Die Erwiderung des Rufes Gottes, der schon im Paradiesgarten an den Menschen ergeht, ist die Selbstaussprache des Subjekts in der Subjekt-SubjektObjekt-Dialektik seines sprachlichen Weltumgangs, in welcher er sich vom Besonderen zur Affirmation des Allgemeinen als Einheit alles Besonderen wendet. So ist „die Gangart der Dialektik die hohe Kunst [..], dem Menschen den Vorhang vor der Bühne aufzuziehen, auf der sich das Paradies spiegelt.“ (SuB V, 42.) In der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, auf deren Sprachbahnen sich der absolute Geist auf sich selbst zubewegt, erkennen die das Fürsichsein überwindenden Subjekte von sich selbst, daß sie „[a]ls Äste des Baums des Lebens […] der ganze Baum“ sind. (SuB III, 205.) Das Verbot,vom Baum des Lebens zu essen, umschreibt die erkenntnistheoretische Notwendigkeit der Unterscheidung zur Erkenntnis dessen, das diese Unterscheidung an sich hat. Das Göttliche in uns entdecken wir nur, wenn wir es nicht für das Menschliche halten. Doch das fürsichseiende Bewußtsein, das in seinem strikten Vollzug der einfachen Negation verharrt, bleibt in den Unterscheidungen stecken, ohne deren Unterschiedenheit denkend einholen zu können. Es muß seine Selbstbehauptung auch insofern verneinen können, daß
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es diese als relationale Größe, seine Subjektivität nur als Moment der Einheit von Subjektivität und Objektivität des Absoluten begreift, das den subjektiven Geist als Logos aus sich entläßt.⁴³¹ In diesem Logos spricht das Subjekt zugleich sich und das Absolute aus. Es spricht das Absolute aus, indem es andere Subjekte als sich im Logos Entsprechende anspricht und sich von ihnen angesprochen weiß. In der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung des Logos begegnet uns Gott im Nächsten. In der Subjekt-Objekt-Beziehung sieht das Subjekt nicht das Ganze der von sich unterschiedenen Objekte. Das lebendige Sich-Forttreiben des Geistes wird in dessen Objektivationen zum Stillstand gebracht: für tot erklärt in der Abstraktion zu einer in sich geschlossenen, unveränderlichen Identität. „Der Akt der Abstraktion ist innerhalb von Bewußt-Sein immer ein Akt des Tötens. Es muß also aus seiner Integrität herausgegangen sein.“ (SuB V, 30.) Die Gegenwart des Unendlichen – im mythischen Bild: des Baums des Lebens – im Endlichen ist ausgeblendet. Für das fürsichseiende Subjekt „ist der Baum des Lebens so wenig überblickbar wie meine Gestalt für eine Fliege, die auf meiner Hand kriecht.“ (SuB III, 205.) Sich selbst als Ast am Baum des Lebens, als Moment des Absoluten zu begreifen, begegnet bei Liebrucks als wiedergewonnene s y m p a t h e i a . Diese sieht Liebrucks bisher nur in der Kunst berührt. Ob der Mensch jemals eine Bewußtseinsstufe erreichen wird, in welcher ihm die Welt nicht mehr als Spiegelbild ihrer Wirklichkeit erscheint, wissen wir nicht. Bisher, beklagt Liebrucks, steht der Selbstentsprechung des Menschen dessen „Selbstbornierung“ im Wege. (SuB I, 35 u. ö.) Diese wird im folgenden Unterkapitel ebenfalls mit Bezug zu dessen mythischer Figuration einer näheren Betrachtung unterzogen.
C. Es werde Licht! Die Geburt der Logik und die Unvermeidbarkeit des Bösen Der Mythos vom Sündenfall erzählt vom Fall des Menschen in eine Welt, in der er unter dem Gegensatz von „Gut“ und „Böse“ steht. Ist die Schöpfung „gut“, wie es der priesterliche Schöpfungsbericht betont, wie kommt dann „das Böse“ in die Welt, und was ist darunter zu verstehen? Auch diese Frage wird schon im mythischen Denken behandelt. Das Böse begegnet in mannigfachen Gestalten. Zwei von ihnen spielen in den Texten Liebrucks’ eine Rolle: Luzifer und Prometheus, die Lichtbringer. Die traditionsgeschichtliche Motiverschließung muß hier unhinterfragt bleiben, etwa die Ver-
431 Die christliche Trinitätslehre formuliert diese Entäußerung als das Erzeugen und Entsenden des Sohnes durch den Vater.
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schmelzung der römischen Morgensternmythologie mit der in der christlichen Religion tradierten Vorstellung des Teufels. Prometheus und Luzifer werden hier in Verbindung vorgestellt, weil sie im Motiv des Lichtbringers miteinander verbunden sind, und beide – wenn auch nicht unmittelbar zusammengeschaut – bei Liebrucks eine Bewußtseinsstufe repräsentieren, welche als das sich selbst bornierende Fürsichsein zu umschreiben ist, das seine Freiheit zum Freiheitsmißbrauch verdirbt. Diese Selbstbornierung wird in diesem Kapitel anhand der mythischen Rede von „Gut“ und „Böse“ sowie den Metaphern des Lichts und des Lichtbringers durchgespielt. Der Erörterung liegen die vorangegangenen Ausführungen über die auf Hegels Geistphilosophie zurückgehende bewußtseinstheoretische Genesisdeutung Liebrucks’ zugrunde.
I. Sittlichkeit als Ausdruck von Gottes- und Selbstverhältnis Im Moment des Fürsichseins ergreift der Mensch seine Freiheit – in unmittelbarer Form. Aus der unreflektierten sinnlichen Gewißheit tritt er hinaus in eine Welt der Unterscheidung: Er unterscheidet sich als denkendes und handelndes Subjekt von den Objekten, die er denkt und behandelt. Diese Selbstunterscheidung ist mit Hegel gesprochen „polemisch“. (Vgl. SuB III, 32.) Sie schafft eine Entzweiung, in der sich das Subjekt die Natur, den Mitmenschen, Gott als Objekt gegenüberstellt. Er verfügt über sie. Der Status des Fürsichseins ist der Status des technischpraktischen Handelns. Ohne die Fähigkeit zu diesem Handeln wäre der Mensch nicht (über)lebensfähig. Der Fall in das Fürsichsein gehört also durchaus zur Wahrheit seines Menschseins dazu. Die Freiheit zur technischen Praxis zeigt aber schon die Dialektik der Freiheit an, denn die Ausübung der Freiheit als Herrschaft über die Natur hängt daran, „daß Natur als göttliche das zuläßt.“ (SuB VI/2, 71.) Seine Freiheit verwirklicht nur, wer ein Bewußtsein ihrer hat. Da Freiheit aber eine dialektische Größe ist, die ihren Unterschied mit sich führt, sofern sie nur als Freiheit von und zu etwas sinnvoll bestimmt werden kann, ist unfrei,wer nicht auch ins Bewußtsein einholt, wovon sie sich identitätsbildend abstößt. Jeder Anspruch von Freiheit formuliert e o i p s o Abhängigkeit. Im Absoluten ist der Gegensatz von Freiheit und Abhängigkeit aufgehoben. Das Absolute ist als Aufhebung aller Gegensätze Wahrheit und Freiheit. Der subjektive Geist als Moment des Absoluten partizipiert an Wahrheit und Freiheit; d. h. aber zugleich, daß seine Freiheit die einer Marionette ist, die sich ohne ihren Spieler nicht bewegen kann. Die Freiheit des subjektiven Geistes ist eine begrenzte. In ihrer Begrenzung ist ihr eigener Grund angezeigt. Die Grenze der Freiheit des subjektiven Geistes ist keine von außen auf diesen zukommende, vielmehr ist sie seiner Freiheit als Moment der Freiheit des
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Absoluten inhärent. Darum kann der Mensch als subjektiver Geist diese Grenze auch nur in der Selbsterkenntnis als Moment des Absoluten finden, während seine technisch-praktischen Errungenschaften ihn über die Begrenztheit seiner Freiheit täuschen mögen. Diese Täuschung ist Movens von Kultur und insofern unüberbrückbar. Je nachdem, ob wir sie als Täuschung erkennen, werden unsere Handlungen als sittlich angemessen oder unangemessen zu beurteilen sein, „gut“ oder „böse“. „Mit der Praxis beginnt die Herrschaft der formalen Logik, die Herrschaft des allem Weltumgang eingefleischten Irrtums von der durchgängigen Bestimmtheit des Wirklichen. […] Sobald der Mensch diesen Irrtum jedoch nicht als solchen sieht, sich gegen ihn borniert, werden die Handlungen, die ihn bis dahin am Leben erhielten, mit denen er hohes Leben war, unmenschlich.“ (SuB III, 41.)⁴³² Der Begriff des Irrtums weist darauf hin, daß das Problem unmenschlicher Handlungen, die auch als das „Böse“ umschrieben werden können, ein erkenntnistheoretisches Problem ist. Das „Böse“ nimmt unter uns Platz, sofern uns die Erkenntnis Gottes als Logos und unserer selbst als an diesem Partizipierende verstellt ist. (Vgl. Sinnfrage, 298.) Adam zog sich in eine Subjektivität zurück, die sich für natürlich und den Objekten entgegengesetzt erklärt. Dieser Subjektivitätsbegriff, wie er im Alten Testament mythisch geschildert wurde, hat auch in die Philosophie Einzug gehalten und ist schließlich in der kantischen Lehre vom Prinzip der transzendentalen Apperzeption manifestiert. Diese Bewußtseinsstufe ist die der Reflexionsphilosophie. In ihr ist der Mensch der rein technisch-praktisch denkende und handelnde Mensch. Er erprobt seine Freiheit als Macht. „Nicht jede Macht ist böse. Aber nur die Macht im Dienste des Guten ist gut. Böse ist nicht nur die Macht im Dienste des Bösen, sondern schon die Macht um ihrer selbst willen.“ (SuB IV, 3.) Wo der Mensch seine Macht als seine Selbstbehauptung nur um ihrer selbst willen ergreift, verfehlt er sich. „Das Böse tritt so in der Form des sich als natürlich verstehenden Bewußtseins wie in der fixierten Form der Endlichkeit des Wollens und Denkens auf. Nach ihm ist der Mensch nur endliches Wesen.“ (SuB III, 117.) Das Subjekt hat seine Wahrheit nur in der Wahrheit des Absoluten, dessen Moment er in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung des Logos ist. Die Wahrheit des Absoluten ist verwirklicht in jedem seiner Momente. Doch ein Moment für sich genommen, ist eine Abstraktion von Wahrheit. Da nur das Ganze das Wahre ist, wie Hegel seine Theorie des Absoluten auf den Punkt bringt, ist eine Abstraktion von Wahrheit immer schon Unwahrheit. Ist Wahrheit mit Freiheit gleichzusetzen, wie es vorausgehend erläutert wurde, dann ist die Abstraktion von Wahrheit gleich-
432 „Jede Berufung auf eine nur wissenschaftliche Instanz appelliert an eine nicht mehr menschliche Instanz, die, sobald sie zur Herrschaft gelangt, notwendig böse ist.“ (SuB IV, 3.)
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bedeutend mit Unfreiheit. „Insofern der Mensch sich als natürliches Bewußtsein auffaßt, ist sein Weltumgang unfrei.“ (Ebd.) Dem Menschen fehlt auf dieser Stufe das Bewußtsein für die Einheit des Konkret-Allgemeinen. „In der immer wieder erstaunten und schmerzlichen Frage des unglücklichen Bewußtseins, warum Gott auch Kain liebt und nicht einfach auf der Seite Abels steht, hat es vergessen, daß es außerhalb des Absoluten nichts geben kann. Aber dieses nicht außerhalb des Absoluten Sein-Können ist kein positives Nichtseinkönnen. Es muß daher hinzugefügt werden, daß zur sittlichen Theodizee Gottes gehört, daß er als der existierende Begriff der Liebe erkannt wird, der dem Menschen die Freiheit läßt, auch das Böse zu tun. Die Möglichkeit des Bösen ist nicht als Wirklichkeit in Gottes Sein als einem positiven aufzufassen, sondern als die Wirklichkeit der Liebe Gottes, die auch dem Bösen nicht wehrt, wo der Mensch es von sich aus veranstaltet. Selbst diese Veranstaltungen stammen noch aus der Kraft des Guten. Aber Gott hat dem Menschen die allem formallogischen Denken als Danaergeschenk erscheinende Freiheit eingelegt. Er hat den Menschen zu seinem eigenen Rang heraufgehoben. Dem möchten wir immer gerne entfliehen und tun es jeden Tag. Die Völkervernichtungsveranstaltungen unserer Zeit entsprechen unserer religiösen Verdummung. Diese haben wir selbst heraufgeführt. Gott behandelt uns nicht wie bürgerliche kleine Kinder, denen er diese Freiheit erläßt, wie vielleicht dieses oder jenes im bürgerlichen Milieu lebende Kind zu Weihnachten etwas von seiner Schuld abgelassen bekam. Gott ist nicht der Großinquisitor.Wir können Gott nicht lieben, bevor wir ihn fürchten gelernt haben. Auch die Hölle unseres Daseins stammt aus der gottlichen [sic] Liebe.“ (SuB V, 285.) Solange der Mensch sich in seiner Endlichkeit immer auch gegen die Unendlichkeit behaupten muß, wird er „der vielleicht sehr menschlichen Meinung sein, daß sich die Engel vor ihm verbeugen müßten.“ (SuB II, 475.) Verleiht diese Haltung bereits der Ahnung Ausdruck, daß „die Engel“, die überirdischen Wesen, die platonischen Ideen, auch Gestaltungen des Menschen in seiner logischen Bewegung in der menschlichgöttlichen Sprache sind? Diese Einsicht vermöchte ihn schließlich dazu zu bringen, Gott nicht nur zu fürchten, sondern auch zu lieben. In Zeiten des unaufgeklärten Mythos erschien die Welt dem Menschen als einer unantastbaren göttlichen Ordnung unterworfen, die er nur ehrfürchtig hinnehmen und fürchten konnte. Diese Furcht bezeugte das Auseinanderrücken von Mensch und Gott, wie es in der Selbstabgrenzung des Subjekts geschieht, entweder um die Freiheit des Menschen oder Gottes vor dem Zugriff des je anderen zu bewahren. Doch die Freiheit des Absoluten verwirklicht sich als Freiheit des Subjekts. So begriffen hat Gott den Menschen immer zuerst geliebt, indem er ihm Freiheit zugesteht, um darin seine eigene, absolute Freiheit zu offenbaren. Die Liebe des Menschen zu Gott ist die Annahme der eigenen Freiheit als Momentsein des Unendlichen.
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Die Sündenfallerzählung umschreibt die Erkenntnis, daß die Freiheit des Menschen in seiner Gottesbeziehung begründet liegt. Sie erzählt auch davon, daß seine Freiheit ebenso zur Selbstverwirklichung wie zur Selbstverfehlung gebraucht werden kann. Sie weiß ebenfalls, daß von der Selbstverfehlung des Einzelnen desgleichen die ihn umgebende Lebenswelt betroffen ist. Seine Freiheit ist dem Menschen als sittliche Aufgabe gestellt. Hier verrät sich wiederum die Nähe Liebrucks’ zu Hegel: Sittlichkeit erscheint bei diesem als die Objektivierung des freien Willens. In den Werken der Sittlichkeit ist die vernünftige Einheit von Subjektivität und Objektivität erfüllt.⁴³³ In der Einheit von Subjektivität und Objektivität ist das Sittliche die Aufhebung der Unterscheidung von Sein und Sollen. Wo Sein und Sollen keine Gegensätze sind, ist Freiheit als die lebendig gewordene Idee des Guten entfaltet. Das Gute ist die im sittlichen Handeln, das in der SubjektSubjekt-Objekt-Beziehung der sittlich Handelnden auch als sprachliches Handeln zu bezeichnen ist, zum Ausdruck gebrachte Präsenz des Absoluten.⁴³⁴ Dagegen ist die „Abtrennung des Besonderen vom Allgemeinen [..] schon das Böse, das, praktiziert, nichts anderes ist, als dem besonderen Wesen als Menschen das Allgemeine, das Leben zu nehmen. Das tut der Mensch im leidenschaftlichen Willen zur Eindeutigkeit.“ (SuB III, 117.)⁴³⁵ Die dem technisch-praktischen Handeln zuarbeitende Simplifizierung der andringenden Welt auf eindeutige Objektivationen ist in Wirklichkeit Entzweiung der Welt in einander widerstreitende Kräfte. Die Positionierung des Subjekts gegen das Absolute manifestiert sich als entsprachlichtes Handeln: Das Böse behauptet sich als Selbstbehauptung oder „Versteifung des Selbstbewußtseins auf sich selbst […]“, die Liebrucks auch „Krieg“ nennt. (SuB I, 338.) „Das Böse ist die Loslösung des Menschen von Gott, die Einsetzung des Ichs als Bezugspunkt meiner Gedanken, Worte und Handlungen, der Krieg.“ (Ebd.) Das sich selbst als autark behauptende Selbstbewußtsein sagt Gott den Kampf an. Es kann den Gewinn des einen nur im Verlust des anderen erkennen; so gilt ihm die Parole Gott – oder Ich. „Die Form des Bewußt-Seins, die den Menschen in der Gestalt des Herausgetretenseins aus der Einheit fixiert, ist böse.“ (SuB III, 117.) Doch das Absolute bleibt als solches auch in der Entfremdung als das angezeigt, in dem diese Entfremdung ausgesprochen wird und auf welches diese verweist. Insofern sind das Gute und das Böse niemals
433 Vgl. Hegel, Enzykl. § 513. 434 Hat sprachliches Handeln den logischen Status der Idee des Guten, ist das Gute keine außerlogische, außermenschliche oder feststehende Größe, sondern der Vollzug des Bewußtseins als Bewußt-Sein selbst. (Vgl. SuB VI/3, 563; 567.) 435 Ein Beispiel für ein derartiges sittliches „Böses“ wird von Liebrucks ein paar Seiten später benannt: Proklamation eines „positiven Christentums“ durch die Nationalsozialisten. (Vgl. a. a.O., 120.)
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voneinander zu separierende Größen. Es gibt das Gute nicht ohne das Böse e t v i c e v e r s a . „Das Gute und das Böse sind nur insofern dasselbe, als jedes für sich nicht das Gute oder das Böse ist.“ (SuB V, 286.) Im Absoluten sind Gutes und Böses aufgehoben, ein Dualismus beider kommt erst durch den Menschen in die Welt. Dessen bornierte Selbstbehauptung, so sagt Liebrucks, läßt ihn die Wirklichkeit des sittlichen Guten und Bösen aber nicht ergründen. (Vgl. SuB III, 287.) Erst in der Anerkennung seiner selbst als Moment des Absoluten, als Marionette Gottes, begreift der Mensch sittlich Gutes und Böses als Ausdruck seiner Haltung zu Gott. „Indem er vom Baum der Erkenntnis aß, lernte er den Unterschied von Gut und Böse. Er blieb im Unterschied und gelangte nicht zum Widerspruch und seiner Auflösung. Er gelangte nicht zur Identität des Guten und des Bösen […]. So hat er in Wahrheit auch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen. Die Schlange hat ihn bis heute betrogen.“ (SuB VI/3, 474.) Weil der Mensch in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung steht, hat sein Verhalten gegen sich immer auch Auswirkungen auf die Entfaltung dieser Beziehung. Indem das Subjekt sich nicht als Moment des Absoluten anerkennt, erkennt es auch alle anderen sich vergleichbaren Subjekte nicht in ihrem MomentSein im Absoluten an. Weil es sich aber nie von diesem Ganzen separieren kann, dessen Moment es ist, steht es in seinem Widersprechen gegen das Ganze im Widerspruch zu sich selbst. Die Freiheit der Selbstbehauptung, in welcher nicht die gleichzeitige Anerkennung der Gemeinschaft der Subjekte im Absoluten ausgesprochen ist, ist daher eine vermeintliche Freiheit, weil sie den Menschen von dessen Wahrheit separiert. Eine vermeintliche Freiheit aber gereicht nicht zu einem sittlichen Handeln als Organisch-Werden des Absoluten. Der Verlust der Gottesgegenwart, die Liebrucks als das Charakteristikum der Moderne beschreibt, wächst sich heutzutage allerdings nicht mehr zu einem Vermissungserlebnis aus. „Gott ist mit jahrtausendlang währenden Künsten so weit aus unserer Welt hinausgeschoben worden, daß diese unsere Welt ihm nicht einmal mehr nachtrauert.“ (SuB III, 123.) Aber „wenn schon ein pervertiertes Zeitalter glaubt, ohne Gott auskommen zu können, so wird es ihm doch vielleicht schwieriger werden, wenn ihm gesagt wird, daß es damit zugleich Sprache und Bewußt-Sein gestrichen hat.“ (Ebd.) In dieser Aussage sehen wir von Liebrucks selbst den Titel seines Werkes – „Sprache und Bewußtsein“ bzw. „Sprache und Bewußt-Sein“ – mit dem Gottesbegriff in Verbindung gebracht. Dieser läßt sich, wie vorausgehend dargestellt, bei Liebrucks auf die Formel bringen, Gott sei dauernder Korrespondent von Sprache und Bewußtsein. Wenn der Mensch auch die religiöse Erfahrung verdrängt hat, so bezeugt sich doch in seinem Weltumgang, der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, in die sich das Absolute sprachlich-logisch entfaltet, dieses selbst in jedem Moment des subjektiven Weltumgangs. Dies bedeutet, „[…] daß der Verstand als menschlicher Verstand nur als Marionette Gottes seine Gedanken als freie Ge-
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danken hat.“ (SuB VI/2, 174.) Die Marionette, deren Verbindung zu ihrem Spieler gekappt ist, ist nicht frei, sondern bewegungsunfähig. Solange das Bewußtsein aber nicht zur dialektischen Begründung seiner Freiheit in der Abhängigkeit vom Absoluten vordringt, als dessen Moment es sich begreift, wird es in seinem vergeblichen Streben zur Unabhängigkeit seine Unfreiheit vertiefen. „Wir lernen heute das immer größer werdende Ausmaß der Unfreiheit des Menschen kennen. Dabei sind wir nicht nur Aufnehmende, sondern aktive Veranstalter solcher Unfreiheit. Nicht Gott hat den Menschen so gemacht, sondern sein Selbsterhaltungstrieb, mit dem er sich als das Ich setzt, wie Fichte im ersten Grundsatz gelehrt hat. Die Freiheit des Menschen liegt darin, daß Gott das zuläßt. Die formale Logik ist in ihren ‚befriedigenden‘ Antworten das Zeichen auf das untersprachliche Herunterfallen der Gattung Mensch zum Dieses da, das Zeichen auf die abstrakte untermenschliche Sexualität und Positivität, die das Dieses da weder in der Natur noch im anderen Menschen erreicht. Die logische Positivität entspricht der in ihr seienden Prüderie. Hier werden keine Verse gemacht.“ (A. a.O., 71.) Während Philosophie eigentlich gedichtet werden müßte, weil in den Formen der Kunst das Werden des Begriffs angezeigt ist. Dieses Werden ist die im instrumentalisierten Sprachgebrauch verdrängte Geschlechtlichkeit der Sprache, ein Motiv Hamanns, auf das Liebrucks hier offenkundig anspielt. Hamann ist Liebrucks’ Gewährsmann für die Begründung der menschlichen Wirklichkeit in der Sprache. Das dreifache Genus der Sprache – Maskulinum, Femininum, Neutrum – ist für Hamann Ausdruck der Selbstdifferenzierung des trinitarischen Gottes. Dessen Einheit ist präsent in der übergeschlechtlichen Einheit des sprechenden Subjekts. Göttliche und menschliche Wirklichkeit sind so in der Sprache, im Logos, verbunden.⁴³⁶ Die Begegnung Gottes und des Menschen im Wort ist keine abstrakte „untermenschliche Sexualität“, sondern der leiblich-geistige Weltumgang des Menschen in der Sprache, die laut Humboldt das Organ des Geistes ist. Als organisch ist sie geschlechtlich; sie will erzeugt werden, nicht hergestellt. Als ihr Erzeuger kann der Mensch nicht allein „Dieser da“, also mit Aristoteles gelesen Individuum sein, ohne zugleich Gemeinschaftswesen zu sein. Zum Erzeugen braucht er einen Partner. Das Erzeugte hat von seinen Erzeugern an sich und zugleich eine individuelle und sich entwickelnde Bedeutung. Sprache gebiert sich in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung. Alles in ihr ist von jemandem zu jemandem gesprochen, von Subjekt zu Subjekt. Alles ist in ihr unwiederholbar, sie ist kontinuierlich kreativ und in diesem Sinne geschlechtlich. In jedem anderen Subjekt spricht der Mensch zugleich Gott als die sich in die Subjekte ausdifferenzierende Spracheinheit an und aus. In seinem Weltumgang als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung des Logos ist
436 Vgl. Hamann, Sämtliche Werke. Bd. III, 179.
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der subjektive Geist Moment des absoluten Geistes; in ihm ist er an andere Subjekte verwiesen. Das sich bornierende Subjekt ist darum Selbstwiderspruch, weil es seine vermeintliche Unabhängigkeit nur in der Sprache behaupten kann, in der es mit seinem Nächsten und mit Gott verbunden ist.⁴³⁷ Die Befolgung des doppelten Liebesgebotes, die Beziehung zu Gott und zum Nächsten zu ehren, ist daher der Schlüssel des Selbstbewußtsein zu seiner eigenen Wahrheit: in der Liebe zum Anderen ist es dann bei sich selbst. (Vgl. Mt 22, 37 ff. parr.) Selbstbornierung ist folglich ein Problem der Selbsterkenntnis.
II. Das Licht der Logik Im vorangegangenen Text wurde von mir der Eintritt des Bewußtseins in das Fürsichsein als die Geburt der Reflexion bezeichnet. Reflexion ist physikalisch betrachtet das Zurückwerfen elektromagnetischer Wellen, „Lichtstrahlen“, die auf eine Grenzfläche treffen und an ihr in ihrer Brechzahl verändert werden. In dieser Brechung von Lichtstrahlen werden Gegenstände sichtbar. Das Licht indessen ist nicht gegenständlich, keine materielle Substanz. Es wird selbst nur sichtbar an den Gegenständen, die es sehen läßt. Diesem auf Wahrnehmung bezogenen physikalischen Reflexionsbegriff entspricht der Reflexionsbegriff, wie er in der Philosophie Verwendung findet. In der Reflexionsstufe des fürsichseienden Bewußtseins steht der Begriff für die Brechung des Denkens am Sein, d. i. die Unterscheidung von Denken und Sein, in welcher das unterscheidende Subjekt kraft seines Denkens die erfahrene Welt zu Objekten bestimmt. Die Unterscheidung setzt eine Einheit des Unterschiedenen voraus. Schon die erste Negation, wie diese Unterscheidung von Hegel genannt wird, ist keine ursprüngliche Handlung: Negation ist immer Negation von etwas. Die erste Negation resp. Reflexion des fürsichseienden Bewußtseins agiert bereits in einem „Licht“. Das Licht steht für die logische Kategorie des Grundes, der ersten Annahme aller logischen Operationen: der Einheit von Allgemeinem und Besonderem, in die alle Bestimmtheiten eingezeichnet werden können.⁴³⁸ „Das Licht ist Bestimmtes, unterschieden von dem,
437 „Ohne Geschlechtlichkeit des Menschen gäbe es keinen Gedanken, bleibt es jedoch bei ihr als abstrakter Ganzheit unseres Wesens, so bricht der Mensch die Beziehung zu Gott ab, wie er im Paradiese glaubte, er brauchte nicht zu hinzuhören, als Gott ihn rief. Damit verlor der Mensch die Einheit des Weges von sich zu Gott, der zugleich der Weg Gottes zum Menschen ist. Diese Einheit ist erst wieder langsam mühsam dialektisch zu erobern.“ (SuB I, 338.) 438 Der Grund ist laut Hegel „d a s We s e n a l s T o t a l i t ä t gesetzt.“ (Hegel, Enzykl. 248.) In der Kategorie des Grundes ist gedacht, „daß alle logischen Unterscheidungen das Aushalten der
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was es beleuchtet. Zugleich verleiht es den Beleuchteten die Bestimmtheit. Deshalb sagte Gott zuerst ‚Es werde Licht‘ und schuf erst später die Sonne und die Sterne […].“ (A. a.O., 194.) Im Licht werden Unterscheidungen sichtbar,während es selbst nicht in diesen Unterscheidungen aufgeht. Es ist nur an ihnen sichtbar und ihnen doch transzendent. Das Licht ist die absolute Form⁴³⁹, aus der bestimmte Formen generieren: Im Genesismythos stehen die Gestirne für solche Orientierungszeichen. (Vgl. SuB VI/3, 593.) Das Licht ist als absolute Form zugleich sein Inhalt. Das „Es werde Licht!“ ist die ins Bild gefaßte Initiation der Selbstauslegung des Absoluten. Das Absolute ist als solches Selbsterschließung: Es will sich selbst erhellen.⁴⁴⁰ Sein Offenbarwerden vollzieht sich als das Hinaustreten in seine Unterschiede und deren Überwindung im unablässigen Rückbezug auf sich selbst als absolute Identität. Diese Dialektik von Selbstunterscheidung und Selbstbezug des Absoluten, des Logos, ist Logik; die Logik, dessen Moment das ζωον λογον ɛχον ist. „Nennt man das Sein Gottes das Licht unserer Erkenntnis, so spricht man damit die Wahrheit aus.“ (SuB VI/1, 286.) Wir erfahren die Dinge als einzelne in ihrer Diskretion von einem Ganzen. Dieses Ganze trägt den Namen „Gott“. „Der Stein stößt sich in meinem Anblick zu Gott ab. Das ist der logische Weg, auf dem ich ihn als wirklichen Stein erblicken kann. Der Stein in der Natur ist wie eine Schrift, die sich von sich selbst abgestoßen haben muß, wenn ich sie lesen können soll. Das Licht, das ihn zu einem Gesehenwerdenkönnenden macht, ist das Eine, von dem der Stein Moment ist. Ohne dieses Licht sehe ich den Stein nicht in seiner ihm eigenen Wirklichkeit. Dieses Licht ist die Sprache, bevor sie zu einem wissenschaftlichen Gegenstand erhoben und erniedrigt wurde. Es ist die Sprache als das immer daseiende logische Geländer meiner Augen und Ohren wie meines Denkens.“ (A. a.O., 412.)⁴⁴¹ In der Sprache als der Selbstauslegung des Logos in die Unterschiedenheit von Subjektivität und Objektivität, die Hegel den Begriff nennt, „ist das Licht wie
Unterschiede voraussetzen.“ (SuB VI/2, 174.) So ist der Grund der „erste Anker, den die Logik ins Sein wirft“. (A. a.O., 164.) 439 „Die Hegelsche Logik bezieht ihre Farben aus dem ersten Schöpfungswort: ‚Es werde Licht‘, das nicht die Erschaffung des Lichtes in seiner Äußerlichkeit war.“ (A. a.O., 48.) Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen (1813), mit einer Einl. vers. u. hg.v. Jaeschke, Walter, 2. verb. Aufl., Hamburg 1999, 184. 440 Gegen das physikalische Licht (der formalen Logik) „sind Epiphanien wahrgenommene göttliche, wirkliche Aufblitzungen des Lichts.“ (SuB VI/2, 53.) „Epiphanien waren wirkliche Ausblitzungen des Lichts auf der Erde.“ (SuB VII, 37.) 441 Wieder erinnert diese Bestimmung der Sprache an den bereits oft zitierten Johannesprolog. In ihm heißt es vom Logos: Er „war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat‘s nicht ergriffen. […] Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.“ (Joh 1, 4 ff.)
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Gott, der immer in Kontinuität zu uns Menschen steht und doch um die Unendlichkeit der Transzendenz von uns unterschieden bleibt.“ (SuB VI/1, 469.) Wir stehen in der Welt im Licht des Absoluten. Dieses scheint auf uns,wir können nicht aus seinem Lichtkegel treten. „Dieses Licht ist die Entsprechung, die wir immer schon vorausgesetzt haben.“ (SuB VI/3, 593.) Unser logischer Weltumgang ist andauernde Verhältnisbestimmung, die in all ihren Setzungen auf die Entsprechung von Allgemeinem und Besonderem, von Wesen und Existenz, Begriff und Gegenstand als „Anfang“ der Logik vertraut. (Vgl. a. a.O., 629.) Der logische Status der Entsprechung „ist als Wirklichkeit im ersten Satz des Alten Testaments: ‚Gott sprach, es werde Licht.‘ In diesem Satz ist sie als die Kategorie, die unmittelbar zu Gott steht. Der Hinweis auf diesen Satz kann niemals obsolet werden.“ (Ebd.) Entsprechung ist ein anderer Ausdruck für die absolute Identität, wie sie bei Hegel als Begriff des Begriffs bzw. als absolute Idee erscheint, oder auch als Logos, durch den die Welt gemacht ist. (Vgl. Joh 1, 10.) All unsere Lebensformen haben ihren Grund in der absoluten Form. „Eine alte Quelle sagt uns: Gott schuf erst das Licht. Das tat er, bevor er die Sonne schuf […]. Dann machte Gott den Menschen das Kleid des Denkens, wobei das Zerschneiden des Stoffes in ‚verschiedene‘ Teile zugleich das Zusammennähen war. So hat er nicht nur Himmel und Erde gemacht, sondern uns als Bewußt-Sein geschaffen. Dieses Erschaffen des Menschen wie des Kosmos ist in dem ersten Wort mitgeteilt ‚Es werde Licht‘. Gott ist noch nicht als der Begriff ausgesprochen, sondern als der Logos des Grundes. Er steht noch als Substanz hinter dem Wort, was in der Logik erst im Substantialitätsverhältnis hinweggearbeitet wird. Erst im Evangelium des Johannes heißt es: Gott war das Wort. Die Logik gelangt an dieser Stelle zum Widerspruch als dem Grund.“ (SuB VI/2, 146.)⁴⁴² In diesem Zu(m)-Grunde-Gehen wird die Reflexion „langsam erkennen, daß nicht die Reflexion das Licht des Denkens ist, sondern ein Lichtfaden, den sie als Marionette Gottes ergreifen wird, nachdem sie eingesehen hat, daß es nicht nur keine Seinsplanke, sondern auch keine Wesensplanke gibt, an der sich der Mensch als ζωον λογον ɛχον festhalten könnte. Sie wird erkennen, daß die Reflexion nur im Raum von Sprache und Bewußtsein Reflexion ist.“ (A. a.O., 54.)⁴⁴³ 442 „Erst im aeternum des Logos wird der Mensch als nicht mehr nur im Grund existierend nicht mehr konfundiert. Zunächst dagegen ist das Herniedersteigen aus der Engelwelt der formalen Logik in die menschliche Welt der sprachlichen Logik einzuüben, auch wenn der Grund als Abgrund alles logischen Denkens erscheint. […] Der Sturz als Erhebung aus der Reflexionsphilosophie ist das Hineingelangen in den Widerspruch, der darin besteht, daß dieser Sturz zugleich die Erhebung ist.“ (A. a.O., 175.) 443 „Aus Gott als Grund sind keine Deduktionen möglich. Das gehört in den Anfang der Rühmung Gottes.“ (A. a.O., 212.) – Die Einheit des Allgemeinen und des Besonderen liegt nicht in einem p r i n c i p i u m r a t i o n i s s u f f i c i e n t i s , sondern in der absoluten Identität des Begriffs des Begriffs, aus der sich der existierende Begriff empfängt. „Wenn mir das vom praktisch-
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Die logische Dialektik ist Aufhebung von Realismus („Seinsplanken“) und Nominalismus („Wesensplanken“) als Sprache, in der Sein und Idee nie voneinander getrennt sind. Sie können aufgrund dieser Ungetrenntheit in dieser voneinander abstrahiert werden, indem sie aufeinander bezogen bleiben. Diese Unterscheidungen sind Vorgänge des Bewußtseins als eines sprechenden. „Eine Logik von der Sprache her ist dadurch definiert, daß sie nicht von logischen Prozessen außerhalb des Bewußtseins spricht, sondern die Sprache als das bildende Organ des Gedankens ansieht und so die im Kern der formalen Logik sitzende Sprachlichkeit durch diese logischen Untersuchungen ans Licht des Bewußtseins fördert.“ (SuB VI/2, 135.) Was die Philosophie als säkulare Selbstbehauptung benennt, versinnbildlicht das mythische Bewußtsein in den Gestalten „Luzifer“ oder „Prometheus“. Das Licht, das sie bringen, ist die Logik, Kraft derer die Menschen sich die Welt unterwerfen können. Liebrucks umschreibt die Selbstbornierung des Verstandes zumeist mit dem Bilde des „Prometheus“. Aber auch dessen Pendant in der christlichen Überlieferung findet Aufnahme in den Schilderungen der positivierenden Weltbehandlung: „Luzifer“ ist das zur Gestalt geronnene Moment des Bewußtseins, das Hegel das Fürsichsein nennt. Der Himmelssturz des gefallenen Engels ist das mythische Gegenstück zum Fall des Menschen aus der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott. So schreibt Liebrucks dem transzendentallogischen Urteilssubjekt die Rolle „Luzifers“ zu, der nicht die Fackel der Wahrheit durch die Welt trägt, aber mit den Mitteln technischer Weltunterwerfung das Dunkel der andringenden Welt aufhellt.Wo der Blick der Positivierung hinfällt, lichtet sich das Chaos der Unbestimmtheit. Mit diesem „Chaos“ ist aber auch das ausgeschlossen, was den Menschen ausmacht. Liebrucks erinnert seine Leser: „Am Ende des ersten Bandes von ‚Sprache und Bewußtsein‘ habe ich behauptet, die eindeutige Richtung auf Dinge sei die Hinrichtung des Menschen.“ (SuB IV, 500.) Die Selbstbehauptung des Verstandes ist ein notwendig zu entfaltendes Moment des sprachlichen Weltumgangs; „teuflisch“ wird sie erst in der Verweigerung, diesen sprachlichen Weltumgang (anders gesagt: den göttlichen Logos) als nicht wählbares, unhintergehbares Relationsgefüge zur Welt und zu sich selbst anzuerken-
technischen Weltumgang als zufällig (erste Kontingenzerfahrung) erscheinende in der zweiten Kontingenzerfahrung als von Gott Zufallendes erscheint, so kann diese Erfahrung erst im logischen Status des Begriffs als zureichender Grund angesehen werden, da andernfalls der Vorwurf der ignava ratio seinen dem Begriff gegenüber angemaßten Platz behaupten würde. Im Status ‚Grund‘ kann von Gott insofern noch nicht mit logischer Klarheit gesprochen werden, weil Gott dann als irrational vorgestellt und damit philosophisch unerkennbar wäre.“ (Sinnfrage, 288.)
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nen.⁴⁴⁴ In dieser Unhintergehbarkeit und Unumgänglichkeit liegt begründet, daß deren Leugnung den Menschen von der Einsicht in sein wesenhaftes Menschsein fernhält. Der Mensch bleibt, um eine Wendung Tucholskys aufzunehmen, sich selbst unterlegen. Die formale Logik ist „Werkzeug des Teufels“, weil sie Gott und den Menschen trennt, indem sie Gott zu einem bloßen Prinzip macht und den Menschen somit über den Grund seines In-der-Welt-Seins täuscht. Anerkennung des Logos ist Anerkennung des Menschen. Demnach besteht die vermeintliche Autarkie der formalen Logik „darin, daß Luzifer es ablehnt, sich vor dem Menschen zu verbeugen.“ (SuB IV, 590.)⁴⁴⁵ Daß hier das Thema der Freiheit als Marionette lediglich in anderen Bildern durchgespielt wird, ist kaum nötig zu erwähnen. Wenn Gott „das Licht und die Quelle unseres Denkens“ ist, verhält es sich in der Tat so, daß „[d]er Aufgang der Sonne des Absoluten [..] an die Selbstentzündung des Lichtes in uns und durch uns gebunden“ bleibt. (SuB VI/3, 368; SuB V, 336.)⁴⁴⁶ Der subjektive Geist empfängt seine Selbsttätigkeit aus dem Absoluten. Im logischen Status der Reflexion aber stehen „das Bewußt-Sein und das Licht der Sprache noch logisch schweigend im Hintergrund [..], obwohl das Licht leuchtet und wir uns dauernd der Sprache bedienen.“ (SuB VI/2, 48.) Sich des Logos bedienen zu können, läßt das Selbstbewußtsein dem Irrtum verfallen, sich in der technischen Welteroberung selbst als „Lichtbringer“ zu wähnen. (SuB III, 42.) In ihr stellt er sich aber unter selbstgegebene Gesetze und macht sich somit von seinem eigenen Werkzeug abhängig. Das ist das Diabolische der formalen Logik: Sie wirft – wortwörtlich verstanden – das Verhältnis von Freiheit und Abhängigkeit durcheinander. Das luziferische Bewußtsein begreift sich als frei gegenüber Gott und macht sich dabei abhängig von Setzungen, über die es frei verfügen sollte. Es leugnet seine Abhängigkeit von Gott, in welcher es allein frei ist. Seine Selbstbehauptung führt den Menschen paradoxerweise von sich weg. „Luzifer geht nicht zum Menschen. Er bleibt formaler Logiker. Erst das Herniederfahren Gottes in den menschlichen Leib ist das mythologische Bild dafür, daß der
444 Die Ersetzung des Göttlichen und damit auch des Menschlichen durch ein Einheitspostulat ist das „luziferische Vorgehen, das sich die Hände nicht beschmutzt, ja das einen Begriff errichtet hat, der um seiner Reinheit und Nichtwidersprüchlichkeit willen toto coelo von aller Wirklichkeit getrennt bleiben muß.“ (SuB V, 331.) 445 Vgl. SuB III, 42: „Luzifer verschmäht es heute noch, sich vor dem Menschen zu verbeugen.“ 446 Tatsächlich kann Liebrucks auch davon sprechen, daß „Gott seine Zwecke auf dem Umweg über die Freiheit des Menschen erreicht […].“ (SuB VI/3, 594; vgl. 532; 568.) Das bedeutet aber genau besehen, den Menschen gerade nicht zu instrumentalisieren: Gott erreicht seine Zwecke nicht darin, den Menschen zu seinem Knecht zu machen, sondern ihn frei sein zu lassen. Das Absolute bringt sich im Menschen als die Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit zur Geltung.
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menschliche Gedanke erst derjenige ist, der als dialektischer Begriff schon von Haus aus bei der Welt ist. Dem Christen mag das atheistisch erscheinen, dem formalen Logiker unserer Tage als mythologisches Geschwätz. Beide offenbaren darin, daß sie sich in bestimmten Momenten des menschlichen Denkens eingehaust haben, die nicht schon das menschliche Denken sind.“ (SuB V, 284.) Die Wahrheit des Menschen ist seine Partizipation an der Wahrheit des Absoluten. Dem formalen Logiker sei gesagt, daß der Mensch als Ich sprachlicher Weltumgang ist, kein durchgängig bestimmtes Prinzip, „unter dem als Sonne seines Erkenntnistages die große Elementarisierung der Welt, heute seiner selbst, stattfindet.“ (SuB VI/2, 426.) Er ist dialektischer, existierender Begriff, d. i. die wirkliche Einheit von Sein und Wesen, die in ihm zugleich in Widerspruch stehen. Er ist die Identität, die ihren Widerspruch aushält und sich erst von sich entfernt, wenn er versucht, diese Widersprüchlichkeit durch eine eindeutige Selbstbestimmung zu ersetzen: Das Humanum ist kein Abstraktum. Es verwirklicht sich in jedem einzelnen Menschen, wie er „schon von Haus aus bei der Welt ist“. Dem Christen sei gesagt, daß Gott somit nicht vermenschlicht werde. Als das Absolute bleibt er bei seinem anderen bei sich selbst. „Gott sitzt nicht im Detail, sondern im Diesen-da.“ (SuB V, 357.)⁴⁴⁷ Der absolute Geist denkt sich im subjektiven Geist, diesem Individuum da, selbst. Er ist das Allgemeine, das all seine Konkretionen an sich hat. Das Ganze ist das Wahre. Im Detail sitzt der Teufel. „Das Detail ist das entfremdete Dieses-da, das einem entfremdeten Gott entspricht.“ (SuB V, 357.) Als Detail gehört es aber dennoch zum Ganzen, von dem es sich entfremdet. „Luzifer“ fällt von Gott ab, d. h. er gehört eigentlich zu ihm. Im Fürsichsein blickt der Mensch aber nur auf sich in der Furcht davor, beim Anheben des Blicks zu Gott sich selbst aus den Augen zu verlieren. Doch das Fürsichsein ist ein Moment des Bewußt-Seins als Anundfürsichsein. Allein weil es dessen Moment bleibt, kann es als Entfremdung vom Eigentlichen erkannt werden. Daß es seinen Momentstatus nicht ablegen kann, bedeutet auch, daß es immer darauf hoffen darf, versöhnt zu werden. Als Moment des Absoluten ist der Mensch immer schon ein Moment der Genese der Wahrheit. Darum erkennt der Mensch sein Menschsein nur in Gott. „Die formale Logik gibt nicht das erste, sondern das zweite Licht.“ (Denken, 190.)⁴⁴⁸ Dieses zweite Licht, in welchem die Dinge als gegenständliche erscheinen, ist „[d]as platonische Licht in der Höhle“, d. i. „das Licht der formalen Logik, das Feuer, das wir selbst angezündet haben. Der Begriff, der als Mensch in die Höhle gelangt, bringt das logische Licht der Sonne mit. Die an das Feuer der Höhle 447 Vgl. SuB III, 461: „Das Absolute, das wahre Unendliche steckt im Diesen, nicht jenseits seiner. Gott sitzt im lebendigen Detail.“ 448 In seiner philosophischen Selbstdarstellung verwendet Liebrucks häufig die Metapher des Lichts oder des Leuchtens. (Vgl. Denken, 190; 192.)
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gewöhnten werden geblendet. So scheint die Verblendung von der Sonne des Begriffs zu stammen. Der in die Höhle Hinabsteigende muß sich nicht, wie bei Plato, erst an das Dunkel gewöhnen.“ (SuB VI/3, 251.) Die Höhle ist Sinnbild für das Endliche, das Umgrenzte. Im Gegensatz zu Platons Gleichnis müssen sich die Augen des in die Höhle tretenden Menschen nicht an die Dunkelheit gewöhnen, denn der in ihr flackernde Feuerschein kann ihn nicht blenden: Das zweite Licht brennt nicht heller als das erste. Die Höhlenbewohner aber, die sich in der zubereiteten Welt des Abglanzes eingehaust haben, werden von dem zu ihnen in die Höhle Tretenden geblendet. Hier weicht Liebrucks wiederum von Platon ab: Der in die Höhle Hinabsteigende wird nicht aufgrund seines Berichtes von der Außenwelt verlacht; er selbst ist es, der die Höhlenbewohner blendet, denn er hat das logische Licht des Unendlichen an sich. Dieses ist nichts ihm Äußerliches, er selbst ist endliches Moment des unendlichen Geistes. Als solcher ist er sein eigener Begriff, während die Schattenspiele des formallogischen Feuers an der Höhlenwand Begriffe und Gegenstände voneinander trennen. Der in die Höhle Tretende kennt die Lichtquellen seines Weltumgangs, d. h. er vermag sein eigenes Denken zu denken. Die festgebundenen Höhlenbewohner, die sich nicht zum Sonnenlicht wenden können, sehen niemals auf sich selbst. Ihre Blickrichtung ist fixiert: Subjekte sehen auf Objekte. Sie sehen sich nicht gleichzeitig im Licht des Absoluten. Doch „[d]er Mensch hat die Spontaneität seines Erkennens nur durch die wirkliche Berührung des göttlichen Strahls, der von Haus aus bei uns ist. […] In jeder Erkenntnis ist das Dasein des göttlichen Strahls vorausgesetzt. Aber es ist sofort zu begreifen, daß das nichts mit Ontologie zu tun hat. Denn der göttliche Strahl hat seine Existenz nicht als absolute Position. Die Metapher, unter der er angeschaut wurde, war immer noch das Licht.“ (SuB V, 326.) Der Lichtstrahl berührt den Menschen wie der von Michelangelo gemalte Finger Gottes Adam „nichtberührend berührt“. (SuB VI/3, 550.) Der Mensch ist nur sichtbar im Licht des Logos und wirft doch seinen eigenen Schatten. Der Mensch strahlt, weil er angestrahlt wird vom göttlichen Licht. Diese Berührung ist wirklich, kein Prinzip, sondern der sich vollziehende Logos, an dem der Mensch als ζωον λογον ɛχον partizipiert. Gott sprach „Es werde Licht!“, bevor er den Menschen schuf, weiß der Mythos: Keinen Augenblick des Lebens steht der Mensch im logischen Dunkel. Sein Welterleben ist ein Miterleben des Absoluten. Das sich noch nicht selbstbehauptende Bewußtsein der „träumenden Unschuld“ erlebt die Welt in solcher s y m p a t h e i a , die es logisch wiederzugewinnen gilt. „Das im sympathetischen Weltbild die Leiden eines Gottes mitleidende, d. h. Wirklichkeit erfahrende Tun und Leiden eines Menschen ist innerhalb einer solchen Weltbegegnung nur eine der beleuchteten Spitzen. Es sind aber Spitzen, die ihr eigenes Licht, nämlich den Begriff, in sich haben. Diese sind nicht spontan frei, was nur die erste Abstraktion der Freiheit ist, sondern im Verhältnis zu ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umgebung.“
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(SuB VI/2, 405.) Das hier verwendete Bild erinnert an Galileis Beschreibung der Lichtstreuung im Phasenwechsel der Planeten. Dafür spricht die Brechung dieses Bildes durch das den zweiten Satz einleitende „aber“: Die Bergspitzen, von denen der italienische Astronom spricht, werden vom Licht der Sonne angestrahlt. Liebrucks aber läßt die „Spitzen“ aktiv strahlen: Sie lassen das Licht leuchten. Sie sind als „Spitzen“ jeweils ein Moment des Ganzen. Ihr Leuchten zeigt, daß ihr Begriff nicht von außen an sie angelegt werden kann; vielmehr haben sie ihn an sich. Sie müssen ihn aber zum Leuchten bringen.
D. Kleider machen Menschen: Sprache als sichtbarmachende Verhüllung Das Entlassen des Menschen aus dem Status der Unschuld, die für das noch nicht aufgegangene Selbstbewußtsein steht, geschieht in göttlicher Fürsorge. Gott, der durch den Garten Eden wandelt und die Nacktheit der sich verbergenden Menschen sieht, macht ihnen Kleider. Auch diese Episode des Paradiesmythos‘ wird von Liebrucks sprachphilosophisch gelesen. Auffälliger noch als in anderen Passagen seines Werkes ist die Fülle an bildhaften Ausdrücken, in welcher Liebrucks in der Auseinandersetzung mit dem genannten biblischen Motiv geradezu schwelgt. Obgleich er die Auffassung vertritt, mythische Redeweise gelange erst über die philosophische Erörterung ihrer Inhalte zu ihrem eigentlichen Erkenntniswert⁴⁴⁹, ist es ein Charakteristikum seiner Texte, daß in der sprachlogischen Deutung mythischer Bilder die Ebene des Metaphorischen nie gänzlich verlassen wird. Der vorliegende Abschnitt gibt ein typisches Beispiel für dieses methodische Vorgehen, das meines Erachtens die Konsequenz der materialen These von der Unhintergehbarkeit der Sprache als Weltumgang bildet. Demzufolge erscheint die Sprache, das zentrale Philosophem in Liebrucks’ Werk, im Sinne Blumenbergs als absolute Metapher⁴⁵⁰. Eine in diesem Sinne aufgefaßte metaphorische Ausdrucksweise indiziert mehrdimensionale Bedeutungskontexte durch Aufhebung der strikten Entgegensetzung einer
449 Vgl. hierzu die Erläuterung des Mythos-Verständnisses bei Liebrucks im ersten Teil des vorliegenden Buches. 450 Darunter sei eine Metapher verstanden, die sich gegenüber ihrem Sachbezug verselbständigt hat und selbst einzig durch weitere Metaphern zu erläutern, nicht aber in einen reinen Sachtext aufzulösen ist. (Vgl. Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998, 10 ff.) Vgl. SuB VI/2, 195: „Die Sprache […] bleibt metaphorisches metapherein. Sie behält die Farben und die Formen der Seienden aufgehoben in sich.“ Sie ist in all ihrer Verwirklichung zugleich das Unübertragbare.
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Wirklichkeits- und einer Vorstellungsebene. Im Verzicht auf eine eindeutige Zeichenbeziehung an die Stelle des Vergleichs tretend, der sich in ihr vollzieht, gibt sie als unablässig erfolgende „Übertragung“ von Bedeutung der Unabgeschlossenheit logischer Beziehungen und Identitäten Gestalt. Nicht nur, aber vornehmlich in der metaphorischen Rede gerät die formale Darstellung der sprachphilosophischen Thesen zu deren Applikation, da sie den logischen Zirkel illustriert, in dem sich der Sprachphilosoph befindet – indem er über Sprache reflektiert, spricht er immer schon. Die von ihm gebrauchten Bilder übernimmt Liebrucks aus der geistesgeschichtlichen Überlieferung und besetzt sie im Duktus der von ihm entwickelten Sprachphilosophie inhaltlich um. In bezug auf den vorliegenden Kontext läßt sich dies wie folgt zusammenfassen: Den Ausgangspunkt für seine philosophische Reflexion findet Liebrucks im sogenannten jahwistischen Schöpfungsbericht. Der dort verzeichnete Vers Genesis 3, 21 dient als Anstoß für eine philosophische Besinnung auf das Motiv der Sprache als „Kleid“. In der Bibel heißt es: „Und Gott der HERR machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.“ Liebrucks wendet dieses Motiv wie folgt: Das Kleid, das Gott dem Menschen anzieht, ist das Kleid der Seele, die Liebrucks mit dem sprachlichen Weltumgang gleichsetzt. Man mag sich zunächst an einen bereits in der Antike geprägten Topos erinnert fühlen, der Sprache als „Kleid des Gedankens“ vorstellt, als Übertragungsinstrument, das man vom erscheinenden Ding zu subtrahieren hat, möchte man zum Ding an sich gelangen.⁴⁵¹ Dagegen will Liebrucks darauf hinaus, daß Sprache sowohl den Aspekt der Verhüllung als auch den Aspekt der Enthüllung in sich trägt. Im Ausdruck und im Vorgang „Bekleiden“ entdeckt Liebrucks das Zusammenspiel von Stofflichkeit und Bedeutsamkeit, Sinnlichkeit und Geistigkeit, Verfremdung und Inszenierung, somit aber ein Motiv, das die Sprache selbst umschreibt.
I. Das Kleid der Seele Die Seele ist nicht etwas Ursprüngliches, denn sie verursacht sich nicht selbst. Im Mythos erscheint sie als durch „das göttliche Wort der Liebe“ dem Menschen als der Geliebten angezogene Kleid, „das ihr am schönsten steht“, weil es das Wesen dieser Geliebten sichtbar macht. (SuB II, 140.) Zugesprochen durch das „göttliche 451 Vgl. Figge, Udo Ludwig, Sprache dient zum Ausdruck von Gedanken. Zur Geschichte einer Formulierung, in: Baum, Richard u. a. (Hgg.), Lingua et traditio. Geschichte der Sprachwissenschaft und der neueren Philologien. Festschrift für Hans Helmut Christmann zum 65. Geburtstag, Tübingen 1994, 651– 665, bes. 659.
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Wort der Liebe“ ist die Seele weder Eigenschaft noch Bestandteil des Menschen. Die Seele ist „Bezüglichkeit“ des Menschen: zu seinen Mitmenschen, zu Gott. (Vgl. SuB III, 302 f.; SuB I, 298.) Daher ist der Mensch in seiner Seele, nicht die Seele in ihm. (Vgl. SuB IV, 188.) Im Umschreiben der Seele als Kleid ist angezeigt, daß diese nicht als etwas rein Geistiges verstanden wird; vielmehr drängt sie als Einheit von Sinn und Sinnlichkeit zur geschichtlichen Konkretion.⁴⁵² „Die Seele […] ist leiblich.“ (SuB VI/3, 477.)⁴⁵³ Der Begriff „Seele“ beschreibt den Menschen als das in Relationen stehende Wesen. So betont Liebrucks, daß „wir die Seele des Menschen nur in seinem Äußeren haben, daß Ich nur erfahrbar ist, solange es sinnvolle Sätze spricht und darin von anderem Ich anerkannt ist […].“ (SuB VI/2, 312.) Die Seele ist „der Weltumgang und der Umgang mit dem Menschen. Sie konstituiert sich immer nur in der Subjekt-Subjekt-Objekt-[R]elation.“ (SuB VI/3, 503.)⁴⁵⁴ Diese Relation – das kann aufgrund vorangegangener Ausführungen als schlichte Aussage getroffen werden – vollzieht sich als Sprache, als Logos. Die Formulierung, daß sich die Seele im Dialog mit anderen „beseelten“ Subjekten konstituiere, umschreibt die Seele als die identitätsstiftende Einheit des Subjekts. Jedoch hat sich im vorangegangenen Hauptteil dieser Arbeit die Einsicht erschlossen, daß diese Selbstbehauptung des Subjekts auf einer von ihm nicht einzuholenden Faktizität beruht: Es findet sich immer schon sprechend vor. „Ich schneidert sich seine Objektivität nicht selbst zu, sondern hat den Logos selbst zum Schneider, der […] uns unser wirkliches logisch-menschliches Kleid geschneidert hat.“ (SuB VI/3, 589.) Es ist das von Liebrucks als Sprache bestimmte Werden des „Gott“ genannten Absoluten, aus dem sich die Identität des Subjekts ergibt. Jeder sprachliche Ausdruck ist eine Verhältnisbestimmung von Allgemeinem und Besonderem. Je452 Das Wesen der Seele „offenbart sich gerade in der Einheit von Sinnlichkeit und Sinn, durch die jedes Wort ausgezeichnet ist.“ (SuB I, 297.) 453 Der Leib erscheint dabei nicht als Gefäß der Seele, Liebrucks beschreibt Leiblichkeit vielmehr als Prädikat der Seele, als ein Moment der Veräußerlichung, Hingabe an die Objektivität. Als ihr Moment ist die Leiblichkeit die Veräußerlichung der Seele, der Eintritt in die SubjektSubjekt-Objekt-Beziehung des sprachlichen Austauschs von Individuen, in dem sie sich am anderen Individuum als ein eben solches erkennen. So begriffen ist der Leib des Menschen konstitutiv für seine Individualität. (Vgl. ebd.) 454 Diese Verwendung des Ausdrucks „Seele“ legt nahe, ihn als vorphilosophisches Pendant zum Begriff des Bewußt-Seins zu verstehen. Die Gleichsetzung ist begründet, sofern sie im Horizont der hegelschen Philosophie erfolgt. (Vgl. SuB VII, 63.) Für Hegel ist die Seele nur eine logische Form neben anderen, in welcher die Idee, d. i. der Logos oder Begriff schlechthin, betrachtet werden kann: „Die Idee kann als Seele, Bewußtsein, und schließlich als Geist auftreten.“ (A. a.O., 506.) Keine logische Form kann es geben, die nicht Vollzug der Idee resp. des Logos ist. Der Logos begegnet jedoch in mannigfaltiger Gestalt, so in der mythischen Dimension des Lebens des Geistes als die Seele des Menschen, von der gesagt ist, sie sei „sein wahres Kleid.“ (SuB II, 139.)
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der Begriff ist Vollzug dieser Verhältnisbestimmung, auch der Mensch als existierender Begriff. Alles Sprechen verkündet somit den Logos als den absoluten Begriff: „Mit diesem Begriff ist [..] alles Einzelne ‚bekleidet‘ […].“ (SuB VI/3, 367.) Der Weltumgang des Menschen ist ein andauerndes „Neuschaffen seiner [d. i. Gottes, S. L.] Verkündigung in Natur, Geschichte und Wort“. (SuB I, 326.) Da aber alles, was der Mensch von Gott sagen kann, in bezug auf die menschliche Existenz ausgesagt ist, spricht der Mensch mit jedem seiner Worte nicht nur das Absolute, sondern auch sein menschliches Ich aus. Er enthüllt sich in der Verhüllung durch das Sprachkleid.⁴⁵⁵ Die Menschwerdung Gottes ist die Menschwerdung des Menschen. (Vgl. Rede, 332.) Was Gott und was der Mensch sei, ist folglich nicht unabhängig voneinander zu beantworten. „Das Begreifen Gottes ist ein Moment innerhalb des Menschen als sprachlichen und begrifflichen Wesens. Aber er begreift Gott nicht als von Gott emanzipiertes Wesen, sondern soweit, als er als Begriff mit Gott in jener Identität steht, die die Momente des Unterschieds und der Verschiedenheit in sich selbst hat.“ (SuB VI/2, 129.) Die von Liebrucks beschriebene Identität und Nicht-Identität Gottes und des Menschen im Logos ist meines Erachtens theologisch als Gottesebenbildlichkeit des Menschen zu übersetzen – die i m a g o D e i besteht in der Sprachlichkeit des Menschen. (Vgl. SuB I, 296.) Das Theorem einer begrenzten Freiheit des Menschen als Marionette Gottes läßt sich somit reformulieren: Ist der Mensch niemals mit Gott identisch, so ist er doch wesenhaft menschlich nur als Ebenbild Gottes. Ebenbild Gottes ist der Mensch, sofern sich Gott zum Ebenbild des Menschen macht. Das Einhüllen des Menschen in seine Seele ist die göttliche Tat der Sprache, die dem Menschen Ebenbildlichkeit mit seinem Schöpfer verleiht. Die Gabe des Logos macht den Menschen zum ζωον λογον ɛχον. Als solches bewegt sich der Mensch in der Welt kraft der Gabe des Geistes, des Geschenks Gottes an ihn, das er nicht verweigern kann. Selbst das Versagen an dieser Gabe ist deren Äußerung. Im Bild gesprochen: Zwar kann der Mensch das Kleid, das Gott ihm schneidert, nicht ablegen; er entscheidet jedoch, wie er es trägt. In diesem Sinne ist die Seele die Verhüllung des Menschen, in welcher er als solcher sichtbar wird.
455 Im absoluten Begriff spricht sich der Mensch als existierender Begriff aus. Der Begriff ist daher „das Kleid, das Gott den ersten Menschen so geschneidert hat, daß der Mensch sich selbst als Schneider seines Begriffsblicks ansieht. Die Hülle des Allgemeinen, die die Sprache bei sich führt, ist eine Hülle, die durch Bekleidung enthüllt.“ (SuB VI/3, 214.)
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II. Die Unerträglichkeit des Unverhüllten Gottesebenbildlichkeit ist somit nicht als Eigenschaft des Menschen bestimmt, sondern als perpetuierendes Wechselspiel von Verhüllung und Enthüllung, das der Mensch erfährt und selbst beherrscht. Die Reziprozität von Verhüllung und Enthüllung verwirklicht sich in der Sprache als „Organ“ des Geistes (Humboldt). Der Mensch wird im Tragen des Sprachkleides sichtbar, indem er seinerseits die andringende Wirklichkeit unter ihr jeweils zugewiesenen Gestalten begegnen läßt. Er erspricht sich eine Welt. So kann unter dem Blick der Wissenschaft die Natur als Dasein unter Gesetzen erscheinen oder aber in ästhetischer Anschauung das offenbaren, was Liebrucks in Anlehnung an Stifter ihr „Antlitz“ nennt. Zugleich wird das Sprachkleid, das der Mensch den Dingen überwirft, von diesen ausgefüllt, sie zeichnen sich selbst unter dieser Verkleidung ab. Die Verhüllung durch das Kleid der sprachlichen Vermittlung verleiht Konturen und ist dabei sowohl Kontakt als auch Grenze zur Wirklichkeit, sie läßt die andringende Welt p r o m e zugänglich werden und bewahrt zudem das An-sich des Anderen.⁴⁵⁶ Erneut deutet Liebrucks also eine mythologische Dichtung auf die von Humboldt bezeichnete Dialektik von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Diese charakterisiert in veränderlicher Balance, aber unzertrennbarer Wechselhaftigkeit das In-der-Welt-Sein des Menschen. Im vorliegenden Zusammenhang erscheint diese Denkfigur als unaufhebbares Wechselspiel von Verhüllung und Enthüllung, eine Behauptung, mit der sich Liebrucks zum wiederholten Male gegen Kants Separation von Empirie und Spekulation ausspricht. Für Kant bleibt die Welt der sinnlich erfahrbaren Erscheinungen, d. i. die verhüllte Welt, getrennt von den Dingen in ihrer „Nacktheit“, dem Ansichsein. Liebrucks dagegen behauptet die Sichtbarkeit des Nackten allein in der Verhüllung. Verhüllung ist demnach nichts Uneigentliches. Wird „Verhüllung“ nicht ausschließlich als Verbergung eines eigentlichen Wesens gedeutet, sollte ebenso deren begriffliches Gegenstück, die „Nacktheit“, auf eine Bedeutungsverschiebung hin befragt werden. Als Metapher hat „Nacktheit“ eine lange Rezeptionsgeschichte. Für gewöhnlich wurde sie in der Zuordnung „Nacktheit der Wahrheit“ gegen eine „Verkleidung der Wahrheit“ ausgespielt. Hans Blumenberg hat die „Nacktheit“ der Wahrheit als absolute Metapher bestimmt und eine kritische Hinterfragung dieses Sprachbildes vorgelegt, die dessen Verwendung bei Liebrucks erhellen mag.⁴⁵⁷ Während die „Verkleidung“
456 „Die Sprache […] vergewaltigt nicht, weil in ihr jede Enthüllung als neues zugleich verhüllendes Kleid erscheint.“ (SuB VI/3, 214.) 457 Jedoch ist zu bedenken, daß nach Stoellger die Vorstellung dieser Metapher bei Blumenberg der Eröffnung eines kulturhermeneutischen Horizonts seiner Metaphorologie dient. Eine entsprechende kulturhermeneutische Zuspitzung seiner Ausführungen zur Metapher der „Nackt-
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der Wahrheit von Kulturkritikern wie Rousseau als zu überwindende Ablenkung von der Wirklichkeit gebrandmarkt wurde⁴⁵⁸, hinterfragt Blumenberg eine unmittelbare Wahrheit als „unverträglich“⁴⁵⁹ für den Menschen, das „sich bekleidende Wesen“⁴⁶⁰. Der Vorbehalt gegen die Möglichkeit einer unmittelbaren Zugänglichkeit von Wahrheit wird Blumenberg zufolge von der modernen Kulturtheorie ausgebaut. Philipp Stoellger faßt Blumenbergs Beobachtung folgendermaßen zusammen: „Das Wie der Wahrheit wird wesentlich, und ihre kontingente Ausdrucksgestalt gehört wesentlich zu ihr, ist also keine bloß subjektive, private oder äußerliche Zutat.“⁴⁶¹ In der Welt des Menschen gibt es keine Kontravalenz zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Blumenberg spitzt diesen Gedanken auf eine Aussage zu, auf die auch Liebrucks’ Darlegungen zusteuern: „[D]ie Verhülltheit der Wahrheit scheint uns unser Lebenkönnen zu gewähren“.⁴⁶² An dieser Stelle sei an das Alte Testament erinnert, in dem bereits die Einsicht ausgesprochen ist, daß der Mensch eine direkte Begegnung mit Gott nicht aushält: Wer Gott sieht, stirbt.⁴⁶³ So bleibt zum Wohle des Menschen diesem das Angesicht Gottes verborgen. Der Verdacht liegt nahe, daß desgleichen der „nackte“ Mensch (das entspräche bei Liebrucks meinem Verständnis nach dem „göttlichen“ Menschen) für den Menschen „unerträglich“ wäre. Den h o m o n u d u s hält wohl nur Gott aus. Theologisch wird die Unmöglichkeit einer Konfrontation des D e u s n u d u s mit dem h o m o n u d u s von Luther reflektiert.⁴⁶⁴ „Die nackte Unmittelbarkeit kennzeichnet den äußersten Gegensatz zu dem einzigen, was eine Begegnung von Gott und Mensch nicht bloß erträglich macht, sondern den Inbegriff der Seligkeit
heit“ kann man Liebrucks eher nicht unterstellen. Vgl. Stoellger, Philipp, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen 2000, 148. 458 Vgl. Blumenberg, PM, 64 f. 459 A. a.O., 62. 460 Ebd. 461 Stoellger, Metapher, 150. 462 Blumenberg, PM, 73. 463 In Ex 33,20 etwa spricht Gott zu Mose: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Es sei allerdings nicht verschwiegen, daß die biblische Überlieferung auch Ausnahmen kennt. Gottes Angesicht zu schauen und dennoch zu überleben, zeichnet einen Menschen als erwählt und gottesfürchtig aus, vgl. Gen 32, 31; Ri 622 f.; 13, 22 f.; Jes 6, 5; I Tim 6, 16. 464 Vgl. WA 40/2, 329, 9 – 330, 2 (Enarr. Ps 51 [1532]).
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werden läßt: Wort und Glaube. Der Deus in maiestate sua ist uns völlig verborgen, darum aber auch vernichtend für den, der sich ihm zu nähern sucht.“⁴⁶⁵ Die „Fürchterlichkeit“ der Konfrontation mit dem D e u s n u d u s besteht darin, daß in ihm der Mensch sein Menschsein entdeckt. Dieses erscheint angesichts der überwältigenden Herrlichkeit Gottes „nackt“ sowohl im Sinne von „eigentlich“ als auch im Sinne der Einsehbarkeit der totalen Verlorenheit. „Wer freilich der Wirklichkeit dieses nackten Gottes begegnet, […] der wird seinerseits zum homo nudus, ist in seiner Nichtigkeit schutzlos der Übermacht Gottes ausgeliefert. Hingegen wird der Deus incarnatus und crucifixus als die Offenbarung der äußersten Liebe Gottes erfahren. Aber eben dies wird nur dem Glauben zuteil, der unter der Gegensätzlichkeit der Gestalt des Gekreuzigten den Anblick der Gnade wahrnimmt.“⁴⁶⁶
Im verkündigenden Wort erscheint Gott als D e u s p r a e d i c a t u s in einer Vermittlungsdistanz, welche die Macht Gottes nicht als schreckeinflößende Übermacht, sondern als Liebe erfahren läßt.⁴⁶⁷ Die Intervention des Wortes ermöglicht es dem Menschen, sich die Selbstoffenbarung Gottes anzueignen, anstatt vor ihr zu erstarren. Der D e u s n u d u s ist „[…] der wortlose und darum sprachlos machende Gott.“⁴⁶⁸ Im Wort Gottes, dem Logos, dagegen finden Gott und Mensch zueinander, ohne den anderen oder sich selbst preiszugeben. Dieses Wort Gottes gewinnt Gestalt in Jesus Christus, von der christlichen Gemeinde bekannt als wahrer Mensch und wahrer Gott. Christi Mittlerfunktion macht zugleich deutlich, daß Wort Gottes und Gott nicht identisch sind. Im Wort Gottes ist Gott zugleich offenbar und verborgen, enthüllt und verhüllt. „Durch dieses Unterscheiden [zwischen Gott und Wort Gottes, S. L.] gibt der Glaube dem Gottsein Gottes Raum.“⁴⁶⁹ Die Vermittlungsdistanz – hier kehre ich zu Liebrucks’ Ausführungen zurück – gibt ebenso dem Menschsein statt, für das in Mythos und Religion der Ausdruck „Seele“ steht. Seine Seele aber kommt dem Menschen von außen entgegen. (Vgl. SuB III, 319.) Die Selbständigkeit des Menschen erweist sich als nicht selbstverursacht, sondern als stets bezogen auf einen Ermöglichungsgrund, der zugleich ihre Grenze ist. Die Besinnung auf die Bedingtheit des eigenen Seins
465 Ebeling, Gerhard, Lutherstudien, Bd. II: Disputatio de homine, 3. Teil: Die theologische Definition des Menschen: Kommentar zu These 20 – 40, Tübingen 1989, 564. 466 Ebeling, Gerhard, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I: Prolegomena, Teil 1: Der Glaube an Gott, 3. durchges. Aufl., Tübingen 1987, 256. 467 Luther beschreibt in der Differenzierung zwischen D e u s n u d u s und D e u s p r a e d i c a t u s zwei Aspekte des D e u s a b s c o n d i t u s : zum einen die dem Menschen entzogene Unmittelbarkeit Gottes, zum anderen die Präsenz Gottes in der Hindeutung auf ihn im Verkündigungswort. 468 Ebeling, Lutherstudien II/3, 564 f. 469 A. a.O., 565.
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bezeichnet Liebrucks als ein „Herabsinken der Selbständigkeit“ des sich bewußten und handelnden Menschen. Doch „[d]as Herabsinken der Selbständigkeit ist nicht Verflüchtigung der Existenz des Menschen, sondern Verflüchtigung der Positivität. Die Befreiung von ihr führt die Individuen in einen Raum, in dem sie sich so finden, wie Gott sie gewollt hat.“ (A. a.O., 169.) Liegt die Menschlichkeit in der Göttlichkeit des Menschen begründet, wird folglich die Erkenntnis der Menschlichkeit in der Erkenntnis Gottes gewonnen.⁴⁷⁰ „Erst die Religion, die ‚eins mit der Liebe‘ ist, ist ganz der Positivität entronnen. In ihr herrscht eine Subjektobjektivität, die vorerst noch nicht begriffen, aber so beschrieben wird, daß weder das Subjektive noch das Objektive vorherrscht.“ (SuB III, 143.) Religion steht bei Liebrucks für eine Entwicklungsstufe des Bewußtseins, in der dieses den Weg zu sich selbst als Bewußt-Sein antritt. Sie ist der noch nicht in logische Kategorien überführte Sinn für „Welt“ als einen Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhang, der all seine Teile als zueinander in Relationen stehende in sich enthält, und das dementsprechend notwendige Mißlingen des Versuchs, sich allein aus sich selbst verstehen zu wollen. Das religiöse Selbstverständnis speist sich aus der Beziehung zu einem zugleich verwandten und doch entzogenen Anderen.⁴⁷¹ Während der Versuch der Selbstbegründung des Subjekts als abstrakte Innerlichkeit dem dogmatischen Terminus der „Selbstrechtfertigung“⁴⁷² inhaltlich nahesteht, be470 „Wir können hinzufügen, daß in dem Absinken aus den Verhärtungen des jeweiligen Ich, im Absinken in Zustände, in denen wir von außen dann als Marionetten eines Gottes beschrieben werden mögen, das Beste, liegt, was der Mensch erreichen kann.“ (SuB I, 310.) Denn „Selbsterkenntnis ist ohne Erkenntnis Gottes nicht möglich […].“ (A. a.O., 303.) 471 Hier eröffnet sich eine Parallele zu Schleiermachers Theorie des religiösen Selbstbewußtseins. Grundlage dieses Entwurfs ist die Erfahrung des menschlichen Subjekts, das sein In-derWelt-Sein als sich in der Dialektik von Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl bewegend begreift (vgl. CG2, § 4), die auch Schleiermacher unter Verwendung des Begriffspaares „Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit“ beschreibt. (Vgl. CG2, 24 u. ö.) Das Gefühl des „Sichselbstnichtsogesetzthaben[s]“ (CG2, 24) ist „schlechthinnig“, sofern es nicht Resultat einer Einwirkung ist und der Mensch keine Gegenwirkung auszuüben vermag. Dieses „Irgendwohergetroffensein“ (CG2, 25) ist als unbeeinflußbares kein Teil der Welt. Es verweist auf ein „in diesem Selbstbewußtsein mitgesetzte[s] Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins“, für das Religion den Ausdruck „Gott“ findet. (A. a.O., 28.) Der in der unmittelbaren Reflexion des religiösen Bewußtseins gebrauchte Ausdruck „Gott“ ist folglich Artikulation des Selbstgefühls des Menschen, der sein Weltverhältnis als durch begrenzte Freiheit bestimmt erfährt. (Vgl. CG2, 29 f.) 472 Unter dem Ausdruck „Selbstrechtfertigung“ sei die Haltung des Subjekts verstanden, das seine Selbstvollendung in der Kontrollfunktion als Handlungs- und Urteilssubjekt zu erblicken glaubt. Die Auseinandersetzung mit der Haltung der Selbstrechtfertigung hat ihre theologische Heimat in der Soteriologie. Sofern diese die Möglichkeit einer individuellen Existenz als selbsterwirkter Errungenschaft bestreitet, wird Selbstrechtfertigung als das Sich-Verfehlen in der Gottesvergessenheit des geschöpflichen Subjekts gewertet, das sich in der falschen s e c u r i t a s wähnt, die Bedingungen zur Möglichkeit des Gelingens seiner Existenz lägen allein in seiner
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gegnet das letztgenannte Selbstbegreifen in der (theo‐)logischen Figur der Anerkennung, die bei Liebrucks ebenfalls unter den Bezeichnungen „Beim-Anderen-
Hand. Die Ablehnung solcher Selbstgerechtigkeit des Menschen ist der Kern der reformatorischen Theologie. Die maßgebliche Verwerfung der Selbstrechtfertigung formuliert Luther. Die Essenz seiner Rechtfertigungstheologie findet sich in CA IV, wo es von der Rechtfertigung heißt, „quod homines non possint iustificari coram Deo propriis viribus, meritis aut operibus, sed gratis iustificentur propter Christum per fidem.“ (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 56.) Gegenwärtig findet die Reflexion der sich in Selbstüberhebung äußernden Krise des Selbstbewußtseins insbesondere in schöpfungsethischen oder kulturtheologischen Debatten Aufnahme. So thematisiert beispielsweise Christof Gestrich die als „Selbstrechtfertigung“ bezeichnete Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf als Problem der Konvivialität. Gestrichs Ausführungen fokussieren die ethische Auswirkung einer Selbstverwirklichung des Menschen in Erfüllung seiner Berufung zur Herrschaft über die Schöpfung in der Vergessenheit darum, daß dieser Herrschaftsauftrag beinhaltet, dem Mitgeschöpflichem dessen Vollendung nicht zugunsten der eigenen zu untergraben. Der in Gen 1, 28 formulierte Herrschaftsauftrag Gottes an den Menschen bindet das Gestalten der Schöpfung daran, ihr desgleichen zu dienen. Zwar gehen Gestrichs Gedanken zur Selbstrechtfertigung in die schöpfungsethische Richtung, sie lesen sich jedoch beinahe wie eine sprachphilosophische Skizze des von Hegel so benannten natürlichen Bewußtseins (nähere Ausführungen hierzu finden sich im Kapitel Abraham – Der erste Dialektiker): „Unzweifelhaft gehört zur Selbstrechtfertigung auch, dass der Mensch sich ein Bild von jenen Mitgeschöpfen macht, die ihm zu ihr helfen sollen. Was heißt sich ein Bildnis machen? Wenn sich der Mensch ein Bild von einem anderen macht, so sieht er eigentlich sich selbst in diesen anderen hinein. Er beschneidet dessen Wirklichkeit auf das Maß der eigenen Anforderungen an ihn. In diesem Sinne wird auch unsere natürliche Umwelt, sobald wir uns ein Bild von ihr machen, hominisiert. Die Natur wird auf unseren Zuschnitt hin angesprochen und herausgefordert, und sie wird gleichzeitig mit unseren Urängsten kontaminiert und belastet. Das entseelt dann auch unsere Beziehung zu ihr und führt ganz folgerichtig zu der zivilisatorischen Neuumgebung des Menschen durch eine Art technisch-wissenschaftlicher Ersatznatur. […] Diese bedrängenden Zusammenhänge, vor denen eigentlich niemand seine Augen verschließen kann, bilden zugleich einen theologischen Tatbestand. Die Inanspruchnahme von Mitgeschöpfen zur Selbstrechtfertigung ist nämlich die konkrete, die sozial und ökologisch zu Buche schlagende Gestalt der Sünde. Ihre äußeren Merkmale können wir jetzt wie folgt feststellen: Sie entwertet die Beziehungen zu den menschlichen und außermenschlichen Partnern, durchsetzt sie auch mit Gewalttaten und raubt ihnen irgendwie die Seele. Vor allem aber (und das ist für die Sünde besonders kennzeichnend): Sie beginnt mit einer Überhöhung von Geschöpflichem, aber sie endet mit Destruktion.“ (Gestrich, Christof, Sünde in der Beziehung zum Mitgeschöpf. Theologische Aspekte des sogenannten Umweltproblems [1982], in: ders., Peccatum – Studien zur Sündenlehre, Tübingen 2003, 30 – 44., 37 f.) Die Verwechslung der Partizipation am Werk Gottes mit der Partizipation am kulturellen Geschehen ist ebenso Diskussionsgegenstand u. a. beim jungen Karl Barth. Vgl. hierzu Barth, Karl, Der Römerbrief, Zürich 198915 [= 19222]. Vgl. ders., Die Kirche und die Kultur (1926), Gesamtausgabe, Bd. III: Vorträge und Kleinere Arbeiten, 1925 – 1930, hg.v. Schmidt, Hermann, Zürich 1994, 10 – 40. Zum Versuch, die rechtfertigungstheologischen Aussagen Barths ihres kulturfeindlichen Zungenschlags zu überführen vgl. Moxter, Michael, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000, 174 ff.
