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German Pages 494 [496] Year 2017
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 140
Totalität als Faszination Systematisierung des Heterogenen im Werk Ernst Jüngers
Herausgegeben von Andrea Benedetti und Lutz Hagestedt
De Gruyter
Festgabe für Marianne Wünsch zum 75. Geburtstag. Publiziert mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. Redaktion: Petra Porto, Ricardo Ulbricht Register: Marie Michael
ISBN e-ISBN (PDF) e-ISBN (EPUB) ISSN
978-3-11-027970-2 978-3-11-027979-5 978-3-11-037797-2 0083-4564
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Ricardo Ulbricht, Rostock Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die internationale Jünger-Tagung in der Villa Vigoni, deren Beiträge dieser Band versammelt, stand noch unter der Losung »Faszinationsgeschichte des Totalitären«. Ihr wichtigstes Ergebnis aber war, dass man Jüngers Werk nicht auf diesen zu spezifisch engen ›Begriff‹ aus der Sphäre des ›Politischen‹ reduzieren könne und dürfe. Denn ›Totalität‹ sei bei Jünger grundsätzliches und immerwährendes Thema, ohne ausschließlich ›politisch‹ zu sein, zumal er generell vom Einzelnen aufs Ganze ziele. Dabei, so unsere Auffassung, geht es ihm um das kulturmorphologische ›Verknüpft-Sein schlechthin‹, das den schöpferischen Geist steuert und auf eine Verantwortungsethik zielt: Dieser Geist ›bewegt sich aus dem Mannigfaltigen der Einheit zu‹, lässt aber auch starke Tendenzen zur Absonderung erkennen. Jeder Totalität bei Jünger ist die ›aporetische Struktur‹ des ›Freiraums‹ eingeschrieben. Die Abkehr vom ›Totalitären‹, die Hinwendung zur ›Totalität‹, schien uns Differenzierungen in der Betrachtung des Jünger’schen Œuvres zu ermöglichen, die erkenntnistheoretische Aktualisierungen einschloss. Da wir Jüngers Werk ›zwischen europäischer Romantik und Moderne‹ betrachten wollten, galt es, Jüngers Realitätsbegriff neu zu befragen. Denn charakteristisch ist für ihn nicht, ›der Realität‹ gegenüber eine ›autonome Gegenwelt von Träumen und Visionen‹ zu behaupten; sondern typisch ist für ihn, ›die Wirklichkeit‹ zu erweitern und zu vertiefen und ›den Realismus‹ als materialistische und rationalistische Sicht der Wirklichkeit zu bestreiten. Bei Jünger, der sich in der Totalität von Traum und Wirklichkeit den künstlerischen Ausdruck von der Ganzheit des Lebens wünscht, schließen die Ereignisse und Gegenstände der konkreten Wirklichkeit das ›Mysterium‹ ein: Zwar sei das ›Numinose‹ in der Realität nicht auf den ersten Blick sichtbar, denn es halte sich ›hinter ihr‹ verborgen; gleichwohl sei es in jedem Augenblick gegenwärtig, so wie jederzeit die ›Enthüllung‹ des ›Geheimnisses‹ möglich sei, weil es sich ›offenbaren‹ könne. Daher bestehe der wichtigste Auftrag des Künstlers gerade darin, die geheimen Zusammenhänge des Wirklichen über den ›kombinatorischen Schluss‹ aufzubauen, ästhetisch wahr und sichtbar zu machen. Ernst Jünger war schon in den fünfziger Jahren, lange vor uns, am Comer See. Bereits damals beschäftigten ihn ›imperiale‹ Gedanken: »Zu den erstaunlichen und oft bestürzenden Wendungen unseres Zeitalters gehört die Entwicklung aus der Monroe-Doktrin heraus in ein planetarisches Bewußtsein, das sich für jeden Punkt der Erde, und vielleicht bald darüber hinaus, verantwortlich fühlt.« (Am Sarazenenturm) Die Vorträge aus der Villa Vigoni sind hier als Festschrift für Marianne Wünsch zum 75. Geburtstag erstmals versammelt. Andrea Benedetti, Lutz Hagestedt
Inhalt Vorwort ................................................................................................ V Danièle Beltran-Vidal
Le récit d’Ernst Jünger Une dangereuse rencontre Paris, théâtre du choc culturel entre deux siècles ................................................ 1 Andrea Benedetti
»Schicksalszeit«, »Zeitalter des Wassermannes« und »ewige Gegenwart« Ernst Jüngers Rezeption der deutschen Romantik (Novalis, Friedrich Hölderlin und Joseph von Görres) zwischen Mythos, Moderne und Postmoderne ............ 9 Sibylle Benninghoff-Lühl
Ich ist kein Anderer Allegorien einer Natur des Namens in Ernst Jüngers Strahlungen .................... 37 Stefano Beretta
Ernst Jüngers Ästhetik der Nachkriegszeit und ihre Beziehungen zum frühromantischen Literaturverständnis ............................................. 57 Mario Bosincu
Die Ethik der Mußezeit und die Umwertung der Werte in der Romantik ........................................................................................... 71 Domenico Conte
Modernität und Primitivismus bei Ernst Jünger Mit einem Blick auf Thomas Mann ................................................................ 89 Gabriele Guerra
Auf den Marmorklippen: (k)ein Schlüsselroman? Opfertheologische und -politische Bemerkungen am Beispiel der Rezeption durch Julius Evola .................................................................. 107
VIII
Inhalt
Thomas Gloning
Ernst Jüngers Publizistik der 1920er Jahre Befunde zum Wortgebrauchsprofil ................................................................ 121 Sandro Gorgone
Ernst Jünger und die metaphysische Kategorie der Totalität ................. 153 Lutz Hagestedt
»Waffe im geistigen Raum«. Ernst Jüngers Essayistik ............................ 163 Stephan Lesker
»Spätherbst eines Äons« Krise und Krisenbewältigung im Werk Ernst Jüngers (mit einem Seitenblick auf Hermann Hesse) ................................................. 181 Volker Mergenthaler
Bildpolitik und Autorschaft: Ernst Jüngers Das Antlitz des Weltkrieges ..... 205 Giampiero Moretti
Zwischen Sehen und Fühlen Anmerkungen zu Jünger, Heidegger und der Romantik ................................ 225 Maik M. Müller
Jüngers physiognomischer Blick und die Reisetagebücher der fünfziger Jahre ..................................................................................... 233 Niels Penke
Ein großer Morgen, ohne Zweifel Ernst Jüngers Der Waldgang als Entwurf einer Neuen Mythologie ................ 255
Inhalt
IX
Patrick Pfaff
»Vor beliebigen Interpretationen ist im Laufe seiner Rezeption kein Text gefeit« Über Tobias Wimbauers Lesart der ›Burgunderszene‹ Ernst Jüngers .............. 271 Petra Porto
Geplantes Glück, geglückter Plan Individuum und Kollektiv in Ernst Jüngers Heliopolis ................................... 321 Detlev Schöttker
Tiefe Blicke Ernst Jüngers Chronistik ............................................................................... 335 Michael Titzmann
Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen (1939) Interpretation vs. Applikation ....................................................................... 351 Ricardo Ulbricht
Der Mensch in der Landschaft ................................................................. 393 Rainer Wassner
Zweierlei Seins-Ordnungen ...................................................................... 415 Jan Robert Weber
»Der Arbeiter« und seine nationalbolschewistische Implikation ........... 435 Marianne Wünsch
Ideologische Konzepte in Ernst Jüngers Der Kampf als inneres Erlebnis .......465 Register ........................................................................................................ 481
Danièle Beltran-Vidal
Le récit d’Ernst Jünger Une dangereuse rencontre Paris, théâtre du choc culturel entre deux siècles1 « In dunkler Erde ruht der heilige Fremdling In zarter Knospe Wuchs dem Jüngling der göttliche Geist, Das trunkene Saitenspiel Und verstummte in rosiger Blüte » An Novalis, Georg Trakl
Dans la préface au premier tome des Strahlungen, Ernst Jünger présente son activité d’écrivain comme « une discipline supérieure ». Il est en effet possible de repérer une des règles d’organisation de son travail. Les réflexions auxquelles il se livre dans ses lettres ou dans son Journal sont passées au crible de son analyse et celles d’un poids particulier sont conservées précieusement pour servir de matière à son prochain essai philosophique. Dans un troisième temps, il écrit les récits qui illustrent les conclusions auxquelles il aboutit dans son analyse philosophique du temps. Il s’efforce donc de travailler par phases successives, ses différents textes s’intègrent à la macrostructure de son œuvre qui forme un Tout : par son évolution, ses contradictions et ses conclusions, ce Tout reflète l’esprit d’une époque, c’est un ce sens qu’Ernst Jünger dit de son travail que c’est une discipline « supérieure », autrement dit un art. C’est ainsi qu’à l’âge de 88 ans, Ernst Jünger publie le récit Une dangereuse rencontre2, une façon pour lui d’illustrer une réflexion formulée quelques années auparavant dans Approches. Drogues et ivresse3 : 1
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Cet article est une version française modifiée de la contribution : Ernst Jüngers ‹ Eine gefährliche Begegnung › . Paris als Rahmen der kulturellen Umbruchschwelle im Dreikaiserjahr. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, Bd. 11, hg. von Jean-Marie Valentin, Laure Gauthier, Bern 2008, S. 175–182. Il fait également référence à l’article : 1888 : À propos de ‹ Eine gefährliche Begegnung › d’Ernst Jünger. In: Allemagne d’aujourd’hui, 1993, H. 126, S. 130–143. Ernst Jünger, Eine gefährliche Begegnung, Stuttgart 1985. / Une dangereuse rencontre, traduit par Henri Thomas, Paris 1985. Cette œuvre était toutefois sur le métier depuis 1953, l’année où fut publié Ein Sonntagvormittag in Paris, futur chapitre du livre, par l’Almanach de la Librairie allemande Martin Flinker de Paris, ainsi qu’en 1960, Hinter der Madeleine, par la revue Jahresring 60/61 de Stuttgart et, en 1973, Um die Bastille, dans Festschrift für Gustav Stein par Fritz Berg et Berthold von Bohlen und Halbach. Bergisch Gladbach. Ernst Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch, Stuttgart 1970, S. 256 : « Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg muss in Paris, in La Roche-Guyon und anderen Orten der Welt etwas vor sich gegangen sein, das dem Riss durch den Vorhang vergleichbar ist. Kein Stilwechsel mehr, ein großer Übergang. » (Übersetzung : Approches. Drogues et ivresse, traduit par Henri Plard, Paris 1973.)
https://doi.org/10.1515/9783110279795-001
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Danièle Beltran-Vidal Juste avant la Première Guerre mondiale, à Paris, La Roche-Guyon et en d’autres endroits du monde, quelque chose a dû se passer, quelque chose de comparable à une déchirure dans un rideau. Ce n’était pas seulement un changement de style, mais un grand passage.
C’est finalement Paris qu’il choisit comme cadre du récit pour faire appréhender au lecteur, grâce à l’histoire qu’il raconte, « cette déchirure dans le rideau » provoquée par le choc titanesque entre deux siècles. Une des rares indications temporelles permettant de circonscrire le temps du récit est la description de la construction de la Tour Eiffel au stade où elle en était en 1888, symbole pour l’auteur du nouvel esprit en train de naître caractérisé par sa fascination pour la technique. Il donne à son récit la forme du roman policier pour mieux l’ancrer dans l’actualité de cette fin de siècle. À cette époque, dite Belle époque, les capitales européennes suivent avec un intérêt morbide le récit des meurtres de Jack l’éventreur à Londres. Ce dernier aurait-il traversé la Manche pour venir perpétrer un autre de ses crimes odieux à Paris ? C’est la question que se posent les policiers parisiens après le crime d’une demoiselle de petite vertu. L’auteur plante ainsi le décor devant lequel ses personnages vont se mettre à jouer. Tout comme le metteur en scène choisit avec soin chacun des objets placés autour des acteurs, Ernst Jünger, grâce à ses allusions et ses descriptions recrée un espace–temps d’une forte densité. 1888, l’année où Nietzsche écrit Der Fall Wagner, aussi est-il question de musiciens à différentes reprises dans le texte4. En arrière-plan, au même moment, mais à Turin, Nietzsche analyse les opéras de la façon que l’on connaît : c’est comme si dans les coulisses les premiers accords retentissaient, symbolisant un des leitmotive de l’oeuvre : la décadence. De même, dans la description des lieux, Ernst Jünger emprunte aux témoins de cette époque, aux grands peintres, « leurs modèles optiques5 ». Le quartier que traverse Gerhard, un des personnages du roman dans le premier chapitre, le quartier des Batignolles, abritait à cette époque les peintres impressionnistes. Ernst Jünger s’inspire dans ses descriptions des tableaux de Monet, La gare Saint-Lazare, Le Boulevard des Capucines, mais aussi de ceux de Renoir, La Place de Clichy, Les grands Boulevards, du tableau Paris décoré de drapeaux de Manet et de La place de la Concorde de Degas. Certains de ses personnages, comme celui de Mme Stéphanie, sortent tout droit d’une toile. Dans sa description, on reconnaît la jeune femme qui s’appuie au bar peinte par Monet dans Un bar aux folies bergères. L’auteur part du principe que les peintres ont saisi dans leurs toiles la vérité de leur temps. Le réalisme du récit découle de l’imaginaire des artistes qui perçurent non seulement la « surface » des choses, mais aussi leur réalité profonde, invisible aux communs des mortels. C’est en ce sens qu’en utilisant « leurs modèles optiques », Jünger produit dans son texte une condensation du réel. La musique et surtout la peinture de cette fin de siècle s’inscrivent sur la toile de fond que choisit Ernst Jünger pour faire évoluer ses personnages, car, comme il l’écrit, « L’œuvre d’art atteste le changement. Elle devient texte runique, entrelacs 4 5
Jünger, Eine gefährliche Begegnung, S. 84. Jünger, Annäherungen, S. 252.
Le récit d’Ernst Jünger Une dangereuse rencontre
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multicolore de lichens sur le mur du temps 6 ». En insistant dès les premières lignes de son ouvrage sur la couleur bleue, Ernst Jünger introduit un troisième réseau de références qui s’ajoute aux deux autres, un art supplémentaire : la littérature. L’œil du jeune Prussien Gerhard est attiré ce dimanche matin par la fleur bleue qui s’épanouit dans le massif de la place de la Trinité. Dans l’Histoire de la littérature, la fleur bleue est devenue le symbole du merveilleux. Comme Heinrich von Ofterdingen, Gerhard évolue dans le monde imaginaire qu’il s’est créé, persuadé que tôt ou tard son rêve deviendra réalité. Sous son regard, Paris se transforme en une ville enchantée qui lui dévoile ses mystères. Mais voilà, son chemin le conduit Impasse Chaptal, où il découvre un tout petit théâtre, Le Grand Guignol, dans lequel ne sont jouées que des pièce « macabres », intuitivement, Gerhard hâte alors le pas, ce n’est pas un endroit pour lui, précise la narrateur. Certes Ernst Jünger noue une intrigue policière, toutefois il prend des libertés avec la forme du roman policier, le premier chapitre n’a pas pour vocation, comme c’est l’usage, de mettre en scène le crime, mais de dépeindre Gerhard et sa promenade dans Paris, comme si c’était lui la vraie victime des événements, comme si c’était lui qui, non pas physiquement, mais spirituellement, était destiné à disparaître, à se taire. Gerhard est le type du héros romantique comme on pouvait en rencontrer beaucoup dans la première moitié du 19e siècle, mais dont la présence en 1888 semble ne plus avoir de raison d’être. Ernst Jünger place cette figure au centre de son tableau après l’avoir longuement décrite, si bien que les autres personnages du récit seront caractérisés en fonction du regard qu’ils portent sur lui. Pour Etienne Laurens, en proie à un profond mal être, Gerhard sera précieux, pour le commissaire Dobrowsky, parfaitement à l’aise à cette aube du 20e siècle, Gerhard apparaîtra comme « un être déséquilibré », voire « un idiot ». Si Gerhard semble être sorti tout droit du roman de Novalis, Irène, la comtesse Kargané, dont il tombe amoureux, n’est pas sans rappeler par sa démesure et sa violence les héroïnes de Kleist, un savant mélange de Penthésilée et de la Marquise von O. Elle espère la rencontre merveilleuse qui la réconciliera avec la vie, elle attend « de l’Idéal des réalités et du Réel la transcendance7 ». Comme Gerhard, descendante d’une vieille famille de l’aristocratie, elle est en proie à un déséquilibre, qui pourrait être le signe d’épuisement des grandes lignées. Tous deux sont enfermés dans leur monde imaginaire, ils fuient la réalité et n’ont pas de prise sur elle, aussi ne se seraient-ils pas rencontrés sans l’intervention d’un tiers : Ducasse. Le personnage de Ducasse réunit à la fois les caractéristiques du héros romantique et celles du dandy de la Fin du siècle, c’est une allusion au poète français Isidore Ducasse (Lautréamont). L’imagination se met chez lui au service de ses rêves de destruction. Comme dans les Chants de Maldoror, Paris se transforme alors en 6
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Ernst Jünger, Typus, Name, Gestalt. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 13: Essays VII, Stuttgart 1981, S. 83–174, hier S. 120 : «Das Kunstwerk bezeugt die Wandlung; es wird zum Runentext, zum bunten Flechtenbehang an der Zeitmauer». Jünger, Eine gefährliche Begegnung, S. 69.
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Danièle Beltran-Vidal
un lieu de perdition, on peut y voir les premiers signes du « désenchantement » qui gagne la capitale. Ducasse endosse le rôle de Maldoror dans ses Chants, il est le « raisonneur du mal » qui met toute son énergie à provoquer cette rencontre entre Gerhard et la comtesse Kargané en espérant jouer un mauvais tour à cette bonne société qu’il abhorre parce qu’elle se sert de lui comme amuseur public après l’avoir ruiné. S’il décide de jouer l’entremetteur entre la comtesse et Gerhard, c’est qu’il espère assister à un coup d’éclat, à un spectacle étonnant. Dans tous ses faits et gestes, il reste un adepte de l’art pour l’art. Dans sa vie, Ducasse a franchi plusieurs étapes allant du « raffinement » à « l’ennui », du « spleen » au « cynisme ». D’une certaine manière, Ducasse est le héros romantique arrivé au terme de son évolution, alors que Gerhard personnifie sa première mouture. Ducasse erre désabusé dans un monde désenchanté. Gerhard transcende naïvement la réalité, Ducasse jette sur elle un regard décapant qui, sous le vernis, distingue la laideur. Mais cette lucidité se transforme en ressentiment contre la terre entière et rend sa vie stérile. Ducasse, le dandy, représente donc le décadent par excellence. Dans Le Recours aux Forêts8, Ernst Jünger écrit que le bateau représente « l’êtrelà ». Cette métaphore du bateau est reprise comme un leitmotiv dans le récit. A l’exception du commissaire Dobrowski qui résout l’énigme, tous les personnages, à un titre ou à un autre, vont vivre un naufrage, autant de signes avant-coureurs du grand coup de mer qui se prépare. Les événements se précipitent à l’instant où Gerhard et la comtesse, l’épouse du Capitaine Kargané, installés confortablement dans une chambre louée chez Mme Stéphanie, entendent dans le couloir un bruit suspect. La jeune danseuse, sosie de la comtesse, vient d’être assassinée par Kargané. En raison d’une erreur de numéro de chambre, il a cru qu’il s’agissait de sa femme. Il se produit alors une sorte de phénomène météorologique : l’air se charge d’électricité, le temps semble s’arrêter, et durant ces secondes d’angoisse, on peut entendre « ce craquement » annonciateur du grand passage. À la vue du corps sans vie, la comtesse s’enfuit comme une folle, Gerhard, lui, se met à errer dans les rues de Paris comme « un naufragé », « une vague a détruit son bateau »9. Dans l’hôtel de Mme Stéphanie réputé pour son calme et sa discrétion, les clients sont pris d’une agitation fébrile comme « sur un bateau en train de couler ». Mme Stéphanie accourt et comprend qu’il n’y a plus rien à faire. Quand l’inspecteur de police l’interroge, elle pousse un soupir « comme un capitaine qui voit sombrer son bateau »10. Ironie du sort, on peut aussi parler de naufrage pour le marin, le comte Kargané. Lui qui dut rêver d’une mort glorieuse au cours d’un naufrage, un vrai, finit de la façon la plus ignominieuse qui soit pour un homme de sa trempe, en se tirant une balle dans la tête. Confondu par Dobrowsky qui arrive in extremis pour empêcher le 8
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Ernst Jünger, Traité du rebelle ou le recours aux forêts. In: ders. : Sur l’homme et le temps. Essais, traduit de l’allemand par Henri Plard, Monaco 1957. / Der Waldgang : « Das Schiff bedeutet das zeitliche, der Wald das überzeitliche Sein », Stuttgart 1951, S. 328. Jünger, Eine gefährliche Begegnung, S. 120. Jünger, Eine gefährliche Begegnung, S. 110.
Le récit d’Ernst Jünger Une dangereuse rencontre
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duel entre lui et Gerhard, il préfère en finir tout de suite. En cette fin de siècle, il n’y a plus de place pour l’aventurier qu’il est. Il a d’ailleurs le sentiment d’être né cent ans trop tard. Sa faute consiste dans une erreur d’appréciation. Il souhaitait régler ses problèmes comme on l’aurait fait il y a un siècle. Mais voilà, les temps ont changé et, désormais, il faut compter avec une nouvelle force, la police, devenue beaucoup plus efficace depuis qu’elle dispose de nouveaux moyens techniques. C’est ainsi que la rencontre entre Gerhard et la comtesse, brève mais décisive, entraîne une série de naufrages C’est le grain de sable qui grippe la vieille machine du 19e siècle. On s’aperçoit alors que ceux qu’elle abritait n’étaient que des ombres, des masques ou des colosses aux pieds d’argile, des êtres sans « réalité ». L’aventure galante tuée dans l’oeuf, annonce la stérilité de leurs entreprises futures. Le grand passage a eu lieu. Tous les « naufragés » vivent désormais dans un temps qui, d’une certaine manière, renie leur être ; voilà pourquoi ils ne sont pas armés pour agir. Peut-être Gerhard fera-t-il partie de ces volontaires de Langemarck, qui s’élanceront en chantant au devant des balles au début de la Grande Guerre, persuadés que l’enthousiasme est plus fort que la technique. Finalement, la rencontre éminemment dangereuse est celle du 19e et du 20e siècle qui se heurtent tels deux icebergs géants en cette année 1888 provoquant un raz de marée qui n’est que le prélude à la fin de la Belle époque, définitivement liquidée sur le champ de bataille du premier conflit mondial. Si dans la première partie, E. Jünger s’attachait surtout à dépeindre des types d’hommes, il essaie dans la deuxième de montrer de plus les changements dans un des rouages de la société : l’armée et la police. C’est au travers du monologue d’Etienne Laurens que le lecteur est informé des transformations qui sont en train de s’opérer. La mélancolie d’Etienne Laurens n’est pas sans rappeler d’autres figures d’E. Jünger, comme Richard, le narrateur des Gläserne Bienen ou bien Baroh, le narrateur d’Aladins Problem. Comme ce dernier, en se levant chaque matin, Etienne a un problème. Des doutes l’assaillent sur la finalité de son action. Il pousse ses réflexions si loin qu’à certains moments, comme Baroh, il a l’impression de sortir de lui-même, il présente les premiers signes de ce mal du 20e siècle, la schizophrénie. Son mal être montre qu’il fait partie de cette poignée d’hommes qui, en cette fin du 19e siècle, entend le « craquement », il sent le monde sortir de ses gonds. Etienne vit à la frontière entre deux mondes : il n’appartient déjà plus à l’ancien, mais il n’appartiendra pas davantage au nouveau. Sa souffrance provient du fait qu’il est conscient de la disparition imminente de tout ce à quoi il tient et qui lui procurait, il y a encore peu de temps, la joie de vivre : le cheval, la cavalerie, la splendeur de l’armée, les valeurs de son code moral. De toutes les figures du récit, il est pourtant le seul, en raison de cette situation particulière, à pouvoir comprendre toutes les autres et à leur rendre justice. Comment expliquer son bouleversement le jour du duel si ce n’est par la prise de conscience des différents naufrages qui ont lieu sous ses yeux et de leur irréversibilité ? C’est en ce sens qu’il perçoit la Réalité : il « voit » la déchirure dans le rideau.