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bei-sich-selbst-Sein“ oder „Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung“ geführt wird. In dieser erscheint die Welt nicht als Kabinett für sich bestehender Entitäten, sondern als ersprochenes Gefüge von Sprachbahnen, die sich zwischen Subjekten und den von ihnen entworfenen Objekten in permanenter Wechselseitigkeit ziehen. Damit ist bezeichnet, daß das Heraustreten des Subjekts in äußere Beziehung seine Selbstbeziehung konstituiert. Gleichwohl versteht sich der Mensch nur über seine Herstellungen, sofern er das Herstellen selbst begreift, d. h. den Grund seiner Gestaltungskraft, den Liebrucks als den Logos bestimmt. Dieser ist etwas, das der Mensch selbsttätig realisieren kann, er ist jedoch nichts von ihm selbst Geschaffenes, sondern das ihm „Fremde“, das als solches unterschieden ist von den Objekten, die sich der Mensch als fremde gegenübersetzt. „Der Mensch ist immer nur in dem Maße menschlich, als er sich fremd, mit der Aura⁴⁷³ des Göttlichen umkleidet sieht, die als solche erhaben, fremd und schön ist.“ (SuB II, 181.)⁴⁷⁴ Allein in der Konfrontation mit einem Anderem, ihm Fremden, erkennt er sich als selbständiges Subjekt. „Aus den vom Menschen hergestellten Dingen tönt uns deshalb keine Innigkeit der Verwandtschaft entgegen, weil sie von Menschen gemacht und als solche nicht fremd sind.“ (SuB II, 181.) Das Fremde, von dem hier die Rede ist, ist das göttliche Fremde, das Liebrucks als „subjektiv“ bezeichnet: „Das Fremde ist nicht subjektiv, obwohl es äußerlich, sondern in dem Maße, wie es äußerlich ist.“ (Ebd.) Die Formulierung „in dem Maße, wie es äußerlich ist“ verrät, daß Selbsterkenntnis angesichts eines Fremden keine Abstraktion zwischen den
473 Der Terminus „Aura“ legt es nahe, sich an dessen Prägung durch Walter Benjamin erinnert zu fühlen. Eine im zitierten Text vorangegangene Auseinandersetzung Liebrucks‘ mit der Kunsttheorie Benjamins legt allerdings offen, daß sich die Kunstverständnisse Benjamins und Liebrucks‘ diametral gegenüberstehen. (Vgl. SuB II, 138 ff.) Da diese Differenz für das vorliegende Arbeitsthema nicht näher dargelegt werden muß, begnüge ich mich mit dem Verweis auf die genannte Textstelle sowie dem Kommentar, daß Liebrucks betont, der künstlerische Akt sei keine Darstellung des h o m o n u d u s , sondern abstrakte Nacktheit – also eine Verhüllung. Liebrucks zufolge „bedarf es der Kunst, um den nackten Menschen menschlich, d. h. als Ebenbild Gottes, und Gott sinnlich, d. h. als Ebenbild des Menschen zu geben.“ (A. a.O., 139.) Der Dialog des Verborgenen mit dem Offensichtlichen, ihr Spiel mit der Schwebe von Enthüllung und Verhüllung, in welcher Sprache Welt begegnen läßt, rückt die Kunst erkenntnistheoretisch betrachtet in die Nähe von Religion und Philosophie. Ihre epistemologische Dignität besteht in ihrer Fähigkeit, dem Gestaltwerden selbst Gestalt zu geben. 474 Den begrifflichen Hintergrund bildet Humboldts Erkenntnis, das Schöne und das Erhabene dürften nicht voneinander getrennt gedacht werden. (Vgl. a. a.O., 140.) Ich werde diesen textimmanenten Hinweis allerdings vernachlässigen. – Im Hinblick auf das Verständnis des Schönen bei Liebrucks soll ebenfalls lediglich eine kurze Anmerkung genügen: Verstehe ich Liebrucks recht, so ist „schön“ für ihn dasjenige, was die Einheit von Idee und Sinnlichkeit, Teilen und Ganzem, Ver- und Enthüllung erkennen läßt. Schön macht, was diese dialektische Einheit erkennt und zuläßt: das Kleid der Liebe.
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Unterschiedenen ist, sondern eine Zusammenschau von Identität und NichtIdentität. Das Subjekt erkennt sich, indem es nicht allein den Unterschied zwischen sich und anderem, sondern das Unterscheiden selbst denkend nachvollzieht. Erkennt es, daß das Subjekt und das ihm Fremde als solche nur in der ununterbrochenen Dialektik von Unterscheidung und Beziehung sind, erscheint ihm das eigene Selbst als Selbst in Beziehung zum Fremden als Fremdem.⁴⁷⁵ So begriffen ist das Fremde „subjektiv“: Der Grund, aus dem das Subjekt generiert. Als Grund des Subjekts ist er diesem zugleich identisch und nicht-identisch. Sieht der Mensch sich mit dem Logos zwar „fremd umkleidet“, so ist das Göttliche doch das Fremde, angesichts dessen der Mensch auf sich selbst verwiesen wird. Der Weg Gottes zu den Menschen ist der Weg des Menschen zu Gott. „Alle diejenigen, die den Menschen nicht auf dem Umwege über das Göttliche suchen, entmenschen den Menschen.“ (SuB II, 182.) Damit ist die Mitte der dialektischen Logik bezeichnet: „Der Kern der dialektischen Logik ist das Andere, das den Menschen von seiner Welt unterscheidet, wie es ihn mit ihr verbindet.“ (SuB VI/3, 613.) Die Geschichte der Bewußtseinsentwicklung zeigt unterschiedliche Darstellungen dieses Anderen: als Gott, als Objekt etc. All diese Darstellungsweisen vereint das denkende Individuum in sich: als anbetendes, als behandelndes etc. „Der logische Rang einer Gesellschaft bestimmt sich danach, wie weit sie ihren Individuen solches Austragen erlaubt.“ (Ebd.) Der logische Rang des Individuums zeigt sich darin, inwieweit es diesen inneren Kampf als die Bewegung des Bewußt-Seins begreift und nicht darauf aus ist, ihn zu gewinnen, indem es ihn entscheidet: Das Bewußt-Sein ist nur als sein eigener Widerspruch.
III. Lieblosigkeit als Entmenschung In der Einsicht, daß das wesentliche Menschsein nichts von ihm selbst erwirktes, sondern etwas ihm gewährtes ist, erfährt der Mensch den ihm entzogenen, gleichsam „unerfüllt geliebten“ Grund seines In-der-Welt-Seins als Gnade und Grenze – f a s c i n o s u m e t t r e m e n d u m . „Wie das erscheinende Göttliche den Menschen zugleich verklärt und verdüstert, ihn erhebt und erschreckt, so ist die Sprache die Helena der Völker, sie in unerfüllter Liebe zum Geist geleitend und darin zu sich selbst führend. Denn die Richtung auf den Geist ist immer zugleich
475 „Daß beide Substanzen in ihrem Anderen bei sich selbst sind, ist das Aussprechen der Freiheit. Die Freiheit besteht nicht darin, im unmittelbaren Selbstbewußtsein bei sich selbst zu sein […]. Freiheit ist immer die Selbsterfahrung im Fremden.“ (SuB VI/3, 162.)
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die Richtung auf die Individualität.“ (SuB II, 286.) Wird das „Kleid der Seele“, d. i. das In-der-Welt-Sein des Menschen, als Sprache bestimmt, erweist sich der Blick auf die Sprache als Blick auf den Menschen e t v i c e v e r s a . Nichts kann er erfahren oder denken, das nicht in der Vermittlung der Sprache begriffen ist – nicht einmal sich selbst. Die Erkenntnis der eigenen Menschlichkeit ereignet sich unter deren Vollzug. Die allgemeine Menschheit ist nur in menschlichen Individuen verwirklicht. So begriffen ist „die Richtung auf den Geist“ – der mit dem Logos gleichgesetzt werden kann – „immer zugleich die Richtung auf die Individualität“. Der Mensch entdeckt seine Menschlichkeit, sofern er sich in das Kleid der Seele gehüllt vorfindet, nicht aber, indem er sich des verhüllenden Kleides entledigt. Der h o m o n u d u s ist unmenschlich in dem Sinne, daß es den Menschen so gar nicht gibt. „Deshalb bleibt es unerlaubt, den Menschen nackt zu sehen, wo unsere Liebe zu ihm nicht gegenwärtig ist, die ihm das einzige Kleid anzieht, das seine Seele offenbart.“ (A. a.O., 139.)⁴⁷⁶ Liebe erscheint hier als Entsprechung der Seele. „Nur der mit Liebe angeblickte nackte Mensch trägt um sich seine Seele als Kleid.“ (SuB II, 139.) Die Abstrahierung eines Menschen „an sich“ vom konkreten menschlichen Ich birgt die Gefahr, einen Menschen unter Absehung von seiner Selbstzweckhaftigkeit zum bloßen Zweck herabzusetzen, etwa wenn in ethischen Fragen über die Bedürfnisse eines Individuums hinweg zum Wohle einer ideell bleibenden Menschheit entschieden wird.⁴⁷⁷ Diese Gefahr droht in jedem Moment menschlicher Weltbewältigung, denn die Selbstbehauptung des Menschen in der Welt kommt nicht ohne den Aspekt des Handelns aus. Wer aber handeln will, darf (im Akt der Handlung) nicht lieben. An etwas oder jemandem handeln kann man allein, wenn man einen Zugriff auf das Behandelte hat. In der technischen Zubereitung der Welt tritt das Begehren an die Stelle der Liebe, das Geliebte wird zum Objekt der Begierde. (Vgl. SuB III, 162.)⁴⁷⁸ Diese Lieblosigkeit ist – um mit Max Frisch zu sprechen – Verrat.⁴⁷⁹ Die
476 „Der Tod der Unmittelbarkeit erscheint logisch im Spiegel des Wesens. […] Nur die Liebenden dürfen nackt voreinander stehen. Als Lebendige tun sie es unter Tränen. Erst in der Idee wissen sie, daß noch diese Verhüllung in der Glückseligkeit des Begriffs wohnt.“ (SuB VII, 34.) 477 Dies ist ausgerechnet bei Kant der Fall, der die Selbstzweckhaftigkeit einer Person in seinem kategorischen Imperativ stets zu bedenken mahnt. Seine Reflexion auf das „Ich“ bleibt aber beim Urteilssubjekt stehen, dem in allen Menschen vorausgesetzten, allgemeinen „Ich denke“. Der Unterschied dieses postulierten Erkenntnissubjekts zu einem erfahrbaren, individuellen und daher menschlichen „Ich“ wird im Kapitel Der Gottesbegriff bei Liebrucks verhandelt. 478 „Das Begehrte ist schon immer ein Verdinglichtes.“ (Ebd.) 479 Vgl. Frisch, Max, Tagebuch 1946 – 1949, Frankfurt a. M. 1981, 32. – Begierde ist Verrat am Begehrten, dem als solchen eine dessen Eigenbedeutung untergrabende Vergegenständlichung und Instrumentalisierung widerfährt. In diesem Sinne verräterisch ist das Selbstbewußtsein, das sich noch nicht in seinem Gegenstand erkennt, damit auch nicht dessen Gegenständlichkeit
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teleologische Sicht auf die Dinge und den Menschen kann nicht zulassen, daß diese durch eine von ihnen selbst mitgeteilte Eigenbedeutung das an ihnen vorzunehmende Handeln unterlaufen. Sie muß die Empfänglichkeit für die Eigenbedeutung der andringenden Wirklichkeit zugunsten selbsttätiger Zubereitung der Welt zu berechenbaren Objekten vernachlässigen. Die sich lebendig mitteilende Welt wird zum Schweigen gebracht. Liebrucks verwendet für diese Positivierung häufig den Ausdruck „töten“ und bekundet hierdurch abermals seine philosophische Verwandtschaft mit Hegel: „Die Welt der Positivität ist die Welt der Liebe um des Toten willen.“ (SuB IV, 374.)⁴⁸⁰ Lebendiges kann zum Toten werden mitten im Leben. Leben wird dann genommen, indem es ausgeblendet wird. Ist die Liebe Inbegriff von Beziehung, so steht der Tod für radikalen Abbruch von Beziehung, in diesem Sinne Abstraktion. Abstraktion ist im lateinischen Wortsinn
begreifen und aufheben kann. Verharrt das Selbstbewußtsein in der Entfremdung seines Gegenstandes von sich, hat es sich selbst erst unmittelbar als Selbstbewußtsein. Der Drang jedes Selbstbewußtseins zu Selbstvollendung zeigt sich auf diesem Bewußtseinsniveau als Begierde. Begierde will sich anderes unterwerfen: Sie verschlingt oder zerstört es. Die Selbsterhaltung des Bewußtseins mittels der Unterwerfung all dessen, das nicht es selbst ist, zwingt das Selbstbewußtsein zur ununterbrochenen Perpetuierung dieses Annektierens und Destruierens. Um seine Begierde zu stillen, sucht es sich schließlich Bestätigung seiner selbst in der Anerkennung durch ein anderes Selbstbewußtsein. Im Status des Begehrens bleibt die Anerkennung aber ein asymmetrisches Begehrt-Werden: Das begehrende Selbstbewußtsein will die Anerkennung nur für sich, es will nicht selbst anerkennen. Das unterscheidet die Begierde von der Liebe. – Dieses bewußtseinstheoretische Verständnis von Begierde geht auf Hegel zurück und bildet unzweifelhaft den Hintergrund, vor dem Liebrucks‘ Ausführungen auch an dieser Stelle gelesen werden wollen. Zur näheren Ausführung in bezug auf den Begriff des Begehrens bei Hegel, der den Kampf um die Anerkennung im Begehrt-Werden als Entwicklung des Bewußtseins entweder zum Herrn oder zum Knecht, somit aber die Begierde als Konstituens von Gesellschaft charakterisiert vgl. Hegel, PhG IV/A. 480 „Positivität ist ,Liebe um des Toten willen‘. Positivität ist die ,Liebe‘, die sich nur noch für die behandelbaren Gegenstände interessiert, die auch am Leben nur noch soweit interessiert ist, als sie die Hoffnung hat, es aus Konstellationen von Anorganischen abzuleiten.“ (SuB III, 156.) Das konventionelle Verstehen mit der „Tötung“ der Schöpfung als Anrede Gottes an das Geschöpf gleichzustellen, erinnert an Hamanns Kritik einer technisch-praktischen Ambitioniertheit – sei es in Religion, Kunst oder Wissenschaft –, welche die Natur als Schöpfung Gottes, deren eigene Sprache nicht in reinem Zeichencharakter aufgeht, auf einen solchen reduzieren will: „Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt […].“ (Hamann, Johann Georg, Sokratische Denkwürdigkeiten (1759). Aesthetica in nuce (1762), hg.v. Jørgensen, Sven-Aage, Stuttgart 1968, 206.) Die Degradierung der Natur zum Dasein unter Gesetzen ist Hamann Ausdruck des Sündenfalls, in dem die Schöpfung von der „Wegweiserin“ zum „Schlachtopfer“ geworden sei. (A. a.O., 208; 206.) Auch Liebrucks spricht davon, daß Positivität, anstatt das Naturschöne selbst sprechen zu lassen, eine „Todeslandschaft“ hinterlasse. (SuB III, 167.) „Ob solche Positivität als positive Religion, als positive Wissenschaft oder auch als weltanschaulicher Atheismus auftritt, macht keinen Unterschied.“ (A. a.O., 160.)
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ein Trennen; bei Liebrucks tritt sie als Trennung von Verhüllung und Enthüllung auf. Abstraktion ist die Behauptung einer in sich geschlossenen, unveränderlichen Identität. Seine Eindeutigkeit macht das Abstrahierte zu einem berechenbaren Faktor. Diese Berechenbarkeit ist das Gegenteil von Verhüllung. Das Abstrakte ist das dem schützenden „Kleid der Seele“ Beraubte – es ist nackt. „Im nackten Menschen, der nicht durch die Liebe, durch den Geist zugleich verhüllt ist, ist daher nicht das Werk Gottes als des Schöpfers gegeben, sondern immer nur der Leichnam.“ (SuB II, 139.) Der Leichnam ist ebenso wie der h o m o n u d u s eine Abstraktion vom Menschen, der zum entseelten Ding herabgesetzte Mensch. „Die Anatomie betrachtet den Leichnam. Alles Wissen beginnt mit der Feststellung des Toten. Seine Abstraktheit besteht darin, daß man sich dabei um das Besondere, hier den lebendigen Organismus erst noch kümmern muß.“ (SuB V, 357; vgl. SuB VII, 234.) Diese Sicht auf den Menschen hat ihre Berechtigung. Sie ist erforderlich, weil der Mensch als a n i m a l s o c i a l e seine Welt so einrichten muß, daß sie der Menschlichkeit eines jeden Menschen dienstbar ist. Solche Einrichtungen – zu denen die Wissenschaft ebenso gehört wie Rechtssysteme oder Kommunikationsmuster – müssen von einem gesichtslosen Allgemeinheits-Ich ausgehen, das in jedem Menschen vorausgesetzt werden kann. Dieses Postulat eines allgemeinen Ichs ist Maßstab gesellschaftlicher Ordnungen und zugleich der Grund, warum jeder Einzelne auf diese gesellschaftlichen Ordnungen verpflichtet werden kann. Es erfüllt diese Funktion allein aufgrund der Leugnung einer Entwicklungsoffenheit, welche die Lebendigkeit des menschlichen Individuums in bezug auf Leib und Seele ausmacht. Das Postulat eines allgemein-menschlichen Ichs ist die Definition des Menschseins durch ein strukturelles Moment. Der seiner Entwicklungsoffenheit beraubte Mensch aber ist der Leichnam. Als solcher sind alle Menschen uniform. „Muß es gesagt werden, daß die Anatomie deshalb nicht zu verwerfen ist? Sie gehört in die Eroberungen der Wissenschaft, deren Ende wir heute nicht absehen können, so daß wir auch kein Urteil über sie fällen können. Die Bestimmtheit der Urteile hängt an der Totalität, die wir hier nur als regulatives Prinzip haben.“ (SuB V, 357.) Menschenfeindlich wird dieses Verfahren erst, wenn es nicht mehr die Belehrung zuläßt, daß es selbst zwar vom Menschen ausgeht, nicht aber zu ihm führt. Die lyrische Note, die Liebrucks seinem Werk an vielen Stellen verleiht, darf nicht dazu verleiten, etwa hinter seiner Warnung vor „Lieblosigkeit“ moralisch aufgeladene Sentimentalität zu vermuten. Für die spezifische Verwendung des Begriffs der Liebe steht erneut Hegel Pate. Liebrucks versteht Liebe in Anlehnung an Hegel als Musterbeispiel des grundlegenden Strukturmoments der Wirklichkeit: der Dialektik. „Die Sentimentalität besteht darin, daß Liebe nicht mehr als Logos, sondern als ,Gefühl‘ verstanden wird, das außerhalb seines Geistes wohnen soll. Liebe als Geist verstanden dagegen ist vom Verstand, von der Vernunft wie
D. Kleider machen Menschen: Sprache als sichtbarmachende Verhüllung
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von der Positivität ihrer Entgegensetzung abzuheben.“ (SuB III, 160.) Der Begriff der Liebe steht somit meiner Ansicht nach bei Liebrucks für einen durch Ausgewogenheit von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, von Verhüllung und Enthüllung gekennzeichneten Umgang mit Welt und Mensch. „Getrenntes und Nichtgetrenntes werden in der Schwebe gelassen. Die Vollendung des Lebens in der Liebe läßt der Reflexion Genüge geschehen. Die Liebenden stehen sich als selbständige Gestalten gegenüber.“ (A. a.O., 162.) So ist der „Geliebte eins mit unserem Wesen und doch nicht wir“. (A. a.O., 172.) Die Bestimmung der Sprache als dynamische Relationseinheit erinnert an das Theologoumenon vom trinitarischen Gott. Sowohl von Gott als auch von der Sprache, die von Liebrucks im Begriff des Logos zusammengeschaut werden, ist ausgesagt, daß sie das Andere ihrer selbst stets in sich tragen, beim Anderen bei sich selbst sind. So bekennt das Christentum Gott als den dreieinigen: Gott ist als Vater der unhintergehbare Ursprung, als Sohn das wirkmächtige Wort, als Geist die Liebe. Liebrucks’ hegelinspirierte sprachphilosophische Wendung der „Identität von Identität und Nicht-Identität“ trägt dieser trinitarischen Rede von Gott in der christlichen Dogmatik Rechnung. Wie in der Trinitätslehre die Liebe als das Band der Einheit beschrieben wird,⁴⁸¹ in dem die drei Personen in Wesen und Wirken selbständig und doch nie von einander abstrahiert eine Einheit in Vielheit bilden, so spricht auch Liebrucks von der Liebe als der Beziehung, in welcher sich Identitäten aneinander ausbilden, ohne ihre Unterschiedenheit einzubüßen. Vorausgesetzt, das Wesen Gottes als Liebe sei von dessen o p e r a a d e x t r a nicht verschieden, ist Gott immer schon für sich, was er für den Menschen ist; insofern ist das göttliche Wirken in der Welt Selbstoffenbarung Gottes.⁴⁸² Gott ist Liebe, und er handelt am Menschen in Liebe. Liebe offenbart ihr Wesen, indem sie das Wesen des mit Liebe Angeschauten erkennen läßt. Diesen Gedankengang meine ich in Liebrucks’ Ausführungen wiederzuentdecken, insbesondere wo er den von ihm entworfenen Ausdruck „Sprachblick“ gleichsetzt mit dem Blick der Liebe.
481 Die Rede vom den Vater und den Sohn als v i n c u l u m a m o r i s verbindenden Geist hat Augustin geprägt. Zu Augustins Bestimmung des Geistes als Liebe vgl. Augustinus, Aurelius, De trinitate (Bücher VIII-XI, XIV-XV, Anhang Buch V), übers. u. mit einer Einl. hg.v. Kreuzer, Johann, Hamburg 2001, Liber XV. 17, 27– 31. 482 Die Identität von immanenter und ökonomischer Trinität ist eine von Karl Rahner in die theologische Diskussion geworfene These. Vgl. Rahner, Karl, Kleine Bemerkungen zum dogmatischen Traktat „De Trinitate“, in: Dänhardt, Albert, Theologisches Jahrbuch, Leipzig 1964, 97– 120, 106. Vgl. ders., Der dreifaltige Gott als transzendenter Ursprung der Heilsgeschichte. Methode und Struktur des Traktats „De Deo Trino“, in: Feiner, Johannes/Löhrer, Magnus (Hgg.), Mysterium salutis, Bd. 2, Einsiedeln 1967, 317– 347, 328. Aufgenommen wurde Rahners These u. a. von Karl Barth, in jüngerer Zeit von Eberhard Jüngel und Christoph Schwöbel. Vgl. Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik. Bd. I/1: Die Lehre vom Wort Gottes, Zürich 19526, 404. Vgl. Jüngel, Entsprechungen, 267 ff.; vgl. ders., Gott als Geheimnis der Welt, 524 ff. Vgl. Schwöbel, Christoph, Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens, in: Marburger Jahrbuch Theologie X: Trinität, hg.v. Härle, Wilfried/Preul, Reiner, Marburg 1998, 129 – 154, 141 ff.
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6. Adam – Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst
Als Gabe der Liebe kann die Seele auch nur mit den Augen der Liebe gesehen werden. Liebe ist der Sinn für ein Zeigen, welches das Geliebte an sich hat. Der Blick der Liebe ist kein unmittelbarer Zugriff auf den Anderen, sondern dessen Erscheinen-Lassen, das Zugeständnis der Freiheit des Anderen.Wo dieser Blick auf den Menschen fällt, erscheint er als sich in der Mehrstrahligkeit der semantischen Relation (Bühler) bewegend. Ein solches „sprachliches“ Handeln steht bei Liebrucks für sittlich angemessenes Handeln. Sofern die Seele das Kleid ist, das den durch sie umhüllten Menschen in seinem Menschsein zeigt, wird sie von Liebrucks mit „Sittlichkeit“ gleichgesetzt. (Vgl. SuB III, 474.) Weil aber Liebe der Umgang mit dem Menschen ist, in welchem dessen Seele erscheinen kann, ist sittliches Handeln auch mit dem Begriff „Liebe“ zu umschreiben. „Kein Liebender sieht die Geliebte in ihrer Positivität. Er sieht ihre Gestalt so, wie sie von Gott gewollt ist. Diese Gestalt hat die Zeigestäbe an sich, so zu werden, wie wir uns im göttlichen Anblick der Liebe geschenkt sind.“ (A. a.O., 169.) Der Andere ist dann nicht das Andere einer Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern erscheint als selbständiger, freier Dialogpartner in einer Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung. Diese Beziehung ist Sprache. Auf den Menschen als Sprechenden muß demnach geblickt werden, um ihn zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat (Dostojewski).
7. Abraham – der erste Dialektiker „Mein Herz hält dir vor dein Wort: ,Ihr sollt mein Antlitz suchen.‘ Darum suche ich auch, Herr, dein Antlitz.“ Ps 27, 8
In der jüdischen wie auch in der christlichen Tradition gilt der biblische Stammvater Abraham als Exempel frommen Gehorsams. Unüblicher ist es dagegen, in philosophischer Literatur eine korrespondierende Einschätzung dieser alttestamentlichen Figur zu finden: Hegel und in dessen Folge auch Liebrucks deuten die biblische Gestalt des Urvaters Abraham als Repräsentanten einer Bewußtseinsstufe. Ihnen gelten die biblischen Kapitel Genesis 12 bis 25 als Zeugnis eines Denkens, in welchem die dialektische Bezüglichkeit der sinnlich erfahrbaren Welt der endlichen Dinge und der Unendlichkeit des Geistes zu Bewußtsein und Darstellung gelangt. Im biblischen Charakter des Urvaters Abraham wird der Durchbruch des Bewußtseins zu sich selbst als in der sprachlichen Logik des Logos sich entfaltendes Bewußt-Sein gestalthaft geschildert. Die Gestalt des Abraham steht somit für eine Übergangsstufe zwischen adamitischem und jesuanischem Bewußtsein: Abraham teilt Adams Selbstentfremdung und die Sehnsucht nach Versöhnung ebenso, wie er Jesu Christi Sinn für die Unendlichkeit des Endlichen teilt. Auch Abraham ist Bewußt-Sein im Aufbruch zu sich selbst,wie Adam. Er hat diesem aber die Wahrnehmung der absoluten Identität alles Widersprüchlichen voraus. Sofern er diese Identität jedoch erst unmittelbar und nicht begrifflich erkennt, erfährt und denkt er noch nicht die Vollendung seines Selbstbewußtseins als vollendetes Gottesbewußtsein, wie es in Jesus Christus als der gestalthaften Repräsentation dessen erscheint, was Liebrucks das seiner Sprachlichkeit einsichtige Bewußt-Sein nennt. Die philosophische Vorlage für Liebrucks’ bewußtseinstheoretische Auslegung der alttestamentlichen Abraham-Tradition bietet abermals Hegels zu dessen theologischen Jugendschriften gezählte Abhandlung Der Geist des Christentums und sein Schicksal ⁴⁸³, in welcher Hegel Liebrucks zufolge bereits entscheidende Kategorien seiner Philosophie entwickelt. In der genannten Schrift beginnt sich Hegel einer Aufgabe zu stellen, die Liebrucks in Hölderlins philosophischer Dichtung erfüllt finden wird: das Schaffen einer Synthese mythischen Weltum-
483 In: Nohl, Herman (Hg.), Hegels theologische Jugendschriften. Nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin, Tübingen 1907, 241– 342. Im selben Band befinden sich Entwürfe zu dieser Schrift, die Liebrucks ebenfalls heranzieht, vornehmlich die Seiten 368 ff. – Abraham ist im übrigen nicht der einzige biblische Charakter, den Hegel hier bewußtseintheoretisch auslegt. Die Figur des Mose etwa erfährt eine analoge Deutung.
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7. Abraham – der erste Dialektiker
gangs und philosophischer Besinnung in einem von Liebrucks so genannten Denken in Gestalten. Insbesondere Hegels Auslegung der alttestamentlichen Erzählung vom Stammvater Abraham veranschaulicht, wie sich dialektisches Denken unter Entfaltung seiner Sprachlichkeit generiert. Im folgenden sei diese bewußtseinstheoretische Deutung der Abrahamsperikope in der Ausarbeitung durch Liebrucks entfaltet. (Vgl. SuB III, 77 f.)
A. Denken gestalten – Denken in Gestalten Der von Heidegger geprägte Ausdruck „In-der-Welt-Sein“ beschreibt das menschliche Dasein treffend als grundlegend welthaft.⁴⁸⁴ Mit der Wendung In-derWelt-Sein ist die menschliche Seinsweise als grundsätzliche Situiertheit des Menschen beschrieben. Auch die Bezughaftigkeit dieser Seinsweise ist mit jenem Ausdruck bezeichnet. Den Menschen gibt es nie isoliert – er ist in, mit, zur Welt. Seine Situation der Welthaftigkeit besteht darin, daß seine Welt seine eigene Situation ist. Selbstbewußtsein ist nur zugleich als Weltbewußtsein. Der Mensch findet sich stets situiert vor, in Bezügen stehend, die er ebenso erfährt wie erschafft. Das Erzeugen sinnstiftender Einheitsgrößen, unter welche er die andrängende Fülle des Welterlebens zu subsumieren sucht, erschließt ihm Welt als Konstellation von Relationen und Relaten, somit aber als Lebensraum und Wirkungsstätte. Die Bildung strukturgebender Sinneinheiten entspricht dem jeweilig erreichten Reflexionsniveau. In der Reflexionsstufe mythischen Denkens etwa gelingt noch keine durch verstandesgemäße Analyse vorangetriebene Formulierung abstrakter Allgemeinbegriffe: Vielmehr haben die ordnungsstiftenden Sinneinheiten Gestaltcharakter; sie treten vor allem als Götterfiguren auf. Vicos Sciencia Nuova gibt diesbezüglich eine prägnante Beschreibung der poetischen Anfangsgründe von Erkenntnis und nimmt somit Einfluß auf Liebrucks’ Rede von einem Denken in Gestalten. Ausgehend von den geschichtsphilologischen Beobachtungen Vicos sind die im mythischen Weltumgang gebildeten Universalien als „fantastische“ Gebilde der Einbildungskraft aufzufassen. So spricht Vico in bezug auf die Mythenbildung unter anderem von dem Grundsatz, „daß die frühesten Menschen […] unfähig verstandesmäßige Gattungsbegriffe zu bilden, die Notwendigkeit empfanden, sich poetische Charaktere zu erdichten, – d.h. phantasiegeschaffene Gattungsbegriffe oder Universalien – [..] gewissermaßen [..] 484 Zur Auseinandersetzung Liebrucks‘ mit Heidegger sei folgender Aufsatz zur Lektüre empfohlen: Liebrucks, Bruno, Idee und ontologische Differenz, in: ders., Erkenntnis und Dialektik. Zur Einführung in eine Philosophie von der Sprache her. Aufsätze aus den Jahren 1949 bis 1971, Den Haag 1972, 68 – 109. [= Kantstudien, Bd. 48, 268 – 301.]
A. Denken gestalten – Denken in Gestalten
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bestimmte Vorbilder oder ideale Porträts […].“⁴⁸⁵ Dieser zum „Prinzip der poetischen Charaktere“ gehörende Grundsatz mache das „Wesen der Mythen“ aus.⁴⁸⁶ Die dichterischen Universalien (von Vico u n i v e r s a l i f a n t a s t i c i genannt) fungieren als Schmelztiegel erfahrener Bedeutsamkeit, sie enthalten „in einer allgemeinen Vorstellung verschiedene Sondererscheinungen von Menschen oder Taten oder Dingen.“⁴⁸⁷ Der eingerichteten Lebenswelt entliehene Bilder werden v i a e m i n e n t i a e zu Größen stilisiert, die Bedeutungsgehalte in sich versammeln und sinnlich-anschaulich repräsentieren. Für den mythisch denkenden Menschen ist vor allem die Konfrontation mit diversen Naturerscheinungen eine Begegnung mit einem Unerklärlichen. Vermag er diese Erscheinungen zwar noch nicht zu explizieren, so bemüht er sich doch um deren Klassifizierung. Personifikation und Hypostasierung verleihen dem f a s c i n o s u m e t t r e m e n d u m ein Gesicht. Die den Menschen darin anblickende Macht, die nicht selten als Gewalt erscheint, das Unberechenbare wie auch die überwältigende Schönheit verleihen diesen Hypostasierungen Götterstatus. So haftet den einerseits ansprechbar gemachten Ursachen der Phänomene andererseits bleibend ein Entzogenheitscharakter an. Dieser gemahnt, nicht zu vergessen, daß die Gottesgestalt nie allein ein Phantasieprodukt des Menschen, sondern Vermittlungsform eines Eindrucks ist, der ursprünglich nicht die Züge menschlicher Herstellung trägt. Er bringt seine Bedeutung bereits mit sich. Und doch nimmt das Göttliche seinen Platz in der Menschenwelt ein: „Die Erfahrung des Augenblicksgottes war Ursprung der Sprache.“ (SuB I, 415.)⁴⁸⁸ Der Ausdruck „Augenblicksgott“ geht offensichtlich auf die Götter-„Klassifikation“ des Altphilologen und Religionswissenschaftlers Hermann Usener zurück, dessen Arbeiten Liebrucks als Beleg seiner Darstellungen zur Mythologie heranzieht.⁴⁸⁹ Nach Useners Kategorisierung fungieren Augenblicksgötter als Sinnbilder menschlicher
485 Vico, Neue Wissenschaft, 95. 486 Vgl. ebd. 487 A. a.O., 96. 488 Vgl. SuB II, 5: „Sprache dagegen hat ihren Ursprung in den glücklichen Augenblicken […] wie in den entsetzlichen […].“ 489 Wie Useners Theorien zu bewerten sind, ist hier nicht zu diskutieren. In der Fachwelt gelten sie nicht zuletzt aufgrund der nach fragwürdigen Kriterien getroffenen und begrenzten Auswahl an Belegquellen als umstritten. Ebenso wenig ist in dieser Arbeit die in dem Werk „Götternamen“ dargelegte Konstruktion der Entwicklung vom Poly- zum Monotheismus von Interesse. Aufschlußreich ist allein, was Liebrucks mit der Übernahme des von Usener geprägten Terminus‘ „Augenblicksgott“ hervorheben will. Der Ausdruck faßt alle Merkmale der Erfahrung göttlicher Belehrung zusammen: blitzartig, außergewöhnlich, gestalthaft, göttlich, flüchtig, unvergleichlich und unwiederholbar. Verwunderlich ist allerdings, daß sich Liebrucks mit der Referenz auf Usener einer gesetzmäßigen Götterklassifikation anschließt.
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7. Abraham – der erste Dialektiker
Welterfahrung von der Naturerfahrung des Blitzes bis zum Bestellen des Ackers, von menschlichen Tugenden bis zu menschlichen Tragödien, von aitiotischen Erklärungen bis zu Zukunftshoffnungen. Alles, was der Mensch erfuhr und durchlebt hatte, alles, wovon er träumte, gewann Gestalt in seinen „Göttern“. Usener erschließt die Götterwelten des Mythos‘ im Anschluß an Vico als sprachgeschichtlichen Prozeß, der seinen Ausgang in der konkreten Erfahrung eines bisher Unbekannten nimmt, das „plötzlich wie eine Schickung von oben an uns herantritt“⁴⁹⁰. Während Augenblicksgötter nach Useners Definition für eine je einmalige Erfahrung stehen, repräsentieren sogenannte Sondergötter bestimmte Handlungen und Zustände, ebenso Einzelaspekte von Handlungen und Zuständen (Gott des Pflügens, Gott des Säens, Gott des Herdfeuers etc.). Die Gestalten beider Götter-„Klassen“ bleiben noch unpersönliche Abstrakta, von denen aber eine Entwicklung zu persönlichen Göttern ihren Ausgang nehmen kann. Der persönliche Gott ist gewissermaßen der Höhepunkt der Gestaltwerdung, in der nun eine Verlagerung von der Bezeichnung konkreter Erfahrungsfelder zu einer abstrahierenden Verdichtung in Eigennamen stattgefunden hat.⁴⁹¹ Am Anfang einer solchen Entwicklung steht immer ein Augenblicksgott. Insofern kann Liebrucks sagen: „Die Augenblicksgötter behaupten sich in der Sprache immer.“ (SuB I, 475.) Die mythisch-phantastischen Universalien sind auch in dem Sinne Allgemeinbegriffe, als sie eher synthetisieren, weniger aber aufgliedernd verfahren. Die Gestalt eines Gottes steht im Mythos ebenso für die Idee eines Ereignisses wie für dessen sinnliche Erscheinung. Damit ist auch gemeint: Jedes Mal, wenn sich das entsprechende Schauspiel (ein Blitz zum Beispiel) ereignet, wird dies als konkretes Agieren und Erscheinen des Gottes verstanden. Kein Moment des Phänomens ist nicht Wirken oder Auftreten des entsprechenden Gottes. Abstraktion und Konkretion, Idealität und Realität, Objektivität und Subjektivität amalgamieren in den Begriffen mythischer Weltbeschreibung. Formale Logik kann dies lediglich als defizitäres Abstraktionsvermögen bemängeln, zumal ihre Vermessung der Welt die Zuordnungseindeutigkeit einer Subjekt-Objekt-Beziehung als grundlegend annehmen muß. Infolgedessen bemüht sich formale Logik seit der Antike, die Unschärfe mythischen Denkens als unterentwickelte Denkform aufzulösen.⁴⁹² Mythos wird als Allegorie verstanden und dementsprechend mit hermeneuti-
490 Usener, Hermann, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Frankfurt a. M. 19483, 291. 491 Vgl. a. a.O., 272 f. Vgl. Bader, Günter, Die Emergenz des Namens. Amnesie – Aphasie – Theologie, HuTh 51, Tübingen 2006, 144 f. 492 Das Fortschreiten vom u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o zu formallogischen Kategorien ist „ein Herabdrücken angeschauter göttlicher Weltcharaktere zu Werkzeugformen.“ (SuB IV, 687.)
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schem Eifer zu entschlüsseln, zu entmythologisieren, und das kann nur heißen: in die Strukturen technisch-praktischer Weltbehandlung einzureihen versucht. Insbesondere seit der Aufklärung etablierte sich dieses Vorgehen als übliche Verfahrensweise hinsichtlich mythischer Zeugnisse. Auch Vico steht in dieser Auslegungstradition. Dennoch können seine Ausführungen als Wegbereitung für eine Rezeption mythischer Überlieferung stehen, welche in der vermeintlich defizitären Differenzierungsleistung hinsichtlich Realität und Idealität in Wahrheit einen Fingerzeig auf die Sprachlichkeit, d. i. die Vernünftigkeit des mythischen Weltumgangs zu erblicken vermag. Unbestritten ist für das Denken auf mythischem Niveau eine „ursprüngliche[] Indifferenz“⁴⁹³ charakteristisch, ein Ausbleiben eindeutiger Abgrenzung des erfahrenden menschlichen Subjekts von der sich ereignenden Naturerscheinung. In dieser Indifferenz bildet die mythische Weltbeschreibung in all ihren Interpretationen den menschlichen Weltumgang als Sprachgeschehen ab, die unablässige dialektische Verknüpfung von Realität und Idealität, die Liebrucks angemessen zu benennen versucht, indem er sie zu einem einzigen Begriff vermählt: Realidealität bzw. Idealrealität. „Die Erkenntnis der Sprache beginnt mit dem Augenblick der Einsicht in diese ihre Idealrealität. Innerhalb ihrer sind die Trennung wie die Ungetrenntheit der Trennungen durchleuchtet.“ (SuB III, 256.) Das Denken auf dem Reflexionsniveau des Mythos muß laut Liebrucks – das legen schon Vicos Ausführungen nahe – rehabilitiert werden. Es ist weit mehr als ein psychologischer Kniff des archaischen Gemüts, um sich trotz der Verborgenheit kausaler Zusammenhänge des Weltgeschehens in diesem zu behaupten. Die poetischen Errungenschaften der Mythen sind keine obsolet gewordenen Welterklärungsmärchen, die im Zuge der fortschreitenden Welterschließung durch die (Natur‐)Wissenschaft abgeschafft werden. Die Dichtung der Mythen ist (philosophisch noch unreflektierter) Ausdruck der Einsicht in die das Absolute darstellende vernünftige, d. i. sprachliche Struktur des menschlichen Weltumgangs. In dieser Eigenschaft bekundet und bewahrt jene nicht selten als „primitiv“ abgewertete Weltbeschreibung eine Einsicht, die auszudrücken formallogische Definitionen nicht in der Lage sind. Dichtung ist die Sprachform, in welcher sich der Geist als sprachlich-logische Bewegtheit zwischen Idealität und Realität nachzeichnen läßt: In ihren der Lebenswelt entlehnten Bildern zeigt sich die Sinnlichkeit des Geistes, das Changieren ihrer Metaphorik zwischen Bedeutungen erweist diese als gleichfalls vom Menschen verliehen wie empfangen. Formallo493 Vgl. Riedel, Wolfgang, Archäologie des Geistes. Theorien des wilden Denkens um 1900, in: Barkhoff, Jürgen/Carr, Gilbert/Paulin, Roger (Hgg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, Tübingen 2000, 467– 485, 467.
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gisch unverbildet erzählen die Mythendichtungen von der Erfahrung des In-derWelt-Seins als eines Dialogs und somit vom Ursprung allen Sprechens und Denkens. In diesem Sinne ist der Ausspruch Johann Georg Hamanns zu verstehen, der – in Kenntnis Vicos – formulierte: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts.“⁴⁹⁴
I. Von einem, der auszog, sich selbst zu begegnen Im biblischen Charakter „Abraham“ gewinnt der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst Gestalt. Die Gestalthaftigkeit tritt hierbei in doppelter Hinsicht zutage: Zum einen präsentiert sich dem Protagonisten der Bibelerzählung, Abraham, der ihn umtreibende Geist in Gestalt (eines) Gottes; zum anderen wird Abraham den Lesern der Erzählung selbst zur Gestalt, in welcher die dialektische Bewegung des Geistes anschaulich begegnet. (Vgl. SuB III, 77.) In der narrativen Schilderung des Auszugs Abrahams aus der ihm natürlichen Lebenswelt ist die Überwindungsbewegung des Bewußt-Seins in dessen Wachsen von Stufe zu Stufe inszeniert. Das Alte Testament läßt Abraham zunächst als Heimatlosen auftreten, der auf Geheiß Gottes die Lande durchzieht, „entwurzelt“, ein Fremder, wohin er auch geht. (A. a.O., 77.) In die durchreisten Lande als in sein Eigentum zu kommen (um nicht ganz zufällig eine Formulierung aus dem Prolog des Johannesevangeliums zu wählen), ist ihm erst verheißen. Abraham distanziert sich von den ihm selbstverständlichen Lebensordnungen, seinem Vaterland, seiner Sippe. Er läßt alle Gewohnheit zurück: soziale, kulturelle, religiöse. Doch was Abraham bei seinem Zug in die Fremde aufgibt, ist nur trügerische s e c u r i t a s , in welcher sich der Mensch infolge seiner technisch-praktischen Weltzubereitung wiegt. Abraham verläßt Ordnungen, die, obgleich sie wie vorbestimmt erscheinen, positive Ordnungen sind, gesetzt und also kontingent. Zu diesen gehören auch die familiären Bande, deren stärkstes wohl zwischen Eltern und Kind geknüpft ist. Sogar diese Bestimmtheit ist Abraham bereit, durch das Opfer seines Sohnes hinter sich zu lassen. Der Auszug Abrahams in die Fremde ist eine Aufgabe im doppelten Wortsinn: Ebenso göttlicher Auftrag wie Herantreten an einen Abgrund, in den er sich unter Verzicht auf gewohnte Sicherheit stürzen muß, um in einem neuen Bewußtsein aufzuerstehen. Abrahams Aufbruch in die Fremde ist Ausgang aus dem Vergessen des Werdens von Welt. Er läßt eine Umwelt zurück, um Welt allererst zu entdecken. Heraustretend aus der Kulisse technisch-praktischer Formen der Weltbewältigung
494 Hamann, Aesthetica in nuce, 81.
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gelangt er zu deren Ermöglichungsgrund. Sein Geschick in Absehung von dem ihm vertrauten Gefüge konventioneller Formationen erfahrend, ist Selbstbesinnung das einzige, was Abraham in der Fremde bleibt. Zunächst ist der Rückzug in die Reflexion reine Überlebensstrategie. In der Preisgabe bis d a t o funktionierender Gewohnheitseinrichtungen drängt den Menschen ein Sicherheitsbedürfnis. Es verlangt ihn danach, sich im Untergang des bisher Verläßlichen neue Orientierung zu suchen. Enthüllt die Welt zusätzlich zu ihrer Domestizierbarkeit ihre vorgängige und bleibende Unbestimmbarkeit, ergeht darin eine nicht abzulehnende Herausforderung an den Menschen, sein Weltverhältnis neu oder überhaupt zu klären. Die eingenommene Reflexionsdistanz markiert allerdings keinen Rückzug in weltverneinende Innerlichkeit, sie ist vielmehr eine Besinnung auf die Gesamtheit des eigenen Weltumgangs in dessen Einheit von Identität und Differenz. Die Reflexion ist kein Insichgehen, das den Dingen gegenübersteht. Ein Weltverständnis kann nur an der Welterfahrung gewonnen werden.⁴⁹⁵ „Wir erfahren alles nur auf Umwegen.“ (SuB I, 412.) Gemeint sind die Umwege menschlicher Herstellungen. Welt hat der Mensch allein als vermittelte. Solche Vermittlung ist ebenso notwendiges Moment der (sprachlichen) Gestaltung von Welt wie auch Verfremdung, Entfremdung. Es gilt, in dieser Entfremdung paradoxerweise eine Gewinnung von Beziehungen zu entdecken. Doch stehen sich in der Entfremdung nicht denkendes Ich und Welt (der erscheinenden Dinge) in einer Subjekt-Objekt-Beziehung gegenüber. Auch die Begegnung mit Gott ist kaum so zu verstehen, daß der Mensch einem Ding – und sei es das größte – gegenüberstünde. Entfremdung besteht nicht darin, daß sich das Ich in sich zurückzieht und von der verobjektivierten Welt als seinem Handlungsfeld distanziert. Vorzugsweise das ist es, was die Abrahamsperikope in erstaunlicher Klarheit vor Augen führt: Abraham begegnet im Gott „gestalthaft die ganze Weltbegegnung.“ (A. a.O., 411.) Aus dieser aber ist der Mensch niemals ausgenommen. Bei Hegel wie bei Liebrucks ist die Rede vom „Ganzen“, das sich Abraham zeigt. Gemeint ist die Einheit von Subjektivität und Objektivität des Weltumgangs, die Einheit von Idealität und Realität. Dieses Ganze wird repräsentiert in der Gestalt, die zwar vom Subjekt „gemacht“, man könnte sagen: entworfen wird, als Entwurf aber zugleich als der Grund allen
495 „Die wirkliche menschliche Erfahrung als innerliche ist diejenige, die sich von den Dingen abgestoßen hat; als Erfahrung von den Dingen ist sie eine solche, die sich von der reinen Innerlichkeit abgestoßen hat. Sie ist bei sich bei den Dingen und ist bei den Dingen bei sich. Darin besteht die Voraussetzung für die Möglichkeit der Errichtung des Unterschieds beider. Die Wirklichkeit von Bewußt-Sein wird in der Hegelschen Logik als die Einheit von Innerem und Äußerem entwickelt.“ (SuB IV, 633.)
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7. Abraham – der erste Dialektiker
Entwerfens selbst erscheint und so vom Subjekt wiederum empfangen wird.⁴⁹⁶ Damit gelangt man denkend vor das „vielleicht größte Problem der Dialektik […], daß der Mensch, indem er seine Götter macht, sie empfängt […].“ (SuB III, 79.) Entscheidend ist, daß es sich bei Abrahams Überwindung des Fremden nicht um eine praktische Bewältigung handelt, die als solche – wie noch das Wort selbst anzeigt – Gewalt birgt. Positivierung treibt die Entfremdung weiter, sie macht aus Unterschiedenen Getrennte. Vereinheitlichung durch Objektivierung, wie etwa Sammlung in einem Prinzip, ist daher ein „Gewaltakt“⁴⁹⁷. Derartige Stagnation in Entfremdung kennzeichnet einen verabsolutierten technisch-praktischen Weltumgang. Die Figur Abraham aber steht für eine Versöhnung mit dem Fremden, die auch als Aneignung bezeichnet werden kann.⁴⁹⁸ Die versöhnende Aneignung vollzieht sich als θɛωρια⁴⁹⁹: Das Widersprüchliche wird als Einheit gesehen. Abraham entwickelt eine Sensibilität, die ihn 496 Dieses Entwerfen ist ausdrücklich von Husserls Begriff der Intentionalität zu unterscheiden. Husserls Beziehungsbegriff inkludiert lediglich die Beziehung, nicht die gleichzeitige, in der Beziehung sich vollziehende Unterscheidung des Intendierten vom Intendierenden. Nur in der Entäußerung, die mit der Intention einhergeht, läßt das Bewußtsein dem von ihm Intendierten dessen Freiheit. Die Kraft des Bewußt-Seins erscheint somit als das Aushalten der Spannung von „an sich“ und „für sich“. 497 A. a.O., 144. 498 Dagegen kann Hegel von Abrahams Vorvätern Noah und Nimrod nicht behaupten, sich mit dem Fremden versöhnt zu haben: Nach der Sintflut, der Erfahrung des Fremden als Naturkatastrophe und Äußerung des Zornes Gottes, versucht Noah eine Einheit wiederherzustellen, indem er sich ganz zum Knecht macht und sich dem mächtigeren Gott unterwirft; während Nimrod (vor allem wenn wir Josephus folgen wollen, wie Hegel es tut) sich mit Gott messen will und zur Gegenwehr gegen dessen Macht antritt: Er versucht, die Welt zu bezwingen – als erster König, als Jäger – und Gott ebenbürtig zu werden mit dem Bau des Turmes zu Babel, der bis an den Himmel reichen und als Markierung des menschlichen Herrschaftsbereiches Gott aus diesem Bereich ausgrenzen soll. Das Fremde wird zu bekämpfen oder zu beschwichtigen versucht, in dem es immer „fremder“ gemacht wird. (Vgl. Hegel, Geist des Christentums, 275 ff.) 499 Man darf sich in Liebrucks‘ Beschreibung der Erfahrung des Göttlichen an Platons Grundgedanken von der geistigen „Schau“ (θɛωρια) erinnert fühlen, zumal Liebrucks die spekulative Dialektik Platos als Wegbereitung einer Philosophie der Sprache gilt. (Vgl. das Kapitel Die drei Revolutionen der Denkart; vgl. Liebrucks‘ ausführliche Auseinandersetzung mit Plato in der Dissertationsschrift: Probleme der Subjekt-Objektrelation, Stallupönen 1934. Vgl. ders., Platons Entwicklung zur Dialektik. Untersuchungen zum Problem des Eleatismus, Frankfurt a. M. 1949 [Habil.-Schr.; = Berlin 1943].) Was Platon mit θɛωρια benennt, nimmt den hegelschen Begriff der „wahren Unendlichkeit“ vorweg: Die Einheit der erfahrenen Mannigfaltigkeit von Welt gründet nicht in einer außerhalb dieser stehenden Größe. Die platonische Schau der Ideen ebenso wie Hegels Begriff von der „wahren Unendlichkeit“ richten sich nicht auf ein Jenseits, vielmehr beschreiben sie eine Reflexion des Denkens auf sich selbst. Liebrucks‘ Schilderungen der Augenblickserfahrung gleichen auffällig Platons Beschreibung der θɛωρια als Zusammenschau der Abstufungen von Erkenntnis, als Verschwimmen der Grenze zwischen schauendem
A. Denken gestalten – Denken in Gestalten
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dessen gewahr oder an(ge)sichtig werden läßt, was (ihm) immer schon (begegnet) ist. Er stellt es dar als „Gott“. „Gott“ ist somit Ausdruck eines Eindrucks, sofern dieser von sich aus bedeutend ist (König). Dieser Gott ist Vereinigung des Innen, der Identität, als die Abraham sich erfährt, und des Außen, d. i. des widersprüchlich begegnenden Fremden. „Bevor die Dinge nicht in der Gegenwart Gottes stehen, können sie ihre Entfremdung nicht verlieren.“ (SuB III, 170.) Des Sinns für die Gegenwart Gottes zu entbehren, läßt den Menschen die Dinge allein als schlicht gegeben wahrnehmen bzw. vorstellen. Der Blick für das Gewordensein der Objekte ist verstellt. Die Dinge erscheinen als das ganz Andere; nicht aber als ein Anderes, bei dem zu sein bedeutet, bei sich selbst zu sein. In der Gegenwart Gottes zu stehen, besagt dagegen, in der Erkenntnis der Sprachlichkeit des Weltumgangs zu stehen, der sich als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung gestaltet: Die Wahrheit der Welt offenbart sich als deren Genese. Das Nachvollziehen des Erzeugens und Sich–Gebens des Begriffs (Hegel) läßt das Fremde immer als ein Fremdes begegnen, zu dem man in Beziehung steht. Diese Beziehung bedenkend ist die Fremdheit aber aufgehobene. Fremdheit und Verwandtheit sind als zwei Seiten derselben Medaille erkannt. So betrachtet wird verständlich, daß Abraham auf seinem Auszug in die Fremde den Weg in sein Eigentum antritt. Via Entfremdung vollzieht der Mensch die Einheit von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. Er gibt sich, um sich zu empfangen. Die Erfahrung der Fremde widerfährt dem Menschen nicht nur, er macht sie im wahrsten Sinne des Wortes. So erfährt Abraham die Welt entsprechend seinem Weltumgang: Sie ist ihm fremd, weil er sie sich zur Fremden macht, er eignet sie sich an, indem er in seinem Gegenüber sich selbst erkennt. Das Verb „entfremden“ ist ein transitives, es verlangt ein Objekt; man kann auch sagen: Das von etwas Entfremdete wird durch die Alienation selbst zu einem Objekt. Wiederum spricht die Sprache vor, wie sie verstanden werden will. Erkenntnis als Zu-sich-Kommen des Bewußtseins auf dem Umweg der Entfremdung ist unverkennbar ein prägnanter Grundgedanke hegelscher Philosophie. Hegel entdeckt in der biblischen Person Abraham eine Exemplifizierung seiner bewußtseinstheoretischen Einsicht auf mythischem Niveau. Liebrucks folgt ihm in dieser Auffassung, pointiert aber die Aussagen seines großen denkerischen
Individuum und dem geschauten Ordnungsgefüge „Welt“. Eine plötzliche, überwältigende Erfahrung, in welcher die Gegenübersetzung von Subjekt und Objekt aufgehoben scheint: Gegensätze fallen in der „Schau“, im Erleben des „Augenblicks“ zusammen. Ebensowenig wie bei Liebrucks sollte man auch bei Platon die θɛωρια als eine Art u n i o m y s t i c a mißverstehen; vielmehr handelt es sich schon für den griechischen Philosophen ausdrücklich um einen Impuls für den Erkenntnisprozeß: das Aufflackern eines Wirklichkeitsverständnisses, dessen logische Entfaltung der Philosoph als seine Aufgabe versteht. (Vgl. Platon, Der Staat – über das Gerechte, übers. u. erl. v. Apelt, Otto, Hamburg 1979, Buch Sieben.)
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7. Abraham – der erste Dialektiker
Vorbildes im Sinne seiner eigenen Philosophie der Sprache. So stellt Liebrucks als das Heraussetzen der eigenen Sprachlichkeit aus sich selbst dar, was im Text Hegels, auf den Liebrucks sich bezieht, als Schicksal erscheint⁵⁰⁰: „Im Schicksal aber erkennt der Mensch sein eigenes Leben, und sein Flehen zu demselben ist nicht das Flehen zu einem Herrn, sondern ein Wiederkehren und Nahen zu sich selbst.“⁵⁰¹ Diese Aussage kann als Paraphrase der später von Hegel geprägten Wendung „Anundfürsichsein“ gelesen werden, in der Hegel seiner Auffassung Ausdruck gibt, der Weg des Geistes sei der Umweg: Er ist beim Anderen bei sich selbst. Der Andere, dem das Subjekt ins Antlitz blickt, ist der Logos, in dem es sich selbst begegnet. In hegelscher Diktion gesprochen, muß es heißen: Ein Fürsichsein stellt ein Gegenüber als Ansichsein vor und erkennt darin sich selbst als ein ebensolches Ansichsein an. Der Geist setzt sich aus sich selbst heraus sich selbst zum Gegenüber. Für Liebrucks aber ist somit die dialektische Grundgestalt der Sprache beschrieben. Allein in der Sprache vermag das denkende Subjekt von sich abstrahierend zum Beobachter seiner selbst zu werden, da allein in der Sprache Identität und Nicht-Identität zugleich bestehen. „Nur der Mensch, der sich von sich selbst entfremdet hat, gelangt zu sich.“ (SuB III, 140.) Jeder, der diese Bewußtseinsentwicklung durchläuft, ist darin Abraham: Abraham reflektiert angesichts einer ihm aufgrund der Distanz zu ihr feindlich anmutenden Welt auf sich selbst. In der Gefahr, als welche die entfremdete Welt begegnet, wird nicht nur der Gegenstandscharakter der erscheinenden Dinge offenkundig, vielmehr wird das Ganze der Weltbegegnung Gegenstand der Anschauung. „Diese Reflexion macht das Herausgetretensein aus den früheren Lebensbezügen objektiv.“ Für Liebrucks darf der Nachsatz nicht fehlen: „Diese Reflexion ist sprachlich.“ (A. a.O., 219.) Die Grundstruktur aller menschlichen Weltzugangs- und Weltbehandlungsweisen enthüllt sich als Dialog des Geistes mit sich selbst im Ansichtigwerden von dessen Bewegung als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung. „Abraham ist so der erste Dialektiker.“ (A. a.O., 80.) Die Einheit des sprachlichen Geistes erscheint ihm gestalthaft als Gott, der ihn in Freiheit und Verantwortung hineingerufen hat. Kennzeichnend für das von Abraham erlangte Bewußtsein ist, daß dieser Gott nicht mehr als Bild (also Herstellung) erscheint, sondern unsichtbar, als Geist. Dieser Geist ist nicht die Abstraktion von der Natur, sondern das Korrelat des sich in dieser Abstraktion erfahrenden Bewußtseins. In diesem Gedankengang deutet sich in Hegels Abrahaminterpretation eine frühe Fassung von dessen Reflexionsbegriff an.
500 „In ‚Der Geist des Christentums und sein Schicksal‘ wird der Begriff des Schicksals so bestimmt, daß wir in ihm die von uns entwickelte Sprachlichkeit wiedererkennen.“ (A. a.O., 219.) 501 Hegel, Geist des Christentums, 282.
A. Denken gestalten – Denken in Gestalten
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Auf dem Reflexionsniveau des Tenach ist allerdings keine Formulierung des Ganzen der Lebensbezüge in einem philosophisch reflektierten Begriff zu erwarten. Einerseits eine zuvor in Mythos und Religion nicht zu verzeichnende Distanzierungsleistung bezüglich Welterleben und Wirklichkeitsverständnis aufweisend, vollzieht die in der hebräischen Bibel dokumentierte Weltbeschreibung andererseits keine generalisierende Begriffsbildung, sie bleibt vielmehr in ihren Darstellungen der erlebten Welt eng verbunden. Die hebräische Sprache und somit auch das hebräische Denken kennen auffallend wenig Abstrakta. So gibt es im Hebräischen keinen eigenständigen Terminus für „Denken“. Statt abstrahierende Allgemeinbegriffe zu nutzen, erzählt das Hebräische von konkreten Ereignissen. Innere Vorgänge werden in Anlehnung an erfahrene äußere Vorgänge umschrieben. Der Sprachphilosoph darf sich bei diesem Vorgehen daran erinnert fühlen, daß sich Sprache selbst vorspricht, und im Hebräischen eine Veranschaulichung der Realidealität des Logos erkennen. Den Autoren des Alten Testaments sind ihre eigenen bewußtseins- und sprachtheoretischen Einsichten noch nicht in dieser logischen Aufbereitung zugänglich. Wie sich das natürliche Bewußt-Sein entwächst, wird im biblischen Buch Genesis narrativ in Szene gesetzt. Abraham spricht mit Gott über seine Welt. Gott zeigt sich Abraham nicht. Er begegnet Abraham, indem er verheißt, befiehlt, versucht. Er läßt sogar durch einen Engel für sich sprechen, was die Unsichtbarkeit Gottes bis zum Entzug der eigenen Stimmgegenwart steigert. Inwiefern mit dieser Eigentümlichkeit der alttestamentlichen Illustration ein entscheidender Impuls hinsichtlich des Werdens von Bewußt-Sein gegeben ist, erhellt der Vergleich mit übrigen mythischen Weltdeutungen.Vicos Theorem des u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o folgend, wird im Mythos – man darf ebenso sagen: in der Religion – die Erfahrung eines Ganzen, in dem Identität und Widerspruch gleichermaßen ihren Grund und Sinn haben, thematisch. Die Einheit von Identität und Nicht-Identität wird streng genommen jedoch erst im Monotheismus ausdrücklich reflektiert, indem er sie durch das Bekenntnis zu nur einem Gott ausspricht. Dagegen vollzieht sich zum Beispiel in der griechischen Religion der Antike die Bewahrung menschlicher Erfahrung in der Sprache noch in den Entwürfen diverser Götterbilder – der Mannigfaltigkeit der Welterfahrung entspricht eine Vielheit von Göttern: „Sie [die Götter, S. L.] trugen auch die ganze menschliche Erfahrung im himmlischen Gewande.“ (SuB I, 475.) Führt der altgriechische Mythos zwar den Begriff des Schicksals (μοιρα) ein, bleibt doch die damit bezeichnete Einheit der Vielfalt von Welterfahrung uneinsichtig – selbst den Göttern, die diesem Schicksal ebenfalls unterworfen sind. Die Griechen schufen sich Rettungsanker der Kontingenzbewältigung, indem sie einer Schar von Göttern huldigten, der sie zuschrieben, in funktionaler Ausdifferenzierung die Lebenswelt zu ordnen. Das Paradox einer Einheit in Vereinzelung wird in diesem Weltentwurf jedoch nur bestätigt. Die Widersprüchlichkeit der Welterfahrung und
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7. Abraham – der erste Dialektiker
–deutung ist nicht in einer sie begründenden Einheit begriffen, wie die unter den verschiedenen Gottheiten ausgetragenen Zwistigkeiten repräsentieren. Die biblische Schilderung der göttlichen Aufforderung an Abraham, seine gewohnten Lebenskonzeptionierungen hinter sich zu lassen, rekapituliert narrativ die bewußtseinstheoretische Überwindung einer Bewältigungsstrategie wie der „griechischen“, die nicht den menschlichen Weltumgang an sich denkt, sondern Bilder für seine (häufig divergierenden) Erscheinungsformen findet: Der Götterhimmel erscheint wie eine Abbildung irdischer Gesellschaftsformen inklusive deren Bewohner in aller charakterlichen Vielfalt. So bezeugt die Abrahamsperikope einen Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus als Voranschreiten in der Bewußtseinsentwicklung. Die philosophische Reflexion schließlich denkt nicht nur in Gestalten, sondern auch dieses Denken in Gestalten selbst.
II. Die Entdeckung der Logik – Eine Szene auf dem Schulhof Die Authentizität seiner philosophischen Aussagen unterstreicht Liebrucks mittels einer ihnen entsprechenden Deutung seiner eigenen Lebenserfahrung. In einer ebenso außergewöhnlichen wie beeindruckenden Selbstdarstellung⁵⁰² zur Begründung der Motivation und Funktion (des eigenen) philosophischen Wirkens setzt er ein mit einer autobiographischen, gleichwohl aber zwecks Inszenierung seines philosophischen Anliegens ambitioniert komponierten Erzählung (schließlich handelt es sich um eine Selbstdarstellung). Es ist nicht zu entschlüsseln, inwieweit Lebenserfahrung philosophisches Denken begründet oder aber die Weltdeutung nachträglich das Erleben modelliert. Liebrucks selbst wird nicht müde zu betonen, daß Erfahrung immer schon vermittelte, also gestaltete Erfahrung ist. Auch die Darlegung seiner eigenen Bewußtseinsentwicklung „von Kindheitsgeschichten bis zur Logik“ erweist sich als logisch reflektiert und dementsprechend präsentiert. (Denken, 171.) Dem Leser von Sprache und Bewußtsein mag die Lektüre der Selbstdarstellung den Zugang zu Motiven erleichtern, von denen das Denken Liebrucks’ geleitet wird. So ergänzen die Ausführungen der Selbstvorstellung meines Erachtens die Beschreibung der Bewußtseinsentwicklung, wie sie im Hauptwerk Sprache und Bewußtsein dargelegt werden. In erster Linie lassen sich Parallelen hinsichtlich der Passagen zur Auslegung der alttestamentlichen Abrahamerzählung ziehen. Hier wie dort ist der
502 Liebrucks, Bruno, Das nicht automatisierte Denken, in: Pongratz, Ludwig J., (Hg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Hamburg 1975, 168 – 223.
A. Denken gestalten – Denken in Gestalten
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Ausblick auf das Ganze des Weltumgangs als Blick in den Abgrund des Bewußtseins thematisiert. Die Darstellung des philosophischen Werdegangs wird mit der Schilderung eines Kindheitserlebnisses eröffnet. Ähnlich der Abraham unterstellten Erfahrung handelt es sich bei der Episode aus Liebrucks’ Jugend um eine gewissermaßen vorlogische Erfahrung, deren Bedeutung der Philosoph als Junge dereinst verspürte und die er sich nun zu begreifen zur Aufgabe gemacht hat. Auf dem Schulhof wird der Schüler Bruno Liebrucks Opfer des Spotts der übrigen Kinder. Der Junge steht auf einem Treppenabsatz, zu dem die Spötter immer wieder gelaufen kommen, um ihn mit ihren Hänseleien aufzuziehen. Er selbst steckt in den viel zu großen, seinen Gang behindernden Schuhen der Mutter, da seine wegen einer Verletzung bandagierten Füße in die eigenen Schuhe nicht mehr passen. Diese „U-Boote“ an seinen Füßen sind der Anlaß für die Sticheleien seiner Mitschüler. Einen Ausweg gibt es für den Gehänselten nicht: vor ihm der überschwemmte Schulhof, über den vor allem er sich kaum bewegen kann, hinter ihm die Schule, zu der ihm der Zutritt während der Pausen verweigert ist. Liebrucks beschreibt sich selbst zudem als „allzu gehorsam“, was ihm eine Ausbruchmöglichkeit aus der Situation etwa durch eine gepfefferte Replik oder das Anschwärzen der Spötter bei den Lehrern verbietet. (A. a.O., 176.) Schließlich zieht sich der Junge aus dem Schmerz über den Hohn in eine reine Betrachtung der Mitschüler zurück – eine „philosophische“ Distanz. In die Enge getrieben steht ihm plötzlich die gesamte Situation vor Augen, und das heißt: nicht nur die sachlichen Gegebenheiten wie Personen, Ort und analysierbare Vorgänge. Er macht die Erfahrung, gleichzeitig in einer Situation gefangen zu sein und über ihr stehen zu können. So erlebt er sich selbst als Involvierten und Beobachtenden einer Situation. Einerseits ist er einem Gefüge bestimmter Strukturen eingepaßt, seien es personale Beziehungen (Verhöhnung als Sonderling, Gehorsam gegen die Autorität der Lehrenden), räumliche Situation (die Enge der Plattform, auf der er kauert) oder körperliches Befinden (Eingeschränktheit der Bewegungsfreiheit). Im Geist allerdings kann er die Bedingtheit dieser Strukturen erkennen und vermag sich in diesem Begreifen auch außerhalb des Bedingten zu positionieren.Wer aber seine Grenzen erkennt, muß über sie hinaus sein. Diese Grenzüberwindung bleibt ein Schauen (θɛωρια), denn der tatsächlichen Bestimmtheit seiner Lage vermag der Junge nicht zu entfliehen. Doch im Bewußtsein von der Bedingtheit ist er über diese hinaus, sofern er nicht mehr in ihr aufzugehen droht. Die Episode aus der Schulzeit versieht Liebrucks mit dem Titel „Göttliche Belehrung“. (A. a.O., 172.) Mag diese Überschrift es auch nahelegen, begegnet hier jedoch kein göttliches Wesen, das belehrt. Die Bildlosigkeit Gottes wird stärker prononciert als in der Abrahamsinterpretation. Für Abraham bleibt Gott unsichtbar, dennoch spricht er mit diesem wie mit einem menschlichen oder men-
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7. Abraham – der erste Dialektiker
schenähnlichen Gegenüber. Das Denken in Gestalten ist vollzogen, jedoch nicht als solches erkannt. Liebrucks dagegen glaubt, Vollzug und Erläuterung des gestalthaften Denkens vereinen zu können. Als „göttlich“ bezeichnet er die Erfahrung, die ihn in der beschriebenen Szene auf dem Schulhof „wie ein Blitz“ erschüttert und das Bewußtsein erleuchtet – ein Geistesblitz, bei dessen Einschlagen man sich bewußt ist, eine Erfahrung zu machen, die anderen unvergleichbar bleibt. (A. a.O., 175.) Diese Erfahrung nennt Liebrucks die Erfahrung des Augenblicks. Trägt er auch eine Vielfalt von Gesichtern, erscheint doch in allen „göttlichen Augenblicken“ der eine Logos. Die Vielfalt an Erzählungen religiöser Erlebnisse exemplifiziert somit den humboldtschen Begriff der Entsprechung auf zweierlei Weise. Zum einen darf die Vielgestaltigkeit religiöser Erfahrung als Exempel der Unveräußerlichkeit individuellen Erlebens und Denkens bei dessen gleichzeitiger Kommunizierbarkeit gelten: Menschen teilen nie ein und dieselbe Erfahrung, ihre Eindrücke entsprechen sich, ohne jemals vollständig kongruent zu sein. (Vgl. a. a.O., 176 f.) Die zu „pluralen Lektüren“⁵⁰³ einladenden biblischen Gleichnisreden tragen diesem Umstand Rechnung. Zum anderen verrät die religiöse Kultur den bewußtseinstheoretischen Standort ihrer Bildner: „Der religiöse Glaube aller Zeiten tritt bei den Menschen immer in Entsprechung dazu auf, wie weit sie es in Darstellung, Sprache und Bewußtsein gebracht haben.“ (Denken, 192.)⁵⁰⁴ Der Mensch als ζωον λογον ɛχον ist in Bewußtsein und Sprache von der göttlichen Belehrung betroffen. Die Entwicklung des religiösen Bewußtseins hängt ab von der Entwicklung des Subjekts überhaupt.⁵⁰⁵
B. Vor dem Angesicht der Unendlichkeit Die Bewußtseinsstufe, die Liebrucks im Anschluß an Hegel in der biblischen Gestalt des Stammvaters Abraham repräsentiert sieht, ist die Stufe religiöser Erfahrung. Auf dieser Stufe erlangt das Bewußtsein die unmittelbare Gewißheit, daß alles Endliche ein Moment des Unendlichen ist, ohne daß es für dieses Unendliche einen Begriff fände. Erst im Begriff des Absoluten wird das Bewußtsein zu sich kommen in der Einsicht, sich als subjektiven Geist aus dem absoluten Geist zu
503 Zum Begriff des „offenen Textes“ und „pluraler Lektüren“ vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, 46. 504 Dasselbe gilt konsequenterweise auch für die Religionskritik: Ihr Niveau hängt an der Bewußtseins- u. Sprachentwicklung der Kritiker. 505 Man wird nicht soweit gehen können, die Identität beider zu behaupten. Liebrucks selbst spricht eindeutig auch in diesem Zusammenhang von einer Entsprechung, nicht von Kongruenz.
B. Vor dem Angesicht der Unendlichkeit
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empfangen. Insofern ist das religiöse Bewußtsein erst Bewußt-Sein im Aufbruch zu sich selbst. Der folgende Kapitelabschnitt wird zwei Motive aufnehmen und erläutern, anhand derer Liebrucks sein Verständnis religiöser Erfahrung offenlegt: Zum einen wird von der religiösen Erfahrung als Erfahrung des Augenblicks die Rede sein, zum anderen von der Erfahrung des Anfangs. Zuvor wird jedoch ein Begriff erläutert, anhand dessen sich verdeutlicht, mit welchem Preis die Verdrängung religiöser Erfahrung durch die Verabsolutierung des technisch-praktischen Weltumgangs bezahlt wird: Problembewußtsein.
I. Religiöse Erfahrung und Problembewußtsein In der säkularisierten Gesellschaft ist an die Stelle religiöser Erfahrung ein „Problembewußtsein“ getreten. (Vgl. a. a.O., 179.) Liebrucks erwähnt, diesen Ausdruck von Nicolai Hartmann übernommen zu haben. (Vgl. ebd.) Zu verstehen ist darunter ein Denken innerhalb der Reichweite von Bestimmtheit. Zwar wendet sich Hartmann ausdrücklich gegen voreiligen Systemeifer, doch seine philosophischen Betrachtungen verharren selbst in der Beschränkung auf die bereits systematisierte Welt. Spekulatives Denken will er aus der Philosophie ausschließen und diese als wissenschaftlich orientierte praktizieren.⁵⁰⁶ Eine systemungebundene Analyse soll die Beschäftigung mit hergestellten Problemen vermeiden. Jedoch erweist sich die bedenkenswerte Auffälligkeit eines Problems erst anhand eines Systems, dessen Geschlossenheit es konterkariert. Das Wachhalten des Bewußtseins für den hypothetischen Charakter aller Urteile im Unterschied zu apodiktischer Gewißheit ist sicherlich ein Anliegen Hartmanns, das Liebrucks teilt. Doch gibt Hartmanns logisches Vorgehen die Umsetzung dieses Vorhabens nicht her. Das szientistische Problemdenken Hartmanns ist eine Absage an spekulativ gewonnene Gewißheit des philosophischen Bewußtseins. Anders gesagt: ein Kreisen des Verstandes innerhalb seiner eigenen Konstruktionen. Seinem Anliegen, Philosophie auf naturwissenschaftliches Niveau zu heben – in Liebrucks’ Augen eher: zu senken -, wird Hartmann damit gerecht. Diese „intellektuelle Selbstzucht“⁵⁰⁷ greift Kants Erkenntnisvorbehalt vor dem Sein der Dinge an sich auf, vor allem in der Proklamation „irrationaler Problemreste“⁵⁰⁸, welche die
506 Vgl. zu dieser Einschätzung der Philosophie Hartmanns: Morgenstern, Martin, Nicolai Hartmann. Grundlinien einer wissenschaftlich orientierten Philosophie, Tübingen 1992. 507 Hartmann, Nicolai, Kleinere Schriften, Bd. I/1: Abhandlungen zur systematischen Philosophie, Berlin 1955, 48. 508 Hartmann, Nicolai, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin 19655, 126.
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7. Abraham – der erste Dialektiker
Erkenntnisfähigkeit der menschlichen Vernunft in ihre Grenzen weisen. Vernunft wird hier allerdings wie schon bei Kant allein über ihren Verstandesaspekt definiert; doch muß der Vernunft nicht verschlossen sein, was dem Verstand vorzustellen oder zu kategorisieren nicht möglich ist. Diesen Rückzug in die selbstverschuldete erkenntnistheoretische Unmündigkeit bedenkt Liebrucks mit ironischer Kommentierung: „Die Bescheidenheit feiert hier Orgien.“ (Denken, 179.) Der Ausdruck „Problembewußtsein“ ist Ausdruck einer atheistischen Grundhaltung, die das verstandeswidrige Hereinblicken Gottes als vernunftwidrig verkennt. Der Verstand muß sich, um seine Funktion zu erfüllen, den Zugang zu sich selbst verstellen. Die Vernunft darf dies nicht, wenn der Mensch menschlich sein soll. Der Atheist verwehrt sich ein adäquates Selbstverständnis. Tatsächlich gesteht Liebrucks jedoch niemandem zu, realiter Atheist zu sein, „so lange er noch lebt“, denn ebenso lange ist die Möglichkeit einer Erfahrung Gottes gegeben. (A. a.O., 180.) Mit einem Zitat der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes (deren Wertschätzung Liebrucks’ gesamtes Werk zum Ausdruck bringt) deutet Liebrucks an, in welchem Sinne er das Zusammenspiel aktiver Kultivierung und empfangender Ehrfurcht im menschlichen Weltumgang aufgefaßt wissen will. Goethe schreibt: „Das schönste Glueck des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.“⁵⁰⁹ (Nur) im Unterschied zum Entzogenen kann der Mensch erkennen, was sein Eigen ist. So führt seine Gotteserfahrung den Menschen zu sich selbst. Gotteserkenntnis ist menschliche Selbsterkenntnis: „Das Individuelle wird angesichts des Göttlichen erreicht […].“ (A. a.O., 179.)
II. „Verweile doch“– Die Erfahrung des Augenblicks „Was ist zugleich strenge Einheit und doch Vielheit? Dabei müssen wir uns nach einem Phänomen umsehen, das wir aus unserer Erfahrung kennen. Es ist der Augenblick, der Blick meiner Augen, der in einem ‚Augenblick‘ die Einheit von Mannigfaltigem wahrnimmt. Dieser Augenblick muß daher die Einheit der Einheit und Mannigfaltigkeit sein.“ (SuB IV, 679.) Die Wahrnehmung der Einheit in Vielheit ist es, die Abraham macht. Es ist die Wahrnehmung der Präsenz des Unendlichen im Endlichen, die Liebrucks als Erfahrung des Augenblicks umschreibt. Diese
509 Goethe, Johann Wolfgang von, Werke, hrsg. im Auftr. der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. 2: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. 11: Zur Naturwissenschaft, TH. 1: Allgemeine Naturlehre, Weimar 1893, 159; vgl. Denken, 179.
B. Vor dem Angesicht der Unendlichkeit
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Wendung wird im folgenden näher erläutert, um an ihr vorzuführen, was Liebrucks unter religiöser Erfahrung versteht. Gott ist auf Geschichte und Vernunft bezogen und in ihnen offenbar, jedoch nicht aus ihnen abzuleiten. Insofern bleibt er stets auch a b s c o n d i t u s . Liebrucks spricht von der göttlichen Erfahrung als Erfahrung eines Augenblicks. Dieser steht für ein unvorhergesehenes „Hereinschauen des Himmlischen“ in die vom Menschen bereitete Lebenswelt.⁵¹⁰ (A. a.O., 176.) In der Beschreibung des Augenblicks als Ereignis verfällt Liebrucks einer zum Teil recht romantischen Inszenierung: Beinahe wehmütig klingende Worte erzählen von der Sehnsucht nach jenen sinnvollen Momenten, dem Erblicken des Göttlichen im Antlitz der Natur in der Flüchtigkeit des Augenblicks, der jede Einladung zum Verweilen ausschlägt.⁵¹¹ Die Flüchtigkeit des Augenblicks belegt jeden Versuch, ihn in einem Ausdruck zu bergen, mit einer „Verhaltenheit, um die wir letzten Endes nur bitten können, wie es uns in der Bitte ‚Und führe uns nicht in Versuchung‘ vorgesprochen ist“. (SuB VII, 474.) Gemeint ist wohl die Versuchung, sich alles in der Unterwerfung unter Verfügungswissen erlaubende Formen Untertan machen zu wollen. Über den Augenblick verfügen wir nie. Er „gehört zur Nullklasse der Gegenstände.“ (SuB VI/1, 456.) Daher scheint nichts „so schwer wie das Leben im Augenblick, obwohl der Augenblick die Quelle ist, aus der Erkenntnis und Leben fließen.“
510 „Die Dinge zeigen dem Menschen für einen Augenblick ihr vom Menschen und von ihrer Realität unabhängiges göttliches Gesicht, wenn er in der transzendentalen Empfindung vor der zweiten Reflexion, der Aufklärung der Aufklärung, steht. Das ist der Augenblick, in dem sich nicht wesentliche, sondern die Begriffsobjektivität in die Begriffssubjektivität übersetzt. Diese ist existierende Zeit, die ihrerseits keinen logischen Ausdruck finden kann, bevor sie nicht als sprachlich entdeckt ist.“ (SuB VII, 738.) Der Ausdruck „transzendentale Empfindung“ verrät, daß Liebrucks hier auf eine Hölderlinauslegung zusteuert, die dessen Poesie den bislang höchsten logischen Status zuweist, den das menschliche Denken erreichen konnte. So endet der zitierte Abschnitt mit der Behauptung, die aus der hegelschen Logik bekannte Aufhebung der Begriffsobjektivität in die Begriffssubjektivität entspreche der „Übersetzung des griechischen Mythos, der nicht objektiv w a r, jedoch als solcher e r s c h i e n , in die Begriffssubjektivität des Individuums Friedrich Hölderlin.“ (Ebd.) Liebrucks liest die Dichtung Hölderlins als „das Umsprechen und die Ausweitung von Augenblicken, die rein, auch von der dichterischen Definition unberührt bleibt.“ (A. a.O., 739.) Hölderlins Poesie ist eine Demaskierung der Welt als einer positiven: Ihre dichterische Gestaltung ist zugleich Reflexion jeder Gestaltung und läßt daher das Unendliche unter den Formen des Endlichen begegnen. 511 Dem Menschen bleibt lediglich, sich grundsätzlich für eine Augenblickserfahrung zu öffnen. Mit einem Wort des biblischen Jesus beschreibt Liebrucks es daher als Erziehungsauftrag von Eltern, ihre Kinder auf die Notwendigkeit unverbildeter Eigenbesinnung hin zu erziehen. (Vgl. Mt 4,4 par; vgl. Denken, 222.)
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7. Abraham – der erste Dialektiker
(Denken, 192; vgl. SuB VII, 418.) Prägnant ist der Augenblick⁵¹², dem Wortsinn nach also eindrucksvoll. Der ursprüngliche Eindruck, den er hinterläßt, dauert an und ist in dem Sinne unvergeßlich, als er einen irreversiblen Fortschritt in der Bewußtseinsentwicklung initiiert. Er behauptet einen Intensitätsvorsprung vor jeder anderen Erfahrung, sei diese auch von längerer Dauer. Dem Kontext, in dem er sich ereignet, verleiht er eine besondere Deutung, kann wie ein Motto vorangehen, nachträglich die Sicht der Dinge verändern oder die Quintessenz einer Spanne erlebter Zeit bilden. (Vgl. a. a.O., 191.)⁵¹³ Das in der Augenblickserfahrung vermittelte „ursprüngliche Formniveau“ ist erst als logisch erschlossenes Eigentum des Menschen. Dennoch ist es nicht Resultat logischer Schlußverfahren. Ursprünglich ist das Formniveau, weil es nicht abgeleitet ist, sondern empfangen. „Die formale Logik gibt nicht das erste, sondern das zweite Licht.“ (Denken, 190.) Die Erfahrung des Augenblicks vollzieht sich – allerdings nicht ausschließlich – als außerordentliche Erfahrung der Natur⁵¹⁴, in welcher die „Einheit von Wirklichkeit und Bild“ erscheint. (Denken, 189.)⁵¹⁵ Die Welt zeigt sich als Realidealität bzw. Idealrealität. Das sich in dieser Erfahrung ereignende vorthematische Erfassen einer Kongruenz von Welterfahrung und Welterkenntnis⁵¹⁶ schildert Liebrucks als Moment „himmlischen Ver512 Vgl. SuB III, 80 u. ö.; auch in seiner philosophischen Selbstdarstellung spricht Liebrucks im Zusammenhang mit der Augenblickserfahrung göttlicher Belehrung von „prägnanten Erlebnissen oder meinetwegen auch Leiden“. (Denken, 178.) 513 So hat der Mythos „seinen Ursprung in den Erschütterungen der prägnanten Augenblicke, die in sich die Vergangenheit und die Gespanntheit in die Zukunft einer Gesellschaft versammeln.“ (SuB I, 417.) Das Erleben des Augenblicks erfährt „seine Eingemeindung in die Sphäre der menschlichen Weltbegegnung, die das Bewußt-Sein in einem jeweiligen Welt- und Zeitalter erreicht hat.“ (SuB VI/3, 143.) In dieser Eingemeindung wird der individuelle Eindruck gesellschaftsfähig. Doch „[f]este Gesetze sind nicht die Bedingung des Lebens im Augenblick, sondern die des längeren Lebens. Das Leben im Augenblick lebt in der Eurhythmie der Sprache. Der Dichter reflektiert auf diese Eurhythmie als kalkulables Gesetz und macht das Gedicht, das die Zeit der transzendentalen Empfindung d e h n t . Aus dieser Wirklichkeit leben der Einzelne wie die Institution.“ (SuB VII, 234.) 514 „Die Göttlichkeit der Alpen kann man nur sehen, wenn man für einen Augenblick ihre wissenschaftliche Bedeutung wie ihre geographische Bezeichnung vergessen hat. Deshalb begegnet ihre Göttlichkeit nur in den Augenblicken, vor denen unser Alltagsbewußtsein sofort die Tore verrammelt.“ (SuB VII, 232.) Denn „[w]o wir Natur und Geschichte ausbeuten, sind ihre göttlichen Aspekte nur noch in der Form der Vernichtung da. Unter der Kategorie der Notwendigkeit sind auch wir nur noch zufälliger Abfall der Geschichte.“ (A. a.O., 110.) Vgl. SuB VI/3, 572. 515 „Dabei schien das Bild nicht in der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit im Bild zu sein.“ (Ebd.; vgl. SuB VI/3, 609.) 516 Liebrucks schildert die Augenblickserfahrung als Harmonie von Erfahrung und Deutung. Insbesondere die philosophische Selbstdarstellung erzählt von einer Andächtigkeit angesichts
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gnügens“. (Vgl. ebd.) Daß in einem Verhältnis steht, wie man die Natur und wie man das Göttliche denkt, ist die Einsicht jeglicher Schöpfungstheologie. Liebrucks verschärft diesen Gedanken, indem er die Gottesprädikation „totaliter aliter“ (ebd.) auf die Natur bezieht, sofern diese im prägnanten Augenblick eine von sich aus bedeutende Identität offenbart. Die Natur sieht den Menschen an. Liebrucks spricht unter anderem vom „Angesicht der Landschaft“. (Vgl. a. a.O., 187.) Die Personifikation der Natur ist Wiedergabe des Gefühls, von ihrem Anblick völlig in Beschlag genommen zu sein. In der Überwältigung durch die ungeteilte Präsenz des Welt- als Naturzusammenhangs nimmt der Erfahrende die Einheit aller Weltbezüge wahr, in welche auch er immer schon eingewoben ist, und erlebt dieses Einsehen doch gleichzeitig als Separationsakt, bedingt durch Unteilbarkeit und Inkommensurabilität mit auch nur einer anderen Erfahrung – insofern steht jedes Individuum in der Erfahrung des Ganzen allein. Diese Situativität selbst ist die vielleicht treffendste Expression der Einheit von Identität und Nicht-Identität, die im Erleben des Göttlichen angeschaut wird, während die Übermacht des eigentlichen Erlebnisses jeglicher Wortgewandtheit deren Grenzen aufzeigt: „Jeder wirkliche Blick in die Natur bleibt unaussprechbar und unbeschreiblich.“ (A. a.O., 189.) Das Unfaßbare und Überwältigende, in seiner Wucht nicht in Worte zu fassen, einem sie einfangen wollenden Ausdruck schon entflohen, hinterläßt den es Erfahrenden in einer „Unsagbarkeit eines Glücks“. (Ebd.) Dennoch drängt es den Überwältigten zur Kommunikation. Es scheint eine unausgesprochene, nonverbale Verständigung über diese Erfahrung zu geben, die allen anderen Erfahrungen inkongruent, aber verwandt ist. Der Erfahrende ist „allein von einem solchen Gesicht umgeben“ und doch „mit dieser Erfahrung nicht allein“. (Ebd.). „Die Stimmung des Augenblicks ist zugleich reine und bestimmte Stimmung.“ (SuB VII, 194.) Sie braucht eine Ausdrucksform, welche die Doppeldeutigkeit dieser Stimmung, in welcher sich der Augenblick eröffnet und in die er versetzt, wiederzugeben vermag. Eine der Augenblickserfahrung adäquate Sprachform muß die Offenheit ihrer Umschreibung des Unbeschreiblichen thematisieren. Diese Offenheit des Ausdrucks findet sich vornehmlich in der Poesie, die in ihren
der „Schönheit“ der Natur. (Denken, 188.) Die Faszination des „Gesicht[s] der Landschaft“ – ein ruhig dahingleitender Strom, das Rauschen des Meeres (die Gesichter des Wassers sind ein dominantes Motiv nicht nur in diesem Text Liebrucks‘) – begleitet die Einsicht in die Zusammenhänge des Weltumgangs. (Ebd.) Es drängt sich die Frage auf, ob eine Gottesgewißheit, die solcher Naturerfahrung entspringt, nicht leicht destruierbar sein muß: Welches Antlitz trägt das Gottesbild, wenn die Naturerfahrung die Erfahrung einer Naturkatastrophe ist? Man denke etwa an das große Beben von Lissabon 1755, das nicht nur die Erde, sondern um so mehr das Weltverständnis erschütterte. Allerdings wird man kaum so weit zurückgehen müssen, um adäquate Beispiele für die Diskrepanz von Naturerfahrung und Weltvertrauen zu finden.
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Gesängen das Werden ihrer Worte bewahrt und aufzeigt. (Vgl. ebd.) Überhaupt ist es die Kunst, welche die Erfahrung prägnanter Augenblicke zu ihrem bevorzugten Motiv hat. Somit sind „unverlierbare Maßstäbe im Anblick von Natur und im Anblick von Kunstwerken gegeben.“ (Denken, 190.)⁵¹⁷ Liebrucks findet die „Eudaimonia“, die jene Augenblicke bewirken, in Hölderlins Werken am zutreffendsten vermittelt, weshalb er die Auslegung des Werks dieses Dichters zum Höhe- und Kulminationspunkt von Sprache und Bewußtsein macht. (Denken, 189.) In Hölderlins Beschreibung der „Innigkeit“ der Zusammenschau von Gott und Welt, Transzendenz und Immanenz erkennt Liebrucks eine lyrische Expression für den hegelschen Gedanken der Aufhebung. (Vgl. a. a.O., 196 f.) Wo vom Augenblick die Rede ist, muß dessen Verhältnis zur Zeit geklärt werden. Liebrucks hat hiervon eine genaue Vorstellung: „Der Augenblick in dem von mir logisch angepeilten Sinn, ist nicht eine metaphysische Interpretation der Zeit, sondern die Zeit, die wir als existierende Begriffe mit jedem Augenaufschlag wahrnehmen.“ (Handlung, 362.) Liebrucks’ Verständnis des Augenblicks ist somit einer Auffassung dessen als einer ρωπη entgegensetzt. Die Interpretation des Augenblicks als Jetztpunkt entspringt einer sukzessiven Zeitvorstellung. Darin ist der Jetztpunkt die Schnittstelle, ρωπη, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Einen Punkt zwischen diesen beiden Zeitmodi ausmachen zu wollen, an dem sich beide von einander unterscheiden lassen, ist jedoch reine Konstruktion.⁵¹⁸ Formallogisches Prinzipiendenken setzt ein solches sukzessives Zeitgeschehen voraus: Das p r i n c i p i u m c o n t r a d i c t i o n i s gilt, weil angenommen wird, daß zu ein und demselben Zeitpunkt etwas nicht zugleich etwas anderes sein kann. „Die Ewigkeit des Augenblicks, das Zeitmaß der Sprache, bleibt dem auf das Verhältnis von Religion und Positivität gerichteten Blick an dieser entscheidenden
517 „Als Inbegriff von Objekten, die vom Menschen als unabhängig vorgestellt werden, ist Natur nicht göttlich. Göttlich wird sie erst durch die Verbindung mit einer Kunst, die zwar harmonisch, aber von ihr verschiedenartig ist. Das Göttlichwerden der Natur ist an ihre Begegnung mit einer Kunst gebunden, die nicht wie eine Blüte aus ihr entstanden ist, sondern als ihre Ergänzung auftritt. Natur und Kunst sind darin Besondere gegeneinander. […] In der Verbindung von Natur und Kunst als je besonderer, als Mängelwesen wird die Natur göttlich und ist die Vollendung da. In diesem Zusammenhang dürfen wir weder die Natur noch die Kunst als göttlich ansehen, sondern nur ihre Verbindung.“ (SuB VII, 419.) 518 „In jedem Augenblick menschlicher Erfahrung dagegen ist der Übergang von Sein zu Nichts. Dieser Augenblick ist nicht ein Jetztpunkt in einer dazu eigens modalisierten Zeit. Selbst solche fingierten Jetztpunkte bleiben mathematisch wie logisch unerreichbar […].“ (SuB VI/1, 168.) – „Im Sinne geht A immer in nicht A über, in jedem Augenblick, wenngleich dieser logisch nicht erreichbar war, wegen des dauernden Übergehens. Die formallogische Nichterreichbarkeit des Augenblicks ist nur ein anderer Ausdruck für die schon in dieser Anmerkung beginnende logische Ortsbestimmung des Widerspruchs.“ (SuB VI/2, 97.)
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Stelle verschlossen.“ (SuB III, 190; Herv. S. L.) Die Wahrnehmung im Augenblick, von der Liebrucks spricht, stellt das durch verstandesgemäße Anschauungsformen bedingte Erfahren in Frage. „Die Göttlichkeit blitzt nur in vom Alltagsbewußtsein unüberwachten Augenblicken auf, die die wahre Zeit sind. Das Plötzliche des Augenblicks zeigt auf die nicht positivierte Welt. Diese ist zugleich w a h r. Falsch ist sie nur, wenn sie nicht einfällt, sondern von uns veranstaltet wird.“ (SuB VII, 13 f.) Der unzeitlich ewige Augenblick durchbricht die postulierte Sukzession der Zeit und alltägliche Erfahrungsstrukturen, wodurch er auf die dialektische Durchdringung von Endlichkeit und Unendlichkeit, Vergänglichkeit und Ewigkeit verweist. (Vgl. SuB II, 169.) Für Liebrucks ist der Augenblick die Aufhebung der Zeit, wie wir sie als reine Anschauungsform des Verstandes wahrnehmen. Insofern gilt: „Anderswo als in Augenblicken wird Zeit nicht erfahren.“ (Sinnfrage, 283.) Den Menschen als existierenden Geist, als existierenden Begriff führt dies zu einer Doppelwahrnehmung. Er steht in der Realität als von ihm zeitlich-sukzessiv geordneter, zugleich begreift er „augenblicklich“ den Setzungscharakter dieser Ordnung. Liebrucks spricht von dem „Augenblick, in dem wir eingesehen haben“. (Handlung, 361.) Das erinnert an Kierkegaard, für den im Augenblick als Augenblick der Entscheidung die Ungewißheit zwischen Schein und Wahrheit überwunden wird. Der Augenblick ist Grenzpunkt zwischen Vorher und Nachher, in ihm entscheidet sich, was wir als Vergangenheit, was als Zukunft ansehen wollen. Doch zielt diese Aussage bei Liebrucks auf kein temporales (schon gar kein punktuelles), sondern ein logisches Verständnis. Der Augenblick als Augenblick der Entscheidung ist das Aufscheinen einer Identität, welche den Unterschied als absoluten an sich hat. Insofern ist der Augenblick die Erfahrung von Einheit und Vielheit; er ist „Darstellung Gottes, wie er in seinem nicht zeitlichen, sondern ewigen Wesen ist, ist die Darstellung Gottes, wie er im Augenblick als der wirklichen Zeit ist. Es ist die Darstellung Gottes, wie er nicht in einer wesentlichen vorgestellten noumenalen Welt oder als diese ist, sondern wie er ‚in‘ seinem Wesen ist, das nicht zeitlich oder überzeitlich, sondern ewig, d. h. im immerwährenden Augenblick ist. Dazu muß dieser Augenblick als der existierende Begriff erkannt werden.“ (SuB VI/1, 202.)⁵¹⁹ Die logische Relevanz des Augenblicks besteht folglich darin, geistige wie sinnliche Veranschaulichung des Werdens von
519 „Der Logos hat sein Dasein nur im zeitlichen Augenblick des plötzlichen Einfalls. Dieser Augenblick ist in keinem Modus der Zeit. Die Modi der Zeit sind immer in ihm enthalten.“ (SuB VI/3, 591.) Der Logos wird geschichtlich, ohne jemals aus der Geschichte ableitbar zu sein. Alle Geschichte als das fortlaufende Vollziehen der Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem ereignet sich im Logos. In Augenblicken scheint er auf. Als Augenblick, der keine zeitliche Dauer hat, zeigt er sich als Aufhebung aller zeitlichen Modi: Er ist das Unendliche, in dem alles Endliche aufgehoben ist, so daß er selbst im Endlichen Platz nehmen kann.
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Bewußt-Sein zu sein. „Ohne diesen Augenblick, diesen plötzlichen Einfall von Wirklichkeit, den wir den in keinem Ort der positivierten Welt und der positivierten Zeit seienden nennen, kann der Mensch nicht leben. Der Augenblick ist nicht der Blick in den Spiegel, der das in ihm Gespiegelte gibt, sondern der Blick auf das wirklich Begegnende.“ (A. a.O., 143.)⁵²⁰ Der Augenblick ist als Erfahrung der unablässigen Reziprozität von Erfahrung und Bedeutung ebenso Erfahrung des absoluten Geistes wie Erfahrung der logischen Bewegtheit des eigenen BewußtSeins – und zwar unverstellt, nicht verkehrt wie in einem Spiegel, sondern unmittelbar. Im Augenblick wird erfahren, wie der Begriff zu sich kommt. „Das Erzeugen des Jetzt, das als werdendes Jetzt immer zugleich entstehendes und vergehendes Jetzt ist, geschieht im ewigen Augenblick. Dieser ist der logische Augenblick als Begriffsblick, der sowohl Blick des Menschen wie darin zugleich der Blick Gottes ist.“ (SuB VI/1, 455.) Im Augenblick ist uns das Absolute und mit ihm die Wahrheit unseres Menschseins in ganzer Fülle präsent. Daher charakterisiert Liebrucks diese Erfahrung als Bekehrungserlebnis, wie es Paulus oder Augustin erlebten: „Jeder hat sein Damaskuserlebnis oder sein tolle lege.“ (SuB I, 116.) Sowohl Paulus als auch Augustin erfuhren ihre Bekehrung als Imperativ: Die Erfahrung des Ganzen der Wahrheit belehrt uns darüber, ihr nicht entfliehen zu können und nötigt uns daher eine „produktive Antwort“ ab. (Vgl. Denken, 189.) In der Erfahrung unserer Wahrheit erleben wir uns als dieser immer schon gehorsam. (Vgl. A. a.O., 176 f.) Liebrucks’ Schilderung der religiösen Augenblickserfahrung ähnelt in auffälliger Weise Schleiermachers Schilderung jenes ersten „geheimnißvolle[n] Augenblik[s], […] ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind, […].“ Auch Schleiermacher weiß um die Unvergleichbarkeit des Augenblicks: „wie unbeschreiblich er ist, und wie schnell er vorüber geht […]. Flüchtig ist er und durchsichtig […]. Schnell und zauberisch entwickelt sich eine Erscheinung eine Begebenheit zu einem Bilde des Universums.“⁵²¹ Die religiöse Erfahrung als Erfahrung eines prägnanten Augenblicks begründet in Schleiermachers Frühwerk, den Reden Über die Religion, das Selbstbegreifen des Subjekts als frommes Selbstbewußtsein. In der Erfahrung des Augenblicks durchzückten „einzelne erhabene Gedanken [..] ihre von einem
520 „Ohne die wenigen Augenblicke der Freiheit in unserem Leben können wir auch mit Hilfe der Wissenschaften keinem Menschen helfen. Mit dem Realitätsprinzip vor dem abgeblendeten Auge können wir uns und anderen nur dann helfen, wenn wir die Welt der Positivität von der Welt der Wirklichkeit logisch unterscheiden. Dazu sind wir in dem durch die Jahrtausende strahlenden Wort aufgefordert, dem Caesar, der heute der Herr der Welt der Positivität ist, zu geben, was des Caesars ist, und Gott zu geben, was Gottes ist. In diesem ‚und‘ liegt das logische Problem des Hegelschen Begriffs.“ (A. a.O., 144.) 521 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg.v. Meckenstock, Günter, Berlin/New York 1999, 89.
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ätherischen Feuer sich entzündende Seele, und der magische Donner einer zauberischen Rede begleitete die hohe Erscheinung, und verkündete dem anbetenden Sterblichen, daß die Gottheit gesprochen habe.“⁵²² Die Assoziation eines Gedankenblitzes, wie Liebrucks ihn in der Schulhofszene beschreibt, liegt nahe. Ebenso läßt das Schleiermacherzitat an den Gott Abrahams denken, der zwar unsichtbar bleibt, aber mit dem Menschen spricht. Die „himmlischen Funken“ – so kann man weiterhin bei Schleiermacher lesen -, welche diese außergewöhnliche Erfahrung schlägt, sind „bedeutungsvoll“, wenn sie auch einem „unbegreiflichen Augenblik“ entspringen.⁵²³ Wie bei Liebrucks wird die Augenblickserfahrung durch Flüchtigkeit und Unbeschreiblichkeit charakterisiert; zugleich aber ist von ihr ausgesagt, sie erfülle mit unauslöschlicher Bedeutung. Bezeichnenderweise verwendet auch Schleiermacher zur Darstellung des werdenden religiösen Bewußtseins den Gestaltbegriff: „So wie sie sich formt die geliebte und immer gesuchte Gestalt, flieht ihr meine Seele entgegen, ich umfange sie nicht wie einen Schatten, sondern wie das heilige Wesen selbst.“⁵²⁴ Diese Schilderung der Begegnung mit dem Göttlichen erinnert erneut an den Gott Abrahams, der den Menschen mit seiner totalen Präsenz einnimmt, ihn gleichzeitig sein Antlitz suchen läßt und in dieser paradoxalen Einheit als das Ganze des Weltumgangs vor den Augen des ihn Erfahrenden steht. Unter der im „Augenblick“ verliehenen Bedeutung ist eine „FundamentalAnschauung“ verstanden, die „im Voraus bestimmt, in welcher Gestalt ihm [dem Menschen, S. L.] jedes Element der Religion […] erscheinen muß.“⁵²⁵ Demnach entwickelt sich die Gestalt individueller Religiosität „genetisch“ aus dem grundlegenden Augenblick. Von diesem Eindruck der religiösen Ursprungserfahrung ist ausgesagt, daß er „sich nie verliert, wie weit er [der religiöse Mensch, S. L.] auch hernach in der Anschauung des Universums fortschreitet, über das hinaus, was die erste Kindheit seiner Religion ihm darbot.“⁵²⁶ Die in diesen Worten umschriebene Bedeutungsexpansion erinnert an das Jugenderlebnis Liebrucks’, den Jungen auf dem Schulhof, dessen religiöse Augenblickserfahrung für ihn ebenso unbeschreiblich wie für sein weiteres Leben prägend ist. Sie ergeht an ihn als göttliche Belehrung: „Nichts tun und nur betrachten!“ (Denken, 174.) Vielleicht kann in diesem Betrachten ein Pendant zu dem entdeckt werden, was Schleiermacher mit „Anschauung“ zu umschreiben sucht.⁵²⁷ Die Augenblickserfahrung bleibt gegenwärtig als mitwandernder Horizont, vor ihm erscheinen alle vorgängigen und nachfolgenden Begegnungen mit Welt „[…] in der Einheit des fortdauernden und an jenen ersten Moment sich anschließenden Bewußtseins […].“⁵²⁸ Insofern ist der Augenblick „Geburtstag [..] geistigen Lebens“⁵²⁹, Ursprung von Religion⁵³⁰. Es
522 A. a.O., 69. 523 Ebd. 524 A. a.O., 89. 525 A. a.O., 173. 526 A. a.O., 174. 527 Vgl. Reden, 81 f. 528 A. a.O., 174. Schleiermacher spricht demgemäß von einem „immerwährenden Einfluß des Zustandes, in welchem sein [des religiösen Selbstbewußtseins, S. L.] Gemüth zuerst vom Universum begrüßt und umarmt worden ist […].“ (Ebd.) 529 A. a.O., 175. „Dieser Augenblik ist nemlich zugleich ein bestimmter Punkt in seinem Leben, ein Glied in der ihm ganz eigenthümlichen Reihe geistiger Thätigkeiten, eine Begebenheit, die, wie jede andere, in einem bestimmten Zusammenhange steht mit einem Vorher, einem Jetzt und Nachher […]. […] so entsteht auch in jenem Augenblik, in welchem ein bestimmtes Bewußtsein
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ist der „erhabene[] Augenblik, in welchem der Mensch überhaupt zuerst in das Gebiet der Religion eintritt. Die erste bestimmte religiöse Ansicht, die in sein Gemüth mit einer solchen Kraft eindringt, daß durch einen einzigen Reiz sein Organ⁵³¹ fürs Universum zum Leben gebracht und von nun an auf immer in Thätigkeit gesezt wird, bestimmt freilich seine Religion; sie ist und bleibt seine Fundamental-Anschauung in Beziehung auf welche er Alles ansehen wird, und es ist im Voraus bestimmt, in welcher Gestalt ihm jedes Element der Religion sobald er es wahrnimmt, erscheinen muß.“⁵³² Allerdings bekennt auch Schleiermacher, daß sich die Bedeutung des Augenblicks „nur aus sich erklärt, und nie ganz verstanden werden kann […].“⁵³³ Stets besteht eine Diskrepanz zwischen dem lebendigen Geist der Religion und der Rede davon, zu der es den von dieser Erfahrung Erfüllten drängt.⁵³⁴ Ein vollständiger Vergleich Schleiermachers und Liebrucks’ soll und kann hier nicht angestrengt werden. Der Hinweis darauf, daß Diktion und Motive beider Denker auffallend kongruieren, sei indessen erlaubt. In Schleiermachers Darstellung der Welt als Gesamtheit widersprüchlicher Prinzipien, in welcher menschliche Existenz als Spannungsverhältnis von Freiheit und Abhängigkeit ausgelegt wird, drängt sich geradezu die Assoziation der Marionettenmetapher auf. Der Wahl zwischen endlicher und unendlicher Freiheit zu entbehren,
des Universums anhebt, ein eigenes religiöses Leben […].“ (A. a.O., 174.) – Die Begegnung mit dem Göttlichen als Geburt geistigen Lebens kennt auch Liebrucks: „Das Göttliche erfahren nur diejenigen, die es selbst sind, womit sie jedoch die Stufe der Subjektivität überschritten haben. Wie eine Geburt ausgetragen werden muß, so muß der Mensch den Zustand, der ihn vor die Erfahrung des Göttlichen und der Götter in der Welt bringt, langsam tragen lernen. Dann wird ihm daraus die Sprache, die unter einer gemeinsamen Gottheit immer doch die eigene ist.“ (SuB VII, 667.) 530 „Religion, die als eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit und als eine Regung ihres Geistes erscheint […].“ (Schleiermacher, Reden, 175.) 531 Es sei dahingestellt, ob es zu weit geht, in diesem Ausdruck eine Parallele zu Humboldts Bezeichnung der Sprache als „bildende[s] Organ des Gedanken“ zu sehen, und somit eine Zuspitzung des Schleiermacherzitates auf den Sprachbegriff vorzunehmen. (Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues [1963], 426.) Eine weitere auffällige Analogie ist unbestreitbar Schleiermachers Gebrauch des Begriffspaares „E m p f ä n g l i c h k e i t und S e l b s t t ä t i g k e i t “ in seiner Glaubenslehre. (CG2, 24.) 532 Schleiermacher, Reden, 173. 533 A. a.O., 175. 534 „Giebt Gott einem, der in dieser Laufbahn [der Entwicklung eines religiösen Bewußtseins, S. L.] sich bewegt, zu seinem Streben nach Ausdehnung und Durchdringung auch jene mystische und schöpferische Sinnlichkeit, die allem Inneren auch ein äußeres Dasein zu geben strebt, so muß er nach jedem Ausfluge seines Geistes ins Unendliche den Eindruck den es ihm gegeben hat hinstellen außer sich, als einen mittheilbaren Gegenstand in Bildern oder Worten, um ihn selbst aufs neue in eine andere Gestalt und in eine endliche Größe verwandelt zu genießen, und er muß also auch unwillkürlich und gleichsam begeistert – denn er thäte es, wenn auch Niemand da wäre – das was ihm begegnet ist, für Andere darstellen, als Dichter oder Seher, als Redner oder als Künstler.“ (A. a.O., 61.)
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kennzeichnet die Freiheit des Menschen als begrenzte.⁵³⁵ Das Woher dieser Freiheit in schlechthinniger Abhängigkeit wird im prägnanten Augenblick erfahren.
III. Der Zauber des Anfangs Als Moment der Entscheidung ist der Augenblick ein Anfang, verstanden als Eintritt in eine neue Bewußtseinsstufe. Jedem Anfang wohnt der Zauber des Göttlichen inne. Jedes Fortkommen in der Bewußtseinsentwicklung, jede Überwindung des Gewohnten ist Begegnung mit dem göttlichen Logos, dem Ganzen des sprachlich-logischen Weltumgangs, das sich in gestalthafter Vermittlung zeigt. Da es stets der eine Logos ist, der ununterbrochen wirkt, steht der Mensch trotz der Vergänglichkeit des Augenblicks nicht einen Moment außerhalb des Grundes allen Weltumgangs, der im Augenblick unmittelbar erfahren wird. „In ihm als dem Anfang sind wir immer.“ (Denken, 222.) Und doch ist der Augenblick „verlorene Zeit“ – weder zu bestimmen noch aufzuhalten, stets unerwartet und die verstandesgemäße Wahrnehmung narrend. Mit dem Zitat des Titels von Prousts monumentalem Romanwerk À la recherche du temps perdu, dessen eigentliches
535 Hier sollen keine Kongruenzen erzwungen werden; vielmehr sei im Aufweisen der Motivparallelität bei Liebrucks und Schleiermacher zugleich im Blick, daß Liebrucks sich mit seiner grundlegenden Referenz auf Hegel einem Denker anschließt, der lange Zeit gegen die Theologie seines Zeitgenossen und Kollegen Schleiermacher polemisiert hat. Es wird in dieser Untersuchung nicht versucht, gewissermaßen mit einem Umweg über Liebrucks Hegel und Schleiermacher miteinander auszusöhnen (was sie letztendlich nach Jahren des Zwistes selbst vollbracht haben sollen). Beide legen eine je eigenständige Dialektik vor, die von der jeweils anderen deutlich differiert; solche Unterschiede können anerkannt, nicht hinweggearbeitet werden. Es sei lediglich erlaubt, darauf hinzuweisen, daß beide Denkansätze nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen. Ebenfalls darf kritisch nachgefragt werden, ob Hegels philosophische Abqualifizierung Schleiermachers nicht eher ein Nebenprodukt der politischen Differenzen beider ist. Zudem drängt sich der Eindruck auf, Hegel habe kein adäquates Verständnis für Schleiermachers Gefühlsbegriff ausgebildet, da er den Gefühlsbegriff in Richtung eines animalischen Instinkts oder Affekts diskreditiert, so daß er sich schließlich nicht zu schade ist, die Theologie seines Kollegen in der Vorrede zu Hinrichs‘ Religionsphilosophie (1822) auf den schlichten Nenner zu bringen, nach Schleiermacher müsse der Hund der beste Christ sein, sofern er das Paradebeispiel für schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl sei. Hegel billigt dem von Schleiermacher in dessen Glaubenslehre beschriebenen religiösen Selbstbewußtsein nicht zu, seinen eigenen Reflexionsvollzug reflektieren zu können. In der Tat handelt es sich bei dem von Schleiermacher beschriebenen frommen Selbstbewußtsein um eine unmittelbare, vorthematische Einsicht in die Zusammenhänge des Seins. Trotz der Charakterisierung dieses Erkenntnismoments als emotives Gestimmtsein ist jedoch durch Schleiermachers synonymen Gebrauch von Selbstbewußtsein und Gefühl ausgeschlossen, daß es sich bei letzterem um bloß affektive Bewegtheit handelt.
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Thema das Sich-Erinnern und die künstlerische Verarbeitung dieser Erinnerung ist, kennzeichnet Liebrucks seine Arbeit am Sprachbegriff ebenfalls als Auseinandersetzung mit dem Thema der αναμνησις. Dieses erkennt er zudem als Grundmotiv von Religion. „Die Suche nach der verlorenen Zeit ist immer die Suche nach den göttlichen Augenblicken, die in Religionen mit sehr unterschiedlichen Geschichten von Geschehnissen beschrieben werden können. Sie werden wohl am ehesten im sermo humilis von Gleichnissen mitgeteilt.“ (A. a.O., 190.) Die Aufnahme des t e r m i n u s t e c h n i c u s s e r m o h u m i l i s – schon bei Cicero zu finden, von Augustin für die christliche Literatur als angemessener Stil bestätigt – mag bei Liebrucks auf eine Lektüre Erich Auerbachs⁵³⁶ zurückgehen. Die uneitle Schlichtheit biblischer Rhetorik verkörpert den Logos selbst auf bemerkenswert unverfälschende Weise. Die Niedrigkeit des Redens über den Logos, die man vielleicht mit dem Motiv parallelisieren darf, zu werden wie die Kinder, ist sowohl Bedingung als auch Ausdruck der Einsicht in die Zusammenhänge des Weltumgangs. H u m i l i t a s ist die Haltung des Einsehenden, der sich als solcher des Vorbehaltscharakters seiner Rede bewußt ist. Denn ist der Erfahrende im Augenblick selbst zwar gänzlich von dessen spontan einleuchtender Klarheit⁵³⁷ ergriffen, bleibt es doch eine lebenslange Herausforderung, die situative Eigentümlichkeit des Augenblicks zu (begrifflicher) Entfaltung zu bringen. „Sprachlich vermag der Ergriffene nicht gleich den ganzen Augenblick zu geben.“ (SuB I, 417.) Um ihm in Einschätzung und Darstellung gerecht zu werden, bedarf es einiger Lebens- und Welterfahrung. Jedes Bild, das wir für den Logos finden, ist aus diesem geboren. „Nur der Logos selbst ist nicht bildhaft,weil er der Anfang ist. Dieser zeigt als Augenblick auf 536 Ebenso der von Liebrucks verwendete Ausdruck der Mimesis, mit dem er die Lautbildung in der Sprache als Nachahmung von Naturerfahrung bezeichnet. Vgl. Auerbach, Erich, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958. Im Kapitel über den s e r m o h u m i l i s beschreibt Auerbach auf Seite 42 eine auf Augustin zurückgehende Rede von einer Erkenntnis eröffnenden Augenblickserfahrung: „Daß Gelehrsamkeit zwar zuweilen nützlich sein kann, aber durchaus keine Bedingung für das tiefere Verständnis ist, hängt mit Augustins oft ausgedrückter Überzeugung zusammen, daß das echte Verständnis auf Erden nur durch einen augenblicklichen Kontakt (ictu), durch eine Erleuchtung zustande kommt, in welcher der damit Begnadete sich nur einen kurzen Augenblick zu erhalten vermag; alsbald fällt er ins Irdische und Gewohnte zurück.“ – Warum Liebrucks den s e r m o h u m i l i s explizit den Gleichnissen zuordnet, muß offen bleiben; möglicherweise bildet hier seine Hamann-Lektüre den Verständnishintergrund. Auffällig ist diese Zusammenstellung insofern, als die von Liebrucks zur Erläuterung seiner philosophischen Ausführungen dienenden Bibelworte nur äußerst selten Gleichniserzählungen entstammen. 537 Vom Strahl der Erkenntnis getroffen, beginnt der Erkennende gleichsam selbst zu leuchten. (Vgl. Hegel, PhG, 58.) So spricht die Lehrerin zum in den Klassenraum zurückgekehrten Schüler Liebrucks: „‚Du strahlst ja so‘“. (Denken, 174.)
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die Dimension hin, in der er selbst sein Leben hat.“ (SuB VI/2, 73.) Der im Augenblick erfahrene Logos ist Anfang als der „Trieb, über sich hinauszugehen. Darin liegt seine, des Anfangs immerwährende Wahrheit.“ (SuB VI/3, 600.) Als dieser Trieb, als welcher der zu sich drängende Begriff hier umschrieben ist, ist der Anfang immer mitgehend, immer konkret. Der mitgehende Anfang ist die Fülle des Logos, aus dem immer neue Unterscheidungen des Allgemeinen und des Besonderen generieren. Als solcher ist der mitgehende Anfang ein Anfang mit dem Absoluten: Er ist an sich und für sich Anfang. Weil in diesem Anfang die Fülle des Absoluten gegenwärtig ist, ist er nichts Unvollständiges, kein bloßer Anfang. (Vgl. Ebd.) „Der Anfang, der mit der Logik immer mitgegangen ist, ist das Ursprüngliche göttliche Wort, als das jeder Gegenstand erscheint, das Wort, das zugleich die seiende Bewegung, die Reflexion und der Begriff der ganzen Welt ist.“ (A. a.O., 601.)⁵³⁸ Die begriffliche Erschließung des Anfangs steht (in dieser Auffassung sei wiederum Hegel gefolgt) am Ende des philosophischen Prozesses – andernfalls wäre Philosophie lediglich das Ziehen von Konsequenzen. So proklamiert etwa die cartesische Prinzipienphilosophie zuerst ein Prinzip, auf dem sie anschließend aufbaut. Der unmittelbare Zugriff auf die Welt läßt diese aber nicht von sich selbst her sehen und verpaßt damit den Zugang zu deren Wirklichkeit. Von der Philosophie geht man nicht aus, sie muß sich selbst hervorbringen und kann doch nicht mit sich selbst beginnen. Sie bringt sich aus dem hervor, was sie (noch) nicht ist: Philosophie ist Denken des Vorphilosophischen. Dementsprechend ist wohl die Aussage aufzufassen, Philosophie sei ein „Raum der Leere“, ein Übergang zu den Revolutionen von Denkart, in denen das Bewußtsein über sich hinauswachsend zu sich kommt. (Denken, 222.) Der Grund dieser Selbstdurchdringung des Bewußtseins wird jedoch nicht von der Philosophie generiert, sondern extrapoliert. Begriffliches Denken gewinnt seine Inhalte an der Erfahrung. Damit ist ebenfalls ausgesprochen, was bereits des öfteren anzudeuten versucht wurde: Erkenntnis im Augenblick ist nicht als Offenbarungswahrheit mißzuverstehen, vielmehr entspringt Erkenntnis der Erfahrung, sofern diese bewußtseinstheoretischer Reflexion unterzogen wird. Dieses nachfolgende Denken in Begriffen ist gleichwohl inhaltsärmer als die genetisch frühere Anschauung, es steht zum zunächst unmittelbar Gegebenem bereits in beobachtender Distanz, konzentriert auf dessen Struktur.
538 „In der Geburt jedes Menschen ist dieser immerseiende ewige Anfang. Ebenso ist er im Aussprechen jedes einzelnen Satzes […]. Die Augenblicksgestalt jedes gesprochenen Wortes ist die sich durch die wesentliche Zeitlichkeit erstreckende Dauer eines ganzen Menschenlebens.“ (A. a.O., 612.)
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„Die aktuale Unendlichkeit des Begriffs, der der ewige Augenblick ist, der als uns immer begleitender Anfang durch unser Leben zieht, haben vielleicht nur Plato und Hegel gekannt.“ (A. a.O., 192.) Mit Aussagen wie dieser legt Liebrucks die philosophischen Wurzeln seines Denkens offen und formuliert darin zugleich eine stark verdichtete Version seiner Logosphilosophie. Mit der Näherbezeichnung der Unendlichkeit als aktualer ist angezeigt, daß der angesprochene Begriff der Begriff eines Absoluten ist, sofern der Ausdruck „aktuale Unendlichkeit“ als Hinweis auf die aristotelische Physik verstanden wird: Die von potentieller Unendlichkeit unterschiedene aktuale Unendlichkeit, die Thomas von Aquin später auf Gott beziehen und ihn somit als vollständig mit jedem ihrer Momente – man möchte hinzufügen: im Augenblick – gegebene Unendlichkeit beschreiben sollte. Ein Denker wie Kant, welcher der formallogischen Eindeutigkeit den Vorrang vor spekulativer Metaphysik einräumt, kann diesem Unendlichkeitsbegriff allenfalls eine heuristische Funktion zugestehen. In einem dialektisch gedachten Begriff eines Absoluten aber erweist sich dieses in seiner Entäußerung in die Endlichkeit, aus der es immer wieder zu sich zurückkehrt, als unendlich. Das Unendliche ist solches, sofern es die Endlichkeit zu seinem Moment hat. Damit ist die aktuale Unendlichkeit nicht nur von heuristischer, sondern logischer Bedeutung. Hegel hat diese Einsicht unter anderem in seiner Unterscheidung von „schlechter“ und „wahrer“ Unendlichkeit entfaltet.⁵³⁹ In Aufnahme der Unendlichkeitsdefinition aus der aristotelischen Physik wird diese zugleich überwunden: Hegel bezeichnet als „schlechte oder negative Unendlichkeit“ die Vorstellung eines Unendlichen als bloße Negation des Endlichen, in welcher sich das wechselseitige Hervorrufen endlicher Bestimmtheit als unablässiger Prozeß a d i n f i n i t u m durchhält. Die schlichte Negation des Endlichen ist selbst nur ein Endliches, somit jedoch eine Pseudo-Unendlichkeit. Sie verbleibt im Status der Widersprüchlichkeit, in welchem die Aufhebung des Endlichen lediglich als gefordert erscheint. Der Einheitsgrund, aus dem heraus Unterscheidungen erst entstehen und in den sie wieder aufgehoben werden, müßte somit als ein Drittes vorausgesetzt werden. Dieses dürfte dann ein „zweites“, wahres Unendliches sein – die Absurdität dieser Annahme ist unübersehbar. Der unendliche Grund alles Endlichen muß ebenso von diesem unterschieden und zugleich es enthaltend gedacht werden. Für Liebrucks kann ein solcher Satz nur eines sein: Beschreibung des Logos.
539 Vgl. Hegel, Enzykl., §§94 f.
C. Die Notwendigkeit des Opfers
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C. Die Notwendigkeit des Opfers Die religiöse Erfahrung des Augenblicks ist Erfahrung des Logos als des immer mitgehenden Anfangs. Als ζωον λογον ɛχον spricht der Mensch das Anfang seiende Wort beständig selbst aus: In jedem seiner Worte erzeugen sich Erfahrung und Begriff aneinander wie im ersten Wort. Die Anfänglichkeit unseres In-derWelt-Seins hat aber auch dessen Endlichkeit zu ihrem Moment. Diese Dialektik von Endlichkeit und Anfänglichkeit läßt sich über das Bild des Opfers erläutern, mit dem das folgende Kapitel wieder stärker zu den Motiven der biblischen Abrahamserzählungen zurückkehrt. Auf dem Weg zu sich selbst ist das Bewußtsein mit der Unumgänglichkeit und dem Schrecken konfrontiert, vertrauter Bedingtheit entsagen zu müssen. Ist die Überwindung der Verlustangst des natürlichen Bewußtseins in der Abrahamserzählung zunächst anhand der Schilderung des Auszugs des biblischen Stammvaters in die Fremde thematisiert, so wird sie in späteren Kapiteln des Genesisbuches erneut und konzentrierend aufgegriffen in einer Episode, die als „Versuchung Abrahams“ überschrieben werden darf. (Vgl. Gen 22.) Zwei – sich widersprechende – Imperative gliedern die Erzählung von der Versuchung Abrahams: Zunächst ergeht Gottes Befehl an Abraham, seinen Sohn zu töten, ihn als Opfer für Gott darzubringen. Als Abraham sich gehorsam zeigt, verhindert ein weiterer Befehl Gottes – nun durch einen Engel überbracht – in letzter Sekunde die Tötung: „Lege Deine Hand nicht an den Knaben […]!“ (Gen 22, 12.) Von Gott selbst wird Abraham versucht und zugleich vor dem geforderten Opfer des eigenen Kindes bewahrt. Abrahams Befolgung des ersten Befehls Gottes führt die Gewalt der Positivierung vor. Das Opfer des Sohnes – so läßt sich aus Liebrucks’ Darlegungen zu dieser biblischen Perikope schließen – steht für das Opfer der lebendigen Veränderlichkeit der Welt, indem diese eine Abstraktion zu endgültig-eindeutigen, in diesem Sinne toten Formen erfährt. Opfer dieser Art sind notwendig, zumal der Mensch als Lebewesen im Widerspruch zwischen Unbedingtheitserfahrung und Ordnungsbedürfnis seine Welt zu einer Umwelt stilisieren muß. Dieses Eingreifen ist Ausdruck menschlicher Freiheit, allerdings in ihrer unmittelbaren Form, welche dem von ihr Bestimmten keine Freiräume zugestehen darf, die es von sich aus mit Bedeutung füllt. „Die erste Stufenüberschreitung des Bewußt-Seins tritt als Bereitschaft zum Töten auf.“ (SuB III, 78.) Indem das Alte Testament schildert, daß sich Gott dem biblischen Israel als Gesetzgeber offenbart, ist angezeigt, daß die Ordnung der Welt zu entscheidbaren Kriterien ihren Ermöglichungsgrund und damit ihre Legitimität im göttlichen Logos hat, der sich als Sprache selbst schafft und formen läßt. Die Motive des Auszugs Abrahams in die Fremde und des Opfers des eigenen Sohnes erscheinen in dieser Deutung als mythisch-narratives Pendant dessen, was
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7. Abraham – der erste Dialektiker
Hegel die erste Reflexion nennt: das Sichunterscheiden des Subjekts. „Diese erste Stufe der Freiheit hat den Akt des Entwurfs vor der Empfängnis und ist darin gewaltsam. Es ist die Abstraktion des Abraham, seine Bereitschaft, sogar seinen eigenen Sohn zu töten. Aus dieser Abstraktion hilft nur Gott heraus. Auf dem hegelschen Boden heißt das, diese Abstraktion muß bewußtseinsmäßig verstanden werden.“ (A. a.O., 494 f.) Besonders in der Opferszene wird diese zweite Reflexion, die Abstraktion von der Abstraktion, als Widerspruch zum Tötungsbefehl und dessen Aufhebung anschaulich. Hegel selbst demontiert allerdings das imperativische Reden Gottes bzw. Gottes und seines Engels, indem er die Handlungsmotivation in Abraham hinein verlegt. Auch Liebrucks mißt dem Befehlen Gottes augenscheinlich kein besonderes Gewicht bei. Meines Erachtens erhält die Strukturierung der Versuchungserzählung durch den doppelten Imperativ jedoch eine nicht zu übergehende Aussagekraft. Fügt sich die imperativische Ausformung der Rede Gottes nicht auch in Liebrucks’ Gegenüberstellung herrschaftlichen Befehlens und göttlichen Rufens? Die Gegenläufigkeit der göttlichen Befehle mag sich schließlich als erzählerische Umschreibung für das Aufgehobensein aller Widersprüche in Gott erweisen, dessen Anrede an den Menschen ebenso als Gebieten des Herrschers wie als Bitte des Liebenden ergeht. Im sich aufhebenden Befehlen ist die Identität von Identität und Nicht-Identität im Absoluten veranschaulicht. Da sich im Dialog zwischen Abraham und Gott der Logos somit selbst vorspricht, halte ich es für entscheidend, dieses Zwiegespräch nicht zu übergehen. So veranschaulicht Liebrucks mit der Formulierung, daß Abraham „[…] die Gottheit solches zu befehlen scheint […]“, den Grundgedanken einer Philosophie in Gestalten: Angesicht zu Angesicht steht der Mensch zu dem Geist, der er selbst ist. (A. a.O., 78.) Zugleich sich selbst gegenübergestellt und auf sich selbst bezogen zu sein – in solchem Selbstgespräch offenbart sich die Dialektik des Geistes. Das wahrnehmbare Moment des Opfervorgangs beschreibt Liebrucks durchaus als „brutal“. (Vgl. a. a.O., 480.) Einmal dargebracht, ist das unmittelbare, materielle Opfer unwiderruflich selbständiger Existenz entzogen. Diese Entäußerung erscheint als schärfster aller Widersprüche – als Widerspruch zwischen Leben und Tod, zwischen Selbstbestimmtheit und totalem Selbstverlust. Sofern Hegel und ebenso Liebrucks aber den Vorgang des Opferns bewußtseinstheoretisch interpretieren, erweist sich das Opfer, das vergeht, allein als gegenständliche Erscheinung des als Opfer im Bewußtsein oder auch: im Logos zu Begreifenden. Sowohl die Opferung als auch deren Überwindung (also eine Opferung zweiter Stufe) erscheinen als Bewußtseinsstufen des Menschen. Entsprechend kann man statt von Negation ebenso von Opferung, statt Negation der Negation von Opferung der Opferung sprechen. Abrahams wahres Opfer, dasjenige, das er darbringt, ist das Opfer einer Bewußtseinsstufe. Das dargebrachte Opfer ist dem Opfernden
C. Die Notwendigkeit des Opfers
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gegenübergestellt, positiviert. Im vorliegenden Kontext kann dies auch wie folgt formuliert werden: Das Bewußt-Sein wird sich im und am Opfer selbst ein anderes, ein Gegenüber: Gestalt. In dieser Selbstbegegnung des Bewußt-Seins erscheint es sich selbst als dasjenige, das im anderen seiner selbst bei sich ist; es ist BewußtSein als „Opfer des Bewußtseins an die erfahrene Sache“. (A. a.O., 80.) Liebrucks scheint sich die neutestamentliche Zusammenschau Abrahams und Jesu Christi zum Vorbild zu nehmen, wenn er in der logischen Besinnung auf den Opferbegriff Abraham als Beispiel wählt und doch mitten in seiner Darlegung indirekt ein Jesus-Logion zitiert: „Und wer […] Vater oder Mutter […] verläßt um meines Namens willen, der wird‘s hundertfach empfangen und das ewige Leben ererben.“ (Mt 19, 29.)⁵⁴⁰ Auch dieses Verlassen ist ein Opfer. Der Opfergedanke wird indessen im Neuen Testament im Vergleich zum Alten Testament radikalisiert: Bleibt Isaak letztlich doch am Leben, wird Christus geopfert bzw. opfert sich sogar selbst. Das Opfer Jesu Christi wird zum Sinnbild für die Notwendigkeit des Selbstverlustes: Opfer müssen gebracht werden, wenn Leben sein soll. Die Vermeidung von Opfern hilft nicht, Leben zu sichern, sondern tötet es. Dies hat das Neue Testament gewußt, wenn es uns erzählt, daß Jesus Christus sterben mußte, damit wir leben können. Christus starb der Welt des Gesetzes, der gesetzten Welt. Sein Kreuz wurde zum Zeigestab auf den Logos, aus dem heraus Schöpfung und Herstellung der Welt gleichermaßen generieren. Das Opfer des Bewußtseins – Gestalt geworden im sich opfernden Logos, Jesus Christus – stirbt den Tod ebenso, wie es dessen Überwindung ist. „Dieses Opfer ist die Negation der Negation, die in den theologischen Jugendschriften [Hegels, S. L.] den Namen der Liebe trug […].“ (SuB III, 480.) Gott verlangt von Abraham nicht weniger als das, was er selbst vollbringt. Den eigenen Sohn zu opfern. Doch: „Wie soll ich mit Vernunft einsehen, daß es zu einem Gott der Liebe gehört, den eigenen Sohn zu opfern? Das kann ich dann, wenn darin die einzige Möglichkeit für uns Menschen liegt, angesichts des Lebens, der Worte und des Sterbens von Jesus Christus zu erfahren, w e r w i r eigentlich s i n d.“ (Sinnfrage, 298.) Das Opfer Christi durch Gott-Vater will somit als Akt der Liebe verstanden werden, der den Menschen zur Selbsterkenntnis, zur Freiheit befreit. „Das Opfer des Herrn stand in der Methexis mit seinem Vater. Wir verstehen heute nicht mehr, daß die Sünden der Welt auf ihn wie auf einen Sündenbock geladen werden mußten. […] Was wir aber wissen, ist, daß wir ohne dieses Opfer nicht erkannt hätten, w e r w i r s i n d , nämlich diejenigen, die den sich so Opfernden ständig verraten. Wir wissen dadurch, daß wir nicht von Natur
540 Vgl. die Entzweiung um Jesu willen: „Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater […] Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“ (Mt 10, 34 ff.)
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7. Abraham – der erste Dialektiker
aus das deinotaton sind, sondern seit Christus aus geistigem, und das heißt auch leiblichem Ungehorsam unserem Herrn gegenüber. Dieses Wissen ist uns in der Lehre davon, daß er die Sünden der Welt auf sich genommen hat, noch halb mythisch vorgetragen. Mit Hilfe der Hegelschen Logik dagegen wissen wir, daß wir durch dieses Opfer und die vorgetragene f r o h e Botschaft zum ersten Mal die Erkenntnis davon geschenkt erhalten haben, wer und was wir sind.“ (SuB VII, 459.)⁵⁴¹
541 „Der Mensch kann nur dem gehorchen, den er, als der Begriff, bereits beherrscht.“ (SuB VI/ 3, 438.) In diesem Gehorsam braucht das Opfer „nicht mehr das von Menschen zu sein, sondern das des Bewußtseins, in dessen Tod, der ein idealischer ist, das neue Bewußtsein sich fühlt. Bevor wir jedoch diese Idealität des Opfers nichts als wirkliches Opfer erfahren, als wirkliche Mutation in unserem individuellen Bewußtsein, wird es wohl auch mit den Menschenopfern kein Ende nehmen.“ (SuB VII, 430.) Dieser Hinweis mag konkret die Greueltaten des nationalsozialistischen Regimes vor Augen haben: Die Selbstbornierung einer sich selbst zum Herrscher erklärenden Rasse, die ihren Widerspruch nicht zulassen kann, führt zur Ausrottung all dessen, was für den eigenen Widerspruch gehalten und gesetzt wird. Ob hier allerdings eine auf der Ebene der Logik vorliegende Aversion gegen das Fremde vorliegt oder nicht vielmehr eine auf der psychologischen Ebene nicht reflektierte Kombination von Machthunger und unaufgeklärter Angst vor dem vermeintlich Fremden, sei zu bedenken gegeben.
8. Bleiben ist nirgends: Jesus Christus „Es ist, als sagte ein alter Gott zum Menschen: ‚Du bist nun so weit gekommen, Mensch zu werden. Werde es denn, erkenne dich als sprachliches Wesen, das du bist, und handle als solches. Der Grat, auf dem du wandelst, ist schmal. Jede Abweichung bedeutet Tod. Die Erde würde dann einsam um die Sonne kreisen, in deiner heutigen Vorstellungsweise zu sprechen. Diese Aufforderung geschieht zu deinem Heile. Sie ist die letzte, die ein Gott an dich richtet.‘“ Bruno Liebrucks, SuB I, 8
Zum Auftakt seines Hauptwerkes faßt Liebrucks sein philosophisches Anliegen in einer Art Mythos zusammen, der den Titel tragen könnte: Die Überwindung der Entmenschlichung. Γνωθι σɛαυτον! Die delphische Weisheit interpretiert Liebrucks in sprachphilosophischer Akzentuierung auf die Selbsterkenntnis des Menschen als sprachliches Wesen. Motive für seine Lesart des apollinischen Mahnspruches findet er in der christlichen Logostradition. Laut Liebrucks sei „uns im Neuen Testament gesagt, worunter wir in unserem Denkniveau nur in selbstverschuldeter, weil selbstveranstalteter Selbstbornierung heruntergehen können. Die logische Erkenntnis der drohenden Liquidation des Menschen ist unsere Zeit im Gedanken erfaßt.“ (Denken, 220.) Daß die Gestalt Jesus Christus das Zu-sich-Kommen des Bewußt-Seins verkörpert, also alle vorherigen Momente der Bewußtseinsentwicklung in ihr aufgehoben sind, erklärt, warum bereits in den beiden vorangegangenen Kapiteln von Jesus Christus die Rede sein mußte. Der praelapsarische Adam gab dem Ansichsein des Bewußtseins Gestalt, der postlapsarische Adam und Abraham repräsentierten den Status des Fürsichseins. In Christus nun sind diese Status zum Anundfürsichsein versöhnt. Er ist die Gestalt des Selbstbewußtseins, das sich als Moment des Absoluten weiß. In ihm ist die Logik des menschlichen Weltumgangs als Darstellung Gottes begriffen: Er ist der Logos. Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi erweisen sich für Liebrucks als narrative Entfaltung dessen, was er Bewußt-Sein nennt. Jesus Christus ist die gestalthafte Repräsentation des seiner Sprachlichkeit einsichtig gewordenen Bewußt-Seins; somit steht er für das vollendete Selbstbewußtsein als vollendetes Gottesbewußtsein. Die Erörterung dieses Gedankens führt im folgenden zunächst zur Explikation der Christusverkündigung als mythische Umschreibung des aus der erkenntnistheoretischen Entfremdung bei sich selbst ankommenden Bewußt-Seins: Hier sind vor allem Adam und Christus in eine logische Beziehung zu setzen. Anschließend wird die Gestalt Jesus Christus in der bewußtseinstheoretischen bzw. sprachlogischen Auslegung
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8. Bleiben ist nirgends: Jesus Christus
durch Liebrucks näher betrachtet werden; inhaltlich richtungsweisend ist die Fragestellung, was es ist, das uns in Christus zu denken aufgegeben wird und „worunter wir in unserem Denkniveau nur in selbstverschuldeter, weil selbstveranstalteter Selbstbornierung heruntergehen können“. Schließlich ist die Offenbarung der Versöhnung von Mensch und Gott im Logos als Grundlage sittlichen Handelns zu benennen.
A. Von Adam zu Jesus Christus: Eine Typologie Bereits Paulus stellt im fünften Kapitel seines Briefes an die römische Gemeinde einen typologischen Bezug zwischen Adam und Christus her: „Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt.“ (Röm 5, 18.) In Liebrucks’ bewußtseinstheoretischer Bibellektüre zeigt sich eine entsprechende Typologie: „In der vorphilosophischen Ebene religiöser Diktion gesprochen, ist Verschlossenheit des Menschen die Verschlossenheit Adams vor Gott. In Christus wird sie gekreuzigt, als Jesus in den fragenden Ruf ausbricht, warum Gott ihn verlassen habe.“ (SuB III, 27.) Das Christusgeschehen ist das Ende der Verschlossenheit des Menschen vor Gott: Adam ist in Christus gekreuzigt.⁵⁴² Adam wurde von Gott gerufen und verbarg sich vor ihm. In diesem Bild manifestierte sich die Selbstbehauptung des Subjekts im Fürsichsein. Christus nun ist es, der Gott ruft. In seiner Klage der Gottverlassenheit gewinnt die Einsicht des Subjekts Ausdruck, in seiner Selbstunterscheidung immer auf das verwiesen zu sein, wovon es sich unterscheidet. Ohne dieses Andere wäre es nicht. Das Selbst gewinnt sich einzig in der Hingabe an den Anderen. Ein isoliertes Subjekt ist ein schlechter Mythos. Subjekte konstituieren sich als solche vielmehr in gegenseitiger Anerkennung des Anderen als sich selbst entsprechendes Subjekt. Die Reziprozität zwischen ihnen sind die Bahnen der Sprache, auf denen sie sich aussprechen, indem sie andere ansprechen. In der Sprache sind die sprechenden
542 „In unserer Tradition ist der von Gott emanzipierte Mensch in dem Verzweiflungsschrei am Kreuz: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?‘ gestorben. Dieser Tod war zugleich der Tod Gottes als eines nur Transzendenten. Der Tod dieses Menschen war die Auferstehung des Menschen. Dieser Tod ist die Kreuzigung der Irrationalität in uns. Ihn hat jeder einzelne Mensch, jede Wissenschaft wie jedes Zeitalter immer von neuem zu leisten, auch dann, wenn die Wissenschaften sich heute innerhalb der Emanzipation des nur objektiven Geistes eingehaust haben. Bisher ist dieser Tod in den Wissenschaften kaum, sondern nur in der Kunst und in der Nachricht des Neuen Testaments geleistet worden.“ (SuB VI/3, 550 f.)
A. Von Adam zu Jesus Christus: Eine Typologie
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Subjekte aufgehoben, jede ihrer Äußerungen ist Moment eines sprachlichen Absoluten, welches Liebrucks im neutestamentlichen Logos-Begriff verkündet sieht. Dieser Logos ist der Weltumgang des Menschen als Selbstwiderspruch, ebenso als Selbstentsprechung. Nicht nur Christus ist Logos, auch Adam ist es. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrem Bewußtsein ihrer Sprachlichkeit, damit aber dem Bewußtsein ihrer Beziehung zum Absoluten. In der Gestalt Jesus Christus ist diese Gegenwart des Absoluten im Einzelnen ein für allemal ausgesprochen. „Von da ab ist Verschlossenheit nicht mehr die natürliche des Adam, sondern diejenige, die an der Logosnatur des Christusgeschehens, in der die Verschlossenheit starb, willentlich vorbeigegangen ist. Von da ab war alles nichtdialektische Denken zweitrangig, relativ zur vom Menschen erreichten Bewußtseinsstufe provinziell.“ (SuB III, 27.) Adam ist Gestalt der Trennung, Christus Gestalt der Einheit der Dialektik des Geistes. Die Subjektivität Adams ist höchste Subjektivität, die Subjektivität Christi dagegen absolute. „Erst von der Bewußt-Seinsstufe des absoluten Geistes, wie sie in Christus bisher einmalig unter den Menschen weilte, die solche Herrlichkeit mit Schlägen auf das heilige Haupt beantwortet haben, handelt es sich hier nicht mehr nur um ein Seinsollendes, sondern um immer Geschehendes. Als Christus am Kreuz durch die äußerste, von Adam heraufgeführte Gottverlassenheit hindurchgegangen war, zerriß der Vorhang im Tempel. Das Bewußt-Sein Mensch war aus der Weltgeschichte herausgerufen und wird bis zum heutigen Tag aus ihr herausgerufen. Die Hegelsche Philosophie hat das zu denken möglich gemacht.“ (A. a.O., 667.)⁵⁴³ Bei Christi Tod zerriß der Vorhang im jüdischen Tempel. (Vgl. Mt 27,51; Mk 15,38; Lk 23,45.) Mit Zerreißen des Vorhangs im Tempel ist der Zugang zum Allerheiligsten frei, die Schranke zwischen Heilig und Profan beseitigt. Der hinter dem Vorhang verborgene Gott ist der substanzhafte, d. i. der als wesentliches Seiendes vorgestellte Gott. Dieser Gott der formalen Logik ist als von unserem Verstand geforderte absolute Position ein D e u s a b s c o n d i t u s . „Gott als Substanz denken heißt, ihn als deus absconditus nicht denken, sondern vorstellen, heißt, Gott hinter einem Vorhange vorstellen, der vom Menschen immer wieder neu gewebt wird, obwohl er zerrissen ist.“ (SuB III, 23.) Der Gott, den wir vorstellen, ist der Gott, der uns fern bleibt. Erst indem wir ihn als das Absolute denken, begreifen wir, daß wir aus dem Absoluten als solchem auch uns empfangen. Gegenwärtig ist uns Gott als Logos, als sprachlich-logische Struktur unseres Weltumgangs. „Als Natur ist Gott deus absconditus, ebenso als Geschichte, die als
543 „Der am Kreuze hängende Adam-Christus hat es ausgesprochen, was die Gottverlassenheit des Menschen ist. Er hat es vollbracht. Diese [= Hegels, S. L.] Logik ist und bleibt eine schwache Erinnerung daran, aber sie hat es als erste logisch begriffen.“ (SuB VI/2, 336.)
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8. Bleiben ist nirgends: Jesus Christus
eine solche der Welt angesehen wird. Denn die Weltcharaktere sind logisch gewesene Charaktere. Die Trümmer von gestern und die von heute sind der in seiner Unmittelbarkeit erscheinende Gott, etwas, worauf der Mensch als natürliches, untersprachliches Wesen allenfalls abbildbar wäre. Von Entsprechung kann hier logisch nicht die Rede sein.“ (SuB VI/2, 317.) Aus der Weltgeschichte herausgerufen zu sein, bedeutet, selbst Geschichte zu haben, seine eigene Geschichte zu sein. Geschichte ist keine dem Menschen äußerliche Größe, sie ist das unablässige InsVerhältnis-Setzen des Allgemeinen und des Besonderen, als das der Mensch seinen Weltumgang bestreitet. Geschichte wird in jedem Wort gemacht, das gesprochen oder gedacht wird. Als sprachliches Wesen ist der Mensch geschichtlich. In jedem Augenblick ist der Mensch bereits, was er sein soll; sein Zu-sich-Kommen ist die im doppelten Wortsinn begriffene Aufgabe seines Selbstbewußtseins. Diese interpretiert das Bild vom Kreuz. Das Kreuz ist Ort der Überwindung als Ort des Dahingegebenseins an den Tod. Im Zugrundegehen der fürsichseienden Selbstbehauptung zerreißt der Vorhang, den der Mensch als der sich vor Gott zu verbergen suchende Adam vor dem Zutritt zu einem vermeintlichen „Bereich“ des Göttlichen angebracht hatte. Begreift er, daß er sich nicht vor dem Blick Gottes verbergen kann, erlangt er freie Sicht auf Gott und in diesem auf sich selbst. Das sich von der selbstverschuldeten Gottverlassenheit herunterbornierende Subjekt begreift, daß es im Logos nie einen Bereich des Menschlichen und einen Bereich des Göttlichen gibt. Das Menschliche existiert im Göttlichen, das sein Wesen in der Entäußerung in den Menschen offenbart. Am Kreuz stirbt das Bewußtsein im Status des Fürsichseins. In Christus hängt Adam am Kreuz, d. h. nicht Christus wird gekreuzigt, sondern etwas an ihm: „[…] die Ansicht, Gott habe den Menschen verlassen […].“ (SuB IV, 3.) Was dem in Christus gestaltgewordenen Selbstbewußtsein am Kreuz stirbt, ist ein untersprachliches Bewußtsein, in dem er Gott fern ist. Es ist nicht der Verlust der eigenen Subjektivität: Christus ist in Leben, Tod und Auferstehung stets „dieser Jesus da“. Er ist in seiner Hingabe an das Absolute das erste Subjekt, das wirklich bei sich ist, indem es sich als Moment des Absoluten erkennt und sich entsprechend verhält. Darum kann der Gekreuzigte in der markinischen und der mattheischen Passionserzählung die Gegenwart Gottes in der Furcht vor der Gottverlassenheit sogar einfordern. Sein Schrei ist das letzte Zeugnis der Angst des natürlichen Bewußtseins vor dem Selbstverlust und zugleich das erste Zeugnis für die Erkenntnis, daß das Subjekt im Absoluten bewahrt ist. „In dieser Erfahrung der tiefsten Erniedrigung, die uns kaum noch erträglich erscheint, wird die Mitte der Beziehung zwischen ihm [dem Bewußtsein, S. L.] und dem Unwandelbaren realisiert. Die Mitte der Beziehung aber ist die gegenseitige Dienstschaft beider.“ (SuB V, 107.) Die nicht in den Ruf nach Gott ausbrechende „Ansicht, Gott habe den Menschen verlassen“, ist Chiffre für den Weltumgang des sich bornierenden
A. Von Adam zu Jesus Christus: Eine Typologie
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Selbstbewußtseins, das nicht erkennt, daß jede Distanzierung des Menschen von Gott eine vom Subjekt vollzogene ist – eine Distanzierung, die es nur als Moment des göttlichen Absoluten vollziehen kann, sofern jede Identitätsbestimmung die Einheit von Identität und Nicht-Identität in der Abgrenzungsbeziehung zwischen Ich und Nicht-Ich voraussetzt. „Adam sieht nicht, daß Gott die Liebe ist, die den Menschen niemals verläßt. Adam war es auch, der am Kreuz hing, an dem auch die Ansicht, Gott habe den Menschen verlassen, gekreuzigt wurde. Gott ruft jeden Menschen zu allen Zeiten, wenn auch in den stummen göttlichen Sprachen der Kunst, der Religionen und der für uns Menschen als nur endlichen Wesen stummen Offenbarung.“ (SuB IV, 3.) Bevor das Bewußtsein nicht zur Erkenntnis seiner Sprachlichkeit vorgedrungen ist, tönt ihm weder aus der Welt noch aus den von ihm hergestellten Dingen der Ruf Gottes entgegen. Der somit behauptete Zusammenhang von Selbst- und Gotteserkenntnis wurde im Kapitel zur Gestalt des Adam bereits behandelt. Im adamitischen Bewußtseinsstatus ist vor dem Fall, im Ansichsein, dem Bewußtsein alles Wort Gottes. In diesem sympathetischen Weltumgang ist die Allgegenwart des Logos unmittelbar erfahren und nicht zur Erkenntnis durchgedrungen. Zu dieser mußte das Bewußtsein im infralapsarischen Adam in die Entfremdung seiner selbst in der Entfremdung vom Absoluten aufbrechen, um in der Distanz, die es logisch zwischen sich, seinen Nächsten und in seinem Nächsten ebenso zwischen sich und Gott gebracht hat, die Logik der Einheit von Subjektivität und Substantialität zu erkennen, die das Neue Testament als Logos verkündet. Erst die als Entfaltung des Logos begriffene Geschichte, die Geschichte des Bewußt-Seins als existierender Begriff „ist die Schädelstätte, auf der die Substanz nicht mehr nur Substanz, sondern zugleich Subjekt geworden ist, auf der Adam wieder Mensch wurde, eine Geschichte, die wir im Durchgang durch die Welt der Positivität der Wissenschaften erst noch gewinnen müssen.“ (SuB V, 292.) Golgatha ist die Aufhebung des Sündenfalls. In Christus erscheint das menschliche Ich, nicht das Postulat eines solchen, wie es das fürsichseiende Bewußtsein behauptet. In Adam konstituierte sich das Subjekt in der Kontrastierung seiner selbst zu dem bisher unmittelbar erfahrenen Weltzusammenhang, der ihm nun als gegenständliche Entgegensetzung seiner selbst erscheint. Das Subjekt nimmt eine Selbsttranszendierung vor, es schiebt sich selbst aus dieser Welt hinaus und setzt sich ihr gegenüber. Der Welt logisch enthoben spricht es sich als Urteilssubjekt, folglich als durchgängig bestimmte Identität aus. Das Subjekt der fürsichseienden Bewußtseinsstufe ist die substantielle Vorstellung eines „Ich denke“, die überindividuelle Bezugsgröße der transzendentalen Apperzeption, welche als Einheitsprinzip alle Vorstellungen und Begriffe in sich versammelt. Ein solcher Subjektbegriff, wie er von Kant entliehen und für das adamitische Bewußtsein in Anspruch genommen werden kann, versäumt das Denken einer Einheit eines allen Menschen gemeinsamen Subjektprinzips und dieses einzelnen
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8. Bleiben ist nirgends: Jesus Christus
Menschen da. (Vgl. SuB IV, 497.) „Ich denke“ ist zwar ein Singular, aber kein Individuum. Solche Einheit des allgemeinen und des besonderen Ichs ist der existierende Begriff (Hegel). An diesem erscheint begrifflich der Unterschied zwischen dem allgemeinen und dem individuellen Ich, das „nicht mehr nur Substanz, sondern zugleich Subjekt“ und nach dem „Durchgang durch die Welt der Wissenschaften“ nun „wieder Mensch“ ist. Gestalt gewinnt der existierende Begriff resp. das Bewußt-Sein in Jesus Christus, von dem gesagt ist, er sei sowohl wahrer Gott wie wahrer Mensch, eine endliche und zugleich unendliche Identität. Das Johannesevangelium verkündet ihn als Logos. Liebrucks versteht darunter mit Hamann die Vernunft als Sprache. Alle endliche Bestimmtheit erweist sich, als in der Sprache ausgesprochen und darin in ihr aufgehoben zu sein. Sprache ist die absolute Identität. Als das Wesen, das Sprache hat, ist der Mensch zugleich endlich und unendlich, der Welt der erscheinenden Dinge ebenso immanent wie transzendent. Über die Sprache sagt Liebrucks: „In Wahrheit war sie immer Christus, in den hinein die göttlichen Gestalten verschwanden.“⁵⁴⁴ (SuB I, 470.) Die göttlichen Gestalten vorchristlicher Mythen erlangen ihre Bedeutung von Christus her, weil in ihm die Logik der Begegnung von Mensch und Gott sowie die Darstellung dieser Begegnung offenbar wird.⁵⁴⁵ Es ist die logische Einheit von Endlichem und Unendlichem in der Sprache, die „ihre Bewegung wohl von dort her haben [wird], wo der Logos als der Fleisch gewordene Gottessohn erschien, in den hinein die alten göttlichen Gestalten verschwanden […].“ (SuB II, 362.) Wie der absolute Begriff sich in die Existenz entäußert, zeigen die existierenden Dinge auf ihn. Während die Ausdrucksformen des technisch-praktischen Weltumgangs zu dessen Funktionalität die Unendlichkeit der Möglichkeiten, die in der Abstraktion
544 Darum sind die Verspottungen der Religionen immer Verspottungen des Christus. (Vgl. Denken, 192.) 545 Der Geist, der in den vorchristlichen Mythen in vereinzelten Weltaspekten angebetet wurde, ist in der Gestalt Jesus Christus als Subjekt gedacht. „Dieses Subjekt hält in jeder einzelnen Gestalt der Religion die übrigen zusammen, wenngleich bestimmte besonders hervortreten.“ (SuB V, 267.) – Vgl. Sinnfrage, 295: „In allen Zeiten lebten wir im sympathetischen Weltbild, nicht nur im Anblick von Epiphanien, die nicht Strukturen, sondern Sinn-B i l d e r waren. Dann lebten wir im Denken von Ideen, die wir zugleich als Konzeptionen wie Herstellungen erkannten, die nicht mehr Sinn-Bilder, sondern Denkstrukturen waren. Beide sind sprachlich. Die Sprachlichkeit beider kam uns in unserer Tradition als der Logos entgegen, der in der Person von Jesus Christus erschien. Wir erkennen, daß wir auch heute noch diesem Logos auf das Haupt schlagen, womit wir zugleich auf uns als existierende Begriffe schlagen.“ – „Wir sind zu bewußt geworden, um uns zu erlauben, den Göttern zu nahen, bevor wir durch seine [Christi, S. L.] Pforte geschritten sind. […] Der Anblick der Götter ist uns erlaubt, wenn er nicht aus unserem Willen, sondern aus dem Willen dessen kommt, der der Herr über Leben und Tod ist.“ (SuB VII, 14 f.) Wegweiser auf diesem Weg ist für Liebrucks Hölderlin.
B. Retardierendes Moment: Eine Genealogie des Weltverstehens
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der in ihnen aktualisierten Möglichkeiten als deren Überschuß angezeigt ist, ignorieren müssen, ist die Gegenwart der Unendlichkeit in der Endlichkeit der Gegenstand von Mythos, Religion und Kunst. „Alle Kunst stammt aus dem Begriff, wie alle Kunst auf ihn zeigt. In unserer Tradition ist dieses Zeigen der Weg von den Göttern zu Jesus Christus.“ (SuB VII, 36.) Vor Christus ist alle Kunst und Religion stumm, sofern nicht begriffen ist, daß sich in ihnen die Sprache, der Logos selbst vorspricht. In Jesus Christus offenbarte sich die Sprachlichkeit des Menschen „in einem Schritt, der so gewaltig war, daß wir ihn bis heute nicht nur nicht verstanden haben, sondern ihm uns erst gar nicht zu stellen wagen.“ (SuB I, 145.) Die von Adam initiierte Tragödie des Bewußtseins findet in Christus ihren vorläufigen Höhepunkt. Der letzte Akt ist noch nicht gespielt, sofern wir die Nachfolge Christi noch nicht angetreten haben. Nachfolge Christi besteht für Liebrucks darin, zu denken, wer Jesus Christus ist. Indem wir ihn denken, denken wir uns selbst. Das folgende Kapitel wird versuchen, näher zu bestimmen, was uns in Christus als Denkaufgabe gestellt ist.
B. Retardierendes Moment: Eine Genealogie des Weltverstehens Liebrucks zeichnet eine Art Genealogie des Weltverstehens nach, indem er den Bedeutungswandel schildert, dem das Leben mit der Natur und in der Gegenwart des Göttlichen unterworfen ist. Er macht Phasen der Weltbegegnung und –interpretation aus, die sich dadurch auszeichnen, Phasen einer bestimmten Ausprägung des Denkens zu sein: Bewußtseinsstufen. Die aufgeführten sind nicht die einzigen Weltbegegnungsweisen, sondern stehen je als eine Art Sammelbegriff für einen Weltumgang mit einem gewissen Reflexionsniveau. Die Ausgestaltung des jeweiligen Denkniveaus unterscheidet die einzelnen Bewußtseinsstufen. Die Reihe wird eröffnet vom mythischen Denken. Der Mythos wirkt heute wie eine Kompensation eines zumeist archaischen, somit als elend vorgestellten Lebens, das insbesondere von der Angst vor der eigenen Sterblichkeit geprägt ist. Die tiefe Einsicht des Mythos liegt für Liebrucks aber ganz im Gegenteil darin, die in seiner Endlichkeit begründete Unzulänglichkeit nicht als Störung, sondern als Ausdruck des Menschseins begriffen zu haben. Der Mythos ist keine Hoffnung auf eine Wiedergutmachung des diesseitig erfahrenen Leidens in einem Jenseits. Er ist die Integration des Leidens in die menschliche Identität. Der Mythos beginnt, die Negation als konstituierendes Moment des identitätsschaffenden Begriffs zu denken. „Dieses Sichabstoßen erfährt er nicht als solches. Davon hat wohl Hegel als erster gewußt.“ Der mythisch denkende Mensch erfährt den Grund seines Wesens und seiner Existenz „in der Form von Geschichten, die von der Größe der
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8. Bleiben ist nirgends: Jesus Christus
Vergangenheit sprechen, in denen ein höheres Leben inmitten des menschlichen Lebens erschien, das Leben der Götter.“ (SuB VI/2, 285.) Die Geschichten von der Gegenwart des Göttlichen inmitten des irdischen Lebens fungieren zunächst als unmittelbare Lebenshilfe, sie trösten über die erfahrene Kontingenz der Lebensumstände hinweg. Das Hinausblicken über solche Kompensationsversuche gelingt nur in den Momenten, in denen man sie nicht braucht. Liebrucks spricht daher vom Erkennen in den „Pausen“ – der Not, der Geschichte, des Wandels der Zeitalter. (Vgl. a. a.O., 285 f. u. ö.) Wo keine Entbehrung herrscht, kann das Ganze – der Natur, des Sinns, des Begriffs – erfahren werden, welches die Negationen in sich aufhebt. In den konkreten Dingen ereignet sich dann die Epiphanie des Göttlichen, die Hegel als das Aufscheinen des Wesens in dessen Rückgang von der Existenz in seinen Grund beschreibt. Die Epiphanie ist das Erscheinen der Erscheinung. Im Mythos werden aber Entfremdung und Zu-sich-Kommen des absoluten Geistes noch unmittelbar erfahren, es wird nicht nach ihnen gefragt. (Vgl. SuB I, 326.) „Im Anblick der göttlichen Gestalten, in ihrer Epiphanie, taucht die Sinnfrage nicht auf, weil in ihr die schlechthinnige Erfüllung des Lebens selbst erfahren wird.“ (SuB VI/2, 285; vgl. SuB VII, 92.) Das explizite Stellen der Sinnfrage obliegt der zweiten „Phase“ der Weltinterpretation. Sie kann das Ganze in der Natur nicht mehr unmittelbar erfahren, kennt aber die Götter „der Alten“ und fragt angesichts des bewahrten Wissens um das Vertrauen der Ahnen in den Sinn des Schmerzes, inwiefern dieser konstitutiv für das Menschsein sei. Das Fragen nach dem Sinn benötigt ebenfalls eine besondere Situation. Sie wird nicht gestellt, wenn der Mensch um sein Leben kämpft: Dann ist er beschäftigt. Sie wird auch nicht in den Kampfespausen gestellt, denn in diesen wird die Antwort auf sie bereits – unhinterfragt – erfahren. „Er stellt sie in einer gesellschaftlichen Lage, die ihm die θɛωρια der Götter nicht mehr nur möglich macht, weil diese ungewollt, unveranstaltet als Überraschung einfällt.“ (SuB VI/2, 285.) Er betrachtet von außen: Natur, deren Nutzen ihr abgerungen werden will; Götter, die einer Natur Gestalt verleihen, die ihre Widersprüche in sich zurücknimmt. „Wenn das Paradies im Schatten der Schwerter liegt, so entsteht die Frage, welche Wirklichkeit denn nun die wahre ist oder welche Ansicht von ihr ist, die ihr in Wahrheit, d. h. als Erkenntnis und nicht nur als praktische Antwort auf die Not und zur Erhaltung des Lebens Widerstand leistet. Ihm [dem Menschen, S. L.] dämmert der Gedanke, daß Natur der Erkenntnis keinen Widerstand leistet, sondern nur ihrer Bearbeitung.“ (A. a.O., 285 f.) Auf dieser Bewußtseinsstufe stellt sich die Frage nach der Abhängigkeit nicht allein des Menschen von der Natur, sondern der Natur vom Menschen. Die Welt begegnet dem Menschen jetzt nicht mehr unmittelbar; er weiß darum, daß sie ihm als etwas begegnet. Der Mensch fragt nach der Abhängigkeit der Welt von sich. „Diese Frage entgöttlicht die Welt.“ (A. a.O., 286.) Die Natur als Dasein unter Gesetzen, die der
B. Retardierendes Moment: Eine Genealogie des Weltverstehens
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Mensch ihr auferlegte, scheint ihre Widerspenstigkeit verloren zu haben. Sie begegnet dem Menschen nicht, sie ist ihm zu Nutzen. Das Ganze von Sinnbezügen scheint nicht mehr in ihr, sondern im sie bestimmenden Subjekt zu liegen. Das Sinnganze ist nicht mehr aus ihr empfangen. Desgleichen haben die Göttergestalten, in denen dieses Ganze repräsentiert ist, ausgedient. Diese Haltung ist eine des Wohlstandes. Hat der Mensch sie einmal erreicht, stellt er die Natur als eine von sich abhängige vor und will zu einer Welt durchdringen, die nicht menschengemacht ist. „Er verfällt dem Wahn, die Welt nicht in allen Lagen anthropomorph anschauen zu müssen. Er hält die Theogonie für das unmittelbare Gegenteil der Anthropogonie. Er denkt nicht, sondern lebt in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen.“ (Ebd.) Zum Denken als dem Unterscheiden von Denkendem und Gedachtem (Humboldt) schwingt sich die menschliche Vernunft auf, indem sie ihren Weltumgang als zugleich menschliches und göttliches Tun begreift. Im Unterscheiden ist immer die absolute Identität als Totalität aller Unterschiede präsent.⁵⁴⁶ Subjekt und Objekt sind solche in der Beziehung zueinander, die im Denken vom Subjekt thematisiert wird: die Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung. Diese ist der absolute Geist als Aufhebung aller Unterschiede. Das Subjekt spricht sich im absoluten Geist aus und damit zugleich diesen selbst. Anthropogonie und Theogonie fallen in der Logik „von der Sprache her“ zusammen. Darum gibt es keinen durch ein formales Schlußverfahren geleisteten logischen „Sprung“ vom Menschen zu einem independenten göttlichen Absoluten. Es kommt Kant zu, den Verstand über das notwendige Scheitern im Versuch, epistemologisch zum Unendlichen zu springen, aufzuklären. Kants Transzendentalphilosophie setzt auseinander, daß der Mensch die Welt nicht anders als anthropomorphisierend anzuschauen vermag. Nie dringt das Subjekt vor zu einer aristotelischen θɛωρια, in welcher die Welt als unabhängig vom Menschen angeschaut werden könnte. Die Erfahrung mannigfaltiger Eindrücke erschließt sich dem Menschen laut Kant unter dem einheitsstiftenden Prinzip der transzendentalen Apperzeption als „Welt“. Diese ist also stets Herstellung des Urteilssubjekts. Kants transzendentale Logik stagniert in der Unterscheidung der hergestellten Welt und des wirklichen An-sichs der Dinge. Seine Einsicht, der erkenntnistheoretische Impetus, in logischen Verfahren von einer anthropomorph verstandenen Welt zu einer menschenunabhängigen Wirklichkeit vordringen zu wollen, sei ein logischer Trugschluß, bereitet dennoch gegen allen Anschein die Erkenntnis vor, daß die Wirklichkeit des Absoluten als vom Menschen nicht un-
546 „[…] ohne die Auffassung des menschlichen Denkens als einer menschlich-göttlichen Veranstaltung könnten zwei Menschen nicht zwei Worte wechseln. Hier wird kein Gott mehr erschlichen.“ (SuB I, 9.)