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Danièle Beltran-Vidal
À la différence de son ami Etienne, le commissaire Dobrowsky n’a pas de problème particulier et les questions qu’il se pose sont essentiellement ciblées sur son activité qui l’absorbe tout entier. Autrement dit, Dobrowsky est le seul de toutes les figures à ne présenter aucun des stigmates de la décadence. Il vit en parfaite adéquation avec son temps. Dans les rues de Paris et ses bas-fonds, il est aussi à l’aise qu’un poisson dans l’eau. La façon de voir de Dobrowsky est déjà celle du 20e siècle et plus du tout celle du 19e siècle. Le jour du duel, il analyse les faits en technicien: une affaire de réglée. Il ne perçoit pas, contrairement à Laurens, les différents naufrages autour de lui. Son attitude contribue d’ailleurs à enlever aux figures qui appartiennent au passé toute réalité. Dobrowsky les effleure à peine du regard comme si elles ne comptaient pas. La force de Dobrowsky réside essentiellement dans sa différence (Andersartigkeit). Contrairement aux autres figures qui sont issues de milieux marqués par une longue tradition, Dobrowsky est de condition simple : un père d’origine polonaise, une mère sans doute du midi de la France. Tout jeune, il a respiré à Cahors le même air que le vieux Gambetta11. De ce fait, à l’inverse des autres personnages, son action n’est pas entravée par des attachements à des structures sociales périmées, la monarchie, la noblesse et à des usages ancestraux. Dobrowsky est totalement présent et à l’aise dans le monde dans lequel il vit. Il jouit pleinement de la liberté au sens que lui donne Nietzsche : « La liberté comme légèreté dans l’art de se diriger soi-même »12. Il peut alors résoudre le problème qui se pose à chaque homme, celui du hasard et de la nécessité. Dobrowsky n’attend rien de l’avenir pas plus qu’il ne se retourne sur le passé. Il exerce un métier dans lequel il peut mesurer le rôle que joue le hasard, aussi cherche-t-il constamment à l’utiliser. C’est en ce sens que, suivant le mot de Nietzsche, il affirme le hasard qui devient alors nécessité. Ce faisant, il s’affirme lui-même : c’est de là que découle sa puissance. Il possède cette substance humaine si précieuse qui se transmet de façon mystérieuse de génération en génération en dépit de tout ce qui peut arriver à la « surface », c’est-à-dire des bouleversements sociaux-économiques. La valeur que Dobrowsky place le plus haut est, en effet, la liberté spirituelle. Or il s’agit là pour Ernst Jünger de la caractéristique du genre humain13. En revanche, si on examine les autres valeurs de Dobrowsky, on s’aperçoit qu’elles sont étroitement tributaires de l’esprit du nouveau temps. Dans son travail, dans les classements qu’il opère entre les malfaiteurs se révèle la fascination qu’exerce sur lui la technique qu’il considère comme la panacée, la nouvelle vertu-phare du monde. Or, d’après Ernst Jünger, « l’univers a toujours la même capacité. Chaque évolution n’est jamais plus que le déplacement des centres de gravité »14. Voilà pourquoi 11 12
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Gambetta (1838–1882) fut un partisan de la politique « opportuniste ». Friedrich Nietzsche : Der Wille zur Macht, Stuttgart 1978, S. 476. (« Freiheit als Leichtigkeit in der Selbstdirektive »). Ernst Jünger, An der Zeitmauer. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8: Essays II, Stuttgart 1981, S. 616 (« Geistige Freiheit kennzeichnet die Menschenart »). Jünger, An der Zeitmauer, S. 464 : « Das Universum hat stets die gleiche Kapazität. Jede Entwicklung ist nichts mehr als eine Verlegung von Schwerpunkten. »
Le récit d’Ernst Jünger Une dangereuse rencontre
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la « morale positive » de Dobrowsly qui lui permet d’affronter victorieusement la nouvelle ère, l’ère de la technique, s’accompagne nécessairement d’une perte dans un autre domaine. Si on la compare à la morale d’Etienne formée par la pensée de Kant, on s’aperçoit que pour ce dernier la liberté dérivait de l’impératif catégorique du devoir. L’instance suprême était sa conscience morale. Il n’en est pas de même pour Dobrowsky. Comme on l’apprend dans l’épilogue, il s’en tient à l’exécution de sa tâche et laisse à ses supérieurs la responsabilité morale d’utiliser ou non la vérité telle qu’il l’a démasquée. La « vérité », le « vrai », l’idéal du héros de Schiller, sont des critères qui n’ont plus cours et qui sont remplacés par une morale pragmatique et « élastique », ce qui ne peut provoquer ni admiration ni enthousiasme. Cette nouvelle posture contribue donc au « désenchantement du monde » qui s’est amorcé dans la deuxième moitié du 19e siècle. Le succès de Dobrowsly est donc relativisé, mais relativisé par rapport à une autre époque, car Dobrowsky tire sa force de ce changement, il représente le Titan des temps modernes. Ce qui importe à Ernst Jünger dans ce récit, c’est donc moins d’écrire un roman policier captivant que d’illustrer ce grand passage entre une époque caractérisée par le héros romantique et les débuts de l’ère de la technique et de la figure qui lui correspond, le Titan. Cette nouvelle étape dans l’Histoire s’accompagne d’un effritement de catégories individuelles et collectives de l’éthique qui ont provoqué selon lui le choc culturel entre deux siècles.
Literatur Beltran-Vidal, Danièle : 1888 : À propos de ‹ Eine gefährliche Begegnung › d’Ernst Jünger. In: Allemagne d’aujourd’hui, 1993, H. 126, S. 130–143. Beltran-Vidal, Danièle : Ernst Jüngers ‹ Eine gefährliche Begegnung › . Paris als Rahmen der kulturellen Umbruchschwelle im Dreikaiserjahr. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, Bd. 11, hg. von Jean-Marie Valentin, Laure Gauthier, Bern 2008, S. 175–182. Jünger, Ernst : Der Waldgang, Stuttgart 1951. Jünger, Ernst : Ein Sonntagvormittag in Paris. In : Almanach de la librairie Martin Flinker 1954, Paris 1953. Jünger, Ernst : Sur l’homme et le temps. Essais, Tome I : Traité du rebelle ou le recours aux forêts, traduit de l’allemand par Henri Plard, Monaco 1957. Jünger, Ernst : Hinter der Madeleine. In : Jahresring, 60/61, 1960. Jünger, Ernst : Annäherungen. Drogen und Rausch, Stuttgart 1970, Jünger, Ernst : Um die Bastille. In : Festschrift für Gustav Stein, hg. von Fritz Berg/Berthold von Bohlen und Halbach, Bergisch Gladbach 1973. Jünger, Ernst : Approches. Drogues et ivresse, traduit par Henri Plard, Paris 1973. Jünger, Ernst : Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Stuttgart 1978–2004. Jünger, Ernst : Eine gefährliche Begegnung, Stuttgart 1985. Jünger, Ernst : Une dangereuse rencontre, traduit par Henri Thomas, Paris 1985. Nietzsche, Friedrich : Der Wille zur Macht, Stuttgart 1978.
Andrea Benedetti
»Schicksalszeit«, »Zeitalter des Wassermannes« und »ewige Gegenwart« Ernst Jüngers Rezeption der deutschen Romantik (Novalis, Friedrich Hölderlin und Joseph von Görres) zwischen Mythos, Moderne und Postmoderne
Das Kind lebt im Märchen, der Jüngling im Mythos, der Mann in der Geschichte, der Greis in einer sich vergeistigenden Welt. Der Ring schließt sich: das Kind tritt aus dem Ungesonderten in die Erscheinung, der Greis zieht sich aus ihr zurück.1
1. Ernst Jüngers Rezeption der deutschen Romantik zwischen »Dezisionismus« und »Schicksal«: Die Zeit als »Dauer«, die Geschichte und der Mythos Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf einen Vergleich zwischen der Zeitauffassung in einigen Texten Ernst Jüngers und in denen von drei bedeutenden Vertretern der Anfangs- und Reifephase der deutschen Romantik, Novalis, Johann Christian Friedrich Hölderlin und Joseph von Görres. Dank eines kulturgeschichtlichen Ansatzes, der sich auf Material des im Deutschen Literaturarchiv (DLA) liegenden Nachlasses Ernst Jüngers stützt, zielt er darauf ab, die Art und Weise hervorzuheben, durch die das gesamte Jünger’sche Werk in erster Linie die Perspektive der Dauer betont. Trotz ihrer Aporien scheinen seine Texte im Besonderen sich im Sinne sowohl einer Verinnerlichung als auch einer metaphysischen Übertragung der Zeit zu entfalten. Mittels dieser Eigenschaften versucht man zu einer »dichterischen« Wiederherstellung der gegenwärtigen, als »nihilistisches Interregnum« zwischen Moderne und Vorzeichen einer Postmoderne empfundenen Welt im Sinne der Stabilität zu gelangen. Eine Postmoderne, die sich schließlich der Macht einer »mystisch-religiösen« Offenbarung zu öffnen scheint. In diesem Zusammenhang muss man zuerst ganz allgemein unterstreichen, dass im Rahmen der internationalen Ernst-Jünger-Forschung nur relativ wenige spezifische Studien zum Verhältnis zwischen Jünger und der deutschen Ro1
Zit. nach Ernst Jünger, Autor und Autorschaft. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 19: Essays IX: Fassungen III, Stuttgart 1999, S. 9–266, hier S. 78.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-002
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mantik zu finden sind,2 außer einer begrenzten Anzahl im Entstehen begriffener Forschungsvorhaben zum selben Thema.3 Diese Studien neigen oft dazu, Ernst Jüngers Romantik-Rezeption aus der für diese Epoche typischen Perspektive des unerlässlichen Bezugs zwischen Nihilismus und dichterischer Phantasie zu betrachten;4 sie deuten diesen Bezug aber nur in passiver Hinsicht. Aus diesem Gesichtspunkt heraus versucht man dann somit, die ästhetische Flucht aus der Wirklichkeit des deutschen Autors als sterilen und rein destruktiven »Dezisionismus« des Willens5 zu erklären, letztendlich also als eine Variante der romantischen Flucht in die Innerlichkeit bzw. in die mittelalterliche und christliche Vergangenheit. Eine solche Stellungnahme läuft damit ständig Gefahr, die entgegengesetzte Tendenz zu vergessen, die doch vorhanden ist: Die »aktivistische« Einstellung gegenüber der gegenwärtigen Krise, die in einem konstruktiven Bemühen zur künftigen Zielsetzung begründet liegt. Eine solche Haltung basiert auf dem diese zwei konträren Ansichten einigenden Element: die dauernde Zurückführung Jüngers auf ein höheres metaphysisches Fundament, auf die platonische, unzerstörbare und reine Ideenwelt.6 Hierin erklärt sich das gleichzeitige Vorhandensein von Freiheit und Notwendigkeit (Schicksal) in der Geschichte. Es ist in der Tat innerhalb der Geschichte, dass der frühe Jünger als typischer Vertreter der intellektuellen Strömung der sogenannten »Konservativen Revolution« nicht nur von Johann Gottfried Herder, sondern auch von der deutschen Romantik einige zentrale Motive zu erben scheint. Damit beziehe ich mich auf die organischen und struktu2
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Darunter seien vor allem folgende Texte genannt: Wolfgang Kaempfer, Ernst Jüngers romantisches Erbe. Bemerkungen zu einem vernachlässigten Aspekt seines Werkes. In: Recherches Germaniques, 17, 1987, S. 85–92; Friedrich Strack, Ernst Jünger in romantischer Tradition. In: Les Carnets Ernst Jünger, 1, 1996, S. 9–22. – Zum ersten o. g. Text sei hier nur kurz darauf hingewiesen, dass er auf einer »klassischen« eskapistischen Auslegung der unwiderstehlichen Faszination von Gefahr und Abenteuer basiert. Diese seien also als Ergebnisse eines im Mittelpunkt stehenden Ich zu verstehen, das durch seine Flucht aus der Erfahrung das ästhetische Modell der romantischen Subjektivität und seine typische Neigung zum Rückzug in die Innerlichkeit nachahme. Auf der Grundlage dieser Deutung müsse der auf das Individuum der technischen Moderne ausgeübte Zwang der Zweckrationalität also durch die Auffassung eines idealen Gegenmodells wie im Essay Der Arbeiter ausgeglichen werden, der durch ein sowohl zweideutiges als auch unentwirrbares Verhältnis zwischen Herrschen und Dienen gekennzeichnet sei. Zu solchen Forschungsvorhaben gehört u. a. auch der folgende Beitrag: Marta Kopij, Die Kategorie des Anderen bei Ernst Jünger und Friedrich Schlegel. In: Ernst Jünger. Eine Bilanz, hg. von Natalia Zarska u. a., Leipzig 2010, S. 244–250. Vgl. u. a. Dieter Arendt, Der poetische Nihilismus in der Romantik: Studien zum Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit in der Frühromantik, Tübingen 1972 und Bruno Hillebrand, Ästhetik des Nihilismus: Von der Romantik zum Modernismus, Stuttgart 1991. Vgl. besonders Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, New York/Frankfurt/M. 1990, S. 85–87, 109, 112–115, 145 und 148. Vgl. Martin Meyer, Ernst Jünger, München 1993, S. 67 f.
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rierten Begriffe von Leben, Volk und Gemeinschaft, und auf die zyklische, also keineswegs lineare Auffassung vom Fortschritt, obwohl der Schriftsteller gleichzeitig den restaurativen Charakter des romantischen Christentums auf »ideologischpolitischer« Ebene ablehnt.7 Der frühe Jünger verarbeitet all diese Themen im Sinne eines energischen Anstoßes nach vorne des organischen Lebens als Dauer, in dem Gegenwart und Zukunft sich verdichten. Vom reifen Autor werden sie dann immer eindeutiger als Rückgriff auf den Mythos als aktives prognostisches Mittel entwickelt.
2. Ernst Jünger, die Patristik und der Mythos: Selbstbildung und Mystizismus Bevor ich eine eingehendere Analyse von Jüngers Texten vornehme, und damit man die geistigen Voraussetzungen seiner Schriften besser nachvollziehen kann, möchte ich zuallererst auf jenen ungewöhnlichen Selbstbildungsprozess (sui generis) verweisen, der von dem frühen Jünger aufgenommen und zu Beginn der 20er Jahre entscheidend von seinem Bruder Friedrich Georg beeinflusst wurde. Ein Prozess, der vor allem durch den besonderen Willen, autonome künstlerische Bereiche zu erforschen, beeindruckt.8 Innerhalb dieses Bildungsrahmens und im Lichte unseres Beitrags wird es entscheidend sein, zu beobachten, wie sich der Begriff des Wunderbaren und Mystischen in Jünger durch die Lektüre der Kirchenväter festigt. Diese regt der oben erwähnte Friedrich Georg ab dem Sommer des Jahres 19279 stark an, sie wird noch weiter fortgeführt und gleichzeitig aufgrund der zentralen Lektüre (1928–1929) der Einleitung des Philosophen Alfred Baeumler zu den Schriften vom schweizerischen Anthropologen Johann Jacob Bachofen mit dem Mythos verbunden – ein Text, den ich später analysieren werde. Schließlich wird die Notwendigkeit einer Neuorientierung von der politischen Situation nach 1933 bestimmt, die, außer einem progressiven Rückzug aus dem öffentlichen Leben bei Jünger in den Jahren 1933–1934, auch eine weitere Annäherung an die Patristik bewirkt; zu dieser wird er nun besonders von seinem Freund, dem Phi7
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Man vgl. in diesem Zusammenhang die vorzügliche Analyse des Historikers Karlheinz Weißman zum Verhältnis zwischen »Romantik« und »Konservativer Revolution«: vgl. Armin Mohler/Karlheinz Weißmann, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Graz 62005 (11949), S. 9–21. Vgl. Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biographie, München/ Zürich 2007, S. 200–282. Siehe vor allem den Brief Friedrich Georg Jüngers an Ernst Jünger vom 12. 8. 1927 und den von Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger vom 22. 8. 1927, jeweils in Peter Trawny, Die Autorität des Zeugen. Ernst Jüngers politisches Werk, Berlin 2009, S. 79 und S. 80. Über die fortschreitende Distanzierung Ernst Jüngers gegenüber dem anfänglichen Vorhaben von Friedrich Georg, die politisch-theologischen Reflexe der Patristik selbst in einem nationalistischen Sinne zu nutzen und die damit verbundenen Auswirkungen auf Jüngers Arbeiter: vgl. Trawny, Die Autorität des Zeugen, S. 81–99.
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losophen Hugo Fischer,10 verleitet. In diesem Zusammenhang intendiert Jünger durch seine Schrift Über den Schmerz (1934), nun auch in einem »theologischen« Sinn, die entscheidende Frage zu der Bedingung des nihilistischen Interregnums des modernen Menschen anzugehen. Eine Bedingung, die sich für den Weimarer Publizisten Jünger nicht auf einen echten Glauben stützte, sondern auf einen Zustand des »Glaubens an den Glauben«, auf einen Willen zum Glauben.11
3. Ernst Jünger und die »Schicksalszeit« in der nationalistischen Publizistik Auf der Grundlage all dessen muss noch einmal betont werden, dass man Jüngers Begriff von »Schicksalszeit« genau aus dieser gesamten intellektuellen Grundeinstellung heraus, die auf der Zeitauffassung als Dauer basiert, deuten muss. Dieser Begriff wird zum ersten Mal ausführlich im Artikel Die Schicksalszeit dargelegt, der am 2. Januar 1927 in der nationalistischen Zeitschrift »Arminius« veröffentlicht wurde. Hier verlässt Jünger die objektive Messung der »Zeitspanne« zugunsten einer energetischen, mystischen und subjektiv gewerteten Auffassung der Schicksalszeit, die von einer überhistorischen »organische[n] Einheit« bestimmt wird.12 Diese verinnerlichte, in vieler Hinsicht »surrealistische« und ausgeprägt magische Zeiterfahrung als »Dauer« stellt – wegen ihrer ästhetischen und ideologischen Implikationen – sowohl einen entscheidenden als auch einen viel diskutierten Bestandteil der frühen Schriften Jüngers dar. Sie stützen sich nämlich auf den Augenblick als Steigerung des Lebens in Berührung mit dem Bereich der Gefahr.13 Damit ist die Notwendigkeit einer für die Moderne typischen plötzlichen und radikalen Beschleunigung der Geschichte verbunden, innerhalb derer sich »die Überlagerung verschiedener Zeiten in der komprimierten Gleichzeitigkeit apokalyptischer Augenblicke«14 vollendet. Das also, was der Autor als die Komprimierung der drei Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Augenblick der 10
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Vgl. im Besonderen folgende Briefe: A) Hugo Fischer an Ernst Jünger vom 25. 7. 1933, 1. 10. 1933 und 24. 5. 1934; Ernst Jünger an Hugo Fischer vom 10. 2. 1934: vgl. Trawny, Die Autorität des Zeugen, S. 73. B) Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger vom 19. 1. 1934: vgl. Trawny, Die Autorität des Zeugen, S. 150 f. Vgl. Andrea Benedetti, »Wir müssen glauben, daß alles sinnvoll geordnet ist«: ›Glaube an den Glauben‹ und moderne ›Sehnsucht nach Ganzheit‹ des metapolitischen Nationalismus beim frühen Ernst Jünger (1920–1932). In Studi germanici, 46, H. 3, 2008, S. 563–574. Vgl. Ernst Jünger, Die Schicksalszeit. In: ders.: Politische Publizistik 1919–1933, hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 275–280. Vgl. im Besonderen S. 276. Hier S. 277. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978; im Besonderen: S. 127–159, 325–335 und 344–410. Zit. nach Meyer, Ernst Jünger, S. 111.
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höchsten Fülle als organische Einheit von Werden und Gewordenem auf der Menschenebene betrachtet: »die Verschmelzung von Zukunft und Vergangenheit im glühenden Brennpunkte der Gegenwart«.15 Für den nationalistischen und antibürgerlichen Jünger impliziert all das schließlich, dass man die Tradition paradoxerweise nur dann retten und beleben kann, wenn man durch die notwendige präventive Zerstörung hindurchgegangen ist. Nur sie kann das »epiphanische« Auftreten der Zeichen der neuen Epoche ermöglichen, und das im Sinne ihrer Wiederherstellung.16 Man hat es hier zweifelsohne mit einer zweideutigen und umstrittenen Einstellung zu tun, die somit einen willensstarken »Aktivismus« per se betont. Aufgrund dieses »Aktivismus« bildet man sich also sozusagen ein, dass die Geschichte plötzlich auf das Schicksal reduziert wird, indem sie zum Schauplatz der heldischen Tat des Menschen wird, der in seiner Geschichte und in seiner Welt handelt, um sie anhand seines Willens umzugestalten: »Wir müssen daher auch die Zeit aktiv machen[,] wie wir alles aktiv und lebendig machen müssen.«17
4. Das abenteuerliche Herz (1938): das Glücksrad und die »Schicksalsuhren« In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein kurzes Kapitel aus der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1938), dessen Titel lautet: »Historia in Nuce: Das Glücksrad«.18 Dieselbe Formel offenbart zuvörderst den beabsichtigten Hinweis auf den Vorläufer des Sturm und Drang, den von seinen Zeitgenossen als »Magus im Norden« benannten Philosophen Johann Georg Hamann, der als einer der einflussreichsten Denker für Ernst Jüngers Werk gilt. Das Verhältnis zwischen einem mystischen Blick auf das Reale und einer synthetisch-initiationsartigen Sprache, die auf der Aufwertung des göttlichen, schaffenden dichterischen Genies (daimon) basiert, macht sich besonders bemerkbar in seiner berühmtesten Schrift, dem Essay Sokratische Denkwürdigkeiten (1759). Dieses Verhältnis wird dann im Eröffnungsmotto von Jüngers Buch am prägnantesten zusammengefasst: »Den Samen von allem, was ich im Sinn habe, finde ich allenthalben. Hamann« (AH 2, 177). Das Zitat führt wiederum auf das Wesen von Jüngers symbolischer Fähigkeit zurück, die Wirklichkeit unter Rückgriff auf eine stereoskopische Anschauung zu 15 16 17 18
Jünger, Die Schicksalszeit, S. 278. Vgl. Meyer, Ernst Jünger, S. 110 f. Jünger, Die Schicksalszeit, S. 279. Vgl. Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Figuren und Capriccios. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III. Das Abenteuerliche Herz, Stuttgart 1978, S. 177–330. – Das Kapitel bezieht sich auf S. 319–326. – Im Weiteren AH 2.
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betrachten. Eine Anschauung, die in erster Linie als eine besondere Veranlagung erscheint, mittels derer der tiefe Kern des Erkenntnisgegenstandes gezeigt, offengelegt und an die Oberfläche gezogen werden kann, also die Fähigkeit, Gestalten zu sehen, um zu einem höheren, organischen Wissen zu gelangen.19 Von dieser Eigenschaft ausgehend, definiert der Jünger’sche Synkretismus das Rad zuallererst als eine »der Schicksalsfiguren […], in die unser Leben geordnet ist« (AH 2, 319). Die Analyse des Radmechanismus und seiner Beziehung zu dem zugrundeliegenden »System von Symbolen« (AH 2, 319), wie es bei dem Roulette der Fall ist, wird also durch eine Art progressive, dreiteilige Dialektik entfaltet. Das doppelte Merkmal des Roulette, stabil bezüglich des Symbolkreises und mobil im Hinblick auf die gläserne Drehscheibe, die über demselben Symbolkreis schwingt, wird also von einem dritten und entscheidenden Bestandteil ergänzt, der der Bewegung desselben Rades Sinn und Bedeutung verleiht: Die Marke des Index, der auf der Drehscheibe eingetragen ist. Es ist genau der Index, der Glück oder Unglück des Menschen-Spielers bestimmt, der sich an jenem großen »Spiel« (AH 2, 321) mitbeteiligt, das das Leben ist. Die Untersuchung zur höheren, metaphysischen Bedeutung des Glücksrades führt Jünger somit zuerst zur Analyse des Verhältnisses zwischen der Astrologie, dem Horoskop und der Zeitvermessung durch die Uhren hinsichtlich der Bestürzung, die den Menschen gegenüber der Unerkennbarkeit des Schicksals übermannt (vgl. AH 2, 321–322). Die Notwendigkeit eines neuen qualitativen Verhältnisses zur Kategorie »Zeit« muss sich also durch eine Haltung charakterisieren, die sich auf eine vollständige »Aufgeschlossenheit« und ausnahmsloses Entgegenkommen gegenüber den »Schicksalsuhren« (AH 2, 322) stützt. Eine Haltung, die auf einer heiligen und initiationsartigen Interpretation der auf dem Symbolkreis eingetragenen unveränderlichen Zeichen und deren zyklischer Wiederkehr basiert, auf ihrer »ewigen Wiederkunft« (vgl. AH 2, 323). Darüber hinaus zielt die Analyse der Eigenschaften und Beschränkungen der Geschichtsschreibung als Gegenstand des zweiten Teils des untersuchten Kapitels darauf ab, die höhere »Einheit« (AH 2, 325) der Geschichtsereignisse zu erkennen. Oder wie der Autor sagt: einer »außerhalb der Zeit gelegene[n] Bedeutung […]. Auf diese Weise wird die Geschichte durchsichtig« (AH 2, 324). In diesem Kontext spielt der Autor offenkundig auf die Erkennungsfähigkeit jener kristallklaren, gestalthaften und göttlichen Struktur der Geschichte an, die sich hinter der chronologischen Aufzeichnung der Geschehnisse verbirgt, also auf jene Zeichen – oder Samen Hamanns – die nur unter Bezugnahme auf die schon früher erwähnte initiationsartige und »aristokratische« Eigenschaft der »Weihe« (AH 2, 323) begriffen werden können. Es ist dies ein Begriff, der als eine höhere Fähigkeit zur Vorahnung und zum Glauben an das Vorhandensein eines mächtigeren Schicksals 19
Vgl. Friedrich Strack, Ernst Jünger in romantischer Tradition, S. 17 und Bernhard Gajek, Ernst Jüngers Hamann-Erlebnis. In: Verwandtschaften, hg. von Günter Figal/Georg Knapp, Tübingen 2003 (Jünger-Studien 2), S. 53–73.
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aufgefasst werden kann, und das im Namen einer höheren Dimension des Geistes, der sich zuerst mit dem dichterischen Wort und dann mit dem Mythos wechselseitig durchdringt. Wie ich ausführlicher darlegen werde, bedient sich Jünger schon in diesem Zusammenhang einer Beweisführung, deren Basis er vom lyrisch-spekulativen Modell Novalis’ und Hölderlins ableitet: auf deren Grundlage ermöglicht die Poesie als Wiedererschaffung der Welt die Überwindung der Grenzen der Geschichte, indem sie sich als eine fortwährende Neugestaltung des Mythos darstellt (vgl. AH 2, 325–326).
5. Das Sanduhrbuch (1954): »Kosmische Zeit« als Tiefe, Bewusstsein und Freiheit Dieser heuristische Ausgangspunkt taucht ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Text Das Sanduhrbuch (1954) wieder auf. Indem Jüngers Essay Ursprung, Eigenschaften und Arbeitsweise der Sanduhr erläutert, führt er den Leser zu einem umfassenden Überdenken der zeitgenössischen technologischen Zivilisation, die zu einer »Welt von Automaten«20 degeneriert ist. Das Buch präsentiert sich demgemäß sowohl als radikale Distanzierung vom technischen Utopismus solcher Essays wie Die totale Mobilmachung (1930) oder Der Arbeiter (1932) als auch als Zeugnis ante litteram der späteren Umweltschutzbewegungen der 70er und 80er Jahre. Ein Zeugnis, das wiederum als Resultat eines tiefen Nachdenkens zu betrachten ist, das zumindest auf Die Perfektion der Technik (1939), die Schrift seines Bruders Friedrich Georg, zurückgeht.21 Diese Überlegung hat ihren Ursprung in Ernst Jüngers Opposition gegen die mechanische Zeitauffassung – »die mechanische Zeit, das tempus mortuum« (SUB, 174) – und in der Wiederaufnahme einiger Motive der vorkopernikanischen Raumauffassung, die als eine Wiederaufwertung der Zentralität der Erde zu begreifen sind. Diese Wiederaufwertung muss sich wiederum mit der Tiefe eines Bewusstseins verbinden, das sich als eine spezifische Regression auf die Wildnis erweist; dank einer anarchischen Freiheitsforderung seitens des Ich gegenüber der technischen Mobilmachung muss sich schließlich ein energischer Sprung nach 20
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Vgl. Ernst Jünger, Das Sanduhrbuch. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 12: Essays VI. Fassungen I, Stuttgart 1979, S. 101–250, hier S. 172. – Im Weiteren SUB. Vgl. Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik, Frankfurt/M., 11946. – Das Buch wurde ursprünglich zwischen dem Frühjahr und Sommer 1939 niedergeschrieben: vgl. Ulrich Fröschle, Friedrich Georg Jünger (1898–1977). Kommentiertes Verzeichnis seiner Schriften, Marbach a.N. 1998, S. 59. – Zum selben Thema siehe auch Klaus Gauger, Zu Friedrich Georg Jüngers »Perfektion der Technik«. In: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, hg. von Friedrich Strack, Würzburg 2000, S. 153–166.
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vorne abzeichnen.22 Es geht hier also um eine durch Selbstbefreiung und Selbstausgrenzung gekennzeichnete Haltung, die einerseits den wichtigen, 1951 erschienenen Aufsatz Der Waldgang23 schon durchaus geprägt hatte, und die andererseits zehn Jahre später sich in der Darstellung eines neuen globalen Ordnungssystems verdichtet, wie das Buch Der Weltstaat (1960) zeigt. Gemäß der darin enthaltenen Hauptthese zum »Wille[n] der Erde«24 zielt Jünger nämlich darauf ab, in der friedlichen Domestizierung des Zerstörungspotentials der amerikanischen und sowjetischen Weltmächte den notwendigen Ausgang des Experimentalstadiums zu verorten, in das die Dimension der Politik nach 1945 eingetreten ist.25 Auf der Basis dieses grundlegenden Interpretationsmodells beabsichtigt der Autor erstens, die Abstraktionen der gemessenen Zeit und die Automatisierung der Arbeit zu überwinden (vgl. SUB, 228): »Der Automatismus ist heute die universale Macht, und die Technik ist die Universalsprache« (SUB, 175). All das erweist sich heutzutage wiederum als Folge einer rechnerischen Haltung, die typisch für das gegenwärtige Denken ist. Eine Haltung, deren Ursprung in der Nachahmung und der Herausforderung der Natur liegt, die aber jeglicher zugrundeliegenden »theologische[n] Begriffe« (SUB, 175) beraubt ist. Die mechanische Uhr wird somit zum Inbegriff dieser ontologischen und existentiellen Lage. Indem sie der Zeit die Zügel anlegt, schüttet sie eigentlich »abstrakte Zeit […], geistige Zeit« (SUB, 141) aus und bestätigt damit die unwiderlegbare Macht der »tote[n] Zeit« (SUB, 220). Der Durchgang durch den Nihilismus fordert demzufolge die Bereitschaft, die Opfer auf sich zu nehmen, dank derer man zur Wiederaneignung einer »kultisch-religiösen« Dimension – einer »neue[n] Ordnung« (SUB, 207) – streben könnte, die wiederum zur »freie[n], unmittelbare[n] Geistesmacht« (SUB, 176) zu führen vermag. Jünger zielt also darauf ab, sich einen Zeit-Wert wieder zu eigen zu machen, der auf den Rhythmen der Natur beruht, und deren Wahrnehmung vom menschlichen Handeln wieder begründet werden könnte (vgl. SUB, 112). Nur mittels dieser Aufwertung der Zeitqualität (vgl. SUB, 125–126) wird man tatsächlich in der Lage sein, zu »einer neuen Weltzeit« (SUB, 176) zu gelangen. Zweitens offenbart sich der ausgeprägte metaphysische Charakter des Textes in dem Moment, in dem dieses Nachdenken über die Zeit als Rhythmus der Natur das menschliche Dasein zur »kosmischen Uhr« (SUB, 130) verbindet. Durch dieses Bild lobpreist 22
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Vgl. SUB, 176: »[…] Doch außerdem ist Zeitloses in uns, aus dem Zeitlosen schöpfende Macht, die wie Gullivers Arm das Spinngewebe der Uhrzeit zerreißt. Dort sind wir stark. Im Walde schlägt keine Uhr. Daher können wir nicht auf ewig dem Automatismus anheimfallen. Das ist das Geheimnis der Heilslehren. Wenn es anders wäre, könnten wir nicht über die Zeit nachdenken.« Vgl. Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2009, S. 601–603. Vgl. Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben, S. 486. Vgl. Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben, S. 485–487 und Hans-Peter Schwarz, Treffer und offene Fragen. Ernst Jüngers Prognosen. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, hg. von Günter Figal/Heimo Schwilk, Stuttgart 1995, S. 94–107; insbesondere S. 103–105.
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die Schrift die schöpfende Kraft der Beziehung zwischen Natur und Poesie, wie es in diesem Beitrag später noch einmal zum Ausdruck kommen wird. Die kosmische Uhr wird in der Tat durch die zyklischen Rhythmen der Erde bestimmt, die im ursprünglichen Sinne einer Erdmutter als »Sammelbecken« der »Lebenszeiten« (SUB, 132) auszulegen sind, und die vom »Zauber der Gedichte« (SUB, 132) gekennzeichnet sind. Die kreisförmige Zeitauffassung, die die Sonnenuhren charakterisiert, wird damit der der linearen und fortschreitenden tellurischen Uhren (Wasser-, Sand- und Feueruhren) entgegengesetzt. In diesen letzten Geräten ist einerseits die geläufige Vorstellung vom Nutzen und von einem »Ziel« (SUB, 135) vorherrschend; eine Idee, die als Ergebnis einer rationalen und bürgerlichen Ansicht von »Fortschritt« (SUB, 135) zu betrachten ist, den Jünger herabsetzend als »säkularisierte Hoffnung« (SUB, 135) bezeichnet. Andererseits bezieht er sich konstant auf eine symbolische, initiationsartige und stabile Vision von Welt und Kenntnis, die auf die Erfahrung der Gestalt als Fusion von »Wissen« (SUB, 144), »Kunst« (SUB, 144) und »Glauben« (SUB, 144) abzielt. Von dieser Weltanschauung geht der Autor aus und erkennt, gemäß einem typischen und undeutlichen »Optimismus des Willens«, die Andeutungen eines »gründlicheren Optimismus als den des Fortschritts« (SUB, 169); ein Optimismus, der »sich auf das Bewußtsein der Teilnahme an einem letzthin sinnvollen, wenngleich unerklärlichen Schicksalsgang« (SUB, 169) gründet. Somit sind wir am Scheitelpunkt der Jünger’schen Spekulation angelangt, innerhalb derer sich eine »kosmische Vernunft« in der Geschichte der Menschheit durchzusetzen scheint. Hierbei handelt es sich um eine Vernunft, deren ausgesprochen geistig-theologischer (gnostischer) und mystischer Charakter, der kaum von rational-logischer Natur sein dürfte, Hegels Geschichtsauffassung eigentlich transzendiert. Obwohl jene Vernunft stark von Hegels Auffassung beeinflusst zu sein scheint, entwickelt sie sich als »dichterisch-philosophischer Mythos der Moderne«, der danach strebt, Geist und Materie mystisch zu vereinen.26 Auf all diese Elemente stützt sich die Untersuchung der Sanduhr, die den Hauptteil des Textes einnimmt. Jünger hebt zunächst einige greifbare und ungreifbare Eigenschaften hervor: Auf der einen Seite verbindet der darin enthaltene Sand diese Uhr mit der Natur und der Erde und macht sie im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Bestandteil der tellurischen Uhren. Mit der Sanduhr ist auf der anderen Seite »ein besonderes Zeitbewußtsein« (SUB, 183) und »ein Lebens- und Todesgefühl« (SUB, 183) verbunden, in dessen Rahmen die Flüchtigkeit der Zeit und die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz auf eine höhere, stabile und geistige Ebene projiziert werden. Deshalb 26
Vgl. SUB, 152: »In solchen Reihen kommt auch zum Ausdruck, daß die Menschengeschichte im wesentlichen Geistes- und nicht Naturgeschichte ist, in welcher die rotierende Bewegung kaum eine Rolle spielt. Den Menschen, und das ist eines seiner Kennzeichen, verknüpft außer seinen natürlichen Bezügen ein geistiges Band dem Kosmos und der dort herrschenden Vernunft. Dort freilich fehlt es nicht an Kreis- und Spiralgängen.« Vgl. außerdem: Peter Koslowski, Dichterische und dichtende Philosophie. In: Magie der Heiterkeit, S. 204–235; Peter Koslowski, Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers, München 1991, S. 102 und S. 149–162 und Friedrich Gaede, Leibniz und der Geschichtsbegriff Ernst Jüngers. In: Les Carnets Ernst Jünger, 2, 1997, S. 67–87; vgl. hier besonders S. 68 f.
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bezeichnet erstens die »rohe« Zeitmessung der Sanduhr, die als »natürlich-elementare Zeit« (SUB, 230) definiert wird, »einen Zustand geringerer Zivilisation und dichterer Menschlichkeit« (SUB, 213). Zweitens hat diese Uhr eine Heilkraft: Die Beschaulichkeit der Zeit und die Abgeschiedenheit von ihr sind nur dann möglich, wenn man die Ruhe zuallererst in seiner eigenen Innerlichkeit wiederfinden kann: »Im Innersten muß man Zeit haben.« (SUB, 230) Mit einer typischen Zweideutigkeit und innerhalb eines immer prekären Gleichgewichts zwischen den Ansprüchen des Ich und der Zivilisation streift der Autor drittens die ökologische Debatte über die Grenzen einer romantischen »Rückkehr zur Natur«: »Ein neues Gleichgewicht von Ruhe und Bewegung kann nur im Durchschreiten der gefährlichen Zonen erreicht werden.« (SUB, 229) Es ist hier von den Zonen der zeitgenössischen Zivilisation die Rede, in denen die im Grunde genommen negative Bedeutung, die dem Begriff »Arbeit« in diesem Buch verliehen wird, auf die zahlreichen »Formen der Mobilmachung« (SUB, 229) der Gegenwart verweist – eine von einem »Synchronismus« der »Tätigkeiten« (SUB, 229) dominierte Gegenwart, die zum Verfall der vermeintlichen Wohlstandsgesellschaft führt. Schließlich setzt sich die Schrift ausgerechnet in diesem Zusammenhang unmittelbarer mit dem gegenwärtigen historischen Rahmen in Verbindung, da sie sich mehrmals auf das dunkle, damit zusammenhängende cupio dissolvi konzentriert. Dieses scheint tatsächlich den Hauptantrieb folgender Aspekte darzustellen: die Auszehrung der Wildnis und die Unterjochung der Erde (SUB, 150), die künstliche Befruchtung von Menschen (SUB, 175), die Atomgefahr nach 1945 (SUB, 168 und 175), der instabile internationale Rahmen bezüglich der Auseinandersetzung zwischen West- und Ostblock (SUB, 135 und 212) und die damit verbundene Teilung Deutschlands (SUB, 215–216). Aus den bereits oben genannten Gründen muss Jüngers Prognose also notwendigerweise von der Feststellung einer »neuen Vermählung des Geistes mit der Materie« (SUB, 232) ausgehen,27 die sich u. a. im Vorhandensein neuer Elementaruhren 27
Die Vermittlung zwischen Geist und Materie in der Reife- und Spätphase von Ernst Jüngers Schaffen wurde u. a. von Friedrich Gaede besonders hervorgehoben. Vor allem hat er betont, wie Jüngers ambivalente Technikanalyse teilweise auch auf die Rezeption des »mechanistischen Denkens« der Barockzeit zurückgeführt werden könnte (René Descartes und Thomas Hobbes), vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Chaos, Natur und Staat. Von hier ausgehend hat Gaede dann die deutlichen Beziehungen zwischen Geist und Natur in Leibniz’ Monadenkonzept und der proteischen und progressiven Vergeistigung der Materie bei Jünger untersucht; in dieser Hinsicht hat Gaede speziell auf die gemeinsame Vision eines ständigen Werdens des Kosmos verwiesen, das sich auf ein Ordnungsprinzip stützt. Dieses Prinzip basiert für Jünger auf der organischen Auffassung der Gestalt, während es in dem Monadenbegriff den Charakter einer inneren und äußerlichen Einheit der Welt erhält. Auf diese Art und Weise zeigt die Analyse des Unbewussten als Dimension, in dem sich die Fülle des Universums verbirgt, wie der menschlichen Perzeption des Realen ein »individuelles Unbewusstes« zugrundeliegt, das seinerseits als Teil eines »allgemeinen objektiv Unbewussten« zu betrachten ist. Diese Dimension des Unbewussten wird damit schließlich in ein philosophisches System integriert, das sich auf den schöpferischen Trieb der Entelechie und auf das Kontinuitätsprinzip stützt, das Natur und Mensch verbindet. Vgl. Friedrich Gaede, Technische oder monadische Welt? Zur Grundlage von Ernst Jüngers Begriff und Kritik der Technik. In: Titan Technik, S. 43–55 und Gaede, Leibniz und der Geschichtsbegriff Ernst Jüngers.
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(Quarz-, Atom- und Elektronenuhren) offenbart; daraus »muß ein neues Bewußtsein in Erscheinung treten, das den veränderten Mitteln gewachsen ist« (SUB, 233). Die ausdrücklich ambivalente Beurteilung der künftigen Lage,28 in der das Leben gleichzeitig konkreter und geistiger sein wird, basiert letzten Endes also auf dem Aufruf zum Ethos der Verantwortung. Dieser Standpunkt hängt seinerseits wiederum von dem oben angeführten vorsichtigen Optimismus ab, der sich um eine ständige Vermittlung zwischen Hoffnung und Gefahr bemüht. Auf der einen Seite behauptet Jünger nämlich, »daß die Gefahr noch zunehmen wird« (SUB, 233). Auf der anderen Seite »begründet sich die Hoffnung, daß ihre Meisterung gelingen wird« (SUB, 233), damit man »zu den der Schöpfung innewohnenden Maßen« (SUB, 233) zurückfinden oder sie durchdringen könnte.
6. An der Zeitmauer (1959): »Meßbare Zeit« und »Schicksalszeit« Nach diesen Betrachtungen gehe ich nun zur Untersuchung des Kapitels Meßbare und Schicksalszeit in An der Zeitmauer (1959) über.29 Darin ergänzt der Autor vorbildlich die bis zu diesem Punkt erläuterten Überlegungen, und stellt die mechanische, mathematisch-astronomische Vorstellung der linearen Zeit, also der Geschichte, einer qualitativen, spiralförmigen, astrologischen, synoptischen, physiognomischen und mythischen Auslegung der zyklischen Zeit entgegen. Diese Zeit kann man nur dann richtig wahrnehmen und ausdeuten, wenn man sich bemüht, das Schicksal als ein »So-Sein« zu ahnen, das in der unerschöpflichen »Harmonie […] von unzerstörbarem Sein« (ZM, 552) gipfelt. Um die Entwicklungsmodalitäten dieser Zeitauffassung ganz und gar rekonstruieren zu können, und sie mit einer spezifischeren Analyse von Jüngers Rezeption der deutschen Romantik zu verbinden, konzentrieren wir uns hauptsächlich auf die Lyriker Novalis und Hölderlin und auf den Schriftsteller, Publizisten und Mythenforscher Görres.
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Siehe dazu auch Ernst Jünger, Maxima. Minima. Adnoten zum »Arbeiter«. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Essays II: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 319–396, hier S. 384 f. Vgl. Ernst Jünger, An der Zeitmauer. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Essays II. Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 397–645. – Im Weiteren ZM. – Das Kapitel »Messbare und Schicksalszeit« befindet sich auf S. 408–450. Zu den möglichen Einflüssen Hugo Fischers auf die Entwicklung der Kategorie »Zeit«, insbesondere auf den Essay An der Zeitmauer: vgl. die Briefe Hugo Fischers an Ernst Jünger vom 22. 10. 1931, 12. 12. 1933, 7. 1. 1937, 21. 1. 1960 und 25. 10. [1960] (DLA, A: Ernst Jünger).
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6.1 Ernst Jünger und Novalis: der »magische Realismus« und die Remythisierung des Intellekts An Jüngers Rezeption von Novalis’ Werken ist zunächst auffällig, dass er eine besondere Vorliebe für die Hymnen an die Nacht (1800) und für die Gattung »Märchen«30 an den Tag legt. Obwohl der reife und späte Jünger immer eine ausgeprägt kritische Distanz gegenüber dem regressiven Charakter der Romantik – insbesondere bei Novalis31 – wahrte, teilte er die Haupteigenschaften von Novalis’ ästhetischem und spekulativem System, und hob aus diesem Grund sowohl Novalis’ Konzept der universellen Liebe als vereinigende Kraft32 als auch die Zauberkraft der Nacht und die vorwegnehmende Macht des Traums hervor.33 Diese Aspekte heben nämlich den »mystischen« Schleier einer magischen und tieferen göttlichen Realität auf, die von einer höheren Ordnung und einem unergründlichen Schicksal geleitet wird. Als solche ermöglichen sie eine Steigerung des menschlichen Wissensvermögens.34 Im Zentrum von Novalis’ System steht aber die Utopie zur Ausformung der Welt als eine spezifisch ästhetische, weil Novalis der Ansicht ist, dass nur die demiurgische Kraft der Poesie und die ihr zugrundeliegende, sehr starke moralisierende Instanz, eine von der Geschichte kontaminierte, neue, harmonisierte und statische Welt wiederherstellen kann und muss, indem die Poesie diese kommende Welt vorwegnimmt. Durch seinen nachkriegerischen »utopischen Aktivismus«, der seinerseits von dem oben analysierten »Optimismus des Willens« geschürt wird, erkennt Jünger dagegen in der Technik das Mittel, um das sowohl geistige als auch 30
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Vgl. besonders Die Lehrlinge zu Sais (1798) – vor allem das hier enthaltene Märchen von »Hyazinth und Rosenblütchen« – und Heinrich von Ofterdingen (1802): vgl. Novalis, Gedichte. Die Lehrlinge zu Sais, hg. von Johannes Mahr, Stuttgart 1984; Novalis, Heinrich von Ofterdingen, hg. von Wolfgang Frühwald, Stuttgart 2004. Vgl. ZM, 524 f, 542 und 631 und Hermann Kurzke, Romantik und Konservatismus. Das »politische« Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983. Vgl. folgende Tagebuchnotizen: Gärten und Straßen. In: Ernst Jünger, Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II: Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 25–221, hier S. 122 (7. 4. 1940); Kirchhorster Blätter. In: Ernst Jünger, Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 3: Tagebücher III: Strahlungen II, S. 295–401, hier S. 382 (15. 3. 1945) und S. 389 (25. 3. 1945). Innerhalb dieser Konstellation ist Jüngers Rezeption von Novalis’ »magischem Idealismus« zu verstehen. Jüngers Auffassung vom »magischen Realismus« (Jünger, Die Schicksalszeit, S. 300) wird in der ersten Fassung seines Essays zum Abenteuerlichen Herzen (1929) dargelegt. Vgl. folgende Tagebuchnotizen: Ernst Jünger, Die Hütte im Weinberg. Jahre der Okkupation. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 3: Tagebücher III. Strahlungen II, S. 403–695, hier S. 576 f. (2. 11. 1945); Ernst Jünger, Siebzig verweht II. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 5: Tagebücher V. Strahlungen IV, Stuttgart 1982, S. 102 f. (19. 11. 1972) und ZM, 514. Vgl. dazu auch Friedrich Stählin, Ernst Jünger und Novalis oder Die Wirklichkeit der Träume. In: ders.: Grenzgänge. Verse in Grimms Märchen, Ernst Jünger und Novalis, Günter Eich, Utting am Ammersee [Selbstverlag] 1978, S. 39–58.
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ästhetische Projekt für die Neugründung der Welt auf planetarischer Ebene zu verwirklichen. Sie wird sich also gleichzeitig als »neu« – im Sinne der Einheit des Kosmos unter der absoluten Herrschaft der Technik und ihrer »Form« – und »alt« erweisen. In diesem letzten Fall gilt das im Hinblick auf die schon früher erwähnte platonische unveränderliche Ursubstanz der Ideen, die derselben Welt zugrundeliegt, und im Sinne einer höheren »Harmonie« als Endstation des Beschleunigungsprozesses in der Moderne.35 Diese Vorstellung der Zeit, die der Autor in Der Waldgang (1951) als »historia in nuce« (oder »Geschichte in der Substanz«)36 definiert, entwickelt er zuerst aufgrund von Johann Georg Hamanns spekulativen und religiösen Ansichten, die schon im Einzelnen untersucht worden sind, und dann gemäß des romantischen Zeitalters.37 Dieser Einfluss setzt also mit Novalis’ Auffassung von »Urzeit«, »Urwelt« und »Vorzeit« an, entwickelt sich dann durch das Begriffspaar »Mythos« und »Geschichte« bei Joseph von Görres, bis hin zu einer teilweise kritischen Wiederaufnahme einiger Motive, die sich aus Jüngers intensiven Lektüren zum Orient- und MittelmeerMythos herleiten lassen, wie man in Bezug auf die Schriften des schon erwähnten Bachofen, des Altphilologen Georg Friedrich Creuzer38 und des Religionshistorikers und Gräzisten Walter Friedrich Otto39 feststellen kann. Nach diesen Bemerkungen möchte ich nun die Auswirkungen des doppelseitigen, »alten« und »neuen«, technischen und ästhetisch-geistigen Gesichtes des von Jünger dargestellten gegenwärtigen Zeitalters behandeln und gleichzeitig explizit darauf hinweisen, dass er in seinem eigenen Bildungsprozess die Spaltung zwischen wissenschaftlichem Wissen und Trieb zum künstlerischen Schaffen erlebt. Diese Auswirkungen betreffen unmittelbar das Verhältnis und die deutlicheren Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zwischen demselben deutschen Autor als Vertreter der Moderne und der Romantik. 35
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Vgl. ZM, 502 und 552; Meyer, Ernst Jünger, S. 377–381 und Michael Großheim, Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne, Berlin 1995, S. 47 f. und S. 111 f. Zit. nach Ernst Jünger, Der Waldgang (1951). In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I. Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 281–374, hier S. 330. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i. Br. 1962; besonders S. 189–226 und S. 249–253; Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens; hier im Besonderen: S. 60–62, S. 76 f., S. 164, S. 401–404 und S. 575 Fußnote 73. Vgl. vor allem Georg Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Leipzig/Darmstadt 1812 und Jünger, Siebzig verweht II, S. 28 (6. 5. 1971). Vgl. besonders Walter Friedrich Otto, Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt/M. 1933; Jünger, Kirchhorster Blätter, S. 355 (5. 1. 1945) und Annette Rink, Plutarch des Naturreichs: Ernst Jünger und die Antike, Würzburg 2001, S. 15, Fußnote 1. – In diesem Zusammenhang muss man auch Jüngers Rezeption der Werke Friedrich Wilhelm Schellings (1775–1854) und Franz von Baaders (1765–1841) erwähnen: vgl. ZM, 434 und Schwarz, Der konservative Anarchist, S. 32, 183 f. und 210–215.