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8. Bleiben ist nirgends: Jesus Christus
abhängige Größe von diesem auch gedacht werden könne. Diese Einsicht wird Hegel philosophisch zur Geltung bringen. Liebrucks veranschaulicht mit dieser Genealogie das Zu-sich-Kommen des Bewußtseins, das sich selbst sein eigener Begriff ist. Diese Entwicklung verläuft über das Negieren einer jeweils erreichten Bewußtseinsstufe und der Negation dieser Negation. Jede der Bewußtseinsstufen steht auf den Schultern der ihr vorangegangenen, die somit in ihrer Überwindung präsent sind. Diese Einsicht spricht zum ersten Mal Hegel aus. Er hält damit auch das Werden der Wahrheit als geschichtliches fest. „Hegel erkennt, daß Erkennen immer den Charakter des Sichabstoßens, nicht von den Dingen, sondern von einem Wahrheitsbegriff ist, unter dem die Dinge der Außenwelt, als kleinste Elementarteilchen usw. begegnen. Die neue Erkenntnis, der epochale Einfall in der Philosophie besteht immer in der Neufassung des Wahrheitsbegriffs. […] Hegel zieht das Fazit: Erkenntnis ist nicht mehr nur, was in den Pausen von Mühsal und Kampf aufleuchtet, sondern geschieht in den Pausen der Zeitalter, dort, wo ein altes zu Ende geht und darin seinen Wahrheitsbegriff verliert.“ (SuB VI/2, 287.) Auch insofern „verschwinden“ die alten Göttergestalten schließlich in Jesus Christus, in dem die Wahrheit als der absolute Begriff Gestalt geworden ist. (Vgl. SuB I, 470.) Direkt zum Absoluten springen können wir nicht, das müssen wir uns bereits von Kant sagen lassen. Der Zugang zum Absoluten ist uns aber auch nicht verwehrt, wie sich Kant von Hegel sagen lassen muß. In den bewußtseinstheoretischen Zugängen der unmittelbaren Erfahrung und der formalen Abstraktion als Momenten der Genese des Absoluten ist uns dieses gegenwärtig. Aus ihrem Momentcharakter empfangen solche Bewußtseinsstufen ihre erkenntnistheoretische Legitimität. Ihre Sittlichkeit hängt davon ab, inwiefern sie sich als Dokumentation des Werdens des Absoluten in dessen Eingehen und Überwinden von Selbstwidersprüchen zu begreifen und zu präsentieren vermögen. Demzufolge ist uns der höchste Ausdruck von Sittlichkeit am Kreuz Jesu Christi vor Augen gestellt. In ihm als dem anundfürsichseienden Geist erkennt sich das Bewußtsein allerdings erst, wenn es die Stufen des Ansichseins und Fürsichseins durchlaufen hat. Niemand ist Christus, der nicht auch Adam und Abraham ist. „Die höheren Bewußtseinsstufen in der Natur sind immer darauf angewiesen, aus den niedrigeren zu schöpfen. Als geschichtliche müssen sie den Anblick der älteren aushalten. Das Schöpferische, heute kreativ genannte, ist nicht das Projizierende, sondern entspringt der Notwendigkeit, aus unter ihm und zeitlich vor ihm Liegenden ernährt zu werden und sich zu ernähren. Das schöpferische Dasein ist kein Übermut, keine Überhöhung, sondern die alte und immer wieder die neue Not, sich am Leben zu erhalten.“ (SuB VII, 719.) Was uns somit in Christus vor Augen steht, ist die Geschichtlichkeit des Bewußtseins. Der Zusammenhang von Sprache, Bewußtsein und Geschichte ist daher im folgenden genauer zu betrachten.
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C. Die Geschichtlichkeit des Bewußtseins I. Geist und Geschichte Dem Christentum ist Jesus Christus die vollkommene Offenbarung Gottes. Das altgriechische Wort für Offenbarung, αποκαλυψις, bedeutet „Enthüllung“ eines Verborgenen. Wie schon im Kapitel über die Gestalt des Adam begegnet die Dialektik von Verhüllung und Enthüllung, denn auch die Offenbarung Gottes in Jesus Christus stellt uns nicht vor den D e u s n u d u s . Die Evangelien inszenieren Jesus Christus als den Mittler zwischen Gott und Mensch. In ihm hat Gott in der Menschheit Platz genommen, ohne diese ihrer Eigenheiten zu berauben, sie zu verdrängen oder gar zu vernichten. Vielmehr ist Gottes „Gang [..] die Freiheit der Individuen selbst. Das ist der geoffenbarte christliche Gott, den Hegel in das Denken der Philosophie eingebracht hat.“ (SuB III, 611.) Was die christliche Überlieferung als Offenbarung Gottes in seinem Sohn verkündigt, wird von Hegel als das Selbstdenken des absoluten Geistes im subjektiven Geist in die Logik übertragen. Das Absolute spricht sich im subjektiven Geist aus. Als subjektiver Geist sind wir alle Kinder Gottes. Indem wir uns selbst aussprechen, sprechen wir zugleich Gott, philosophisch gesprochen das Absolute aus. Das bedeutet im Umkehrschluß: Wollen wir von Gott reden, müssen wir von uns selbst reden. Streng genommen wird uns Gott somit nicht offenbart, sondern mittgeteilt.⁵⁴⁷ Gottes Menschwerdung vollzieht sich als Selbstmitteilung in den Worten, die der Mensch gestaltet. Deshalb ist der Gang Gottes zu den Menschen „die Freiheit der Individuen selbst“. In ihrem Weltumgang als sprachliche Mitteilung eines Subjekts an ein Subjekt über ein Objekt ist diese Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung immer schon ebenfalls ausgesprochen, unabhängig davon, wie die Individuen diesen Weltumgang gestalten – darin sind sie frei. Folglich ist die Offenbarung aber abhängig von der Ausprägung des Weltumgangs: Gegenwärtig ist das Absolute immer; aber wie, liegt in der Freiheit des subjektiven Geistes. Die durch den Geist des Menschen hindurchgegangene Erscheinung „ist das Äußerste der Hervorbringungen Gottes. Es ist die Allmacht Gottes, sich auf dem Weg über den Geist des Menschen als eines freien Wesens in der Welt hervorbringen zu lassen. Es ist die Gnade Gottes, in der Entäußerung seines innersten Tuns an den Menschen sich nicht an ihn zu verlieren, womit der Mensch wiederum unfrei würde.“ (A. a.O., 438.) Göttliche Offenbarung wird empfangen⁵⁴⁸, d. h. der Mensch ist an der Er547 „So hören wir in der Bibel nicht die Offenbarung Gottes, sondern die Mitteilung von ihr.“ (SuB II, 165.) 548 Liebrucks spricht – wohl in Anlehnung an die biblische Episode der Geburt Jesu durch Maria – von „ Empfängnis“. (Vgl. a. a.O., 165.)
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zeugung der Enthüllung der Gegenwart Gottes, welche der Inhalt der Offenbarung ist, beteiligt. Eine unmittelbar an den Menschen ergehende Offenbarung wäre dagegen „unchristlich“ und „würde uns versklaven.“ (A. a.O., 165.) Ein unvermittelt auf den Menschen zukommender Gott, ist ein Gott, den wir aufgrund seiner Übermacht nur fürchten könnten. Die Allmacht Gottes bleibt immer zu fürchten; doch ist Gott auch zu lieben, weil er sich als der Allmächtige zugleich als der Liebende mitteilt, indem er in seiner Menschwerdung nicht nur sich, sondern auch den Menschen zur Geltung bringt. Die Freiheit des subjektiven Geistes liegt darin begründet, daß das Absolute, dessen Moment er ist, sich nicht verfehlen kann.Von Gott wird noch in der Gotteslästerung oder –leugnung gesprochen. Insofern verliert er sich nicht an die menschliche Mitteilung von ihm. Die Freiheit des Absoluten ist die Freiheit des Subjekts. Im Umkehrschluß würde die Bindung des Absoluten an ein bestimmtes Sich-Äußern des Menschen auch den Menschen unfrei machen. Die Allmacht Gottes ist somit die Gnade der Freiheit für den Menschen.⁵⁴⁹ Sich im subjektiven Geist erzeugend, erweist sich der absolute Geist als „der Weltumgang des Menschen in seiner Geschichte.“ (SuB V, 290; Herv. S. L.) Geist ist nie anders als sinnlich in der Welt. Sinnliche Erscheinung oder sinnlich wahrnehmbare Form kommt ihm nicht zusätzlich oder nachträglich zu. Er vergegenständlicht sich, kommt in Form – als Geschichte, mit Hegel gesprochen: als Weltgeschichte. „Die Weltgeschichte ist der absolute Geist als Gegenstand.“ (SuB III, 514.) Gott als Logos manifestiert sich geschichtlich. Von diesen Geistesmanifestationen, den Geistesinstitutionalisierungen, allen voran dem Staat, kann durchaus als von einem „irdischen Gott“ gesprochen werden. Die Bezeichnung als 549 An dieser Stelle darf die – unbeantwortet bleibende – Frage gestellt werden, wie Liebrucks und Hans Jonas sich philosophisch begegnet wären. Bereits im Kapitel über Liebrucks‘ Ausführungen zur Gestalt des Adam wurde das Böse als eine Möglichkeit betrachtet, die dem Absoluten als solchem inhäriert. Jonas dagegen stellt die These auf, daß im Zuge einer Theodizee Gott das Prädikat der Allmacht abzusprechen sei. Habe Gott den Menschen zu einem freien Wesen erschaffen, bedeute dies eine Selbstbegrenzung der göttlichen Machtausübung. Das Böse kann Jonas nur als Folge menschlicher Freiheit denken, sofern Gott im menschlichen Handeln nicht mehr präsent ist: Als gütiger und allwissender Gott könnte er nicht zulassen, daß in der Welt Leid geschehe. Für Jonas ist das Böse mit der Freiheit des Menschen eingekauft; die Vermeidung des Bösen bedeutete eine Vermeidung der Schöpfung. Mit Liebrucks möchte man die Frage an Jonas stellen, was Gott für ihn sei, wenn nicht absolut; denn dies ist er bei Jonas nicht mehr, sofern das Absolute solches als Aufhebung aller Möglichkeiten ist. Weil Gott als dem Absoluten aber alle Möglichkeiten inhärieren, kann der Mensch (nur) als Moment des Absoluten frei sein – ein Gedanke, den zu führen Jonas ebenfalls unmöglich ist. Vgl. Jonas, Hans, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1987; abgedr. in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1994, 190 – 208.
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„irdisch“ beinhaltet e o i p s o die schärfste Unterscheidung vom wahren Göttlichen, das als der absolute Geist die Einheit der Vergegenständlichungen und ihrer Entgegenständlichungen ist. Lebten wir in dieser Stufe des absoluten Geistes, „begönne die Geschichte des Menschen. Erst in ihr könnte sowohl die Einheit des antik-heidnischen und des christlichen Denkens als auch die Einheit des christlichen und des sich so nennenden atheistischen Denkens erscheinen.“ (Ebd.)⁵⁵⁰ In dieser Stufe des Geistes kehrten die zur Weltgeschichte versammelten Vergegenständlichungen des Menschen wieder zum subjektiven Geist und durch ihn zum absoluten Geist als ihrem Urheber zurück, eine Rückkehr vom Sein zum Wesen, in der sich der Mensch in seiner Endlichkeit und Unendlichkeit erkennen würde: als die Identität, die sich in ihren Vergegenständlichungen verendlicht und doch über ihnen steht als das Wesen, das sprachlich denkt. In diesem sprachlichen Denken sind die fantastischen Allgemeinbegriffe der antiken Mythen, die säkulare Selbstbehauptung sowie das christliche Bekenntnis zum v e r e D e u s e t v e r e h o m o seienden Logos als Momente aufgehoben: Ansichsein, Fürsichsein und Anundfürsichsein sind als dialektisches Zusichkommen des Geistes erkannt. Dieser Stufe des Geistes sind wir noch fern, uns ist der absolute Geist als D e u s a b s c o n d i t u s im Weltgeist⁵⁵¹ zugegen. „Daß der absolute Geist als Weltgeist auftritt, ist die furchtbare Liebe Gottes, die den Menschen auch dort noch freiläßt, wo er gegen Gott die Sünde wider den Heiligen Geist begeht, indem er den Geist als nur weltlich ansieht.“ (SuB III, 664; vgl. a. a.O., 170.)⁵⁵² Furchtbar ist die Liebe Gottes, die uns unsere Freiheit zugesteht, sollten wir auch an ihr zugrundegehen. Das stete Zugrundegehen des Geistes aber – das wird noch zu erläutern sein – ist die Bewegung des Geistes in die Entfremdung und aus dieser auf sich zu. Insofern ist es Ausdruck der Liebe Gottes, uns leiden zu lassen: Wir kommen dadurch zu
550 „Die Geschichte des Menschen ist dort, wo sie nicht mehr Weltgeschichte, sondern die Geschichte des Menschen ist, d. h. immer zugleich die Geschichte des Absoluten.“ (SuB V, 334.) 551 In seiner Geschichtsphilosophie stellt Hegel den Weltgeist als größten Gegenstand vor. „Damit ist Hegel in der Philosophie der Weltgeschichte logisch gestrauchelt. In der Logik strauchelt er nicht. Sie ist wirklicher Logos, als solcher offen zu Gott.“ (SuB VI/2, 152.) 552 „Die Taten der Einzelnen in der Geschichte sind die Taten des Absoluten. Sind sie die Taten des Absoluten als der Unmittelbarkeit der Wirklichkeit, so sind diese Einzelnen nicht die Kinder Gottes, sondern die Geschäftsträger des Weltgeistes. Das Absolute hat sein geschichtsphilosophisches, ihm entsprechendes Bild in der Geschichte als einer Weltgeschichte, nicht als Geschichte des Menschen. Die Einzelnen sind nur deshalb frei, weil sie Einzelne des absoluten Geistes sind.“ (SuB VI/2, 330.)
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uns.⁵⁵³ Diese Sätze entbehren eines jeglichen Zynismus‘, da sie logisch verstanden werden müssen. Für den erkenntnistheoretischen Durchbruch vom Weltgeist zum absoluten Geist steht die Gestalt Jesus Christus. „Erst von der Bewußt-Seinsstufe des absoluten Geistes, wie sie in Christus bisher einmalig unter den Menschen weilte, […] handelt es sich hier nicht mehr nur um ein Seinsollendes, sondern um immer Geschehendes. […] Das Bewußt-Sein Mensch war aus der Weltgeschichte herausgerufen und wird bis zum heutigen Tag aus ihr herausgerufen. Die Hegelsche Philosophie hat das zu denken möglich gemacht.“ (SuB III, 667.) Das Seinsollende, das höchste Gut (vgl. ebd.), ist keine transzendente Größe, deren Verwirklichung noch aussteht und von der wir bis dahin nur als Postulat sprechen können. Das höchste Gut des Menschen ist sein wahres Menschsein. Darin ist er frei zu sich selbst als eines der gegenständlichen Welt immanent-transzendentes Ich. Keinen Moment ist er nicht dieses Ich, aber er ist nicht immer frei, sofern Freiheit darin besteht, sich ihrer bewußt zu sein. Erst das Bewußtsein, das sich als Bewußt-Sein begreift, ist frei zu sich selbst. Dieses Ich bezeichnet Hegel als das Subjekt, das begreift, Subjekt allein in der Partizipation am Absoluten zu sein. Es weiß sich, wie Liebrucks formuliert, stets von Gott gerufen. „Gott ruft jeden Menschen zu allen Zeiten, wenn auch in […] der für uns Menschen als nur endlichen Wesen stummen Offenbarung.“ (SuB IV, 3.) Als „nur endliche“ Wesen begreifen wir auch den Geist, welcher der unsrige ist, als „nur weltlich“. Aus der endlichen Weltlichkeit blickt uns die verstummte Offenbarung an, der lebendige Geist in dessen Vergegenständlichungen als immer schon vergangener. Erst in der Reflexion auf die Reflexion, in welcher der Geist in Vergegenständlichungen erscheint, zeigt sich die Vergangenheit des Vergangenen. Das Werden des Geistes scheint auf als sein unendliches Eingehen in das Sein zur Rückkehr in das Wesen. Das Unendliche „v o l l - e n d e t “ sich im Endlichen. (SuB VII, 29.) Seine Fülle treibt es über die endlichen Formen hinaus, in denen es Platz nimmt. Gleichzeitig ist es als dieses unablässige Werden und Vergehen und Werden des Endlichen „voll“ gegenwärtig als das, was es ist: die absolute Einheit von Geist und Form. Dieses unendliche Werden, in dem der Geist zugleich zeitlich und überzeitlich, weltlich und überweltlich ist, bezeichnet Liebrucks als die Sprache.⁵⁵⁴ In der Reflexion der Reflexion ist die Sprache Gottes nicht mehr stumme Offenbarung. Als Sprache ist der Geist
553 „Christliches Denken besteht darin, daß ich jede Freude, aber auch jeden Schlag nicht als von bestimmten Ursachen ableitbar erfahre, sondern aus der Hand der göttlichen Liebe empfange.“ (SuB III, 280.) 554 „Der Sinn aller Geschichte besteht in der Sprachwerdung alles Seins und Bewußtseins, in der Entwicklung der Freiheit. Entstehen-Vergehen, das Zugrundegehen, das Übersetzen: sie alle stammen aus dem Absoluten.“ (SuB VI/2, 328.)
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als unser Weltumgang „immer Geschehendes“, das uns anspricht, während wir es aussprechen. In der Sprache treffen sich Mensch und Gott auf derselben Höhe. Der Mensch begegnet dem herabgestiegenen Gott unter den Bedingungen der Zeit, er begegnet der Wirklichkeit in der von ihm gestalteten Realität. Diese Zeit ist dann nicht Zeit im wissenschaftlichen Sinne, sondern wirkliche Zeit (vgl. Hölderlin, 208), d. h. es ist nicht die Zeit der Maßeinheiten und unumkehrbaren Sukzession, sondern die Zeit, mit der wir leben, unsere Lebenszeit, in der es auch ewige Augenblicke geben kann, in welchen die Sukzession von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchbrochen wird und wir uns der Vergangenheit des Vergangenen bewußt sind. In den Maßeinheiten der wissenschaftlichen Zeit wird die Lebendigkeit gegen die Natur gefangengesetzt, sitzt auch „der Gott wie ein gefangenes Tier in einem Käfig“. (Ebd.) Die Spuren dieses Gottes in der Realität verkommen zu „Allegorien“, die nicht mehr den Gott selbst begegnen lassen, sondern eine paraphrasierende Archivierung sind. (Ebd.) Der Gott der wirklichen Zeit ist der Gott, der zu uns spricht, er ist kein ungelenker Gesetzgeber, der in einer einmal fixierten Position verharrt, hierarchisch uns übergeordnet. Er ist der herabgekommene Gott, nicht der ferne, der über uns auf einem Himmelsthron, in einem Jenseits oder auf dem Olymp sein Gesetz verkündet. Er gibt Gesetz „so,wie wir es auch tun“, d. h. es ist kein Gesetz mit einer Begründung, die uns mehr fremd als bekannt ist, wie eine eingefrorene, fast vergessene Tradition. (Ebd.) Gott verkündet seine Botschaft in unseren Worten. Seine Logik ist die unsere. Insofern dient er uns. In der Offenbarung als Logik unseres Weltumganges wird er aber nie unser Gegenstand. Was wir von Gott erkennen können, bleibt durch Gott „nicht mehr verborgen [..] und doch geborgen“. (Ebd.)
II. Inkarnation: Sprache und Geschichte Der Selbstvollzug des absoluten Geist im subjektiven Geist kann synonym formuliert werden als Vollzug des absoluten Begriffs im existierenden Begriff. Der absolute Geist ist der Begriff des Begriffs, die absolute Identität, die all ihre Widersprüche in sich aufhebt. Das menschliche Subjekt hat seine Identität in dieser absoluten Selbstentsprechung, die Hegel den Begriff des Begriffs nennt und den die Theologie als den Gott Jesu Christi bekennt. Der absolute Begriff ist laut Hegel die „B e w e g u n g s e i n e s G e w o r d e n s e i n s “⁵⁵⁵. Dieses Gewordensein liegt vor uns in der Geschichte des Menschen als des existierenden Begriffs. Die Wendung „Geschichte des Menschen“ ist als g e n i t i v u s s u b j e c t i v u s e t o b j e c t i v u s
555 Hegel, PhG, 159.
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zu verstehen. Es ist die Geschichte, die der Mensch ebenso selbsttätig erschafft, wie er sich aus ihr empfängt. Die Geschichte des Menschen ist das gegenständlich gewordene Werden seines Begriffs im Werden des absoluten Begriffs.⁵⁵⁶ Als Vergegenständlichung des Begriffs sind die geschichtlichen Ereignisse, die uns mit dem Blick in die Vergangenheit vor Augen stehen, unmittelbares Erfassen des Begriffs. Wir erfassen ihn als ein Entgegenkommen von Vernunft aus der Geschichte als Einheit von Geschehnissen und den Erzählungen von ihnen. Die Vernunft gibt sich nicht preis in den wissenschaftlichen Deutungsschemata von Begebenheiten. In ihnen wird nur sichtbar, was die Prinzipien, unter denen diese Deutungen zustandekommen, zulassen. Auf diese Weise hergestellte Sinnbezüge aber sind kontingent. Die Wirklichkeit der Vernunft dagegen deutet sich darin an, daß Geschehnisse wahrnehmbar sind und von ihnen erzählt werden kann: Das ist die Voraussetzung aller Geschichte. Hier deutet sich an, daß Vernunft als die sinnlich-geistige Einheit der Sprache zu begreifen ist. Wissenschaftliche Wesensbestimmungen sind Abstraktionen, der Begriff dagegen ist konkret-allgemein, die „gegenwärtige Vergangenheit des Vergangenen“. (Revolutionen, 93.) Insofern ist der Begriff geschichtlich. In ihm erscheint gegenwärtiges, konkretes Sein in dessen Bezüglichkeit zu anderem Sein. Das Andere des Konkreten ist die Allgemeinheit des Vergangenen. Vergangenes Sein bildet einen Konnex der Entsprechung einzelner Momente, der dem gegenwärtigen Sein als Geschichte vor Augen steht und zu dem es sich ebenfalls in Entsprechung begreift. „Im Begriff handelt es sich nicht um ein Bewußtsein überhaupt, nicht um abstrakt dieses Bewußtseiende da, sondern um dieses Menschen Bewußtsein, das zugleich allgemein ist.“ (Ebd.) Als existierender Begriff steht der Mensch immer in der Spannung von Selbstunterscheidung und Selbstentsprechung. Diese Spannung bewältigt er in seiner Sprachlichkeit. Sprachlich konstituiert sich der Mensch als „die Einheit des Einzelnen (geschichtlicher und natürlich-leiblicher Mensch) und Allgemeinen (Sprachlichkeit) […].“ (SuB I, 49.) Allein ein Begriff, der die Dialektik von Konkretem und Allgemeinem lebendig erhält, vermag eine individuelle Entwicklungsoffenheit des mit ihm Bedeuteten zu integrieren. Allein ein solcher dialektischer Begriff des Menschen ist in jedem einzelnen Menschen anzutreffen. Nur so ist er Allgemeinbegriff des Menschen und Allgemeinbegriff des Menschen, der „weder ein ontogenetisch apriorischer Bezugspunkt [ist] noch ein phylogenetisch aposteriorisches Gattungswesen, sondern der existierende Begriff, der auf der Wanderung zum individuellen Ich immer zugleich den Gang ins Allgemeine, wesentlich Vergangene angetreten hat.“ (Re-
556 „Alles, was uns als Gegenstand begegnet, ist unsere vergessene Vergangenheit.“ (SuB V, 39.)
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volutionen, 95.)⁵⁵⁷ Der „Gang zum Himmel des Allgemeinen“ ist der „Gang zum Abgrund des Individuums“, ein Gang, den man im Raum der Sprache antritt. (Revolutionen, 96.) „Christliche Wendungen klingen gerade an, weil die höchste Form des Selbstbewußtseins nichts anderes ist als sein eigener Untergang.“ (SuB V, 103.) Es ist der Weg von Adam zu Christus, von der höchsten Subjektivität zum Selbstverlust des Bewußtseins. In Christus wird vollzogen, wovor Adam sich am meisten fürchtet. Dem natürlichen Bewußtsein erscheint der Verlust seiner selbst als σκανδαλον, ebenso wie der antiken Welt der „König der Juden“: Der Ohnmächtige am Kreuz sei die Offenbarung der Allmacht Gottes, der Erniedrigte sei der höchste Herr. Erst wenn der Geist jegliches Imponiergehabe ablegt und sich in den Zwiespalt von Selbstbehauptung und Selbstverlust hingibt, kann er als die Dialektik zwischen beiden sich selbst erkennen. „Solange wir Angst in dieser Welt haben und unser Ich aus wesentlich begründeter Furcht nicht aufgeben können, sitzen wir im Wagen des Christus nur, indem wir ihm nachgehen. Solange bleiben wir in der intellektuellen Sünde und in der praktischen Angst der Persönlichkeit.“ (SuB VI/3, 591.) Dem natürlichen Bewußtsein, das nicht auf das in Joh 16, 33 verzeichnete Wort Jesu Christi vertrauen kann – „in der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ –, erscheint das sich überwindende Bewußtsein als naiver Mythos, die Selbstbehauptung dagegen als das sich innewohnende Ziel. „Die früheren Stufen [des Bewußtseins, S. L.] verachten immer die späteren. Man muß die Religion haben, die sie verachten, um sie nicht verachten zu müssen. […] Das nicht sterbende Bewußtsein ist das areligiöse der Unachtsamkeit.“ (SuB V, 103 f.) Das sich überwunden habende Bewußtsein – hier als Religion bezeichnet – verachtet oder leugnet seine früheren Stufen nicht, es bewahrt sie in sich. Seine Selbstüberwindung vollzieht es, indem ihm seine bisherige Genese zum Gegenstand wird, sein Ursprung vor ihm liegt. Der Übergang einer Bewußtseinsstufe zur nächsten ist markiert durch die Vergegenständlichung des eigenen Weltumgangs. Was uns vor Augen steht, ist von uns überwunden. Unsere Zukunft liegt uns im Rücken, das Vergangene vor uns.⁵⁵⁸ Darin zeigt sich das Bewußtsein als geschichtliches, sofern unter Geschichtlichkeit die Fähigkeit des 557 „Der wirkliche Mensch in seiner endlichen Unendlichkeit der absoluten Sittlichkeit ist das geschichtlich gewordene Bewußt-Sein, das von sich weiß, daß es nicht mehr unter einem Prinzip zu fassen ist.“ (SuB III, 638.) 558 Dies entspricht bereits der mesopotamischen Zeitauffassung, in der Zukunft und Vergangenheit räumlich vorgestellt hinter bzw. vor uns plaziert erscheinen. Noch heute ist diese räumliche Zeitvorstellung in Sprachen und Gesten bewahrt, etwa in den Kommunikationsmustern der Aymara, einem südamerikanischen Indianerstamm: In dessen Sprache bedeutet das Wort „Qhipa“ sowohl „Zukunft“, als auch „hinten“ oder „zurück“. Sprechen Aymara von der Zukunft, deuten sie mit dem Daumen über die Schulter. Vgl. den Artikel „Die Zukunft im Rücken“ aus dem Spiegel 25/2006.
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Bewußtseins zu verstehen ist, die eigene Geschichte als Gegenstand zu erfahren. Wir haben eine Bewußtseinsstufe überwunden, wenn sie uns Geschichte geworden ist. Geschichte ist Ausdruck von Bezüglichkeit. In ihr erweist sich die Selbstüberwindung des Bewußtseins als relationales Moment, eine Überwindung von etwas. Das Überwundene ist im Überwindenden gegenwärtig und macht es zu dem, was es ist. Eine Identität, die ihre Nicht-Identität nicht zuläßt oder zulassen kann, hat noch keine wahre Identität. Diese Einsicht verbirgt sich hinter dem Begriff der „Unachtsamkeit“: Wer den Anderen nicht achtet, verachtet (im Sinne von: verfehlt) sich selbst. Darin klingt – wie später noch erläutert werden wird – das Motiv des doppelten Liebesgebots an. Die Achtsamkeit, das Zulassen des Anderen ist der Schritt aus der Entfremdung des Bewußtseins zur Versöhnung. „In der Versöhnung wird das Reich des Vaters in das Reich des Sohnes gebracht.“ Wo eine überkommene Form der Wahrheit „in der Versöhnung zugrunde geht, geht das natürliche Bewußtsein selbst in seinen Grund, aus dem es hergekommen ist.“ (SuB V, 104.) Der theologische Begriff der Versöhnung steht hier für die Dialektik von Allgemeinem und Konkretem als Werden des absoluten Begriffs in dessen Voranschreiten zu sich selbst. Das Eingehen und Überwinden seiner Selbstwidersprüche ist die Logik des absoluten Geistes. Das Selbstdenken des Absoluten im subjektiven Geist bedeutet, daß das Denken des Subjekts logisch nicht von dem des Absoluten unterschieden ist. Die Versöhnung Gottes und des Menschen ist logisch immer schon wirklich. Aus Hegels Theorem des Selbstdenkens des Absoluten als menschliches Selbstbewußtsein kann der Umkehrschluß gezogen werden, daß der menschliche Begriff im Begriff des Begriffs gründet. Gottes Logik ist von der des Menschen nicht verschieden. Da es eine Logik ist, die sich als Aushalten, nicht aber als Auflösen des Widerspruchs vollzieht, ist der subjektive Geist nicht nur ein Mittel zum Zweck der Selbsterschließung des Absoluten. Gottes „Gang ist die Freiheit der Individuen selbst. Das ist der geoffenbarte christliche Gott, den Hegel in das Denken der Philosophie eingebracht hat.“ (SuB III, 611.) Das Absolute erweist sich als solches im Beim-Anderen-bei-sich-selbst-Sein. Die sprachlich-dialektische Logik, wie sie von Liebrucks aus der Hegelschen Geistphilosophie entwickelt wird, führt an den Gedanken heran, daß „die Menschenwelt das Eigenste Gottes sein könnte, daß Gott, indem er sich zur Welt entläßt, sich zu sich entläßt“. (A. a.O., 204.) Wohl in Anlehnung an Hegels Mahnung, wer nicht glauben könne, daß Gott in Jesus gewesen sei, daß er in Menschen wohne, der verachte die Menschen⁵⁵⁹, prononciert Liebrucks, was Christus offenbare, sei
559 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Das Grundkonzept zum Geist des Christentums, in: Nohl, Herman (Hg.), Hegels Theologische Jugendschriften nach den Handschriften der Königlichen Bibliothek in Berlin, Tübingen 1907, 385 – 398, 391.
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die „Erhabenheit“ des Menschen, sofern sich die Offenbarung des Göttlichen immer angesichts „höchster Menschheitsoffenbarungen“ ereigne. (SuB I, 145; 143.) Damit ist ausgesagt, daß der Mensch an der Offenbarung des Göttlichen aktiv beteiligt ist. „Der allgemeine Begriff […] ist der im Menschen Christus geoffenbarte Gott, sofern dieser rein von der Aktivität der ihm entgegen gehenden Zeitalter aufgenommen wird. In dem Maße, in dem in ihm die antiken göttlichen Gestalten verschwanden, verschwand auch der Begriff. Die Sentimentalität heute sieht den Menschen im Gegenüber dieser Offenbarung als ein nur passives Wesen.“ (SuB VI/ 3, 211.) Die logische Struktur des Absoluten, die Selbstüberwindung des Geistes zur Aufhebung der eigenen Widersprüche, vollzieht sich als Bewußtseinsentwicklung des subjektiven Geistes im Individuum und in der Gemeinschaft der Individuen.⁵⁶⁰ Menschliche Identität verwirklicht sich in individueller Selbstaussprache in der Gemeinschaft sich entsprechender Subjekte.⁵⁶¹ Diese Gemeinschaft gründet als Sprachgemeinschaft in der Logik des Absoluten, das als sprachlich-logischer Weltumgang der Menschen in deren ersprochener Welt transzendent-immanent gegenwärtig ist. Die Einsicht in das Gewordensein des Begriffs, den wir von uns haben und der wir sind, zieht die Frage nach dem Anfang nach sich, aus dem die Geschichte des zu sich kommenden Begriffs generiert. Diese Frage nach dem Anfang ist laut Hegel die zentrale Frage der Philosophie. In ihrem Anfang gibt Logik sich bereits in all ihren konstitutiven Momenten preis. Daher ist für Hegel – und ebenso für Liebrucks – die das Johannesevangelium eröffnende Rede vom Anfang des Logos richtungsweisend für die Philosophie. Liebrucks’ philosophischer Ehrgeiz gilt dem Vorhaben, „die Genese davon zu begreifen, daß im Anfang, den es nur in einer nichtpositiven Welt gibt, das Wort war, und daß Gott das Wort war.“ (SuB V, 281.) Wenn auch erst an der Schwelle zu philosophisch-begrifflichem Denken stehend, enthält doch bereits der erste Satz des Johannesevangeliums die ganze Wahrheit der Vernunft: Im Anfang war das Wort, und aus dem Wort ist alles, was ist. Der Prolog des Johannesevangeliums beginnt mit dem Sein noch bevor „etwas“ ist. Er formuliert die logische Fundierung der gegenständlichen Welt in der unablässigen Inkarnation des Geistes in die leibliche Sinnlichkeit. Hieran schließt Hegels Wissenschaft der Logik an. Mit ihr sieht Liebrucks im Anfang des vierten Evangeliums allerdings nicht einen „wesentlichen“ Anfang umschrieben, sondern einen „begrifflichen“. (Vgl. SuB VI/1, 236.) Dieser ist der unablässige logische Übergang von Unvermitteltheit in Vermitteltheit, der als die Geschichtlichkeit der Vernunft bezeichnet werden kann. Es muß im Logischen selbst liegen, daß nichts gedacht werden kann, das nicht zugleich in Unvermitteltheit und Vermitteltheit begriffen wäre. Dieses „Enthalten“ zeigt die Bewegung der Logik an. (Vgl. a. a.O., 237.) Denken ist das EntstehenLassen (nicht Feststellen) von Unterschieden. Das unterscheidende Zugleich von Vermittlung
560 Vgl. die oben benannten Phasen des Weltverständnisses. 561 „Selbsterkenntnis habe ich nicht als unmittelbar angesetztes logisches Subjekt, sondern aus meiner Geschichte und von dem anderen Menschen her.“ (Revolutionen, 95 f.)
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und Unvermitteltheit ist – so behauptet Liebrucks – nur in der Sprache möglich. In ihr liegt der Anfang des Denkens ebenso wie der Anfang des Denkens des Denkens. Das Christusverständnis Liebrucks’ ist wie bei dessen philosophischem Vorbild Hegel vornehmlich durch die johanneische Logos-Christologie geprägt. Im Prolog des Johannesevangeliums wird Jesus Christus als das ursprüngliche Wort verkündigt, als Schöpfungsmittler. Das ursprüngliche Wort ist so ɛν αρχη, daß es selbst Anfang ist. „Der Anfang, der mit der Logik immer mitgegangen ist, ist das ursprüngliche göttliche Wort, als das jeder Gegenstand erscheint, das Wort, das zugleich die seiende Bewegung, die Reflexion und der Begriff der ganzen Welt ist.“ (SuB VI/3, 601.)⁵⁶² Das Mitgehen des Anfangs verweist darauf, daß der Vernunft ihre Faktizität entzogen ist. Dieses Problem wurde bereits im ersten Hauptteil dieser Untersuchung als die Binnenperspektive der Sprachphilosophie angezeigt: Der Mensch als ζωον λογον ɛχον kann nicht von seinem λογος abstrahieren. „Sprache kennt keine reine Form, keinen actus purus. Eher kennt sie den menschgewordenen Gott. Von ihm her ist sie erfahrbar, weil im Hören denkbar.“ (SuB I, 471.) Der für die Vernunft uneinholbaren Vorgängigkeit ihrer eignen Faktizität stellt Liebrucks das Theorem des kontinuierlich erfolgenden Anfangs zu Seite. Ihr Anfang bleibt der Vernunft somit vorgängig, dennoch erschließt er sich als das, was sie selbst logisch unablässig vollzieht. Im Moment dieses Vollzugs ist sie aber schon über diesen Anfang hinaus, er hat keine Dauer. Der Anfang erscheint im Blick auf das Vergangene, das durch ihn logisch hindurchgehen, geboren werden mußte, um im Moment der Geburt zu sterben und uns somit als zum Verstehen bereiteter Gegenstand vor Augen zu treten. Der Anfang ist stetes Übergehen, er selbst wird als solcher nie gegenständlich. Vom Logos als dem immer mitgehenden Anfang gilt, wie Rilke es in der ersten seiner Duineser Elegien in Worte kleidet: „Bleiben ist nirgends“. Seine Gegenwart ist sein unablässiges Werden. Er wird in der Gegenständlichkeit der Gegenstände angedeutet und ist somit erst Inhalt der Reflexion der Reflexion. „Der Anfang wird in seinem logischen Status erst am Schluß der Logik erkannt.“ (SuB VI/1, 242.) Wir verstehen immer nur rückwärts. Das ist Ausdruck der Geschichtlichkeit unseres Bewußtseins. Dessen Struktur ist die Logik der Sprache als das rückwärts gewandte Begreifen Kierkegaards, die zum Anfang aller logischen Bewegung zurückkehrende, „dauernde kritische Hinterfragung nicht von wissenschaftlichen Axiomen und Systemen, sondern des Anfangs des logischen Ansatzes selbst. Dieser Unterschied erscheint und ist nur in menschlich angeschauter Natur, in der Kunst und in der Religion.“ (SuB VI/3, 622.)
Geschichte wird von Liebrucks definiert als die Einheit von Ereignissen und den Erzählungen von ihnen. (Vgl. SuB VI/I, 185 u. ö.) Als Geschichtlichkeit des Bewußtseins kann die Fähigkeit des Bewußtseins gelten, die eigene Geschichte als Gegenstand zu erfahren. Diese Fähigkeit gründet in der Sprachlichkeit des Bewußtseins: „Da Bewußtsein aber das Sprachgeschehen ist, ist seine Geschichte erst dort, wo von ihr gesprochen wird.“ (SuB V, 34.)⁵⁶³ Anders gesagt ist Sprachlichkeit
562 „Nur das ursprüngliche Wort, das in unserer Tradition Jesus Christus heißt, hat in seiner Äußerung zugleich getan und gestaltet. Es hat die Dinge getroffen, indem es sich selbst traf. Es war auf dieser Welt als der sprachlich handelnde Christus.“ (A. a.O., 591.) 563 „Denn nur auf dem Grunde der Sprachlichkeit hat der Mensch Geschichte.“ (SuB I, 266.) Vgl. SuB I, 396; SuB II, 246.
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das geschichtliche Werden von Sprache, „[…] der Weltumgang des Menschen in seiner Geschichte“, der zeichenhaft in dem Bindestrich des Wortes „Bewußt-Sein“ ausgedrückt ist.⁵⁶⁴ (SuB V, 290.) „An der Geschichte der sprachlichen Veränderungen ist der Gestaltwandel innerhalb der Geschichte des menschlichen Bewußtseins ablesbar. In der Sprache liegen alle Reflexionen des Bewußtseins.“ (SuB I, 33.) Dieses sprachliche Werden ist der logische Selbstvollzug Gottes im Menschen, der diesen zum existierenden Begriff macht: Gott als absolute Identität resp. Begriff des Begriffs kommt im Menschen in die Existenz. In jedem einzelnen Menschen vollzieht sich in dessen Sprachlichkeit unablässig aufs Neue die Inkarnation des Logos.⁵⁶⁵ Jedes Wort ist Inkarnation des Geistes, Bestimmung des Ganzen der Wahrheit zu einem endlichen, gegenständlichen Moment.Was uns im Inkarnationsmythos vorgesprochen ist, ist die Bewegung des Bewußtseins als Bewußt-Sein. Die neutestamentliche Botschaft vom ursprünglichen Wort als Gottes- und Menschensohn ist insofern universal, als sie den Weltumgang eines jeden Menschen beschreibt. Die logische Struktur, welche in der sogenannten Zweinaturenlehre, ebenso in der Trinitätslehre der dogmatischen Tradition des Christentums die ausdifferenzierte Einheit von Mensch und Gott zu erfassen sucht, betrifft jeden Menschen in seinem Weltumgang. Im D e u s h o m o Jesus Christus wird gestalthaft anschaulich, daß die begegnende Welt sich in der Vermittlung von Idealität und Realität, Allgemeinem und Besonderem bewegt, also auf dem Strich zwischen „Bewußt-“ und „Sein“. Der Inkarnationsmythos erzählt, daß der menschliche Weltumgang die Vermittlung des Absoluten mit sich selbst ist. „Die qualitative Unendlichkeit hat sich als seiende zu uns Menschen herabgeneigt – was ein Vorgang in uns als Menschen war, wie Christus immer wahrer Mensch und wahrer Gott ist und bleibt. Das ist der logische Ort, in dem wir – ganz gleich in welcher Situation – im Frieden sind.“ (SuB VI/1, 442.) In seinem Herabneigen zum Endlichen ist der Gott der Christenheit der Gegenentwurf zum antiken Gott, dessen Glück darin besteht, nichts mit der Welt zu tun zu haben. „In Christus steigt die nichts fühlende Gottheit vom liebenden Vater zum Menschen herab.“ (SuB VII, 759.) Dies ist das Herabsteigen des Absoluten in die Konkretion, der Gang des Begriffs in die Existenz. Für den als Logos in die Welt kommenden Gott „gibt es kein Außer.“ (SuB III, 82.) In ihm, nicht gegen ihn behauptet das Subjekt sich selbst im Frieden des Absoluten, der das Aushalten, nicht das Ausmerzen des Widersprüchlichen ist. Das Absolute erweist sich als solches, indem es beim Anderen bei
564 „Sprachlichkeit ist keine Hinterwelt, aus der Gesellschaft und Geschichte hervorträten. Sprachlichkeit ist die Einheit von Prozeß und Produkt […].“ (SuB II, 2.) 565 „Wenn das Bewußtsein und seine Entwicklung über die Sprache läuft, über ihre ganze Geschichte, die sie mitschleppt, so ist das doch ein Vorgang innerhalb des konkret individuellen Menschen.“ (SuB II, 179.)
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sich selbst ist. Darum ist es offenbar, wo das Subjekt „Ich“ sagt. „Jeder Mensch, der von der nichts fühlenden Gottheit, nicht den Göttern, in sich zum mit uns fühlenden Gott herabsteigt, ist Christ. Jeder Mensch, der darin unser titanisches Wesen wie die antiken Götter vergißt, ist der Sentimentalität einer falschen Humanität preisgegeben.“ (SuB VII, 759.) Der christliche Gott merzt die antiken Götter nicht aus, sie „verschwinden“ in ihm als der absoluten Identität. Diese Götter sind die gestalthaft aufbewahrten menschlich-göttlichen Begegnungen vorangegangener Bewußtseinsstufen, ebenso wie das titanische Selbstbewußtsein ein Moment des sprachlichen Bewußt-Seins ist.⁵⁶⁶ Ist ihre Genese ein Moment der Wahrheit des absoluten Geistes, wird diese verfehlt, wo unmittelbar zu ihr zu springen versucht wird. Das Absolute ist die Vermittlung seiner selbst im Denken des Subjekts. Darum ist auch dessen Selbstbehauptung ein Moment der Genese des Absoluten. Das Absolute wird zur Geltung gebracht, wo die Selbstbehauptung des Subjekts als dessen Moment gewußt wird. Der Begriff des Begriffs ist solcher, indem er unablässig im denkenden Subjekt erzeugt wird. Dieser Begriff „ist antikchristlich, die Wahrheit, daß Jesus Christus dieser Jesus da ist und doch zugleich der Christus als der Sohn Gottes und des Menschen.“ (SuB VI/3, 178.)⁵⁶⁷ Das Erscheinen des Absoluten als Weltumgang des Subjekts ist biblisch gesprochen das Offenbarwerden des himmlischen Vaters im Sohn.⁵⁶⁸ „Nachdem von Christus gesagt worden ist, daß in ihm Gottes Geist leiblich, also sinnlich, auf dieser Erde erschienen ist, können wir die Aufforderung, Gott im Geiste zu verehren, als das Herausrufen in die Gegend auffassen, in der das Verhältnis Gottes zu seinem Sohne gedacht wird, in der dieses Verhältnis Eingang in das Leben und das Herz der Menschen findet.“ (SuB II, 61.) Das Denken des Verhältnisses ist die zweite Reflexion als die Reflexion auf Gottes „Sichauseinanderlegen in die Reflexion“. (SuB III, 205.) In der zweiten Reflexion kommt zu Bewußtsein, daß die „Bespiegelung“ des Menschen über Geschichte und die geschichtliche Begegnung mit Dingen läuft. (Vgl. SuB I, 62.) Die erste Reflexion ist Zubereitung der Welt zu eindeutigen, d. h. überindividuellen Sachverhalten. „In der zweiten Reflexion hat unsere je individuelle Erfahrung in der Darstellung ein Mitbestimmungsrecht. Als sprachlich Erfahrende erfahren wir zugleich geschichtlich und aus unserer Situation heraus.“ (SuB VII, 17.) Die Reflexion der Reflexion „ist die Besinnung
566 Vgl. zu letzterem die Ausführungen zum luziferischen resp. prometheischen Bewußtsein im Kapitel über Adam – Der Aufbruch des Bewußtseins zu sich selbst. 567 Liebrucks ist der Auffassung, „daß der Begriff des Begriffs nur zu gewinnen ist, wenn man seinen genuin christlichen Sinn erfaßt, unter der Voraussetzung, daß das Christentum als eine antike Religion angesehen wird.“ (A. a.O., 240.) 568 Gott ist hier „nicht der Herr, sondern der Vater der zugleich Sohn, der zugleich Herr und Diener des Menschen ist.“ (SuB IV, 95.)
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darauf, daß die Reflexion des Menschen, das Aufleuchten des Allgemeinbegriffs, zugleich die Reflexion Gottes ist, sein Herniederfahren ins Fleisch.“ (SuB III, 205.)⁵⁶⁹ Die Gestalt Jesus Christus repräsentiert, was jeder Mensch ist: Kind bzw. Sohn Gottes, Sohn des absoluten Logos. Sohn des Logos ist der Mensch als Sohn der Sprache, als die der Logos sich in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, Sinnlichkeit und Sinn geschichtlich entfaltet. (Vgl. a. a.O., 597; vgl. 570.) Demgemäß rechtfertigt Liebrucks die Voranstellung von „Sprache“ im Titel Sprache und Bewußtsein damit, daß „Ich […] als Ich ohne Sprache nicht im Kosmos“ sei. (SuB V, 207.) „Die Sprache ist das Dasein des Selbst als Selbst.“ (Ebd.) Es kann kein Subjekt des Urteilens oder Handelns geben, bevor der Mensch nicht gesprochen, d. h. sich in Beziehung auf sich, andere Subjekte und Dinge empfangen und gesetzt hat. „Der Ursprung der Sprache liegt immer darin, daß er die Welt der Dinge mit Ich beschenkt.“ (A. a.O., 208.) Das Werk der Sprache ist allen anderen Werken des Menschen vorgängig. Darin besteht ihre Göttlichkeit. Der Mensch aber ist als Sprachwesen Gesellschaftswesen, er ist für sich, indem er für andere ist.⁵⁷⁰ Diese Dialektik wird in der Sprache ausgedrückt, wenn hier „Ausdruck“ als Mitteilung und Verwirklichung zugleich begriffen ist. „Alle anderen Formen sind unvollständige Äußerung, weil sie nicht die Äußerung der Individualität sind.“ (SuB V, 207.) Der Mensch hat sich selbst nur in der Sprache, in der er immer „Ich“ sagen muß. Unausgesprochen ist kein Ich. Niemand ist zuerst Ich und beginnt dann zu sprechen. „[E]rst das Aussprechen von Ich ist seine Entstehung.“ (A. a.O., 208.) Daher kann der Mensch als Sprechender sein Ich weder leugnen noch verlieren: Auch in seiner Selbstverneinung äußert er sich als Ich. „Die Sprache ist Veräußerung des Ich, aber eine solche Veräußerung, die das Ich erst konstituiert. Sie zeigt dieses Ich als Gegenstand. Die volle Individualität ist zum ersten Mal sich selbst Gegenstand.“ (A. a.O., 207.) In der Sprache behauptet sich das individuelle Ich, indem es sich zugleich zu einem allgemeinen Ich macht, das es in allen anderen sprechenden Subjekten als Bedingung der Verständigung
569 Liebrucks fügt eine Einschränkung hinzu: „Wird diese zweite Reflexion gestrichen, so sind wir bei der Egozentrizität, der Identität der Person, auf die hin alles bezogen wird. An die Stelle von Gott, an die Stelle des Gottessohnes, der zugleich der Sohn des Menschen ist, tritt das Ich.“ (SuB III, 205.) Die hier beschriebene Egozentrizität ist das in sich stagnierende Fürsichsein des ewigen Adam oder der luziferischen Selbstbehauptung, die sich in der logischen Distanz, die es zwischen sich und das Absolute zu bringen versucht, von sich selbst fernhält. 570 „Selbsterkenntnis habe ich nicht als unmittelbar angesetztes logisches Subjekt, sondern aus meiner Geschichte und von dem anderen Menschen her.“ (Revolutionen, 95 f.) Wie eine Gesellschaft nur in ihren Individuen besteht, so sind wir ein individuelles Ich nur solange, „wie die Gesellschaft uns als Ich anerkennt […].“ (SuB VII, 48.) Ich konstituiert sich im sprachlichen Weltumgang als Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnis. Es konstituiert sich darin unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen, ist aber nie deren Produkt.
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voraussetzt. „Jeder sagt: ich. Darin verschwindet dieses Ich, aber dieses Ich bleibt verschwindende Größe, die niemals null erreicht.“ (Ebd.) Das Ich als zugleich allgemeine wie individuelle Identität ist als solche eine sich ausbildende Relationsgröße, d. h. kein formales Prinzip, sondern eine sich inhaltlich forttreibende Selbstbeziehung in Fremdbeziehungen. Identität als Beziehung ist immer Identität im Widerspruch: Sie ist das, worauf sich die Aussagen von Identität und Nicht-Identität beziehen; sie besteht, indem sie in ihrem eigenen Widerspruch auf sich bezogen bleibt. Anschaulich wird sie im Bilde des Gekreuzigten: Wo der Mensch in den tiefsten Selbstwiderspruch, den Tod, geht, wird sein Menschsein am stärksten sichtbar. Wo Gott ohnmächtig scheint, erweist er sich als Herr über Leben und Tod. Philosophisch formuliert wird die Botschaft vom Kreuz im Satz des Widerspruchs – sofern dieser in der Lesart Hegels und Liebrucks’ ausgelegt und somit Negation als Moment jeder Identität erkannt ist. Der identitätsbildende Rückbezug aus dem Gang in die Selbstunterschiede ist die Geschichtlichkeit des Bewußtseins, die Einheit von Ereignissen und den Erzählungen von ihnen als Gegenstand zu erfahren. Dies vermag es aufgrund seiner Sprachlichkeit. „Das Bewußtsein findet sich in der Entfremdung. Es findet sich in seiner Geschichte. Seine Sprache, in der es sich so gut macht wie findet, muß daher sowohl seine Entfremdung wie seine Geschichte sein.“ (A. a.O., 208.) Das identitätsbildende Moment der Reziprozität von Selbstentfremdung und Selbsterhaltung ist Merkmal der Sprache, die ihren Ereignischarakter mit dem gleichzeitigen Aufbewahren und Präsenthalten der Vergangenheit des Vergangenen vereint. (Vgl. a. a.O., 214.) „Sprache ist Vermittlung der Vergangenheit des Vergangenen.“ (SuB II, 88.) Jedes Sprechereignis ist schon Geschichte. (Vgl. SuB I, 220.) „Die geschichtlichen Veränderungen liegen ausnahmslos in der Sprachlichkeit des Menschen beschlossen.“ (A. a.O., 7.) Die Veränderungen vollziehen sich als Sterben einer jeglichen Äußerung im Augenblick ihrer Geburt. Was geäußert wird, ist im selben Moment in die Wirklichkeit geboren und verstrichen. Noch während wir das Wort „jetzt“ aussprechen, ist der damit bedeutete Zeitpunkt längst vergangen. Doch das konkrete Vergangene ist aufbewahrt, da es in die Allgemeinheit der Sprache, des Logos, aufgenommen wurde. „Die Verwandlung der Welt in den Gedanken ist die Bedingung der Möglichkeit aller anderen Veränderungen, sie ist die einzige Veränderung, die geschichtlich wirksam bleibt.“ (SuB III, 366.) In jedem Wort, das wir sprechen, sind alle Erfahrungen und Schöpfungen all unserer Vorfahren und Mitmenschen, sind alle möglichen und wirklichen Entwicklungen zugleich präsent. Wie die Götter in dem einen Gott, den Jesus Christus offenbart, verschwinden, ist in der Sprache jedes Wort, das ein Mensch jemals gesprochen und gedacht hat, aufgehoben. In der Sprache ist die Vergangenheit des Vergan-
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genen gegenwärtig.⁵⁷¹ Das einzelne Ereignis ersteht in seinem Eingehen in die Allgemeinheit der Sprache auf zu seiner Bedeutung. Eine Bedeutung liegt nicht in einem Ereignis selbst, sie wird im Erzählen von diesem Ereignis geboren. (Vgl. SuB I, 143.) Die Bedeutung liegt im Wort, nicht im Gegenstand. Sie vermittelt diesen innerhalb eines bestimmten, geschichtlichen, gesellschaftlichen Kontextes. Man versteht eine Bedeutung, indem man eine gewisse sinnliche Erfahrung in sich nachahmt oder erinnert, auf die jene Bedeutung verweist. „Nur weil der Hörende nicht jedesmal genau denselben Inhalt mit dem Gesagten verbindet wie der vorher scheinbar ‚dasselbe‘ Aussagende, weil er immer von seiner Individualität hinzufügt, weil so die Sprachen selbst im Lesenden niemals ohne dieses reale Moment sind, können die Bedeutungen und die Charaktere sich geschichtlich fortpflanzen.“ (SuB II, 222.) Eine Bedeutung wandelt sich geschichtlich und ist dennoch Bedeutung desselben, auf das sie zurückdeutet. Das weist sie als Grundkategorie aller sprachlichen Äußerung aus. Bedeutungen sind keine Abbildungen eines Ereignisses, sie sprechen etwas andeutend aus und lassen Spielraum für ihre Weiterentwicklung. Ihre geschichtliche Entwicklung „schwingt“ in einer Bedeutung wie ein Ober- oder Unterton mit. (Vgl. SuB I, 346 f.) In ihrer Bewegung zwischen den Enden der dreistrahligen semantischen Relation erweist sich die Bedeutung als Grundkategorie der sprachlichen Äußerung. Liebrucks nennt sie „surrealistisch“, weil sie in mehrere Richtungen deutet. (A. a.O., 355.) Bedeutung ist nur als Horizont, in dem das Bedeutete erscheint. Durch ihre Mehrstrahligkeit verweist eine Bedeutung auf das Ganze der Sprache, indem sie auf das vergangene Einzelereignis verweist, aus dem sie hervorging. In der Bedeutung ist die sprachliche Grundfigur des geschichtlichen Geschehens angezeigt, das „in der Einverleibung der abstrakten Situation in das Bewußtsein“ besteht. (SuB III, 69.) Alle sprachlichen Äußerungen sind bedingt durch die Situationen, in denen sie gemacht werden. V i c e v e r s a sind Situationen immer schon sprachlich erschlossen und bedingt. Das, was wir als Situationen beschreiben, sind mit den Mitteln der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten dargestellte Erfahrungen. So kann Liebrucks sagen, daß Sprache Geschichte macht. (Vgl. SuB I, 345.) Geschichte ereignet sich als Aufnahme von Situationen in das Bewußtsein, die in dieser „Einverleibung“ erst als konkret und individuell, somit als unterscheid- und vergleichbar erscheinen. Geschichte ist die betrachtbare, erzählbare und erzählende Einheit der Begriffsbewegung zwischen Besonderem und Allgemeinem, die sich als sprachlicher Weltumgang ereignet. (Vgl. SuB III, 67.) Geschichte ist
571 „Der geschichtliche Charakter jeder Weltbegegnung besteht darin, daß sie in der gegenständlich erfahrenen Gegenwart die gegenwärtige Vergangenheit des Vergangenen hat.“ (SuB II, 245.)
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sprachliche Gliederung der Wirklichkeit. In ihrer memorierenden Funktion hält Sprache Vergangenes präsent, das uns gewisse zukünftige Ereignisse erwarten läßt. In seiner sprachlich begründeten Geschichtlichkeit ist das Bewußtsein über die Zeit erhaben. In der Sprache fallen e x p e c t a t i o und m e m o r i a zusammen. Sie ist der Anfang, der durch die Zeiten mitwandert. Als dieser Anfang ist sie „nicht nur ein lebendiges Wesen. Sie ist geschichtlich. Geschichtlich aber ist sie nur als lebendiges Wesen.“ (A. a.O., 302.) Als lebendiges und geschichtliches Wesen hat Sprache selbst Vergangenheit, sie stirbt in ihren Abstraktionen. In ihrem Tod geht sie ein in Geschichte und wird dadurch selbst Geschichte. Sprache ist „Erinnerung und Entäußerung in einem.“ (SuB I, 119.) Die Sukzession der Zeiten und Räume sowie deren aufhebende Zusammenschau werden in der Sprache geschaffen. Das Unterscheiden der Zeiten in der Sprache beruht darauf, daß sie in ihrem Eingehen in die Geschichte zugleich lebendig bleibt: die logische Bewegung des sich unablässig über seine Selbstunterscheidungen hinaustreibenden Geistes. Sprache vereint Substantialität und Subjektivität. Immer ist sie Sinnlichkeit und Vernunft zugleich. Das ist in der sprachlichen Grundkategorie der Bedeutung angezeigt,von der gilt: „Die Vergangenheit des Vergangenen ändert sich in jedem Augenblick“. (SuB II, 244.) Der überzeitliche Charakter von Bedeutungen ist eine notwendige Konzeption unseres Verstandes. Unter der Voraussetzung, daß unsere Worte nicht an einen unmittelbar gegebenen Gegenstand gebunden sind, wird Verständigung ermöglicht. (Vgl. SuB I, 315.) Sinn und Bedeutung sind die Zeigestäbe der Sprache in die Vergangenheit und in die Zukunft, die den Menschen – wenn auch nicht leiblich, so doch geistig – von der Bindung an einen Ort, an eine Zeit befreien. „Der Mensch ist eben keineswegs nur dort, wo er sich befindet.“ (A. a.O., 441.) In der Sprache sind wir über Zeit erhaben, wir können Vergangenes und Zukünftiges vergegenwärtigen. Sprache ist konspektiv. Insofern ist der Mensch in der Sprache unsterblich, auch wenn seine Artikulationen in dem Moment sterben, in dem sie geboren werden.⁵⁷² Die Dialektik von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit des in Jesus Christus Gestalt gewinnenden Logos erfordert ihr gemäße Sprachformen. „Von Christus ist immer nur apologetisch als einem Geschehen zu reden. Die Theologien, die an Hegel vorbeigingen, verrannten sich in solch apologetischem unchristlichen Tun, das nicht einmal das Tun der Reflexion ist.“ (SuB VI/2, 336.) Christus ist kein „Geschehen“ im Sinne eines raumzeitlich abgegrenzten Verhältnisses. Die Inkarnation ist kein Einzelmoment der Geschichte. Geschichte ist das unablässige 572 „Im Neuen Testament ist uns gesagt, daß Himmel und Erde, also auch die Menschenart vergehen werden, dagegen nicht die Worte Jesu Christi. Schon das menschliche Bewußtsein hat seine Unsterblichkeit des Augenblicks im Wort, als dem Logos der Logik und im Wort Hölderlins.“ (SuB VII, 459.)
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Inkarnieren des Geistes in die sinnliche Wahrnehmbarkeit. Dieses Inkarnieren ist die Bewegung des Logos, der Sprache. Als sprachliche sind wir geschichtliche Wesen. Geschichte ist weder die Summe einzelner „Geschehnisse“ noch eine außerhalb des Menschen stehende Über- oder Idealgeschichte, auf welche der menschliche Weltumgang sich beziehen lassen könnte. Geschichte ist Entfaltung des Menschen als Bewußt-Sein, nicht aber als Abfolge von Tatsachen. Sie muß begriffen werden als Dialektik von Ver- und Entgegenständlichung, in der alle Momente dieser Entwicklung in späteren Momenten aufgehoben sind. (Vgl. SuB V, 184.) Die Kontinuität von Ereignissen, die als Geschichte benannt wird, ergibt sich daraus, daß der Mensch aus dem sprachlichen Weltumgang nie hinausgelangt. Die Grenzen zwischen sprachlichen Ereignissen sind fließend; man verläßt eines, indem man in ein neues eintritt oder wie Humboldt es nennt: sich beim Verlassen einer Sprache gleichzeitig in eine neue oder andere einspinnt. Der Mensch hat als Sprechender eine Welt. Insofern ist die sprachlich gewonnene Geschichte stets Geschichte des Menschen, nicht Weltgeschichte. Im Inkarnationsmythos ist im Bild vorweggenommen, was Hegel als Logik der Einheit des m u n d u s s e n s i b i l i s und des m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s philosophisch vorbereitet,wodurch er das Fundament für Liebrucks’ Sprachbegriff legt. Zunächst ist aber der philosophische Ursprung der Trennung zwischen einer Sinnen- und einer Verstandeswelt zu bedenken. Eine treffende Skizze der von Philon geprägten Differenzierung hat Peter Probst vorgelegt und hierbei den soteriologischen Aspekt dieser Dichotomie herausgestellt.⁵⁷³ Die Verstandeswelt wird der Sinnenwelt als in dreifacher Weise überlegen charakterisiert. Probst spricht zunächst von einem gnoseologischen Sinn, da die Verstandeswelt allein über Verstandesdenken zugänglich sei. Er spricht weiterhin von einer ontologischen Überlegenheit, da die Sinnenwelt als Abbild der Verstandes- oder Ideenwelt gilt. Schließlich benennt er den bereits erwähnten soteriologischen Sinn der Unterscheidung zwischen Sinnen- und Verstandeswelt, der darin besteht, daß das Aufschwingen zu der reinen Geistigkeit aus den Widrigkeiten der endlichen Welt sinnlich erfahrbarer Dinge befreit. Dieser Dualismus zweier Welten hat die philosophische, dank Augustin auch die theologische Denktradition maßgeblich bestimmt. In der Unterscheidung des rein Vernünftigen als des Wahren von der wahrnehmbaren Welt ist das Wahre als ein Ruhen des Geistes in der Beharrlichkeit der Selbstübereinstimmung vorgestellt. In der Trennung einer sinnlich wahrnehmbaren von einer ideellen Welt wird die Wahrheit in den Bereich einer rein theoretischen Vernunft verschoben, die unter ihrer Erscheinung in der Sinnenwelt
573 Vgl. Probst, Peter, Kant. Bestirnter Himmel und moralisches Gesetz. Zum geschichtlichen Horizont einer These Immanuel Kants, Würzburg 1994, 28 ff.
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verfremdet erscheint. Die Transzendierung der Vernunft verleiht dieser den Status einer objektiven Ursache des Zusammenhangs der Welt und ihrer Deutungen. Die mit ihr verbürgte Wahrheit bleibt dem unter den Bedingungen der endlichen Sinnenwelt stehenden Menschen bloßes Postulat. Die Wahrheit seines Seins liegt außerhalb des von ihm erfahrenen Seins, von dem er sich daher Erlösung erhofft. Der soteriologische Impetus der Trennung von Sinnen- und Ideenwelt wirtschaftet mit dem Erlösungsbedürfnis, das durch diese Trennung erst evoziert wurde. Die Vorstellung einer Erlösung aus der sinnlich erfahrenen Welt der Widersprüche, deren stärkster und quälendster der zwischen Leben und Tod ist, in die Wahrheit einer rein theoretischen Vernunft avanciert zu einer Verwaltung der Enttäuschung, sofern das ersehnte Gut nicht in das Sein eingeht. Diese aus der Trennung von m u n d u s s e n s i b i l i s und m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s ebenso erwachsende wie auf sie reagierende Administration der Enttäuschung erreicht in Kants Kritik der praktischen Vernunft, von welcher aus die Begriffe der theoretischen Vernunft bestimmt werden, einen Höhepunkt. Kant verlegt das formale Prinzip des m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s als objektive Ursache des Zusammenhangs aller Dinge für den m u n d u s s e n s i b i l i s in das Subjekt. Bei Kant ist der Mensch als empirischer bedingt durch die Einflüsse der Natur, der Außenwelt. Frei ist er allein in seinem intelligiblen Charakter, in dem er sich praktisch-vernünftig selbst zu bestimmen weiß. Dieser deontologische Ansatz tendiert auf eine formale Selbsterfüllung, die durch die vernünftig anzunehmende Möglichkeit eines höchsten Gutes gefordert ist. Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Dasein Gottes werden zu notwendigen formalen Voraussetzungen moralischen Handelns stilisiert. Sie sind Bürgen für die Kongruenz von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, den Lohn des sittlichen Handelns, der im diesseitigen Leben nicht empfangen wird. Der Dualismus von Sinnen- und Ideenwelt kann – so führt es Liebrucks vor – logisch überwunden werden, sofern Wahrheit über ihr geschichtliches Werden als unaufhörliches In-Beziehung-Setzen von Endlichem und Unendlichem, Sein und Begriff gedacht wird. Hierfür muß Kant mit Hegel darüber belehrt werden, daß Vernunft nicht länger als Formprinzip vorzustellen, sondern als absolute Vernunft zu denken ist, d. i. das spekulative Vermögen, das Absolute in der Bewegung all seiner Momente zu begreifen. Dieses Absolute, von Hegel auch absoluter Geist oder Gott genannt, ist die Aufhebung aller Widersprüche, indem es sich von sich entzweit und aus seinen mannigfachen Erscheinungen wieder zu sich selbst als der absoluten Identität all seiner Unterscheidungen zurückkehrt. Das geschichtliche, damit inhaltliche Werden der Wahrheit des absoluten Geistes vollzieht sich laut Liebrucks als Sprache. Im sprechenden Subjekt verwirklicht sich die Logik des Absoluten als das Eingehen des Geistes in die Existenz. Im Sein gerät der Geist in seinen Widerspruch. Erst Hegels Theorie des absoluten Geistes vermag die Bedeutung der Inkarnation in eine Logik zu überführen, welche diesen Widerspruch
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nicht als die Entstellung der Wahrheit, sondern als Moment deren logischer Struktur zu begreifen vermag. Die Botschaft des Gekreuzigten ist die Botschaft von der Aufhebung des Entweder-Oder von Geistigkeit und Sinnlichkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit, Leben und Tod, Freiheit und Knechtschaft. Die Erlösung des Menschen besteht folglich nicht darin, daß er aus seiner sinnlich erfahrenen Lebenswelt herausgehoben wird, sondern darin, die Gegenwart Gottes in dieser zu erkennen. „Christus schafft in uns die wahre menschliche Natur gerade dadurch, daß er in die Natur eingegangen ist. Christus ist nicht ein Gott des Jenseits, sowenig er ein Gott des Diesseits ist, da beide Bezeichnungen Abstraktionen sind, die der Mensch nicht erfährt. Das Diesseits ist dem Menschen genauso transzendent wie das Jenseits.“ (SuB III, 106.) Der in Christus geoffenbarte Gott „ist nicht der erscheinende, als Sohn Gottes, als Christus erscheinende Mensch Jesus, da gegenüber diesem noch die Willkür des Bösen Raum hat, sondern die in den Gedanken erhobene Versöhnung Gottes mit der Welt, welche Versöhnung weder Vater noch Sohn, weder transzendent noch immanent im gegenständlichen Wortverstande ist.“ (A. a.O., 560.) In Jesus Christus blickt nicht ein Transzendentes in das Diesseits hinein, in ihm gewinnt das Ganze der Wahrheit Gestalt, an dem wir uns in jedem Moment unseres Seins partizipierend wissen dürfen. Das Diesseits des m u n d u s s e n s i b i l i s und das Jenseits des m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s sind eins in der dialektischen Logik des menschlichen Weltumgangs als Bewußt-Sein. „Religiös gesprochen heißt das, daß der zuerst im Mythos sinnlich erschienene Vater den intelligiblen Sohn in sich enthält. Dieser intelligible Sohn erschien nur für eine kurze Weile. Er erschien bereits als ein von Menschen als Gott einsehbarer.“ (SuB VII, 776.) Das kurze Erscheinen des Sohnes ist das Aufscheinen der Bewegung des Geistes in seinem Rückgang vom Sein in das Wesen. In diesem Rückgang erscheint er als der absolute Geist, als Gott, der uns einsehbar ist, weil seine Logik nicht von unserer verschieden ist. „Erst in Jesus Christus erschien nicht nur eine göttliche Transzendenz sichtbar, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der des Menschen Sohn wie Gottes Sohn war.“ (A. a.O., 784.) Durch seinen Sohn spricht Gott den Menschen in menschlicher Sprache an. In der Sprache als der unablässigen In-Beziehung-Setzung von Endlichem und Unendlichem, Begriff und Sein vollzieht sich die Vermittlung des Absoluten im sprechenden Individuum. „Erst von der Sprache Gottes durch seinen Sohn ist gesagt, daß sie nicht vergehen wird, selbst wenn Himmel und Erde vergangen sein werden.“ (SuB I, 470.)⁵⁷⁴ Die Sprache wird nicht vergehen, weil sie die Logik des 574 „Himmel und Erde sind als die Artikulationen dieser göttlichen Worte zu begreifen, die aber auch vergehen werden, während die Worte des unsterblichen Begriffs, der im Neuen Testament als Jesus Christus zu den damaligen Menschen gesprochen hat, nicht vergehen werden.“ (SuB VI/1, 358.)
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Absoluten selbst ist. In jedem seiner Worte spricht der Mensch das Absolute aus und darin sich selbst als an diesem partizipierend. So ist Sprache „aufgehobener menschlicher Organismus, der dem Munde entflohene unsichtbare Mensch selbst.“ (SuB I, 470.) Liebrucks sieht erst in der Logos-Verkündigung des Neuen Testaments die sprachliche Logik des Absoluten ausgesprochen, welche die Logik des menschlichen Weltumgangs und daher in diesem offenbar ist. „Christus erst weist auf die Logosnatur des Menschen.“ (SuB III, 42.) In Christus ahmte Gott uns nach, „um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern“.⁵⁷⁵ Es ist Hamanns höchste Einsicht in die Sprachlichkeit, daß der Weg des Menschen zu Gott zugleich der Weg Gottes zum Menschen sei. Als Aufforderung, diesen Weg zu gehen, sieht er das Christusereignis. Der göttlich-menschliche Ursprung der Sprache wird bei Hamann in einer besonderen Auffassung der Kenosislehre verhandelt: Der Mensch spricht, weil Gott sich in die Welt herabläßt, in ihr und durch sie erscheint. Gott hat sich also nicht erst in Christus erniedrigt, sondern schon in der Schöpfung. In Christus aber wird diese Erniedrigung so deutlich wie nie zuvor, denn in ihm wird Gott Mensch und lernt sprechen wie ein Mensch, lernt „lallen – reden – lesen – dichten – wie ein wahrer Menschensohn“.⁵⁷⁶
III. Tod und Auferstehung: Geschichte als Umweg Die Ausführungen über die Inkarnation des Logos kamen bereits nicht ohne einen Hinweis auf das Sterben und Auferstehen Jesu Christi aus. Die logische Bewegung des Absoluten als Dialektik von Geist und Sein erschließt sich erst im Rückblick auf die Entäußerung des Geistes in die ihm inadäquate sinnliche Welt in Einheit mit der Rückkehr aus diesem Selbstwiderspruch zu seinem Selbstdenken im menschlichen Geist: Das Wahre ist das Ganze. Folgerichtig muß sich in einer bewußtseins- und sprachlogischen Interpretation der Gestalt Jesus Christus der Deutung des Inkarnationsmotivs die des Kreuzmotivs anschließen. Gerhard Ebeling bestimmt die t h e o l o g i a c r u c i s als die Mitte des christlichen Glaubens und der diesen Glauben reflektierenden Theologie. Für ihn ist Theologie „im ganzen theologia crucis und nicht abwechslungsweise statt dessen auch einmal als theologia incarnationis oder als theologia resurrectionis und so
575 Hamann, Johann Georg, Brief an Gottlob Immanuel Lindner. Königsberg, August 1759, in: ders., Briefwechsel, Bd. I (1751– 1759), hg.v. Ziesemer, Walther/Henkel, Arthur, Wiesbaden 1955, 394; vgl. SuB I, 301. 576 A. a.O., 394.
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oder so als theologia gloriae zu charakterisieren.“⁵⁷⁷ Mit den ersten kreuzestheologischen Entwürfen des Paulus (vgl. I Kor 1, 18 ff.) über die reformatorische Pointierung der t h e o l o g i a c r u c i s als dogmatischer Prüfstein zur Differenzierung zwischen „richtiger“ und „falscher“ theologischer Lehre avanciert die Kreuzestheologie zum identitätsbildenden Moment der christlichen Dogmatik. Das Wort vom Kreuz wird zum Kriterium und Korrektiv aller weiteren theologischen Aussagen. Es formuliert die Bedingung der Möglichkeit einer christlichen Theologie auch dort, wo nicht explizit vom Kreuz die Rede ist. Selbst die Inkarnationstheologie gewinnt ihre Aussage von der t h e o l o g i a c r u c i s her, ohne dabei deren Gegenstück oder Ergänzung zu sein. Im Zuge seiner von Hegels Theorie des Selbstbewußtseins gelenkten Deutung der Verkündigung des christlichen Gottes als Gestalt gewordene Selbstbeziehung des Bewußtseins im absoluten Geist wird auch Liebrucks das Kreuz zum Ort, an dem die Selbstauslegung des Absoluten in unüberbietbarer Klarheit Ausdruck gewinnt. Was in der neutestamentlichen Schilderung von Tod und Auferstehung Jesu Christi anschaulich wird, ist laut Liebrucks die von Hegel philosophisch entfaltete Einsicht in den logischen Selbstwiderspruch als das konstitutive Moment von Identität.⁵⁷⁸ „Die Nachricht von der Auferstehung ist das im logischen Zeigefeld außerhalb der Bilder befindliche Zeichen dafür, daß Bewußt-Sein als menschliches im Fahrenlassen des Selbsterhaltungstriebes zu einer höheren Stufe von Bewußt-Sein aufersteht. Es ist ferner die bildliche Nachricht davon, daß Natur in einer vorgestellten Zukunft auferstehen wird. Es ist die Nachricht davon, daß Natur in der Zukunft erlöst sein wird. Sie wird erhöht sein, wie der erniedrigte Christus erhöht wurde.“ (SuB VI/2, 71.) Die Selbstaufgabe des Bewußtseins ist das Mitleiden mit einem leidenden Gott. Im Adam-Kapitel wurde dieses Mitleiden als sympatheti-
577 Ebeling, Gerhard, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. 2/II: Der Glaube an Gott den Versöhner der Welt, 3. durchges. Aufl., Tübingen 1989, 131. Eine zeitgenössische Übersicht über die theologiegeschichtliche Entfaltung der Kreuzestheologie bietet Korthaus, Michael, Kreuzestheologie. Geschichte und Gehalt eines Programmbegriffs in der evangelischen Theologie, Tübingen 2007. Korthaus macht es sich in seiner Habilitationsschrift zur Aufgabe, in einer von dogmatischen Kongruenzen bei Paulus und Luther ausgehenden theologiegeschichtlichen Analyse eine Genese protestantischer Kreuzestheologie in ihrem Facettenreichtum aufzuzeigen, um zu einer systematisch-theologischen Neuformulierung einer Kreuzestheologie zu gelangen, die sich auf dem gegenwärtigen Stand evangelisch-theologischer Diskussion behaupten kann. Ebenfalls ein breites Spektrum an kreuzestheologischen Entwürfen bietet der Sammelband von Dettwiler, Andreas/Zumstein, Jean (Hgg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, Tübingen 2002. 578 Somit ist für Liebrucks deutlich der Bezugsrahmen umgrenzt, innerhalb dessen er die Begriffe von Tod und Auferstehung abhandelt: „Zugrundegehen und Auferstehen ist eodem actu nur im Bewußt-Sein möglich, nicht in unserem Leib.“ (SuB VII, 226.)