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Auf der einen Seite versucht sich Jünger grundsätzlich das romantische Projekt der Überwindung des Intellekts durch seine Remythisierung wieder zu eigen zu machen. Dieser Versuch stellte im spezifischen Kulturkontext der Romantik den Wunsch dar, die entfesselte Rationalität der Aufklärung in Grenzen zu halten und sie in einen mythischen Hintergrund wieder einbinden zu können. All dies führte trotzdem zu einer paradoxalen Lage, da man nach der entscheidenden Erfahrung der Aufklärung zum Versuch verurteilt war, das (rationale) Bewusstsein mit Hilfe desselben Bewusstseins aufzuheben. Ein Paradoxon, wofür der kurze, doch wirkungsvolle Essay Über das Marionettentheater (1810) des Romantikers sui generis Heinrich von Kleist ein ausgezeichnetes Beispiel darstellt.40 Auf der anderen Seite, wie der Sizilische Brief an den Mann im Mond (1930) gut zeigt, scheint Jünger sich in diesem Text als eine Art »poetischer Hermeneut«41 vorzustellen, der danach strebt, die Zeichen, die Hieroglyphen des Lebens, zu entziffern. Ganz anders als Novalis’ romantische produktive Einbildungskraft und die damit zusammenhängende Fähigkeit, neue Welten zu schaffen, scheint Jünger sich darauf zu beschränken, die real existierende Welt in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit wahrzunehmen und aufzuzeichnen. Der romantische magische Idealismus wird also in diesem Sinne eher in einen magischen Realismus verwandelt. Im Hinblick auf die Anwendung der Allegorie sei hier schließlich auf das in der schon untersuchten zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens enthaltene Kapitel Die Kiesgrube verwiesen.42 Der Versuch, auf die Jagd nach der geheimnisvollen Zeichensprache des Lebens durch einen Text zu gehen, der übrigens buchstäblich über sich selbst nachdenkt, geht ganz im Sinne von Friedrich Schlegels »Fragment« vor, endet jedoch mit einem Scheitern: Jünger als Autor der Moderne stellt die Unmöglichkeit fest, die einzelnen und bruchstückhaften, für das Tagebuch typischen Aufzeichnungen und deren ständigen Bearbeitungen innerhalb eines organischen und vollständigen »Mosaiks« wiederherzustellen, »denn die hohe Ordnung ist im Mannigfaltigen wie in einem Vexierbild versteckt.« (AH 2, 181) Im Unterschied zur freien (solipsistischen und sogar nihilistischen) romantischen produktiven Einbildungskraft muss Jünger daher willkürlich in diesem und in anderen Texten auf das Prinzip des den Stoff souverän organisierenden Ich zurückgreifen; ein Prinzip, das außerdem auf das fragmentarische Bewusstsein des Schriftstellers einwirkt.43
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Vgl. Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Band 3, hg. von Klaus Müller-Salget, Frankfurt/M. 1990, S. 555–563. – Zum Thema siehe Strack, Ernst Jünger in romantischer Tradition, S. 12–14. Zit. nach Strack, Ernst Jünger in romantischer Tradition, S. 18. Vgl. Jünger, Die Kiesgrube. In: AH 2, S. 180 f. Vgl. Strack, Ernst Jünger in romantischer Tradition, S. 19–22.
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6.2 Ernst Jünger und Hölderlin: die Wiedererschaffung des kreativen Wissens an der Schwelle zur postmodernen Welt Das enzyklopädische Projekt einer Universalpoesie basiert auf einem philosophischen System, das Schlegel als einen »Organismus aller Künste und Wissenschaften« definiert. In ihm sollte sich durch die Analogie, die scheinbar entgegengesetzte Elemente zusammenbindet, das Konzept eines sich im ewigen Werden befindenden, zugleich aber bereits vollendeten Wissenssystems verwirklichen. Es ist dies ein System, das Novalis’ Meinung nach durch die Anwendung der poetischen Sprache und des Analogieverfahrens unter den Wissensgebieten, die Einheitssprache restituieren sollte, die das analytische Vorgehen der herkömmlichen Wissenschaften atomisiert hatte.44 Schließlich führt das Schlegel’sche Programm zu den von Jünger mehrmals zitierten poetischen Werken Hölderlins, insbesondere zur Elegie Brot und Wein (um 1800/1801) und zur Hymne Andenken (um 1803). In der Elegie kann der Dichtergesang in dürftiger Zeit nur auf die Wiederkehr der Götter warten, und das inmitten einer zwischen mythischer Vergangenheit (Griechenland) und utopischer Zukunft (Deutschland) schwebenden Gegenwart, in der die Erde den Tagesfleiß der Titanen aufnimmt.45 In der Hymne beruht der ganze Text auf einem prekären Gleichgewicht zwischen Ich und Welt, kontemplativem (Erinnerung und Andenken) und aktivem (Erfahrungserweiterung) Leben, das in der abschließenden Äußerung der dichterischen Komposition seine »Lösung« findet, nach der die Dichter die dauernde Erinnerung an die Lebenserfahrungen bewahren: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«46 44
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Vgl. Julia Draganović, Figürliche Schrift. Zur darstellerischen Umsetzung von Weltanschauung in Ernst Jüngers erzählerischem Werk, Würzburg 1998, S. 136–140; Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S. 364 f. und Hans Esselborn, Novalis-Rezeption in der deutschen Moderne. In: »Blüthenstaub«. Rezeption und Wirkung des Werkes von Novalis, hg. von Herbert Uerlings, Tübingen 2000, S. 289–310. Vgl. Friedrich Hölderlin, Brot und Wein. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt/M. 1992, S. 285–291; Enrico Guglielminetti, Il mondo in eccesso. Scambio di toni in Hölderlin e Novalis, Milano 2003, S. 86 ff.; ZM, 471, 516 f. und 544; Ernst Jünger, Siebzig verweht III. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 20: Tagebücher VII: Strahlungen V, Stuttgart 2000, S. 245 (4. 2. 1983) und S. 384 f. (4. 7. 1984); Ernst Jünger, Siebzig verweht IV. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 21: Tagebücher VIII: Strahlungen VI, Stuttgart 2001, S. 349 (21. 4. 1989), S. 417 (10. 5. 1990), S. 474 (7. 11. 1990) und S. 475 (9. 11. 1990). Vgl. Friedrich Hölderlin, Andenken. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, S. 360–362, hier S. 362, und Peter Hühn, Friedrich Hölderlin »Andenken«. In: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Jörg Schönert/Peter Hühn/Malte Stein, Berlin 2007, S. 99–112. Vgl. dazu auch Ernst Jünger, Das erste Pariser Tagebuch. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II: Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 223–406, hier S. 342 (5. 7. 1942); Ernst Jünger, Siebzig verweht I. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 4: Tagebücher IV: Strahlungen III, Stuttgart 1982, S. 237 f. (4. 1. 1966) und S. 389 (27. 11. 1967); Jünger, Siebzig verweht II, S. 163 (22. 2. 1974), S. 508 (6. 8. 1979) und S. 530 (14. 10. 1979).
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Indem der reife Jünger dem Modell der ergreifenden Dichtung Hölderlins folgt, und sie in eine Linie einfügt, die mit Arthur Schopenhauers philosophischen Überlegungen einsetzt, und mit denen Friedrich Nietzsches endet,47 entfaltet sich seine Untersuchung mit Heliopolis (1949) und Besuch auf Godenholm (1952) immer klarer auch im Sinne einer einweihenden Suche nach dem Sein und seiner Offenbarung und nach dem Heiligen. Das Heilige wirkt in dieser Hinsicht als Norm und Grundlage des anarchischen Eremiten, der im Herzen der Zivilisationskrise den Nihilismus erst aktiv überwinden darf, nachdem er den innerlichen Weg der Wissensvertiefung gegangen ist. Jünger versucht somit, die überzeitliche und ursprüngliche Eigenart des Mythos – im Besonderen des griechischen Mythos – zurückzuholen, um die Katastrophen, das Provisorische und die Grenzen der Geschichte zu überwinden. Endziel bleibt die Wiedererschaffung des kreativen Wissens (»poetische Gnosis«) an der Schwelle zur postmodernen Welt, die sich durch die technischwissenschaftliche Parzellierung im Titanenzeitalter charakterisiert, und in der man sich auf die (mögliche) Wiederkehr des Heiligen vorbereitet.48 Bezüglich dieses letzten Aspektes lohnt es sich, zu verdeutlichen, dass Ernst Jünger in An der Zeitmauer streng genommen keine banale Reaktualisierung des griechischen Mythos vorlegt,49 also genauer im Hinblick auf Hesiods Theogonie 47
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Vgl. die unveröffentlichten Briefe Ernst Jüngers an Friedrich Georg Jünger vom 4. 12. 1927, 28. 9. 1940 und 7. 5. 1942 (DLA, D: Friedrich Georg Jünger) und Ernst Jünger, Siebzig verweht V. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 22: Späte Arbeiten: Verstreutes: Aus dem Nachlass, Stuttgart 2003, S. 103–107 (1. 1. 1993) und S. 122 f. (23. 3. 1993). Vgl. Antonio Gnoli/Franco Volpi, I prossimi titani. Conversazioni con Ernst Jünger, Milano 1997, S. 31, 95–97 und 105 f.; Ernst Jünger, Gestaltwandel. Eine Prognose auf das 21. Jahrhundert. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 19: Essays IX: Fassungen III, Stuttgart 1999, S. 607–621, hier S. 611. Zur gegenwärtigen Debatte zum Verhältnis zwischen »Avantgarde«, »Moderne« und »Postmoderne«, vgl. u. a. Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hg. von Wolfgang Welsch, Weinheim 11988. – Zu Jüngers Hölderlin-Rezeption, siehe folgende Texte: Claude Gaudin, Jünger. Pour un abécédaire du monde, hg. von François Dagognet, La Versanne 1992, S. 121–128; Martin Konitzer, Ernst Jünger, New York/Frankfurt/M. 1993, S. 16–33; Alexander Otto, La perspective hölderlinienne. In: Ernst Jünger, hg. von Philippe Barthelet, Lausanne 2000, S. 423–431. Zur Rekontextualisierung des griechischen Mythos unter einem sakralen Gesichtspunkt und im Sinne der in An der Zeitmauer enthaltenen Thesen, tragen u. a. auch folgende Faktoren bei: – Die intensive Auseinandersetzung mit den Texten des rumänischen Religionshistorikers Mircea Eliade, mit dem Ernst Jünger die Zeitschrift Antaios. Zeitschrift für eine freie Welt von 1959 bis 1971 veröffentlichte und mit dem er eine lange und noch unveröffentlichte Korrespondenz (1952–1973, DLA, A: Ernst Jünger) führte: vgl. Ernst Jünger, Antaios. Zeitschrift für eine freie Welt. Ein Programm. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 14: Essays VIII: Ad hoc, Stuttgart 1978, S. 167 f. Bezüglich der Tätigkeiten dieser Zeitschrift sollte man auch u. a. den unveröffentlichten Briefwechsel (1958–1971) Ernst Jüngers mit dem schweizerischen Journalisten und Autor Philipp Wolff-Windegg (1919–1991), Schriftleiter derselben
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und Werke und Tage.50 Ausgehend von einer metahistorischen Perspektive, die in einem erneuten Interesse für die Astrologie und für »eine heraufwallende gnostische Grundströmung« (ZM, 424–425) begründet liegt, prognostiziert er eigentlich darin die Heraufkunft eines neuen »Mythos«: des Menschentypus des Arbeiters als Titan und Sohn der Erde. Im Vergleich zur ersten Phase von Jüngers Werk unterscheidet sich dieser Menschentyp sowohl vom Kämpfer des Materialkriegs als auch vom Arbeiter der unheimlichen »organischen Konstruktion« (Der Arbeiter) dadurch, dass in ihm die Mobilmachung sich als revolutionierende »Totale Mobilmachung« (ZM, 462) der Erde und im Auftrag der Erde, gegen die Götter des Vaters, also sowohl gegen die olympischen Götter als auch gegen den Gott des Alten Testamentes, realisiert. In diesem Text führt Jünger Nietzsches kulturelle und theologische Überlegungen zur extremsten Konsequenz, indem er eine zentrale These Nietzsches, nämlich »Gott ist tot«, aus dem Zarathustra (1883–1885) aufgreift und die mit Nietzsches Vision vom »letzten Menschen« verbundene Gestalt auf die Grundeigenschaften der post-industriellen Gesellschaft appliziert. Mit erstaunlicher Hellsichtigkeit konfrontiert er seinen Leser insbesondere mit dem Arbeiter als Titan, der sich an der Schwelle der Geschichtlichkeit befindet. Innerhalb die-
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Zeitschrift und Neffe von Ernst Klett (1911–1998), dem Verleger Jüngers (DLA, A: Ernst Jünger), in Betracht ziehen. – Die Lektüre der Werke des ungarischen Religionshistorikers Károly Kéreny, der Jünger spätestens seit 1947 dank seiner Freundschaft mit dem Philosophen und Essayisten Gerhard Nebel bekannt war: vgl. Ernst Jünger/Gerhard Nebel, Briefe 1938–1974, hg. von Ulrich Fröschle/Michael Neumann, Stuttgart 2003, S. 131 und S. 202 und Ernst Jünger, Xylókastrón. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 6: Tagebücher VI. Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 438–442. – Die unveröffentlichte Korrespondenz (10. 11. 1950–30. 12. 1952, DLA, A: Ernst Jünger) mit dem Archäologen Wolfgang Cordan (Pseudonym für Heinrich Ewald Wolfgang Horn, 1909–1966): vgl. Jünger, Siebzig verweht III, S. 160 f. (23. 7. 1982). Der damit verbundene Briefwechsel mit dem Schriftsteller, Soziologen und Philosophen Ernst Wilhelm Eschmann (1904–1987): siehe insbesondere die Briefe Eschmanns an Jünger vom 6. 1. 1951, 30. 3. 1955 und 28. 1. 1956 (DLA, A: Ernst Jünger). Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S. 605–607 und Rink, Plutarch des Naturreichs, besonders S. 81–90 und S. 120–153. – In diesem Zusammenhang möchte ich kurz darauf hinweisen, dass die Vorzüge von Rinks Arbeit in der sorgfältigen Erforschung der Primar- und Sekundärquellen liegen, durch die das gesamte Jünger’sche Werk mit dem Mythos der Antike verbunden ist. Weit umstrittener erscheint dagegen die in dieser Untersuchung vertretene Interpretation, weil diese von einer stereotypen Darstellung entscheidend beeinflusst wird, die auf eine virile, bellizistische und misogyne Haltung Jüngers als typischer Vertreter des revolutionären Konservatismus der Weimarer Zeit beharrt. Indem die Autorin sich auf die diskutable Auswahl einer in vieler Hinsicht überholten Sekundärliteratur stützt, die im Unterschied zur anfänglichen philologischen Akribie des Textes übrigens oft stark ideologisiert und irreführend wirkt, neigt Rink also dazu, die viel komplexeren Beweggründe und Standpunkte zu banalisieren, die Jünger dazu führen, sich des Mythos innerhalb einer allgemeineren Debatte zur Überwindung des Nihilismus im Zeitalter der technischen Herrschaft zu bedienen.
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ser Geschichtlichkeit, die als eine Integration des Mythos innerhalb der linearen Zeit zu verstehen ist,51 bewohnt der Titan eine grenzenlose und götterlose Erde, auf der man die Zeit nach der neuen geologischen Uhr der »absoluten Zeit« (ZM, 581) bemisst. Wie ich zuvor dargelegt habe, hat man es hier also mit einer ganz neuen qualitativen Auffassung von Zeit zu tun, die den Normen »eines neuen Zeitbewußtseins, eines neuen Zeitwillens, der sich instrumentiert« (ZM, 582) folgt. Der gegenwärtige Titan-Mensch bewegt sich verloren »in der Mitternacht der Geschichte« (ZM, 471) in jener unendlichen und monotonen »Bauhütte« (ZM, 544), die die heutige technische Landschaft der von Kabeln und Netzwerken durchdrungenen Mutter Erde am besten versinnbildlicht. Auf dieser – heutzutage durch Internet und die Informationssysteme globalisierten – Erde glaubt der Mensch daran, dass er agiert. In Wahrheit unterliegt er der revolutionierenden Mobilmachung der Erde und des gesamten Kosmos. Endstation dieser Mobilisierung ist nach Meinung des Autors die Rückkehr zum vorgeschichtlichen Äon, zum »Goldene[n] Zeitalter« (ZM, 482),52 in dem »die Idee des Menschengeschlechts« (ZM, 482) ihre Vollendung erfährt. Diese Rückkehr ist aber erst möglich, nachdem die Grenze zwischen Menschen und Gottheit im Voraus zerstört wird, wie die Experimente im Bereich der Biotechnologien und der genetischen Manipulation bestätigen, die 1953 von den Forschungen der zwei Biologen James Watson (Jg. 1928) und Francis Crick (1916–2004) zur DNA-Struktur eröffnet wurden, und bei denen »der Mensch nun die Verantwortung für seine Evolution übernimmt« (ZM, 603). In der titanischen Macht, die den Gedanken und Tätigkeiten dieser »neue[n] Menschenkategorie« (ZM, 601) zugrundeliegt, erkennt der reife Jünger die Verwirklichung jenes sich im gegenwärtigen »metaphysischen Interregnum« (ZM, 623) abspielenden »Göttersturz[es]« (ZM, 593), der aber nur die erste Stufe einer künftigen, vollendeten Überwindung des Nihilismus im »Weltstaat« (ZM, 637) darstellen soll. Von diesem Weltstaat ausgehend, wird sich die verkündete Rückkehr zur Erde von Nietzsches Übermenschen als »Ansatz einer neuen Erdvergeistigung am Abschluß der historischen Zeit« (ZM, 492) bewerkstelligen. Obwohl der Autor jenen Göttersturz als erstes Zeichen eines unausweichlichen Geschicks deutet, dem keineswegs durch moralische und/oder konfessionelle Maßstäbe entgegengetreten werden kann, ist dasselbe Geschick letzten Endes durch eine eher optimistische, wenngleich zweideutige Hoffnung auf das Eintreten einer »Großzeit des Geistes« (ZM, 645) geprägt. Eine Zeit, die sich im astrologischen 51
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Wie Jünger in seinem schon erwähnten Essay Der Waldgang erklärt: »Mythos ist keine Vorgeschichte; er ist zeitlose Wirklichkeit, die sich in der Geschichte wiederholt. Daß unser Jahrhundert in den Mythen wieder Sinn findet, zählt zu den guten Vorzeichen. […]«. (Jünger, Der Waldgang, S. 315) Vgl. Jünger, Autor und Autorschaft, S. 77 f. sowie Ernst Jünger, Notizblock zu »Tausendundeine Nacht«. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 19: Essays IX: Fassungen III, Stuttgart 1999, S. 421–436, hier S. 424.
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Bild des »Wassermannes« (ZM, 645) versinnbildlicht,53 und die von der Freiheit und dem Überfluss des Dichters angekündigt wird. Hierin kulminiert das »Selbstbewußtwerden der Welt […]. Dort ist Unendlichkeit« (ZM, 590).54 Ein Gedanke, den der hundertjährige Schriftsteller mit seinen Überlegungen zu Nietzsches zyklischer Auffassung von der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« vereinigt, und zwar im Sinne einer Rückkehr des Ewigen.55
7. Ernst Jünger und Joseph Görres: »Ewige Gegenwart« und »Uroffenbarung« All diese Überlegungen führen uns also schließlich zu einem Grundaspekt von Görres’ Werk, das besonders auf das Verhältnis zwischen Mythos und Geschichte verweist, und das sich mit der Jünger’schen Suche nach dem Sein in Verbindung setzen lässt: Das Gespräch mit den Toten zählt zu den Alterszeichen; es nimmt mit der Einsamkeit zu. […] Der beste Teil der Romantik: ein beschwörendes Totengespräch. Novalis, Maurice de Guérin, Bonaventura, Chateaubriand. Lord Byron nicht zu vergessen, wie überhaupt viel Aristokraten darunter sind. Auch das ist ein Alterszeichen: »Auf dem Grabhügel der Vergangenheit werden wir geboren«, wie Görres sagt. Gutes dazu in Alfred Baeumlers Einleitung zu Bachofen; das muss ich anerkennen, obwohl ich mich mit dem Autor entzweit habe.56
Bezüglich des gerade angeführten Zitats gehe ich zuallererst auf die Einleitung von Alfred Baeumler zu den Schriften von Bachofen ein.57 Hierin wird die Wiederentdeckung von Görres’ Werk als ein Ausdruck der »religiösen Romantik« der sogenannten »Heidelberger Schule« der »literarischen Romantik« der Schule Jenas (Friedrich Schlegel) entgegengestellt. Diese Wiederentdeckung wird durch die entscheidende Lehre Herders (Dichotomie Natur–Volk) als eine Auffassung gekenn53
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Vgl. Ernst Jünger, Autor und Autorschaft. Nachträge. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 19: Essays IX: Fassungen III, Stuttgart 1999, S. 267–420, hier S. 412. Vgl. Koslowski, Der Mythos der Moderne, S. 100–119; Peter Koslowski, Die Rückkehr des Titanen Mensch zur Erde und das Ende der »Geschichte«. Jüngers Essay »An der Zeitmauer« (1959). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/ Harro Segeberg, München 1995, S. 217–247; Jünger, Siebzig verweht II, S. 208–210 (3. 2. 1975) und S. 408 f. (10. 9. 1978); Jünger, Siebzig verweht V, S. 150 (18. 6. 1994). Vgl. Gnoli/Volpi, I prossimi titani, S. 110. Zit. nach Jünger, Siebzig verweht II, S. 534 (3. 11. 1979). Vgl. Johann Jacob Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Aus den Werken von J. J. Bachofen. Mit einer Einleitung von Alfred Baeumler, hg. von Manfred Schröter, München 1926, S. XXIII–CCXCIV. Hier vgl. im Besonderen S. XCIX–CIV, CXV–CXVIII, CLXVI–CLXXXV.
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zeichnet, die an den kosmischen Wert gebunden ist, an die Tradition von Symbol und Mythos und überdies als eine unausgewogene und irreführende Interpretation, die die nächtliche, weibliche und chthonische Seite des Seins in einer wesentlich irrationalen Perspektive privilegiert. Diese Auffassung basiert grundlegend auf einer synkretistischen Vorstellung, die sich progressiv, im Sinne eines Fortschreitens zu einem Ideal, das zeitlich in der Vergangenheit und geographisch an einem mythischmystischen Orient angesiedelt ist und als die primitive Kindheit der Menschheit betrachtet wird, versteht.58 In der angegebenen Passage zitiert der Autor teilweise den letzten Teil, das Kapitel 49, eines der bekanntesten Texte von Görres, Die teutschen Volksbücher (1807).59 In diesem Text wird nach dem Modell der Sammlung der Volkslieder Des Knaben Wunderhorn (1806–1808) von Achim von Arnim und Clemens Brentano das Verhältnis zwischen »Literatur« (Volksprosa in deutscher Sprache) und »Volk« in den Mittelpunkt gestellt. Der Begriff »Volk« verbreitet sich hier progressiv, bis er alle Klassen umschließt und sie auf eine eigentlich zweideutige Art und Weise mit der »Nation«60 identifiziert. Gerade zu diesem Punkt muss man bemerken, dass Görres’ Texte seit seinen Aphorismen über die Kunst (1802) den 58
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Vgl. Luca Renzi, Joseph Görres e i »Teutsche Volksbücher«. Sul concetto di Volk e di Volksbuch nel romanticismo di Heidelberg, Pasian di Prato 2000. – Hier siehe vor allem S. 17, 22 und 35 und Leonardo Lotito, Dal mito al mito. Analogia e differenza nel pensiero di Joseph Görres, Bologna 2011, S. 141–145 und S. 229–238. – Was die Haltung gegenüber Görres als Wortführer des deutschen antinapoleonischen, auf der Volksauffassung basierten Nationalismus des 19. Jahrhunderts und das seit Ende der 20er Jahre kontroverse und kritische Verhältnis zwischen Ernst Jünger und Alfred Baeumler in Bezug auf die Beziehung zwischen Mythos und Nihilismus anbelangt, siehe: Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. CIII, CXVI–CXVIII, CXIX–CXXI, CLXXIV–CLXXVII, CLXXX; Ulrich Fröschle/Thomas Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger. Mit einem Anhang der überlieferten Korrespondenz und weiterem Material, Dresden 2008; hier im Besonderen S. 39–52, 120 f., 213 und 233–238; den Brief Ernst Jüngers an Friedrich Georg Jünger vom 7. 5. 1942 (DLA, D: Friedrich Georg Jünger); Jünger, Siebzig verweht II, S. 41 f. (25. 5. 1971) und Siebzig verweht IV, S. 278 f. (14. 4. 1988); Andrea Benedetti, Rivoluzione conservatrice e fascino ambiguo della tecnica. Ernst Jünger nella Germania weimariana: 1920–1932 [Konservative Revolution und zweideutige Faszination der Technik. Ernst Jünger in der Weimarer Republik: 1920–1932], Bologna 2008, Fußnote 223, S. 250–252. – Schließlich möchte ich unterstreichen, dass Ernst Jünger um diese Zeit herum höchstwahrscheinlich folgendes Buch Görres’ liest: Joseph von Görres, Mystik, Magie und Dämonie. Die christliche Mystik in Auswahl, hg. von Joseph Bernhart, München 1927. Es beinhaltet eine Auswahl aus Görres’ Schrift Die Christliche Mystik, Bände I–IV, Regensburg 1836–1842 und befindet sich in Jüngers Wilflinger Bibliothek [ich danke Herrn Dr. Nicolai Riedel, wissenschaftlicher Mitarbeiter im DLA, für diese Auskunft]: vgl. Jünger, Siebzig verweht II, S. 578 (8. 2. 1980). Vgl. Joseph Görres, Die teutschen Volksbücher (1807). In: ders.: Gesammelte Schriften, Band 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803–1808), hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft von Wilhelm Schellberg/Adolf Dyroff/Leo Just [et al.], Köln 1926, Kapitel 49, S. 278. – Der ganze hier untersuchte Teil bezieht sich im Besonderen auf die Kapitel 48 und 49, bzw. auf die Seiten 271–293. Vgl. Renzi, Joseph Görres, S. 146 f., 151 und 162.
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entscheidenden Einfluss einer Geschichtsauffassung aufweisen, die Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) auf einem Perfektibilitätskonzept basiert hatte, d. h. auf der Vorstellung eines Fortschritts der Menschheit als Ergebnis ihres Strebens nach einem Perfektionsideal. Eine Auffassung, die Görres seinerseits in den Teutschen Volksbüchern im Sinne einer allem Anschein nach wortwörtlichen Strategie der Reharmonisierung der genannten dynamischen Begriffe »Volk« und »Nation« wiederaufnimmt und entwickelt, indem er sie innerhalb eines höheren teleologisch-geschichtsphilosophischen Modells integriert.61 Dank dieses Modells ist er somit imstande, seinen Mythos rund um die künftige Bildung der deutschen nationalen Kulturidentität zu gründen. Dieser Mythos entfaltet sich zuvörderst als Resultat der Integration des Einzelnen innerhalb einer soliden und geistig veredelten Gemeinschaft, die imstande sein könnte, die gegenwärtige Dekadenz und Aufspaltung der Gesellschaft als Merkmale einer auf dem Verstand und dem Individualismus basierenden Modernität zu überwinden.62 Die Erreichbarkeit dieses Ziels scheint schließlich durch die Rückwendung zum Mittelalter möglich, das als Einheitsmuster absichtlich gefeiert wird, und das als Vorbild zur Umgestaltung der veränderten gegenwärtigen Zustände dienen sollte.63 Der von uns hier in Betracht gezogene Schlussteil der Teutschen Volksbücher dreht sich, mittels der Analyse verschiedener Volksbücher mittelalterlicher Tradition und deren Zusammenhang mit der Romantik, um den mystischen Sinn des Wortes Gottes als »göttliche Hieroglyphe«. Im Besonderen gründet sich die mystische und mythische Vision Görres’ auf die Idee des Lebens als unerschütterlicher Prozess der Gestaltung. In diesem Zusammenhang wandern die Seelen, in einem parallelen Prozess der Metempsychose und Metamorphose der menschlichen Generationen, von Form zu Form in einer fortlaufenden Entwicklung. Dieser Prozess der fortlaufenden Metamorphose erlaubt somit die gleichzeitige Anwesenheit menschlicher Generationen innerhalb der Dimension einer Gegenwart, die, ähnlich der am Anfang dieses Beitrags analysierten, von Jünger zur Sprache gebrachten höchsten Fülle des Augenblicks, eine Art »potenzierte Gegenwart« zu sein scheint, die ihrerseits innerhalb einer höheren zyklischen Besonderheit der Geschichte aufgefasst wird. Zu diesem letzteren Punkt ist zu erläutern, dass streng genommen bei dem romantischen Autor die Vergangenheit zu einem lebenden Wesen wird; nur die Vergangenheit scheint sich also sozusagen in dieser Vision der »ewigen Wiederkehr« der und in der Geschichte zu »bewahren«. Aus diesem Grund geht für Görres, 61 62
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Vgl. Görres, Die teutschen Volksbücher, S. 265 und 276. Vgl. besonders Görres, Die teutschen Volksbücher, S. 175 f., 182, 194, 250, 254–257 und 289. Vgl. Görres, Die teutschen Volksbücher, S. 193, 278 f., 286, 290–292; Natalia Igl, Über die romantische Geschichtskonstruktion zu einer »Reharmonisierung« von ›Volk‹ und ›Nation‹. Joseph Görres »Teutsche Volksbücher« als Entwurf einer kulturellen Identität. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft, Bd. 20/21, hg. von Wolfgang Bunzel/Uwe Lemm, Berlin 2008–2009, S. 99–128.
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in einer zweideutigen Dialektik von »Fortschritt« und »Rückschritt« der Geschichte selbst, nichts verloren; alles ist eine Art Vermächtnis, das die Zeiten aneinander weitergeben.64 Es folgt daraus somit der Hauptsatz, der die mystische Vision Görres’ perfekt zusammenfasst, der einer ewigen Gegenwart, in der die Kategorie der Geschichte einer zugleich mythischen und religiösen Dimension der Uroffenbarung untergeordnet und ihr immanent ist. Eine mythische Dimension, die ihrerseits als eine kolossale Urpoesie65 aufzufassen ist, folglich auf einen immerwährenden symbolischen überweltlichen Verweis gründet, in einer »ontologischen Allegorie«:66 […] Darin [in der chthonischen Dimension der unterirdischen Natur] liegt der Grund der religiösen Gefühle, die das Alterthum in uns erweckt; auf dem Grabeshügel der Vergangenheit werden wir geboren; wie eine Feuerflamme ist das Leben durch die Erde durchgeschlagen, aber die Tiefe nur giebt der Flamme Nahrung, und unten wohnt in dunkler Höhle die Sybille, und hütet die Mumien, die zur Ruhe gegangen sind, und sendet die Andern hinauf, die auf ’s neue in des Lebens Kreise treten, und läutet die Todtenglocke, die dumpf aus der Tiefe den Geschlechtern ruft, die niedersteigen sollen in das nächtlich dunkle Reich.67
Abgesehen von dem bei Jünger nicht besonders beliebten christlichen Traditionalismus Görres’,68 geht es hier um eine mystische Einstellung, die derjenigen sehr ähnlich ist, die Jünger infolge seiner »religiösen« Wende vom Alten zum Neuen Testament im Verlauf des Zweiten Weltkriegs vollzieht.69 Wieso überhaupt Nietzsche und Görres, Hölderlin und Novalis? Görres’ Zeitschrift, der ›Rheinische Merkur‹, markierte einst den Beginn der modernen politischen 64
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Vgl. Görres, Die teutschen Volksbücher, S. 277: »Alles […] ist ein Vermächtnis, das die Zeiten einander überliefern.« Man hat es hier also mit dem natureigenen, erdeigenen zyklischen Verlauf zu tun, der die Zeichen des Lebens und der Geschichte und ein Gedächtnis der Vergangenheit in sich trägt. Es ist ein zyklischer Ablauf, von dem die göttliche und unsterbliche Innerlichkeit des menschlichen Wesens eine dunkle Ahnung hat, auf halbem Weg zwischen Glauben und Wissen: vgl. Görres, Die teutschen Volksbücher, S. 278: »es ist unsere eigene dunkele, verschleierte Vergangenheit, die uns begrüßt; die Aurora des jungen Tages sieht die Abendröthe des Vergangenen noch am westlichen Himmel stehen. Das ist der wundersame Zauber.« Vgl. Renzi, Joseph Görres, S. 154 f. Übers. nach Lotito, Dal mito al mito, S. 115. Vgl. hier im Besonderen auch: S. 108–129 und 186–196. Zit. nach Görres, Die teutschen Volksbücher, S. 278. Vgl. Jünger, Siebzig verweht V, S. 132 (28. 6. 1993). Vgl. den Brief Ernst Jüngers an den Journalisten Edgar Traugott (1912–1998) vom 21. 9. 1942. In: Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten, hg. von Heimo Schwilk, Stuttgart 1988, S. 187 und folgende Tagebuchnotizen: Ernst Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 3: Tagebücher III: Strahlungen II, Stuttgart 1979, S. 9–294, hier S. 146 (9. 9. 1943) und S. 271 f. (28. 5. 1944).
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Presse in Deutschland. Sie galt seinerzeit als das schärfste Kampfblatt gegen Napoleon und wurde von diesem auch als die »fünfte Großmacht« bezeichnet, die gegen ihn angetreten sei.70 Nach dem Ende der Napoleonischen Herrschaft wandte sich Görres’ politische Publizistik gegen den Wiener Kongress, die süddeutschen Rheinbundstaaten und das russische Bündnis. Sie plädierte für ein Volkstum, ließ sich aber für das Völkische nicht vereinnahmen. Dies demonstrierte auch die nach Görres benannte Gesellschaft, als sie in der Weimarer Republik die fünfte Auflage ihres Staatslexikons herausbrachte. Dort hatte Franz Schweyer, der frühere bayerische Innenminister (Amtszeit von 1921–1924), von einer Unterredung mit Hitler berichtet, der zufolge dieser geschworen habe, dass er »nie in seinem Leben einen Putsch« wagen werde; im gleichen Atemzuge sprach Schweyer von Hitlers »Größenwahn«, und so drohten die Nationalsozialisten nach ihrem Machtantritt im Sommer 1933, das Lexikon zu verbieten und die Görres-Gesellschaft aufzulösen.71 Volksbuch und Volkssage standen bei Görres in engem Zusammenhang, ohne dass er seinen Germanenkult völkisch strapaziert hätte. Wie die großen Orientalisten seiner Zeit glaubte auch er, dass die ›Kulturgeschichte der Menschheit‹ vom Osten her zu denken sei und dass die europäischen Erscheinungsformen von Religion und Mythologie, Sprache und Kultur im Orient vorgebildet seien. Görres’ Ziel war es daher, »die ersten Blätter in dem großen Buch der Weltgeschichte« zu deuten und »die steinernen Tafeln«, von »Gottes Finger selbst beschrieben«, zu entziffern.72 Die Volksliteratur erschien ihm dabei als ›kleine Schwester‹ der großen Mythen, als populäre Variante der ›ältesten Urkunde des Menschengeschlechts‹, als abendländische Metamorphose östlich-mystischer Offenbarung. Bei Görres wurde »Asien – neben dem europäischen Mittelalter – zum zweiten Bezugspunkt für die Suche nach der Urheimat des Menschen und seiner Mythen.«73 In diesem Zusammenhang knüpfte er an die Sprachtheorie von Novalis an; hier dienten ihm Hölderlins Hymnen als Bildspender, damit wirkte er auf Bachofen, Nietzsche und – temperierend – auch auf Jünger ein. Gegenüber der zerstörerischen Barbarei des Zweiten Weltkriegs, in dem die Funktionalisierung des Menschen durch den gigantischen Kriegsapparat nur mehr den stoischen Rückzug in die 70
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Vgl. Hans Maier, Görres, (Johann) Joseph von. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), hg. von Rudolf Vierhaus, 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Bd. 4: Görres – Hittorp, München 2006, S. 1 f. Franz Schweyer, (Artikel) Nationalsozialismus. In: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft. 5. Auflage, Bd. 3. Freiburg i. Br. 1929, Sp. 1503. – Vgl. Rudolf Morsey, Die GörresGesellschaft in der NS-Diktatur, Paderborn 2002, S. 63 ff. Vgl. Theodore Ziolkowski, Historisierung der Wissenschaften im Heidelberger Kreis. In: 200 Jahre Heidelberger Romantik, hg. von Friedrich Strack, Heidelberg 2008, S. 471–486, hier S. 479 f. Vgl. Jochen Schmidt, Mythengeschichte der Asiatischen Welt. In: Kindlers Neues Literaturlexikon, hg. von Walter Jens. Bd. 6: GA–GR, München 1989, S. 421 f.
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Innerlichkeit ermöglichte,74 konnte dieser behaupten: »Das göttliche Leben ist ewige Gegenwart.«75 Ein Rückzug zur Suche nach der Offenbarung des Seins, der vom Eröffnungsmotto dieses Beitrags beispielhaft zusammengefasst wird. Es stellt sich in der Tat enigmatisch – es sei dahingestellt, ob beabsichtigt oder nicht – als eine distanzierte Betrachtung des gesamten Jünger’schen Lebens dar. Eine Betrachtung, die den Leser wiederum zur weiteren Vertiefung und Beurteilung der unentwirrbaren Aporien von Jüngers Werk führen sollte. Eine Schlussfolgerung, die besonders im Hinblick auf den Hang zur Selbststilisierung und anhand des in diesem Zusammenhang wohl bekannten und umstrittenen Schlussepigramms aus Blätter und Steine (1934) ihre Gültigkeit behält: »Wer sich selbst kommentiert, geht unter sein Niveau«.76 Also immer.
Literatur Primärliteratur Bachofen, Johann Jacob: Der Mythus von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Aus den Werken von J. J. Bachofen. Mit einer Einleitung von Alfred Baeumler, hg. von Manfred Schröter, München 1926, S. XXIII–CCXCIV. Creuzer, Georg Friedrich: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Leipzig/Darmstadt 1812. Görres, Joseph von: Die teutschen Volksbücher (1807). In: ders.: Gesammelte Schriften, Band 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803–1808), hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft von Wilhelm Schellberg/Adolf Dyroff/Leo Just [et al.], Köln 1926. Görres, Joseph von: Mystik, Magie und Dämonie. Die christliche Mystik in Auswahl, hg. von Joseph Bernhart, München 1927. Hölderlin, Friedrich: Brot und Wein (zirka 1800/1801). In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt/M. 1992, S. 285–291. Hölderlin, Friedrich: »Andenken« (zirka 1803). In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, S. 360–362. 74
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Vgl. im Besonderen folgende Tagebuchnotizen: Jünger, Gärten und Straßen, S. 147 (27. 5. 1940), S. 156 f. (6. 6. 1940) und S. 193 (25. 6. 1940); Jünger, Das erste Pariser Tagebuch, S. 238 (1. 5. 1941) und S. 364 (13. 8. 1942); Ernst Jünger, Kaukasische Aufzeichnungen. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II: Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 407–492, hier S. 469 f. (31. 12. 1942); Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch, S. 49 (21. 4. 1943), S. 86 (25. 6. 1943), S. 120 f. (11. 8. 1943), S. 175 f. (16. 10. 1943), S. 253 f. (22. 4. 1944) und S. 265 f. (17. 5. 1944); Jünger, Kirchhorster Blätter, S. 364 f. (26. 1. 1945). Darüber hinaus siehe die unveröffentlichten Briefe Ernst Jüngers an Friedrich Georg Jünger vom 2. 2. 1940, 22. 7. 1940, 11. 9. 1941 und 21. 7. 1943 (DLA, D: Friedrich Georg Jünger). Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch, S. 62. Zit. nach Ernst Jünger, Epigrammatischer Anhang (Nr. 100). In: ders.: Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 215–226; hier S. 226. Siehe dazu Lutz Hagestedt, Wer sich selbst kommentiert. Vorwort des Herausgebers. In: Ernst Jünger: Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. VII–XII.
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Jünger, Ernst: Die Schicksalszeit. In: Arminius, 8, H. 1 (02. 01. 1927), S. 5–7; später in: ders.: Politische Publizistik 1919–1933, hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 275–280. Jünger, Ernst: Epigrammatischer Anhang. In: ders.: Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 215–226. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Stuttgart 1978–2004. Jünger, Ernst/Nebel: Gerhard, Briefe 1938–1974, hg. von Ulrich Fröschle/Michael Neumann, Stuttgart 2003. Jünger, Friedrich Georg: Die Perfektion der Technik, Frankfurt/M. 11946. Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Band 3, hg. von Klaus Müller-Salget, Frankfurt/M. 1990, S. 555–563. Novalis: Gedichte [Hymnen an die Nacht (1800)]. Die Lehrlinge zu Sais (1798), hg. von Johannes Mahr, Stuttgart 1984. Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802), hg. von Wolfgang Frühwald, Stuttgart 2004. Otto, Walter Friedrich: Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt/M. 1933. Briefwechsel Ernst Jünger – Wolfgang Cordan (DLA, A: Ernst Jünger). Briefwechsel Ernst Jünger – Mircea Eliade (DLA, A: Ernst Jünger). Briefwechsel Ernst Jünger – Ernst Wilhelm Eschmann (DLA, A: Ernst Jünger). Briefwechsel Ernst Jünger – Hugo Fischer (DLA, A: Ernst Jünger). Briefwechsel Ernst Jünger – Friedrich Georg Jünger (DLA: D: Friedrich Georg Jünger). Briefwechsel Ernst Jünger – Philipp Wolff-Windegg (DLA, A: Ernst Jünger).
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Sibylle Benninghoff-Lühl
Ich ist kein Anderer Allegorien einer Natur des Namens in Ernst Jüngers Strahlungen1 Raute, Ginkgo, Herbstzeitlose, die Malve, der Klee, die Orchidee, die Rose, die Lilie, Narzissen und immer wieder Tränende Herzen: »Kein Werk eines deutschsprachigen Schriftstellers zeugt von einer derart umfassenden Beschäftigung mit der Natur wie das Ernst Jüngers«,2 so der Zoologe Dieter Zissler. Es könne nicht nur von einem schriftstellerischen, sondern auch von einem naturwissenschaftlichen Lebenswerk gesprochen werden.
Der Überblick über die Manuskripte im Nachlass von Ernst Jünger bestätigt diese Einschätzung, irritiert sie aber auch, insofern er Fragen über die Eigenart, die Ästhetik des Einklebens von Blüten und Blättern aufwirft. Diese wirkt eher wie eine 1
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Mein Aufsatz steht in Zusammenhang mit dem Buchprojekt »Die ganze Welt ein Garten? Flora und Fauna im schriftlichen Nachlass von Ernst Jünger«, das durch das ErnstJünger-Stipendium des Landes Baden-Württemberg gefördert wurde. Für Unterstützung danke ich vor allem dem DLA Marbach. Dieter Zissler, In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen. Über Natur und Naturwissenschaft im Werk Ernst Jüngers. In: Text+Kritik, 1990, H. 105/106 Ernst Jünger, S. 125–140, hier S. 125.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-003
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Blütenlese, verstreut und unsystematisch, wie auf Spaziergängen angelegt.3 Jünger herbarisierte vor allem auch unterwegs, u. a. als Offizier während des Zweiten Weltkriegs sowie nach 1945 auf seinen zahlreichen Reisen durch die Welt.4
Pflanzenschrift Der Schriftsteller und Entomologe schlug einen sehr außergewöhnlichen Weg der Sammlung, Beschreibung und Ausstellung von Flora und Fauna ein, indem er Blüten, Wurzeln, Federn und Falter in seine hand- und maschinenschriftlichen Manuskripte klebte. Steffen Martus zu diesem merkwürdigen, wie willkürlich wuchernd anmutenden Blätterwerk: die späten Werke wie die Strahlungen entstehen aus einem Konvolut von Blättern, Notizzetteln und Textsorten jeglicher Art (Hotelrechnungen, Werbebroschüren, Zeitungsausschnitte, Buchseiten, Besprechungen etc.), und selbst wenn der Stoff in gleichmäßig fortlaufenden Zeilen gebändigt ist, durchbricht Jünger nicht nur die Linearität des Textflusses sondern auch die Zweidimensionalität des Blatts durch scheinbar willkürlich mit Klebestreifen eingefügte Naturobjekte, durch gepresste Blüten und Blätter, Vogelfedern oder Insekten – im Manuskript der Schere schmückt er jedes Blatt auf diese Weise.5
Selbst gesammelte oder auch brieflich zugesandte Präparate organisierte er um seine Texte herum, überklebte und beschrieb diese. Er schrieb teilweise auf das Klebemittel, Tesafilm, so dass für den Leser nachträglich schwer zu entscheiden ist, ob er zuerst klebte oder zuerst schrieb. Jünger schuf mit diesem System von Schneiden, Einkleben und Beschriften – oft ohne Angabe von Datum und Fundort – ein eigenartiges Buch der Natur, eine Art Kreuzung zwischen »Verbarium und Herbarium«,6 einen literarischbotanischen Bestand, der immer wieder die Frage nach dem »Ich« aufwirft, das schreibt und dabei im doppelten Sinne des Wortes »liest«: Pflanzen und eben auch Buchstaben. Mir scheint indessen, daß mir das Alphabet nicht mehr genügt. Ich bedarf einer Schrift, die der ägyptischen oder auch der chinesischen mit ihren hunderttausend Ideogrammen gleicht; daher adoptiere ich diese, in der ich ganze Bienenkörbe der Gelehrsamkeit zweier Jahrhunderte beschmause, die mir zum Genusse gefüllt worden sind.7 3
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Der schriftliche Nachlass ist im »Literaturmuseum der Moderne« (Marbach) 2010/2011 erstmals gezeigt worden. Vgl. dazu den Katalog: Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund. Zur Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, 7. November 2010 bis 27. März 2011, hg. von Heike Gfrereis, Marbach a. N. 2011 (Marbacher Kataloge 64). Vgl. zu einer ersten Darstellung: Drei Mal Rhodos. Die Reisen 1938, 1964 und 1981, hg. von Lutz Hagestedt/Luise Michaelsen, Marbach 2010 (Aus dem Archiv 2). Steffen Martus, Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 333), S. 237 f. Vgl. dazu Claudette Sartiliot, Herbarium und Verbarium. In: Journal of European Studies, 24, 1994, S. 166–168. Ernst Jünger, Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 192. – Im Weiteren: Stra.
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Welcher Art war diese Schrift, nach der »Ich« sucht, und welcher Art die »Natur«, die es durchwandert? War diese »Schrift« tatsächlich in der Natur vorgegeben, wie Lothar Bluhm sagt?8 Sind es nicht eher »Naturen« bzw. Allegorien von »Natur«? Und wer wäre dann »Ich«? Wäre es nicht auch seinerseits Teil dieser Allegorie einer »Natur«, die es beschreibt?9 Ernst Jünger verwendete bevorzugt bestimmte Lieblingsblumen, um sein »Ich« zu beschreiben, vor allem das Tränende bzw. Blutende Herz. In Anlehnung an den Satz Arthur Rimbauds, dass Ich ein Anderer sei, mündet der Zugang des Autors zur sogenannten Natur weniger in naturwissenschaftlichen als in ornamentalen und ästhetizistischen Zügen. »Ich« ist in diesem Kontext kein Anderer, sondern immer nur wieder »Ich«.
EJ, das Tränende Herz und »Ich« Die Abkürzung seines Namens, Ernst Jüngers, als EJ, wie sie den roten, stoffbezogenen Einband der Gesammelten Werke prägt, ist insbesondere in der Zeit der Autorschaft von Strahlungen (1939–1948) entwickelt worden. Die Signatur ähnelt der Form der gepressten Pflanze Dicentra Spectabilis (vgl. Abb. 1, »Herbar«). Diese Pflanze taucht nach 1945 auch in dem noch unveröffentlichten Herbarium sowie in den Notizbüchern immer wieder auf. Die Pflanze und die Form, nach der sie benannt ist, »Tränendes Herz« ist ihrerseits Teil einer allegorischen Lese und trägt, u. a., den botanischen Namen Lamprocapnos spectabilis. Capnos, das Herz, lampros, »strahlend« bzw. »leuchtend«. In Jüngers Manuskripten wird die Pflanze als Tränenherz, Fliegendes Herz, Tränendes Herz, Blutendes Herz, Brennendes Herz bezeichnet. Ihre Namen geistern durch verschiedene Stellen des Werks, als Symbol oder Bild, als Assoziation, Allusion, Analogie, aber auch als gepresste und eingeklebte Realie. Sie hält dazu an, den Mythos, aber auch die Form »Herz« zu reflektieren, etwa in Gestalt des Gläsernen oder Versteinerten Herzens, des Herzens aus Eis, aber auch das Herz des Verliebten, des Hingerichteten oder des leidenden Märtyrers. Dieses Geistern macht es problematisch, das »Herz« wie ein Wortfeld zu isolieren, insofern es auf Bereiche ausstrahlt, welche ihrerseits my8
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Bluhm vermutet: »Der Sinn der ›subtilen Jagden‹ nach Käfern und anderen Insekten, aber auch der literarischen Fixierung dieser Passion besteht in der Suche nach einer ›Schrift‹, die in der Natur vorgegeben ist; keiner Buchstaben- und Silbenschrift, sondern [...] – daher der Rekurs auf die ägyptischen und chinesischen Schriftzeichen – einer Bilderschrift.« Lothar Bluhm, Natur in Ernst Jüngers Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg. In: Wirkendes Wort, 37, 1987, H. 1, S. 24–32, hier S. 26. Nahe liegt es, einem Begriff der Allegorie zu folgen, wie ihn Walter Benjamin in seiner Untersuchung zum »Ursprung des deutschen Trauerspiels« entwickelt hatte. Das Allegorische, so heißt es dort, bedeute etwas anderes als es ist. »Und zwar bedeutet es genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt.« Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.1, zweite Aufl., Frankfurt/M. 1978, S. 203–430, hier S. 208.