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scher Weltumgang begriffen: Das sich nicht selbstbehauptende Bewußtsein der „träumenden Unschuld“ erlebt die Welt in solcher s y m p a t h e i a , die es logisch wiederzugewinnen gilt. Das Zu-sich-Kommen des Geistes geht den Leidensweg des Vergehens des Fürsichseins. Da das Bewußtsein aus seinem Untergang zu sich selbst aufersteht, kann gesagt werden: „Nur diejenigen, die gelitten haben, handeln menschlich.“ (A. a.O., 444.) Wiederum ist menschliches und göttliches Tun in bezug aufeinander definiert. Das Mit-Leiden mit dem Gekreuzigten ist die Selbstüberwindung des Begriffs, der im Durchgang durch seine Negationen seine Identität verwirklicht.⁵⁷⁹ „Der Mensch kann nach dem Neuen Testament nicht mehr sagen, er wüßte davon nichts.“ (SuB VI/1, 418.)⁵⁸⁰ Das Selbstbewußtsein kann nur zu sich auferstehen, wenn es zuvor in den Tod seiner Negation gegangen ist. In der Abstraktion von sich in der Hingabe an das Andere seiner selbst bleibt das Bewußtsein auf sich bezogen. Dieser Bezug kann erst im Sein bei Anderem aufscheinen. Wird dieser Bezug gedacht, ist das Selbstbewußtsein bei sich angekommen, ist es Selbstbezug.⁵⁸¹ Es ist das zu sich auferstandene Bewußtsein. Zu sich selbst im Gang in den eigenen Widerspruch zu streben, ist ein Moment des Werdens der Wahrheit. An singulärer Stelle spielt Liebrucks diese begriffslogische Einsicht auch anhand der neutestamentlichen Erzählung von der Versuchung Jesu Christi durch: „In der Versuchungsgeschichte beantwortet Christus das Angebot der Caesarischen Macht, das doch für ihn als Jesus die Chance zur Errichtung des Reiches der Liebe und Gerechtigkeit auf Erden zu enthalten schien, mit der in dieser Situation ihm allein möglichen Antwort: ‚Hebe dich weg von mir Satan!‘ (Matthäus 4,10). Das Versprechen der Hinweghebung des menschlichen Leides im
579 „Alles Leiden ist Mitleiden des Leidens eines Gottes, insofern er sich selbst als passive Substanz vorausgesetzt hat.“ (A. a.O., 439.) 580 Vgl. Becker, Jürgen, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 19922, 220 f.: „In der Kreuzestheologie ist nicht das Kreuz Gegenstand der Erörterung, sondern schlechterdings alles wird durch das Kreuz einer neuen Erörterung zugeführt. […] Im Kreuz geschieht also die Umwertung aller Dinge dieser Wirklichkeit in einer bleibenden und verbindlichen Weise, weil der Gekreuzigte ein für alle Mal nur den Gott bekundet, der in der Tiefe, im tödlichen Elend, in der Verlorenheit und Nichtigkeit Gott und Retter sein will.“ 581 Die Einheit des Bewußtseins gründet darin, seine Bezüge denken zu können. Die transzendentale Apperzeption versammelt die Mannigfaltigkeit von Vorstellungen unter einem vereinheitlichenden Prinzip. „Denken aber ist mehr. Es ist die Einheitsbildung der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen unter der sie stets begleitenden Möglichkeit des ‚Ich denke‘, wie auch der immer wieder eintretende Tod dieses ‚Ich denke‘.“ (SuB IV, 496.) Der Tod des Bewußtseins ist immer schon dessen Auferstehung (vgl. ebd.) zu einem neugeborenen „Ich denke“, das die Einheit von Identität und Nicht-Identität ist. Im steten Wechsel von Tod und Auferstehung ist das Bewußtsein Identität, die sich unablässig selbst erzeugt und darin Identität und Nicht-Identität in sich begreift. „Es kann nicht unbewegte Sichselbstgleichheit sein, sondern nur sich bewegende Sichselbstgleichheit.“ (SuB V, 30.)
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Wesen, dem Reich der Gerechtigkeit, wäre zugleich das Versprechen der Hinweghebung des Begriffs, den die Logik auf dem Weg über die Fulguration des Wesens (Platon) und über die Fulguration des Begriffs (Hegel), in zwei Mutationen innerhalb von Bewußt-Sein erreicht hat. Es wäre die Hinweghebung des Menschen über die Seligkeit und damit über das irdischmenschliche Glück.Vorher hatte der Satan die Versuchung des Wunders (Mythos) und die der Technik ausgesprochen. Als diese abgelehnt wurden, mußte er die Maske lüften und schon offen aussprechen, daß es schon in ihnen um die Macht gegangen war. Wenn man von der Mathematik zum Begriff gelangen will, tut man gut, sich diese Geschichte vor Augen zu halten. Wird sie nicht logisch in den Begriff übersetzt, so ist sie verloren und wir mit dem Verlust ihrer Mnemosyne.“ (SuB VI/1, 494.)
Das Absolute ist in unablässigem Werden. Als solches ist es der ewig schaffende Schöpfergott, der Vater. Jede seiner Ausdifferenzierungen ist immer schon auf dem Weg des Rückbezugs auf das Ganze. Ebenso ist das Werden Gott-Vaters im Sohn kein situatives Ereignis, sondern ein Moment des Werdens des Absoluten. Dessen Epiphanie leuchtet daher auf in Kreuz und Auferstehung Christi, in der Überwindung des Todes. „Dieser dauernde Tod, diese dauernde Auferstehung des Bewußtseins […] ist die Geschichtlichkeit des Bewußtseins. […] Die dauernde Entfremdung des Bewußtseins von sich selbst ist ein dauerndes Sterben, das zugleich ein dauerndes Auferstehen ist.“ (SuB V, 208 f.) Dieses Auferstehen ist der von Hegel beschriebene Rückgang des Wesens von der Existenz in seinen Grund, der hier „die logische Bewegung des Wesens vom deus absconditus auf den deus revelatus zu“ ausmacht. (SuB VI/2, 337.) In seiner Rückkehr in die Innerlichkeit vollzieht Gott seine Logik im menschlichen Geist. Darin erweist er sich als Einheit von Subjektivität bzw. Subjekt und Objektivität bzw. Substanz. Hegels absolute Methode erklärt letztlich nicht den Widerspruch, sondern die Entsprechung. Beide Ausdrücke – Widerspruch und ebenso Entsprechung – verweisen auf die Sprachlichkeit ihrer logischen Struktur. „Der Logoscharakter des Absoluten beginnt mit seinem sich in Wirklichkeit Übersetzen. Es setzt sich selbst als Wirklichkeit.“ (A. a.O., 336.) Weil der christliche Gott als Logos – mit Liebrucks begriffen: als sprachliche Vernunft – sowohl geistig als auch seiend ist, ist er im menschlichen Weltumgang wirksam. So ist er der menschliche Gott. Sein Wirken ist keine Gewalt an uns, auch wenn es uns zunächst so anmutet.⁵⁸² Jede Konfrontation mit dem Absoluten wirft das 582 „Das Herabsteigen Gottes ist das Herabsteigen in ein Sein, das er doch aus sich entlassen hatte. Dieses Herabsteigen Gottes ist das Sicherheben des Endlichen innerhalb seiner selbst zum Unendlichen. Dieser Gott ist nicht mehr der Gott als Macht, die dem Endlichen Gewalt antut. Sie tut ihm sowenig Gewalt an, daß wir sie heute als seine Macht gar nicht mehr gewahren. Wie das Endliche sich über sich selbst erhebt, indem es über sich hinausgetrieben wird, so liegt es im Begriff des wahrhaft, des der Wirklichkeit habhaften Unendlichen, immer schon zum Endlichen hin zu sein.“ (SuB VI/1, 395.) Darin erweist sich das Absolute, in seinen Konkretionen lebendig
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Subjekt auf seine unbedingte Abhängigkeit zurück. Bevor es nicht weiß, daß in dieser Abhängigkeit auch seine Freiheit besteht, bleibt die Allmacht Gottes zu fürchten. (Vgl. SuB V, 94.) Sie offenbart sich erst in ihrer Dialektik als Liebe Gottes zu den Menschen, die von diesen erwidert werden kann in der Einsicht, daß ihr individuelles Sein ein Moment des Absoluten ist. Gottes Wirken wäre gewaltsam als ein Wirken, welches das Menschliche annihilieren würde. Solche Gewalt, die Selbstdurchsetzung unter Ausschluß oder Unterwerfung des Anderen, ist Merkmal alles undialektischen Denkens und des daraus erfolgenden Handelns⁵⁸³; von Liebrucks wird es vor allem als Charakteristikum des sich in technisch-praktischer Weltbehandlung behauptenden, säkularisierten Subjekts beschrieben. Gottes Wirken aber ist die Liebe. Als Liebe, d. i. in ihrer dialektischen Struktur, erscheint die Allmacht Gottes nicht als Gewalt, sondern als die „Kraft des Geistes […], in der Entäußerung bei sich selbst zu sein.“ (SuB V, 291.) Beim Anderen bei sich selbst zu sein ist die Auslöschung der Extreme von Individualität und Allgemeinheit, von Immanenz und Transzendenz. In der Sprache bewegen sich beide aus ihrer Unmittelbarkeit aufeinander zu: In der Sprache ist das Ich und ist Gott transzendentimmanent, konkret-allgemein. Gott nimmt im Menschen Platz, indem er diesen an sich partizipieren läßt. Gewalt ist die Form, die einfache Negation bleibt. Gott ist nicht die simple Negation des Menschen; als solche wäre er nicht Gott. Gott ist die Aufhebung aller Negationen. Darum ist er bei seinem Anderen bei sich selbst. Dieses Andere ist keines, das schon außer ihm vorhanden wäre. Alle Dinge oder Modi, „die außerhalb des Absoluten ein selbständiges Sein haben, sind Bewohner eines undialektisch erlogenen Landes.“ (SuB VI/2, 336.) Dem Absoluten kann als solchem nichts äußerlich sein. Ein dem Menschen äußerlich bleibendes Absolutes ist das transzendentallogische Postulat einer formalen Totalität, die dem es Proklamierenden immer ein d e u s a b s c o n d i t u s bleibt. (Vgl. ebd.) „Der nur seiende Gott [..] ist der schweigende Gott […].“ (Ebd.) Dieser Gott kann den Menschen nicht rufen, weil er dem Menschen kein Gegenüber, sondern dessen Produkt, insofern nur seiend ist. Dieser Gott hat keine eigene Identität, er ist gesetzt als eine Pseudo-Identität: sich durchhaltende Bestimmtheit. Er ist prinzipieller Gott, als solcher verräumlicht, eingeschlossen in einem Prinzip und in einen Raum außerhalb der menschlichen Welt verschoben, mit der er nichts zu tun haben darf, um seine Funktion für den Menschen zu erfüllen. „Die Verräumlichung Gottes ist die Geburtsstunde der Gewalt.“ (A. a.O., 438.)
sich entfaltender Geist, nicht aber ein durch formallogische Abstraktion gewonnener Allgemeinbegriff, ein Prinzip zu sein. „Das formal Allgemeine kann sich nicht herablassen. Die Herablassung ist von Hamann als Bild für die Liebe Gottes gebraucht worden. Die Herablassung des Herrn bleibt zugleich oben. Ein Vornehmer dagegen läßt sich nicht herab.“ (SuB VI/3, 324.) 583 „Die Dialektik ist das Gegenteil der Gewalt.“ (SuB III, 129.)
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In der Einleitung zur vorliegenden Untersuchung wurde Liebrucks’ Werk als eine Philosophie vorgestellt, die unter dem Eindruck der Bedrängnis der Menschlichkeit durch das nationalsozialistische Regime steht und versucht, nach 1945 die Struktur der erfahrenen Entmenschlichung philosophisch aufzuarbeiten, um sie zu den Irrtümern zählen zu dürfen, welche die Menschheit denkend und handelnd überwunden hat. Eines dieser Strukturmomente ist die globale Ausmaße erreichende atomare Bedrohung, die Liebrucks zu der Frage verführt, ob die Atombombe der Gott des 20. Jahrhunderts sei. Angeheizt wird diese Frage sicher ebenfalls durch das internationale Wettrüsten im sogenannten „Kalten Krieg“. Angesichts der Tatsache, daß immer mehr Nationen atomare Rüstungsprogramme etablieren, hat sich die Frage auch für das 21. Jahrhundert noch nicht erledigt. Die Technisierbarkeit der Welt bringt nicht allein den Fortschritt hinsichtlich der Überlebenstüchtigkeit und des Lebenskomforts mit sich, sondern ebenso eine Globalisierung von Vernichtungsmöglichkeiten. Durch die Erfindung der Atombombe ist die Menschheit erstmals in der Lage, sich selbst auszurotten. Das atomare Wettrüsten im „Kalten Krieg“ zeigt, daß Frieden nicht mehr anders möglich scheint, als durch Bedrohung. Die Politik der Abschreckung verleiht dabei der Überzeugung logischer Kalkulierbarkeit der Dinge Ausdruck. Daß die Atombombe im Rahmen der Abschreckungspolitik aber den Rang eines Gottes bekleidet, ist erst verständlich, wenn man die logische Struktur der Abschreckungspolitik in den Blick nimmt: „Bei der Atombombe folgt schon aus ihrem Begriff die Wirklichkeit. Die Potentialität ihrer Gewalt läßt die Politik im Zustand der permanenten Erpressung. Wir müssen uns auf die im pejorativen Sinn mythischen Gewalten besinnen, die hinter der Technik stehen.“ (SuB VII, 59; vgl. Rede, 336.) Die Politik der Abschreckung funktioniert wie der ontologische Gottesbeweis und teilt daher ebenso sein Manko: Wäre die letzte Notwendigkeit von derselben Existenz wie die erscheinenden Dinge,wäre auch sie zufällig und könnte nicht Bedingung der Zufälligkeit sein – oder nur um den Preis größtmöglicher Gewalt, die es vermag, sich alles andere ihrer selbst zu unterwerfen. Diese Strategie ist die der atomaren Erpressungspolitik. Sie ist nur insofern über den ontologischen Gottesbeweis hinaus, als sie ihren „Gott“ bereits als Postulat präsentiert. Die Götter des modernen Menschen tragen die Signatur der Technokratie. So hat sich die zeitgenössische Menschheit die Atombombe zum Gott erkoren. Allein ihr Vernichtungspotential hält Menschen, Staaten, Völkergemeinschaften in Schach. Schon das bloße Muskelzucken dieses Gottes, die Androhung seiner möglichen Gewaltausübung versetzt Menschen in Angst und Schrecken. Die Bombe muß nicht erst gezündet werden, um schon das Schicksal der sie fürchtenden Menschen entschieden zu haben. (Vgl. SuB VII, 356.) Wird aus der Möglichkeit brutale Realität, wird der Mensch im Angesicht dieses Gottes vernichtet. Das Ansehen Gottes und des Menschen ist nur im christlichen Gottesbegriff gewahrt. Der christliche Gott stirbt, damit der Mensch leben kann. Dieser Gott hat sich als Logos offenbart, dessen dialektische Struktur ihn als Liebe erkennen läßt. Er muß sich den Menschen nicht unterwerfen; vielmehr erweist er sich als Gott, indem er das Anderssein des Anderen nicht nur integriert, sondern sogar begründet. Der postulierte Gott dagegen ist der Gott, der nicht in den Widerspruch geht und daher den Widerspruch nicht aushält. Er ist damit aber ebenso eingeschränkt wie der Mensch, den er das ausnahmslose Fürchten lehrt.
Der verräumlichte Gott ist der in sein Gegenteil eingekehrte Geist, das in die Bedingtheit des Seins entäußerte unendliche Werden des Absoluten. „Dieser verräumlichte Gott starb am Kreuze und stirbt als origo des Bewußtseins […].“ (SuB
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VI/2, 438.) Bewußt-Sein als Verwirklichung der Logik des absoluten Geistes ist sich immer zugleich äußerlich. Es ist Subjekt und Substanz, unendlich und verräumlicht. Das Motiv des gekreuzigten Gottes versinnbildlicht den Tod der Substanz. Sie setzt sich als ein ihr Äußerliches, „verräumlicht sich darin und stirbt darin – mythologisch ausgedrückt – den eigenen Tod. In diesem Tod ist ihr Insichsein das Außersichsein. In diesem Tod der Substanz ist sie Subjekt, BewußtSein.“ (Ebd.) Der Tod des absoluten Geistes ist der Tod des subjektiven Geistes.⁵⁸⁴ Da das Absolute aus seinen Widersprüchen zu deren Aufhebung getrieben ist, ist aber der Tod der Substanz nicht das Ende des Subjekts als Bewußt-Sein, sondern dessen Ursprung, „welcher Tod und welche Auferstehung der Logos, die Welt als Sprache ist.“ (SuB VI/2, 438.)⁵⁸⁵ In jedem seiner Worte stirbt das sprachliche Bewußt-Sein den eigenen Tod, indem es sich aus der Unendlichkeit der Unbestimmtheit zu einer endlichen Äußerung bestimmt. Es ist in diesem Selbstwiderspruch zugleich Selbstentsprechung, sofern es sich nicht im Unterschied zu seinen Widersprüchen begreift, sondern als das Unterscheiden.⁵⁸⁶ Im Vollzug des Unterscheidens, dem Gang in die Existenz und dem Rückgang in den Grund des Wesens, erweist sich das Unterscheidende als Subjekt, als Bewußt-Sein. Dieses ist als das seinen Tod Aussprechende immer schon von ihm auferstanden. Die Welt als Sprache ist die Welt, in der wir leben und über die wir zugleich hinaus sind. Das Über-sich-hinaus-Bedeuten jedes Wortes zeigt die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen an. Jedes Wort stirbt in dem Augenblick, da es gesprochen oder gedacht wird, und gibt seine Bedeutung in dieser Entäußerung an den Kontext, in dem es steht, frei. Es ist zu seiner Bedeutung auferstanden. In jedem Wort, das wir sprechen, vollzieht sich die Logik des Wortes, das uns das Neue Testament als den Gekreuzigten und Auferstandenen verkündet. Wie schon im Umgang mit anderen Motiven und Begriffen beobachtet, ist auch Liebrucks’ Auslegung des Kreuzmotives mehrdeutig. Zunächst steht die Kreuzigung als wohl einschlägigstes Bild für das Erleiden von Passivität. Der Gekreuzigte ist die strengste Abstraktion des Lebens, des Menschen. Ihm ist seine Entwicklungsoffenheit abgesprochen, in der Nacktheit der Eindeutigkeit ist er 584 „Der Tod von Ich ist immer schon der Tod Gottes, wie beide immer zugleich auferstehen.“ (SuB V, 307.) 585 „Aber im Bewußt-Sein geschehen die Tode immer zugleich mit der Auferstehung. Das ist der Unterschied des philosophischen Tötens vom nur seienden Töten. Bisher ist uns Menschen die Einheit von Tod und Auferstehung nur an einer Stelle mitgeteilt worden. Im Bewußt-Sein ist sie uns außerhalb der Hegelschen Philosophie unbekannt geblieben. […] Wir müssen aus unserer Endlichkeit heraus. Das können wir im dauernden Sterben und Auferstehen von uns als BewußtSein vollbringen.“ (SuB VI/1, 381.) 586 „Das Ertragen des Todes ist das Aushalten des Widerspruchs. […] Nur das Aushalten des Widerspruchs ist Denken.“ (SuB IV, 674.)
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preisgeben an ein Behandelt-Werden, das rein technisch mit ihm verfährt. Der Gekreuzigte ist der Leichnam des Allgemeinbegriffs „Mensch“, dem alles Menschliche genommen ist. Diese Kreuzigung vollzieht sich in unserem Weltumgang unablässig als das Moment der formallogischen Reflexion. Sie wird vollzogen am Menschen, an der Natur und selbst an Gott, indem sie ihn zu einem formalen Prinzip bestimmt.⁵⁸⁷ Das Kreuzigen steht hier für die formale Vermeidung des Widerspruchs, wie sie den Grundsatz aller formalen Logik bildet. (Vgl. ebd.) Im Tode der Abstraktion wird der lebendige Geist substanzontologisch geknebelt. Er wird „etwas“. Die Voraussetzung zu dieser Reflexion, die Hegel die erste nennt, besteht aber darin, daß es das An-sich der Dinge zuläßt, als bestimmte Gegenstände angesehen und behandelt zu werden. Daß sie widerspruchsfrei erscheinen sollen, steht bereits im Widerspruch zu ihrem An-Sich, das sich jeglichem bestimmenden Zugriff entzieht. „Etwas“ werden und dabei doch die eigene, nicht-gegenständliche Wirklichkeit behaupten zu können, verweist darauf, daß diese ihre Unterschiede an sich hat. „Christus ist das göttliche Zeichen auf die Erkenntnis, daß er und die Natur dieses an ihr Geschehenlassen [d. i. die Vergegenständlichung zu einem empirischen Charakter, S. L.] als Natur außerhalb der Welt der Positivität ausüben.“ (SuB VI/2, 71.) Hier öffnet sich das Motiv des Kreuzes zu einer weiteren Bedeutungsdimension: Die eigentliche Pointe des Motivs ist die, daß es Gott selbst ist, der in Christus gekreuzigt wird. Gott selbst geht in den Tod, weil sein Anderswerden ein Moment seiner Genese ist. Der am Kreuz sterbende Gott ist der tiefste aller denkbaren Widersprüche und als solcher Ausdruck absoluter Selbstentsprechung. Hiermit wird eine zentrale Aussage des vorangegangenen Kapitels über den Gottesbegriff aufgegriffen. Dort wurde festgehalten, daß der Selbstbezug des Bewußtseins über seine eigene Negation erfolgt. Identität ist immer Identität im Widerspruch. Hegel etabliert den Widerspruch als logisches Konstituens in den drei Teilen seines logischen Systems: der Logik bzw. Ontologie, die vom Sein Gottes vor Erschaffung der Welt handelt; der Naturphilosophie als Reflexion über Gottes Entäußerung in die materiale Welt; schließlich der Philosophie des Geistes, welche die Rückkehr Gottes aus seiner Schöpfung zu sich als Selbstdenken des göttlichen im menschlichen Geist thematisiert. Die reine Innerlichkeit göttlichen Denkens entäußert sich in die inadäquate Form der materiellen Natur und somit in den eigenen Widerspruch. Dieser ist das treibende Moment in der Logik des Absoluten, das als solches alle Gegensätze in sich aufhebt. Das Wahre als das Ganze, das alle seine Unterschiede in sich trägt, scheint auf in den Selbstüberwindungen des Begriffs, der sich in die Abstraktionen seiner selbst entläßt. Als Movens des logischen Zusichkommens des absoluten Geistes ist der Widerspruch also kein defizitärer logischer Modus. Wahrheit als Aufhebung
587 „Es liegt im Ansatz der Reflexionsphilosophie, die Kreuzigung Christi in Permanenz zu vollziehen.“ (SuB III, 204.)
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aller Widersprüche muß das Moment der Synthese ebenso in sich tragen wie den Widerstreit von These und Antithese. Der Widerspruch ist logisches Moment des Selbstvollzugs des Absoluten.
Als Moment des Absoluten entfaltet sich auch die Identität des Menschen über die Struktur des Widerspruchs zwischen Substantialität und Subjektivität: Als solche ist sie Bewußt-Sein. Der adäquate Begriff des Menschen ist ebensowenig wie der Gottesbegriff „etwas“,vielmehr hebt er sich selbst als „etwas“ in sich auf. Identität besteht, indem sie in ihrem eigenen Widerspruch auf sich bezogen bleibt. Die logische Matrix dieses Identitätsbegriffs übernimmt Liebrucks von Hegel, der in seiner Geistphilosophie die Identität des Selbstbewußtseins als Selbstbeziehung denkt.⁵⁸⁸ Diese wird in der Einheit von Entzweiung und deren Überwindung
588 Als Referenztext sei an dieser Stelle die Phänomenologie des Geistes herangezogen: „Das Bewußtsein hat als Selbstbewußtsein nunmehr einen gedoppelten Gegenstand, den einen, den unmittelbaren, den Gegenstand der sinnlichen Gewißheit und des Wahrnehmens, der aber f ü r e s mit dem C h a r a k t e r d e s N e g a t i v e n bezeichnet ist, und den zweiten, nämlich s i c h s e l b s t , welcher das wahre We s e n , und zunächst nur erst im Gegensatze des ersten vorhanden ist. Das Selbstbewußtsein stellt sich hierin als die Bewegung dar, worin dieser Gegensatz aufgehoben, und ihm die Gleichheit seiner selbst mit sich wird.“ (Hegel, PhG, 121 f.) – „Der U n t e r s c h i e d dieser Glieder g e g e n e i n a n d e r aber als Unterschied besteht überhaupt in keiner anderer B e s t i m m t h e i t , als der Bestimmtheit der Momente der Unendlichkeit oder der reinen Bewegung selbst. Die selbständigen Glieder sind f ü r s i c h ; dieses F ü r s i c h s e i n ist aber vielmehr ebenso u n m i t t e l b a r ihre Reflexion in die Einheit, als diese Einheit die Entzweiung in die selbständigen Gestalten ist. Die Einheit ist entzweit, weil sie absolut negative oder unendliche Einheit ist; und weil sie das B e s t e h e n ist, so hat auch der Unterschied Selbständigkeit nur a n i h r. Diese Selbständigkeit der Gestalt erscheint als ein B e s t i m m t e s , f ü r a n d e r e s , denn sie ist ein Entzweites; und das A u f h e b e n der Entzweiung geschieht insofern durch ein anderes. Aber es ist ebensosehr an ihr selbst; denn eben jene Flüssigkeit ist die Substanz der selbständigen Gestalten; diese Substanz aber ist unendlich; die Gestalt ist darum in ihrem Bestehen selbst die Entzweiung, oder das Aufheben ihres Fürsichseins.“ (A. a.O., 123.) – „Denn da das Wesen der individuellen Gestalt, das allgemeine Leben, und das für sich Seiende an sich einfache Substanz ist, so hebt es, indem es das A n d r e in sich setzt, diese seine E i n f a c h h e i t , oder sein Wesen auf, d. h. es entzweit sie, und dies Entzweien der unterschiedslosen Flüssigkeit ist eben das Setzen der Individualität. Die einfache Substanz des Lebens also ist die Entzweiung ihrer selbst in Gestalten, und zugleich die Auflösung dieser bestehenden Unterschiede; und die Auflösung der Entzweiung ist ebensosehr Entzweien oder ein Gliedern. Es fallen damit die beiden Seiten der ganzen Bewegung, welche unterschieden wurden, nämlich die in dem allgemeinen Medium der Selbständigkeit ruhig auseinandergelegte Gestaltung, und der Prozeß des Lebens ineinander; der letztere ist eben so sehr Gestaltung, als er das Aufheben der Gestalt ist; und das erste, die Gestaltung, ist eben so sehr ein Aufheben, als sie die Gliederung ist.“ (A. a.O., 124.) – „Dieser ganze Kreislauf macht das Leben aus, weder das, was zuerst ausgesprochen wird, die unmittelbare Kontinuität und Gediegenheit seines Wesens, noch die bestehende Gestalt und das für sich seiende Diskrete, noch der reine Prozeß derselben,
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vollzogen. Das Bewußtsein muß sich ein Anderes werden und gleichzeitig erkennen, daß dieses Andere solches nur in bezug auf sich selbst ist. Der Unterschied beider ist an ihm, er hat an sich kein selbständiges Sein. Die Unterschiedenheit ist insofern absolut, als sie immer nur in bezug auf ihre Aufhebung ist. So verstanden ist sie „ein Unterschied, der kein Unterschied mehr ist.“ (SuB V, 77.) Die Entzweiung ist gleichsam ein Gang in die Unwirklichkeit, man kann ebenso sagen: in den Tod der Abstraktion. Doch „Christus hat es uns Menschen zugerufen, daß wer an ihn glaubt, leben wird, und wenn er gleich stürbe. Wir armen, logisch erblindeten und geistig verirrten Menschen glauben, daß uns darin etwas davon gesagt sei, wie es wohl, unter der Sukzessionsvorstellung der Zeit, nach unserem Leben mit uns bestellt sein möchte. Es ist die erste notwendige Wesensbefreiung aus solcher logischen Verdummung, nicht über den Tod nachzudenken, sondern über das Leben. Das ‚sondern‘ ist freilich nur wesentliches ‚sondern‘. Aber es dient der ersten Einübung in die Natur des Begriffs.“ (SuB VI/3, 245.) Das Mysterium des sterbenden Gottes kann uns nur Offenbarung sein, weil wir selbst nicht nur endliche Wesen sind. (Vgl. SuB VI/2, 324.) Liebrucks’ Ausführungen deuten auf die von Hegel so benannte „Idealität des Endlichen“⁵⁸⁹ hin, eine Wendung, die den Widerspruch als treibende Kraft des Wirklichen umschreibt, das sich im permanenten Übergehen innerhalb des Endlichen als unendlich erweist. „Die Unendlichkeit ist nirgendwo anders zu finden als im Diesseits, im Endlichen.“ (SuB VI/1, 390.) Im Vergehen ist Unendlichkeit seiend. (Vgl. a. a.O., 396.) „Das Hinausgetriebenwerden des Endlichen über sich hinaus ist die Aufhebung sowohl des abstrakten Endlichen wie des abstrakten Unendlichen. Im Tode gehen wir spätestens aus der leeren Flucht aus der Wirklichkeit hinaus. Das dauernde Sterben als Bewußt-Sein ist immer die Negation der Flucht aus dem abstrakten Diesseits wie aus dem abstrakten Jenseits. Diese Negation der Negation ist die affirmative Unendlichkeit, die die einzige ist, die der Wirklichkeit habhaft ist.“ (Ebd.) Der Übergang vom Endlichen ins Unendliche ist in der endlichen Identität unablässig vollzogen. Das Unendliche ist somit nicht als simple Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem vorgestellt, wodurch beide als Endliches gesetzt werden. Der Unterschied beider muß innerlogisch sein, wenn das Endliche unendlich sein können soll. Seine Selbstreflexion trägt den Menschen unablässig über sich hinaus, indem er sich im Anderen erkennt. Im Anderen bei sich selbst zu sein, ist Ausdruck seiner Transzendenz. „Christus hat uns nicht zur Methexis zu diesem bleibenden Leben
noch auch das einfache Zusammenfassen dieser Momente, sondern das sich entwickelnde, und seine Entwicklung auflösende und in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze.“ (A. a.O., 125.) 589 Vgl. Hegel, Enzykl. § 95.
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aufgerufen, sondern zum ewigen, […] zu dem, der über alles Leben hinaus ewig ist.“ (SuB VII, 40; vgl. a. a.O., 14 f.) Der Weg zum lebendigen Gott führt über den Tod des Formalismus‘ in der Überwindung, der Auferstehung, wie sie nur in der Dialektik geschieht, die Tod und Leben in sich aufhebt. Diese Dialektik ist die des Logos, der Sprache. „Sprache trägt im Moment das ganze Leben.“ (SuB II, 400.) Das ewige Leben ist in jedem unserer Worte ausgesprochen: In jeder Selbstaussage stirbt das sprachliche Bewußt-Sein den eigenen Tod, indem es sich aus der Unendlichkeit der Unbestimmtheit zu einer endlichen Äußerung bestimmt. Im bleibenden Bezug all seiner wesenhaften Bestimmtheiten auf sich selbst ersteht es unablässig wieder zu sich auf als der Einheit von Identität und Nicht-Identität. „Wenn das Endliche dadurch, daß es jeden Augenblick vergeht, über sich hinausweist, so hat die Sprache die göttliche Natur, die Endlichkeit auf die Augenblicklichkeit verklingender Laute zusammenschrumpfen zu lassen – zugunsten der unendlichen Bedeutung.“ (A. a.O., 321.)⁵⁹⁰ Jedes Wort vergeht im Augenblick seiner Geburt und gibt seine Bedeutung in dieser Entäußerung an den Zusammenhang, in dem es steht, frei. Das Über-sich-hinaus-Bedeuten jedes Wortes zeigt die Präsenz des Unendlichen im Endlichen an. „In Jesus Christus ist das Erschreckende auf dieser Welt ausgesagt, daß die affirmative Unendlichkeit als Christus in ihrer Unmittelbarkeit, wie sie da vor der Vorstellung gewesen ist, zugleich die qualitative Unendlichkeit gewesen ist, die zugleich in alle Welt ergossen ist. Da alles auf der Welt nur Sein-für-Eines ist.Wir haben diesen Jesus Christus nur in seinem Wort, wie wir die Welt als Sein-für-Eines nur im Wort haben.“ (SuB VI/1, 412 f.) In diesen Sätzen ist die Wahrheit des Menschen im Anundfürsichsein seines Geistes umschrieben. Erschreckend ist dies für das im Fürsichsein verharrende Subjekt: sich nicht in der Selbstbehauptung zu gründen, sondern im Wort, das ein anderes Subjekt an es richtet, im Wort, das es selbst zu anderen spricht. In der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung der Sprache ist der eine, der absolute Geist zugleich in unsere Welt ergossen, da ihn jedes Wort als artikuliertes Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ausdrückt. Jedes Wort ist ein Gleichnis unseres Verhältnisses zum Absoluten. Sprechen wir uns als subjektiver Geist im absoluten aus, müssen wir unser Selbstbewußtsein zugleich aufgeben – und können es doch
590 „Es gibt keinen Menschen auf dieser Welt und hat keinen gegeben, der wußte, was uns nach dem Tod erwartet, ob uns nach ihm überhaupt etwas erwartet. Dennoch kann unser Bewußtsein, sofern ihm überhaupt etwas zu wissen möglich ist, nicht nur endlich sein. Es muß im Augenblick der Konzeption des B e g r i f f s unsterblich sein.“ (SuB VII, 458.) Somit ist „[d]er christlich verstandene Vorgang von Sterben und Auferstehen [..] Bedingung der Wirklichkeit der Erkenntnis.“ (SuB III, 119.) Unter dem Sprachblick des Menschen sterben die Dinge in ihrer andrängenden Unmittelbarkeit. „Aus dem Schoße der konkreten Allgemeinheit“ stehen sie „zu neuem Leben auf.“ (A. a.O., 512.)
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nicht. Für dieses Zugleich gibt es keinen Ausdruck. Aber es gibt eine Gestalt, in der dieses Paradox Ausdruck findet: Jesus Christus. In ihm wird sich der Mensch ansichtig. „In unserer Sprache gibt es noch den Ausdruck ‚Was für ein Ausdruck‘. In ihm wird auf Jesus Christus gewiesen mit der Frage, was dieser Jesus da im bezug darauf ist, was wir mit Fug und Recht ‚ein Mensch‘ nennen können. Was ist dieser da für das, was sonst ‚ein Mensch‘ genannt wird. […] Inwiefern ist dieser da nicht dieser Mensch da, sondern der Mensch schlechthin als dieser da.“ (A. a.O., 412.) E c c e h o m o – der Ausruf des Pilatus‘ betrifft uns alle. All unser Denken und Tun gerät zu einer Beantwortung der Frage, was für ein Mensch wir seien. Keinen Zeitpunkt, keinen logischen Status, keinen Menschen gibt es, der nicht Antwort auf diese Frage wäre – auf welchem Niveau auch immer. „Was für ein Mensch?“ ist die Frage nach der Einheit in Vielheit, nach dem Ich, in dem die ersprochenen Relationen, die unsere Welt sind, zusammenlaufen. In der Beziehung der Sprachbahnen auf sich als Sprechenden bringt das Ich zugleich Kontinuität ins Relationsgefüge Welt und setzt sich von diesem ab. In jeder Vereinheitlichung trennt sich derjenige ab, der diese Vereinheitlichung vornimmt. So ist der Mensch diskretes Individuum, er ist dies in seiner Beziehung zu Natur und Gesellschaft, die er vermittels des Logos hat; er ist Mensch in Abgrenzung zu Gott. Alle Konkretionen, als die sein Lebens- und Leidensweg gezeichnet ist, sind aufgehoben im Absoluten: Davon handelt die nachösterliche Botschaft der Auferstehung. „Wie soll ich mit Vernunft einsehen, daß es zu einem Gott der Liebe gehört, den eigenen Sohn zu opfern? Das kann ich, wenn darin die einzige Möglichkeit für uns Menschen liegt, angesichts des Lebens, der Worte und des Sterbens von Jesus Christus zu erfahren, w e r w i r eigentlich s i n d.“ (Sinnfrage, 298.) Unser Leben ist vom Leben des Vaters nicht verschieden. Nur weil wir als Kinder Gottes dasselbe sind wie der Vater, können wir uns von ihm unterscheiden. Diese Unterscheidung vom Absoluten im Absoluten ist in Leben, Worten und Sterben Jesu Christi geschildert. „Das Leben, das sich selbst und nicht auch seine Negation will, hat in Wahrheit den Tod gewollt. Wer das Leben liebt, wird es verlieren.“ (SuB V, 90.) Ist dies nicht eine philosophische Reflexion des Logions Jesu? „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird‘s erhalten.“ (Lk 9, 24; vgl. 17,33; Joh 12, 25; Mt 10, 39.) Das Bewußtsein muß in der Nachfolge Christi, „der als dieser einzelne da die Wahrheit ist“, in seinen tiefsten Widerspruch gehen, um zu sich selbst aufzuerstehen. (SuB V, 105.) „Es erfährt als Bewußtsein die christliche Wahrheit, die wir als Menschen nicht wissen, sondern bis zu unserem Tod immer nur glauben können.“ (A. a.O., 109.) Wir können diese Wahrheit nicht wissen, d. h. nicht in formallogische Kategorien überführen; wir dürfen sie glauben, weil sie in unserem Weltumgang verwirklicht wird. Es ist die Wahrheit unserer selbst als Bewußt-Sein, das Sein und Nicht-Sein ist, der lebendige Fluß der Sprache, deren Äußerungen im Moment ihrer Geburt
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schon gestorben sind. Im Moment ihres Erklingens sind sie schon verklungen, als bestimmte Einzelne dem Werden des ewig fließenden Stroms der Sprache enthoben, damit zugleich identifizierbar geworden und gestorben, d. h. abstrahiert. Daß wir dennoch Sinnzusammenhänge erfassen – zum Beispiel einen Satz, der seine Aussage erst mit seinem Abschluß preisgibt, an dem all seine Elemente bereits entschwunden sind -, verweist darauf, daß die vergangenen Laute der Sprache in dieser zugleich aufbewahrt bleiben. Sie sind im hegelschen Sinne erinnert, internalisiert zu bewußtlosen Inhalten, die über die Stützen des Gedächtnisses reanimiert werden können. In der Sprache erfolgt die Anamnese der versunkenen Momente des Bewußtseins in seinem Zusichkommen. Den Unterschied als absoluten hat jede in Begriffen ersprochene Identität an sich. (Vgl. SuB I, 483.) Die Immanenz der eigenen Grenze treibt den Begriff über sich hinaus. Dieses Über-sich-Hinaustreiben ist das Moment der Unendlichkeit im Endlichen. (Vgl. SuB VI/1, 356.)⁵⁹¹ In jedem Begriff vollzieht sich die Dialektik von Sein und Nicht-Sein, von Gleich- und Unterschiedensein. Darum kann Hegel sagen – und Liebrucks tut es ihm gleich, daß das Bewußtsein für sich selbst sein Begriff ist.⁵⁹²
IV. Gezeugt, nicht geschaffen: Die Freiheit des Menschen in der Gegenwart Gottes In der sogenannten Moderne hat laut Liebrucks nach Abschaffung der Metaphysik die „Geschichtlichkeit“ deren Platz im aufgeklärten Denksystem eingenommen. (Vgl. Rede, 312.) Ursprünglich etablierte sich die geschichtliche Weltdeutung als Gegensatz zur Sage und wurde zunehmend geprägt von der kritischen Historie, welche den geschichtlichen Wirkungszusammenhang gegen die Substanzmetaphysik griechischer Tradition, aber auch gegen den Objektivitätsanspruch der Wissenschaft setzte.⁵⁹³ Geschichtlichkeit als die Fähigkeit des Bewußtseins, die
591 In Hegels Begriffslogik findet Liebrucks den logischen Ausdruck dafür, „daß wir in jedem Augenblick des Lebens sterben, daß dieser Tod aber erst von der gegenüber dem unmittelbaren Leben höheren Sphäre der Logik aus einsehbar ist. M e m e n t o m o r i heißt logisch nicht, daß wir gelegentlich daran denken sollen, daß wir eines schönen oder auch nicht schönen Tages sterben werden, sondern ist die Aufforderung, das ständige Übergehen des Lebens in den Tod in das Bewußt-Sein aufzunehmen. Es ist die Aufforderung, dieses Übergehen zu apperzipieren. Das können wir nur als nicht nur endliche Wesen.“ (SuB VI/2, 175.) 592 Vgl. Hegel, PhG, 63. 593 Das Verständnis von Geschichtlichkeit wurde zu der Zeit, in der Liebrucks seine Texte verfaßte, vornehmlich von der Existenzphilosophie geprägt. Karl Jaspers denkt in seiner Philosophie der Existenzerhellung die Geschichtlichkeit als Einheit der Vorhandenheit des Menschen und seiner Entwicklungsmöglichkeiten zu einem Seienden, das sich zu sich und seiner
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eigene Geschichte als Gegenstand zu erfahren, ist eine wesentliche Sichtweise des Weltumgangs. Im logischen Status des Wesens wird Geschichte zu erzählbaren Geschichten. (Vgl. Sprachaufstufung, 266.) Das Wesen einer Sache ist – wird es nach Hegel bestimmt⁵⁹⁴ – das aus der Unmittelbarkeit aufgehobene Sein. In der logischen Kategorie des Wesens wird der Selbstbezug eines Seienden formuliert. Das Wesen ist der Begriff eines Seienden, es markiert also den Übergang von der Unmittelbarkeit zur Vermittlung eines Seienden mit sich selbst. Dieser Begriff ist aber noch gesetzter Begriff: ein unveränderlicher Allgemeinbegriff, der in veränderlichem Sein aufscheint. Das Wesen ist nur ein Moment des dialektischen Prozesses. Es ist das Moment, das im Reflexionsdenken als äußerliche Notwendigkeit der Dinge diesen Zuordnungsschemata auferlegen läßt. Es ist noch nicht die Identität, die Hegel den Begriff des Begriffs nennt. Dieser erschließt sich erst als die logische Bewegung, die im bzw. als Bezug des Seins zum Wesen offenbar wird. Sie ist der logische Gang des Geistes, in dem sowohl Sein als auch Wesen aufgehoben sind. Das Wesen ist die einfache Negation des Seins; der Begriff ist die Negation der wesentlichen Negation, in welcher Sein und Wesen als Momente von Identität erscheinen. Die wesentlichen Formen sind geschichtlich. Das Bewußt-Sein erscheint wesenhaft in einzelnen Bewußtseinsstufen. Ihre Abgrenzung ist historisch zufällig: Sie entstehen und vergehen. Allerdings unmerklich langsam, so daß sie der Hauch des Unvergänglichen umweht. Hier ist keine relativistische oder nihilistische Leugnung der absoluten Wahrheit behauptet – denn diese gibt sich im Übergang einer Wesensform in eine andere als Logik dieses Übergehens zu erkennen. Die absolute Wahrheit ist dabei keine rein formale Größe. Sie ist inhaltlich bestimmt als Freiheit. In der Freiheit des Absoluten als alle ihre Unterscheidungen integrierende Selbstentsprechung liegt die Freiheit des Subjekts zu sich selbst
Transzendenz verhält. In der Geschichtlichkeit seiner Existenz erfahre der Mensch die Einheit von Zeit und Ewigkeit im Augenblick. (Vgl. zu diesem Begriff bei Liebrucks die Darstellung im vorangegangenen Kapitel über die Gestalt des Abraham.) Zu Jaspers nimmt Liebrucks meines Wissens nicht in erwähnenswerter Weise Stellung. Ebenfalls einen charakteristischen Begriff von Geschichtlichkeit formulierte Martin Heidegger im Rahmen seiner Existenzial-Ontologie. (Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 199317, §§ 72– 83.) Heidegger, in seiner Folge auch dessen Schüler Gadamer, behauptet radikale Geschichtlichkeit als umfassende Seinsweise der menschlichen Existenz und somit als epistemologisch maßgebliche Autorität. Heideggers ontologisch fundierte Geschichtstheorie spielt aber für die hier erfolgenden Ausführungen zu Liebrucks‘ Geschichtsverständnis keine Rolle, wenn dieser sich auch kritisch mit der Philosophie Heideggers befaßte. Diese Auseinandersetzung sei der Vollständigkeit halber angemerkt, sie näher darzulegen ginge an der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung vorbei. 594 Vgl. Hegel, Enzykl., § 111 f.
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begründet. Diese besteht in der „Erkenntnis der Geschichtlichkeit nicht irgendwelcher relativer Formen, sondern der wesentlichen […].“ (Sinnfrage, 300.) Das Bewußtsein muß keine vorbestimmte Entwicklungslaufbahn durchschreiten, um zu sich zu kommen. Die wesentliche Beschreibung, die unser Denken als das Denken eines endlichen Geistes nicht umgehen kann, mag diesen Eindruck allerdings erzeugen. Darum hängt die Freiheit des Menschen an der Erkenntnis der Zufälligkeit alles Wesentlichen. „[D]er als existierender Begriff gegenwärtige Mensch erkennt seine Geschichtlichkeit als das wesentliche Moment an ihm.“ (Rede, 312.) Der Blick auf seine Vergangenheit konfrontiert ihn mit Zuständen seiner selbst, die er nicht mehr ist. Den Begriff von sich selbst erlangt er erst, wenn er zu denken vermag, wie er sich in den wesentlichen Bestimmungen seiner selbst zu erkennen vermag, indem er über sie hinaus ist.⁵⁹⁵ Für Liebrucks ist dieser Blick, vor dem Identität und Nicht-Identität als Identität zusammengeschaut werden, der Sprach- oder Begriffsblick, d. i. der Blick, unter dem sich das Ich und sein Weltumgang in ihrer Sprachlichkeit zeigen. (Vgl. ebd.; vgl. a. a.O., 338.) Die Selbsterkenntnis des Bewußtseins erfolgt nicht in der Ansicht der wesentlichen Bestimmungen, die seine Vergangenheit bilden. Das Bewußtsein ist bei sich als BewußtSein in der Einsicht in die Sprachlichkeit der eigenen Geschichtlichkeit angekommen: Sein Logoscharakter begründet seine Identität als Gegenwart der Vergangenheit des Vergangenen. Der Mensch kann sich immer nur soweit beschreiben, wie er über sich hinweg ist. Allein die Logik der Sprache läßt es zu, daß der Mensch sich auf wesentliche Bestimmungen bezogen und diese zugleich als Momente seiner selbst weiß, und erweist sich somit als die uns in Erfahrung und Denken nicht mehr hintergehbare Einheit aller geschichtlichen Veränderungen. Diese Logik der Sprache sieht Liebrucks in der Botschaft von Tod und Auferstehung Jesu Christi als den Logos verkündet, in den all unsere Bestimmungen verschwinden und in eben diesem Verschwinden von ihm her ihre Identität empfangen. Unsere Identität ist unser logischer Weltumgang als sprachlicher. Unser eigenstes kommt gleichsam von außen auf uns zu.⁵⁹⁶ Der Logos kommt immer insofern von außen auf uns zu, als er die Aufhebung aller Widersprüche, das Unendliche im Endlichen ist. In Jesus Christus ist er vollkommen offenbar, aber er trägt auch andere Gesichter. „In unserem Jahrhundert kommt er uns als Faktenaußen- und Fakteninnenwelt unter Modellen entgegen. In der jüdisch-christlichen Tradition ist er uns im Bild des
595 „Der Schritt von der Positivität zu einem geschichtlichen Denken ist so zugleich die erste Betätigung dieses geschichtlichen Denkens.“ (SuB III, 152.) 596 „Die Seele des Menschen ist sich zu allen Zeiten von außen entgegengekommen.“ (SuB III, 319.)
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Vaters entgegengekommen. Er kann philosophisch als Geist, als das Eine, das schon als Eines das Andere alles Anderen ist, begriffen werden.“ (Sinnfrage, 300.) Liebrucks’ Auffassung, Geschichtlichkeit sei nur als Moment der Sprachlichkeit des Weltumgangs begriffen, führt die Kritik an der Kontrastierung der Geschichtlichkeit mit den mythischen Sagen mit sich. Die Entmythologisierungsbemühungen der historisch-kritischen Forschung haben die mythischen Erzählungen auf zeitübergreifende Wahrheitsmomente herunterbrechen wollen. „Die Bekämpfung des Narrativen steuert dabei in Richtung Wesen, nicht in Richtung Begriff.“ (Rede, 337.) Die Wahrheit des Mythos besteht darin, kein Tatsachenbericht, sondern lebendig gehaltene geschichtliche Erfahrung zu sein. So erzählt der Mythos vom Logos. Das Offenhalten der als Logos vollzogenen Genese der Wahrheit bewahrt vor einem Totalitarismus. „Sobald die Leidenschaft der Eindeutigkeit alle höheren Erscheinungen in sich aufsaugt, verliert die Sprache ihre geschichtliche Physiologie.“ (SuB II, 136.) Die Genese der Vielheit und das Offenhalten des Bewußtseins für diese Genese erfordert eine adäquate Sprachform. Die formallogisch operierenden Wissenschaften, zu denen auch die kritische Geschichtswissenschaft gehört, haben dafür keinen Begriff: Ihre Systeme erfordern Eindeutigkeit. Allein in der Reflexion auf ihre wesentliche Bedeutung wird Tradition freiheitseröffnend rezipiert. Die Geschichte des Menschen darf nicht zu einem widerspruchsfreien Allgemeinen harmonisiert werden. In einem adäquaten, den Menschen menschlich bleiben, sein und werden lassenden Geschichtsverständnis, muß das Andere wesentlicher Bestimmungen immer Platz haben. „In der Geschichte unterliegen wir der Notwendigkeit, sofern wir sie nicht bewußt machen. In der Bewußtmachung der Notwendigkeit liegt der erste kleine Schritt in die Freiheit.“ (SuB I, 18.) Die Freiheit des Menschen will entfaltet werden – sie ist keine feststehende Größe, die sich der Mensch zu erwerben suchen muß oder die sich im Lauf der Geschichte selbst zur Entfaltung bringt. Freiheit ist der Fortschritt des Bewußtseins zur Freiheit. (Vgl. Sinnfrage, 300.) Folglich ist Geschichte als „Geschichte des Bewußtseins der Vorgang, in dem Freiheit wächst.“ (SuB II, 244 f.; vgl. SuB III, 508.) Freiheit wächst in der Selbstaufgabe des Ichs als Hingabe an das Allgemeine der Sprache, welches das eigene Bewußtsein ist. „Nur indem ich mich im Hinhören auslösche, stehe ich als freier Mensch auf.“ (SuB I, 21.) Die Andeutung des Auferstehungsmotivs verweist auf Jesus Christus, in dessen Gestalt der absolute Begriff in seinem Selbstbezug durch das menschliche Subjekt anschaulich wird. Im D e u s h o m o wird die Voraussetzung allen logischen Weltumgangs gestalthaft repräsentiert: Die Logik des subjektiven Geistes ist die Logik des absoluten Geistes. Damit ist der erkenntnistheoretische Rang der neutestamentlichen Verkündigung für Liebrucks beschlossen: „Denn Christus war [..] auf die Welt gekommen, [..] um uns das Nötigste zu schenken, das Bewußtsein von der Freiheit unserer selbst als Individuen.“ (SuB
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VII, 790.)⁵⁹⁷ Das Selbstdenken des absoluten Begriffs im menschlichen Geist macht diesen selbst zum Begriff. Er ist die Entäußerung, das endliche Moment des Geistes, existierender Begriff. Die Teilhabe an der Logik des Absoluten, welche die Logik einer sich in ihren Unterschieden bewährenden Identität ist, ermöglicht dem Subjekt, sein eigener Begriff zu sein. Als Marionette des Absoluten ist das Subjekt frei. Die „Menschheit“ ist die Gemeinschaft menschlicher Individuen, nicht ein Sammelbegriff für Artgenossen. Jeder einzelne bewahrt seine Unverwechselbarkeit, seine eigene Sprache und Geschichte in der Logik des absoluten Logos. „Nur wen der Gott beschlief (Stefan George), ist keine espèce. Diese Mnemosyne wird ihn logisch nicht loslassen, weder seinen Leib noch sein Bewußtsein.“ (SuB VI/3, 74.) Erneut findet sich hier das ursprünglich auf Hamann zurückgehende Motiv der Geschlechtlichkeit der Sprache.⁵⁹⁸ Die Begegnung Gottes und des Menschen im Wort ist der leiblich-geistige Weltumgang des Menschen in der Sprache. Diese ist laut Humboldt das Organ des Geistes, als solches aber ist sie geschlechtlich. Sprache will erzeugt werden, nicht hergestellt. Als ihr Erzeuger kann der Mensch nicht allein Individuum sein, ohne zugleich Gemeinschaftswesen zu sein e t v i c e v e r s a . Zum Erzeugen braucht er einen Partner. Sprache gebiert sich in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung. Alles in ihr ist von jemandem zu jemandem gesprochen,von Subjekt zu Subjekt. Alles ist in ihr unwiederholbar, sie ist kontinuierlich kreativ und in diesem Sinne geschlechtlich. In jedem anderen Subjekt spricht der Mensch zugleich Gott als die sich in die Subjekte ausdifferenzierende Spracheinheit an und aus. In seinem Weltumgang als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung des Logos ist der subjektive Geist Moment des absoluten Geistes; in ihm ist er an andere Subjekte verwiesen. Verkommt die Geschlechtlichkeit zur Positivität, werden aus Menschen Artgenossen. Die Freiheit des Individuums wird dann unterdrückt. Hegel konstatiert, daß jede Lehre zur Positivität verkommen könne – auch eine Religion zur p r o p a g a n d a f i d e i . Die Positivierung ist dabei ein formales Problem. Ein positiver Glaube ist „ein solches System von religiösen Sätzen, das für uns deswegen Wahrheit haben soll, weil es uns geboten ist, von einer Autorität, der unseren
597 „Der Mensch ist nur dort in einer freien Welt, wo ihm in allem, was er erfährt, das Antlitz des fremden und zugleich verwandten Menschen, des göttlich-menschlichen Menschen entgegenleuchtet.“ (SuB III, 509.) Der göttlich-menschliche Mensch ist Jesus Christus als Deushomo. In ihm erscheint der Mensch als Moment des Absoluten. Göttlich-menschlich ist synonym für das Existieren (menschlich) des Begriffs (göttlich). 598 Vgl. zu diesem Motiv das Kapitel Adam – Der Aufbruch der Bewußtseins zu sich selbst.
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Glauben zu unterwerfen wir uns nicht weigern können.“⁵⁹⁹ Geschlechtliche Empfängnis ist freie Empfängnis: Wir erzeugen in uns eine individuelle Entsprechung zu einem verkündeten Inhalt. Eine autoritäre Bekenntnisvorgabe bleibt dagegen auf dem Niveau formaler Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft; in ihr ist der Mensch nur e s p é c e . Die Autorität eines positiven Entwurfes fußt auf der Autorität des sie erklärenden Lehrers, von der erwartet wird, die Diskrepanz von sittlichem Anspruch und tatsächlichem Zustand der Gesellschaft zu überbrücken. Die autoritäre Entschärfung dieser erfahrenen Diskrepanz steht einer Überzeugung von Vereinbarkeit des Seins und des Sollens diametral gegenüber.Wovon man überzeugt sein kann, ist vernünftig einsehbar. Autoritär kann Beliebiges befohlen werden. Als Befehl ist ein Sollen, ein erreichbares und zu erreichendes Gut in die Ferne gerückt.⁶⁰⁰ Liebrucks’ Geschichtsverständnis ist der Gegenentwurf zu einem teleologischen Geschichtsbild, worunter ein linearer, zweckgerichteter Geschichtsverlauf zu verstehen sei. Teleologie umschreibt ein Sollen. Unter der Perspektive der Zweckmäßigkeit erscheinen die Dinge in ihrem zweckgerechten Bezug auf ein Ganzes, innerhalb dessen sie stehen. Diese Einsicht ist ein unmittelbarer Blick auf die Dinge. Ihr Konnex wird von außen auf sie gelegt, anstatt ihre Verbundenheit im Absoluten zu erkennen: „Das ist etwa der Status, in dem man davon spricht, Gott habe als außerweltlicher, d. h. außerpositiver Verstand den Menschen Nasen gemacht, damit sie sich Brillen aufsetzen können. Solche Einwände sind allenfalls witzig, wo sie sich kritisch geben. Logisch sind sie nicht.“ (SuB VI/3, 404.) Ein teleologischer Umgang mit der Welt ist der Wissenschaft eigen. Dabei muß Wissenschaft die Welt als ateleologisch, als zufällig ansehen und damit voraussetzen, daß Welt behandelbar ist. „Jede Wissenschaft steht unter der Bedingung technisch praktisch, d. h. teleologisch verfahren zu müssen. […] Das wissenschaftliche Verfahren ist immer das teleologische Verfahren, das die Welt als ateleologisch ansieht.“ (Sinnfrage, 281.) Die zweckmäßige Einrichtung der Welt liegt nicht objektiv vor, sondern ist Anschauungsform des Subjekts. Menschliche Tätigkeit muß ein (letztes) Ziel haben. Einseitig teleologisches Denken setzt erst ein, wenn ein solches Ziel bzw. das Tätigsein des Menschen als Selbstzweck verstanden wird. Das letztgültige Ziel, dem der Mensch sich unterstellen soll, kann und darf laut Liebrucks nur im Menschen selbst liegen. (Vgl. SuB II, 23 f.) Ein solches Ziel kann nicht ein je individualistisches sein, sondern nur eines, das den Menschen als Menschen betrifft und ihm darin gerecht wird: einzig ein allgemeines Ziel kann alle Individuen involvieren. Allgemeinheit gibt Raum für Individualität. Dieses Allgemeine als das letzte Ziel der Menschheit ist also nicht ein abstrakter Begriff. Es ist der sich in die Existenz entfaltende Begriff, ein Begriff, der in seinem Werden immer schon ist. Auch im Übergang vom Sein zum Wesen liegt keine teleologische Absicht verborgen. „Es ist die ganz schlichte Beschreibung eines Phänomens, nämlich des dauernden
599 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Die Positivität der christlichen Religion, in: Nohl, Herman (Hg.), Hegels theologische Jugendschriften. Nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin, Tübingen 1907, 139 – 239, 234. 600 Vgl. a. a.O., 117.
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Übergehens und darin Vergehens des vergänglichen Artikulationsgebildes in das bleibende Sein des Sinnes seiner idealen Bedeutung.“ (Sprache und Metaphysik, 24.) Der Begriff ist keine teleologische Größe, er kann nicht erfüllt werden. Gleichwohl wird er erst am Ende der Geschichte erkannt, nicht aber erst dann erreicht. Der Begriff ist nicht erst zu bilden, er ist zu begreifen. Darum ist die Geschichte des Begriffs die Geschichte des Bewußtseins. In ihm ist das Wesen immer präsent, zugleich ist er dessen Grenze. Er ist die Oberfläche der Realität, an der die Wirklichkeit erscheint. Er ist Entsprechung: Selbstauslegung des Absoluten im individuellen Subjekt. (Vgl. SuB VI/1, 16.) Bei Liebrucks wird „teleologisch“ augenscheinlich gleichgesetzt mit „eschatologisch“. Eschatologie ist für ihn das Herausdrängen des menschlichen τɛλος in ein Jenseits, das als Zielpunkt der von Hegel so benannten „schlechten Unendlichkeit“ erscheint: eine sich perpetuierende Verneinung endlicher Zustände. Eschatologische Vorstellungen unterlaufen die Botschaft Jesu Christi von der Gegenwärtigkeit des Unendlichen im Endlichen. „Die christlich gedachte Geschichtlichkeit des Menschen ist nicht die lineare Vorstellung des Zugehens der Geschichte auf ein Eschaton, wie uns die Märchenerzähler von der Geschichte immer wieder aufs Neue versichern. Die christlich gedachte und in die Philosophie eingeholte Geschichtlichkeit des Menschen besteht in der Tragödie, die das Absolute in allen Weltbegegnungsweisen des Menschen, handele es sich um Kunst, um Erkenntnis oder um Sittlichkeit, mit sich selbst spielt.“ (SuB V, 209.) Diese Tragödie ist das unablässige Vergehen und Auferstehen aller Seinsmomente in das Wesen und in den Begriff, in dem sowohl Sein als auch Wesen aufgehoben sind. Diese Einsicht, die im Neuen Testament in mythischen Bildern umschrieben ist, wurde schon von den ersten Gemeinden um ihre Pointe betrogen. „Da die Gemeinde diese letzte Stufe des Bewußtseins immer noch nur in der Vorstellung, also vor sich hat, hat sie diese als in der Zukunft zu erwartende. […] Das Vorsichhaben der Vorstellung ist eschatologisch, zeitliches Vorsichhaben, geworden.“ (A. a.O., 288.) Liebrucks konstatiert eine „Gestaltflucht“ des jungen Christentums. Dieses zeige die Tendenz, Christi Menschlichkeit zugunsten seiner Göttlichkeit in den Hintergrund zu stellen und trenne damit Jesu Existenz von der eigenen. (Vgl. SuB III, 509.) Die Urgemeinde begreife die Gestalt Jesu nicht. Die Furcht vor der Gestalt sei Furcht vor der Beschränkung des Weltlichen, von dem sich die Gemeinde deshalb als Sekte absondere. Ein Bekenntnis zur Gestalt wäre auch ein Bekenntnis zu deren Endlichkeit, welche die Möglichkeit weiterer Gestalten einräume, in denen das Absolute sich zeige. Die Gegenwart des Absoluten im Besonderen erscheine unerträglich, darum werde es aus der Welt hinausgeschoben in einen der Erde fernen „Himmel“. Eine gestaltlose Religion gehöre der „schlechten Unendlichkeit“ an, die das Endliche einfach negiere und sich damit der Gefahr eines Fanatismus aussetze. „Die erste christliche Gemeinde hat kein Verhältnis zur Welt, sondern nur eins gegen sie.“ (SuB II, 17.) Die sich in seiner Gestaltflucht äußernde Weltflucht macht aus der Unterscheidung von Sein und Sollen einen Dualismus, in dem das Sollen zur autoritativ behaupteten, allgemeinen Anordnung erstarrt. Christi Verkündigung wird in ihr Gegenteil verkehrt, der Mensch sei „nur dort in einer freien Welt, wo ihm in allem, was er erfährt, das Antlitz des Fremden und zugleich verwandten Menschen, des göttlich-menschlichen Menschen entgegenleuchtet.“ (SuB III, 509.) Die Urgemeinde blieb hinter der Erkenntnis dessen zurück, den sie verkündete. Die Gegenwart des Absoluten im Subjekt, die in der Botschaft vom Deushomo Ausdruck gewann, ist über den Dualismus von Immanenz und Transzendenz hinaus, der sich mit den formallogischen Bemühungen der antiken Philosophie, die Mythen „der Alten“ zu überwinden, in das hellenistisch geprägte Denken einschlich, das auch die Evangelienschreibung maßgeblich bestimmt. Die Ahnen erzählten noch von der Begegnung mit dem Unendlichen unter den
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Strukturen der Endlichkeit. Insofern stehen die alten Mythen Jesus Christus näher als der falsche Respekt vor dem Göttlichen, der dieses aus der Welt hinauskomplimentiert. Inhaltlich bereiten sie die Erkenntnis der Botschaft des Christus vor, in den hinein sie insofern verschwanden. Die erste Gemeinde verstand davon nicht viel. Sie erwählte sich Christus zur Lehrautorität, was dem Bewußtseinsniveau der ersten Reflexion entspricht, auf der sie sich laut Liebrucks befindet. „Die religiöse Gemeinde war das Bewußtsein und das Leben des Geistes in seiner rohesten und unmittelbarsten Form. […] In dieser Form hofft der Geist auf die Aufhebung der Welt als einer gegenüberstehenden und nimmt das Wort vom Himmelreich, das in uns ist, im barbarischen Sinne des bevorstehenden Weltuntergangs. Es ist dieses die harte Substantialität, mit der die ersten Christen vielleicht den Widerstand gegen eine Welt durchhalten konnten. Aber diese Hoffnung muß aufgehoben werden. Alle Eschatologie ist die Barbarei, den Geist noch als Substanz anzusehen.“ (SuB V, 290.) Diese substanzhafte Vorstellung läßt den Anbruch des Gottesreiches als eine Ablösung der jetzigen Welt ersehnen. „Vielleicht mußte der Mensch Jesus an das unmittelbare Bevorstehen des Gottesreiches in seiner Zeit geglaubt haben – obwohl so vieles dagegen spricht -, um die Wahrheit des Christus auszusprechen.“ (SuB I, 15.) Erst die Parusieverzögerung lenkt das Verständnis von Geschichte in neue Bahnen. Der Anbruch des Gottesreiches verlagert sich von der Vorstellung einer gleichsam von außen in den irdischen Geschichtslauf hereinbrechenden Übergeschichte zum Bewußtsein, daß alles Tun und alle Gedanken des Menschen nur die seinen sind, insofern sie zugleich Gottes sind. So hat die Gemeinde die von ihrem Herrn gepredigte Erlösung indes noch nicht begriffen, sie verharrt im nicht-dialektischen Denken des unglücklichen Bewußtseins. Dieses „verehrt Gott immer nur als Substanz“ und wartet auf die Erfüllung eines Heils, das ihm Jesus Christus als gegenwärtig offenbarte. (SuB V, 365; vgl. a. a.O., 104.) Um die Freiheit des Menschen erkennen und Wirklichkeit sein lassen zu können, „ist ein Gottesbegriff notwendig, der Gott als den dialektischen Logos begreift, den wir nur gewinnen werden, wenn wir uns im vollen Vertrauen auf Christus in den sogenannten Atheismus fallen lassen, der zur Gewinnung der nächsten Stufe des Gottesbegriffes die notwendige Voraussetzung ist.“ (SuB III, 285.) Der Weg zur nächsten Stufe des Gottesbegriffs „schließt den Atheismus in bezug auf die substantielle Vorstellung von einem göttlichen Wesen ein, wie er das Denken Gottes als Leben und Logos vorbereiten hilft.“ (A. a.O., 284.) Das junge Christentum hält der substantiellen Gottesvorstellung die Treue und verpaßt den Absprung in die Erkenntnis der Gegenwart Gottes als Dialektik des Logos, welche die Dialektik des eigenen Bewußt-Seins ist. Die erkenntnistheoretische Nachfolge Christi nicht antretend, bleibt es unfrei zu sich selbst und darin – wie Hegel es nennt – unglückliches Bewußtsein. Eine tiefe Zerrissenheit dieses unglücklichen Bewußtseins legt sich in dessen strikter Differenzierung zwischen Heiligem und Profanem dar. Das Unglück des Bewußtseins ist sein Wissen um den Widerspruch von Wandelbarkeit und Unwandelbarkeit. Es entdeckt beide Aspekte an sich selbst, bringt sie aber noch nicht im Denken einer Identität zusammen. Es weiß um sich als Identität, erkennt sich aber zugleich an den Wandel der Dinge hingegeben. Sein Unglück besteht darin, sich nicht in seinem Dahingegeben-Sein an den geschichtlichen Wandel als die Negation der Negation begreifen zu können, als die sich seine Identität konstituiert. Es erfährt „das Unwandelbare als den Unwandelbaren“. (SuB V, 104.) Weil es dieses Unwandelbare bzw. diesen Unwandelbaren als den „ganz Anderen“ erfährt, bleibt es hinter sich zurück. Es begreift sein eigenes Tun nicht zugleich als das des göttlichen Logos. Seine Gestaltflucht läßt diese Bewußtseinsstufe nicht die Hingabe der Gestalt, in der Gott sich den Menschen mitteilt, an diese erkennen. Die Austeilung des Leibes im Abendmahl wird
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nicht als die Transsubstantiation der Substanz in das Subjekt begriffen, die sich als menschlicher Weltumgang in jedem Gedanken und Wort der Sprache vollzieht. (Vgl. a. a.O., 106.) Das unglückliche Bewußtsein setzt sich den absoluten Geist gegenüber und stagniert in der ersten Unmittelbarkeit der Weltbegegnung. Seine Distanzierung von Gott ist somit Isolation von der Welt. (Vgl. a. a.O., 113.) Darin besteht sein Sektencharakter. Es erwartet ein Kommen des Unendlichen an einem Ende der Geschichte, anstatt seine Geschichte als die „Voll-Endung“ des Unendlichen im Endlichen zu begreifen. (Vgl. SuB VII, 29.) Das Unendliche jedoch nimmt Platz in endlichen Formen und treibt sich in seiner Fülle immer wieder über seine Verendlichungen hinaus. Dieses unablässige Werden und Vergehen und Werden des Unendlichen im Endlichen ist beider Geschichte.
Angesichts der Parusieverzögerung mußte die Botschaft Jesu Christi in tradierbare Form gebracht werden. So wurden lebendige Gedanken zu Dogmatismen eingefroren. Das erhebt die Frage nach dem Korrektiv von Glaubenssätzen, die auf solcher dogmatischen Basis aufbauen: Autorität, Bewährung in Tradition, Zulauf? Ist etwas deswegen wahr, weil die meisten es als wahr auffassen? Der Gottesbeweis e x c o n s e s u s g e n t i u m hat laut Hegel stets Beachtung gefunden. „Der einzelne wird von seinem positiven Glauben desto fester überzeugt, je mehrere Personen er davon überzeugen kann oder überzeugt sieht; […] bei jeden positiven Glaubensmeinungen strebt der Gläubige, sein eigenes Gefühl, daß noch Zweifel dagegen möglich sind, sowie die Erfahrungen an anderen, in denen diese Zweifel bis zu Gründen der Verwerfung jenes positiven Glaubens sich verstärkt haben, dadurch zu entfernen, daß er so viele als möglich zu der Fahne seines Glaubens zu versammeln sucht, es kommt den Sektengläubigen immer eine Art von Befremdung an, wenn er von Menschen hört, die nicht seines Glaubens sind, – und dies Gefühl von Unbehaglichkeit, das sie ihm verursachen, verwandelt sich sehr leicht in Abneigung, in Haß gegen sie; es ist ein Zug der Vernunft, die sich unvermögend fühlt, den positiven, auf Geschichte gegründeten Lehren den Charakter der Notwendigkeit zu geben, ihnen wenigstens den anderen Charakter der Vernunftwahrheiten, den der Allgemeinheit, so gut es sich tut, aufzudrücken oder bei ihnen zu finden.“⁶⁰¹ Diese Ausführungen Hegels bilden meines Erachtens den Verständnishintergrund für einen enigmatisch geratenen Abschnitt, den Liebrucks verfaßt: „Ein Mensch ist gezeugt von seinem Vater und von seiner Mutter ausgetragen. Der Wissenschaftler ist überzeugt von der Wissenschaft als einer Art und Weise seines Weltumgangs. Christus war überzeugt von Gott. Der Christ müßte überzeugt sein vom Logos Christus.“ (SuB VI/3, 74.) Es schließt sich der oben zitierte Satz an: „Nur wen der Gott beschlief (Stefan George), ist keine espèce. Diese Mnemosyne wird ihn logisch nicht loslassen, weder seinen Leib noch sein Bewußtsein.“ Christus lehrte den Menschen nicht wie ein Lehrer. Mensch und Gott
601 Hegel, Die Positivität der christlichen Religion, 132.
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sind nicht versöhnt, weil Jesus Christus das sagt. In ihm erscheint die Wirklichkeit des Göttlichen in allem Menschlichen als das sinnlich-sinnhafte Erzeugen des Logos im subjektiven Geist. Der Logos wird nicht verkündet, wo eine Botschaft von ihm nachgesprochen wird, sondern wo er in jedem der Worte der Individuen ausgesprochen wird. „Das Wirkliche in seiner Individualität und Geschichtlichkeit ist immer nur in Umschreibungen zu haben.“ (SuB II, 156.) Diese Umschreibungen sind die Individualsprachen der einzelnen Subjekte. Ein angemessenes Sprechen vom Wirklichen verbietet jede autoritäre Rede, die das Wirkliche zum Gegenstand einer Anordnung macht. Die nicht-autoritäre Rede von der Wahrheit läßt Jesus Christus allerdings das Schicksal des in die Höhle Hinabsteigenden im platonischen Gleichnis teilen: Er muß um sein Leben fürchten. „Wie die Gesellschaft sich wirklich bestimmt, wenn einer von ihr es verschmäht, das, was er sagt, nicht als Märchen, sondern als Wirklichkeit mitzuteilen, zeigt die Geschichte von der Anordnung des Königs Herodes, alle Neugeborenen in seinem Land umbringen zu lassen, nachdem er eine solche Möglichkeit nur als einen Schimmer am Horizont wahrgenommen hatte. Diese Neugeborenen hatten ja noch gar kein Wort gesagt, aber es bestand die Gefahr, daß eines von ihnen dem caesarischen Weltumgang gefährlich sein könnte. Das genügte. Die Philosophie steht seitdem immer in Gefahr. Sie wird sofort im Meer der Lächerlichkeit ertränkt, wenn sie es wagt, von einer affirmativen Unendlichkeit zu reden, die dann doch in der Meinung der Anhänger des Herodes wenigstens Etwas sein müßte.“ (SuB VI/1, 383.) Der Begriff des Begriffs ist nicht gegenständlich zu erfassen. Der Begriff des Begriffs ist solcher, indem er unablässig im denkenden Subjekt erzeugt wird. Dieser Begriff „ist antik-christlich, die Wahrheit, daß Jesus Christus dieser Jesus da ist und doch zugleich der Christus als der Sohn Gottes und des Menschen. Die Überzeugung von ihm als der Einheit beider ist die Überzeugung des menschlichen Bewußtseins durch den Begriff. Es ist das Wissen davon, daß wir nicht Bewußtsein haben, sondern Bewußt-Sein sind.“ (SuB VI/3, 178; vgl. SuB III, 560.) Der Logos ist unser vernünftiger Weltumgang, darum wird nur dort adäquat von ihm gesprochen, wo er nicht als die Aufhebung aller Widersprüche proklamiert wird, sondern wo er als solcher gedacht wird. Dieses Denken kann keinem Individuum abgenommen werden. Indem das Individuum die Logik seines Weltumgangs bedenkt, denkt sich das Absolute selbst. Die Selbsterkenntnis des Absoluten ist mit der denkenden Selbständigkeit des Individuums verbunden. Liebrucks betont, wiederum mit einem Bezug auf George: „Christus hat uns zur Freiheit gerufen. Er ist kein ‚Baum des Heiles‘ (George), an dem wir hängen dürfen. Wir sollen auch ihm gegenüber des antiken Maßes der Freiheit der Bürger eingedenk sein, da nur der ihm nachfolgt, der es selbständig zu tun vermag. Er hat uns auf unsere Selbständigkeit aufmerksam gemacht. Wir haben unseren Selbststand nicht in einer Anwendung von ihm, wir haben sie auch nicht,wenn wir
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8. Bleiben ist nirgends: Jesus Christus
in dichterischer, religiöser oder philosophischer Innigkeit an ihm hängen.“ (SuB VII, 786.) Wie der Mensch als zur Freiheit Gerufener die Nachfolge Christi antreten soll, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
D. Zur Freiheit gerufen – Nachfolge Christi Der Ruf in die Nachfolge Christi ist der Ruf zur Freiheit. Dieser Ruf ist immer schon an den Menschen ergangen, sofern er seine Wirklichkeit aus der Wirklichkeit Gottes empfängt. Ist der Mensch nur als Marionette Gottes frei, so bringt er die Freiheit des Absoluten zur Geltung, indem er seine eigene Freiheit zur Geltung bringt. Im Umkehrschluß ist seine Freiheit in sittlich angemessener Weise verwirklicht, indem sie sich in ihrem Vollzug als aus der Freiheit Gottes empfangen darstellt. Was darunter zu verstehen sei, soll im folgenden anhand von drei prägnanten Textstellen des Neuen Testamentes erläutert werden: Zunächst erfolgt eine als Auseinandersetzung mit Kants Verständnis menschlicher Mündigkeit gestaltete Darlegung der dritten Bitte des Vaterunsers; im Anschluß daran wird Jesu Ermahnung, wer das Himmelreich erkennen wolle, müsse werden wie die Kinder, Gegenstand der Erörterung sein; schließlich wird Liebrucks’ Auffassung der jesuanischen Aufforderung, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers sei, Gott aber, was Gottes sei, den Übergang zu einem Kapitel über das von Liebrucks formulierte Verständnis von Sittlichkeit bilden.
I. Dein Wille geschehe! Liebrucks’ Konzeption des Marionettenthemas gestaltet sich als Kritik an Kants Verständnis selbstverschuldeter Unmündigkeit. Insbesondere seit Kant sieht sich Philosophie mit dem Problem konfrontiert, wie angesichts der Widersprüchlichkeit der Welterfahrung allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten zu rechtfertigen sind. Kant kann entstehende Antinomien nur lösen, indem er zwischen „Dingen an sich“ und deren Erscheinungen differenziert. Erkenntnis ist für ihn als widerspruchsfreie definiert, und so erklärt er um den Preis der Erkennbarkeit der Wirklichkeit die Beschränkung menschlicher Erkenntnisfähigkeit auf den durch einheitsgebietende apriorische Kategorien zu stringenter Linearität gezähmten Bereich menschlicher Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit. Die Idee „Gott“ ist bei Kant wie alle Gegenstände von Ideen ein der Erkennbarkeit entzogenes Postu-
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lat.⁶⁰² Das symbolisch-anthropomorphisierende Reden von diesem „Gott“ gilt als Notbehelf, um über das eigentlich Unerkennbare zu sprechen, das nicht zur Welt der Erscheinungen gehört, ihr vielmehr fremd ist. Gott als Positivum bleibt Objekt, dem lateinischen Ausdruck gemäß dem Menschen also entgegengesetzt. Solch ein „Gott“ ist unbekannt, so daß immerhin weder ein Beweis für noch gegen ihn erbracht werden könnte; zumindest „existiert“ er nicht, da er nicht unter sinnlicher Wahrnehmbarkeit erscheint. Er kann nicht offenbare Erklärung der Widersprüchlichkeiten der erfahrenen Welt sein. „Gott“ fungiert als von der praktischsittlichen Vernunft postuliertes regulatives Abschlußprinzip ethischer Weltbewältigung, als Garant des Zusammenstimmens von widerfahrener Naturgewalt und freiheitlicher Selbstbestimmung, von Natur- und Sittengesetz. Auch wenn diese Einheit nicht denkbar, nur postulierbar ist, regiert sie menschliches Handeln als oberstes Prinzip und Ideal einer notwendigen Ursache aller lebendigen Entwicklungen in der Welt, seien sie vom Menschen gemacht oder erlitten. Auch bei Kant kulminiert im Gottesverständnis die Diskussion um die (verantwortete) Freiheit des Menschen. Getreu seinen Prämissen kann der Mensch nicht frei sein, weil er die dialektische Einheit von Wirklichkeit und realer Erscheinung der Dinge nicht denken kann, Freiheit aber im Denken-Können dieser Dialektik liegt. Dieses Zusammendenken behält Kant einem göttlichen Verstand vor: Im Postulat eines solchen Verstandes versagt sich der Mensch seine eigene Freiheit, was Liebrucks sarkastisch als falsche Bescheidenheit bezeichnet. Ist der Wille Gottes nicht erkennbar, ist eine Unterordnung unter ihn totale Heteronomie. Wer sich zur Marionette des Unbekannten macht, kann keine Freiheit erlangen, sofern Freiheit in Erkenntnis liegt. Wenn Kant also, ohne seine Konzeption der Trennung von Idealität und Realität aufzugeben, des Menschen Freiheit retten will, dann um den Preis, Gott nunmehr als Postulat der praktischen Vernunft annehmen zu können – für Liebrucks der Hauptirrtum Kants. Freiheit des Menschen besteht dann in der Selbstbehauptung eines Willens, der nicht aus dem göttlichen ableitbar ist.Wer wie Kant „Gott“ als Positivum denkt, muß Freiheit des Menschen als Autonomie vorstellen, deren Ermöglichungsgrund er allerdings nicht denken kann bzw. geflissentlich zu denken umgeht. „Marionette Gottes zu
602 „Um ein reines Erkenntnis praktisch zu erweitern, muß eine Absicht a priori gegeben sein, d.i. ein Zweck, als Objekt (des Willens), welches, unabhängig von allen theologischen Grundsätzen, durch einen den Willen unmittelbar bestimmenden (kategorischen) Imperativ, als praktisch-notwendig vorgestellt wird, und das ist hier das höchste Gut. Dieses ist aber nicht möglich, ohne drei theoretische Begriffe (für die sich, weil sie bloße reine Vernunftbegriffe sind, keine korrespondierende Anschauung, mithin, auf dem theoretischen Wege, keine objektive Realität finden läßt) vorauszusetzen: nämlich Freiheit, Unsterblichkeit, und Gott.“ (Kant, KdpV, 243.) Vgl. a.a.O., 266 f.; 276 f.; 436 f.