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thischen Charakter tragen. So weist z. B. die Verbindung zwischen Herz und Schrift auf die »Herzensschrift«, die Einschreibung des göttlichen Gesetzes in die Herzen der Ungläubigen, wie sie der Jünger Paulus in einem Brief an die Korinther forderte.10 Diese Herzensschrift deckt das Wortfeld Herz ab, zieht aber gleichzeitig ein Echo nach sich, wie in der Geheimsprache der Liebenden in Goethes Blumen- und Zeichenwechsel: »Amarante – ich sah und brannte. […] Narzissen – du mußt es wissen.«11 An den herbarisierten und mit EJ signierten Blüten bzw. herzförmigen Blättern wird die Rhetorik einer möglichen »Pflanzenschrift« ausprobiert, die »Ich« bestimmt und sich dabei seinerseits unter verschiedensten Namen wie eine Pflanze erscheinen lässt. Eine Art Urpflanze, welche wie die Idee einer Pflanze im Wandel der Zeit naturhaft wächst, blüht, zum Blühen gebracht oder verpflanzt wird, stirbt, wiederaufersteht und wieder gelesen wird? Als Teil einer Suche nach dem »Urgrund der Sprache«?12 Hier dazu nur einige wenige Ausschnitte aus den Strahlungen: Kirchhorst, 26. Mai 1939 […] Auf dem Friedhof, der in voller Blüte war. Immer erfreut mich auch das Bild von Kindern, die dort spielen, während die Mütter an den Gräbern tätig sind. Auf einem der Hügel eine Staude von Tränenherzen, die sich sehr gut als Gräberpflanzen eignen, in reichem Flor. Die roten Tropfenblüten schaukelten wie Medaillons im zarten Wind. Ich dachte über meinen eigenen Grabstein nach, auf dem ich nur den Namen und die beiden Daten wünsche, und das Sinnen darüber war mir angenehm. (Stra, 51)13
Im Anmarsch auf Paris heißt es in Gärten und Straßen: Friedrichstal, 28. April 1940 […] Auf meinem Tische blüht in einer Vase ein Fliegendes Herz – auch eines meiner Teststücke. Ich messe die Freude, die ich an ihm empfinde, und es scheint mir, daß sie noch niemals größer war. Wie unzulänglich wird doch vor einem solchen Blütenzweige unser gesamtes System. (Stra, 131 f.) Gercy, 4. Juni 1940 […] Die Blumen in den Gärten – eine blaßviolette Iris mit den gelben Staubbürsten auf dem Kelchblatt, die einen erotischen Eindruck hervorrufen. Der Genuß der Bienen und Hummeln, die sie befliegen, muß außerordentlich sein. […] Dann die letzten Fliegenden Herzen und Pfingstrosen, auch Phlox, der in der Dämmerung betäubend roch. (Stra, 154) 10
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Manfred Schneider, Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München/Wien 1986, S. 9. Johann Wolfgang von Goethe, West-Östlicher Divan, Teil I, hg. von Hendrik Birus, Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker), S. 210 f. Barbara Hahn, »Von nun an wird die Welt aus Scherben zusammengesetzt«. Ernst Jüngers Tagebücher »Siebzig verweht«. In: Literaturmagazin, 35, 1995, S. 148–161, hier S. 158. Hervorhebungen in den Zitaten: Sibylle Benninghoff-Lühl (SBL).
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Um »Medaillons« und »Testfiguren« – auch um »Ich«, um sein Herz, »sich selbst«, geht es in der Folge. Jünger probiert sich aus, auch im physischen Sinne seines »vegetativen« Systems, seines Blutkreislaufs und der Belastbarkeit seines Herzens. Sich selbst beobachtet »Ich« zum Beispiel bei der Eroberung von Frauenherzen in Paris, den Herzen von Geliebten, von »Mama« und »Perpetua« – der Gattin–, wobei diese Verbindungen stets wie abgeschnitten erscheinen, jedenfalls nicht weiter vertieft werden. Ebenso bei der Eroberung des Herzens der politischen Macht in seiner Zeit als Besatzungsoffizier im Unternehmen »Seelöwe«.14 Bei den wechselnden Frauenbekanntschaften geht es stets um ein Dahinschmelzen, um ein Aufschmelzen der Verhärtungen: Eis. Vincennes, 1. Mai 1941 […] Gegessen, dann im Lichtspiel; ich berührte dort ihre Brust. Ein heißer Eisberg, ein Hügel im Frühling, in den Myriaden von Lebenskeimen, etwa von heißen Anemonen, eingebettet sind. […] Wir trennten uns an der Oper, wohl auf Nimmerwiedersehen. (Stra, 238)
Zwei Tage später: Vincennes, 3. Mai 1941 Place des Ternes, in der Sonne vor der »Brasserie Lorraine«. Das sind Augenblicke, in denen ich Luft hole wie ein Ertrinkender. Mir gegenüber ein Mädchen in Rot und Blau, das vollkommene Schönheit mit einem hohen Maß von Kälte vereinigte. Eine Eisblume: wer sie auftaut, zerstört die Form. (Stra, 238)
Stets geht es um Faszination, aber auch um die Tragik, dass etwas zu etwas anderem wird. Darum, dass Festes seine Form verliert und auftaut, sich in Flüssiges verwandelt. Sonnenstrahlen und Lichtreflexe: »Ich« taut im Zustand der Verhärtung vorübergehend auf, ebenso wie die Herzen, die es erobert. Zugleich beobachtet »Ich«, was diese Ästhetik des Schmelzens, diese biologischen Metamorphosen bei ihm, im Innersten seines Ichs anrichten. Dabei scheint »Ich« erst überhaupt darüber zum Leben zu finden, dass das Herz des Gegenübers zerstört, gebrochen, geschmolzen, durchbohrt, durchschossen oder durch Hitze, Licht und Blei zu Brei verwandelt wird. »Ich« wirkt wie ein Katalysator für »Leben«. Die Innenschau zeigt ihm, dass Menschen wie Pflanzen von diesem Prozess der allegorischen Übertragung gleichermaßen betroffen sind. Schließlich spiegelt dieses Dichter-Ich sich als Leser von Blüten und Blättern mit seinem Namen als Finder, Präparator, Klebender und Beschriftender. »Ich« trifft sich in »Strahlungen« quasi – 14
Siehe zu diesen Fragen vor allem den Band Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten. Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, hg. u. kommentiert von Heimo Schwilk, Stuttgart 2010.
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mit »sich«, dem Dichter seines eigenen Lesens.15 Die Bildsprache des »Ichs« verleibt sich dabei das Alphabet der Natur ein, und wird selbst, als EJ oder, da er beim Signieren mit J beginnt, als Je, französisch für »Ich«, Natur. Diese Natur ist ihm ein »Teststück«: Die Figur der Träne und des Herzens, zusammengeschmolzen zum Tränenden Herzen, beschäftigt Jünger unter verschiedensten Namen im Kontext einer noch zu entwickelnden, Zeit und Raum, aber auch Existenzen übergreifenden Bilderschrift auf der Grundlage realer machtpolitischer Erfahrungen weiter: Die Rhetorik dieser Bildsprache Pflanzen probiert er an Pflanzen wie an Menschen aus. Auffällig ist, dass er dabei einen Rückwärtsgang zu einer, allen Wesen gemeinsamen, »Ursprache« einschlagen möchte, einem Urgrund oder Ursprung der Sprache.16 Zerschmilzt hier alles unter den Strahlen derjenigen Macht, die Lebendigkeit herstellt, indem sie wie die Pflanzen Stickstoff in Sauerstoff verwandelt? Als Effekte einer göttlichen Photosynthese? Place de l’ Étoile, die Hotelanlagen des Majestic und des Raphael: »Ich« schöpft eine Art Rhetorik von Feuer, Schwert, aber auch Orakel, welche die Figur des durchbohrten, strahlenden Herzens mit Bezug auf die politische Situation in Paris als Gleichnis auf den Leviathan wendet: In diesem Kontext werden auch Redewendungen zur Figur des Herzens bis zur Trivialität eines reinen Herzens heruntergebrochen. Im Kontext der Geiselerschießungen in Paris klingt diese Rede geradezu zynisch. Paris, 13. November 1941 […] Am Abend im » George V«. Ich brachte Oberst Speidel die Maximen von René Quinton mit. Als er mich um eine Einzeichnung bat, wählte ich das Wort »La récompense des hommes, c’est d’estimer leurs chefs«. Unter seiner Ägide bildeten wir hier im Innern der Militärmaschine eine Art von Farbzelle, von geistiger Ritterschaft, die im Bauche des Leviathans tagt und noch den Blick, das Herz zu wahren sucht für die Schwachen und Schutzlosen. (Stra, 271 f.)
Die Redewendung des am Herzen Liegens wird im Kontext der Geiselerschießungen auf die »genaue Schilderung« bezogen: 15
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Zur Verwandlung der folgenden Hinrichtungsszene vom Notizbuch über verschiedenste Fassungen, in denen das »Ich« Ernst Jüngers sich zunehmend distanziert, vgl. Felix Johann Enzian, Vom unfreiwilligen Vollstrecker zum distanzierten Beobachter. Wie Ernst Jünger seine Rolle bei einer Hinrichtung inszeniert hat. In: Ernst Jünger in Paris. Ernst Jünger, Sophie Ravoux, die Burgunderszene und eine Hinrichtung, hg. von Tobias Wimbauer/Hagen-Berchum 2011 (Bibliotope 6), S. 97–124. Vgl. Ernst Jünger, Siebzig verweht II. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5: Strahlungen IV, S. 483. Sowie ders., Der Arbeiter. An der Zeitmauer. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8: Essays II, S. 18, 40, 495. Sowie ders., Sizilischer Brief an den Mann im Mond. Das abenteuerliche Herz. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 9: Essays III, S.17, 19, 134 und passim.
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Paris, 23. Februar 1942 Nachmittags im Palais Talleyrand zum Tee beim scheidenden Oberbefehlshaber, dem General Otto von Stülpnagel. Merkwürdig ist an ihm die Mischung von Zartheit, Grazie, Souplesse, an einen Vortänzer bei Hof erinnernd, mit Zügen, die hölzern und melancholisch sind. Er gebraucht Wendungen von spanischer Höflichkeit, trägt hohe Lackstiefel und goldene Knöpfe an der Uniform. Er hatte mich wegen der Geiselfrage rufen lassen, deren genaue Schilderung […] ihm am Herzen liegt. Sie ist ja auch der Anlaß, aus dem er jetzt geht. (Stra, 308)
Die Figur des Tränenden Herzens – Pflanze und zugleich Zustandsschilderung des Gemüts, Selbstauskunft über die Selbstbefindlichkeit, Zeugenschaft über das eigene Lesen und eine Belesenheit – strahlt weit über die unmittelbaren politischen Verhältnisse in Raum und Zeit hinaus: Paris, 6. Juni 1942 Über die Marionetten und Automaten – dem Abstieg zu ihnen geht ein Verlust voraus. Sehr schön ist diese Verhärtung im Märchen vom Gläsernen Herzen dargestellt. (Stra, 335)
Jünger sammelt und streut »Ideogramme« dieses privaten Codes, zu dem das rotweiße Herz zählt, aus dem angeblich eine Träne fließt – in Briefen, Notizbüchern und Tagebüchern. »Jungfrau im Bade«, »Coeur de Marie«, »Coeur de Jeanette« sind weitere Namen des Tränenden Herzens, Umschriften der Name einer Pflanze, an der EJ sich ausprobiert. »Ich«, für das es keine Unklarheiten geben darf, prüft wie ein Wissenschaftler, der seine Experimente arrangiert und auswertet, anschließend die Ergebnisse signiert und den Leser mit Resultaten, weniger mit daraus folgenden Fragen konfrontiert: Was passiert mit Herzen, die man wie Präparate sammelt, isoliert, abschießt, trifft, bricht, schmilzt, zerschießt, zu Brei verwandelt und anschließend konsumiert? Was passiert mit dem eigenen Herzen dabei? EJ stellt sich als mythologische Figur dar, als Narziss, der sich in sein Spiegelbild in der Wasseroberfläche verliebt, sich an sich selbst verliert, stirbt und als Blume – eben Narzisse – wiedergeboren wird. Die Narzisse, auch »Osterglocke«, ist eine weitere Testfigur der Pflanzensprache des Autors, aus den biomorphen Formen Stern und Kelch zusammengesetzt.
Signatur EJ Ernst Jünger arbeitet zeit seines Lebens an der Darstellung seines Ichs, welches eine ungebremste Leidenschaft zur Umschrift zeigt. Allegorie, auch diejenige des Tränenden Herzens, bedeutet im Verständnis dieses Ichs weniger Verstörung oder Zerstreuung, eher Abbildung, also ein Verkleben eines signifizierenden Ichs mit demjenigen, was es bezeichnet.
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Entsprechend betrieb Ernst Jünger sein eigenes Lesen im Sinne der Signatur der persönlichen Lese von Stellen in Nachschlagewerken, indem er es nicht nur signierte, sondern auch datierte.17 Diese Signatur verdichtet sich zunehmend zum Ausdruck des durchschossenen Herzens, das von einem »O«, einem »Auge«, teilweise in Gestalt einer Raute umschlossen wird. In die Figur der Unterschrift EJ gehen aus dem privaten Verbarium Buchstaben, Zahlen, Blütenblätter, Körperteile, kleine Tiere, Tränen, Tropfen, Steine, Muscheln, Sterne oder auch Sternzeichen, Zahlen ein. Die arabische Drei – spiegelverkehrt – ähnelt dem handschriftlichen großgeschriebenen E, das auch wie eine halbe Acht angesehen werden kann. Mit einer weiteren Viertel-Drehung um die eigene Achse würde diese die Gestalt des astrologischen Zeichens für Widder annehmen, das Sternzeichen des Autors. Die Buchstaben E und J, ästhetisch abgekürzt als durchschossenes Herz, verdrehen das französische ICH, »Je«. Zudem stellen sie die ersten beiden Buchstaben des göttlichen Namens Jehova dar. Die Signatur produziert und multipliziert dieses ICH, jedoch eher wie die Aufgabe des Rätsels an den Leser. Diesem wird »Ich« über die typographische und handschriftliche sowie über die Dechiffrierung von Realien ans Herz gelegt. Der Name ist also nicht nur Medium, insofern er den Namen des Autors reproduziert, um ihn auszuweisen und seine Autorität zu besiegeln. Er bringt vielmehr einen eigenen Text hervor, den er in seinem Namen beherrscht. »Ich«, in der besonderen ästhetischen Ausprägung der Buchstaben als Gestalt, die an ein Herz erinnert – ein Tränendes Herz –, ist in dieser Beziehung weniger »ein Anderer« (Rimbaud), als wiederum permanent, tautologisch und penetrant »Ich«. Die Buchstabenfolge »Stern« wiederum spricht in Hinblick auf die Zentralen der Macht in Paris und Weimar, auf die Jünger referiert: »Place de l’Étoile« sowie Goethes Garten »Am Stern«. Assoziieren lässt sich weiterhin der Name des Lieblingsautors, Lawrence Sterne, sowie der eigene Vorname, den auch der Sohn trägt, Ernst. Stern sei das Anagramm für Ernst, so Jünger. Ernst wiederum bezeichnet auch eine Qualität, die im Englischen mit earnest, wahr, auch aufrichtig, wiedergegeben wird. Das Wort, der Name, zitieren ein berühmtes Sprachspiel aus Oscar Wildes The Importance of being Earnest (1895). Diese Lese trägt naturhaft-allegorische Züge. Sie funktioniert – scheinbar ohne Ende – gerade darüber, dass sie an einer Stelle nicht mehr aufgeht, dort, wo die Analogie aussetzt, nämlich gerade dort, wo Unlesbarkeit einsetzt. Diese Unlesbarkeit ignorierte Jünger in Bezug auf die angebliche Natur seines Namens, indem er stets weitere Möglichkeiten eines anderen Lesens verfolgte und neue Namen für sie erfand. Jünger sah sich als »Stern« bzw. Blume, sich selbstverliebt um sich selbst drehend. Immer wieder verwendete er die Buchstabenfolge »Ich« und »Stern«, JE, wie 17
Jünger signierte und datierte seine wiederholten Lektüren, z. B. in seiner Ausgabe von Meyers Konversationslexikon.
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tropisch, wendend, mit einer eleganten Drehbewegung der Hand, welche wie in einem Kartenspiel der Schrift die Signatur als Herzblatt ausspielt. »Tropen«, Wendekreise, sind ihrerseits sowohl eine Chiffre geographischer als auch rhetorischer Orte, eine Totalität ausprobierend, die sich einem Urgrund der Sprache nähert. »Das Herz der Finsternis« zu zitieren, ist solch ein Versuch, die Geschichte eines »Ich« auf dessen Schiffspassage in die innersten Tropen dermaßen geschickt verschachtelt wiederzugeben, dass sie dem Leser wie von einem ganz ursprünglichen »Ich« auf dessen Reise zu den geographischen und rhetorischen Ursprüngen – wie identisch und authentisch – nacherzählt vorkommt. Geschickt inszeniert der Autor sein »Ich«. Signieren heißt in Jüngers Kontext nicht allein mit Namen unterschreiben, vielmehr auch im gleichen Zuge sich, nämlich »Ich«, wie einen natürlich gewachsenen Ausdruck zeitlich und quasi natürlich, wie eine Pflanze, vorkommen zu lassen. Ich probiert sich aus, liest sich im Schreiben einer anagrammatisch, aber auch ideogrammatisch verschobenen Folge von Buchstaben und Bildern, drückt seine ›Natur‹ quasi literarisch-botanisch im Naturselbstdruck aus. Sein Name, verdichtet zum Signet, ist Teil eines pflanzlichen Geburtsvorgangs, in welchem auch das Verhältnis von Materialität zur Immaterialität, von Stoff zu Nicht-Stoff, eine Rolle spielt. Von Photosynthese zu sprechen liegt nahe, denn den eigenen Namen im Licht überhaupt erst lesbar zu machen, ihn zu drehen und zu wenden, dem pflanzlichen, windenden, Wachstum anzuähneln, wäre auch ein Vorgang der Verwandlung verschiedenster Strahlungen des Lichts in Sauerstoff. Konsequent spricht der Autor in Lob der Vokale (1934) von der »oxydierenden Kraft« des Vokals »E«.18 Die Signatur ist nicht nur Überschrift und Unterschrift, sie richtet ihrerseits aus, wie dieses Ich als ein vegetatives Etwas, dessen Sehen vom Eindruck des Lichts abhängt, zu lesen sei. Insofern die Sprache um sich, eben um sich selbst als ein von Sonnenstrahlen »verlebendigtes« Inventar, aus Buchstaben, Zeichen, Ideogrammen kreist, dient sie der fast göttlichen Verjüngung ebenso wie der Verewigung. Dieses Lesen geht nur auf, wenn man an die Identität des Namens mit dem Autor glaubt, an die Kraft einer angeblich natürlichen Besiegelung der Urheberschaft.
Töten als Gebären Bis heute gibt es erstaunlich wenige kultur- und literaturwissenschaftliche Texte über Jüngers Verhältnis zur Natur, zu seinen Beobachtungen und Beschreibungen von Flora und Fauna, seinem neugierigen und zugleich abgeklärten, stets um Beherrschung und Ordnung bemühten naturwissenschaftlichen Blick auf die Natur 18
Ernst Jünger, Lob der Vokale. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 12: Essays VI, S. 11–46, hier S. 38.
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sowie zu seiner literarischen Botanik bzw. Entomologie.19 Die Ernst Jünger-Bibliographie verzeichnet unter »Natur/Landschaft« neun Aufsätze im In- und Ausland.20 Eine umfassende und kohärente, auf Jüngers Belesenheit botanischer Texte konzentrierte Studie, die auch auf sein Sammeln, Herbarisieren und Präsentieren von Blüten, Blättern, Faltern in seinen Manuskripten eingeht, ist bislang offensichtlich ein Desiderat. Die Beobachtung von Flora und Fauna, ihr Sammeln und Einkleben ist ebenso wenig untersucht wie die Beschreibung der Beobachtung, obwohl Jünger dieses Untersuchen durch beharrliche Vergleiche seines »Ichs« mit der Darstellung von Pflanzen und Käfern, von bestimmten Lieblingstieren nahelegt. Trotz zahlreicher sporadischer Feststellungen einer naturwissenschaftlich geschulten Weise des Lesens in der Natur fehlt bislang eine wissenschaftliche Studie zu Jüngers Vorstellungen von Natur bzw. zu seinen wie selbstverliebt wirkenden Darstellungen eines präparierenden Blicks auf die Natur – bis auf einige gelungene Unterkapitel in Einzeldarstellungen oder Fachzeitschriften.21 Dabei wurde die Affinität Jüngers zu »Bösen Blumen« betont, die zumeist als weiblich erscheinen und in enger und wiederum epigonaler Nähe zu Charles Baudelaires Blumen des Bösen und Octave Mirbeaus Garten der Qualen dazu beitragen, eine spezielle »Ästhetik des Schreckens« (Bohrer) zu inszenieren. Diese Ästhetik des Schreckens wurde in 19
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Den defizitären Forschungsstand beklagt Lothar Bluhm bereits 1987. Schon bei oberflächlicher Betrachtung der Sekundärliteratur gewinnt man den Eindruck, als sei der naturwissenschaftliche Beobachter und Beschreiber über die Diskussion um den Kriegsschriftsteller »Ernst Jünger« ins Hintertreffen geraten. Der Kriegsschriftsteller wird in seiner Verbindung zur Natur unter biologisierenden Aspekten behandelt, vor allem, wenn er über Rasse und Geschlecht und Tötungsvorgänge spricht. Vgl. Claudia Öhlschläger, »Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung«. Ernst Jünger und das »radikale Geschlecht« des Kriegers. In: Kunst, Zeugung, Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, hg. von Christian Begemann/David E. Wellbery, Freiburg i. Br. 2002 (Rombach-Wissenschaften Reihe Litterae 82), S. 325–352; sowie dies., Mimesis an den Tod. Ernst Jüngers Kunst der schmerzlosen Zerstörung. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie, hg. von Gerhard Neumann/Rainer Warning, Freiburg i. Br. 2003 (Rombach-Wissenschaften Reihe Litterae 98), S. 333–339; Klaus Theweleit, Männerphantasien 1 und 2. Unveränderte Taschenbuchausgabe, erweitert durch ein Nachwort, München u. a. 2000 (Serie Piper 3041) und Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 180 ff.: »Naturschauspiel des Krieges«. Vgl. Nicolai Riedels Ernst Jünger-Bibliographie, in deren Supplement sich kein Titelhinweis auf entsprechende Untersuchungen findet. Nicolai Riedel, Ernst Jünger-Bibliographie. Wissenschaftliche und essayistische Beiträge zu seinem Werk (1928–2002), Stuttgart/Weimar 2003. So z. B. Wolfgang Brandes, Blumenküsser. In: ders.: Der ›Neue Stil‹ in Ernst Jüngers ›Strahlungen‹. Genese, Funktion und Realitätsproduktion des literarischen Ich in seinen Tagebüchern, Bonn 1990 (Abhandlungen zu Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 389), S. 248–251; Bluhm, Natur in Ernst Jüngers Tagebüchern, und Gerhard Loose, Die Tigerlilie. Ein Beitrag zur Symbolik in Ernst Jüngers Buch vom ›Abenteuerlichen Herzen‹. In: Euphorion, 46, 1952, H. 2, S. 202–216; Michael Karlsson Pedersen, »Orte, an denen man sich der Erde näher fühlt«. Ernst Jüngers Käfersammler und die Hinwendung zur Erde. In: Text & Kontext, 34, 2012, S. 119–149.
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die Nähe zur Beobachtung einer Totalität des Lesens gerückt: Zur Bereitschaft über das, was gelesen wurde, zu herrschen und noch über das Lesen selbst als einen fortlaufend aktivierten Herrschaftsmechanismus des »Ich« zu richten – dies seien die Ziele der Jünger’schen »Fassungen«.22 Im Rahmen imagologischer Studien ist Jüngers Tendenz gesehen worden, komplexe und widersprüchliche gesellschaftliche Phänomene wie z. B. »Rasse«, »Krieg«, »Nation« oder auch »Liebe« und »Tod« zu naturalisieren. Dass dies Folgen für sein Menschenbild, insbesondere für seine Darstellung von Juden und für sein Bild von Frauen und von Soldaten hat, haben vor allem Klaus Theweleit, Claudia Öhlschläger und Eva Dempewolf gezeigt.23 Wenn etwa der deutsche Soldat »fällt« wie ein Baum, wenn er im »Graben« als Leiche verwest und damit im Grunde quasi verwurzelt, oder wenn »das Bild der großen Schlacht […] wie eine blutrote Orchidee, mit goldenen Feuerstreifen geflammt« aufschießt, wenn das Blut wie Samen den Boden befruchtet und der verwesende, von Würmern wimmelnde Körper in Erde übergeht, um diesen wie natürlich zu düngen und damit neues Leben zu spenden, dann ergibt sich mit dem Eindruck der Pflanzlichkeit oder der Tierhaftigkeit auch der Eindruck der Beliebigkeit des Menschen, der – zum botanischen Wesen exotisiert – ausgestreut, betrachtet, verwest oder geerntet, gemäht, präpariert, konsumiert und in einen angeblichen Natur-Kreislauf der Welt als einem Gräberfeld übergeht. Der Mensch wächst demnach ja wieder nach, wenn er stirbt. Es wäre sogar besser, wenn er stirbt, denn darüber leistet er einen produktiven Beitrag zur Gemeinschaft, indem er den Boden für die nächste Generation bereitet. Im Tod als einem Opfer auf dem Altar des Vaterlandes liegt letztlich ein Gewinn für die Gemeinschaft. Auf eben jene richtet sich die Lese des Jünger’schen Ichs in Strahlungen. Auf die Vorstellung einer Pflanzenexistenz, die sich in einer Pflanzenschrift ausdrückt, welche eine Art von Utopie, oder besser »Allegorie« für ein besseres Leben verspricht: ein Leben jenseits technischer Hilfsmittel, ganz unmittelbar geborgen im Schoße von Mutter Natur mit dem Versprechen auf ein unbeschwertes Leben und ein Wiedergeboren-Werden im Wechsel der Jahreszeiten.24 22 23
24
Martus, Ernst Jünger, S. 236. Eva Dempewolf, Blut und Tinte. Eine Interpretation der verschiedenen Fassungen von Ernst Jüngers Kriegstagebüchern vor dem Politischen Hintergrund der Jahre 1920 bis 1980, Würzburg 1992 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 84), S. 84 ff. Gerade die Pflanze biete sich »als Inbild des sich unendlich erneuernden Lebens an, der Frühling als Gedächtnis der Natur an ihre eigene Zeit vor aller Geschichte, der Mensch darin als verjüngungsbereiter Teilhaber an einem allwirksamen Elan Vital«, so Gert Mattenklott in seinem Beitrag zur »Pflanzenmetaphorik« im frühen 20. Jahrhundert, in dem er auch auf den »Fundus biomorpher Bilder« von Künstlern wie Pablo Picasso und Max Ernst, Wassily Kandinsky und Paul Klee eingeht. Vgl. Gert Mattenklott, Pflanzenmetaphorik in der frühen Moderne. In: Die Sprache der Pflanzen. Klassiker der Pflanzenfotografie im frühen 20. Jahrhundert, hg. von Rainer Stamm/Kai Uwe Schierz, Erfurt 2000, S. 73–84.
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Auf eben jenes »Mütterchen Natur« richtet sich aber auch eine aggressive, politische und sexualisierte, Töten als Leben-Gebende Tendenz. Herzförmige Blüten und Blätter sind Ausdruck jenes Lebens der Erde, welcher die Aggression gilt: Kirchhorst, 15. März 1945 [...] Auf dem Rückweg in der Gärtnerei. Das Brennende Herz, eine meiner Lieblingsblumen, hatte bereits den garen Boden der Rabatten durchbrochen, in Zacken von zartestem Jade, an denen rötliche Jaspisspitzen leuchteten. Die Kraft, der Erdgeist solcher Gebilde ist bezaubernd, ist außerordentlich. Sie sind Organe am Schoße unseres guten Mütterchens, der alten Erde, die immer noch das jüngste unter den rotröckigen Weibchen ist – wohl wert, daß unser Körper am Schluß des großen Schauspiels sich mit ihr vermählt.25
Krieg, Aggression gegen die feindliche Erde korrespondieren mit einer Botanik, welche Blüten und Blättern im doppelten Sinne eines tötenden Lesens, eines Abschneidens, Ausdrückens und Pressens beikommen will. Sie korrespondieren auch mit Einbrüchen in die Archive eines Blätterwaldes, wie sie in Strahlungen beispielsweise mit der Eroberung von Bibliotheken und der Lese in Buchläden beschrieben werden. Die eigentümliche, natürlich wirkende, florilegische Zitationsweise mit ihren vielen Wiederholungen, Berufungen, den sentenzartigen Wendungen, Adnoten und Selbstzitaten, ist von Jünger selbst in Zusammenhang mit dem Krieg gebracht worden, einem dubiosen Kampf der Fassungen.26 Der Schriftsteller spielt hier mit Lesern, die an ihn, an das Jünger-Ich als Synonym für einen mit sich selbst identischen Autor, einen Ich-Erzähler, wie ihn die Literaturwissenschaft vorschlägt, glauben. Nur so, über diesen Glauben an ein Siegel des »Ichs«, kann auch das Jünger’sche Schreibverfahren der Selbstzitation ohne Quellenangabe und des impliziten Verweisens, wie mit einem astericus, dem typographischen Stern, funktionieren. Es dreht sich um eine bibliothekarische, die Bücherwände und Bouquinisten entlangstreifende Lese, die sich sporadisch, wie der Samen auf dem Erdboden oder die Biene auf einer Blüte, auf einer Textstelle niederlässt, diese quasi befruchtet, um einen wie auch immer vorgestellten Kreislauf des Lesens zu schließen. Dieses Lesen Ernst Jüngers nimmt gerade auch sich, sein eigenes, strahlendes Erscheinen aufs Korn, beschreibt und signiert es schließlich, als EJ. Ein Gipfel dieser Art von Streifzug ist mit der Schilderung eines »Ich« erreicht, das im Mai 1941 einen »Fahnenflüchtigen« hinrichtet. Die Beobachtung der Erschießung ins Herz, die Tötung dieses Namenlosen, über die »Ich« die Aufsicht führt, drückt ein weiteres »Teststück« in der Serie der Lese von Herzen aus, welche schließlich auch das eigene, zum wehleidigen stilisierte Herz betreffen.27 Die25
26 27
Ernst Jünger, Kirchhorster Blätter. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3: Strahlungen II, S. 383. Martus, Ernst Jünger, S. 233–238. Die Exekution fand unter Ernst Jüngers Verantwortung am 29. Mai 1941 statt. Vgl. Schwilk, Ernst Jünger. Leben und Werk, S. 168.
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ses Herz ist im Grunde nicht zu sehen. Hier spielt »Ich« anscheinend gerade mit der Vorstellung einer Unlesbarkeit, welche die verschiedensten Phantasien hervorbringt. In der Szene – einer der am meisten zitierten im Werk Jüngers28 – geht es um »Salven« in das Herz des Hinzurichtenden, wobei der Buchstabe »n« aus dem Wort Salven im Manuskript gestrichen ist: Paris 29. Mai 1941 […] Darauf begab ich mich gestern mit dem Richter in ein kleines Waldstück bei Robinson, den vorgesehenen Ort. Auf einer Lichtung die Esche, der Stamm zersplittert durch frühere Hinrichtungen. Man sieht zwei Serien von Einschlägen – eine höhere der Kopf- und eine tiefere der Herzschüsse. Im Kernholz rasten, von den feinen Fasern des aufgeplatzten Bastes eingesponnen, einige dunkle Schmeißfliegen. Sie instrumentieren das Gefühl, mit dem ich den Platz betreten habe: so sauber kann keine Richtstätte gehalten werden, als daß nicht etwas vom Schindanger einspielte. [...] Wir treffen das Kommando bereits in der Lichtung an. Es bildet vor der Esche eine Art von Korridor. Die Sonne scheint, nachdem es unterwegs geregnet hat; die Wassertropfen blitzen im grünen Gras. Wir warten noch eine Weile, bis kurz vor fünf, dann fährt ein Personenwagen den schmalen Waldweg entlang. Wir sehen den Verurteilten aussteigen, mit ihm zwei Gefängniswärter und den Geistlichen. Dahinter kommt noch ein Lastwagen; er fährt das Beerdigungskommando und den Sarg, der nach Vorschrift bestellt wurde: »von üblicher Größe und billigster Ausführung«. [...] Das Urteil wird verlesen. Der Verurteilte folgt dem Vorgang mit höchster, angespannter Aufmerksamkeit, und dennoch habe ich den Eindruck, daß ihm der Text entgeht. Die Augen sind weit geöffnet, starr, saugend, groß, als ob der Körper an ihnen hinge; der volle Mund bewegt sich, als buchstabiere er. Sein Blick fällt auf mich und verweilt für eine Sekunde mit durchdringender, forschender Spannung auf meinem Gesicht. Ich sehe, daß die Erregung ihm etwas Krauses, Blühendes, ja Kindliches verleiht. Eine winzige Fliege spielt um seine linke Wange und setzt sich einige Male dicht neben seinem Ohre fest; er zieht die Schultern hoch und schüttelt den Kopf. Die Verlesung dauert eine knappe Minute, dennoch erscheint die Zeit mir außerordentlich lang. Das Pendel wird schwer und gedehnt. Dann führen die beiden Wächter den Verurteilten an die Esche [...]. Der Pfarrer stellt ihm noch einige leise Fragen; ich höre, daß er sie mit »Jawohl« beantwortet. Dann küßt er ein kleines silbernes Kreuz, das ihm vorgehalten wird, während der Arzt ihm ein Stück roten Kartons von der Größe einer Spielkarte über dem Herzen an das Hemd heftet. (Stra, 245 f.)
Die Herz- und Kopfschüsse treffen auch den Baum, an den der Verurteilte gebunden ist. Dies ist ausgerechnet eine Esche, der Lebensbaum: Ich möchte fortblicken, zwinge mich aber, hinzusehen, und erfasse den Augenblick, in dem mit der Salve fünf kleine dunkle Löcher im Karton erscheinen, als schlügen Tautropfen darauf. Der Getroffene steht noch am Baum; in seinen Zügen drückt sich eine ungeheure Überraschung aus. Ich sehe den Mund sich öffnen und schließen, als wollte er Vokale 28
Vgl. zu dieser Szene vor allem Enzian, Vom unfreiwilligen Vollstrecker zum distanzierten Beobachter.
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Sibylle Benninghoff-Lühl formulieren und mit großer Mühe noch etwas aussprechen. Der Umstand hat etwas Verwirrendes, und wieder wird die Zeit sehr lang. Auch scheint es, daß der Mann jetzt sehr gefährlich wird. Endlich geben die Knie nach. Die Stricke werden gelöst, und nun erst überzieht die Totenblässe das Gesicht, jäh, als ob ein Eimer voll Kalkwasser sich darüber ausgösse. Der Arzt tritt flüchtig hinzu und meldet: »Der Mann ist tot.« Der eine der beiden Wächter löst die Handschellen und wischt ihr blitzendes Metall mit einem Lappen vom Blute rein. Man bettet den Leichnam in den Sarg; es ist mir, als spielte die kleine Fliege in einem Sonnenstrahl darüber hin. (Stra, 246)
Sowohl der Baum als auch die Erschießung stehen für eine naturhafte, fast religiöse Wiederauferstehung. Die Esche trägt immerhin einen Namen, der Ermordete nicht. Als »Esche«, Weltenbaum, muss sie Kopf- und Herzschüsse hinnehmen. Über die Hinrichtung geht der – namenlos – Hingerichtete, an den Lebensbaum gewissermaßen über Schüsse genagelt, buchstäblich in die Natur ein. Harz und Herzblut vermischen sich. Dem Hinzurichtenden wird zur Verjüngung und zur Neugeburt quasi verholfen, denn er wird ja vom alten Leben über die »Salven« erlöst. Zwar wird die »Esche« auch zum Tode befördert, doch hat sie Kopf- und Herzschüsse über die Salven schon mehrfach überstanden. Kopfschüsse bleiben ihr jetzt erspart. Pflanzliches Sterben als Wiedergeburt zum Leben assoziiert der Leser auch damit, dass der Verurteilte in seiner Todesangst erblüht. Er verjüngt, wird wieder zum Kleinkind, dessen Augen saugen, dessen Knie versagen und das nicht artikuliert sprechen kann. Die Erschießung wirkt so gesehen wie ein Medium der Verjüngung, nach Art einer umgekehrten Zeitreise. Der Tod kommt wie natürlich daher. Er führt zurück in den Schoß der Erde. Die Tränen des Herzens des Erschossenen markieren entsprechend »Tautropfen« – als schlügen Tautropfen auf den Karton. »Ich« bleibt unterdessen »Ich«, mehr noch: Ich stabilisiert sich an der Beobachtung der Szene. Ich beobachtet sich als Beobachtender der Hinrichtung sowie als Protokollant seiner eigenen Herzlosigkeit, der keine Träne vergießt.29 Die Buchstabenfolge Ich findet sich in exponierten Begriffen der Schilderung wieder: Gericht, Hinrichtung, mich, Gesicht, kindlich. Während der Getötete zur Pflanze bzw. zum Tier regrediert, studiert »Ich« dessen Stil zu sterben. Dieses Studium wiederum beobachtet Ich an sich selbst. Ich weiß sich angesehen, sieht dieses Angesehen-Werden und erzählt davon – aus der Ich-Perspektive.
Jünger machen Man liebt es, Jüngers Werk als ein Florilegium der Weltliteratur zu bezeichnen. Der Zitate aus fremden Büchern, der Anspielungen und Verweise sind unzählige. Ist aber mit der Feststellung, dass Jünger es eben liebt, Dutzende und Hunderte von Autoren 29
Zum Ich als Testfigur vgl. Brandes, Blumenküsser. – Zum Spiegeln der Blicke (Ich sehe, dass ich gesehen werde, wie ich den Angesehenen ansehe) im Kontext von Stereoskopie, Teleskopie und Vexierbild, vgl. Öhlschläger, »Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung«.
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ausdrücklich oder stillschweigend, wörtlich oder abwandelnd zu zitieren, diese sehr wesentliche Eigentümlichkeit seines Stils schon hinreichend geklärt?30
Seinen Stil belegte Jünger gerne mit einem der ältesten Bilder für Autorschaft, der Herstellung von Honig. Modelle zu den Marmorklippen: der Felsenhang beim Leuchtturm von Mondello, an dem ich mit dem Magister kletterte. Sodann der Gang von Korfu nach Kanoni, das Rodinotal auf Rhodos, der Blick vom Kloster Suttomonte hinüber nach Korcula, der Feldweg von der Gletschermühle nach Sipplingen am Bodensee. Die Falken- und Eulennester in den steilen Wänden des Durchstichs von Korinth. Die Akropolis; die Art, in der in Rio die Felsen aus dem Boden schießen, so daß man an Orchideen und Schlangen denkt. Der Autor ist verpflichtet, viel zu reisen, um zu erfahren, was die Erde zu bieten hat. Dann aber müssen die Bilder sich mischen und verflüssigen wie Honig, der aus vielen Blüten eingetragen ist. Nur aus den Elementen der Erinnerung fließt dem Geist die Nahrung zu. (Stra, 34)
Das Textverfahren der Mischung mache alte Quellen jünger, kommentiert Kranz, und verweist dabei noch einmal auf die subtile Bedeutung des Namens und der Signatur: Das Lesen der Quellen verlebendige und zeuge in diesem Sinne von einer naturhaften Wiederholung der Zeit im Jahreswechsel, von einem Jünger-Machen, einer Dokumentation des Werdens im Vergehen nach Art der »Blumenuhr« von Linné oder der kalendarischen Einteilung der Jahreszeiten in Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Die Nennung des Nachnamens, »Jünger«, kommt in dieser Hinsicht einer doppelten Geste gleich: der Adressierung einer »Natur« qua Einschreibung von »sich«, des eigenen Nachnamens. Jünger bezog sich gerne auf sich, auf sein eigenes Lesen im Buch der Natur, auch auf die ambivalente Gestalt der Göttin Natura, die – etwa als »Mutter Erde« sich alternd verjüngt, eine Mischung aus Alter und Jugend darstellt.31 An der speziellen Signierung seiner Karten des Buchs der Natur mit einer immer wiederkehrenden Bilderschrift, etwa mit den Hieroglyphen für Geburt und Tod, Stern und Kreuz, aber auch dem E und den Tropfen im Tränenden Herzen, dem Gingko, im Kleeblatt oder in Tieren wie Schmetterlingen, Zeichnungen von 30
31
Hans-Peter Schwarz, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i. Br. 1962 (Freiburger Studien zur Politik und Soziologie), S. 249 f. Insbesondere Johann Georg Hamann habe der Autor zitiert, aber auch Anleihen bei dessen Zitierverfahren unternommen: »Der Vergleich mit Hamann führt zu einer möglichen Deutung des Phänomens. Auch dieser pflegte seine ›kabbalistische Prosa‹ mit entlehnten Bildern oder Zitaten zu durchsetzen und so ein weites Geflecht von Anspielungen und Bezugsfeldern zu geben. Er steht in der Tradition des sogenannten Kenton-Stils […]. Indem er die Worte anderer wie Samenkörner über sein eigenes Werk hinaussät, sucht er diesem die Fruchtbarkeit der fortzeugenden Logos-Philosophie einzupflanzen«. »Die Verbindung von Jugend und Alter, auch das Wechseln zwischen beiden, wurde in der Spätantike und im Mittelalter häufig für weibliche Idealgestalten verwendet. So erscheint bei dem Dichter Claudian die Göttin Natura als greisenhaft und jugendschön in einem« (Gisbert Kranz, Ernst Jüngers symbolische Weltschau, Düsseldorf 1968 [Wirkendes Wort. Schriftenreihe 6], S. 86 f.).
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Tintenfischen und Schlangen, zeigt sich der Versuch, einer ganzheitlichen Auffassung des Zeichens nachzukommen, welche an magische Praktiken der Zitation im Sinne eines Zum-Erscheinen-Bringens erinnert, in der Nähe zu den »Strahlen« einer Lichtschrift, einem kinematographischen »Lichtspiel« (Kino) und dem chemischen Begriff der Photosynthese. Bezeichnendes und Bezeichnetes neigen in dieser Auffassung dazu zusammenzufallen. Signifikant und Signifikat verkleben, um mit Theodor Lessing zu sprechen, zu dem Einen, dem großen S. Sie signalisieren eine Auffassung von Leben, das »von sich aus auf gewisse Formgestalten hinaus« will, »die als offenbares Geheimnis darin verborgen sind.«32 Theodor Lessing: Da es uns […] nicht gelingen kann, die Gestaltenwelt in Begriffe aufzufangen, so besitzt die nach dem Urwesen fragende Wissenschaft nur einen einzigen sicheren Weg: die analogische Methode, welche nach bildhaften Entsprechungen der Gestalten forscht. Verfolgen wir diesen Weg, so können wir in den Blumen die Metalle und Erze wiedererkennen; in den Lebenskurven ihres Wachstums die Gezeiten der Sterne, in ihrem Atem den Wind, in ihrem Pulsschlag den Rhythmus auch des tierischen Lebens, ja sogar in Krampf, Fieber und Frost das Gleichbild vieler Wetterwellen der Natur. Wir erblicken hinter Tiergesichtern die Wesensarten der Menschenvölker und in jedem Organ eines Tierleibes auch verwandte Gebilde aus der Pflanzenwelt. Schließlich dürfte sogar keine Maschine, keine Erfindung fortschreitender Werkzucht uns begegnen, wofür sich nicht eine Entsprechung aus der Pflanzenwelt nachweisen ließe.33
Ich, Ernst Jünger, abgekürzt zu E. J. oder je nachdem JE, ist nach dieser Vorstellung kein Anderer. Vielmehr greift er auf verschiedenste rhetorische Figuren zurück, um diese in einem eher analogischen, gleichmachenden Verständnis von Allegorie – wie eine Pflanze, in einem aus welcher Substanz auch immer sich selbst gebärenden Prozess – und einer naturalisierenden Sprache als Honigbrei hervorzubringen. Nicht nur der Stern, mit dem EJ in seinen Manuskripten Absätze als Gedankenstriche gerne besiegelt, hält wach für diese besondere Vorstellung eines befruchtenden, klebrigen, teilweise kitschigen, seine eigenen Spuren auf dem Weg zu seinem Innersten des Herzens überklebenden Ichs, über sich, das, indem es seinem Urgrund auf die Schliche kommen will, immer nur wieder auf sein Spiegelbild trifft, ohne dieses je zu erkennen. Stern und Kreuz, Zeichen für Geburt und Tod, aber auch für den Verweis innerhalb eines Textes auf einen anderen Text, scheinen beliebig, austauschbar, vermischbar. Auch sie verschwimmen, gehen ineinander über, wie der Eintrag am Geburtstag seines 1944 in Italien ermordeten Sohnes »Ernstel« zeigt. Mit ein paar Strichen ist das Kreuz in einen Stern zu verwandeln.
32 33
Mattenklott, Pflanzenmetaphorik in der frühen Moderne, S. 77. Theodor Lessing, »Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte«. Essays und Feuilletons (1923–1933), hg. u. eingeleitet von Rainer Marwedel, Darmstadt/Neuwied 1986 (Sammlung Luchterhand 639), S. 279.
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Kirchhorst, 1. Mai 1946 […] Ernstel gewidmet; es ist sein Todestag. Er würde heute zwanzig Jahre alt. Ich sehe beim Überlesen, daß ich mich verschrieb. Aber der Todestag mag auch Geburtstag sein. Dann sollten wir die Zeichen ändern: das Kreuz am Anfang, der Stern am Schluß.34
Die Lese der Analogie der Symbole ebenso wie das Pressen von Sprache in eine rhetorische Form, hat für den Leser dort ein Ende, wo Pflanzen und Sterne keinen Kopf, keinen Kreislauf und kein Herz haben. Auch »Tränende Herzen« haben kein Herz. Sie sehen zwar aus wie Herzen, ebenso wie manche Blätter. Die Synekdoche aber, dass ein Teil für das Ganze stünde, ist ein trügerischer, rhetorischer Entwurf. Herzen stehen vielleicht für den Menschen, insofern sie als Zentrum des Körpers und als Sitz der Seele angenommen werden, aber »Tränende Herzen«, als Pflanzen, sind keine Menschen, was sich u. a. darin offenbart, dass ihr »Körper« wieder nachwächst, wenn man ihren »Kopf« abschneidet oder pflückt. Ebenso sind Menschen keine Pflanzen, obwohl die Jünger’sche Rede diese Assoziation nahe legt, am deutlichsten und verabscheuungswürdigsten vielleicht in der Hinrichtungsszene in »Strahlungen«, wo es um eine Allegorisierung des Tötens als Leben-Geben und Zum-Blühen-Bringen geht.
Unterwegs zur Urpflanze Am Ende dieses Aufsatzes wird sich der Leser gefragt haben, ob er überhaupt reif ist, diese allegorische Herzensschrift eines Dichter-Orakel-Gottes zu erkennen. Denn die Lese von Blüten, Blättern und Textstellen gibt sich auf der Suche nach einem Urgrund der Sprache35 ebenso klebrig, kitschig und selbstbespiegelnd wie schöpferisch erschaffend und ausgelesen. Es ist, als würde hier jemand die Rhetorik der Macht ausprobieren, von der Elias Canetti mit Bezug auf die Texte des an Größenwahn leidenden ehemaligen Richters Daniel Gottlob Schreber sprach. Dieser habe auch »Strahlen« empfangen, Sonnen, Monde und Sterne visioniert oder besser: deliriert, während er durch den Garten der Anstalt von Prof. Flechsig spazierte, auf der Suche nach einer Weltordnung und einem Weltkörper in der sogenannten Natur.36 »Der Wunsch, die anderen aus dem Weg zu räumen, damit man der einzige sei, oder, in der milderen und häufig zugegebenen Form, der Wunsch, sich der anderen zu bedienen, daß man mit ihrer Hilfe der einzige werde«37 – diese Diagnose Canettis ließe sich auch auf Ernst Jünger übertragen, der wie Schreber bemüht war, Ordnung in die Welt mit Hilfe einer Sprache der Natur zu bringen. 34
35 36 37
Ernst Jünger: Die Hütte im Weinberg. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3: Strahlungen II, S. 403–659, hier S. 617. Hahn, »Von nun an wird die Welt aus Scherben zusammengesetzt«. Elias Canetti, Masse und Macht, Hildesheim 1992, vor allem S. 502. Canetti, Masse und Macht, S. 533.