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sein“ kann für ihn nur eine synonyme Formulierung für „Unterjochung unter Heteronomie“ sein. Dagegen ist Liebrucks davon überzeugt, „[…] daß der Mensch nur als Kind Gottes seinen Verstand ohne andere Hilfe gebrauchen kann.“ (SuB III, 206.) Er nimmt die Formulierung der Aufklärungsdefinition aus Kants berühmtem Aufsatz von 1784 – Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? – auf. Liebrucks bestreitet nicht, daß sich der Mensch nicht durch „andere Hilfe“ resp. von einem fremden Willen leiten lassen solle; seine Überlegungen stehen eher unter der Frage: „Ist Gott ein Fremder?“ (SuB III, 360.) Die Dialektik zwischen Heteronomie und Autonomie, wie sie in der SubjektSubjekt-Objekt-Beziehung der Sprache unablässig wirksam ist, erlaubt Kants Philosophie nicht. Liebrucks kann dagegen behaupten: „Die Unmündigkeit vor Gott ist nicht Heteronomie, sondern die einzige Autonomie, deren der Mensch sich erfreuen kann.“ (A. a.O., 560.) Dessen Unmündigkeit ist die ihm in Denken und Erfahrung unhintergehbare Faktizität des eigenen Weltumgangs als wechselseitiges Erzeugen von Sein und Begriff, das die Tätigkeit seiner Vernunft als Sprache ist. In ihrer Selbsttätigkeit bezeugt die Vernunft, empfangen zu sein: Wo immer sie nach sich fragt, hat sie sich schon als Vernunft erprobt. In der Thematisierung ihrer Selbstentzogenheit zugleich ihr Proprium aussprechen zu können, erweist aber ihre Mündigkeit. Daher werden wir „nur unter der Bedingung in dieser Welt mündig werden, daß wir unsere bleibende Unmündigkeit vor Gott erkennen.“ (SuB III, 280.) Das Subjekt empfängt die logische Struktur seines Weltumgangs aus der logischen Struktur des Absoluten, sie verhalten sich zueinander wie eine „Marionette“ und ihr „Drahtzieher“. Das Subjekt empfängt seine Identität aus der Logik der absoluten Identität. Das Absolute bringt sich über den Menschen zur Geltung, indem es diesen zur Geltung bring. Darum bewege ich mich als Subjekt logisch so, „daß die Bestimmung meines Willens durch den Willen Gottes nicht die Bestimmung durch einen mir nur fremden Willen ist. Es ist die Bestimmung durch einen Willen, der für mich dasjenige will, was für mich in der Wirklichkeit das Beste ist. Damit fällt in dieser Dimension, in der Gott nicht mehr als nur fremder Gegenstand vorgestellt wird, die Alternative von Heteronomie und Autonomie in sich zusammen.“ (A. a.O., 360.) Als Marionette des christlichen Gottes benutzt man den Verstand „ohne fremde Leitung“, weil Gott uns nicht fremd ist: Sein Geist ist unser Geist. Es ist der Geist, der stets doppelt verneint: der sich in sein Gegenteil begibt, um sich in diesem auf sich selbst zu beziehen. Es ist der Geist der Wahrheit als Selbstübereinstimmung, die ihren logischen Rang im Aushalten ihres Selbstwiderspruchs erweist. Beim Anderen seiner selbst ist der Geist Gottes bei sich. Darum kann er das Andere ein solches sein lassen. Als dieser Geist kann sich Gott vom Menschen überraschen lassen, denn nichts was der Mensch zu denken, sagen oder tun vermöchte, stünde jemals außerhalb dieses Geistes der Wahrheit, der Wahrheit Gottes als Identität aller Identität und Nicht-Identität. Gott als ab-
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soluter Geist, der seinen Selbstwiderspruch zu seinem Moment hat, kann auch dem Menschen zugestehen, eine sich über ihren Widerspruch konstituierende Identität zu sein. Die Wahrheit des Menschen ist somit als Wahrheit Gottes eine Wahrheit, die nicht von außen auf ihn angelegt wird wie ein Ideal oder ein Prinzip, sondern von ihm in individueller Selbsterschließung zur Geltung gebracht sein will.⁶⁰³ „Frei bin ich erst als Marionette des christlichen Gottes, weil es sich hier um eine nicht objektive Leitung handelt, wie z. B. bei dem obersten unbewegten Beweger unseres Denkens, dem hos erōmenon Angegangenen des Aristoteles. Erst als Marionette des christlichen Gottes kann ich mich meines Verstandes ohne fremde Leitung bedienen, da dieser Gott in Christus dem Menschen dient und der Gott des Friedens ist.“ (Rede, 331 f.; Sinnfrage, 305.) Darum lehrt Christus die Menschen so beten, daß sie ihr eigenes Wohlergehen als die Erfüllung des Willens Gottes erbitten. „Dein Wille geschehe!“ In dieser Bitte des Vaterunser konzentriert sich die „tiefe Dialektik, die in dem christlichen Gedanken liegt, daß der Wille Gottes immer nur das will, was sowohl für den einzelnen wie für die Gemeinschaft, in der er lebt, das beste ist, daß also auch eine Gemeinschaft nur so zu ihrem eigenen Willen gelangt, wenn sie in ständigem Gebet um das: ‚Dein Wille geschehe‘ bittet […].“ (SuB III, 109.) Streng genommen ist diese Bitte überflüssig. „Der Wille Gottes geschieht immer. Ob er in der Form des Weltgeistes oder in der des absoluten Geistes geschieht, das ist in unsere Freiheit gestellt.“ (A. a.O., 666.) Die Bitte, der Wille Gottes möge geschehen, erklingt bei Liebrucks eher wie zur Selbstermahnung des Menschen, in seinem Handeln die Gnade Gottes anzuzeigen, die darin besteht, daß er den Menschen frei an seinem göttlichen Tun mitwirken läßt. Gottes „Gang ist die Freiheit der Individuen selbst. Das ist der geoffenbarte christliche Gott, den Hegel in das Denken der Philosophie eingebracht hat.“ (A. a.O., 611.)⁶⁰⁴ Die Drähte, an denen die Marionette hängt, sind die Drähte, an denen hängend sie sich bewegt. Die Beugung des Menschen unter das Göttliche ist zugleich Empfangen des Humanums. „Der christliche Gott […] ist so Herr, daß er zugleich mein Diener ist. Als solcher verlangt er immer nur das, was für mich das Beste ist. In diesem Verhältnis bin ich gerade dann frei, wenn ich seinem Willen 603 „Wie wir als Marionetten der Evolution oder eines gegenständlichen ‚Gottes‘ unfreie reale Apparaturen wären, so sind wir als Marionetten Gottes individuelle Personen und frei.“ (Sinnfrage, 304.) 604 Zu seiner Freiheit kann der Mensch nur gelangen, er kann sie nicht herstellen. Noch Hegel denkt aber eher ein „Herstellen“ als das „Gelangen“. Die zwischen dem unendlichen und dem endlichen Geist bestehende „Dialektik, die den Kern des christlichen Gedankens ausmacht“ hat er noch nicht begriffen, er versteht den Logos noch nicht ausdrücklich als alle Gegensätze vereinende Sprache und verfällt schließlich in seinen Ausführungen über den Weltgeist wieder in ein Denken in Entgegensetzungen, wodurch er die denkerische Brillanz seiner Ausführungen zum absoluten Geist verläßt. (A. a.O., 109.)
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folge. Denn nur der Gehorsam im Hören der göttlichen Evokation zur Liebe ist meine Autonomie. Das kann man populär so ausdrücken, daß Gott allein weiß, was für mich gut ist und vor allem, daß er allein weiß, was ich in Wahrheit will.“ (SuB III, 354; vgl. a. a.O. 280; SuB VII, 377.) Nur in der Selbsterkenntnis, Marionette Gottes zu sein, kann der Mensch begreifen, daß Gott weiß und nicht mehr fordert als das, was für den Menschen das Beste ist. Das Gute, das Gott will, ist keine außerhalb des Menschen stehende Größe, sondern das Gute für ihn. Die logische Verbundenheit zwischen Gott und Mensch läßt das Gute für beide dasselbe sein. Es ist keine Setzung eines Willens, sondern die Wirklichkeit der Vernunft. „Denn das Gute ist nicht eine Gesinnung oder Tat, sondern die immerwährende Korrespondenz und darüber hinaus das immerwährende logische Gespräch zwischen Menschen untereinander und ihrer Welt, in welcher Bewußtseins- und Gesellschaftsstufe auch immer.“ (SuB VI/3, 568; vgl. a. a.O., 579.) Es zu wollen, schafft das Gute nicht erst, sondern läßt es sich entfalten. Insofern ist das Gute als Vernunft in allen Handlungen zugegen, ohne daß jede Handlung das Gute zur Geltung bringen würde. Gut ist Handeln nur dann, „wenn und insofern ich mich angesichts der besonderen Maxime durch den Zuruf Gottes in die eigene Freiheit gesetzt weiß, welches Gesetztsein durch Gott zugleich das Gesetztsein durch mich ist.“ (SuB III, 354.) Der Zuspruch der Freiheit enthält zugleich einen Anspruch: Wer die Freiheit will, muß auch ihre Konsequenzen tragen. „Wenn ich nur als Marionette Gottes frei bin und mein Leben darin in allen Kontingenzerfahrungen seinen Sinn erfährt, so kann dieser Gott nur ein solcher sein, der so begegnet, etsi non daretur.“ (Sinnfrage, 288.) Freiheit kann der Mensch innerhalb seines Erkenntnis- und Verfügungsbereiches nur haben, wenn er sich als auf sich selbst gestellt verstehen muß und darf. Die Gewährung der Freiheit zur (Selbst‐)Setzung ist Ausdruck der Allmacht Gottes, die sich darin erweist, einem anderen als sich selbst Macht zuzugestehen.⁶⁰⁵ Allmacht erscheint damit zugleich als Inbegriff von Dialektik: Liebe. „Die Liebe Gottes besteht darin, daß er uns die Verwirklichung des Guten in der Form der uns dann irrational erscheinenden Katastrophe ersparen will. Da Gott seine Zwecke auf dem Umweg über die Freiheit des Menschen vollbringt, ist es an uns, dem Cäsar zu geben, was des Cäsars ist, und Gott zu geben, was Gottes ist. Wir sind nicht nur in der Entscheidung darüber frei, was wir dem Cäsar geben und was Gott, sondern vor allem auch in der logischen Horizontauffächerung unseres Bewußtseins. Diese ist immer nur in der coincidentia von Sittlichkeit und Er-
605 „Die höchste Macht aber ist der absolute Geist, den wir nicht erst zu rufen brauchen, der immer schon da ist, dessen Wille immer geschieht, zu dem wir uns in Freiheit bejahend oder verneinend verhalten können.“ (SuB III, 557.)
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kennen möglich, die die coincidentia von Praxis und Theorie ist.“ (SuB VI/3, 569; vgl. SuB III, 431.)⁶⁰⁶ Die Freiheit des Absoluten besteht in dessen logischer Struktur, sofern Freiheit sich als Aushalten des eigenen Widerspruchs erweist. Freiheit ist das Zugestehen von Freiheit des Anderen seiner selbst. So empfängt der Mensch seine Freiheit aus der Freiheit des Absoluten. Er verwirklicht sie im Zugestehen der Freiheit seiner Mitmenschen als sich entsprechender Subjekte und bringt somit die Struktur der eigenen Freiheit als Darstellung des Absoluten zur Geltung. Unter der Bedingtheit seiner Existenz kann er diese Freiheit nur reglementiert zur Geltung bringen. Aber „[i]n jedem Augenblick, in dem der Mensch den anderen Menschen frei läßt, handelt er, als sei er Gott, dessen Macht darin besteht, seine Zwecke auf dem Weg über die Freiheit des Menschen zu erreichen. Man kann nicht die Meinung vertreten, solche Augenblicke gäbe es im Menschenleben nicht. Dieser Augenblick ist immer dort gegeben, wo der Mensch mit dem anderen Menschen spricht und mit ihm im Raum der Sprache handelt.“ (A. a.O., 594.) Einmal ist dieser Augenblick in seiner ganzen Eindrücklichkeit und Wahrheit allen sichtbar geworden: in Jesus Christus. „Es ist das ‚nicht wie ich will, sondern wie Du willst‘ von Golgatha.Wenn Delphi für den mythischen und wissenschaftlichen Begriff steht, so steht Golgatha für den absoluten, der sich als absoluter ausgesprochen und verwirklicht hat. Die Idee des Guten ist uns Menschen nicht von Plato vorgesprochen, sondern von dem absoluten existierenden Begriff, da, wo er als erkennende und absolute Idee, als das Leben, der Weg und die Wahrheit, gesprochen und gehandelt hat. Die Handlung der Philosophie ist nicht die unmittelbare Handlung, die sich die Objektivität vindiziert, sondern das Begreifen dessen, was hier vorgesprochen und vorgehandelt worden ist.“ (A. a.O., 568.)
II. Werden wie die Kinder Gottes Gotteskindschaft ist die biblische Formulierung für die Metapher der freien Marionette.⁶⁰⁷ Das biblische Bild erscheint dabei weniger anstößig als ein Sein als
606 Die Koinzidenz von Erkenntnis und Sittlichkeit hat zwei Seiten. Sie läßt es in die Freiheit des Menschen gestellt sein „zu bestimmen, was des Caesars ist, und zu bestimmen, was Gottes ist. Aber diese Freiheit verfehlt er mit dem Augenblick, in dem er den Begriff verfehlt […]. Leistet sich ein Jahrhundert das Vorübergehen an dem eingebrachten Begriff des antik-christlichen Logos, so wird es sich nicht leisten können, den damit angezeigten Absturz auch nur vernehmen zu können.“ (SuB VI/3, 209.) 607 Vgl. a. a.O., 601.
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„Puppe“. Beide Bilder aber sind Botschafter der Dialektik von Freiheit und Abhängigkeit, Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit. „Christus erst weist auf die Logosnatur des Menschen.“ (SuB III, 42.) In der Gestalt Jesus Christus wird bezeugt, was jeder Mensch ist: Sohn bzw. Kind Gottes. Er ist dies aufgrund seiner Sprachlichkeit, seiner Logosnatur. „Nur als Sohn der Sprache ist der Mensch Sohn des Logos.“ (A. a.O., 597.)⁶⁰⁸ Dieser tautologisch anmutende Ausspruch verdeutlicht, wie Liebrucks den griechischen Ausdruck λογος begriffen wissen will. Das Neue Testament ist ihm Verkündung des menschlichen Weltumgangs als eines sprachlichen. In das faustische Ringen um Übertragung des griechischen Textes stimmt er nicht ein, scheint ihm doch „das Wort“ nicht überschätzt. Als Verkündigung der Menschwerdung des Wortes Gottes dringt das christliche Inkarnationsmotiv Liebrucks zufolge auf der Ebene religiösen Bewußtseins zu der Erkenntnis vor, der subjektive Geist empfange sich aus dem absoluten Geist in der logischen Struktur der Vernunft als Sprache. So verstanden erzählt die „Weihnachtsgeschichte“ von der Geburt des Bewußt-Seins.⁶⁰⁹ Diese Geburt ist keine Neuschöpfung. Das Gebären ist vielmehr ein ErscheinenLassen. Inkarnation wird logisch begriffen als Gestaltwerdung der Transzendenz in der Immanenz. Mit Hegel gesprochen: Der Begriff gebiert sich als existierenden. Die Gestaltwerdung ist der Weltumgang der Marionette, hängend an den Fäden, die sie und den Drahtzieher verknüpfen, die Fäden der Sprache. In der Gestaltwerdung des Logos sind Mensch und Gott vereint. Die Geburt des Logos, des sprachlichen Bewußt-Seins ist zugleich verdankter Grund alles menschlichen Denkens und Handelns wie auch Auftrag jedes Einzelnen als Individuum und Gesellschaftswesen. „Wenn sich der Vorgang der Geburt im Menschen nicht immer wieder als Wiedergeburt vollzieht, bleibt der Mensch nicht Mensch. Er ist nicht nur Erdensohn, sondern er bleibt nur dann auf dieser Erde, wenn das Göttliche, das in der Empfängnis wirkte, als konkreter Allgemeinbegriff durch das Leben als Leuchte vorangetragen wird, die heller ist als alle Sonnen des Universums.“ (SuB III, 168.) Geborenwerden, Wiedergeborenwerden ist die sichtbare Einheit von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, welcher sich der Mensch als zugleich Gebärender und Geborener bewußt werden und bleiben muß, wenn er seine Freiheit erfüllen will. Die Bewegung des Geistes als perpetuierende Wiedergeburt gedacht führt das Verständnis der Auferstehung als logischer Kategorie mit sich. Die christliche Rede von der Auferstehung wird von Liebrucks als mythische Beschreibung der Be608 Vgl. Joh 1, 12 ist vom Logos gesagt: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben […]“. 609 Vgl. den Begriff der Natalität bei Arendt, Vita activa, wie er in Fußnote 203 dieser Untersuchung skizziert wird.
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wußtseinsentwicklung gedeutet.⁶¹⁰ Auferstehung ist Neugeburt des Geistes im menschlichen Erkennen. „Der christlich verstandene Vorgang von Sterben und Auferstehen ist Bedingung der Wirklichkeit der Erkenntnis.“ (SuB III, 119.) In der Entwicklung des Bewußtseins der eigenen Sprachlichkeit durchläuft der Mensch verschiedene Bewußtseinsstufen.Wie er sich nach Humboldt beim Verlassen einer Sprache gleichzeitig in eine neue oder andere einspinnt⁶¹¹, stirbt der Mensch einer Bewußtseinsstufe, indem er zu einer höheren aufersteht. In der permanenten Selbstüberwindung zu einer nächsthöheren Entfaltung seiner selbst wird dem Bewußtsein sein bisher erreichtes logisches Niveau zum Gegenstand. In diesem Bewußtsein seiner selbst erweist es sich als Identität von Identität und NichtIdentität. Es hat einen Begriff von sich selbst, der zugleich sein eigenes Gewordensein thematisiert. Nur ein solcher Begriff bewahrt den Menschen vor einem „hypothetischen Schweben über der Erde.“ (SuB III, 407.) Es ist ein spekulativer Begriff, der die Selbstbewegung des Begriffs als Sich-voneinander-Abstoßen und Sich-aufeinander-Beziehen von Sein und Geist zur Geltung bringt. Wo sich der Mensch als ein solcher existierender Begriff ausspricht, erkennt er, daß die Identität und Nicht-Identität von Sein und Geist in deren unablässiger wechselseitiger Erzeugung immer schon sein Weltumgang als Bewußt-Sein gewesen ist. Sie ist nicht sein Werk. „Die Fruchtbarkeit und Steigerung des Lebens geschieht in dem Maße, als das Kind von der Vereinigung, die ein Werk der Gottheit ist, in sich behalten hat.“ (A. a.O., 168.) Der Mensch kann sich als Ich erfahren und aussprechen in dem Logos, als der auch das Absolute in Sein und Begriff zu sich kommt. Der Mensch ist Mensch nicht kraft biologischer, sozialer, anthropologischer etc. Bestimmungen. Er ist Kind Gottes und daher mehr als jene Definitionen,
610 Auch Hegel gewinnt seine Kategorie der Negation über eine bewußtseinstheoretische Deutung der Auferstehung Christi; vgl. seine Auffassung vom „spekulativen Karfreitag“. (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, Gesammelte Werke, Bd. 4, hg.v. Buchner, Hartmut/Pöggeler, Otto, Hamburg 1968, 313 – 414, 414.) Dem entspricht seine Rede vom „geistigen Auferstehen“, vom Geist, der „täglich stirbt und aufersteht“. (Vgl. PhG, 511.) Er versteht darunter die „Negation des Bewußtseins, welches so aufhebt, daß es das Aufgehobene a u f b e w a h r t und e r h ä l t und hiermit sein Aufgehobenwerden überlebt.“ (A. a.O., 131.) Vgl. a. a.O., 243 f. sowie den Begriff der Aufopferung, den Hegel in der Phänomenologie entwickelt. 611 „Durch denselben Act, vermöge welches der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede Sprache zieht um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andern Sprache hinübertritt.“ (Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, 387.) Zu denken ist hier ebenso an Hegel: Das Bewußtsein überlebt sein Zugrundegehen, vgl. die Einleitung der PhG, 57 ff.
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die ihn nur als Gattungswesen behandeln können. Sie geben ihm nicht die Gelegenheit, sich als existierenden Begriff eines individuellen Menschen darzustellen. Der Mensch ist Kind des Logos; und als Kind des Logos ist er Mensch. Insofern aber wird er keine der c o n d i t i o h u m a n a angemessenen Lebenswelten gestalten, wenn er sich nicht q u a Öffnung für das Göttliche auf das Menschliche besinnt. Dementsprechend weist das Jesus-Logion Mt 18, 3 den Weg zur eigenen Freiheit, das nur denen das Himmelreich verspricht, die werden wie die Kinder. Mit Liebrucks muß hier explizit gelesen werden: zu werden wie die Kinder Gottes. Nur mit dieser Näherbestimmung, die dem neutestamentlich überlieferten Wort keine Unterstellung antut, kann recht verstanden werden, daß es bei dieser Aufforderung nicht um eine Regression in Unaufgeklärtheit und Unmündigkeit, um eine Verleugnung der eigenen Wirklichkeit geht. Zu werden wie die Kinder ist kein Rückschritt auf eine unaufgeklärte Bewußtseinsstufe. Es ist ein Befreiungsschritt. „Nur als Kinder Gottes behalten wir unseren freien Verstand, das wache Herz und die Seele im Weltumgang, der wir sind.“ (Denken, 193.) Der Mensch ist nicht aufgerufen, zu bleiben wie ein Kind, wenn das heißt, hinter der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten zurückzubleiben. Es heißt zu erkennen, daß der Mensch Kind Gottes ist. (Vgl. SuB III, 280.) In diesem Sinne kann der Mensch nie erwachsen werden, er kann seinem Gottvater nicht entwachsen, die von Schleiermacher so benannte „schlechthinnige Abhängigkeit“ nicht aufkündigen. Dennoch: Zu werden wie die Kinder Gottes ist eine Hinkehr zur Freiheit der Entwicklung des Menschen, in welcher er seine Gestaltungskraft und seine Eigenverantwortlichkeit erst erkennen kann. Werden wie die Kinder bedeutet, uns hineinzugeben in die lebendige Entwicklung des Geistes. „Erwachsen“ im Sinne von „vollendet“ sind wir nie. Die für den Menschen nicht zu überschreitende Grenze zur Vollkommenheit begründet seine Entwicklungsfreiheit. Der Umkehrschluß liegt nahe, daß also die Freiheit des Menschen im Erkennen der eigenen Grenzen liegt; sie liegt im Bewußtsein für die eigene Wirklichkeit als Marionette des Logos. Die „einzige Bedingung der Möglichkeit der Emanzipation unter den Menschen liegt darin, daß wir uns gleichzeitig als Kinder Gottes begreifen.“ (A. a.O., 285.) Diese Bewußtseinsbildung kann mit dem traditionellen christlichen Gedanken der Nachfolge in Verbindung gebracht werden. Jesus Christus ist die Gestalt des Selbstbewußtseins, das sich als Moment des Absoluten weiß. Sprechen wir uns selbsttätig als Ich aus in dem Bewußtsein, mit dieser Selbstaussage den absoluten Logos zu bezeugen, haben wir die Nachfolge Jesu Christi angetreten. Sie ist im Leben immer als „die Aufgabe der Individualität im Doppelsinn des Wortes zu leisten. Diese Aufgabe ist positiv und überpositiv zugleich, sie ist die einzige, die der Mensch hat. Jede Geburt ist ein Aufruf des göttlichen Geistes an den menschlichen Weltumgang. Jedes Kind ist göttliches
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Kind und nicht nur Kind seiner Eltern. Jede Mutter empfängt es aus der Sprache des Herrn.Wir sind als Kinder unserer Eltern Kinder Gottes.“ (A. a.O., 169.) Freiheit, Individualität ist nichts, das sich schlicht einstellt, auch wenn sie immer schon zum Menschen gehört. Der Mensch muß werden, was er ist. Freiheit will verwirklicht werden, sie ist nur, indem man sich ihrer bewußt ist. Ihrer bewußt zu werden, ist dem Menschen „positive und überpositive“ Aufgabe zugleich, dem Menschen ausdrücklich gestellt und ebenso immer schon das, was wir seinen Weltumgang nennen. Sie zu erfüllen, gelingt ihm nur in Hingabe an den Anderen. Der Weg zur Individualität führt über deren Verlust; doch die Selbstaufgabe ist noch nicht das Ziel. Der Kenosis folgt die Auferstehung. „Das Herabsinken der Selbständigkeit ist nicht Verflüchtigung der Existenz des Menschen, sondern Verflüchtigung der Positivität. Die Befreiung von ihr führt die Individuen in einen Raum, in dem sie sich so finden, wie Gott sie gewollt hat.“ (Ebd.)
III. Sittlich handeln: Was des Kaisers und was Gottes ist Die jesuanische Aufforderung, zu werden wie die Kinder, setzt Liebrucks in Verbindung mit dem Logion von der Unterscheidung der Pflichten gegen Gott und Kaiser. In der Diskussion der Obliegenheit des Menschen, zwei Herren zu dienen, wird implizit das Marionettenthema durchgespielt und zum Sujet Gesellschaft und Ethik geöffnet. Die in Mt 22, 21 überlieferte Mahnung Jesu Christi ist ein sittlicher Imperativ: Sittlich ist die a u r e a m e d i o c r i t a s der Abwägung – dem Kaiser zu geben, was des Kaisers, Gott zu geben, was Gottes ist. Menschliches und Göttliches sind nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden. Sittlichkeit und Unsittlichkeit sind nicht aufgeteilt auf Gott und Kaiser; alles weltbewältigende Wirken erwächst aus dem göttlichen Grund des Logos. Die Idee des Guten ist den realisierten Ordnungen stets so immanent wie transzendent. Wer die Immanenz des Guten – sei sie auch verborgen – nicht zu erkennen vermag, kann den gesellschaftlichen, staatlichen, ethischen Organisationsformen weder Reform noch Fortschritt zutrauen, vielmehr muß er eventueller Depravation mit Revolution zu Leibe rücken, also einer Vertiefung von Positivität durch radikalere Positivierung. Marx etwa verschiebt den sittlichen Staat „in einen transzendenten Himmel. Er schiebt den Himmel von der Erde fort, um die durch Unsittlichkeit entstandenen Gegensätze in der Praxis so weit aufzureißen, daß die Revolution das Unvermeidliche wird.“ (A. a.O., 655; vgl. 647.) Seine Freiheit aber kann der Mensch nicht aus einer staatlichen Ordnung zu empfangen hoffen. Die Formen des objektiven Geistes sind immer schon Ausdruck von Freiheit; als solche können sie als Entsprechung oder Widerspruch zur Freiheit des Geistes gestaltet sein, sie aber nie begründen. Der Staat, die wohl einflußreichste Präsenzform positiver Weltgewinnung, ist zwar
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Konkretion des Geistes und insofern „irdischer Gott“, aber lediglich als äußere Freiheit schaffende (Rechts‐)Ordnung. Sofern er nicht der Grund unserer Freiheit ist, ist ihm auch nicht zu vertrauen. „Blindes Vertrauen ist in Verhältnissen heller Liebe sittlich, in objektiven Staatsverhältnissen dagegen unsittlich, weil das Objektive mit dem Absoluten verwechselt wird.“ (Ebd.) Das Korrektiv des objektiven Geistes kann nicht der objektive Geist selbst sein, sondern nur der absolute.⁶¹² Daher „müssen wir dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, was der reale Ausdruck und die reale Darstellung unseres Getan-Habens und Nicht-getan-Habens ist. Aber wir sollen Gott geben, was Gottes ist, unser ungeteiltes rückhaltloses, letztes, zuhöchst geistiges und dabei kindliches Vertrauen.“ (A. a.O., 560.) Das Kindliche ist die Unschuld, d. h. die Bereitschaft, den eigenen Widerspruch freundlich anzunehmen, anstatt ihn wegarbeiten zu wollen, um dadurch die eigene Selbstbehauptung abzusichern. Erwachsen wird der Mensch mit zunehmendem Willen, sich das ihm Begegnende zu unterwerfen. Im alltäglichen Leben ist die Unschuld verloren. Der Weltumgang des Menschen als Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation erfordert es, daß sich der Mensch in ihr als Ich ausspricht und ansprechen läßt. Hierzu muß er die Indifferenz der Unschuld überwunden haben. Caesarische Selbstbehauptung ist ein Moment seiner Freiheit. Er bringt in ihr seine Identität als Sich-Unterscheiden im Bezogen-Sein auf das Andere seiner selbst zum Ausdruck. Als diese Identität von Identität und Nicht-Identität wird sein Selbstaussprechen als Ich zum Zeugnis der logischen Struktur des Absoluten als Aufhebung aller Widersprüche zum Begriff des Begriffs. So kann in Anlehnung an das Bibelwort formuliert werden: Indem dem Kaiser gegeben wird, was des Kaisers ist, wird Gott gegeben was Gottes ist. Der sittliche Auftrag des Menschen lautet, dies zur Geltung zu bringen, wie das anschließende Kapitel zum Begriff der Sittlichkeit näher erläutern wird. Das sittliche Handeln des Menschen, soviel sei hier zum Abschluß dieses Untersuchungsabschnitts gesagt, ist Nachfolge Christi als Nachfolge in der Sanftmut. Sanftmütig ist die Selbstbehauptung des Subjekts, die sich nicht über
612 Dies darf nicht zum Mißverständnis eines klerikalen Monopols auf Wahrheit führen. Auch eine Kirche als objektivierte Religion kann nicht als ethisch angemessenere Institution an die Stelle des Staates treten. Staat und Kirche können sich gegenseitig nicht ersetzen, die Gewaltenteilung zwischen ihnen ist gewissermaßen durch die Sprachlichkeit des menschlichen Weltumgangs vorgegeben und macht einen dialektischen Austausch beider ebenso notwendig, wie sie eine Gleichsetzung verbietet. Beide sind Institutionen, an die als solche beständig die Forderung zur Selbstkritik gestellt ist. Vernachlässigen sie diese, werden sie in ihren jeweiligen Wirkungsbereichen zu Instrumenten der Entmenschlichung: Die Beanspruchung eines Staates, Verwirklichung des absoluten Geistes zu sein, und das Aufgehen einer Kirche in den Forderungen und Strukturen des objektiven Geistes sind Spielarten einseitig verhärteter Herrschaft – Despotismus und Tyrannei. (Vgl. a. a.O., 636.)
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die Annihilierung der Selbstbehauptung des Anderen ausspricht, sondern begreift, daß sie sich nur aus der Anerkennung durch den Anderen empfängt, den sie als sich entsprechendes Subjekt anerkennt. Als Moment des absoluten Geistes muß der subjektive Geist nicht um seine Identität fürchten; er erfährt sie, indem er sich auf die Identität anderer Subjekte einläßt und bezieht. Nicht im Kampf gegeneinander, sondern im Gespräch konstituieren sich die Subjekte wechselseitig im absoluten Geist als Logos ihres Weltumgangs. Insofern besitzen die Sanftmütigen das Himmelreich. Doch Liebrucks weiß: „Die Seligpreisung ,Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Himmelreich besitzen‘ (Matthäus, V, 5) ist philosophisch noch längst nicht eingeholt.“ (A. a.O., 41.)
E. Sittlichkeit Die Einheit menschlichen und göttlichen Tuns als Tun des in Jesus Christus Gestalt gewordenen Logos soll im folgenden ausführlicher unter dem Begriff der Sittlichkeit thematisiert werden. Bereits im Kapitel über die Gestalt des Adam wurde Sittlichkeit als Ausdruck des Gottes- und des Selbstverhältnisses des Menschen behandelt. Während dort der Akzent auf der erkenntnistheoretischen Gewinnung der Freiheit durch das Subjekt lag, soll nachfolgend die Sprachförmigkeit eines Handelns in den Fokus der Darstellung rücken, das als sittlich bezeichnet werden kann. Auch der Begriff der Sittlichkeit wird hierbei in den Dienst der logischen Entfaltung des menschlichen Weltumgangs als Sprache gestellt. Die Diskussion konkreter Formen von Sittlichkeit in Staat und Gesellschaft dagegen sind nicht von Interesse. Der nachstehende Abschnitt setzt ein mit einer Klärung des logischen Verhältnisses von Sprache und Handlung. Im Anschluß folgt eine sprachphilosophische Auslegung des christlichen Gebotes der Nächstenliebe. Abgerundet wird das Kapitel durch ein Fazit zum Verständnis der Sittlichkeit unter Bezugnahme auf die antike Tragödiendichtung, wodurch die zuvor entfalteten Begrifflichkeiten als Symbiose hellenistisch-philosophischer und christlich-theologischer Tradition vorgeführt werden.
I. „Handle sprachlich!“ Bereits im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung wurde gezeigt, daß sich Liebrucks zur Darlegung seiner Sprachphilosophie einen zeitgenössischen Philosophen zum Antipoden erwählt, in Abgrenzung zu dessen Werk er seinen Sprachbegriff zu etablieren sucht. Arnold Gehlen, Vertreter einer empirischen
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Philosophie, legte vornehmlich in seinen Werken Der Mensch sowie Urmensch und Spätkultur ⁶¹³ eine Strukturanalyse des menschlichen Daseins vor, welche dieses über die handlungsförmige Überlebensbewältigung charakterisiert. Gehlen ist nicht der einzige Denker, gegen den Liebrucks seine sprachphilosophischen Thesen entwickelt und verteidigt; aber die im folgenden zu behandelnde Frage nach der sittlichen Anforderung an den Menschen als zur Freiheit berufenes Geschöpf führt zum Verständnis von Handlung, das sich bei Liebrucks vornehmlich an dessen Kritik an Gehlen ablesen läßt.⁶¹⁴ Gehlen denkt den Menschen als reflexives Wesen, das seinen Selbstbezug über Handlung erfährt: Biologisch betrachtet befindet sich der Mensch in hoffnungsloser Lage, vergleicht man ihn mit den an die natürlichen Umstände angepaßten Tieren. Im Gegensatz zur zweckmäßigen Spezialisiertheit des animalischen Seins ist der Mensch durch eine gewisse Anarchie gekennzeichnet. Der Mensch ist das Lebewesen, das wählen kann anstatt wie das Tier bestimmten Gesetzmäßigkeiten zu folgen, die es selbst nicht gegründet hat. Während das Tier instinktsicher sein Leben gegen die Widrigkeiten der Natur meistert, ist das menschliche Dasein durch Verunsicherung charakterisiert. Der Mensch ist nicht spezialisiert, er erkennt mehr in der Welt, als er zum unmittelbaren Überleben von ihr erkennen muß. Dieser Überschuß an erkennbaren Möglichkeiten erfordert laut Gehlen die Institutionalisierung des Denkens als Urteils- und Entscheidungsfindung sowie die Institutionalisierung des Verhaltens. Diese Institutionalisierung fungiert als Ersatz für die animalische Instinktsicherheit und gereicht zur Handlungsfähigkeit, mit der sich der Mensch in und gegen die Welt behauptet. Die Institutionalisierung des Daseins ist für Gehlen identisch mit dem menschlichen Dasein überhaupt. In der Erörterung der institutionellen Kompensation der natürlichen Mangelhaftigkeit des Menschen erkennt Gehlen der Sprache eine entscheidende Rolle zu. Es ist die Unspezialisiertheit des Menschen, die zur Ausbildung von Sprache als Ausgleich des Spezialisierungsmangels führt. Aus dem Mangel erwächst so ein Vorteil des Menschen im Gegenüber zu den Tieren. Mittels der Stabilisierung durch Institutionen – zu denen Gehlen den Staat und die Religionen ebenso zählt wie Wirtschaftssysteme oder auch die Ehe – gelingt es dem Menschen, sein Leben zu führen. Diese Lebensführung erreicht er über den Weg der Erstellung von Bildern von Welt, mit denen er verfahren kann. Hierzu sind Denken, Phantasie, Sprache
613 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Textkritische Edition, Bd. 3, hg.v. Rehberg, Karl-Siegbert, Frankfurt a. M. 1993. Ders., Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, hg.v. Rehberg, Karl-Siegbert, 6. erw. Aufl., Frankfurt a. M. 2004. 614 Zu Liebrucks‘ Auseinandersetzung mit Gehlen vgl. u. a. SuB I, 79 ff.
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nötig, eine Weltbewältigung, die der in der unmittelbaren Weltbegegnung dem Tier gegenüber benachteiligte Mensch nun dem Tier voraushat. Er ist diesem im wortwörtlichen Sinne voraus, weil er seinen Blick über die unmittelbare Situation hinaus schweifen lassen kann. Gehlen kann sagen, daß sich der Mensch vermittels der Sprache zu sich selbst verhält. Von Liebrucks’ Auffassung der Sprache trennt ihn das aber dennoch, sofern Gehlen die Sprache zum Mittel der Weltbewältigung macht, während für Liebrucks das Selbstverhältnis des Menschen über seinen Weltumgang selbst Sprache ist. Bei Gehlen erscheint Sprache als Anpassungsphänomen: Sie läßt sich den Menschen in der Welt einfinden, wie das Tier es über seine Instinkte vermag. Instinkt und Sprache schaffen jeweils Stabilisierung von Lebenswelt. Gehlen hat auf diese Weise Sprache als die Fortsetzung des instinktgeleiteten Verhaltens auf höherer Ebene betrachtet. Gehlens handlungsorientierte Anthropologie steht unter der Frage, was der Mensch (heute) tun muß, um sich am Leben erhalten zu können. Diese Frage schreibt auch Liebrucks über seine Untersuchungen, um sie jedoch in vehementer Abgrenzung gegen Gehlen zu beantworten. Dessen Fehler besteht nach Liebrucks’ Auffassung darin, nach ursprünglichen Strukturen des Menschseins vor der Sprache zu suchen. Gehlens Darstellung der Sprachförmigkeit menschlicher Handlungen scheint den Umkehrschluß zuzulassen, Sprache sei generell handlungsförmig. Für Liebrucks dagegen ist deutlich, daß Handlung in der Sprache, Sprache aber nie in Handlung begründet ist. (Vgl. a. a.O., 83; 87 u. ö.) Handlung ist spezialisierte Sprache; in dieser Spezialisierung ist der Mensch dem Tier gleich. Spezialisierung ist so verstanden aber Entmenschung. Der Mensch muß laut Liebrucks von der unmittelbaren Lebenssorge absehen, die ihn auf spezialisiertes Verhalten reduziert. Diese Forderung ist uns nicht aus der Alltagsabgeschiedenheit eines im Elfenbeinturm Philosophierenden zugerufen. Liebrucks verfällt keineswegs der Naivität zu glauben, es müsse nicht auch zweckmäßig gehandelt werden, damit unzweckmäßig gedacht werden kann. Unzweckmäßig denken zu können ist der Luxus des Menschen, der sein zweckmäßiges Handeln weitestgehend perfektioniert hat. Nur wer sich nicht ausschließlich um den Lebenserhalt kümmern muß, kann philosophieren. So naturunabhängig wie heute aber war der Mensch nie. Deshalb ist an ihn zu appellieren, sich in ein Denken einzuüben, das die Sorge für die Lebenserhaltung als notwendig berücksichtigt, ohne diese Aufgabe als das identitätsbildende Moment des menschlichen Daseins anzusehen. Die Wahrheit menschlichen Daseins ist erst berührt, wo das Handeln sittlich wird. Sittlich können wir unser Leben nur dann gestalten, „wenn wir uns innerhalb der Sorge um das tägliche Brot die Sorglosigkeit derer bewahren, die diese Sorge anheim stellen. Jede Sorge, die nicht zugleich das Gegenteil ihrer selbst, nämlich Sorglosigkeit ist, entmenscht den Menschen schnell. Nicht vor den
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Wissenschaften ist zu warnen, die in ihrem Vorgehen notwendig fixiert sind, sondern vor der Verwechslung ihres Vorgehens mit den Möglichkeiten des menschlichen Denkens.“ (SuB III, 312.)⁶¹⁵ Das Dasein des Menschen ist theologisch gesprochen ein Leben in der Welt, aber nicht von der Welt. Liebrucks verweist daher auf das Jesuslogion Mt 6, 33 (par), der Mensch solle zuerst nach dem Reiche Gottes trachten. Das Reich Gottes wird nicht erreicht, wenn man seinen Blick vornehmlich auf die Erhaltungssteigerungsbedingungen des Daseins richtet.⁶¹⁶ Die Möglichkeit einer Welt und einer Selbstbehauptung in ihr fällt uns erst aus dem Reich Gottes, aus dem Wirken des Logos, zu.Wer handeln will, kann nicht immer über die Bedingung der Möglichkeit von Handlung nachdenken. Aber wenn wir sittlich angemessen handeln wollen, müssen wir über diese Bedingungen reflektieren. Sittlichkeit unterscheidet die menschliche Handlung von tierischer Agitation. Während letztere durch ihre Spezialisierung, die funktionale Abgestimmtheit auf besondere Gegebenheiten, charakterisiert ist, zeichnet es sittliches Handeln aus, in der besonderen Tat zugleich einen allgemeinen Zusammenhang zu berücksichtigen e t v i c e v e r s a . Die identitätsstiftende Einheit des Subjekts ergibt sich aus der Einheit des Subjekts mit dem Absoluten in der lebendig sich forttreibenden, logischen Struktur der Sprache. In der Institutionalisierung seines Lebens dagegen erfährt der Mensch nicht, wer er eigentlich ist. Die Vorgängigkeit der Bedingungen seines In-der-Welt-Seins richtet den Menschen auf die Frage nach der Wahrheit als der Übereinstimmung der Momente seines Weltumgangs aus. Für den Philosophen ist dies die Frage nach dem Absoluten, für den Theologen die Frage nach Gott. Mit der Frage nach Gott fragt der Mensch auch nach seiner eigenen Wahrheit, nach dem, was menschlich ist. Für Liebrucks ist diese „Frage nach der Wahrheit [..] zugleich die nach einem Weltverhalten, das menschlich genannt werden kann.“ (SuB IV, 1.) Die Beantwortung der Frage nach der Wahrheit des eigenen Weltumgangs muß sich wiederum auf diesen auswirken. Die Frage nach der Wahrheit ist immer die Frage nach dem, was diese Wahrheit sichtbar macht, und nach dem, was sie verdunkelt. Daher gibt es
615 Es liegt die Vermutung nahe, daß Liebrucks hier einen philosophischen Seitenhieb auf Heidegger niedergehen läßt, der das Sein des Daseins als Sorge charakterisiert. (Vgl. Heidegger, SZ §§ 39 – 44.) Als Sorge benennt Heidegger die existenziale Struktur, welche dadurch bestimmt ist, daß sich das Dasein immer bereits vorfindet und sich in der Welt als gedeuteter Realität bewegt. In der vorontologischen Struktur der Sorge ist der Mensch demnach zuerst im praktischen Umgang mit Welt begriffen, aus dem aber ein theoretischer Zugang zur Welt resultieren kann. Eine ausführlichere Gegenüberstellung von Liebrucks und Heidegger liegt – wie schon andernorts betont – nicht im Interesse dieser Arbeit. 616 „Nach dem Reiche Gottes trachten heißt schläfrig sein in bezug auf die endlichen Zwecke und Sorgen. Der Herr gibt es den Seinen in diesem Schlafe.“ (SuB III, 194.)
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„kein sittlich-neutrales theoretisches Denken.Von jetzt ab sind daher die sittlichen Implikationen im Erkenntnisproblem mitzudenken.“ (A. a.O., 3.) Wahrheit als das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist die Voraussetzung eines sittlichen Sollens. Dieses Sollen ist die Forderung, das Allgemeine im Besonderen zur Geltung zu bringen. Die sittliche Handlung ist folglich dadurch charakterisiert, Vergegenwärtigung des Absoluten zu sein. Sittlichkeit ist demnach „weder anthropologisch noch humanistisch zu begründen.“ (SuB III, 462.) Dennoch ist das Sittliche das Gute für den Menschen. „Sittlichkeit ist Manifestation des Absoluten, des menschlichen Weltumgangs des Menschen […].“ (A. a.O., 483; vgl. 479.) Das Absolute bringt sich über den Menschen zur Geltung, indem es diesen zur Geltung bringt: Das Subjekt empfängt seine Identität aus der Logik der absoluten Identität. So ist Sittlichkeit als Manifestation des Absoluten im menschlichen Weltumgang eine geschichtliche Größe. „Der wirkliche Mensch in seiner endlichen Unendlichkeit der absoluten Sittlichkeit ist das geschichtlich gewordene Bewußt-Sein […].“ (A. a.O., 638.) Geschichte ist das unablässige InsVerhältnis-Setzen des Allgemeinen und des Besonderen, als das der Mensch seinen Weltumgang bestreitet. Diese Geschichte ist die der permanenten Selbstüberwindung des Bewußtseins zu einer nächsthöheren Entfaltung seiner selbst, in der ihm sein bisher erreichtes logisches Niveau zum Gegenstand wird. In diesem Bewußtsein seiner selbst erweist es sich als Identität von Identität und NichtIdentität als der Begriff seiner selbst, der die „B e w e g u n g s e i n e s G e w o r d e n s e i n s “⁶¹⁷ in sich trägt. In diesem Begriff seiner selbst ist es dem Selbstbewußtsein „für es, daß es an sich und es ist für es, das [sic] es für es Selbstbewußtsein ist. Das ist der Gang vom beobachtenden Selbstbewußtsein zur Sittlichkeit, es ist die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst.“ (SuB V, 149 ff.) Der Gang des Selbstbewußtseins zur Sittlichkeit ist das Begreifen des Gewordenseins des absoluten Begriffs in der Geschichte des Menschen als des existierenden Begriffs. Der Gang vom beobachtenden Selbstbewußtsein zur Sittlichkeit vollzieht sich in der Erkenntnis, „[…] daß das Hinausgehen Gottes in die Endlichkeit der Schöpfung und in die Endlichkeit des Sohnes die Bewußtwerdung Gottes selbst war, sein Sichauseinanderlegen in die Reflexion.“ (SuB III, 205.) In Sätzen wie diesen tritt Liebrucks unleugbar das philosophische Erbe Hegels an. Seinen eigenen Akzent setzt er in der Auffassung, das „Sichauseinanderlegen“ Gottes sei sprachlich. „Hegel spricht das Gefühl dafür aus, daß Sittlichkeit eine sprachliche Angelegenheit ist. Mehr freilich nicht.“ (A. a.O., 474.) Was der Mensch tun muß, um sich am Leben erhalten zu können, ist laut Liebrucks, dieses Leben als Sprache zu begreifen. Das göttliche Tun des Logos ist
617 Hegel, PhG, 159.
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der immer mitgehende Anfang menschlichen Tuns. „Nur im Trachten nach dem Logos fällt uns Menschen Welt zu, nur in dieser Blickrichtung machen wir unsere Erfahrungen.“ (SuB I, 470.) Wir ersprechen uns eine Welt auf den Sprachbahnen zu anderen uns korrespondierenden Subjekten. Als diese Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung ist der Logos als Ursprung unserer Welt ausgesprochen. Der von Gehlen beschriebene instrumentelle Charakter ist ein Aspekt der Sprache. Sprache läßt sich jedoch spezialisieren, weil sie selbst nicht schon festgelegt ist. Was Gehlen folglich zu klären versäumt, ist die Frage, warum Sprache in der von ihm beschriebenen Weise eine ideelle Überbrückung leiblicher Defizite schaffen kann. Erst in dieser Frage ist die Frage nach der Wahrheit als der Einheit von ideeller Allgemeinheit und sinnlich erfahrbarer Besonderheit gestellt. Weniger als das Ganze, das Absolute, kann Wahrheit als solche nie sein. Darin liegt begründet, daß sie allein eine sittliche Forderung sein kann, wenn das darin geforderte Gute etwas sein soll, daß zugleich für alle Menschen dasselbe und doch von allen individuell anzueignen sein soll. „Das Wahre ist das Ganze nicht als Wesenskategorie, sondern als die Einheit von Sein,Wesen und Begriff im Begriff.“ (SuB VI/3, 15.) Wahrheit ist das Absolute. So wenig wie es eine halbe Wahrheit geben kann, gibt es mehrere.Wenn allerdings das Handlungsmoment verabsolutiert wird, ist es – wie bei Gehlen – die Historie, die über Wahrheit und Unwahrheit entscheidet. Als „wahr“ gilt dann, was sich bewährt, also in Gehlens Sinne institutionalisiert ist. Eine „Wahrheit“ wird dann zu gegebener Zeit eine andere ablösen, keine „Wahrheit“ gilt universal. Wo die Handlung regiert, ist einem moralischen Relativismus stattgegeben. Die Frage nach der Wahrheit aber „ist nicht die nach der Richtigkeit von Sätzen […].“ (Vgl. SuB VI/1, 18.) Es ist die Frage nach der Partizipation des Realen am Wirklichen. Jede Realität verweist auf eine Wirklichkeit, deren Abbild zu sein sie zumindest postuliert. Dieser Bezug sichert ihren Geltungsanspruch ab. Das Vergessen ihrer Herkunft läßt die formale Logik als eine Logik des Handelns auch diesen Bezug verdrängen; er ist in ihr angezeigt, nicht aber ins Bewußtsein gehoben. Wahrheit ist jedoch, was im Bindestrich des Wortes „Bewußt-Sein“ ausgedrückt ist: die logische Einheit von Allgemeinem und Besonderem, Begriff und Existenz, Sein und Wesen. (Vgl. SuB VI/3, 194.) Der Mensch als Handlungswesen behauptet sich immer als ein Moment gegen das Ganze. Als Sprachwesen begreift er sich als Moment des Ganzen. „Im sprechenden Gott aber ist dieses Ganze, vor dem Gehlen mit Recht so erschüttert steht, Moment geworden. […] Gott erscheint nicht mehr im Donner, er wird leiser und furchtbarer.“ (SuB I, 145.) Er erscheint im Wort. Furchteinflößend ist dies, weil darin die Unentrinnbarkeit der göttlichen Macht in jedem Augenblick des menschlichen Weltumgangs begriffen ist. Der im Donner erscheinende Gott ist an das Phänomen des Donners gebunden. Erst der als Logos erscheinende Gott erweist sich als „dieses Ganze“ von Allgemeinem und Besonderem, das wir in jedem Wort, jedem
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Gedanken, jeder Tat schon zum Ausdruck gebracht haben. Solange wir nicht begreifen, daß wir in diesem Logos nicht nur Gott, sondern immer auch zugleich uns als Menschen zur Geltung bringen, daß also göttliches und menschliches Tun dasselbe sind, wird uns der im Wort erscheinende Gott erschütternd und fürchterlich bleiben. Diese Furcht wird uns erst in der Erkenntnis genommen, daß in dieser Manifestation des Absoluten als unser Weltumgang Sein und Sollen unseres Menschseins vereint sind.⁶¹⁸ „Alles, was ist, soll auch sein, da es aus dem Getan-Haben und Nicht-getan-Haben aller resultiert.“ (SuB III, 632.) Das Sollen ist keine transzendente Norm, sondern immanent-transzendente Wirklichkeit. So ist auch das im Sollen geforderte Gute für den Menschen keine unerfüllbare Größe, wie sie es etwa in der prinzipiellen Begründung des Sittengesetzes bei Kant bleibt. (Vgl. a. a.O., 107.) Das sittliche Sollen ist die Wahrheit, die mit Hegel immer als das Konkret-Allgemeine zu denken ist, das sich in Natur und Geschichte entfaltet. Wenn Wahrheit Wahrheit bleiben will, muß sie sich selbst vermitteln. „Wahrheit ist kein formallogischer ‚Begriff‘, weil sie das göttliche Zeichen darauf ist, daß dieser Mensch da der allgemeine Mensch ist, daß dieser Marmor da im Kunstwerk in seiner Individualität selbst erscheint, daß diese Farbe da im Kunstwerk und im Menschen wie in der Natur immer nur zugleich als die allgemeinen sind. Nur im Denken ist es heute zu vollziehen, daß der Begriff die Einheit von Einzelnem und Allgemeinem ist.“ (SuB I/3, 189.) Diese Einheit ist die unseres Bewußt-Seins als eines sprachlichen. Das ist uns in Jesus Christus vor Augen gestellt: In ihm wird das Ganze Moment, d. h. der absolute Geist läßt sich herab in das Subjekt und ist in diesem nicht als Abstraktion gegenwärtig, sondern als das Absolute, das nur in seinem Anderen bei sich selbst ist. Es ist dies in der Dialektik des Logos als Sprache. Hamann bringt dies auf eine einfache Formel: „Ohne Wort, keine Vernunft – keine Welt. Hier ist die Quelle der Schöpfung und Regierung.“⁶¹⁹ Gott schafft und regiert die Welt als Wort, so weiß schon Luther. Das Regieren des Wortes ist gebunden an seine Schöpferkraft: Der Geist Gottes geht stets in seinen eigenen Unterschied, die Existenz, und ist daher kreativ. Alles von ihm Unterschiedene ist ihm aber zugleich inhärent und insofern von ihm regiert. Die Regierung Gottes ist eine der Logik, der Logik der Sprache. In ihr ist das Einzelne ausgesprochen in der Logik des Absoluten. In dieser Bezüglichkeit ist der Mensch – dies sei in Richtung
618 „Das Absolute […] muß sich entäußern, […] weil es die Liebe ist. Die Ruhe des Absoluten ist seine Bewegung in der Geschichte. Wir Menschen können diese Bewegung nur selten als Ruhe erfahren. In den meisten Fällen ist uns die Geschichte das reinste Durcheinander. Bei uns als endlichen Wesen sind Sein und Sollen auseinandergebrochen.“ (SuB V, 335.) 619 Hamann, Johann Georg, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi am 2.11.1783, in: ders., Briefwechsel, Bd. V (1783 – 1785), hg.v. Ziesemer, Walther/Henkel, Arthur, Wiesbaden/Frankfurt a. M. 1959, 95.
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Gehlen verdeutlicht – nicht „Bewohner der Erde“, sondern „Bewohner der Sprache“. (SuB I, 150.) Sprache selbst führt in ihrer Betrachtung zur Wahrheit, weil man schon Sprache nur sprachlich denken kann. Der Logos ist Selbsterfassung und Selbstdarstellung des Geistes. Will der subjektive Geist sich selbst erfassen, muß er anerkennen, „daß Gott die Welt regiert, und zwar als Wort, daß Vernunft auch als Sittlichkeit Sprache ist.“ (SuB V, 168.) Der folgende Abschnitt wird sich damit auseinandersetzen, wie der Mensch die in der Logik seines Weltumgangs empfangene Einheit sittlichen Seins und Sollens selbsttätig zur Geltung bringen kann.
II. Nächstenliebe als sprachliches Handeln Das neutestamentliche Doppelgebot der Liebe fordert die Liebe des Menschen zu Gott und den Mitmenschen. (Mt 22,36 ff. parr.) Liebrucks erkennt in diesem Gebot die Umschreibung der sittlichen Forderung eines sprachlichen Weltumgangs. Im Anschluß an die vorangegangenen Darlegungen ist auch die Konsequenz des Gebotes der christlichen Nächsten- und Gottesliebe erst im zweiten Schritt eine ethische. Primär geht es um eine erkenntnistheoretische Einsicht. „Ich kann mich weder selbst erkennen noch selbst lieben ohne den Nächsten und Gott.“ (SuB I, 303.) Diesen Zusammenhang von Liebe und Selbsterkenntnis findet Liebrucks bei Hamann hergestellt. Er sieht darin eine Umschreibung der Sprachlichkeit des Menschen. „Wo die Nächstenliebe geübt wird, ist zugleich die Gegenwart Christi.“ (SuB III, 112.) Diese ist die Gegenwart des Wortes. Die Verbundenheit der Menschen in der christlich geforderten Nächstenliebe interpretiert Liebrucks als die Verbundenheit der Menschen als Sprachgemeinschaft. Diese Interpretation nährt sich aus dem in Mt 18, 20 verzeichneten Ausspruch Christi: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Die christlichtheologische Tradition hat diese Versammlung auf die Gottesdienstgemeinde bezogen, Liebrucks auf die Sprachgemeinschaft, die alle Individuen umfaßt. Das Absolute ist nicht der „in mente sitzende Gedanke Allgemeinheit, sondern das Allgemeine, das im Kosmos nur dort ist, wo zwei Lebendige existierend einander gegenüberstehen und zugleich in Einheit miteinander verbunden sind. Dieses erste freie Allgemeine ist nur dort, wo mindestens zwei Menschen mit einander sprechen.“ (SuB VI/3, 496.) Gott ist nicht von einem Einzelnen zu erfassen. (Vgl. SuB VII, 708 u. ö.) Das Absolute als Beziehungsgefüge ist auch nur relational zugegen und zu erkennen. „In der christlichen Religion begegnet Gott nicht als der Herrscher im Himmel, sondern im Bild des Vaters und, was entscheidend ist, in der
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Beziehung der Liebe zu meinem Nächsten. […] Wo Göttliches begegnet, ist immer schon der andere Mensch.“ (A. a.O., 709.) Liebrucks warnt davor, die Sprachgemeinschaft der Menschen als Gemeinschaft von Nächsten als Kommunikationsgemeinschaft mißzuverstehen. „Der Ausdruck [Kommunikation, S. L.] hat sozusagen innersprachlich schon entschieden, daß der Mensch auch in der Begegnung mit dem anderen Menschen immer technisch-praktisches Wesen bleibt.“ Nach Liebrucks’ Meinung denke der moderne Mensch beim Wort „Kommunikation“ nicht mehr „an eine communicatio Gottes mit dem Menschen. Die Entscheidung darüber, ob alle Rede von der communicatio des Menschen mit Gott, die zugleich eine communicatio mit dem Nächsten ist, nur der metaphysische Schleier dafür war, die Kommunikation als eine praktisch-technische zu erkennen und zu praktizieren, ist schon in solchen Ausdrücken wie Kommunikationsgemeinschaft oder der Rede von Interaktionen gefallen. Der Mensch ist emanzipiert von Gott, aufgeklärt über sich. Nach der nun für die Logik nicht mehr relevant angesehenen Meinung der Metaphysik war er darin zugleich emanzipiert vom anderen Menschen.“ (SuB VI/3, 97.) Die Emanzipation ist Ausdruck des Mißtrauens, in das Hegel wiederum ein Mißtrauen zu setzen aufruft. Dieses erste Mißtrauen gewinnt philosophisch Ausdruck in der säkularen Selbstbehauptung des modernen Subjekts. Descartes‘ c o g i t o oder Kants transzendentales Subjekt sind hierfür Gewährsgrößen. Die Emanzipation ist der Rückzug in das Urteilssubjekt, das sich als prinzipielle Identität behauptet, eine den Wandel der Dinge verstandesmäßig beherrschende unwandelbare Position. Das emanzipierte ist das isolierte Subjekt, das sich in seiner geradlinigen Gegenüberstellung zu seinen Objekten selbst zu einem solchen stilisiert. Subjekt ist es nur als sprechendes. Als solches konstituiert es sich über seinen Gesprächspartner, den es als sich entsprechenden anspricht und von dem es sich empfängt, indem es von diesem als korrespondierendes Subjekt angesprochen wird. Auch in einem Selbstgespräch adressiert das Subjekt ein allgemeinmenschliches Ich in sich und hat sich nur auf diesem Umweg. „Der Mensch findet sich nur auf dem Umweg über die Transzendenz seiner selbst.“ (SuB III, 616.) In jedem seiner Worte spricht er sich als Subjekt im Allgemeinen aus. Seine Selbstkonstitution geschieht – auch wenn er sich diese Einsicht in der Emanzipation verweigert – im Vertrauen in den Mitmenschen und im Vertrauen auf das von der Philosophie benannte Eine, das die Religion „Gott“ nennt: die absolute Identität, in der sich die einzelnen Subjekte entsprechen. Jedes Wort, das der Mensch spricht, steht in dem doppelten Vertrauen: als ζωον πολιτικον zu den Mitmenschen, als ζωον λογον ɛχον zu Gott. „Wenn das Vertrauen zu Gott zugleich das Vertrauen zum Nächsten ist, worin die positive Vorstellung von Gott als einem Herrn gefallen ist, so liegt darin der Umweg, den wir einschlagen müssen, wenn wir den Menschen als zoon politikon zugleich als das zoon logon echon denken,
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und damit den Weg finden wollen, auf dem einstmals auch politisches Vertrauen wieder möglich sein wird.“ (A. a.O., 560.) Das Vertrauen in Gott und den Nächsten „ist die erste Kategorie der Sittlichkeit“. (A. a.O., 557.) Wo gegenseitiges Vertrauen herrscht, eröffnet sich die Sittlichkeit als „die Sphäre, der Raum, den die sich sittlich Verhaltenden sich gegenseitig einräumen. Die einzelnen Gestalten, an denen wir sowohl den äußeren Raum wie den sittlichen erfahren, sind die Indikationen der Sittlichkeit.“ (A. a.O., 473.) Somit ist die Wiedergewinnung des Vertrauens in den Mitmenschen, den das Neue Testament den Nächsten nennt, auch die „erste Bedingung dafür, daß der Mensch seine politischen Verhältnisse gemäß seiner Sprachlichkeit ,umfunktioniert‘, wie der undialektisch-barbarische Ausdruck heute lautet […]“. Es ist die „Wiedergewinnung des dialektischen Denkens.“ (A. a.O., 307.)⁶²⁰ „In sich selbst beim anderen zu sein, beim anderen in sich selbst zu sein, war die noch mythologisch vorgetragene Lehre des Neuen Testaments von der Nächstenliebe. In der Idee bei der Sache zu sein, den Begriff nicht als einen der Sache fremden zu haben, ist die Lehre der Hegelschen Philosophie.“ (A. a.O., 95.) In der hegelschen Logik findet Liebrucks „nichts weiter als die […] Definitionen Gottes, der mitten in unserem Weltumgang seinen Platz hat.“ (A. a.O., 177.)⁶²¹ In seinem Schicksalsbegriff habe Hegel die Botschaft der Vaterunser-Bitte „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“ entfaltet. „Dieses Aufnehmen des anderen Schicksals in das eigene, die Nächstenliebe, ist die Realisierung der Wahrheit des Satzes, daß Leben nicht vom Leben verschieden ist, im höchsten Gebot des Neuen Testaments, das nur noch dem Gebot der Gottesliebe gleich ist.“ (SuB III, 112.) Das Schicksal⁶²² des anderen ist auch das meine, weil wir beide Momente des Absoluten sind, in dem unser Schicksal aufgehoben, versöhnt ist. Für Liebrucks nimmt Hegel in der Entwicklung seines Schicksalsverständnisses in den Theologischen Jugendschriften – wenn sie auch zu seinen frühen und keineswegs ausgereiften Ausführungen gehören – die gesamte Dialektik des Geistes vorweg, da er hier zum ersten Mal Einsicht in die Sprachlichkeit des Menschen erlangt. (Vgl. a. a.O., 226.) „Er hat diesen Gedanken gefunden, wo allein er zu finden ist, in der Lehre von Gott als dem Fleisch gewordenen Logos.“ (A. a.O., 112.) Liebrucks entwickelt diesen Gedanken sprachphilosophisch weiter: Gott
620 „Immer geht der einzelne in den konkreten politischen Verhältnissen durch die Antwort, die er als sprachlich Handelnder innerhalb der Verhältnisse gibt, aus der Gewißheit seiner moralischen Pflicht in die Wahrheit seiner sittlichen Pflicht über.“ (A. a.O., 569.) 621 Hegels Logik „ist kein Gottesbeweis. Sie ist zum Ruhme Gottes geschrieben. Das wirkliche Ansprechen des Nächsten ist immer der Ruhm Gottes.“ (SuB VI/1, 383.) 622 Zum Begriff des Schicksals bei Hegel vgl. die Ausführungen im Kapitel über die Gestalt des Abraham.
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steht nicht als Herr über den Menschen, sondern wird Mensch in jedem Wort, das Menschen denken oder aussprechen.⁶²³ So ist er mitten unter uns. Die Inkarnation ist nicht einmalig in Jesus Christus. Sie ist bisher in einmaliger Weise in ihm offenbar geworden. Er ist Gestalt der Erkenntnis, daß jeder Mensch D e u s h o m o ist, existierender Begriff, sinnlicher Geist, zugleich immanenter und transzendenter Logos. Liebrucks gibt dieser Einsicht eine eigene Gestalt in der metaphorischen Rede von der freien Marionette. Um zu begreifen,warum die Freiheit des Menschen in seiner Unfreiheit begründet liegt, ist ein Zusatz zu beachten, den Liebrucks der Umschreibung des Menschen als Marionette Gottes hinzufügt: Frei ist der Mensch als Marionette des Gottes der Liebe. (Vgl. SuB V, 247.) Liebrucks scheint den platonischen Eros und die christliche Agape als Einsichten in die geistig-geschlechtliche Einheit zu verstehen, die der Mensch ist. Beide könnten seiner Meinung nach zwei Bilder ein und derselben Wahrheit sein. (Vgl. SuB I, 340.) Wenn man Liebrucks’ Theorie der Doppelbewegung zwischen Gott und Mensch verfolgt, kann für ihn nach den traditionellen Charakteristiken von Eros und Agape nur der Zusammenschluß beider die Einheit von Gott und Mensch bezeichnen. Bei Platon ist der Eros die Tendenz des Niederen zum Höheren, des Unvollkommenen zum Vollkommenen, der Weg, auf dem der Mensch zum Göttlichen hinaufsteigt. Die Agape des Neuen Testaments zeigt dagegen eine Bewegungsumkehr der Liebe an: Liebe ist zunächst die Bewegung Gottes zum Menschen. Sie ist – dann im Liebesgebot auch vom Menschen gefordertes – Herabneigen des Edlen zum Unedlen. Die Zusammenschau beider Liebesbegriffe findet sich erstmals bei Augustin. Seine Vorstellung der Caritas ist weder Eros noch Agape, ebenso wenig deren Summe. Caritas ist die Synthese der griechischen Eros- und der christlichen Agapevorstellung. Sie ist, mit Hamann gesprochen, der Weg Gottes zu den Menschen, welcher der Weg des Menschen zu Gott ist. Das Gegenstück zur Nächstenliebe,welche die Hinwendung zum lebendigen Geist, das Aushalten der Veränderung und Entzogenheit ist, ist das, was Hegel als „Liebe um des Toten willen“
623 Somit ist aber ein Gottesbegriff vorausgesetzt, der nicht substantiell ist, sondern Gott als Aufhebung von Substantialität und Subjektivität denkt. Dieser Gott ist der sich im Subjekt selbst denkende absolute Geist. In der Logik des Absoluten verwirklicht sich dieses ebenso wie der subjektive Geist, in dem sich das Absolute selbst denkt, im Aushalten des Anderen, in bezug zu dem es sich als Identität erweist. Der Andere ist dann nicht der Fremde, gegen den sich Identität gewaltsam behauptet, sondern der Andere, den logisch als sich ebenbürtiges Subjekt anzuerkennen, bedeutet, sich selbst als Subjekt zu konstituieren. „Innerhalb der substantiellen Gestalt von Bewußt-Sein ist der Mensch nicht frei, demjenigen, dem Gewalt angetan werden kann, keine Gewalt anzutun. Erst als existierender Begriff kann er sein Nein zu jeder Gewalt sprechen und tun. In der Gewalt manifestiert die Macht der Ursache sowohl sich wie ‚das Andere‘. Sobald Gott im Menschen einsieht, daß er in der Gewalt nicht nur das Andere manifestiert, sondern auch sich, hat der Mensch als Mensch begriffen, wer er ist: die Negation von Wirkung und Gegenwirkung, der Begriff.“ (SuB VI/2, 439.) Besonders auffällig ist an diesem Zitat die Identifizierung von Selbsterkenntnis Gottes und Selbsterkenntnis des Menschen: Wenn Gott einsieht, hat auch der Mensch begriffen. Dies ist eine Pointierung des hegelschen Philosophems des subjektiven Geistes als Moment des absoluten Geistes.
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bezeichnet: „Sie liebt nicht den Nächsten, sondern im positiven Umgang mit ihm sich selbst, was das Gegenteil des obersten Gebotes der Nächstenliebe ist.“ (SuB III, 158.) Diese „Liebe“ kann das Andere nicht sein lassen, was es ist, sondern will eigentlich beherrschen; sie liebt, was sie herstellt und darin sich selbst als dessen Hersteller, der seine Handschrift in seinen Herstellungen hinterläßt. Diese „Liebe“ ist der subjektive Idealismus, eine Vereinseitigung von Selbsttätigkeit, die jeder Liebe, die immer den Anderen will, zuwiderlaufen muß.
Liebe ist die höchste Stufe des Geistes, das Aushalten des Widerspruchs. Liebe ist die Einheit des Entgegengesetzten, dessen Unterschiedenheit in dieser Einheit bewahrt ist. Sie ist höchste dialektische Kategorie, der absolute Unterschied selbst: absoluter Geist. „Das ist die höchste Stufe des Geistes, deren der Mensch fähig ist. In unserer europäischen Tradition erscheint er als christlicher Geist. Es ist das Höchste, was dem Menschen abverlangt werden kann, was er sich selbst abverlangen muß, wenn er mit dem Nächsten so menschlich leben können soll, daß das Gebot ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ und die Liebe Gottes zusammenfallen. Damit hätte der Mensch eine Sittlichkeit erreicht, die sprachlich ist, die dem mythischen Bild von Gott als dem Logos entspricht. Die Entgleisungen innerhalb dieser Stufe liegen in der Geschichte zweier Jahrtausende vor uns. Aber es sind die Entgleisungen der bis heute höchsten Stufe. Es sind die Entgleisungen sowohl ihrer Sittlichkeit wie ihres Denkens.“ (SuB V, 247.) Die Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe ist als sprachliches Handeln sittliches Handeln; davon wird später mehr abzuhandeln sein. Zu trennen sind die Begriffe der Sittlichkeit, der Sprache und der Liebe nicht; man kann sie allenfalls jeden für sich akzentuieren, so wie an dieser Stelle das Motiv der doppelten Liebe zu Gott und zu den Menschen in den Vordergrund rückt. Dialektisch gedacht sind die zwei Gebote – Gott zu lieben und den Nächsten – nur ein Gebot, weil der Anerkennung des Nächsten die Anerkennung eines gemeinsamen Grundes inhäriert, aus dem heraus sich die Subjekte als sich entsprechende erkennen. „Wird das oberste christliche Gebot: ‚Liebe deinen Nächsten als dich selbst‘ ausgesprochen, so ist das nicht als Grundsatz, sondern als Verhältnis des Einzelnen zum Einzelnen zu verstehen. Sollte im Gebot der Liebe das Gebot des Begriffs stecken, so wäre dem Satz sowohl sein Grundsatzcharakter wie die Sentimentalität genommen. Liebe des Nächsten und Gottesliebe fielen zusammen.“ (A. a.O., 179.) Die Übersetzung, man solle den Nächsten als sich selbst lieben (wie in alten Lutherausgaben, daher auch bei Hegel zu finden), macht deutlich: im Anderen begegne ich mir, der Andere ist ein mir entsprechendes Subjekt. Das Doppelgebot der Liebe kann sprachphilosophisch in folgende Worte übertragen werden: Sieh Deinen Nächsten als Subjekt in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung an, durch dessen Anerkennung auch Du nur Subjekt bist („liebe ihn als Dich selbst“)! Sieh Euch als Momente des Absoluten an! Liebrucks erkennt diese dialektische Verschränkung von Allgemeinem und Besonderem auch in der zweiten Formulierung des Kategorischen Imperativs durch
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Kant, der die Bewahrung der Selbstzweckhaftigkeit eines jeden Menschen in den Vordergrund jeglichen Handelns stellt: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“⁶²⁴ Liebrucks hält diese Formulierung des kategorischen Imperativs für die „vielleicht genialste Formulierung“ Kants, sofern sich darin eine Ethik abzeichnet, die „in Analogie zur Sprachlichkeit des Menschen“ steht. (SuB III, 306.) „Sage ich: Handle so, daß du dich in deinem Verhalten immer zugleich zu dir selbst wie zur Menschlichkeit des Nächsten wie zur Sache verhältst, so ist solche von der Sprachlichkeit her intendierte Sittlichkeit eher der Forderung des Neuen Testamentes verwandt, die die Nächstenliebe und die Liebe zu Gott als die höchsten Gebote ansieht. Dialektisch sind die zwei Gebote nur ein Gebot. Die Sprachlichkeit im sittlichen Verhalten des Menschen liegt darin, daß die Liebe zum Nächsten zugleich Gottesliebe ist, die nicht mehr nur in der Ebene des Gefühls, sondern in der des Geistes, d. h. für uns immer in der des ganzen Weltumgangs des Menschen lebt.“ (A. a.O., 366.)⁶²⁵ Die zweite Formulierung des kategorischen Imperatives fordert die Anerkennung des Allgemeinen im Besonderen⁶²⁶ ein: als Bewahrung der Selbstzweckhaftigkeit eines jeden Menschen, auch wo uns dieser gegenständlich erscheint. Damit unterwandert Kant laut Liebrucks seine eigene formalistische Ethik. In der zweiten Formulierung des 624 Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg.v. Valentiner, Theodor, Stuttgart 2000, 79. 625 Der von Liebrucks formulierte sittliche Imperativ lautet: „Verhalte dich sprachlich.“ (SuB I, 4.) Ein Imperativ, der zugleich formuliert, was geschehen soll – und was immer schon geschieht, denn als sprachliches Wesen kann der Mensch sich nicht unsprachlich verhalten, auch wenn er diesen Wesenszug vernachlässigen kann. Also ist mit der Aufforderung zum sittlichen als sprachlichen Handeln eigentlich gesagt: „Nimm deine Sprachlichkeit in dein Bewußtsein auf, vor allem dort, wo du handelst.“ (Ebd.) 626 Die Aufforderung, „jederzeit“ das Allgemeine im Besonderen anzuerkennen, sagt nicht aus, daß dieses Allgemeine stets unter derselben Form erscheint. Auch darin zeigt sich die Geschichtlichkeit der Sittlichkeit – vom absoluten Begriff kann man viele Begriffe haben. „Die Begründung dafür, was als sittlich angesehen werden kann, muß, selbst wenn sie die Verallgemeinerungsfähigkeit der Maxime in sich enthält, diese doch in bezug zur jeweiligen Bewußtseinsstufe setzen.“ (SuB III, 350.) Die sittliche Angemessenheit einer Handlungsmaxime reicht so weit, wie das Sittlichkeit Verlangende in der erlangten Bewußtseinsstufe erkannt ist. Im Fortgang der Bewußtseinsentwicklung erscheinen die vorangegangenen Bewußtseinsstufen nicht nur als Irrtümer, sondern als unsittlich. Die Verallgemeinerung der Maxime bewegt sich im Ausmaß dessen, was in der erreichten Bewußtseinsstufe als allgemein gilt: z. B. ein AbstraktAllgemeines (Kant) oder ein Konkret-Allgemeines (Hegel). Innerhalb einer Bewußtseinsstufe muß die Maxime aber volle Geltung haben und darf nicht unter das erreichte Bewußtsein zurückgehen, wenn nicht einem Libertinismus stattgegeben werden soll. Eine Maxime, die nicht dem Bewußtseinsstand einer Gesellschaft entspricht, kann nicht als sittlich angesehen werden. Sittlichkeit ist ins Verhalten getretene Erkenntnis.
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kategorischen Imperativs ist die Voraussetzung der ersten Formulierung darüber belehrt, daß die Würde als die wahre Menschlichkeit des Menschen nicht in seiner Zugehörigkeit zu einer erfahrungsenthobenen, intelligiblen Welt zu vermuten ist. „Die Würde des Menschen besteht nicht in einer hochgezüchteten Moralität oder Sittlichkeit, sondern in der Einsicht in seinen logischen Begriffsstatus, in der Einsicht, daß er als existierender Begriff nicht wollen k a n n , was zu wollen er sich nur unter Preisgabe seiner selbst als Bewußt-Sein einbilden kann.“ (Sinnfrage, 284.) Die Würde des Menschen als Movens sittlichen Handelns kann für Liebrucks keine rein nominelle Größe sein, sondern muß aus der Erfahrung des Bewußtseins erkennbar sein, wenn sie gefordert sein können soll. Die Würde des Menschen besteht darin, frei und also zur Sittlichkeit befähigt zu sein. Seine Freiheit befähigt den Menschen zum sittlichen Handeln, wie sie es von ihm fordert, weil sittliches Handeln Freiheit zum Ausdruck bringt. Das sittliche Gut, die Freiheit des Menschen, ist a d a b s u r d u m geführt, wenn sie als ein dem Dasein des Menschen äußerlich bleibendes Sollen verstanden wird. Freiheit ist nur, wo sie verwirklicht wird. Die Freiheit des Menschen konkretisiert sich in seinem Bewußtsein zu sich selbst. Der Mensch ist das Wesen, das einen Begriff von sich hat: Seine Freiheit verwirklicht er in seiner Selbstentsprechung. Ist der Mensch aber existierender Begriff, so erfolgt auch die Verwirklichung seiner Freiheit als Selbstentsprechung immer zugleich in der Symbiose seiner intelligiblen Fähigkeiten und seines sinnlichen, geschichtlichen Daseins. „Das ins Bewußtsein Heben seiner leiblichen Existenz ist sowohl ethisch-praktisch wie theoretisch das Gute. Der Mensch ist in dem Maße gut, als er seiner leiblichen Vernunft auf dem Weg der Bewußtwerdung nicht ausweicht.“ (SuB VI/3, 563.) Die Verwirklichung von Freiheit an Leib und Seele sieht Liebrucks im sich als Sprache vollziehenden Weltumgang gegeben. „Der Mensch ist von Haus aus weder natürliches noch ‚geistiges‘ Wesen, sondern sprachlich. Als sprachliches Wesen hat er zu allen Zeiten gehandelt und zu allen Zeiten in allen Weltbegegnungsweisen gelebt, also auch philosophiert. Die Szene ändert sich dadurch ganz, daß er seine Sprachlichkeit in sein Wissen und seinen Willen aufnimmt.“ (SuB III, 381.) Seine Sprachlichkeit ist der Grund seiner Freiheit, demzufolge wird „die ganze Sprache des Menschen [..] zum Zeigfeld dafür erhoben, daß und zugleich wie er sittlich handeln kann.“ (A. a.O., 380 f.)⁶²⁷ Was Liebrucks sittliches resp. sprachliches Handeln nennt, ist die Verwirklichung eigener Freiheit im Zugeständnis der Freiheit des Anderen. „In jedem
627 „Wir haben die These aufgestellt, daß der Mensch sprachlich denkt, handelt und sich auf dieser Welt bewegt. Das muß auch im Sittlichen gelten. Die Sprachlichkeit seiner Sittlichkeit kann nur auf dem Grunde des dialektischen Begriffs erscheinen, der zum Zeigfeld dafür zu erheben ist, was der Mensch tun muß, wenn seine Handlungen sittlich genannt werden können sollen.“ (A. a.O., 355.)
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Augenblick, in dem der Mensch den anderen Menschen frei läßt, handelt er, als sei er Gott, dessen Macht darin besteht, seine Zwecke auf dem Weg über die Freiheit des Menschen zu erreichen. Man kann nicht die Meinung vertreten, solche Augenblicke gäbe es im Menschenleben nicht. Dieser Augenblick ist immer dort gegeben, wo der Mensch mit dem anderen Menschen spricht und mit ihm im Raum der Sprache handelt.“ (SuB VI/3, 594.)⁶²⁸ Der „Raum der Sprache“ öffnet sich in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, in welcher der Mensch insofern Gott gleich, i m a g o D e i , ist, als er seine Identität schafft, indem er sich in seinen eigenen Unterschied entläßt. Sprachliches Handeln ist die Überwindung einer kainitischen Selbstbehauptung durch Ausschluß der Individualität des Anderen. Kain handelte nicht sprachlich; an ihm erweist sich die Sünde seiner Eltern, die Unterbrechung des Dialoges mit Gott, als Sünde am Mitmenschen, als Unterbrechung des Dialogs mit dem Nächsten. Der Mensch ist Kain, wo er den Mitmenschen unter Ausschluß der Unendlichkeit alles Endlichen betrachtet: prinzipiell, als Abstraktum. „Handle sprachlich heißt nicht: handle auf dem Boden von synthetischanalytisch hergestellten Einteilungen. Handle sprachlich heißt: du bist nun lange genug Totschläger gewesen.“ (SuB VI/3, 544.)⁶²⁹ Es „lautet der Imperativ: ‚Handle sprachlich!‘, weil wir erst dann in einer monadischen Individualität sind, die zugleich allgemein ist.“ (SuB VII, 838.) Der sittliche Imperativ „Handle sprachlich!“ bestimmt Sittlichkeit als sittliche Praxis (Handeln), nicht als Poiesis (Herstellen). (Vgl. SuB VI/3, 562 u. ö.) Der Unterschied zwischen beiden liegt in der Reflexivität sprachlichen Handelns als eines nicht-linearen, das sich im Verhalten zu seinem Anderen immer zugleich zu sich selbst verhält. (Vgl. Handlung, 352.) Sprache ist im m o d u s r e c t u s immer zugleich m o d u s o b l i q u u s . In der Sprache fallen das Wirken des absoluten Geistes und das Wirken des subjektiven Geistes – in Anlehnung an die Selbstaussage des inkarnierten Logos in Joh 14, 6 – „[d]er Weg und die Wahrheit [..] zusammen. […] Das Erdbeben innerhalb der Logik selbst ist die Güte Gottes, seine Erlaubnis, daß der Mensch nicht nur als Kain auf der Erde wohne, sondern auch als sich entwickelndes Sprachwesen einen Platz erhalte. Unsere Verzweiflung macht uns allerdings oft glauben, daß Gott nur Kain,
628 Dagegen ist die verwehrte Anerkennung des Anderen als Gesprächspartner Ausdruck eigener Unfreiheit. „Etwas kann nur als begrenzt zugleich begrenzend sein. Indem ich den Nächsten als Nächsten negiere, gegen ihn kämpfe, zeige ich mich als Begrenzter. Liquidation des Anderen ist immer schon Selbstliquidation. In der Sprache ist diese Erfahrung der Menschheit aufbewahrt. Die christliche Religion hat das im Sprachkleid vorgetragen.“ (SuB VI/1, 355.) 629 Das geforderte Heraustreten aus der Totschlägerreihe ist ein Motiv aus Kafkas Tagebucheintrag vom 27. Januar 1922, in: Kafka, Franz, Tagebücher 1910 – 1923, hg.v. Brod, Max, Frankfurt a. M. 1967, 406.
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d. h. den handelnden Menschen liebt, der zwar poiesis und praxis unterscheiden gelernt hat, dafür aber um so wissender an das Handwerk des Tötens geht. Dieses Wissen ist nicht im emphatischen, sondern im philosophischen Sinn absolut, weil es sich aus der Knechtschaft der Erstellung der Welt der Positivität befreit hat. Es wird stärker sein, wenn wir annehmen, daß das Leben, der Weg und die Wahrheit stärker sind als der Tod. Die Wissenschaften im Reich der Positivität dagegen müssen immer den Tod als letztes Ziel alles Geschehens ansehen.“ (SuB V, 354.) Das Bewußtsein als Erdbeben erfährt eine Erschütterung, das Zusammenstürzen der Verstandesregeln im Durchbruch der ersten zur zweiten Reflexion. (Vgl. SuB IV, 71.) Die Welt gerät aus den vom Verstand projizierten Fugen. Die handlungsförmige Standarisierung des Weltumgangs wird in der Sprache gebrochen, indem sie sich selbst thematisch werden kann. In dieser Selbstreflexivität hält sie ihr Handeln als Handeln am Anderen bewußt und macht diesen immer nur indirekt zu ihrem Objekt.Kantisch gesprochen: Sie bewahrt dessen Selbstzweckhaftigkeit, auch wenn sie sich in zweckmäßiger Absicht auf ihn richtet. „So kann man sagen, daß nur die sprachliche Handlung sittlich gut ist.“ (SuB V, 255 f.) Weil nur in der sprachlichen Handlung das handelnde Subjekt zutage tritt und damit auch dessen Ambitionen. „Erst wer sagt, was er getan hat, verhandelt sich […].“ (A. a.O., 256.) Das Verhandeln ist der erste Schritt zum sprachlichen Handeln, da in ihm das Gegenüber des handelnden Subjekts erstmals angesprochen, in einen Dialog eingeholt ist und sich selbst mitteilen darf. Die Ver-Handlung ist vermittelte Handlung, Eintritt in dialektisches Denken, während „Beherrschen und Denken sich ausschließen“. (SuB III, 122.) Im Beherrschen muß sich ein Subjekt über andere setzen, anstatt sie als seine Nächsten zu lieben. Im sprachlichen Handeln ist auch der Beherrschte als Nächster angesprochen. „Je sprachlicher das Handeln ist, desto mehr nähert es sich dem sprachlichen Charakter der Zurücknehmbarkeit.“ (A. a.O., 69.) Handlung will Eindeutigkeit, sie fertigt etwas. In der Sprache sind stets alle Möglichkeiten, auch vergangene und zukünftige präsent, das Allgemeine im Konkreten. „Die Handlung ist unwiderruflich. Dagegen ist die Antwort als Sprache widerruflich.“ (Ebd.)
III. Das Sittliche in der Kunst: Die Tragödie des Bewußtseins In der Behandlung des Themas der Sittlichkeit überlagern sich bei Liebrucks antike und christliche Tradition. Er selbst klärt den Hintergrund seines Denkens, indem er betont, daß „die antike Tragödie sowie das Alte und Neue Testament als unsere geschichtlichen Erkenntnisstämme angesehen werden müssen. Das Ausmaß der Kraft, beide gegenwärtig zu halten, ist das Ausmaß der Kraft europäi-
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schen Denkens.“ (SuB IV, 517.)⁶³⁰ Der Schnittpunkt zwischen hellenistischer und jüdisch-christlicher Tradition ist eine Kunstform: die Tragödie. Diese wird von Liebrucks als adäquate Darstellung der dialektischen Eigenbewegung des Absoluten eingestuft; dies zeigt sich darin, daß er die Eigenbewegung des absoluten Geistes selbst als Tragödie bezeichnen kann. (Vgl. SuB V, 209 u. ö.) In seiner Beurteilung der griechischen Tragödie als „Versuch, die wirklichen Verhältnisse auf Grund einer poetischen Logik zu erkennen“, bekundet Liebrucks abermals seine Bindung an seinen Ziehvater im Geiste: Hegel. (SuB VII, 234.) Mit einem kurzen Verweilen bei Hegels Dramentheorie läßt sich erschließen, wie Liebrucks den Bogen von den Betrachtungen zur Sittlichkeit über den Kunstbegriff bis zur christlichen Tradition spannen kann. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik (1817– 1829) macht Hegel das Schöne in der Kunst zum Hauptgegenstand seiner Untersuchungen. Als aus dem Geist geboren übertrumpft das Kunstschöne das Naturschöne. Kunst bildet nicht nur ab, vielmehr ist das Kunstwerk das Erscheinen des absoluten Geistes als Ideal. Die Sinnlichkeit künstlerischer Präsentation ist ihr Charakteristikum und ihre Abgrenzung zur Darstellung des absoluten Geistes in der Philosophie, in der Hegel die eigentliche Darlegung des Absoluten als Wahrheit im Begriff sieht. Als sinnliche Präsentation des absoluten Geistes ist Kunst aber bereits Ausdruck der Wahrheit. Hegels Kunsttheorie behandelt demnach nicht allein ästhetische Kategorien, sondern die Identität von Subjektivität und Substantialität als wechselseitiges Durchströmen von Idee und Wirklichkeit, von Allgemeinem und Besonderem. Die Darstellung des Absoluten wird in den verschiedenen Epochen und Stilrichtungen der Kunst in unterschiedlichem Maße geleistet. Erfüllt sieht Hegel die Funktion der Kunst allein in der „klassisch“ genannten Kunst der Antike. In ihr hätten die Menschen einen Zugang zum Absoluten in seiner Gegenwart als subjektive Freiheit gehabt. Obgleich Hegel die Kunstgattung der Plastik für die geeignetste Form zur Gestaltung der Identität von Substantialität und Subjektivität hält, spricht er auch der Tragödie einen besonderen Stellenwert in der künstlerischen Repräsentation des Absoluten zu. Hegels Tragödientheorie geht zunächst von einer Individualisierung allgemeiner substantieller Mächte in tragische Charaktere aus. Diese treffen in einem Konflikt aufeinander, der in der Kollision ihrer Machtansprüche besteht. Die Tragik der Gestalten entfaltet sich in der Unmittelbarkeit des Widerspruchs, den 630 An anderer Stelle verweist Liebrucks ausdrücklich darauf, „[…] daß wir keine Stelle der Gegenwart berühren, wenn wir nicht den Umweg über die Griechen und zweitausend Jahre Christentum einschlagen.“ (SuB III, 493.) – „Die beiden Stämme des sprachlichen Begriffs heißen für Europa Antike und Christentum.“ (SuB VI/3, 326.)
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sie zueinander bilden, weil sie in ihren Machtansprüchen gleichberechtigt sind. Die Tragödie ist die Forderung nach einer Konfliktlösung nicht auf rechtlicher, sondern auf sittlicher Ebene: Tragik verleiht der Sehnsucht nach Versöhnung Ausdruck. Die Tragödie handelt nicht von rechtlichen oder moralischen Konflikten, auch wenn sie deren Form zur Darstellung wählt. Sie thematisiert den Konflikt des Individuums, sich als Besonderes im Allgemeinen wiederfinden zu können. Da die Lösung des Konflikts darin besteht, die Selbständigkeit der Subjekte im Absoluten zu inszenieren, ist das eigentliche Thema der Tragödie die Sittlichkeit. „Die wahre Entwicklung besteht nur in dem Aufheben der Gegensätze als Gegensätze, in der Versöhnung der Mächte des Handelns, die sich in ihrem Konflikt wechselweise zu negieren streben. Nur dann ist nicht das Unglück und Leiden, sondern die Befriedigung des Geistes das letzte, insofern erst bei solchem Ende die Notwendigkeit dessen, was den Individuen geschieht, als absolute Vernünftigkeit erscheinen kann und das Gemüt wahrhaft sittlich beruhigt ist: erschüttert durch das Los der Helden, versöhnt in der Sache.“⁶³¹ Die Tragödientheorie bietet eine weitere Gelegenheit, an die Ausführungen zum adamitischen Bewußtsein anzuknüpfen. Der Sündenfallmythos erzählte vom Aufbruch des Bewußtseins in die Selbstbehauptung als Subjekt. Dieses mit dem hegelschen Terminus des Fürsichseins benannte Bewußtsein ist der Held der griechischen Tragödie. Daß diese Kunstform jedoch erst in diesem dritten Teil der bewußtseinstheoretischen Bibellektüre Erwähnung findet, hat seinen Grund darin, daß es das Charakteristikum der antiken Tragödiendichtung ist, seine Helden wie seine Zuschauer über diesen Status des Fürsichseins hinauszuführen. Die Tragödie ist Darstellung der Entfremdung als Anerkennung des Selbständigen im gleichzeitigen Leiden an dem Unvermögen, die Selbstbehauptung der Einzelnen miteinander in Einklang zu bringen. Diese Kunstform ist daher adäquate Darstellung des zu sich kommenden Bewußtseins. Die antike Tragödie scheint allerdings einer christlichen Interpretation zu bedürfen, um ihr erkenntnistheoretisches Potential vollkommen auszuschöpfen. Hegels Dramentheorie nimmt ihren Ausgang von der Poetik des Aristoteles. Dieser spricht vom Fehler des tragischen Helden, welcher dem dramatischen Handlungsablauf den Anstoß gibt, als αμαρτια.⁶³² In der christlichen Tradition wurde dieser Terminus als „Sünde“ verstanden; ebenso gibt Hegel den aristotelischen Vorgaben eine christlich inspirierte Wendung in seiner Interpretation der
631 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik III, Theorie-Werkausgabe, Bd. 15, hg.v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt a. M. 1970, 547. 632 Vgl. Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg.v. Fuhrmann, Manfred, Stuttgart 1982, 1452b, 30 ff.
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αμαρτια als Schuld der Unschuld, d. i. Trennung des Subjekts von seinem Inhalt.⁶³³ Die Tragödie wird somit als Illustration des Bewußtseinsstatus des Fürsichseins angesehen, allerdings unter dem Aspekt der Krisis. Der Stolz des sich bornierenden Subjekts wird gebrochen, es leidet an seiner Isolation, die es als Unfreiheit erfährt. Als christliches Moment der Charakterisierung des tragischen Helden erscheint sowohl bei Hegel als auch bei Liebrucks die Annahme der Notwendigkeit des Falls des Helden zu dessen Versöhnung mit seinem Schicksal. Die Tragödie des Absoluten erfährt der Mensch als den Widerspruch von Liebe und Furcht, in dem ihm Gott begegnet. Es gibt keine eigenständige Macht des Bösen, die einem guten Gott widerstreitet. Gott als das Absolute trägt alle Widersprüche in sich. Darin erweist er sich als der Allmächtige: Alle Macht liegt beim Absoluten als der Wirklichkeit aller Möglichkeiten. Der allmächtige ist darum der liebende Gott, weil er alle Möglichkeiten in sich aufhebt und den Widerspruch gelten läßt. Dennoch ist er auch der Gott, den wir fürchten müssen. Denn in der Verabsolutierung einer Möglichkeit wird diese zur Gewalt. Gewalt ist die Durchsetzung einer Möglichkeit unter einfacher Negation anderer Möglichkeiten. Wie eine einzelne Möglichkeit nur Moment der Wirklichkeit ist, so ist Gewalt ein Moment von Macht.⁶³⁴ Die „inferiore Gestalt“, als die Gewalt mythisch erscheint, ist ein Aspekt der Macht Gottes. (SuB VI/2, 439.) „Nachdem Gott sich als Ursache, als κοσμος αθɛος entäußert hat, geschieht alle Gewalt im Raum des von ihm vorausgesetzten Anderen.“ (Ebd.) Die Entäußerung Gottes ist der Beginn der t r a g o e d i a c o n s c i e n t i a e . Die „Tragödie, die das Absolute mit sich spielt“, ist das Setzen seiner selbst als κοσμος αθɛος, ein Ausdruck des Nietzsche-Verehrers Pannwitz, mit dem hier die verabsolutierte Gewalt als Nihilismus gekennzeichnet ist. (A. a.O., 438.) Die Auffassung vom κοσμος αθɛος charakterisiert die säkulare Selbstbehauptung der Neuzeit. Seine Selbstbehauptung muß das Bewußtsein auf dem Weg zu sich leisten, in ihr stagnierend wird es sich jedoch selbst unterlegen bleiben. Die Tragödie des Kampfes, in dem das Endliche seinen Unterschied vom Absoluten aufrechterhalten möchte, in der es sich gegen das Absolute als ein Eigenständiges auflehnt, endet immer mit dem Sieg des Absoluten. Als Moment des absoluten Geistes wird der subjektive Geist zur tragischen Figur. Die Tragödie stellt Handlung und Handelnden einander gegenüber. Sie setzt den Helden als denjenigen in Szene, der aus dem sympathetischen Weltumgang herausgefallen ist. Ihm erscheint die Welt unter der Spaltung ihrer Einheit in Subjekt und Objekt. Zunächst bewegt er sich darin als Subjekt, das seine Freiheit als Verfügungsmacht auslebt. Sobald er aber auf Gegenmächte stößt, leidet er an
633 Vgl. Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal. 634 „Jede Macht ist dadurch legitimiert, daß sie aufgehobene Gewalt ist.“ (SuB VI/3, 210.)
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seinem Rückzug in die Selbstbehauptung als an Zerrissenheit. Doch das Ergehen des Helden zeigt sich als durch ihn selbst bestimmt; daher muß er die Katastrophé selbst durchleben, keine ihm äußerliche Macht vermag sie von ihm abzuwenden. Die Individualität tritt auf die Bühne des Bewußtseins. Die Tragödiendichtung offenbart das Subjekt. (Vgl. SuB V, 27.) Sie holt das Göttliche in das Menschliche hinein: Der Held ist ein Mensch. Er zeigt sich als solcher aber immer in Bezüglichkeiten stehend, die ihn auf ein Absolutes der von ihm erfahrenen Relationen verweist. Seine Tragödie ist die Tragödie des Absoluten. Liebrucks sieht in der Sinnlichkeit der künstlerischen Darstellung des Absoluten den Hinweis auf dieses als geistig-sinnlichen Logos erbracht. Sprachlich begriffen erschließt sich das Absolute als logische Einheit von Substanz und Subjektivität, die ihren adäquaten Ausdruck im Kunstwerk findet, sofern dieses in sinnlich erfahrbarer Präsenz zugleich eine über seine unmittelbare Wahrnehmung hinausgehende Bedeutung innehat. Weil sie so das Besondere im Allgemeinen und das Allgemeine im Besonderen bewahrt, ist Kunst eine Form von Sittlichkeit. Sie repräsentiert einen sympathetischen Weltumgang, in welchem die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen ausgedrückt ist. Insofern ist sie „Vorwegnahme des Paradieses im Scheine.“ (SuB III, 284.) Dieser Schein aber ist die Absage an ein substantiell vorgestelltes höchstes Gut. Solches wäre ein dem Menschen äußerlicher Gegenstand, den er sich zu erwerben suchte. Wie diese Aneignung eines dem Menschen Äußerlichen wirklich werden soll, bliebe unbeantwortet. Das höchste Gut, soll es das Gute für den Menschen sein, muß diesem immer schon eignen. Sittliches Handeln besteht dann darin, das Gute zur Geltung zu bringen. Das Gute für den Menschen ist sein wahres Menschsein, die Freiheit zu sich selbst. Seine Wahrheit ist in ihm vorausgesetzt, sie ist die Identität, auf die sich all seine möglichen, individuellen Unterscheidungen beziehen: In all seinen Sonderungen und Selbstverfehlungen bleibt er doch immer Mensch. Seine Identität aber scheint in den einzelnen Momenten seines Seins auf, sie ist kein Seiendes (auch kein postuliertes), sie hat das Sein als Moment an sich. Der Mensch hat seine Identität in der Sprache als seinem Weltumgang: Allgemeines und Besonderes, Sein und Denken sind in ihr vereint. Sprechend bildet er seine Identität aus und verwirklicht darin seine Wahrheit oder verfehlt sie. Insofern stellt seine Sprachlichkeit eine sittliche Forderung an den Menschen. Sittliches Handeln verlangt aber nach einer angemessenen Form. Liegt sein sittliches Handeln in seiner Sprachlichkeit begründet, verlangt es nach einer Form, welche die Sprache als Grund allen Handelns anschaulich werden läßt; eine Form, in der Sprache sich vorspricht. Diese Form ist für Liebrucks im Kunstwerk gefunden, das als Einheit von sinnlicher Präsentation und übersinnlicher Bedeutung zugleich das Zeigen auf sein Entstehen an sich hat. Es präsentiert sich somit als endliches Moment einer Unendlichkeit, die sich sowohl sinnlich als auch ideell entäußert. Daher könnte es
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laut Liebrucks darauf hinauslaufen, „daß der Mensch die Verwirklichung des höchsten Gutes nur auf dem Umweg über die Kunst, auf dem Umweg nicht über das Sein, sondern über das Scheinen der Idee, der Wahrheit aller Wirklichkeit, erreichen kann.“ (Ebd.) Das Kunstwerk bringt den menschlichen Weltumgang als Bewußt-Sein zur Anschauung.⁶³⁵ Die Sprachlichkeit des Menschen kommt vorzugsweise in sprachbetonten Kunstformen zum Ausdruck, allen voran der Poesie. Schon für Vico besteht die ernste Aufgabe jeder Poesie darin, erstens Fabeln zu erfinden, die den Menschen zweitens „erschüttern“ und drittens zu tugendhaftem Handeln führen. (Vgl. SuB I, 275.)⁶³⁶ Poesie ist demnach sittliche Selbstbelehrung des Menschen. Im lyrischen Ich spricht die Menschheit sich aus. Gegen Adorno „muß es nach Auschwitz erst recht Gedichte gegeben […].“ (SuB III, 167.) Die Parolen der Faschisten haben eine Vorstellung des Menschen befohlen, der nicht jeder Mensch entsprechen konnte. Das Individuum ist aber Entsprechung des Allgemeinen. Darin ist es allen anderen Individuen in je unverwechselbarer Eigenidentität gleich. Die Menschheit ist nur als die einzelnen Menschen. Die Wahrheit des Menschseins wird in jedem Augenblick von jedem Individuum neu ersprochen. Sie ist dem Einzelnen zugleich transzendent und immanent. Menschheit konstituiert sich im Sprechen von Subjekt zu Subjekt, das eine Subjektivität und Substantialität in sich aufhebende Allgemeinheit voraussetzt, an der alle Sprechenden teilhaben und die insofern in der Sprache, als Sprache präsent ist. Die Menschheit ist das Ganze aller möglichen menschlichen Äußerungen. In der Begrenzung auf überindividuelle Merkmale dagegen wird der Mensch zu einem Gegenstand unter anderen. Demgemäß wird mit ihm verfahren. Als Beispiel für diese Entsprachlichung, die einer Entmenschlichung gleichkommt, steht Auschwitz, ein trauriger „Triumph der Positivität“. (Ebd.)
Das Ich, in dem sich die Menschheit ein für allemal ausgesprochen hat, ist Jesus Christus. Die mit Adam begonnene Tragödie des Bewußtseins erfährt in Christus ihre Katastrophé. In ihm sind Adam und Abraham nicht abgelöst, sondern bewahrt. Adam und Abraham sind noch nicht Christus, aber Christus ist auch Adam und Abraham.⁶³⁷ Das anundfürsichseiende Bewußt-Sein hat als solches die Momente des Ansichseins und des Fürsichseins an sich, es ist kein eigenständiges Moment neben ihnen. Damit ist der Weg des Bewußtseins zu sich deutlich als Umweg gekennzeichnet. Der direkte Zugriff auf sich selbst ist eine ebenso naive Vorstellung wie diejenige, mit einem (Gedanken‐)Sprung zum Absoluten gelangen
635 „Jedes sprachliche, musikalische und jedes malerische Kunstwerk reißt aus der Natur das göttliche Wort heraus.“ (SuB VI/3, 601.) – Damit ist das Kriterium für die Beurteilung eines Werkes als Kunst benannt. Bedient ein Werk nicht die Darstellung des Unendlichen im Endlichen, sondern unterhält in der Zelebration eines ausgesuchten Moments und ist rein dekorativ, ist es Kitsch. Kitsch zielt auf die Erregung subjektiven Gefühls. (Vgl. a. a.O., 33.) 636 Vgl. Vico, Neue Wissenschaft, 153. 637 So überliefert das Neue Testament, Jesus habe zu den Juden gesagt: „Ehe Abraham wurde, bin ich.“ (Joh 8, 58.)
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zu können. Der Mensch hat alles nur in Vermittlung, auch sich selbst. Er ist Vermittlung – des Absoluten mit sich selbst. Der absolute Geist spielt seine Tragödie als Kenosis in den subjektiven Geist. Es ist die Tragödie der Selbstunterscheidung der absoluten Identität, sich in einzelne Möglichkeiten zu entlassen, in ihnen als Abstraktionen von sich selbst gestorben zu sein und schließlich im bleibenden Bezug zu sich selbst in dieser Entäußerung bis in den Tod zu sich aufzuerstehen. Die Tragödie des Absoluten offenbart sich als Logik des Selbstgewinns im Selbstverlust in der Gestalt des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Da der subjektive Geist Moment des absoluten ist, offenbart sich ihm am Kreuz die Logik seines eigenen Weltumgangs, seiner eigenen Geschichtlichkeit. In jeder Selbstaussage des menschlichen Ichs legt sich dieses auf ein Moment fest und ist sich in diesem selbst gestorben. Im bleibenden Bezug all seiner Bestimmtheiten auf sich selbst ersteht es immer wieder zu sich auf als der Einheit von Identität und Nicht-Identität. In seinem logischen Weltumgang wird das Ich unablässig gekreuzigt und auferweckt. Jedes seiner Worte stirbt im Augenblick, da es gesprochen oder gedacht wird, und gibt seine Bedeutung in dieser Entäußerung an den Zusammenhang, in dem es steht, frei. Es ist zu seiner Bedeutung auferstanden. In jedem Wort, das wir sprechen, vollzieht sich die Logik des Wortes, das uns das Neue Testament als den Gekreuzigten und Auferstandenen verkündet. In jedem seiner Worte stirbt das sprachliche Bewußt-Sein den eigenen Tod, indem es sich aus der Unendlichkeit der Unbestimmtheit zu einer endlichen Äußerung bestimmt. Zugleich ist es als das diesen Tod Aussprechende bereits von ihm auferstanden: Das Über-sich-hinaus-Bedeuten jedes Wortes zeigt die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen an. „Dieser dauernde Tod, diese dauernde Auferstehung des Bewußtseins, dieses dauernde Bestehen der neuen Erfahrungen an dem neuen Gegenstand, der ihm wurde und den es sich in den letzten Stufen so gut machte, wie es ihn fand, ist die Geschichtlichkeit des Bewußtseins. […] Die dauernde Entfremdung des Bewußtseins von sich selbst ist ein dauerndes Sterben, das zugleich ein dauerndes Auferstehen ist. Die Struktur der Geschichtlichkeit des Menschen finden wir an dieser Stelle in der bewegten Struktur der Sprache. Sie konstituiert das Ich so, daß es als dauernd verschwindendes Ich sein allgemeines Bleiben hat. […] Die christlich gedachte und in die Philosophie eingeholte Geschichtlichkeit des Menschen besteht in der Tragödie, die das Absolute in allen Weltbegegnungsweisen des Menschen, handele es sich um Kunst, um Erkenntnis oder um Sittlichkeit, mit sich selbst spielt.“ (SuB V, 209; vgl. SuB VI/3, 168.) Kunst, Erkenntnis und Sittlichkeit sind hier gleichberechtigt nebeneinander gestellt, weil es ihnen gemeinsam ist, in ihren Inhalten zugleich ihr Gewordensein zu thematisieren. In ihnen erweist sich das sie vollziehende Bewußt-Sein zum einen als zeitlich existierend: Es entfremdet sich in ihnen zu Abstraktionen seiner selbst; es stirbt in ihnen. Zum anderen ersteht es von ihnen
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zu sich als Bezugspunkt all seiner Setzungen auf und erweist sich darin als der Zeit und Endlichkeit entzogen. Das Bewußt-Sein hebt alle Momente, in denen es starb und zu sich auferstand, in sich auf. Es erzählt seine Tragödie als Gegenwart der Vergangenheit des Vergangenen. (Vgl. SuB VII, 234.) „Da wir alle sterben müssen, spielt das Absolute seine Tragödie mit uns bis zum heutigen Tag. Unsterblich dagegen sind wir innerhalb des Bewußtseins a) des Individuums in der transzendentalen Empfindung und b) unserer Geschichte, nicht als Geschehen, sondern im reflektierten Anblick der Bewegung ihrer wesentlichen Gewordenheit, die nach Hegel der Begriff ist […].“ (A. a.O., 248.)
9. Fazit: Im Wort geschaffen Als Blaise Pascal starb, fand man, eingenäht in seinen Rock, ein schmales Stück Pergament, das mit einem Mémorial beschriftet war: „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs – nicht der Philosophen und Gelehrten! […] Gott Jesu Christi. […] Er wird nur auf den Wegen gefunden, die im Evangelium gelehrt sind.“
Liebrucks bestimmt nach Hegel die Sache der Philosophie als „[…] das wirkliche Erkennen dessen, was nicht nur ist, sondern in Wahrheit ist.“ (Hölderlin, 218.) Die logische Struktur der Wahrheit ist Liebrucks zufolge Sprache. Das begründet ihren Status in der Philosophie Liebrucks’ bzw. dessen Auffassung, Philosophie könne nur als Sprachphilosophie betrieben werden. Sprache empfiehlt sich als logische Struktur von Wahrheit, sofern sie als die Sprache einen Allgemeinbegriff formulieren läßt, welcher die Genese von Vielfalt repräsentiert. In ihrer Achtung der Freiheit, d. i. der bleibenden Unbestimmtheit all ihrer Momente, ist sie ein vertrauenswürdiger Begriff. Ein dialektischer Begriff räumt den Widerspruch nicht aus, sondern hat ihn als sein Konstituens. Dabei ist dieser dialektische Begriff von Wahrheit bzw. der Sprache kein harmonisierendes Einheitsideal. Sprache enthält die Aspekte von Gewalt und Unterwerfung, Tod und Opfer. Die Verwirklichung dieser Momente gehört zur Wahrheit des Logos: Sie sind unvermeidbar. Die Polemik kontroverser Wahrheitsansprüche, welche die menschliche Welterschließung charakterisiert und vorantreibt, erfährt im dialektischen Denken nur insofern Aufhebung, als es in diesem verschärft wird. (Vgl. SuB I, 10.) Die Widersprüchlichkeit der Weltbeschreibungen wird weder relativiert noch zugunsten einer der „Parteien“ entschieden. Im dialektischen Wahrheitsbegriff gibt es Sieg und Niederlage nicht. Wahrheit generiert sich in ihren Widersprüchen. Daher ist sie niemals evident. Sie wird, mit Kierkegaard gesprochen, in der Rückschau begriffen: Wahrheit ist der Anfang allen Denkens und wird doch selbst erst am Ende des philosophischen Prozesses erkannt – andernfalls wäre Philosophie bloße Konsequenzerschließung, eine cartesische Prinzipienphilosophie. Laut Liebrucks ist Wahrheit durch ihre Vorgängigkeit charakterisiert. Sie ist nicht ableitbar, vielmehr ist ihre Faktizität der menschlichen Vernunft entzogen. Ihre Entzogenheit wird darin bezeugt, daß Wahrheit immer schon in aller Tätigkeit der Vernunft vorausgesetzt ist als das Übereinstimmen von Begriff und Erfahrung. Philosophie hat daher zur Aufgabe, die Bewegung des Gewordenseins von Wahrheit auf dem jeweiligen Erkenntnisniveau darzustellen. Diese Darstellung ist selbst ein Moment der Genese der Wahrheit. Ein Absolutes, das ohne seine Genesis
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gefaßt wird, ist keines; diese Einsicht liegt allen Aussagen Hegels zugrunde. In der Konsequenz – so übernimmt es Liebrucks von Hegel – muß sich Philosophie selbst hervorbringen, man geht nicht von ihr aus. Sie kann nicht mit sich selbst anfangen, sondern bringt sich aus dem hervor, was sie (noch) nicht ist. Philosophie ist das Denken des noch Unphilosophischen. Sie ist Selbstdurchdringung des Bewußt-Seins. In Anschluß an Hegel argumentiert Liebrucks antiontologisch, indem er der Ausgangsthese der hegelschen Logik folgt: Das Sein ist das Nichts. ⁶³⁸ Hegel präsentiert sich mit diesem Aufmacher weniger als Vertreter eines holistischen Wirklichkeitsverständnisses, wie ihm oft vorgeworfen ist, vielmehr kann dieser thetische Einstieg seiner Logik als skeptizistische Aussage gelesen werden. Diese Haltung spiegelt sich in seinem Begriff des Absoluten wieder, den er über den Widerspruch gewinnt. Das Oszillieren von Affirmation und Negation in der Kategorie der Aufhebung als Identität von Identität und Nicht-Identität gibt die Wahrheit im Moment, nicht aber die Gewißheit eines Massiven. Nicht das Unmittelbare hält den Zusammenhang fest, in dem es steht. Wahrheit als sich unablässig generierende setzt sich immer wieder durch, daher ist sie nicht festzuhalten: s e m p e r a g e n s , s e m p e r q u i e t u s . Hegels Philosophie kann somit entgegen der geläufigen Einschätzung als harmonischer Holismus als Wegbereiter einer Denkrichtung gelten, welche die Dissonanz zum entscheidenden Moment in Denken und Darstellung erhebt: Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird die Disharmonie in Kunst und Wissenschaft als tragendes Element erkannt – in der Malerei verabschiedet man sich von der Abbildhaftigkeit der Bilder, in der Musik wird verstärkt mit vermeintlichen Mißklängen gespielt, in der Wissenschaft etabliert sich die Relativitätstheorie.⁶³⁹ Wahrheit als Übereinstimmung der Versatzstücke unseres In-der-Welt-Seins ist nur noch ein vertrauenswürdiger und überzeugender Begriff, sofern unter dieser Übereinstimmung keine Annihilation des Widersprüchlichen verstanden ist. Menschheits- und Individualgeschichte sind geprägt durch die Wiederholung der Erfahrung der Unbeständigkeit von Dingen, von Theorien, von Identität. Das Eindeutige überdauert nicht.Vieldeutigkeit ist die Voraussetzung dafür, daß es – innerhalb ihrer – Eindeutigkeit geben kann. Denn 638 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Erster Abschnitt/Erstes Kapitel. 639 In der Philosophie prägt Heidegger die logische Rede von der Sorge-Struktur: Das NichtIdentisch-Sein, Selbstentzogenheit, wird als Hauptmerkmal menschlichen In-der-Welt-Seins erkannt. Heidegger spricht Hegel allerdings ab, in dessen Philosophie Wahrheit begrifflich zu entfalten. Logos bleibe für Hegel nur ein Name. Für Heidegger dagegen ist „Logos“ kein bloßer Name für etwas, sondern das selbst sprechende Wort. Demgemäß möchte er die Logik des Logos als λɛγɛιν erforschen. (Vgl. Heidegger, Martin, Logos (Heraklit, Fragment 50), in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 207– 229.) Liebrucks wirft Heidegger wiederum vor, daß dieser in dessen Sprachbefragung im Status des Wesens verharrt, in welchem er bereits das Sein selbst zu verhandeln glaubt.
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Eindeutigkeit ist immer Abstraktion von Vieldeutigkeit. Schon Spinoza konstatierte: o m n i s d e t e r m i n a t i o e s t n e g a t i o . Hegel erarbeitete einen Identitätsbegriff, der dieses Dictum aufnimmt, und die Negation als identitätsbildendes Moment einholt – allerdings nicht unter Ausschluß des Negierten. Nach Hegel hebt jede Negation das Negierte in sich auf. „Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts ist das Unmittelbare; ein Aufgehobenes dagegen ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseyende, aber als Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist; es hat daher die Bestimmtheit aus der es herkommt, noch an sich.“⁶⁴⁰ Aufhebung als dialektische Überwindung eines Widerspruchs wird von Hegel als spekulativer Geist der Sprache begriffen, die in der Lage ist, gegensätzliche Bedeutungen selbst in ein und demselben Wort zu vereinen. Hier nimmt Liebrucks’ Sprachphilosophie ihren Ausgangspunkt. Liebrucks’ am hegelschen Begriff des Absoluten entwickeltes Sprachverständnis macht ebenso die Unbestimmtheit als Wahrheitsmoment aus. Denn „so wenig ein existierender Gott die durchgängige Bestimmtheit der Dinge garantieren müßte, so wenig tut das die Sprache.“ (SuB IV, 481.) Wahrheit ist nicht das, was gewußt und definiert werden kann. In keinem einzelnen Wort ist Wahrheit erfaßt, obwohl sie sich in all unseren Worten mitteilt, selbst in den Lügen. Wahrheit wird denkbar als Aushalten des Widerspruchs. Darum wird sie anhand des Identitätsbegriffs thematisiert. Seine Wahrheit als seine Identität erwächst dem Menschen aus der Tätigkeit seiner Vernunft als Sprache. Zu dieser Wahrheit gehört es, sich selbst verfehlen zu können. Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst mißlingen kann. Seine Selbsterfüllung wie auch seine Selbstverfehlung zeichnen ihn als Wesen aus, das eine sprachliche Vernunft hat. (Selbst‐)Widerspruch und (Selbst‐)Entsprechung: Beide Ausdrücke zeigen in ihrer Wortwurzel an, daß sie Momente der Sprache sind. In seinem durch Hamann vorbereiteten Begriff von der Vernunft als Sprache reformuliert Liebrucks das Korrektiv christlichen Handelns: Heil(ung). Heil ist der Mensch in Selbstentsprechung, in Wahrheit und Freiheit zu sich selbst. Heil kann er aber nur sein, wenn seine Selbstentsprechung seine differenten Selbstbeschreibungen zu enthalten vermag, anstatt sie zu nivellieren. Was heil ist, ist ganz. Das Heil für den Menschen muß solches sein, das seine gesamte Wirklichkeit umfaßt. Es kann also kein Modus des Menschseins sein, das einen anderen Modus ablöst; es muß vielmehr seine eigene Genese als Überwindung seiner Entfremdungen beinhalten. Dieser Begriff des Ganzen eines erfüllten Menschseins, welches die unbestimmbare Selbstentfaltung jeglichen Individuums einschließt, erhält sein sittliches Gewicht, sobald er zum Ideal einer Gesellschaftsordnung erhoben wird. Die
640 Hegel, Wissenschaft der Logik I, 94.
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Idee eines Ganzen, das die Gesellschaft in ihrem Recht und ihren Werten zur Geltung bringen soll, ist nur dann kein totalitaristisches Konzept, wenn der Begriff dieses Ganzen ein dialektischer ist, d. h. wenn berücksichtigt ist, daß die Freiheit des Einzelnen als Moment des Ganzen verwirklicht ist, das Ganze sich aber auch nur in seinen einzelnen Momenten verwirklicht. Das Offenhalten des BewußtSeins für seine eigene Genese bewahrt vor Totalitarismus. So verstanden kann etwa Tradition freiheitseröffnend sein, anstatt Entwicklung auszuschließen. Ein Kanon – an Überlieferungen, Metaphern, Begriffen – muß sich immer als Repräsentation einer Genese von Vielheit verstehen; allein als solche ist er vertrauenswürdig, zeigt Respekt vor der Freiheit der Subjekte, die er beschreibt. Die Genese der Vielheit und das Offenhalten des Bewußtseins für diese Genese erfordern adäquate Sprachformen. Die Naturwissenschaften zum Beispiel haben dafür keinen Begriff, ihre Systeme erfordern die Reduktion von Vieldeutigkeit zu Eindeutigkeit. „Nur eine Logik, die von der Sprache herkommt, ist das Organ des Gedankens und nicht nur sein Kanon.“ (SuB VI/3, 179.) Eine solche Logik, das sollte diese Untersuchung herausgestellt haben, beruht ihrem Anspruch gemäß, alles Endliche in seiner unendlichen Vieldeutigkeit zu bedenken, auf einem Sprachbegriff, der selbst nicht in atomistischer Aneinanderreihung von Einzelbefunden über die Sprache errungen werden kann. Die Sprache ist mehr als eine Aneinanderreihung von Worten, wie schon Goethe und Schiller in den Xenien mahnen: „Anatomieren magst du die Sprache, doch nur ihr Kadaver; Geist und Leben entschlüpft flüchtig dem groben Skalpell.“⁶⁴¹ Sprache selbst tötet das unmittelbare Sein in der Abstraktion zur mitteilbaren Form, schafft aber zugleich durch Benennung der Dinge deren neues Dasein in einer zweiten übersinnlichen Welt. Jeder bestimmte Ausdruck ist daher mit der Unbestimmtheit als einem Bedeutungshof umgeben, in den sich unablässig Eindrücke und Auslegungen der Menschen eintragen, welche den bestimmten Ausdruck gebrauchen, um einen Eindruck zu beschreiben oder zu erwecken. Diese Lebendigkeit der Sprache als Dialektik von Gegenständlichkeit und Übergegenständlichkeit, Idealität und Realität, Geist und Sein tritt Liebrucks in seiner Philosophie zu beschreiben an.
A. Sprachgemeinde und Kirchengemeinde Vornehmlich in religiösen Sprachformen – angefangen beim von Vico erörterten u n i v e r s a l e f a n t a s t i c o bis hin zum neutestamentlichen Logos-Begriff –
641 Goethe, Johann Wolfgang von/Schiller, Friedrich, Xenien, Leipzig/Wien 1900, Nr. 141: Der Sprachforscher.
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findet Liebrucks das charakteristische Changieren der Bedeutungsebenen in der Sprache ausgespielt, das auf deren logische Struktur verweist. Für Liebrucks könnte religiöse Rede nie zu einer Grammatik stilisiert werden,wie Wittgenstein es vorschlägt.⁶⁴² Er ist ebensowenig auf der Suche nach den Hintergrundmetaphern christlichen Glaubenslebens, woran sich etwa eine Dogmatik als Grammatik (Dalferth) versucht. Für Liebrucks ist die logische Darstellung des Logos Selbstdarstellung des Logos, in der es keinen Vorder- oder Hintergrund gibt. Für ihn erübrigt sich daher die Sprachgestalt des Dogmas als Form religiöser Rede: Dogmatik ist ihm Erfindung traditionsbegründenden, metaphysischen Vokabulars mit aufgeklärtem, wissenschaftlichen Anspruch. Dogmatik schreibt eine Grammatik, sie gibt das Vokabular vor, mit dem theologische Aussagen formuliert werden. Dogmen sind Sprachregeln, in denen – laut Liebrucks – die Sprache, der Logos, zum Erliegen kommt. Dogmatik muß auf sich als Grammatik reflektieren, um wieder religiöse Rede zu werden: Mythos, Wort von der Begegnung mit dem Unendlichen im Endlichen. Sie muß sich erinnern, daß religiöse Bilder nie von ihrem Erfahrungsgrund als ihrem Bezugsrahmen zu trennen sind. Wo aber dieser Erfahrungsgrund in den ihn umschreibenden Ausdrücken mitschwingt, erhalten diese ihre Präzision in ihrer Unbestimmtheit, die aller wissenschaftlich-grammatikalischen Formalhaftigkeit widerstreitet. Schon Schleiermacher beklagt, „wie die Wuth des Verstehens den Sinn gar nicht aufkommen läßt, und wie Alles sich vereinigt den Menschen an das Endliche und an einen sehr kleinen Punkt deßelben zu befestigen damit das Unendliche ihm so weit als möglich aus den Augen gerükt werde.“⁶⁴³ Religiöse Rede – als mythische oder dogmatische – ist zum einen immer voraussetzungsreich: Neue Ereignisse werden in bestehende hermeneutische Horizonte eingezeichnet (z. B. das Christusereignis in die bestehenden messianischen Hoffnungen des Judentums). Zum anderen manifestiert sich in ihnen ein Glaube in Bildkomplexen, die nicht immer explizit werden. Religion wird im Gegenüber geboren – darin ist sie Darstellung des Logos, der sich in der lebendigen Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung vorspricht. Wird sie aus Glaubenssätzen erschlossen, ist sie nicht mehr als eine Notwendigkeit: hergestellt, um Not zu wenden. Allein durch das lebendige Wort gebiert sich der Glaube – Liebrucks bewegt sich ganz in der Nähe zur zentralen Lehre des Protestantismus. (Vgl. SuB I, 165.) Allerdings verleitet ihn das nicht dazu, sich etwa mit der lutherischen Theologie zu beschäftigen – zumindest nicht innerhalb seiner Veröffentlichungen, denn daß er sich sehr wohl der Lektüre Luthers widmet, lassen
642 „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik (Theologie als Grammatik).“ (Wittgenstein, PU, § 373.) 643 Schleiermacher, Reden, 120.
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sporadische Seitenhiebe auf den Reformator erahnen. (Vgl. SuB II, 124; SuB V, 108; SuB VI/1, 466; Mythos und Freiheit bei Friedrich Hölderlin, 296 u. ö.) Liebrucks findet jedoch keinen Zugang zu einer Form institutionalisierter Religion, weder hinsichtlich einer Dogmatik noch in bezug auf Kirche. Die Ursache für Liebrucks’ Ablehnung institutionalisierter Religion mag zum einen in seiner Biographie liegen. Der junge Liebrucks wurde christlich erzogen; selbst seine humanistische Bildung erhielt er zum Teil im Pfarrhaus, das er zum Unterricht in lateinischer Sprache regelmäßig besuchte. (Vgl. Denken, 183.) Dennoch waren Liebrucks’ Eltern, obschon fromme Leute, keine Kirchgänger. Bei Liebrucks selbst scheint sich der Eindruck verfestigt zu haben, kirchliche Frömmigkeit sei Liberalität und Demokratie zu kontrastieren.⁶⁴⁴ Diese Auffassung erhält ihr theoretisches Fundament in Liebrucks’ Ausarbeitung eines Verständnisses von Institution, das diese als technisch-praktische Notwendigkeit einer Lebensbewältigung einstuft, welche nicht mit Lebenserfülllung gleichzusetzen ist. Vielmehr behauptet die Institutionalisierung des Menschseins ihre Funktion als Entfremdung des Menschen, indem sie die Entwicklungsoffenheit des Individuums via Herstellung formaler Strukturinvarianz organisiert. Seine Formalisierbarkeit ist Moment des Geistes, daher ist er auch unter dieser Form seiner Entfremdung präsent. Insofern sie aber Formen der Entfremdung des Geistes sind, läßt sich dieser in den Institutionen nicht verwalten. Dies scheint mir die Kritik zu sein, die Liebrucks an sämtlicher Institutionalisierung, insbesondere aber an der Institutionalisierung des Logos in der Kirche ausspricht. Jede Institutionalisierung ist solche des Logos. Es begründet ihre Funktionalität und ihren Geltungsanspruch, ihren Vorbehaltscharakter zu ignorieren, den sie als Generalisierung von Zustandsquerschnitten besitzt. Kirche als Institution muß nun – im Widerspruch zu dieser Grundvoraussetzung aller Institutionen – zugleich auf diesen Vorbehaltscharakter reflektieren und ihn in all ihren Sprachformen zum Ausdruck bringen, wenn sie sich als ɛκκλησια, d. h. als aus der Entfremdung des Geistes herausgerufen begreift und daher lebendiges Zeugnis des lebendigen Logos ablegen und sein will. Liebrucks macht deutlich, daß das Selbstverständnis der Kirche nur in einem dialektischen Begriff ihrer selbst adäquat formuliert ist. „Wenn so viele Theologen immer von dem ‚Christusgeschehen‘ sprechen, so weiß ich nicht, was sie bei ihren Worten denken, wenn sie nicht in die Schule der Dialektik gegangen sind, die ihre Gegenstände so denkt, daß sie sie nicht berührt. Das hat sie sogar noch mit der formalen Logik gemeinsam. Aber sie denkt sie so, daß sie das Dieses da innerhalb des Begriffs denkt. Diese erste außerpositive
644 „Die Erziehung in meinem Elternhaus war demokratisch und liberal. Wir gingen nicht in die Kirche.“ (A. a.O., 180.)
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Wahrheit steht in den Nachrichten von dem Leben und dem Sterben Christi in ihrer ersten Unmittelbarkeit vor uns. Wir steigen heute aus dieser Unmittelbarkeit aus, und die Kirchen haben ihre Sorgen damit, da sie als Institutionen ja immer nur das Schlußlicht auf diesem Marsche bilden dürfen. Sie sollten sich daher ruhig ad fontes alles dialektischen Denkens zurückführen lassen, ihre neue Taufe in der Flüssigkeit des Begriffs erfahren, damit sie die unmittelbare Taufe mit natürlicher Trauer, aber geistiger Freude fahren lassen können.“ (SuB V, 280.) Die Nachfolge Christi anzutreten, bedeutet Liebrucks zufolge, den eigenen Weltumgang als unablässiges Sterben und Auferstehen des Logos zu sich selbst zu erfahren und zu denken. Diese Nachfolge nimmt ihren Weg durchaus über die Kirche, die es als unmittelbare Form der Weitergabe der Wahrheit des Logos aber zu überwinden gilt. Kirche bewahrt die Wahrheit des Logos in wesentlicher Form. Begriffen wird diese Wahrheit erst in der Überwindung und als die Überwindung ihrer Vergegenständlichung. Kirche hat für Liebrucks eine archivierende Funktion, sie tradiert die Botschaft Jesu Christi, die dann begriffen wird, wenn die kirchliche Institutionalisierung dieser Botschaft als Durchgangsstadium auf dem Weg des Geistes zu sich selbst begriffen ist. Je näher wir dem Absoluten kommen, desto weniger bedürfen wir Liebrucks’ Ansicht nach der Kirche. Diese ist als Manifestation des Geistes keine eigenständige Größe, sie empfängt sich aus dem Geist. In diesem Empfangen des Geistes stellt sie ihn dar, was aber bedeutet, daß sich das Wirken des Geistes nie aus den Formen, welche Theologie und Kirche in Verkündigung und Sakrament für das Wirken des Geistes finden, ableiten läßt. Darstellung des Geistes gelingt dort, wo das Wort über dessen Wirken zugleich als dessen Wirken zur Geltung gebracht ist. Mit dieser Auffassung kann aber schnell einem Enthusiasmus der Weg bereitet sein, in dem die Unvertretbarkeit des Subjekts im Glauben in spirituelle Indifferenz umkippt. In der Tat bekennt sich Liebrucks zwar zu seiner Prägung durch die abendländische Tradition. „Wir können als Erkennende aus unserer antik-christlichen Vergangenheit nicht desertieren […].“ (Sinnfrage, 299.) Er bedenkt aber ebenso: „Stünden wir in einer anderen Tradition, so würden wir vielleicht andere Interpretationen für die Erkenntnis dessen, was wir in Wirklichkeit sind, vortragen.“ (A. a.O., 298.) Insofern teilt er nicht die in der Confessio Augustana festgehaltene Überzeugung des Protestantismus, „daß alle Zeit müsse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben“, wenn der Geist unter den Menschen lebendig sein soll. (CA VII.) Er bringt nicht seine Auffassung des menschlichen Weltumgangs als Darstellung des Absoluten auf den Sprachbahnen, die es als Logos in der Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung zieht, zusammen mit der reformatorischen Auffassung von der Kirche als c r e a t u r a v e r b i . Hinsichtlich seines Verständnisses von Kirche unterscheidet sich Liebrucks am deutlichsten als philosophischer Autor von theologischen Denkern. Ein ekklesiologischer Entwurf ist Konsequenz eines Glau-
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bensbekenntnisses, ein Lehrstück, das innerhalb des theologischen Zirkels verfaßt wird. Liebrucks dagegen bietet keinen theologisch begründeten Kirchenbegriff – aber das ist wohl auch kaum von ihm zu erwarten. Kirche rangiert bei ihm auf demselben Niveau wie andere Institutionen: ein geschlossenes System von Weltbewältigungsmaßnahmen, in diesem Falle von Riten, Liturgien, kultischen Gesetzen, Bräuchen. „Die Gottheit verlangt aber vom Menschen nicht das Befolgen von Gebräuchen, sondern das Tun des Rechten.“ (SuB III, 133.) Der theologische Liebrucks-Leser erkennt in diesem Satz die Mahnung Jesu Christi an die Pharisäer. „Das Rechte tun“, sittlich leben, bedeutet das Zur-Geltung-Bringen der Unendlichkeit des Endlichen. Ob der Mensch „das Rechte tut“, läßt sich nicht an der Summe seiner Taten ablesen, so wenig wie er selbst die Summe seiner Taten ist. Sein Menschsein erfüllt sich in seiner Freiheit, Taten auszuführen oder zu unterlassen; der Freiheit, sich zu entsprechen oder sich zu verfehlen; der Freiheit zur Nicht-Identität, die auszuhalten seine Identität ausmacht. Seine Widersprüche sind Ausdruck menschlicher Endlichkeit: einen Raum, Zeit- oder Standpunkt nur unter Ausschluß von Alternativen einnehmen zu können, sich bestimmen (lassen) zu müssen bis hinein in den tiefsten aller Widersprüche, den Tod. Das Aushalten dieser Widersprüche in ihrer Aufhebung zu einer individuellen Identität ist das Wirken des Geistes als sprachlicher Vernunft, das unendliche Wechselspiel von Idealität und Realität, Affirmation und Negation, Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Das Aushalten der eigenen Widersprüche, der eigenen Endlichkeit bezeugt den Menschen als das Wesen, dessen Geist sich unablässig über die eigenen Negationen hinaustreibt. Es bezeugt die Unendlichkeit, die Göttlichkeit des Menschen. Der Mensch empfängt seine Menschlichkeit aus seiner Göttlichkeit. Darum ist er inmitten seiner endlichen Lebensvollzüge immer auch aus diesen herausgerufen vom Logos, aus dem er sowohl sein endliches wie sein unendliches Leben empfängt. Man möchte Liebrucks an dieser Stelle vorschlagen, sich des theologischen Selbstverständnisses von Kirche als Gemeinschaft der Herausgerufenen, ɛκκλησια, zu erinnern: Kirche als Gemeinschaft derjenigen, die sich von Gott herausgerufen wissen aus dem Gesetz zum Evangelium, d. h. aus dem vergeblichen Versuch, die Widersprüchlichkeit menschlichen In-der-Welt-Seins durch Herstellung und Befolgung von Gesetzen zu überwinden. Das Evangelium ist die frohe Botschaft davon, daß unsere Widersprüche Moment unserer Identität sind, daß der Mensch in Leiden und Selbstverfehlung, in denen er sich zu verlieren fürchtet, ganz bei sich ist.⁶⁴⁵ Daß die Selbstentfremdung aber nur Moment unserer 645 „Die Vernunft ist in allen ihren Formen der Ritt auf dem Leiden als dem Tier, das der Mensch als Etwas ist. […] Wir müssen auf unser Leiden treten, um höher zu treten. […] Das Leiden, das mich zur Erkenntnis trägt, bin ich selbst als aufgehobenes Tier. Erst in der Erkenntnis wird das Leiden angenommen. Der Tod ist das noch endliche Hinausgehen des end-
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Identität ist, daß sich Identität in der Überwindung von Nicht-Identität zu sich forttreibt – wie es das Neue Testament in von Liebrucks mythisch genannten Erzählungen verkündet, die er in seiner sprach- und bewußtseinstheoretischen Auslegung zu begrifflicher Entfaltung bringt -, bewahrt hier vor Zynismus: Herausgerufen ist der Mensch auch aus dem Leid; für dieses muß in einem erfüllten Menschenleben aber ebenso Platz sein wie für die begründete Hoffnung, heil zu werden.⁶⁴⁶ In Goethemanier vertritt Liebrucks eine Art Weltfrömmigkeit, welche die religiöse Eigenwürde des Profanen verteidigt. Gott ist nicht nur in der Kirche. Steht diese Auffassung nicht in der Tradition protestantischer Weltzugewandtheit? Protestantische Ekklesiologie ist nicht davon bestimmt, klerikale Räume aus dem Alltagsleben auszugrenzen, sondern ruft den Einzelnen zur Verantwortlichkeit seines religiösen wie seines profanen Lebens auf. Der protestantische Christ erfährt weniger kultisch-sakrale Entlastung als seine katholischen Glaubensgeschwister, er kann sich nicht c o r a m D e o vertreten lassen. Diese Unvertretbarkeit vor Gott ruft ihn in verstärktem Maße in die Selbstverantwortung dort, wo er Gott begegnet: im Bezug zu seinem Nächsten, zur Welt. Die strenge Gewissensprüfung, die den Protestanten lange Zeit als „schmallippig“ zu charakterisieren schien, ist schon zu den Zeiten, in denen Liebrucks schreibt, längst Vergangenheit. Darum mag die Philosophie Liebrucks’ neue Sprachformen bieten, in denen der Protestantismus sein Gottes– und Weltverhältnis neu konjugieren kann. Es soll jedoch nicht versucht werden, in diesem Fazit – entgegen dessen Funktion – ein weiteres Themenfeld aufzumachen und auf den letzten Seiten der vorliegenden Untersuchung zum Gottesbegriff im Werk Bruno Liebrucks’ dessen Skepsis gegenüber der Institution Kirche sozusagen „last minute“ ekklesiologisch aufzulösen.⁶⁴⁷ Vielmehr dienen diese Schlußbemerkungen als Fingerzeig auf die Chancen und Grenzen theologischer Rezeption der von Liebrucks entfalteten Sprachphilosophie sowie als Eröffnung eines weiterführenden Dialogs mit diesem Denker. Liebrucks interpretiert Gesellschaft als Sprachgesellschaft: Die sprachliche Interaktion der Subjekte ist Entfaltung und Bezeugung des Logos. So erscheint bei
lichen Menschen über sich selbst. Als natürliche Wesen haben wir den Tod als Grenze, nicht als Schranke. Die Schranke ist der gewußte Tod.“ (SuB VI/1, 370.) Vgl. SuB VII, 133. 646 „Wir gelangen nicht durch einfaches Leiden zur Erkenntnis. Dann wäre alles Leiden bereits als sinnvoll anzusehen. Zur Erkenntnis gelangen wir nur durch selbstveranstaltete Leiden, die in der Form der ersten Reflexion da sind. Erst wenn wir die ganze Existenz mit in die Waagschale der Hypothesen legen, ist der Gott Mitverursacher des Leidens, erst in diesem Augenblick sind wir frei.“ (A. a.O., 247.) 647 Auch die Themenbereiche (positive) Religion und Christentum werden in dieser Untersuchung weitestgehend ausgespart. Unter einer anderen Fragestellung wird es sicher noch Gelegenheit geben, Liebrucks‘ Einschätzungen zu diesen Sujets aufzuarbeiten.
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ihm Gesellschaft wie eine Gemeinde, eine Sprachgemeinde. Daher verwundert es, daß er keine theologischen Entwürfe in sein Werk einbezieht, in welchen ebenso Sprache als die logische Struktur benannt ist, in welcher subjektiver und absoluter Geist korrespondieren. Hier ist vor allem an Luther und Schleiermacher zu denken, deren jeweilige theologische Pointierung des Sprachgeschehens jedoch im Gegensatz zu Liebrucks’ Ausführungen eine klerikale Gestaltung dieses Sprachgeschehens zu ihrer Konsequenz hat. Aus eben diesem Grund sollen die ekklesiologischen Ansätze dieser beiden Theologen im folgenden skizziert werden. Die protestantische Ekklesiologie entstand als Institutionskritik einer Depravationsform von Kirche, die sich über ihre hierarchische Struktur und apostolische Sukzession konstituierte statt durch Verkündigung des Logos als des einzigen Heilsgrundes in Wort und Sakrament. Luther setzte der klerikalen Heilsverwaltung entgegen, daß der Mensch nicht durch von der Kirche zu benennende gute Werke, Fürbitten von Priestern oder Heiligen Gerechtigkeit vor Gott erlange; gerecht sei der Mensch vor Gott allein im Glauben. Dieser werde von Gott vermittels seines Wortes begründet. Der reformatorische Grundsatz s o l a f i d e wird also von Luther sprachtheologisch fundiert: Das Heil empfängt der Gläubige in der Zusage Gottes, die ihm im Evangelium verkündet ist. Als Ort der Verkündigung ist die Kirche der Ort der Gegenwart Gottes im Wort, das den Glauben wirkt. Wort und Kirche sind für Luther untrennbar miteinander verbunden. „Ubi est verbum, ibi est ecclesia.“⁶⁴⁸ Die Gemeinde wird im Logos gezeugt, in der letztendlich nicht formulierbaren Wahrheit des Geistes. Und doch: „Wu Gott redt, do wohnt ehr.“⁶⁴⁹ Das Wort legitimiert – von sich aus – die Kirche. „Ecclesia enim est filia, nata ex verbo, non est mater verbi.“⁶⁵⁰ Die Bindung an die Predigt des Wortes ist Bindung an die Präsenz des Geistes. Wo das Evangelium gepredigt wird, müssen Christen sein, denn das Wort Gottes kann nicht unbeantwortet und „leer“ zurückkehren. So leitet Luther die Gründung der Gemeinde aus der Wortverkündigung ab. „Nemo fit Christianus, nisi credat in verbum. Verbum ergo est mater, ut dicit in Esaia. Sicut mater fert in utero, sic deus in utero suo i. e. verbo.“⁶⁵¹ Mit dieser sprachtheologischen Begründung der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden zerschlägt Luther die Identität von normativem und empirischem Kirchenbegriff. Die Kirche ist die Vielfalt der Glaubenden in der Verantwortung der Einzelnen: In der Gemeinschaft der Glaubenden steht der Einzelne vor Gott. Besteht aber die Kirche nur als Konkret-Allgemeines in ihren Mitgliedern, ist deutlich,
648 Luther, Martin, Disputatio D. Iohannis Machabaei Scoti praeside D. Doctore Mart. Luthero (1542), WA 39/2, 176, 9. 649 Luther, Martin, Predigt über 1. Mose (1523/24), WA 14, 386, 28 f. 650 Luther, Martin, Große Genesisvorlesung (1535 – 45), WA 42, 334, 12. 651 Luther, Martin, Predigt über Mt 28, 10 ff. vom 15. 3.1525, WA 17/1, 99, 4– 7.
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daß sie selbst eine Größe ist, die sich im Aushalten von Nicht-Identität bewahrheiten muß. Anders gesagt: Luther erklärt (im Anschluß an Augustin), daß die sichtbare, „leibliche, äußerliche“ Christenheit, d. i. die Gesamtheit aller Christen aller Zeiten und Orte, ihr Profil durch das Wirken der sie verkörpernden Menschen empfängt. Diese äußerliche Christenheit ist ein c o r p u s p e r m i x t u m , auch das Gottferne ist in ihr zugegen, da sie allein der äußeren Verwaltung nach ihre Mitglieder an sich bindet. Die institutionelle Ordnung der Kirche ist Menschenwerk, eine Art Korrektur am Evangelium. Als solche hat diese äußere Kirchengestalt das „facies peccatricis“.⁶⁵² Dieser sichtbare Sozialverband Kirche kann durchaus in Frage gestellt werden, da nur die „geistliche-innerliche“ Christenheit der Wahrheit des Apostolikums entspricht. Eine äußerliche Versammlung begründet keine Christenheit. Die n o t a e e c c e l s i a e sind die Predigt des Evangeliums und die Präsenz des Wortes im Sakrament. Alle Glaubensartikel und Gebote sind keine Schöpfungen kirchlicher Autorität, sondern an der Schrift zu entfalten und zu korrigieren. Die Sakramente werden von der Kirche verwaltet, aber nicht gewirkt. Sakramente sind wirksam p r o p t e r C h r i s t u m e t p e r C h r i s t u m . Die wesenhafte, nicht sichtbare Kirche das „Volk der Glaubenden“ als c o m m u n i o s a n c t o r u m des Apostolikums hat eine institutionsferne Dimension, sie ist zeit- und raumlos, kein realer Verband. Diesen Aspekt hält Luther polemisch gegen die Papstkirche hoch und setzt ihn ein als Legitimation der Reformation. Kirche als c o n g r e g a t i o s a n c t o r u m in der Existenz steht über denen, die „äußerliche“ Mitglieder und auch Amtsinhaber sind. Die geistige Kirche ist nicht unsichtbar, aber verborgen (e c c l e s i a a b s c o n d i t a ). Schon in diesem Kirchenbegriff ist begründet, daß sich das Verhältnis des Einzelnen zu Gott nicht am Verhältnis des Einzelnen zur Kirche ausrichten darf. Das Verhältnis zur Kirche hat sich aus dem Verhältnis des Einzelnen zu Gott in Jesus Christus zu bestimmen. Grundlegend für die Kirche ist das Wort, das Christus selbst ist: Ekklesiologie ist insofern ein Ableger der Christologie. Ist der Glaube aber durch das Wort als Wort gewirkt, ist Kirche als Ort der Verkündigung des Wortes keine bloße Institution, sondern das Ereignen des Herausrufens selbst, in dem sich der Mensch in der Unendlichkeit Gottes bewahrt weiß. In ihrem Zeugendienst für Christus wird die Gemeinde zum „Gleichnis Jesu Christi“ – sofern sie das Wort nicht formal, äußerlich ausspricht, sondern das Wort als adäquaten Begriff Gottes wie des Menschen bekennt. Ein Ausspruch Kafkas vermag treffend wiederzugeben, daß nur das Begreifen die Kraft zur Veränderung in sich trägt: „Würdet ihr
652 Luther, Martin, Praelectio in psalmum (1532/33), WA 40/II, 560, 10.
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den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden […].“⁶⁵³ Die unsichtbare Kirche der v e r e c r e d e n t e s ist immer die Krisis der äußerlichen Institution Kirche. Auch Schleiermacher betont, es sei das Verhältnis des Menschen zu Gott, welches das Verhältnis des Menschen zur Kirche begründe, nicht umgekehrt. Der „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“ paraphrasiert somit den reformatorischen Grundsatz, s o l a f i d e empfange der Mensch Heilswirklichkeit. Er bekräftigt in seinen Reden Über die Religion die Individualität religiöser Erfahrung, die nicht institutionalisiert zu werden vermag, „denn der Geist läßt sich weder in Akademien festhalten, noch der Reihe nach in bereitwillige Köpfe ausgießen.“⁶⁵⁴ Dennoch hält Schleiermacher an der Notwendigkeit einer organisierten Kirchengemeinde fest, weiß er doch um den sozialen Aspekt religiösen Erlebens.⁶⁵⁵ Als a n i m a l s o c i a l e drängt es den Menschen zur Kommunikation. Vor allem die ebenso erhebende wie verstörende Erfahrung schlechthinniger Abhängigkeit, die den Menschen nach dem „Woher“ dieser Abhängigkeit fragen läßt, für das er das Wort „Gott“ findet, will (mit)geteilt werden. Im Austausch über diese Erfahrung wird diese erst erschlossen. Die Vorgänge individuellen Symbolisierens werden in der kirchlichen Gemeinschaft in Zusammenschau mit den Symbolisierungen prägnanter Erfahrungen thematisch, welche die Kirche als ihre Tradition bewahrt. Rückwirkend erfährt diese Tradition eine immer wieder von neuem vorgenommene Erschließung, indem sie zur Genese persönlicher Gottesverhältnisse in Verbindung gebracht wird. In dieser gegenseitigen Auslegung zeigt sich die Dialektik des Geistes als Sprachgeschehen: Religion gibt es für Schleiermacher nur in sozialer Interaktion, als wechselseitiges Erzeugen von religiösem Selbstbewußtsein und interpersoneller Kommunikation. Dieser Austausch ist nicht auf den Raum der Kirche beschränkt, hat der Christ sich doch auch (in seinem Christsein)
653 Kafka, Franz, Von den Gleichnissen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, hg.v. Brod, Max, New York 1946, 95. 654 Schleiermacher, Reden, 68. Für Schleiermacher ist das religiöse Grunderlebnis des Menschen stets gegründet „durch die eigene Art wie er die Betrachtung deßelben und die Reflexion darüber verarbeitet“. (A. a.O., 174.) Daraus folgt die Mahnung: „[…] so müßt Ihr jedem ein eigenthümliches geistiges Leben zugestehn […].“ (A. a.O., 175.) 655 Vgl. Schleiermacher, CG2, § 5. Frömmigkeit ist die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften, sofern das religiöse Bewußtsein sich Gleichgesinnten mitteilen will. Vgl. hierzu ebenso die vierte der Reden „Über die Religion“. Auch Liebrucks weiß um die Notwendigkeit, religiöse Erfahrung zu kommunizieren. (Vgl. Denken, 177.) Jedoch gibt er keinen Hinweis darauf, daß für ihn der Austausch über religiöse Erfahrung Konstituens einer kirchlichen Gemeinschaft sein kann (geschweige denn sein muß).
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als Glied säkularer Gemeinschaft zu verantworten. Die Aufgabe, Kommunikation religiöser Erfahrung zu organisieren, fällt jedoch der Kirche zu. Die Kennzeichnung des frommen Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit als höchster Stufe menschlichen Selbstbewußtseins begründet Religion als „eigene Provinz im Gemüte“ und schafft eine ethische Legitimation der Kirche als des Ortes, an dem im Gespräch über das „Woher“ schlechthinniger Abhängigkeit die logische Struktur menschlichen In-der-Welt-Seins thematisch wird. Religiöse Kommunikation muß es immer geben, wenn der Mensch sich als seiner selbst bewußtes Ich aussprechen können soll. Schleiermacher begreift es in seiner Theorie des frommen Selbstbewußtseins als unabweisbare Konsequenz religiösen Erlebens, dieses in organisierter Form kommunizierbar zu machen und pocht folglich auf die Unverzichtbarkeit kirchlicher Sozialisierung. Dem Mißverständnis, das religiöse Erleben an sich institutionalisieren zu können, ist dabei insofern vorgebeugt, als insbesondere Schleiermacher die Unzulänglichkeit menschlicher Vermittlung des Absoluten herausgearbeitet hat.⁶⁵⁶
B. Heilsgegenwart und Endzeiterwartung. Eine Konfrontation mit Kodalles Kritik an Liebrucks Ein erstes, bisher meines Wissens nicht nachgeahmtes Zugehen auf den philosophischen Denker Bruno Liebrucks von theologischer Seite aus hat 1987 KlausMichael Kodalle gewagt. Kodalle widmet sich in seinem Aufsatz Philosophie als ‚Einübung der Preisgabe‘⁶⁵⁷ der kurzen Darstellung und Kritik (nach unbenannten Kriterien) ausgewählter Texte aus dem Gesamtwerk Liebrucks. Kodalles Kritik an Liebrucks dient in diesem Fazit als Vorlage zur Widerlegung des Eindrucks, Liebrucks verfasse mit seinen zugegeben oftmals pathetischen Beschwörungen, die Entsprachlichung des Menschen als dessen absehbaren Untergang aufhalten zu müssen, die Endzeitversion eines gesellschaftlichen Harmonieideals, dessen spekulative Kraft angesichts realer Lebensumstände verblassen und naiv ge656 Markant für Schleiermachers Berücksichtigung der Begrenztheit des menschlichen Reflexionsvermögens, Gottesbewußtsein in einen Gottesbegriff überführen zu können, ist die Beschränkung auf die phänomenologische Beschreibung der Zustände des Subjekts in dessen Bezogenheit auf die Welt. „Gott“ fungiert als traditionell begründeter Ausdruck für das „Woher“ des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls, das als Grundverfaßtheit des Menschen gedeutet wird (hier ist an die von Liebrucks ausgestaltete Marionettenmetapher zu denken). Diese Paraphrasierung gibt eine Richtungsbestimmung an – statt eines definierten Zielpunktes. 657 Kodalle, Klaus-Michael, Philosophie als ‚Einübung der Preisgabe‘. Eine Erinnerung an Bruno Liebrucks (
15.1.1986) – in Anknüpfung und Widerspruch, ZphF 41, Frankfurt a. M. 1987, 262– 278.
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scholten werden muß. Die Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf kann über eine Bündelung zentraler Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung geführt werden. Kodalle wirft Liebrucks vor, daß dieser auf der einen Seite die Selbstentfremdung als Moment der Selbstentsprechung betone, auf der anderen Seite aber das endzeitliche Ideal einer Gesellschaft entwerfe, in welcher das Individuum aus der Struktur der Gesellschaft die Struktur ungetrübter Selbstentsprechung empfange. Kodalle unterstellt Liebrucks einen „apokalyptischen Gestus“ in dessen Argumentation und versteht darunter die futurisch-eschatologische Skizze der Utopie einer Gesellschaftsharmonie, mit welcher Liebrucks seine eigenen Ansichten von der Negation als entscheidendem Moment der Identitätsbildung unterlaufe.⁶⁵⁸ Kodalle stellt Liebrucks damit in die Ecke marxistischer Hegel-Interpretation, von der sich Liebrucks im dritten Band von Sprache und Bewußtsein deutlich distanziert.⁶⁵⁹ Kodalle inszeniert Liebrucks’ Rede vom „Untergang der Weltgeschichte“ als apokalyptisches Szenario. (SuB V, 165.) Meiner Auffassung nach, ist Liebrucks’ Rede vom Abgrund, in den wir im Fortschreiten zu uns selbst beständig blicken, allein im Wortsinne ein apokalyptisches Motiv: Die Erfahrung, im tiefsten Selbstwiderspruch ganz bei sich selbst zu sein, deckt auf, daß unser logischer Selbstverlust an das Andere unserer selbst der Gewinn unserer Freiheit als logisches Subjekt ist. Dieses Offenbarwerden unserer Freiheit liegt nicht in der Zukunft, sondern ist immer schon geschehen. Aussprüche Liebrucks’ wie der, daß der Einzelne nur frei ist, „wenn alle frei sind“ sind meines Erachtens völlig mißverstanden, wenn man sie im Sinne eines Aufrufs zur gesellschaftspolitischen Revolution liest oder als Ausdruck der Erwartung eines ausstehenden Zustands in der Geschichte der Menschheit.⁶⁶⁰ (SuB III, 561.) Ich lese hier bei Liebrucks keine Forderung, sondern eine Feststellung. Freiheit ist eine Relationsgröße, die der Einzelne nicht aus sich selbst heraus generiert, sondern aus der Anerkennung ihm als entsprechend angesehener Subjekte empfängt. Die Freiheit, die ich dem Anderen zugestehe, ist die Freiheit, die ich empfange. Freiheit ist also keine statische Größe, sondern will unablässig erworben und geschenkt werden. Unsere Freiheit haben wir nie unbegrenzt oder im allgemeinen; in jedem Moment unseres Weltumgangs erstirbt sie in der Begegnung mit dem Anderen und wird aus dieser Begegnung auch neu geboren, sofern wir uns als einander Entsprechende ansprechen. Zur Freiheit sind wir gerufen im Anderen, in dem Gott uns ruft und in
658 Vgl. a. a.O., 273. 659 Vgl. a. a.O., 277. 660 Vgl. Kodalle, 277 f.
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dem wir Gott anrufen. Freiheit ist also immer individuell und gesellschaftlich zugleich. Sie trägt ihr Gegenteil, Unfreiheit, als eines ihrer Momente in sich. Der freie Mensch ist immer auch Marionette dessen, der ihm diese Freiheit gewährt. Die Reziprozität, in welcher Subjekte ihre Freiheit erzeugen und empfangen, bewahrt die individuelle Freiheit nicht trotz, sondern aufgrund der Gemeinschaft, aus welcher sie erwächst: Von einem Subjekt, das ich nicht als mir entsprechend anerkenne, empfange ich auch keine adäquate Anerkennung meiner Freiheit. Freiheit generiert sich proportional zur Unfreiheit, die ich auszuhalten vermag. Dies ist nur vor dem sprachphilosophischen Theorem des menschlichen Weltumgangs als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung zu denken, den Kodalle übergeht. Würde er hier den Sprachbegriff mit all seinen Konsequenzen für das über Gottesund Subjektbegriff entfaltete Freiheitsverständnis Liebrucks’ berücksichtigen, müßte er dessen Ausführungen nicht seiner eigenen Forderung an einen angemessenen Freiheitsbegriff als entgegengesetzt lesen.⁶⁶¹ Im Kapitel über die Gestalt Jesus Christus habe ich dargelegt, inwiefern Liebrucks keine Auffassung einer Heilsgeschichte als Nach- oder Meta-Geschichte der Weltgeschichte vertritt. Abermals ist Hegels Theorie des Absoluten argumentationsführend: Das logische Verbindungsstück von Gottes- und Subjektbegriff ist laut Liebrucks der Logos, den er als sprachlich strukturierten Weltumgang des Menschen, d. i. als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung resp. Bewußt-Sein benennt. Dazu müssen hier keine weiteren Erörterungen mehr erfolgen. Der logische Vollzug des Weltumgangs ist das unablässige In-Beziehung-Setzen von Idealität und Realität, Subjektivität und Substantialität als Selbstvollzug des absoluten Geist im subjektiven Geist. Das menschliche Subjekt hat seine Identität in der Selbstentsprechung des all seine Widersprüche in sich aufhebenden absoluten Geistes, den Hegel den Begriff des Begriffs nennt. Dieser absolute Begriff ist laut Hegel die „B e w e g u n g s e i n e s G e w o r d e n s e i n s “⁶⁶², das wir in der Geschichte des Menschen als des existierenden Begriffs verzeichnen. Die Geschichte des Menschen ist das gegenständlich gewordene Werden seines Begriffs im Werden des absoluten Begriffs.⁶⁶³ Von den Vergegenständlichungen des Geistes in der Geschichte kann durchaus als von einem „irdischen Gott“ gesprochen werden, sofern diese Be-
661 „Liebrucks aber besteht darauf, der Einzelne sei ‚nur frei, wenn alle frei sind“ (3, 561). Wir halten Liebrucks entgegen: mit diesem Universalvorbehalt dispensiert sich das Ich davon, der eigenen Freiheit in seinem kommunikativen Umfeld jene verletztlich-vorläufige Gestalt zu geben, deren Kontingenz allerdings solange währt, wie es unsere Urteilskraft nicht zuläßt, jene Universalität als gegeben zu denken.“ (A. a.O., 278.) 662 Hegel, PhG, 159. 663 „Alles, was uns als Gegenstand begegnet, ist unsere vergessene Vergangenheit.“ (SuB V, 39.)
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zeichnung zugleich die Differenz zum wahren Göttlichen zum Ausdruck bringt, das als der absolute Geist die Einheit der Vergegenständlichungen und ihrer Entgegenständlichungen ist. Lebten wir in dieser Stufe des absoluten Geistes, „begönne die Geschichte des Menschen.“ (SuB III, 514.) Denn die Geschichte des Menschen „ist dort, wo sie nicht mehr Weltgeschichte, sondern die Geschichte des Menschen ist, d. h. immer zugleich die Geschichte des Absoluten.“ (SuB V, 334.) In dieser Stufe des Geistes kehrten die zur Weltgeschichte versammelten Vergegenständlichungen des Menschen wieder zum subjektiven Geist und durch ihn zum absoluten Geist als ihrem Urheber zurück, der Mensch begriffe sich als die Identität, die sich in ihren Vergegenständlichungen verendlicht und doch über ihnen steht als das Wesen, das sprachlich denkt. Dieser erkenntnistheoretische Durchbruch vom Weltgeist zum absoluten Geist ist aber keineswegs ein futurischeschatologisches Ereignis. „Gott ruft jeden Menschen zu allen Zeiten, wenn auch in […] der für uns Menschen als nur endlichen Wesen stummen Offenbarung.“ (SuB IV, 3.) Wozu Gott uns ruft, ist das (An‐)Erkennen des Wirkens des Logos in unserem Ersprechen von Welt, unserem Weltumgang – wie er sich immer schon ereignet. Insofern können wir unsere Weltbewältigung sorglos angehen. (Vgl. SuB III, 194.) Die Gegenwart der Erfüllung des Menschseins ist für Liebrucks Gestalt geworden in Jesus Christus. „Erst von der Bewußt-Seinsstufe des absoluten Geistes, wie sie in Christus bisher einmalig unter den Menschen weilte, […] handelt es sich hier nicht mehr nur um ein Seinsollendes, sondern um immer Geschehendes. […] Das Bewußt-Sein Mensch war aus der Weltgeschichte herausgerufen und wird bis zum heutigen Tag aus ihr herausgerufen. Die Hegelsche Philosophie hat das zu denken möglich gemacht.“ (A. a.O., 667.) Aus der Weltgeschichte herausgerufen zu sein, bedeutet, selbst Geschichte zu haben, seine eigene Geschichte zu sein. Geschichte ist keine dem Menschen äußerliche Größe, sie ist das unablässige Ins-Verhältnis-Setzen des Allgemeinen und des Besonderen, als das der Mensch seinen Weltumgang bestreitet. Das geschichtliche Sein des Menschen ist das Generieren und Aushalten des Widerspruchs, das ihn als Vernunftwesen bezeugt. (Gegen Kodalle, 277 ff.) Seine Geschichte erschafft der Mensch also ebenso, wie er sie zugleich empfängt. Anhand der geschichtlichen Ereignisse, die wir rückblickend betrachten, erfassen wir den Begriff unserer selbst in den Vergegenständlichungen des absoluten Begriffs. Sinnliche Erscheinung oder sinnlich wahrnehmbare Form kommt ihm nicht zusätzlich oder nachträglich zu. Er vergegenständlicht sich, kommt in Form – als Geschichte, mit Hegel gesprochen: als Weltgeschichte. „Die Weltgeschichte ist der absolute Geist als Gegenstand.“ (SuB III, 514.) Der absolute Geist manifestiert sich geschichtlich, ohne jemals in den Gestalten der Geschichte aufzugehen. Als Logos ist die logische Struktur seines Ereignens zugleich die Struktur, in welcher er sich aussagbar macht. Er entzieht sich unserer Herrschaft, während wir vorgängig und unaufhebbar auf ihn bezogen
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sind. Darin liegt der Widerspruch alles Menschseins, das sich darin konstituiert, diesen Widerspruch begrifflich zu machen. Liebrucks’ am Gottesbegriff gewonnener Begriff des Ichs bedient kein humanistisches Pathos. Dies ist in der Übernahme der hegelschen Denkfigur, den Selbstwiderspruch als konstitutives Element jeglicher Identität anzunehmen, offensichtlich: In seinem Selbstverlust erleidet das Bewußt-Sein Gewalt – allerdings eine Gewalt, die von ihm selbst ausgeht. Liebrucks spielt an keiner Stelle seines Werkes den Kampf des Menschen um das Überleben und das Leiden am Selbstwiderspruch herunter. Aber er öffnet den philosophischen Blick dafür, daß im Gelingen dieses Kampfes nicht das Proprium des Menschseins liegt. In eben dieser Auffassung, der Mensch sei niemals das perfekte, sondern das in seinem Logos als Sprache entwicklungsoffene Lebewesen, unterstreicht er, daß der Selbstwiderspruch identitätsbegründend ist. Der Mensch ist das Wesen, das scheitert und sich widerspricht, um sich in seiner Fähigkeit zum Selbstwiderspruch am tiefsten zu entsprechen. Menschliches Leben ist nie harmonisch. Eine diesem Verständnis des Menschen adäquate Gesellschaft ist nicht eine, welche den Widerspruch ausräumt. Zumal man ihn, sofern man ihn als Moment der Selbstentsprechung des Geistes annimmt, nicht auszuräumen vermag. Man kann ihn allenfalls nivellieren. Solche Nivellierung zeigt aber lediglich ein Niveau des Bewußt-Seins an, auf dem der Mensch den Widerspruch (logisch) nicht aushält und sich somit selbst in seinem Menschsein unterlegen bleibt. Es ist in jedem Satze Liebrucks’ ausgesprochen, daß auch das Weltverhältnis dessen, der zum adäquaten Begriff von sich selbst gelangt, eine Änderung erfährt. Im Grunde ist dieser – in Anlehnung an Kodalle formulierte – Satz tautologisch: Für Liebrucks ist der Begriff des Begriffs als das sich selbst adäquat aussagende Bewußt-Sein mit dem logischen Weltumgang gleichzusetzen. Die logische Struktur des Bewußt-Seins ist die der Sprache als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, in welcher man den Menschen nicht haben kann ohne die Welt e t v i c e v e r s a . Insofern kann Liebrucks keine subjektunabhängige Änderung der Weltgeschichte erwarten. Daher widerspreche ich der Auffassung Kodalles, Liebrucks’ würde „aus der Logik seines eigenen Gedankens auf eine qualitativ andere Ebene des Sprechens [..] regredieren.“⁶⁶⁴ Vielmehr ist hier Liebrucks’ Begriff der Sprache, den Kodalle vernachlässigt, stark zu machen: Alle Änderung der Geschichte ereignet sich in der Sprache. In ihr allein ist Änderung ebenso dauerhaft. In ihr ist das Subjekt immer zugleich selbsttätig wie empfangend, Individuum und Gemeinschaftswesen. In der Hinwendung zu den Subjekten, die es als sich entsprechend anerkennt, hat es zugleich die Welt im Blick, über die es mit ihnen
664 Kodalle, 274.
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spricht. In dieser Abkehr von sich zum Anderen seiner selbst ist es erst ganz bei sich selbst. Das Subjekt erfährt so die Wahrheit, die immer zugleich die eine und seine Wahrheit ist, bezeugt durch den Anderen – ganz wie es Kodalle fordert. Es ist Liebrucks’ Stärke, die Transzendenz-Immanenz der Wahrheit in jedem Moment unseres Weltumgangs zu denken. Keinen Moment stehen wir Menschen nicht im Logos. Unser Weltumgang ist selbst Zeugnis der Wahrheit des Logos, des wechselseitigen Erzeugens von Idealität und Realität – auch und gerade in ihrem Widerspruch. Die Entfremdung des Logos ist dessen innigstes Zeugnis. Daß so gedacht bei Liebrucks nicht von einem „Als-Ob“ der Gegenwart des Absoluten gesprochen werden kann, versteht sich von selbst.⁶⁶⁵ Nicht zu behaupten, daß unsere reale Lebenswelt in vollem Umfang das Bewußtsein spiegeln würde, in all ihren Vollzügen Zeugnis der Gegenwart des Absoluten zu sein, kann man Liebrucks kaum vorwerfen – der Mensch ist theologisch gesprochen immer Sünder, das sich selbst widersprechen könnende Wesen. Es ist die Stärke der Philosophie Liebrucks’, Selbstentfremdung als konstitutives Moment einer Selbstentsprechung aussagen zu können und somit das Menschsein in dessen tiefstem Widerspruch zu erkennen. So entspricht es der Botschaft vom Kreuz Jesu Christi. Liebrucks gelingt es meiner Ansicht nach, die Botschaft des Menschensohns entgegen Kodalles Kritik nicht zum „Gegenstand der Sehnsucht“⁶⁶⁶ zu nivellieren, sondern da als präsent zu behaupten, wo sich unser Leben dieser Botschaft am fernsten wähnt. Kodalle selbst betont, Liebrucks wisse, „daß der Versuch, wahrhaft menschlich zu leben, vom Scheitern immer bedroht bleibt.“⁶⁶⁷ „Die Verwechslung dessen, was eine Hegelsche Logik des existierenden Begriffs als Idee ausmacht, mit empirischen Urteilen“⁶⁶⁸, die sich bei Liebrucks in predigtartigen Gesellschaftsbeschimpfungen entlädt, will ich gar nicht bestreiten. Dennoch ist Liebrucks’ mitunter apokalyptischer Tonfall nicht zu verwechseln mit der Vision von einem „ausstehenden Zustand [..], in dem die Überwindung der weltgeschichtlichen Herrschaft des Verstandes als allgemeine Verfassung geschichtliche Realität gewönne“.⁶⁶⁹ Widerspricht sich Kodalle nicht, wenn er Liebrucks einerseits vorwirft, ein Gesellschaftsideal zu entwerfen, das die Befreiung des Subjekts zu sich selbst besorgt, andererseits aber herausstellt, daß Liebrucks den Einzelnen in eine sittliche Verantwortung stellt, die dieses in der Begegnung mit dem Widersprüchlichen in der Gesellschaft zur Selbstbehauptung in Anerkennung der Andersartigkeit des Anderen auffordert – eine Verantwortung, in
665 666 667 668 669
Vgl. gegen Kodalle, 275. Ebd. A. a.O., 277. A. a.O., 273. A. a.O., 274.
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welcher ihm „Überzeugungskraft nur zu[wächst], sofern das Ich es wagt, gut zu handeln ohne Rückversicherung bei einer Theorie des Guten an sich“?⁶⁷⁰ Nebenbei bemerkt, beinhaltet das sprachphilosophische Konzept Liebrucks’ durchaus eine solche Theorie des Guten, wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat. Eine solche Theorie ist aber nur dann überzeugend als Theorie des Guten für den Menschen, wenn dieser – auch ohne philosophische Studien vollziehen zu müssen – um dieses Gute weiß. Das Gute für den Menschen, das wird bei Liebrucks deutlich, darf diesem nie fremd und äußerlich sein, es muß seinem Menschsein inhärieren, da anders nicht mit Vernunft zu erklären wäre, inwiefern es das Menschsein komplementieren oder diesem allein affin sein könnte. Das höchste Gut des Menschen, sein wahres Menschsein, ist auch als Seinsollendes keine transzendente Größe, deren Verwirklichung etwa in einer endzeitlichen Vollendung zu erwarten wäre, bis zu der wir das erfüllte Menschsein lediglich als Postulat aussprechen könnten. „Das Gute vollbringt sich nicht in der Sukzession als einem Modus der Zeit, sondern im ewigen Augenblick dieses handelnden Umgangs des Menschen mit dem Menschen. Er ist menschlich, wo er sprachlich ist. Das Ziel ist schon im ersten Ergreifen des Mittels erreicht. […] Wir leben als endliche Zwecke in der Täuschung, daß das Gute erst erreicht werden müßte. […] Nur diese Täuschung läßt uns handeln. […] Der logische Status von Denken besteht in der Überwindung dieser Täuschung.“ (SuB VI/3, 441.) Der aus der Endlichkeit unserer Existenz resultierende, täuschende Eindruck, das Gute lediglich als Seinsollendes zu haben, ist Movens von Kultur. Im technisch-praktischen Weltumgang hat das Gute eine Funktion, die sich auch nur auf den technisch-praktischen Aspekt des menschlichen Weltumgangs beschränkt. Doch der Mensch ist mehr als die Summe seiner Taten. Das Gute als die Wahrheit des Menschseins ist in jedem Moment seiner Genese verwirklicht. „Die Würde des Guten besteht in seiner schlechthinnigen Wirklichkeit.“ (A. a.O., 568.) Es ist das Gute für den Menschen – unabhängig davon, ob der Mensch nach ihm fragt oder trachtet oder es verfehlt. Jede Verfehlung erscheint als solche nur im Lichte des Guten. Den Menschen als das Wesen zu bestimmen, das sich nur verfehlen kann (n o n p o s s i t n o n p e c c a r e ), gelingt nur unter der Voraussetzung dieses Guten, das nicht erst noch erreicht werden muß, sondern schon immer den Horizont der Handlungen, Worte und Gedanken des Menschen bildet. In jedem Augenblick ist der Mensch bereits, was er sein soll. Er ist dies als Aushalten seiner eigenen Widersprüche, ein Aushalten, das von Liebrucks nicht als Harmonie begriffen ist, sofern die Widersprüchlichkeit stets bestehen bleibt. Liebrucks sieht im Leiden das Proprium des
670 A. a.O., 264.
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Menschseins.⁶⁷¹ Die Identität des Menschen ist ein unaufhörliches Abarbeiten von Nicht-Identität. Dieser Identitätsbegriff vereint gegenwärtige Erfüllung des Menschseins mit unablässiger Selbstentfremdung, ohne beide gegeneinander auszuspielen. Es ist die Leistung der Vernunft, die Spannung zwischen Selbstentsprechung und Selbstwiderspruch nicht allein auszuhalten, sondern auch zu generieren. Liebrucks erkennt die logische Struktur der Vernunft in der Sprache, in welcher etwas zugleich mit seinem Gegenteil ausgesagt, ja an seinem Gegenteil erzeugt werden kann (z. B. der Gedanke am Laut etc.). Hätte Kodalle diesen starken Sprachbegriff berücksichtigt, müßte er Liebrucks keine geistige Untreue gegenüber dessen eigenen Lehren unterstellen und Liebrucks’ Verständnis vom freien Subjekt mit dessen sittlichen Forderungen an eine Gesellschaft kontrastieren. Liebrucks fordert nicht eine Gesellschaft, welche die Beseitigung aller Widerstände für die in ihr lebenden Subjekte besorgt, sondern eine Gesellschaft, welche die Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens auszuhalten weiß, indem sie diese den ihr zugehörigen Subjekten zugesteht. Anders gesagt: Eine Gesellschaft muß das Unendliche des Endlichen zur Geltung bringen, wenn sie sittlich angemessen genannt werden soll. Es mag Liebrucks eher vorgehalten werden, daß er nicht näher benennt, wie eine solche Gesellschaftsordnung i n c o n c r e t o auszusehen hätte. Er intendiert mit seiner Philosophie allerdings auch nicht, einen entsprechenden Gesellschaftsentwurf vorzulegen. Seine gesellschaftpolitischen Überlegungen sind meiner Einschätzung nach Konsequenz, als solche aber auch Nebenprodukt seiner logischen Überlegungen. Er ist weder Kultur- noch Rechtsphilosoph. Kodalles Auffassung, Liebrucks träume von einem „Kollektiv-Ideal“ einer menschenwürdigen Gesellschaftsordnung, das sich für alle Glieder der Gesellschaft als „an der Zeit“ aufdränge⁶⁷², mißachtet, daß Liebrucks die Gegenwart des Absoluten ganz von Hegels Begriff des Konkret-Allgemeinen her begreift.⁶⁷³ Die Gesellschaft ist eine Größe, die nicht selbständig existiert, sondern nur in den einzelnen Individuen. Die Menschheit ist nur im einzelnen Menschen. Dies führt Liebrucks in seiner sprachphilosophischen Erörterung des hegelschen Theorems vom existierenden Begriff vor. Mit Hegels Verständnis des Konkret-Allgemeinen ist
671 Vgl. u. a. das Kapitel Gottes Dasein unter den Menschen: Versöhnung. 672 Vgl. Kodalle, 275. 673 „Immer noch haben sich die Staaten und die gesollten und erwünschten Gesellschaftsformen angemaßt, Glieder des absoluten Geistes zu sein. Sie haben sich nicht mit der Stelle begnügt, die des Cäsars ist, sondern usurpierten immer noch die Gottes. Wohl ist es der Gang Gottes, daß der Staat überhaupt in der Welt ist. Aber er darf nur als Mitglied des objektiven Geistes in der Welt sein, wenn die Menschen innerhalb seiner selbst als dem Behälter von existierenden Begriffen leben können sollen.“ (SuB VI/3, 540.)
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die Durchsetzungsfähigkeit des Absoluten in den Weiten der Geschichte ebenso bezeichnet wie die Tatsache, daß jeder Einzelne in individueller Weise von dieser Gegenwart betroffen ist. Die Gegenwart Gottes setzt sich nicht erst durch in einer endzeitlichen Heilszeit, sondern als Logos der Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, demnach aber in eben jener von Kodalle geforderten „Solidarität, die sich, ohne Selbst-Vergessenheit, der fremden Wirklichkeit des Anderen vorbehaltlos öffnet, bezeugt, daß das Reich Gottes da ist.“⁶⁷⁴ Liebrucks formuliert die Logik, in welcher solche Aussagen getroffen werden können, so daß die Gegenwart Gottes im Menschensohn kein Gegenstand der Sehnsucht mehr ist, sondern begründet ausgesagt werden kann. Dagegen erscheint Kodalles Vision fragwürdig, die Lösung gesellschaftlicher Probleme in das Subjekt zu verlegen: „Als immer schon gesellschaftliches Wesen setzt das Ich vielmehr zunächst absolut für sich die Ausbeutungsmacht außer Kraft und in der Folge kann ihm dann auch die rechtliche Ummäntelung des Falschen kein letztes, eben pseudo-absolutes Wort mehr sein! In sich, als existierender Begriff, gelangt der Mensch zur ‚Seligkeit des Begriffs‘“.⁶⁷⁵ Ist die Entfremdung als Moment des Absoluten nie zu überwinden, so läßt sich Kodalle zufolge kaum von einer Gesellschaft eine integrative Kraft erwarten, welche die Freiheit aller in ihr lebenden Einzelnen zu harmonisieren wisse.⁶⁷⁶ Laut Kodalle zeichne es vielmehr das Subjekt aus, sich angesichts der Entfremdung in der Gesellschaft zu behaupten und sich somit als frei zu erweisen. Eine Gesellschaft wird zwar durch die Einzelnen getragen, in denen sie besteht; wenn aber Kodalle betont, die Selbstwahrnehmung des Einzelnen müsse sich e o i p s o auf sein Weltverhältnis auswirken, kann er nicht verlangen, der Einzelne müsse, (auch) wenn sein Weltverhältnis dem widerspricht, die Seligkeit allein in sich selbst suchen. Eine solche Innerlichkeit aufzuheben, ist Liebrucks mit seinem Verständnis des menschlichen Weltumgangs als Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung entgegengetreten. Was es darüber hinaus bedeuten soll, wir seien im absoluten Geist dazu befähigt, „jetzt in eine andere Welt zu springen“⁶⁷⁷, läßt Kodalle wohlweißlich selbst offen.Wenn der „Sprung“ in eine andere Welt laut Kodalle vonnöten ist, so verfällt er doch selbst einem substanzhaften Denken, das er eigentlich Liebrucks unterstellen will. Die Stärke von Liebrucks’ Entwurf ist es, keine Weltflucht begehen zu müssen, keine zweite Welt oder ein neues Weltzeitalter ersehnen zu müssen: Unsere Wahrheit ist uns laut Liebrucks nie transzendent, das habe ich im Kapitel zu Gottes- und Subjektbegriff dargestellt. 674 675 676 677
Kodalle, 275. A. a.O., 276. Vgl. a. a.O., 277. Ebd.
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Es erscheint mir unangemessen, daß Kodalle seine als grundsätzlich auftretende Kritik an Liebrucks’ philosophischem Werk auf einem einzelnen Aufsatz und einzelnen Stellen aus dem dritten Band von Sprache und Bewußtsein aufbaut. Liebrucks’ Werk wird durch diese reduzierte Lektüre in eine bestimmte Ecke gedrängt, in welcher zumindest ich es nicht begreife. Das Werk im Ganzen gesehen, offenbart andere Kerninteressen als die von Kodalle bezifferten. Kodalle verrät selbst eine gewisse Unausgegorenheit seiner Liebrucks-Darstellung, indem er zu allen Zitaten aus Sprache und Bewußtsein, die er gegen Liebrucks auslegt, zugleich Stellen anführt, in denen er doch gelesen haben will, was er selbst fordert. Daß Kodalle seinen Aufsatz mit Liebrucks-Zitaten schließt, die seine eigenen Thesen befördern, läßt eine gewisse Unentschlossenheit vermuten, Liebrucks als den eigenen Auffassungen kontrastierenden Denker zu begreifen. Abgesehen von dieser formalen Kritik bemängele ich inhaltlich, daß Kodalle meiner Einschätzung nach den Sprachbegriff zu sehr ins Hintertreffen geraten läßt. Das begründet meiner Ansicht nach seine Schwierigkeiten mit dem Freiheitsbegriff Liebrucks’. Im sprachlich begriffenen Absoluten ist dessen Identität mit sich als Identität in Entzweiung, Identität von Identität und Nicht-Identität, gedacht. Die Aufhebung des Widerspruchs im Absoluten ist nicht das Auflösen des Widerspruchs. Die Selbstentfremdung des Absoluten ist Moment seiner Genese. Insofern ist es seinen Widersprüchen niemals transzendent, so daß seine Immanenz als ein Zustand, eine Ära oder ähnliches erwartet werden müßte, die den Zustand seiner Entfremdung ablöste. Der sprachlogisch-dialektische Begriff des Absoluten, der als solcher den Begriff des Subjekts einschließt, läßt keine futurische Eschatologie zu. Genau genommen führt bereits die Annahme eines Absoluten eine futurische Eschatologie a d a b s u r d u m : ein Absolutes ist solches in dessen allgegenwärtiger Wirksamkeit. Für Liebrucks, das sei hier abschließend noch einmal betont, ist die Perichorese von Idealität und Realität, d. i. das wechselseitige Erzeugen von Denken und Erfahrung, Hauptmerkmal des menschlichen Weltumgangs als Darstellung des Logos. Der von Liebrucks dargelegte Zusammenhang von Denken und Erfahrung ergibt sich aus dem Erfahrungsbegriff der Phänomenologie des Geistes, in welcher Hegel die Erkenntnisrelevanz der Erfahrung in Abgrenzung zur reinen Introspektion untermauert. Der von Hegel konzipierte Panlogismus geht davon aus, daß, sofern Vernunft in der Welt ist, das, was wahr ist, auch wahrnehmbar sein müsse. Somit vertritt er eine geschichtliche Grundierung des Denkens. In dieser Geschichte des Denkens ist die Neuheit des neuen Gegenstandes eine Täuschung. Vielmehr ist sie neue Erfahrung eines Alten, und zwar nicht eines
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Gegenstandes, sondern einer Konstellation.⁶⁷⁸ Vielleicht kann man mit einer Formulierung Jüngels von einer Erfahrung mit der Erfahrung sprechen. In jedem Fall ist mit der Rückführung auf den hegelschen Erfahrungsbegriff jeder futurischeschatologischen Deutung des von Liebrucks vertretenen Geschichtsverständnisses die theoretische Grundlage entzogen. Das Manko dieses Geschichtsverständnisses besteht ausdrücklich nicht darin, einen Graben zwischen erlebter Geschichte und einer diese Geschichte ablösenden Endzeit zu ziehen; vielmehr ist es durch die Behauptung der vorgängigen und konsequenten Gegenwart des Heils schwierig zu entscheiden, wann eine Erfahrung als religiös, als „Erfahrung mit der Erfahrung“ zu begreifen ist, d. h. als eine Erfahrung der Gegenwart des Unendlichen im Endlichen. Ein Abgrenzungskriterium gibt es nicht, anhand dessen bestimmt werden könnte, wann man davon ausgehen kann, daß eine Erscheinung religiöser Natur ist. Beschaffenheiten der „Erfahrung mit der Erfahrung“ sind nicht festgelegt. Der Glaube erkennt den Glauben, möchte man mit Luther konstatieren. Die Wahrheit ist also nie evident. Das macht es unmöglich, mit ihr zu rechnen, obschon sie Maßstab und Korrektiv aller sittlich adäquaten Institutionalisierung der menschlichen Lebenswelt sein muß. In der Konsequenz beruhen ethische Diskussionen und Unklarheiten meist auf Beschreibungsproblemen: Was ist z. B. die Würde des Menschen? Wem kommt sie zu? Woran will man sie erkennen? Oder ist sie nur nominell verliehen? Mit Liebrucks gedacht ist sie nicht unter einem Mikroskop zu sehen, aber in einem Kunstwerk. Sie ist zu sehen, wo die geistige Unendlichkeit in den endlichen Lebensvollzügen des Menschen zutage tritt. Aber (wie) ist aus einer solchen Angabe ein Handlungsmodell zu entwickeln? Liebrucks bleibt konkrete Antworten schuldig. Seine Darlegungen verraten jedoch, daß er nicht davon ausgeht, ein naturalistischer Begriff vom Menschen müsse dessen Würde zum Ausdruck bringen. Das Natürliche ist nicht immer das Gute. Daher ist der Mensch als Kulturwesen dazu aufgefordert, im Einklang mit der Natur über diese auch hinauszugehen. Das natürliche Bewußtsein ist noch nicht frei zu sich, weil es keinen Begriff seiner selbst hat, dem es entsprechen oder widersprechen könnte. Diese Freiheit zu sich selbst aber ist die Würde des Subjekts, die also durchaus auch ein Zuschreibungsbegriff ist: Sie will unter den gegenwärtigen Lebensumständen immer wieder neu ausgesprochen sein. Die Würde seines Geistes entfaltet sich dessen dialektischer Bewegung zwischen Geistigkeit und Sinnlichkeit gemäß allein in der Treue gegenüber der Erde. Der Mensch ist existierender Begriff, also ist auch seine Würde nichts der Realität Enthobenes, Ideales (vs. Kant). Die Würde des Menschen ist seine Würde als existierender Begriff. „Es ist die einzige Würde,
678 Vgl. Hegel, PhG, 66.
C. Der Umgang mit dem Wort
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die der Mensch hat.“ (SuB III, 503.) Die Freiheit, sein eigener Begriff, existierender Begriff zu sein, ist vorgängig und unverbrüchlich in der Sprachlichkeit der menschlichen Vernunft begründet; es ist Teil dieser Freiheit, sie ergreifen oder verraten zu können. Lebensformen und Handlungsmodelle zu finden, die dieser Dialektik von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit entsprechen, ist die sittliche Aufgabe jedes Individuums und jeder Gesellschaft. Würdevolles Handeln ist sittliches Handeln: Wer Würde zugesteht, bringt seine eigene Würde darin zur Geltung. Diese Aussage kann ebenso über die Freiheit getroffen werden. Erfüllt wird die sittliche Aufgabe nur in dem Bewußtsein, daß die Freiheit, die etwa eine Institution gewährt, nicht Produkt dieser Institution ist: Sie bringt allein zur Geltung, woraus auch sie sich empfängt. Des Menschen Freiheit besteht darin, seiner Freiheit Ausdruck geben zu können; der Grund seiner Freiheit ist ihm darin ebenso eigen wie entzogen. Diese Entzogenheit ist Schutz der Freiheit. Freiheit ist unverlierbar. Ihre Depravationsformen sind ihr Moment. Der Gefahr, eine ihrer Depravationsformen, die als solche Ausdruck von Unfreiheit sein müssen, könnte anstelle der Freiheit als Erfüllung des Menschseins befohlen werden, ist dadurch widersprochen, daß allein Freiheit als solche über ihre Widersprüche erhaben ist, indem sie diese in sich aufzuheben weiß. Unfreiheit kann sich nur insofern als Freiheit ausgeben, als sie alles ihr Widerstreitende flieht, eliminiert, verleugnet oder ausschließt. Freiheit ist solche als Versöhnung von Identität und NichtIdentität. Als solche ist sie das Heil und die Wahrheit des Menschen.
C. Der Umgang mit dem Wort Um seiner Sprachphilosophie in Bezug und Abgrenzung zur philosophischen Tradition zum Durchbruch zu verhelfen, muß Liebrucks nicht selten die Sprache durch Wortschöpfungen oder Bedeutungsverschiebungen neu erfinden – um den Preis schwerer Verständlichkeit, die vielleicht einer der Gründe der verhaltenen Rezeption von Sprache und Bewußtsein ist. Einer Übersetzung des Werkes in andere Sprachen steht die Spezifizität der Ausdrucksweise Liebrucks’ ebenfalls oft im Wege, ein Umstand, den er selbst mit seinem Sprachverständnis begründet: Das Geborenwerden in eine Muttersprache kann man nicht durch Erlernen von Grammatik und Vokabeln einholen. (Vgl. SuB I, 378.) Das Schicksal der Bindung an die deutsche Ausdrucksweise teilt sich Liebrucks mit anderen Philosophen wie vor allem dem von ihm verehrten Hegel, dessen Geist-Begriff keine adäquate Vokabel zum Beispiel in der englischsprachigen Rezeption zuzuordnen ist, weshalb die Übersetzung entweder mit „mind“ oder „spirit“ versucht wird, was in jedem Fall einen interpretatorischen Impetus aufweist, den es zu prüfen gilt. Dasselbe Problem besteht für Liebrucks’ zentrale Begriffe der Sprache oder
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9. Fazit: Im Wort geschaffen
Sprachlichkeit: Fremdsprachige Pendants dieser Begriffe kongruieren nicht mit der spezifischen Bedeutung, die Liebrucks ihnen beilegt. (Vgl. Wesen, 2.) Die Unbestimmtheitshöfe, die sich in Übersetzungen ergeben, mögen hier zu groß werden, um noch nachvollziehen zu können, was Liebrucks in seiner Sprachphilosophie bedenken will. Der Zugang zu seinen Texten erschließt sich am ehesten über einen Terminus, der jedoch aus einer anderen Sprache als der deutschen stammt: das altgriechische Wort λογος. In einen deutschen Begriff vermag Liebrucks diesen Ausdruck nicht zu fassen. Ihn auszulegen, benötigt Liebrucks neun umfangreiche Bücher und mehrere Aufsätze, ohne damit die begriffliche Erschließung des Bildes vom ins Fleisch kommenden Wort eingeholt zu haben. In seinen Bildern ist sich der Geist stets voraus, wie Blumenberg weiß.⁶⁷⁹ Die Lebendigkeit des Logos wird in keinem sprachlichen Werk erschöpft, wie umfangreich es auch sein mag. Sie stellt sich unablässig selbst dar, wo menschliches Leben in der Welt ist. Da sie sich über ihren eigenen Widerspruch generiert, erhebt auch Liebrucks in seinem Werk nicht den Anspruch, Sprach- und Denkformen erarbeitet zu haben, die in ihrer begrifflichen Umschreibung des sich jeder Form hingebenden wie auch entziehenden Logos nicht übertroffen werden könnten. „Der Philosoph hat wie der Hausbesitzer immer Reparaturen“, resümiert Wilhelm Busch.⁶⁸⁰ Die philosophische Sprache erscheint, je detaillierter und präziser sie zu werden bemüht ist, um so offener. Die Metapher ist daher eine von Liebrucks bevorzugte Ausdrucksform. Welche Metapher jedoch als literarischoffene oder als wissenschaftlich-geschlossene gelesen werden will, scheint mitunter in der Willkür des Lesers zu liegen. Ebenso die Entscheidung darüber, welche Begriffe als Metaphern zu verstehen seien. Jeder Begriff hat ein metaphorisches Moment; aber sind alle Begriffe deswegen Metaphern? Aufgrund der Ungelöstheit dieser Frage kann der bildhafte Charakter der Schriften Liebrucks’ nicht über eine gewisse Härte des Ausdrucks hinwegtäuschen, vor allem dort, wo die Metaphern sich selbst unterlaufen oder gebrochen werden. Diese Härte des Ausdrucks ist zu reflektieren, als Moment von Darstellung und Inhalt selbst zu begreifen. Hätte Liebrucks die Härte seiner Worte aufweichen wollen, hätte er dies vermocht. Da er dies unterläßt, ist die für seine Texte typische Unwegsamkeit seiner Argumentationsläufe als Bestandteil seiner Argumentation zu begreifen. Wenngleich er den trotz des Umfangs seines Werks aphorismenhaften Zug seiner Schriften ebenso mit dem Hinweis auf „Zeitmangel“ zu entschuldigen sucht: „Es werden keine Resultate in Thesenform gegeben, da mir die Zeit für solche resul-
679 Vgl. Blumenberg, PM, 11. 680 Busch, Wilhelm, Was beliebt ist auch erlaubt, Sämtliche Werke, Bd. II, hg.v. Hochhuth, Rolf, München 200812, 874.
C. Der Umgang mit dem Wort
547
tathaften Formulierungen nicht gegeben zu sein scheint. Der kürzeste Weg ist hier der lange Weg durch die Texte […].“ (SuB VI/1, 17 f.) In diesem Ausspruch wird zugleich der Hinweis darauf gegeben, daß eine Philosophie des sprachlichen Weltumgangs als dessen Vollzug errungen werden will, sich aber nicht als Entwurf vorsetzen läßt. (Vgl. a. a.O., 17.) Damit ist ein hoher Anspruch an die Rezipienten dieser Philosophie gestellt. Liebrucks ist der Überzeugung: „Gott hat nicht eine Elite von Menschen in bezug auf die Erkenntnis bevorzugt.“ (SuB VII, 80.) Aber ist Liebrucks’ Philosophie tatsächlich elementarisierbar? Oder nicht doch eher elitär? „Es ist [..] weder Kunst noch Religion noch eine vernünftige Veränderung der gesellschaftlichen Zustände möglich, wenn die Verhaltensweisen des Menschen nicht den Umweg über diesen Begriff nehmen. An sich tun sie es freilich immer. Darin besteht der Trost, daß der Mensch auf je individuelle Weise zur Erkenntnis dieser seiner Wahrheit gelangen kann und diese Einsicht nicht den Philosophen von Profession durch das Studium dieser Logik vorbehalten bleiben muß.“ (SuB VI/3, 189.) Doch der die Wahrheit Gottes und die Wahrheit des Menschen versöhnende Identitätsbegriff, den Liebrucks formuliert, ist das Resultat eines den „Umweg“ nehmenden Denkens. Begriff kommt von „begreifen“. Wenn also die Identität an das Begreifen gekoppelt ist, kann dann wirklich jeder Mensch zu sich selbst kommen? Wer vermag den Umweg über den Begriff zu gehen? Abgesehen von intellektuellen Fähigkeiten ist es eine Frage der Bildung und – meist damit zusammenhängend – eine Frage der finanziellen und gesellschaftlichen Position, deren Beantwortung über den Zugang zur Selbstreflexion das Urteil fällt. Auch zur Reflexion auf die eigene Freiheit muß man erst einmal frei sein. Die Reflexion auf sich selbst ist ein Luxusgut derer, die sich in der glücklichen und seltenen Lage befinden, nicht ausschließlich um ihr Überleben kämpfen zu müssen. Mit einem Blick auf die Vorgänge in der globalen Gesellschaft ist es wohl tatsächlich nicht verfehlt, von der Freiheit als einem Luxus zu sprechen – sei es auf erkenntnistheoretischer, sozialer oder politischer Ebene. Es erscheint etwas leichtfertig, zu konstatieren, der Mensch bilde sich den Begriff seiner selbst in der Erkenntnis seiner Sprachlichkeit, die es „gegen den Augenschein des Alltags jeden Tag zu erobern“ gilt. (SuB I, 24.) Das Zu-sich-Kommen des Bewußt-Seins ist eine Aufgabe, die sich „über ein Leben hin erstrecken muß, von dessen Erstreckung her sich der Rang des Menschen bestimmt.“ (SuB VI/3, 89.) Damit ist ebenfalls deutlich gesagt, daß die Verweigerer dieser Entwicklung unter ihrem eigentlichen Menschsein zurückbleiben. Was ist im Hinblick auf Personen zu sagen, denen diese Entwicklung aus Gründen, die sie nicht zu beeinflussen vermögen, versagt bleibt? Diese Frage findet man bei Liebrucks weder explizit beantwortet noch gestellt. Man wird ihm zugute halten müssen, daß jeglicher Entwurf einer Logik vom Ideal eines geistig gesunden, mit den Möglichkeiten und Fähigkeiten zur eigenen Bewußtseinsentfaltung gesegneten Menschen ausgeht. Er fordert sprachliches
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9. Fazit: Im Wort geschaffen
Handeln von jedem Menschen, weil er dieses mit sittlichem Handeln gleichsetzt. Gegenstand des Sittlichen ist das für den Menschen Gute. Dieser Gegenstand begründet die allgemeine Verbindlichkeit des sittlichen Imperativs. Das Gute für den Menschen ist dessen eigene Wahrheit. Diese muß ihm, ist es wirklich seine Wahrheit, erkennbar sein.Was von jedem Menschen gefordert ist, muß von jedem Menschen erkannt werden können. Daher ist anzunehmen, daß die Erkenntnis der Wahrheit des Menschen, die Liebrucks in der Logos-Struktur des Bewußt-Seins sieht, keine „nur akademische Angelegenheit“ sei. (SuB I, 2.) In Denken und Handeln sein eigener Begriff zu werden, ist als sittliche Forderung nur deswegen keine Überforderung, weil dieser Begriff über seine Widersprüche und Verfehlungen gewonnen wird.
D. Als Theologe Liebrucks lesen? Das Thema Religion wird im Kontext der von Liebrucks konzipierten Sprachphilosophie gänzlich mit Hinblick auf die Logik religiöser Weltreferenz betrachtet. Religionsphänomenologische, tiefenpsychologische oder anthropologogische Aspekte von Religion sind für Liebrucks nicht von Interesse; ebensowenig theologische Lehrstücke. Der Gottesbegriff, den Liebrucks erarbeitet, ist die Quintessenz seiner sprachlogischen Erkenntnistheorie. An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, daß Liebrucks nicht explizit die Formulierung eines Gottesbegriffs als Ziel seiner philosophischen Arbeit ankündigt. Es ist vielmehr die Arbeitsfrage der vorliegenden Untersuchung gewesen, inwiefern Liebrucks einen Gottesbegriff in seine Sprachphilosophie einführt. Tatsächlich ist die spekulative Grundfigur in Liebrucks’ Philosophie eine theologische: der absolute Geist als Logos, wie er (auch) im Neuen Testament bezeugt ist. Religiöse Erkenntnis ist somit deutlich kein Sonderfall von Erkenntnis. In der Religion geht es wie in der Philosophie immer um „das Ganze“, um die Wahrheit. Philosophische und religiöse oder theologische Rede formulieren keine Meinungen. Eine Meinungsäußerung bezieht sich auf Einzelnes, etwas Bestimmtes. Eine Meinung, δοξα, ist eine unmittelbare Behauptung, die nicht auf ihre Voraussetzungen reflektiert. Was Liebrucks sich aber zur Aufgabe seiner Philosophie macht, ist auch die Aufgabe der Theologie: Wahrheit bewahren und thematisieren, um dem Menschen dessen Freiheit zugänglich zu machen. Liebrucks bringt mit seiner Sprachphilosophie die Wahrnehmung des Johannesevangeliums im deutschen Idealismus zur Geltung. Sein Entwurf umgeht die kategoriale Entscheidung, Sprachphilosophie als Spielart eines Idealismus‘ oder Realismus‘ zu definieren oder als Ausdruck einer Mitte des vergangenen Jahrhunderts in philosophische Mode gekommenen Nominalismuskritik. Die
D. Als Theologe Liebrucks lesen?
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Konsequenz des von Liebrucks erarbeiteten Sprachbegriffs,von dem aus sich auch die Methode seiner Philosophie bestimmt, ist die Aufhebung solcher Kategorisierungen im Begriff des Logos, der das Ideale wie das Reale zu seinem Moment hat. Dieser Momentcharakter bleibt nur in einer Begrifflichkeit geborgen, die nicht versucht, das Denken des Logos „in einem Ismus einzubalsamieren“. (Vgl. SuB II, 48.)⁶⁸¹ Eine Zuordnung von Liebrucks’ Philosophie zu einer bestimmten Denkposition ist auch insofern eine c u r a p o s t e r i o r, als Liebrucks selbst betont, Denken lasse sich nicht als Typus, Art oder Gattung erfassen, sondern erschließe sich in den Nischen der Denkgeschichte als das lebendige Übergehen in eine nächsthöhere Denk-„Stufe“. Der Geist kommt zu sich, indem er sich als Denken selbst denkt. Die sich selbst denkende als die vollkommene, insofern göttliche Vernunft ist ein Philosophem, das bereits auf Aristoteles zurückgeht und dessen begriffliche Darlegung sich Hegel zur philosophischen Aufgabe macht. Liebrucks erkennt Hegels philosophisches Anliegen als das seine und entdeckt die logische Struktur der νοησις νοησɛως im Logos als Sprache. Er appliziert Hegels Theorie des absoluten Geistes, der sich in seiner Entfremdung in den subjektiven Geist sich denkend wieder auf sich rückbezieht und insofern im Anderen seiner selbst ganz bei sich ist, auf einen Begriff von Sprache, die als in Denken und Erfahrung unhintergehbare Einheit von Subjektivität und Objektivität, Idealität und Substantialität, Allgemeinem und Besonderem logisch einzulösen vermag, was Hegel als logische Struktur des Geistes annimmt. In dem von ihm formulierten Gottesbegriff verdichtet Liebrucks seine sprachlogische Deutung eines Absoluten: Gott ist Liebrucks zufolge dauernder Korrespondent von Sprache und Bewußtsein. Die Logik des Logos ist die Logik des menschlichen Weltumgangs als Sprache. Im Hylemorphismus der Sprache erzeugen sich Begriff und Erfahrung, Geistigkeit und Sinnlichkeit, Unendliches und Endliches aneinander. Ihre dialektische Struktur erweist Sprache als Identität von Identität und Nicht-Identität, in der sich der Geist als Geist der Wahrheit erweist, dem es als solchem eignet, seinen eigenen Widerspruch als Moment seiner Genese in sich zu tragen und somit in tiefster Entfremdung zugleich in tiefster Selbstübereinstimmung zu sein. Diese Wahrheit des Geistes ist am Kreuz Jesu Christi Gestalt geworden. In ihm verkündet sich die Wahrheit des Logos als Wahrheit des Menschen, der in der Logik seiner Weltreferenz zugleich Gott bezeugt und sich selbst ausspricht. Gemäß der Struktur des Absoluten als all seine Widersprüche inkludierendes Ganzes umschließt also der Begriff des Absoluten, der Gottesbegriff, auch den Begriff des menschlichen
681 „Unsere Sprachanalyse führt zu dem längst fälligen Ergebnis der völligen Gegenstandslosigkeit der Entgegensetzung von Materialismus und Idealismus.“ (SuB I, 195.)
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9. Fazit: Im Wort geschaffen
Subjekts. So ist an der metaphorischen Rede vom Menschen als Marionette Gottes der Gottesbegriff zu veranschaulichen. Bei Liebrucks sind das menschliche und das göttliche Tun immer ein und dasselbe. Lösen sich daher Menschsein und Gottsein in Liebrucks’ Begriff des Absoluten auf, auch wenn ihr jeweils am Gegenüber erzeugtes Anderssein betont wird? Eine Identität von Gott und Mensch muß die totale Unterschiedenheit beider in sich begreifen. Sofern Liebrucks in Anschluß an Hegel den eigenen Widerspruch als konstituierendes Moment von Identität erkennt, steht die Freiheit Gottes nicht in Rivalität zur menschlichen Freiheit. Die Freiheit des Menschen empfängt sich aus der absoluten Freiheit Gottes, daher ist der Mensch nur als Marionette Gottes frei. Das menschliche Anrufen von Gott oder Göttern zeigt uns unsere Endlichkeit auf – es besteht keine Koinzidenz von Gott und Mensch. Dennoch sind bei Liebrucks Sätze wie der folgende zu lesen: „Der Mensch existiert nur als menschlich und göttlich zugleich, als Ebenbild Gottes.“ (Denken, 196.) Ist hier zugunsten der Selbständigkeit des Menschen Gottes Personalität untergraben? Kann aber, wenn Gott nicht mehr personal ist, sein Geschöpf eine eigenständige Person sein? Diese Frage sei in bezug auf den von Liebrucks formulierten Gottesbegriff gestellt, ohne darauf eine Antwort zu erwarten: Liebrucks sieht dieses Problem nicht, daher wird sich bei ihm keine Lösung finden. Er spricht von Gott als Logos, eine metaphorisch zu umschreibende Bewegung des Geistes, als dessen Selbstreferenz sich das menschliche Subjekt ausspricht. Das zu sich kommende Bewußt-Sein ist insofern eine Kräftigung des Gottesbewußtseins, wie es in der Botschaft Jesu Christi bisher unübertroffen verkündet wird.⁶⁸² Das Heilige offenbart sich in allen Religionen; aber die adäquate Darstellung hat es laut Liebrucks bisher einzig in der Gestalt Jesus Christus gefunden: Des Menschen sittliche Freiheit und Verantwortlichkeit als aus dessen unaufkündbarer Bezüglichkeit zu Gott empfangen zu wissen und zu bezeugen, verleiht für Liebrucks dem Neuen Testament den Titel „größte Revolution auf unserer Erde“.⁶⁸³ Mit Liebrucks kann man jedoch nicht mehr nach der Identität Jesu Christi fragen, sondern Jesus Christus lediglich als Reflexionsgestalt von Identität überhaupt begreifen. Für das christliche Kerygma ist aber die Vollkommenheit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus entscheidend: Das Bekenntnis zum wahren Gott, der wahrer Mensch ist, beinhaltet zum einen den Exklusivitätsanspruch der Offenbarung, zum anderen die Bindung der Offenbarung an einen besonderen Menschen. Sofern Liebrucks
682 Vgl. Schleiermacher, CG2, § 94. 683 Liebrucks, Bruno, Bemerkungen zum Problem der drei Labyrinthe bei Erich Heintel im Blick auf die logische Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit, in: Nagl-Docekal, Herta (Hg.), Überlieferung und Aufgabe. FS für Erich Heintel zum 70. Geburtstag, Bd. 1, Wien 1982, 239 – 264, 256.
D. Als Theologe Liebrucks lesen?
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diese Bindung an die historische Person Jesus von Nazareth nicht nachvollzieht, stellt sich ihm das Christentum als ablösbare Bewußtseinsstufe dar – obwohl sie die vollkommene Offenbarung Gottes beinhaltet. Dem Theologen sei die Lektüre Liebrucks’ anempfohlen, weil er sich durch dessen begriffliche Aufarbeitung des Logos-Begriffs herausgefordert sehen wird in bezug auf seine eigenen Sprachformen, die er zur Vermittlung des an sich Unvermittelbaren findet. Gott als Korrespondent von Sprache und Bewußtsein – in diesem Gottesbegriff wird das christliche Vertrauen philosophisch paraphrasiert, daß sich der Mensch ohne sein Zutun immer schon von Gott gehalten und bewahrt wissen darf. Der Ruf Gottes, sich mit ihm versöhnen zu lassen, ist an uns ergangen in dem Moment, in dem wir in die Entzweiung, die unser irdisches Leben ist, geboren werden. (Vgl. II Kor 5, 20.) Unsere Wahrheit liegt in den Händen Gottes und will von uns gefunden werden. Die Vorgängigkeit der Wahrheit, welche die Philosophie das Absolute und die Theologie Gott nennt, läßt unser Fragen nach ihr begründet sein. Unsere Wahrheit korrespondiert uns. Sie ist schon die unsere und will doch erst noch von uns begriffen sein. „[…] fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.“ Augustinus, Confessiones I/1
10. Literatur A. Siglen CG2 Enzykl. Logik I Logik II PhG PM PU SuB SZ WA WE
Schleiermacher, Der christliche Glaube Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. II Hegel, Phänomenologie des Geistes Blumenberg, Paradigmen einer Metaphorologie Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen Liebrucks, Sprache und Bewußtsein Heidegger, Sein und Zeit Luther, Werke (Weimarer Ausgabe) Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung
B. Quellen Aufgeführt werden die in der vorliegenden Untersuchung zitierten Texte von Bruno Liebrucks mitsamt den von mir verwendeten Kurztiteln. Die Auflistung der Schriften erfolgt in chronologischer Abfolge. Probleme der Subjekt-Objektrelation, Stallupönen 1934. Platons Entwicklung zur Dialektik. Untersuchungen zum Problem des Eleatismus, Frankfurt a. M. 1949 [= Berlin 1943]. Sprache und Bewußtsein, Band 1: Spannweite des Problems. Von den undialektischen Gebilden zur dialektischen Bewegung, Frankfurt a. M. 1964. [SuB I] Band 2: Von den Formen „Sprachbau und Weltansicht“ über die Bewegungsgestalten „innerer Charakter der Sprachen“ und Weltbegegnung zur dialektischen Sprachbewegung bei Wilhelm von Humboldt, Frankfurt a. M. 1965. [SuB II] Band 3: Wege zum Bewußtsein. Sprache und Dialektik in den ihnen von Kant und Marx versagten, von Hegel eröffneten Räumen, Frankfurt a. M. 1966. [SuB III] Band 4: Die erste Revolution der Denkungsart. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a. M. 1968. [SuB IV] Band 5: Die zweite Revolution der Denkungsart. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1970. [SuB V] Band 6/1: Der menschliche Begriff. Sprachliche Genesis der Logik, logische Genesis der Sprache, Frankfurt a. M. 1974. [SuB VI/1] Band 6/2: Der menschliche Begriff. Sprachliche Genesis der Logik, logische Genesis der Sprache. Hegel: Wissenschaft der Logik. Das Wesen, Frankfurt a. M. 1974. [SuB VI/2] Band 6/3: Der menschliche Begriff. Sprachliche Genesis der Logik, logische Genesis der
C. Literatur
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Sprache. Hegel: Wissenschaft der Logik. Der Begriff, Frankfurt a. M. 1974. [SuB VI/3] Band 7: „Und“. Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos, Realität und Wirklichkeit , Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1979. [SuB VII] Erkenntnis und Dialektik. Zur Einführung in eine Philosophie von der Sprache her. Aufsätze aus den Jahren 1949 bis 1971, Den Haag 1972. Über das Wesen der Sprache. Vorbereitende Betrachtungen (1950), 1 – 20. [Wesen] = Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. V, Heft 4, 465 – 484. Idee und ontologische Differenz, 68 – 109. = Kantstudien, Bd. 48, 268 – 301. Reflexionen über den Satz Hegels „Das Wahre ist das Ganze“, 152 – 195. [Reflexionen] = Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1963, 74 – 114. Das nicht automatisierte Denken, in: Pongratz, Ludwig J., (Hg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Hamburg 1975, 168 – 223. [Denken] Bemerkungen zum Problem der drei Labyrinthe bei Erich Heintel im Blick auf die logische Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit, in: Nagl-Docekal, Herta (Hg.), Überlieferung und Aufgabe. FS für Erich Heintel zum 70. Geburtstag, Bd. 1, Wien 1982, 239 – 264. Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982. Sprache und Metaphysik, 16 – 41. [Sprache und Metaphysik] Wissenschaftlicher Weltumgang und Entsprachlichung, 43 – 76. [Weltumgang] Drei Revolutionen der Denkart, 77 – 97. [Revolutionen] Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis bei Kant, 98 – 121. [Selbstbewußtsein] Der originale Gedanke in Kants „Kritik der reinen Vernunft“, 122 – 155. [Gedanke] Sprache und Kunst, 157 – 182. [Sprache und Kunst] Mythos und Freiheit bei Friedrich Hölderlin, 183 – 220. [Mythos und Freiheit bei Friedrich Hölderlin] Das Problem der Sprachaufstufung und der Vorrang der Eindeutigkeit bei Theodor Litt, 232 – 271. [Sprachaufstufung] Sinnfrage und Kontingenzerfahrung, 273 – 309. [Sinnfrage und Kontingenzerfahrung] Schriftstellerische, mythische, mythologische, mythologisch-geschichtliche sowie logische Rede über den Mythos, 311 – 345. [Rede] Ist Sprache Handlung?, 347 – 371. [Handlung]
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10. Literatur
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10. Literatur
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C. Literatur
557
— Gedichte bis 1800, Sämtliche Werke (Große Stuttgarter Ausgabe), Bd. I/1, hg. v. Beißner, Friedrich, Cotta 1946. — Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797 – 1799), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. III, hg. v. Beißner, Friedrich, Stuttgart 1957, 18 – 160. — Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. II, hg. v. Beißner, Friedrich, Stuttgart 1953, 37 – 39. Humboldt, Wilhelm von, — Einleitung zum Kawiwerk, Gesammelte Schriften, Bd. 7/1, hg. v. Leitzmann, Albert, München 1907. — Geschichte der Abhängigkeit im Menschengeschlechte (1827/8), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, durch Leitzmann, Albert, Berlin 1903 – 1936, 653 – 655. — Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus [1824 – 26], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5, Berlin 1906, 364 – 475. — Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur (1794), Werke in fünf Bänden, hg. v. Flitner, Andreas/Giel, Klaus, Bd. I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 20024. — Ueber die männliche und weibliche Form (1795), Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. Leitzmann, Albert, Berlin 1903, 335 – 369. — Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, mit Nachw. vers. u. hg. v. Nette, Herbert, Darmstadt 1949. — Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830 – 1835), in: ders., Werke, Bd. III, hg. v. Flitner, Andreas/Giel, Klaus, Darmstadt 19634, 368 – 756. Iber, Christian, Hegels Paradigmenwechsel vom Bewußtsein zum Geist, in: Kunes, Jan/Karasek, Jindrich/Landa, Ivan (Hgg.), Hegels Einleitung in die Phänomenologie des Geistes, Würzburg 2006, 125 – 140. Jeremias, Joachim, Art. παραδɛισος, ThWNT V, Stuttgart 1966 [= 1954], 763 – 771. Jonas, Hans, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1987; abgedr. in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1994, 190 – 208. Jüngel, Eberhard, — Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, Tübingen 20023. — Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, um ein Vorwort erg. Aufl., Tübingen 20017. Kafka, Franz, — Gesammelte Schriften, Bd. 5: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, hg. v. Brod, Max, New York 1946. — Tagebücher 1910 – 1923, hg. v. Brod, Max, Frankfurt a. M. 1967. Kant, Immanuel, — Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Valentiner, Theodor, Stuttgart 2000. — Kritik der praktischen Vernunft, Werke in zwölf Bänden, Bd. 7, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a. M. 1977. — Kritik der reinen Vernunft 1, Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a. M. 1968.
558
10. Literatur
— Kritik der reinen Vernunft I, Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a. M. 1974. — Kritik der reinen Vernunft II, Werke in zwölf Bänden, Bd. 4, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a. M. 1974. — Logik, Werke in zehn Bänden, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Bd. 5: Schriften zur Metaphysik und Logik, Darmstadt 1968. — Logik, Werke in sechs Bänden, Bd. 3: Schriften zur Metaphysik und Logik, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Darmstadt 1998. — Muthmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, in: Kants gesammelte Schriften, I. Abt./Bd. VIII: Schriften nach 1781, hg. v. der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig 1923, 109 – 123. — Werke in 20 Bänden, hg. v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Band 11: Berliner Schriften 1818 – 1831, Frankfurt a. M. 1986. Kierkegaard, Sören, Der Begriff Angst (1844), übers. u. mit Einl. u. Kommentar hg. v. Rochol, Hans, Hamburg 1984. Kleist, Heinrich von, — Briefe 1. März 1793 – April 1801, Sämtliche Werke, BKA IV/1, hg. v. Reuß, Roland/Staengle, Peter, Frankfurt a. M./Basel 1996. — Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, hg. v. Sembdner, Helmut, 9. verm. u. rev. Aufl., München 1993. — Über das Marionettentheater (1810), in: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3, hg. v. Streller, Siegfried u. a., Berlin/Weimar 1978, 473 – 480. — Von der Überlegung. Eine Paradoxe, in: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3, hg. v. Streller, Siegfried u. a., Berlin/Weimar 1978, 471 – 472. Kodalle, Klaus-Michael, Philosophie als ‚Einübung der Preisgabe‘. Eine Erinnerung an Bruno Liebrucks (
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10. Literatur
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Personenregister Albertz, Rainer 356, 553 Anselm von Canterbury 146, 174, 216, 258 Arendt, Hannah 26, 205, 283, 494 Aristoteles 47, 101, 107, 122 f., 145, 186 – 188, 224, 229, 232, 290, 313, 318, 367, 381, 491, 516, 549 Augustinus 154, 251, 283, 303, 403, 426, 430, 463, 509, 532, 551 Bader, Günter 408 Barth, Karl 141, 193, 283, 287, 397, 403 Bayer, Oswald 222, 360 Becker, Jürgen 468 Blum, Erhard 371 Blumenberg, Hans 30, 285, 389, 393 f., 546 Bonhoeffer, Dietrich 170, 318, 320 Büchner, Georg 304 Bühler, Karl 18, 26, 53 f., 66 f., 69, 134, 300, 404 Bultmann, Rudolf 41, 291, 359 Busch, Wilhelm 546 Dettwiler, Andreas/Zumstein, Jean Dilthey, Wilhelm 44, 120 f., 355
467
Ebeling, Gerhard 395, 466 f. Eco, Umberto 54, 335, 418 Figge, Udo Ludwig 390 Finck, Franz Nikolaus 80 Frisch, Max 400 Gehlen, Arnold 6, 18, 26 – 28, 46, 75, 103, 108 f., 112, 131, 499, 500 f., 504, 506 Gestrich, Christof 397 Goethe, Johann Wolfgang von 14, 25, 63, 420, 525 Habermas, Jürgen 21 Hamann, Johann Georg 18, 26, 42, 96, 106, 127, 143, 211, 226 f., 279, 285, 293 f., 297, 299 f., 321, 334, 337, 370, 381, 401, 410, 430, 442, 466, 470, 482, 505 f., 509, 524
Hartmann, Nicolai 1, 419 Haug, Walter 191 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 5, 8, 10, 15, 18, 20, 31 f., 44, 47, 49, 55 f., 61, 64, 69 f., 82 – 84, 88 f., 91, 93, 97, 107, 110, 113, 120, 122 f., 126 – 130, 139 – 141, 143, 151, 156 – 158, 162, 165, 171 f., 174 f., 179, 181, 183 – 185, 187, 189, 197, 200, 202 – 204, 207, 211 – 213, 216, 218 f., 221, 224, 226, 230 f., 237, 242, 244, 246, 249, 258 – 261, 267, 269, 271 f., 275, 279, 281, 286, 288 – 290, 298, 310, 313 f., 318 f., 330 – 334, 336 f., 339, 341 – 345, 350, 352, 355 – 357, 359 – 365, 369, 371, 374, 376 f., 379, 382 – 385, 391, 397, 401 f., 405, 411 f., 418, 429 – 432, 434, 442 – 444, 446 – 451, 454 – 456, 462 – 464, 467, 469, 473 – 475, 478 f., 482 – 486, 491, 494 f., 503, 505, 507 – 511, 515 – 517, 521 – 524, 535 – 537, 543 – 545, 549 f. Heidegger, Martin 3, 406, 479, 502, 523 Heine, Heinrich 333 Herder, Johann Gottfried 18, 26 – 28, 70, 97, 127, 135, 226, 298, 303, 307 Hölderlin, Friedrich 39 f., 45, 128 – 130, 143, 182, 196, 284, 300, 308, 319, 321 – 323, 326, 330 f., 350, 421, 442, 451, 522, 52 Humboldt, Wilhelm von 8, 18, 26, 50, 54, 59, 62, 76 f., 87, 95, 98, 100, 127, 194, 205, 219, 229, 265, 268, 271, 293, 296 – 298, 367, 370, 381, 393, 428, 445, 463, 482, 495 Iber, Christian
333
Jeremias, Joachim 356 Jonas, Hans 448 Jüngel, Eberhard 233, 301 f., 341, 403 Kafka, Franz 513, 533 Kant, Immanuel 8 f. 11, 18, 22, 44, 75, 84, 106 – 108, 115, 119, 122 – 126, 129, 133, 139 f., 143, 146 – 156, 158 – 173, 177 –
562
Personenregister
179, 181 – 187, 189, 203 f., 211, 213, 216 – 220, 230 – 232, 236 – 251, 253 – 255, 259 – 262, 264, 266 f., 282, 285, 287 – 290, 294, 304, 311 – 313, 316, 356 f., 369, 393, 400, 420, 432, 441, 445 f., 463 f., 488 f., 505, 511, 544 Kierkegaard, Sören 176, 337 f., 341, 343 f., 348, 366, 425, 525 Kleist, Heinrich von 304 f., 319, 337, 347 – 350 Kodalle, Klaus-Michael 534 – 539, 541 – 543 Köller, Wilhelm 336 König, Josef 34, 55, 63, 235, 291, 307, 412 f., 453 Korthaus, Michael 467 Leibniz, Gottfried Wilhelm 26, 146, 155, 160 f., 203, 232, 267 f. Løgstrup, Knud E. 346 f. Luther, Martin 141, 222, 283, 293, 310, 326, 353, 359 – 363, 365, 394 f., 397, 467, 505, 531 f., 544 Morgenstern, Martin 419 Moxter, Michael 397 Platon 1, 10, 39, 45, 107, 116, 122 f., 125 f., 143, 149, 188, 210, 224, 267, 288 f., 304, 388, 412 f., 469, 509, 559 Probst, Peter 463 Rad, Gerhard von
358
Rahner, Karl 403 Riedel, Wolfgang 409 Ringleben, Joachim 211, 269, 339, 355, 361 f. Rohls, Jan 341 Rorty, Richard 8 Sartre, Jean-Paul 286 Scheler, Max 26 f. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 45, 59, 141, 307, 396, 426 – 429, 496, 525, 531, 533 f., 550 Schmid, Heinrich 339 Sloterdijk, Peter 323 Spieckermann, Hermann 371 Spinoza, Baruch de 141, 146, 189, 274, 524 Stoellger, Philipp 393 f. Theunissen, Michael 275 Tilitzki, Christian 1 Tillich, Paul 141, 184, 258, 307 – 309, 337 – 341, 344 Usener, Hermann
18, 26, 407 f.
Vico, Giambattista 18, 26, 31 – 35, 127, 203, 320, 324, 406 – 409, 519, 525 Viebrock, Helmut 14 Wittgenstein, Ludwig
107, 206, 278, 526
Sachregister Abendmahl 261, 263 Allgemeines 31, 46, 52, 57, 60, 82, 99 – Abstrakt-Allgemeines 31, 52, 64, 83, 184, 511 – Konkret-Allgemeines 31, 64, 82, 83, 139, 140, 173, 184, 280, 283, 321, 511, 531 Anerkennung 21, 71, 143, 202, 233, 248, 254, 269– 271, 273 f., 277, 302, 322, 364, 369, 374, 380, 386, 397, 401, 438, 499, 510 f., 513, 516, 535f., 539 Anfang 9, 14, 25f., 110, 114, 146, 204 – 218, 287, 299, 301, 328, 333, 337, 356, 366, 372, 384, 408, 429, 430 – 433, 455 f., 462, 504, 522, 558 Ansichten 63, 535 Anundfürsichsein 140, 279, 314, 330, 355, 357, 359, 361, 363 – 365, 374, 387, 414, 437, 449, 476 Augenblick 29, 50, 66, 70, 78, 115, 146, 206, 208, 210, 217, 244 f., 263, 275, 295, 302, 355, 388, 409, 420– 427, 429, 430– 432, 440, 460, 462, 472, 476, 478 f., 493, 504, 513, 519f., 530, 540
305 f., 308– 314, 316, 318 – 321 323, 325 f., 328 – 331, 335, 339, 341 – 346, 352, 356 f., 369– 372, 377 f., 382– 389, 391 f., 401, 403f., 409, 412, 414 f., 418 f., 425f., 431– 433, 436, 439, 441 – 442, 446, 451 f., 454 – 458, 464 f., 469, 474, 478 – 484, 487, 490, 493 – 496, 498 f., 503 – 505, 508f., 511 f., 515, 521– 525, 527, 532, 536– 538, 541 – 550 – Begriff des Begriffs 10, 83 f., 111, 136, 139, 140 f., 174 f., 224, 258 – 260, 264, 284, 306, 313, 316, 318, 325, 331, 372, 384, 451, 454, 457 f., 479, 487, 498, 536, 538 – existierender Begriff 96, 198, 211, 233, 247, 252, 254, 258 f., 264, 277, 281 f., 296, 299, 301, 309, 342, 387, 392, 441, 452, 480, 482, 495, 509, 512, 542, 544 f. – Gottesbegriff 19 – 22, 64, 71, 130, 136f., 139f., 142– 146, 155, 159, 167, 171, 174, 176, 178, 180 – 185, 187 f., 201 f., 207 f., 232, 235, 240 – 243, 247, 252 Beim-Anderen-bei-sich-selbst-Sein 89, 185, 271, 276, 323, 364, 454
Bedeutung 4, 7, 29, 31, 34, 44– 46, 50, 52 f., 58, 60 – 63, 67 f., 71, 74, 77 – 80, 82, 90, 102, 106, 117, 121, 133, 139, 157, 165 f., 175, 183, 194, 197, 210, 216, 237 f., 255, 257, 262, 268 f., 274 f., 286, 290, 309, 320, 345, 351 f., 356, 358, 364, 367, 371, 381, 390, 407, 417, 422, 426– 428, 432f., 442, 461f., 464, 472, 476, 481, 484, 518, 520, 546 Begriff 4, 10, 13 f., 16, 22, 25, 29, 31, 36 f., 39, 42, 44 – 47, 49, 51, 56, 60, 62, 64– 66, 70, 72, 78, 80– 89, 93, 95f., 103 f., 106– 108, 111, 113 f., 120f., 125f., 128, 130, 134– 136, 139– 142, 146, 150 f., 153, 156, 159, 161 – 163, 172, 174 – 177, 182 – 188, 190 f., 194– 196, 198, 200, 202, 204 – 209, 211 f., 215 f., 219, 222, 224 – 227, 229 – 236, 238 – 240, 243 f., 247, 249, 251 f., 254 – 266, 268 f., 271, 274 f., 277 – 282, 284, 286 – 296, 299, 301, 303,
das Absolute 2, 32, 56, 70, 94, 107, 145, 151, 154, 174, 177, 181, 184, 186 f., 189 f., 193, 196 f., 199, 203, 205, 207 – 209, 211 f., 221 – 224, 226, 228, 230, 232 f., 238, 252 f., 258 f., 261f., 269 f., 277, 283, 291, 293, 300, 303, 306, 312 f., 318, 321, 323, 326, 331 – 334, 342, 348, 364, 372, 375 f., 379 f., 383, 386 f., 392, 409, 426, 439f., 447 – 449, 454, 457 – 459, 464, 466, 469, 472, 484, 487, 490, 495, 503– 506, 509, 517 f., 520 f., 551 Dialektik 8, 10 – 13, 19, 29, 31, 38f., 42, 47 f., 57, 61, 65, 70 – 73, 84, 87 – 90, 94 – 96, 99, 102, 106, 108, 113, 120, 124f., 127 f., 134f., 139, 152 f., 157, 161, 165, 172, 181 – 183, 189, 197, 199, 201, 204, 210 f., 217 f., 223, 225 f., 229, 238, 241 f., 244, 251, 254, 256 – 259 264, 268 f., 276 f., 280, 288 f., 291, 296, 302, 306, 314, 318 f., 329 – 332, 341 f., 346, 362, 364 f.,
564
Sachregister
370 f., 373 f., 376, 383, 385, 393, 396, 399, 402, 406, 412, 429, 433 f., 439, 447, 452 – 454, 459, 462 f., 466, 470, 476, 478, 485, 489, 490 – 492, 494, 505, 508, 525, 527, 533, 545 Entsprachlichung 534
5, 7, 41, 68, 99, 267, 519,
Freiheit 11, 21, 37, 46, 59, 72, 99, 105, 109 – 111, 120, 132, 136, 140, 142, 144, 155 f., 168– 171, 179 – 181, 183, 188 f., 197 – 199, 208, 226, 228, 230, 245, 254, 257, 262, 264, 274, 284 f., 287, 303 – 305, 307 – 309, 313, 321 – 323, 325, 330 f., 336, 338 – 340, 343 – 346, 348, 350 f., 353, 356 f., 360– 362, 365 – 368, 373 f., 376 – 381, 386, 388, 392, 396, 399, 404, 412, 414, 426, 428 f., 433– 435, 447 – 450, 454, 464 f., 470, 478 – 482, 485, 487 – 489, 491– 494, 496 – 500, 509, 512 f., 515, 517 f., 522, 524f., 527, 529, 535f., 542, 544 f., 547 f., 550 Fürsichsein 85, 94, 278 – 280, 295, 302, 314, 327 f., 330, 356 f., 359, 362 – 365, 368, 374, 376, 382, 385, 387, 414, 438, 449, 459, 476 Geist 8 f., 25, 29, 39, 43, 47 f., 52, 55, 64, 70 f., 73 f., 76, 86, 90, 93 – 96, 100, 114, 118, 123, 133, 140, 148, 157, 171, 190, 192, 194, 196, 198 f., 201, 203, 212, 225 f., 233, 240 f., 253, 255, 258, 263 – 266, 269, 271, 277, 286 f., 289 – 294, 296 – 298, 300 – 302, 306, 308, 311 – 313, 316, 318 f., 321 – 323, 328, 330, 333 f., 336, 340– 343, 346 – 348, 353, 355, 358, 362 – 365, 369 – 372, 374 – 377, 382, 386 f., 391, 399 f., 402 f., 405, 409 f., 412, 414, 417 f., 425, 428, 434, 442, 445 – 451, 453 f., 458, 464– 467, 469 – 471, 473, 476, 481 f., 485 – 487, 490 – 492, 494 f., 498f., 505 f., 509f., 515, 517, 520, 524f., 528f., 531, 533, 536f., 542, 545 f., 548 f. Geschichte 1, 5, 13, 27, 32, 36, 41, 43, 45, 48, 50 f., 55, 59, 64, 99, 120, 122, 129, 145, 175, 177, 179, 193, 199, 212, 214,
255 f., 261, 267, 275, 295, 298, 322 f., 328, 333 f., 340, 346, 349, 355, 361, 363, 370, 390, 392, 399, 421f., 425, 439 f., 441, 444, 446 – 452, 454 – 463, 466f., 469, 479, 481 f., 484– 487, 503, 505, 510, 521, 535 – 538, 542– 544 Geschlechtlichkeit 63, 293 – 298, 381 f., 482 Gestalt 36, 43, 55, 168, 176, 187 f., 191, 199, 201, 205, 220, 222, 238, 248, 268, 272, 277, 279, 283, 291, 292, 320 – 326, 328 – 332, 334, 341, 345 f., 350, 370, 374 f., 379, 385, 390 f., 395, 397 f., 404 f., 408, 410 f., 418, 427f., 435, 437, 439, 441 f., 444, 446– 448, 450 f., 459, 462, 465 – 467, 474, 477, 479, 481, 484, 494, 496, 499, 508f., 517, 520, 536f., 549 f. Glaube 20, 59, 170, 179, 188, 191– 194, 196, 255, 296, 303, 359, 361, 395, 418, 467, 482, 526, 532, 544 Gott 2, 11, 20 f., 32, 34, 36, 41, 64, 70, 75, 88, 93 f., 107, 115, 119, 122, 128, 134, 136, 139– 146, 148, 151 – 157, 159 – 164, 166 – 171, 173 – 175, 177 – 235, 238, 240 – 243, 245 – 247, 249 – 252, 255 – 258, 261f., 264 – 266, 270 f., 274, 276 f., 280, 283 – 285, 287f., 291 f., 294 – 296, 299 – 303, 306, 308 – 311, 313, 318, 320 – 323, 325 – 331, 333, 337 – 342, 348, 353 f., 356, 359 – 366, 368 f., 371 – 376, 378 – 392, 394 – 396, 398 f., 403 f., 408, 411 – 415, 417, 421, 424, 426– 428, 432– 435, 437– 442, 445, 447 – 451, 454 – 460, 464 – 471, 473, 476 f., 482 f., 485 f., 488 – 494, 497 f., 502, 504 – 511, 513, 517, 522, 524, 529– 537, 547, 549 – 551 – Gott als Korrespondent 219, 55, – Gottesbeweis 146, 152, 153, 160 f., 163, 166f., 174, 177 – 179, 181, 185 f., 203, 216 f., 225, 240 f., 243, 471 Gottesebenbildlichkeit 309, 311, 341, 354 f. Grund 3, 12, 50, 96, 111, 127, 142, 150, 152, 157, 171, 181, 187, 223, 242, 245, 263 f., 266, 279, 281, 285, 293, 319, 322, 330, 338, 355, 360, 363 f., 367 – 369, 372, 376, 382 – 386, 398f., 402, 411, 415, 431f. 443f., 454, 469, 472, 494, 497 f., 512, 515 f., 518, 531, 545
Sachregister
Handeln 6, 7, 65, 70, 75, 95, 100 f., 103– 105, 107, 120, 135, 142, 169f., 191, 203, 227 f., 235, 249 f., 253, 270, 274, 302 f., 337, 344 – 347, 358, 367 f., 376, 379 f., 400f., 404, 448, 468, 489, 491 f., 497 f., 501f., 506, 510 – 514, 518 f., 540, 545, 548 Heil 37, 231 – 234, 291, 296, 524, 530 f., 545 3, 13, 21f., 25, 37, 46, 69, 72 f., 81, 85, 87, 91, 100, 106, 116, 129, 131, 143, 155, 163f., 167, 174, 176, 185, 189, 192f., 197 f., 202, 212, 240– 250, 253 – 255, 257 – 261, 264, 266, 270 – 274, 277, 279 – 284, 296, 298, 302, 305 f., 312, 316, 318, 340, 342 – 344, 353, 357, 359, 360, 364, 379, 381, 387, 391 f., 396, 400, 402, 411, 441 f., 450, 452 f. 458 – 460, 468, 470, 472, 477, 480, 495 f., 498, 507, 519 f., 534, 536, 540, 542 Idealrealität bzw. Realidealität 72 f., 89, 94, 185, 289, 306, 331, 327, 328, 409, 415, 422 Identität 6 f., 10, 22, 39, 42, 45 – 47, 50 – 53, 55, 58 – 61, 64, 70 f., 79, 81, 84 f., 87f., 93 f., 96, 98 f., 102, 104 f., 107f., 111, 113 – 117, 121f., 125, 127f., 131– 133, 136, 140f., 144, 151 f., 157 – 159, 163, 166, 172, 174 – 176, 187, 189 f., 193, 196 – 198, 200, 202, 204 f., 211 f., 218– 222, 224, 226, 228– 234, 237 f., 240, 242 – 245, 248, 251 f., 254, 258 – 261, 267, 269, 272 f., 278 f., 285, 287, 289 f., 292, 294, 296, 300, 302 f., 306, 308, 309, 311 – 313, 315 f., 318, 323, 331, 333 f., 354 f., 357, 364, 369, 370 – 372, 375, 380, 383 f., 387, 391 f., 399, 402 f., 405, 411, 413 – 415, 418, 423, 425, 434, 441 – 443, 445, 449, 451, 454 f., 457 – 460, 464, 467 f., 470, 473 – 476, 478 – 480, 482, 485, 490, 495, 498, 499, 503, 507, 509, 513, 515, 518, 520, 523 f., 529f., 532, 536 – 538, 541, 543, 545, 547, 549, 550
565
446 f., 450, 456 – 460, 462, 465f., 476 f., 480 – 482, 485, 487, 493 f., 496, 499, 505, 509, 519 f., 532, 536f., 550 Kirche 59, 170, 194, 339, 359, 397, 498, 527– 534 Kleid (der Sprache, der Seele) 84, 390 – 393, 398, 400, 402, 404
Ich
Jesus Christus 36, 71, 104, 179, 187, 193 – 195, 201, 211, 220, 250, 255, 283, 286, 292, 296, 318, 321, 325 f., 330 f., 334, 340 f., 395, 405, 435, 437 – 439, 442 f.,
Logik 2, 4, 5, 7 – 14, 16, 18 – 21, 36, 38 – 40, 42 – 44, 48, 55, 68, 70, 72 f., 83 f., 88, 92, 94, 96 f., 100, 102, 105– 108, 110 – 131, 134, 139f., 143, 147, 150 – 155, 157, 159 – 163, 167 f., 171 – 182, 184 – 190, 194, 198, 200 f., 203 – 205, 207 – 213, 215, 217 – 219, 221 – 236, 238 f., 241, 246 – 254, 256, 259 – 262, 267, 270 – 273, 275 f., 278, 280 f., 283, 287 – 290, 292, 302, 306, 308, 314, 318, 320, 322 f., 325 f., 328 – 331, 335, 343, 354, 364f., 367, 369, 371, 375, 377, 379, 381 – 387, 399, 405, 408, 411, 416, 421f., 431, 436f., 439, 441 f., 445, 447, 449, 451, 454 – 456, 462 – 466, 469, 472 f., 478 – 482, 487, 490, 503 – 509, 513, 515, 520, 523 – 525, 527, 538f., 542, 547 – 549 – formale Logik 11 f., 42, 73, 83, 107 f., 112– 114, 116f., 119f., 124f., 152 f., 155, 159, 167, 179, 182, 184f., 188, 212 f.,213, 221, 232, 234, 239, 246, 253, 283, 381, 386f., 408, 422 – sprachliche Logik 38, 105, 121, 125, 128, 131, 150, 185, 238, 325, 466 Logos 8 f., 12, 14 – 22, 25, 29– 31, 33, 35, 37– 39, 41 – 44, 46, 48, 52, 55, 64, 70, 73, 78 f., 93f., 96, 98 f., 106f., 113, 114 f., 120, 122, 128, 130, 132, 134, 136, 145, 157 f., 161, 171, 173, 180, 183, 185, 187, 190 – 192, 194, 197 – 200, 202 f., 205 – 208, 210, 212, 217, 221 f., 224 – 230, 232 f., 235, 238, 241, 253, 257, 262 f., 266, 269 – 271, 275 – 277, 282, 286– 294, 296, 303, 305 – 310, 313, 317, 319, 322 f., 326 – 328, 331, 334f., 342, 348, 351, 358 f., 363 f., 366 – 369, 373 – 375, 377, 381, 383 – 386, 388, 391 f., 395, 398 – 400, 402f., 405, 414 f., 418, 425, 429 –
566
Sachregister
435, 437– 443, 448 f., 455 – 457, 459 f., 462f., 466, 469, 471 f., 476 f., 480 – 482, 485 – 487, 491, 493– 497, 499, 502 – 506, 508– 510, 513, 518, 522 f., 525– 528, 530f., 536 – 539, 542 f., 546, 548 – 551 Marionette 16, 21, 136, 143 f., 190, 199, 208, 210, 221, 226 f., 257, 262, 266, 288, 303 – 313, 315 – 317, 347f., 350, 359, 368, 372, 376, 380, 384, 386, 392, 482, 488, 489 – 494, 496, 509, 536, 550 Metapher 16, 31 f., 81 – 83, 210, 236 – 238, 266, 304, 306 f., 337 f., 350, 373, 387 – 389, 393 f., 493, 546 Methexis 10, 87, 94, 123, 125, 128, 150, 153, 162, 165, 167, 208 f., 222 f., 225, 243, 251, 263, 267, 278, 288– 293, 299, 302, 306, 308, 313, 435, 475 Mythos 18 f., 29– 33, 35– 43, 55, 75, 81, 122 f., 128, 130, 134, 171, 198, 203, 205, 229, 231, 246 f., 272, 286, 301, 305, 320 – 323, 325, 327, 329 f., 332, 342, 350 f., 356, 372 f., 375, 378, 388 – 390, 395, 408f., 415, 421f., 437f., 443 f., 453, 465, 469, 481, 526f. Negation 39, 42, 64f., 72, 84, 89, 93, 106, 135, 140, 141, 151, 154, 172, 175, 181, 200 f., 204 f., 207, 213, 235, 237 f., 247, 279, 284, 286, 308, 333, 342 f., 350, 353, 354, 358 f., 364, 368 – 371, 373 f., 382, 432, 434 f., 443 f., 446, 460, 468, 470, 473, 475, 477, 479, 485, 495, 509, 517, 523f., 529 Opfer
118, 191, 199, 254, 410, 417, 433 – 436
Philosophie 1 – 3, 5 – 13, 15 – 21, 23, 25 f., 29f., 35, 42, 44, 47, 50, 52, 55, 59, 62, 65, 66f., 69 f., 72, 77, 88, 91, 93 f., 96 f., 103f., 106f., 109– 111, 113 f., 117f., 121 – 125, 127– 131, 133, 135, 139, 141, 143, 145 – 147, 149, 151, 157, 161, 165, 167– 171, 177, 179, 181 – 183, 186f., 189, 193, 198, 199– 204, 207, 210, 213 f., 216 f., 221 – 223, 227, 229 – 231, 241, 243, 245, 246 – 248, 253 – 255, 257, 261, 266 f.,
269, 275 f., 283, 285 f., 289, 293, 295, 298, 303, 305 f., 308, 313, 318 – 320, 323, 327, 329, 331 – 336, 342, 345, 355, 361 – 363, 367 – 369, 371, 376 f., 381 f., 384 f., 390 f., 398, 401, 405 f., 412f., 416, 419, 429, 431f., 434, 439, 445 – 447, 449 f., 454 – 456, 471 – 474, 478 f., 484, 487 f., 490 f., 493, 495, 499 – 501, 507 f., 512, 515, 520, 522– 525, 530, 534, 537, 539, 541, 545 – 549, 551 Religion 20, 27, 32, 34f., 40, 54, 68, 88, 92, 97, 110, 119, 122, 128, 157, 170, 178, 183, 186 – 190, 201, 204, 213, 215, 220, 227, 233, 250, 261, 269, 272, 277, 285, 291, 305, 322, 328 – 330, 333 f., 359, 361, 369, 376, 394 – 396, 398, 401, 407, 415, 418, 424, 426– 429, 441 – 443, 453, 456, 458, 482 – 484, 486, 498, 500, 506f., 513, 526f., 530, 533f., 547 f., 550 Schicksal 45, 129, 190, 214, 266, 319, 336, 344 – 346, 353, 405, 414 f., 471, 487, 508, 517 Selbstbornierung 375 f., 382, 385, 436 f. Sinnlichkeit 10, 26, 29, 31, 35, 38f., 43, 48, 52, 55, 57 f., 74, 76, 78, 80 f., 89, 95 – 98, 123, 126, 149, 157, 165, 201, 248, 254 f., 260, 265, 290, 293, 296f., 301, 303, 371, 390 f., 394, 398, 409, 428, 455, 459, 462, 465, 515, 518, 544, 549 Sittlichkeit 6, 18, 158, 169, 170, 270, 278, 309, 314, 319, 353, 376, 379, 404, 446, 453, 484, 488, 492 f., 497 – 499, 502 f., 506, 508, 510 – 516, 518, 520 Spiegel 33, 36, 38, 55, 57, 73, 187, 190, 195, 205, 207, 235 – 240, 268, 318, 353, 358, 374 f., 400, 426, 453, 458, 523, 539 Sprachlichkeit 7, 9, 21, 30, 34, 45, 48, 66, 73, 81, 94, 96, 100, 105, 110 f., 117, 120, 127, 131, 134 f., 203, 206, 216, 245, 252, 267, 277 f., 281, 289, 295, 298 – 300, 306, 309, 341, 346, 355, 364, 366 f., 368, 370 f., 385, 392, 405 f., 409, 413 f., 437, 439, 441 f., 452, 456 f., 460, 466, 469, 480 f., 494f., 498, 506, 508, 511 f., 518 f., 545 – 547
Sachregister
Subjekt-Objekt-Beziehung 102, 105, 118, 145, 167, 188, 197, 236, 250, 272, 279, 331, 362, 373, 375, 404, 408, 411 Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung 59, 67– 69, 72, 76, 85, 102, 105, 114, 120, 132, 135, 145, 150, 174, 185, 194, 198, 205, 212, 228, 247, 250, 254, 256, 269 – 271, 273, 276 f., 292, 302, 323, 326, 331, 346, 355, 357, 364, 368 – 370, 373 – 375, 377, 379 – 381, 391, 398, 404, 413 f., 445, 447, 476, 482, 490, 504, 510, 513, 526, 528, 536, 538, 542 Theologie 1, 19 – 21, 41, 70, 107, 119, 128, 141, 143, 145, 169, 184, 187, 193, 233, 258, 280, 283 f., 287, 296, 302, 307 f., 318, 326, 330, 335, 338 f., 341, 359 – 362, 397, 403, 408, 429, 451, 466f., 526, 528, 548, 551 Tragödie 443, 484, 514 – 520 Transzendenz-Immanenz 227, 235, 282, 308 Unbestimmtheitshöfe 59, 62, 113, 189, 551 Unschuld 304, 308, 319, 336 – 340, 342– 344, 347 – 351, 353 – 355, 359, 370, 373, 388 f., 468, 498, 517 Vernunft 8, 11, 14, 20, 28, 37, 40, 44, 66, 70, 75, 79, 86 f., 93, 96 f., 99 – 101, 106– 108, 112, 114 f., 121, 123– 126, 128, 133, 136, 141, 143, 147, 149, 153, 155 f., 158 – 161, 163– 165, 167 – 170, 173, 179, 181 f., 186, 192, 197, 211, 223, 226, 230 f., 236 f., 241 – 246, 248 – 250, 254, 258 – 260, 264, 266, 271, 274, 285, 288 – 290, 293 f., 306 f., 309, 311f., 318, 334 f., 337, 356 f., 362, 369 f., 402, 420f., 435, 442, 445, 452, 455 f., 462– 464, 469, 477, 486, 489, 490, 492, 494, 505 f., 512, 522, 524, 529, 540 f., 543, 545, 549
567
Versöhnung 36, 130, 163, 190, 192, 195, 211 – 214, 224, 231, 233, 284, 288, 339, 351 – 353, 355, 361f., 405, 412, 438, 454, 465, 551 Wahrheit 4, 5, 9, 10 – 12, 16, 21, 30 – 32, 36– 39, 41, 70, 85, 91, 93, 107, 108, 111, 119, 122, 125, 128– 132, 141, 143– 145, 155, 161, 163, 167 f., 172 f., 176, 188 – 190, 195, 200, 202, 206, 208 – 210, 217 f., 220 f., 233 f., 244, 247, 263 f., 280, 283, 285 – 288, 291 f., 303, 308, 313f., 319, 321, 328, 334 f., 338, 343, 346, 361, 372, 374, 376 f., 380, 382 f., 385, 387, 393 f., 409, 413, 425 f., 431, 442, 444, 454 f., 458, 463 – 465, 468, 473, 477, 479, 481 f., 487, 490, 492 f., 498, 501– 505, 508f., 515, 518 f., 522– 524, 528, 531, 539, 544 f., 547 f., 549, 551 Welt 6, 8 f., 17, 21, 25– 28, 30, 32 – 35, 37f., 41 – 43, 45 – 50, 52 f., 56, 59, 61, 66, 69– 72, 75, 85 f., 100, 106 f., 109, 111 f., 115, 117 – 124, 126, 131f., 136, 141 – 143, 146– 148, 150, 152 – 157, 159 – 163, 165 – 167, 170, 173, 175 – 180, 182 f., 185f., 189 – 193, 195 f., 200, 202 – 208, 210f., 212, 214, 216 – 218, 220 – 226, 228, 231 – 236, 238 f., 241 f., 244, 246 f., 249, 251, 253 – 257, 260– 264, 267 f., 272, 277 f., 280 – 282, 284, 287 – 292, 294, 296, 298 – 303, 306, 310 – 313, 316, 318– 322, 324, 327 – 329, 331, 339, 341 – 343, 345 – 347, 349, 352 – 354, 356, 358 – 360, 362, 365, 357 – 371, 373, 375 , 378 – 380, 382 – 388, 392 – 394, 396, 398– 403, 405f., 408, 410 – 415, 419, 421– 428, 431, 433, 435 f., 440 – 442, 444 f., 447f., 450, 453 – 460, 463– 468, 471 – 473, 476 f., 483 – 486, 489 f., 492, 500, 502, 504 – 506, 512, 514, 517, 523, 525, 529, 534, 537f., 541 f., 543