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Sibylle Benninghoff-Lühl So sind wir rastlos bemüht, die Lichterfluten, die Strahlengarben zu richten, zu harmonisieren, zu Bildern zu erhöhen. Leben heißt ja nichts anderes. Im höchsten Ordnungsgange werden kosmische und irdische Strahlen so verwoben, daß sinnvolle Muster aufleuchten. Das ist ein Zeichen dafür, daß das Leben der Menschen, das Leben der Völker gelungen ist. Die Blumen sind Sinnbilder solcher Muster, daher »cultura« und daher ihre Rolle in den Gleichnissen. (Stra, 15)
So Jünger im Vorwort zu Strahlungen I. Zwar bewunderte der Autor die Figur des blinden Sehers, wie z. B. den blinden Assistenten des Entomologen Jean-Henri Fabre oder den blinden Bibliothekar Jorge Luis Borges. Eine Nicht-Darstellbarkeit des Ichs, eine blinde Stelle des Lesens aber hatte Ernst Jünger nicht respektieren können. Selbst noch äußersten Schmerz, ebenso wie Liebe signiert »Ich« als Blütenleser Tränender Herzen und Narzissen, um seiner Betroffenheit über sich, über sein eigenes Leid, Ausdruck und Namen zu geben. Als ob die ganze Welt aus lauter »Teststücken« dieses einen, seines Ichs bestünde. Keinen Rest gibt es hier, der nicht aufginge und wiederholend geformt werden könnte – zu neuen Blüten, Blättern, Kelchen und Sternen. Biometrische, aber auch rhetorische Figuren wie Bild, Ideogramm, Metapher, Florilegium, Assoziation, Analogie, Anagramm, Hieroglyphe, Allegorie, schließlich die Tautologie, etwa die des »ersten Personalpronomens«, sind von diesem gnadenlosen Umformulieren betroffen und dem Vorgang des Klebens unterworfen: Ich bin Ich. Unlesbarkeit gibt es in diesem Konzept nicht, wohl aber ein grenzenloses Bestreben nach Anhaltspunkten der Orientierung in einer Welt, welche politisch, botanisch, grammatisch und eben auch rhetorisch in Ordnung gebracht werden soll. Gärtnerische Ordnung lautet in diesem Kosmos das Zauberwort. Deswegen ist es nicht von ungefähr die Aster, eine Stern-Blume, an welche sich die Hoffnung des »Ich« für zukünftige Orientierungen knüpft, die blaue Blume und eine – angeblich – »wahre Urpflanze«: Kirchhorst, am 15. Oktober 1945: Zur Botanik. Der blauen Aster gewidmet, die jetzt im Garten blüht: Was nützen Lupen und Mikroskope – die wahren Vergrößerungsgläser sind die Blumen selbst. Wir müssen sie betrachten, bis sie wie Linsen durchsichtig werden, dann werden wir im Brennpunkt des Strahlenbüschels hinter ihnen ein Leuchten schauen: den Glanz des geistigen Samenkorns, das keine Ausdehnung besitzt. Das ist die wahre Urpflanze. Wenn uns die Welt erschüttert scheint, kann der Blick auf eine Blume die Ordnung wiederherstellen.38
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Ernst Jünger, Die Hütte im Weinberg, S. 566.
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Literatur Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.1, zweite Aufl., Frankfurt/M. 1978, S. 203–430. Bluhm, Lothar: Natur in Ernst Jüngers Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg. In: Wirkendes Wort, 37, 1987, H. 1, S. 24–32. Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978. Brandes, Wolfgang: Blumenküsser. In: ders.: Der ›Neue Stil‹ in Ernst Jüngers ›Strahlungen‹. Genese, Funktion und Realitätsproduktion des literarischen Ich in seinen Tagebüchern, Bonn 1990 (Abhandlungen zu Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 389), S. 248–251. Canetti, Elias: Masse und Macht, Hildesheim 1992. Dempewolf, Eva: Blut und Tinte. Eine Interpretation der verschiedenen Fassungen von Ernst Jüngers Kriegstagebüchern vor dem Politischen Hintergrund der Jahre 1920 bis 1980, Würzburg 1992 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 84). Enzian, Felix Johann: Vom unfreiwilligen Vollstrecker zum distanzierten Beobachter. Wie Ernst Jünger seine Rolle bei einer Hinrichtung inszeniert hat. In: Ernst Jünger in Paris. Ernst Jünger, Sophie Ravoux, die Burgunderszene und eine Hinrichtung, hg. von Tobias Wimbauer, Hagen-Berchum 2011 (Bibliotope 6), S. 97–124. Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund. Zur Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne, Marbach a.N., 7. November 2010 bis 27. März 2011, hg. von Heike Gfrereis, Marbach a.N. 2011 (Marbacher Kataloge 64). Goethe, Johann Wolfgang von: West-Östlicher Divan, Teil I, hg. von Hendrik Birus, Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker). Hahn, Barbara: »Von nun an wird die Welt aus Scherben zusammengesetzt«. Ernst Jüngers Tagebücher »Siebzig verweht«. In: Literaturmagazin, 35, 1995, S. 148–161. Jünger, Ernst: Drei Mal Rhodos. Die Reisen 1938, 1964 und 1981, hg. von Lutz Hagestedt/ Luise Michaelsen, Marbach 2010 (Aus dem Archiv 2). Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Stuttgart 1978–2004. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007. Kranz, Gisbert: Ernst Jüngers symbolische Weltschau, Düsseldorf 1968 (Wirkendes Wort. Schriftenreihe 6). Lessing, Theodor: »Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte«. Essays und Feuilletons (1923–1933), hg. u. eingeleitet von Rainer Marwedel, Darmstadt/Neuwied 1986 (Sammlung Luchterhand 639). Loose, Gerhard: Die Tigerlilie. Ein Beitrag zur Symbolik in Ernst Jüngers Buch vom ›Abenteuerlichen Herzen‹. In: Euphorion, 46, 1952, H. 2, S. 202–216. Mattenklott, Gert: Pflanzenmetaphorik in der frühen Moderne. In: Die Sprache der Pflanzen. Klassiker der Pflanzenfotografie im frühen 20. Jahrhundert, hg. von Rainer Stamm/ Kai Uwe Schierz, Erfurt 2000, S. 73–84. Martus, Steffen: Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 333). Öhlschläger, Claudia: »Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung«. Ernst Jünger und das »radikale Geschlecht« des Kriegers. In: Kunst, Zeugung, Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, hg. von Christian Begemann/Davis E. Wellbery, Freiburg i. Br. 2002 (RombachWissenschaften Reihe Litterae 82), S. 325–352. Öhlschläger, Claudia: Mimesis an den Tod. Ernst Jüngers Kunst der schmerzlosen Zerstörung. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie, hg. von Gerhard Neumann/ Rainer Warning, Freiburg i. Br. 2003 (Rombach-Wissenschaften Reihe Litterae 98), S. 333–339.
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Sibylle Benninghoff-Lühl
Pedersen, Michael Karlsson: »Orte, an denen man sich der Erde näher fühlt«. Ernst Jüngers Käfersammler und die Hinwendung zur Erde. In: Text & Kontext, 34, 2012, S. 119–149. Riedel, Nicolai: Ernst Jünger-Bibliographie. Wissenschaftliche und essayistische Beiträge zu seinem Werk (1928–2002), Stuttgart/Weimar 2003. Riedel, Nicolai: Internationale Ernst-Jünger-Bibliographie. Supplement I: Nachträge bis 2002 und Neuerscheinungen 2003–2004. In: Les Carnets Ernst Jünger, No. 9, 2004, Montpellier 2005, S. 169–208. [Leicht überarbeitete und aktualisierte Online-Fassung als PDF-Datei.] Sartiliot, Claudette: Herbarium und Verbarium. In: Journal of European Studies, 24, 1994, S. 166–168. Schneider, Manfred: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München/Wien 1986. Schwarz, Hans-Peter: Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i. Br. 1962 (Freiburger Studien zur Politik und Soziologie). Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten. Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, hg. u. kommentiert von Heimo Schwilk, Stuttgart 2010. Klaus Theweleit, Männerphantasien 1 und 2. Unveränderte Taschenbuchausgabe, erweitert durch ein Nachwort, München u. a. 2000 (Serie Piper 3041). Zissler, Dieter: In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen. Über Natur und Naturwissenschaft im Werk Ernst Jüngers. In: Text+Kritik, 1990, H. 105/106 Ernst Jünger, S. 125–140.
Abbildung auf Seite 37: Ausschnitt aus »Herbar I«, Digitalisat Nr. HS_00499568_0062. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des DLA-Marbach.
Stefano Beretta
Ernst Jüngers Ästhetik der Nachkriegszeit und ihre Beziehungen zum frühromantischen Literaturverständnis Es kann als gängige Auffassung in der Forschung gelten, dass Ernst Jüngers Werk Verbindungen zum Romantischen herstellt. Die Faszination, von der beispielsweise der hoffmanneske Passus in Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) kündet – »aus seinen Hofräten und Spießbürgern gleist unvermittelt das Gespenstische auf, der Anblick eines Türknaufs zaubert ein würgendes Erlebnis hervor«1 –, kennzeichnet Jüngers produktive Rezeption der Romantik überhaupt. Entsprechend lassen sich Aspekte von Jüngers Werk als kulturgeschichtliche Reminiszenz auf Merkmale der literarischen Romantik deuten und auf ein gemeinsames Drittes beziehen: die pessimistische Weltanschauung. Zu kurz kommen bei solcher Betrachtung freilich die spezifischen Gattungsmerkmale, soweit sie auf eine romantische Poetik und (auch) auf ein frühromantisches Formeninventar beziehbar sind. Das Romantische bei Jünger wird überwiegend als gesteigerte Erlebnisqualität und Wahrnehmungsintensität im Frühwerk wahrgenommen.2 Die Behauptung einer Affinität des Autors zur Romantik, wie auch deren Widerlegung,3 läuft dabei Gefahr, sich in einer aktualisierenden Kombination von abenteuerlicher Lebensauffassung, politischem Schrifttum und avantgardistischer Ausdrucksnot zu erschöpfen. Die zweite Nachkriegszeit bietet sich daher an, Jüngers Erzählverfahren näher zu betrachten, denn hier zeichnet sich seine Erzählkunst durch Reflexion und theoretische Argumentation aus. Vor allem in diesem Zeitraum also, so die These, ist mit Überzeugungen zu rechnen, die etwas von der frühromantischen Romantheorie und ihrer Ästhetik widerspiegeln könnten. Wie die romantische Literaturtheorie Friedrich Schlegels aufzeigt, macht gerade die Struktur des Romans es möglich, der Poesie jenen höheren Wert des Idealismus beizumessen, der ihr Mittelpunkt und Grundlage ist, denn Poesie ist nichts anderes als Idealismus, sie ist, kurz gesagt, »ein andrer Ausdruck derselben transzendentalen Ansicht der Dinge.«4 Diesbezüg1
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Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1999, S. 9–103, hier S. 9. – Anspielung auf die zweite Vigilie von E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen Der goldene Topf (1814), in der ein Türknauf das Gesicht des alten Äpfelweibs annimmt. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978. Vgl. dazu Joseph Fürnkäs, Ernst Jüngers ›Abenteuerliches Herz. Erste Fassung‹ (1929). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 59–76. Friedrich Schlegel, Literatur. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 3: Charakteristiken und Kritiken II (1802–1829), hg. von Hans Eichner, München u. a. 1975, S. 3–16, hier S. 5.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-004
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lich bekundet Friedrich Schlegel, unter Verwendung einer ironischen Pointe seiner Athenäums-Rezension, die Enttäuschung über das Ende der Goethe’schen Lehrjahre, »da hinter allen diesen wunderbaren Zufällen, weissagenden Winken und geheimnisvollen Erscheinungen nichts steckt als die erhabenste Poesie«.5 Was dabei als Maskierung und Entwertung der Poesie aufgrund des allzu deutlich wahrnehmbaren Handlungsgerüsts stigmatisiert wird, scheint an verschiedenen Stellen in Jüngers Roman Heliopolis (1949) seine ideelle Fortsetzung zu finden. Zentral relevant ist im Kapitel Das Symposion die Betrachtung des Malers Halder anlässlich der Diskussion über die moderne Kunst und ihr Verhältnis zum Zeitgeist. »Ein Meisterwerk entsteht«, so Halder beim Weingenuss, »wenn Zeitloses das Epochale ausfüllt wie dieser Wein das Glas.«6 Das Eindringen des Zeitlosen ins Epochale – oder, wie es der Autor im aus der Erstfassung von Heliopolis gestrichenen Kapitel Ortner über den Roman mit anderen Worten formuliert, die Verknüpfung von »Welt« und »Freiheit« – ist Aufgabe des Romans.7 Die beiden grundlegenden Qualitäten, die den Texttyp bilden, »das Autarke« und »das Universale«, liegen im Autor einerseits, in der Welt andererseits begründet.8 Aber nicht nur der Autor, auch der Roman muss »autark« sein und etwas von der »Freiheit« des Autors an den »Leser« weitergeben.9 Und nicht nur die Welt muss universal sein, auch der Roman muss »dieses Ganze […] sichtbar werden« lassen: »man sieht, daß die Personen, Dinge, Orte im Kosmos eingebettet sind.«10 Goethes Lehrjahre mussten Friedrich Schlegel daher enttäuschen, da hier nicht Freiheit, Autarkie und universeller Geist wirken, sondern Fernsteuerung, Fremdbestimmung und Beschämung: Wie mögen sich die Leser dieses Romans beim Schluß desselben getäuscht fühlen, da aus allen diesen Erziehungsanstalten nichts herauskommt, als bescheidne Liebenswürdigkeit, da hinter allen diesen wunderbaren Zufällen, weissagenden Winken und geheimnisvollen Erscheinungen nichts steckt als die erhabenste Poesie, und da die letzten Fäden des Ganzen nur durch die Willkür eines bis zur Vollendung gebildeten Geistes gelenkt werden!11
Im Athenaeum-Fragment 418 erörtert Schlegel ferner den Grundgedanken einer für die Romangestaltung konstitutiven Dynamisierung von zwei koexistierenden, allerdings gegenläufigen Entwicklungsmöglichkeiten. Schlegel lobt Tiecks Roman 5
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Friedrich Schlegel, Über Goethes Meister. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. von Hans Eichner, München u. a. 1967, S. 126–146, hier S. 144. Ernst Jünger, Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 16: Erzählende Schriften II, Stuttgart 1980, S. 9–343, hier S. 106. Ernst Jünger, Ortner über den Roman. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 16: Erzählende Schriften II: Heliopolis, Stuttgart 1980, S. 388 f., hier S. 389. Jünger, Ortner über den Roman, S. 388. Jünger, Ortner über den Roman, S. 388. Jünger, Ortner über den Roman, S. 388. Schlegel, Über Goethes Meister, S. 144.
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Franz Sternbalds Wanderungen (1798) als Apotheose des über sich selbst ›fantasierenden‹ romantischen Geistes. Zu den Hauptmerkmalen des Sternbald zählt er »die absichtliche Verschiedenheit und Einheit des Kolorits«.12 Diese Identität im Verschiedenen gilt es anzustreben. Ortner, von der Presse der posthistorischen Stadt »Homer von Heliopolis« genannt, vollzieht im Lauf seiner geistigen Entwicklung sogar »eine Wendung von der Linken zur Rechten« und pflegt »endlich die Neigung zu den Gärten und mit ihr die Rückkehr zur musischen Welt.«13 Dabei nimmt er die Erzählweise und die rhetorische Funktion des Texttyps vorweg, die er in einer gattungstheoretischen Adnote bestimmt: Aus dieser Deutung folgt, daß der Roman im besten Falle Gleichnis werden kann, da weder Autarkie, das heißt, vollkommene Freiheit, noch Einsicht in das Weltganze dem Autor verliehen ist. Doch haftet jedem der großen Romane ein Hauch von beidem an, und darauf beruht das Glück, das der Lektüre innewohnt. Der Leser ist in und außerhalb der Welt zugleich.14
In einem kurzen Resümee von Ortners Werdegang zeichnet Jünger den Weg des Schriftstellers der Frühen Moderne prototypisch nach, der teilweise dem eigenen Weg gleicht. Für die Kosmiker des Fin de siècle freilich war der Autor zu jung, und an der anarchisch entfesselten Dichtkunst des Expressionismus ebenso wie an den gewaltsamen Aufständen der linken und rechten Extremisten der Weimarer Republik hatte er keinen Anteil; doch die gleichnishaft geschilderten »Feldzüge und Jagdfahrten im Gefolge des Orion« hat er mitgemacht, und »eine Reihe von klaren und konstruktiven Werken«, die seine politische Wandlung zeigen, vom Arbeiter bis zur Friedensschrift, lassen sich ebenfalls belegen.15 Jüngers Abwendung vom politisch Kontingenten wird nun auch poetologisch gleichsam bekräftigt, als Loslösung von der vagen Verwandtschaft mit der ›schwarzen‹ Romantik. Diese Wende zur Einheit der Verschiedenheit ist implizit bereits in der Vorstellung von »jenem stereoskopischen Blick enthalten, der die Dinge in ihrer geheimeren, ruhenderen Körperlichkeit erfaßt«,16 wie sie Jünger im Sizilischen Brief an den Mann im Mond (1930) formuliert. Seine erste poetologische Schrift überhaupt bereitet damit den Abschied von der Abbildungsillusion des Frühwerks vor.17 Die hier thematisierte Überschreitung der sinnlichen Scheinbildlichkeit – die in der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1938) einem »sinnlichen Eindruck« 12
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Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. von Hans Eichner, München u. a. 1967, S. 165–255, hier S. 245. Jünger, Heliopolis, S. 102. Jünger, Ortner über den Roman, S. 388. Vgl. Jünger, Heliopolis, S. 101 f. Ernst Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 9: Essay III, Stuttgart 1980, S. 9–22, hier S. 20. Dazu vgl. Karl Prümm, Gefährliche Augenblicke. Ernst Jünger als Medientheoretiker. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 356–358.
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gleicht, »der sich uns zunächst in seiner Fläche bot« und nachher »in der Tiefe«18 ausgekostet wird – bringt eine intensive Beschäftigung mit den ästhetischen Fundamenten der literarischen Aufgabe mit sich und damit auch mit der romantischen Kulturlandschaft, die wiederum in ihrem revolutionären Potential verstanden werden kann: Dies manifestiert sich nicht so sehr in den essayistischen Schriften Jüngers, die vornehmlich dem Duktus einer philosophischen Argumentation folgen, als vielmehr auf der Ebene der Erzähltexte. Insbesondere in der eigentümlichen Beschaffenheit der Jünger’schen utopischdistopischen Romanproduktion, die Werke wie Heliopolis und Eumeswil (1977) umfasst, ist der ideelle Ort der Verabschiedung vom Endzeitdiskurs zu erblicken.19 Denn die Fiktionalisierung des (künftig) Machbaren und Vorstellbaren, die in beiden Romanen die Zukunftsvisionen stützt, lässt sich nur teilweise mit den Modi des Utopie-Diskurses in Übereinstimmung bringen. Sie deutet im Gegenteil jenen literarästhetischen Aufbau der reflektierten Moderne an,20 den der Ich-Erzähler Martin (Manuel) Venator zu Beginn von Eumeswil als Grundprinzip geistiger Arbeit bezeichnet: »Das Ungenaue zu präzisieren, das Unbestimmte schärfer und schärfer zu bestimmen: das ist die Aufgabe jeder Entwicklung, jeder zeitlichen Anstrengung.«21 Wird eine solche Forderung im Zuge der reflektierenden Erzählung erfüllt, so kommt der Erzählerbericht einer kritischen Abstandsnahme von der jenseits der Geschichte liegenden, nach Ansicht des Historikers Venator jedoch unzeitgemäßen Umgebung Eumeswils immer näher. In dieser Hinsicht erneuert der als »vollkommene Ablösung von der physischen Existenz«22 konzipierte Austritt Venators aus der Erzählzeit mit einem Gestus des modernen Radikalismus die Verfremdungsstrategie, mit der Novalis das Selbst18
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Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Figuren und Capriccios. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 9: Essays III, Stuttgart 1980, S. 177–330, hier S. 199. – Zur Entwicklung der Ästhetik Jüngers nach der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens von 1929 vgl. Michael Großheim, Der Zauber der Moderne. Ernst Jüngers Absage an die Kulturkritik. In: Prognosen. Jünger-Studien, Bd. 1, hg. von Gunter Figal/Georg Knapp, Tübingen 2001, S. 32–53. Vgl. etwa Hans Krah, Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers ›Heliopolis‹ (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 225–251. Zum Begriff der reflektierten Moderne vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 299–436. Ernst Jünger, Eumeswil. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 17: Erzählende Schriften III, Stuttgart 1980, S. 9. Jünger, Eumeswil, S. 377. – Zum ›Posthistorischen‹ in Jüngers Roman vgl. Jörg Willwock, Rückblick in die Zukunft. Zum Verständnis von Historie in Ernst Jüngers ›Eumeswil‹. In: Unter Argusaugen: Zu einer Ästhetik des Unsichtbaren, hg. von Gerd Held u. a., Würzburg 1997, S. 134–148. – Zu diesem Kontext vgl. auch Jürgen Kron, Seismographie der Moderne: Modernität und Postmodernität in Ernst Jüngers Schriften von ›In Stahlgewittern‹ bis ›Eumeswil‹, Frankfurt/M. u. a. 1998 (Studien zur deutschen und europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts 38).
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vergessen seines Protagonisten Heinrich von Ofterdingen im Innern der Erde inszeniert. Im fünften Kapitel des Ofterdingen (1802), kurz bevor Heinrich das unabgeschlossene Buch seines eigenen Lebens im Bergwerk entdeckt, überträgt er die beinahe nihilistisch nuancierte Spekulation des 16. Blüthenstaub-Fragments – »In uns, oder nirgends, ist die Ewigkeit mit ihren Welten«23 – in die dichterische Praxis, und somit »übersah er auf einmal alle seine Verhältnisse mit der weiten Welt um ihn her.«24 In Jüngers erzählfunktionaler Textur der zweiten Nachkriegszeit dient die Interaktion von Theorie und schriftstellerischer Tätigkeit der Bewahrung des Gleichgewichts von kosmogonischem Trieb und kritischem Nachholen der Tradition auf der Ebene der literarischen Darstellung anachronistischer, aber nicht unbedingt rückschrittlicher Kulturlandschaften. Die verhältnismäßig knappe Ausdehnung der Erzählung, im Vergleich zur Weitläufigkeit des Romans, macht, wie etwa die novellistische Struktur in Besuch auf Godenholm offenbart, eine »Wandlung im Unveränderlichen«25 plausibel. Jüngers Romankonzeption sieht dagegen einerseits eine andauernde Verzögerung der Ereignisse vor, und andererseits arbeitet sie mit einem Prinzip des Anachronismus hinsichtlich der fiktionalen Geschichtskonstruktion. Die Ereignisse selbst hingegen erfahren eine Erweiterung, werden zu Reflexionsmomenten eines mimetischen Realismus und erreichen damit eine über die semantische Ausdrückbarkeit hinausreichende Reflexivität.26 Diese Überschreitung des Erzählrahmens in Richtung imaginärer, nicht mehr dichterisch darstellbarer Parallelwelten wird durch die Umschreibung der Wahrnehmungsästhetik vorbereitet, die seit dem Abenteuerlichen Herzen 23
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Novalis, Blüthenstaub. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, historisch-kritische Ausgabe in 4 Bänden, einem Materialienband und einem Ergänzungsband, hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, 3. Aufl., Stuttgart u. a. 1981, S. 413–470, hier S. 418. Novalis, Heinrich von Ofterdingen. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, historisch-kritische Ausgabe in 4 Bänden, einem Materialienband und einem Ergänzungsband, hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 1: Das dichterische Werk, Stuttgart 1977, S. 181–369, hier S. 252. Ernst Jünger, Besuch auf Godenholm. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 15: Erzählende Schriften I: Erzählungen, Stuttgart 1978, S. 363–420, hier S. 417. – Zu Jüngers Behandlung des Ambivalenten in Bezug auf die Beschreibung des Rausches mit Hilfe von mythologisierenden Stilisierungen vgl. etwa Ulrich Baron, Jüngers Erzählung ›Besuch auf Godenholm‹ (1952). ›Annäherungen‹ an ›Drogen und Rausch‹ (1970). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 199–216. Vgl. Luca Crescenzi, Die nächste Wahrheit des Romans. Ortners Epos-Vision in den Stücken zu Heliopolis. In: Prognosen, Jünger-Studien, Bd. 1, hg. von Gunter Figal/ Georg Knapp, Tübingen 2001, S. 81–89. Ferner Peter Uwe Hohendahl, Erzwungene Synthese. Ernst Jüngers Roman ›Heliopolis‹ als poetisch-theologisches Projekt. In: Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, hg. von Erhard Schütz/Peter Uwe Hohendahl, Essen 2009, S. 35–53.
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Jüngers Prosa kennzeichnet.27 Dieser Einfluss zeigt sich beispielsweise in der textuellen Vernetzung von Heliopolis, etwa im Kapitel Die Loorbeernacht. Bei der Berichterstattung über das Drogenexperiment, das der Protagonist Lucius de Geer zusammen mit der gelehrten Parsin Budur Peri durchführt, tauchen Zweifel an der Legitimität der Übernahme nichtfiktionaler, für die Narration gleichwohl relevanter Punkte auf: Sie machten nicht halt dem Ungewissen und dem Absonderlichen gegenüber, wie man es sonst nur Tagebüchern anvertraut. Sie gingen an die Grenzen mit. Damit schwand auch die Scheu, sich ihnen im Gefährlichen und Abwegigen zu eröffnen, auf jenen Bahnen und Schleifenzügen, in denen der Geist in kühnen Experimenten die Berührung mit dem Unbekannten sucht. Die Neugier, die curiosité surnaturelle, blieb der letzte Blütenzweig am Baum des Glaubens, der vertrocknet war.28
Hier ist die erkenntnistheoretische Einführung in die Beschreibung der mystischpsychedelischen Erfahrung erst durch den Appell an das Potential der »curiosité surnaturelle« mit der gattungstypologischen Unsicherheit eng verknüpft, die mit dem totalisierenden, zugleich aber ›antispezifischen‹ Erzähltext schlechthin identifiziert: »Obwohl keines dieser Themen von ihm ausgeschlossen ist«, so Jüngers literaturtheoretischer Avatar, »kann der Roman nicht wissenschaftlich, nicht pädagogisch, nicht historisch, nicht psychologisch, nicht sozial, ja selbst nicht theologisch sein.«29 Durch diese Ungebundenheit eines Genres, das andererseits verpflichtet ist, »sich nicht darauf [zu] beschränken, die Gesellschaft zu schildern und ihre Entwicklungen zu begleiten«,30 ist die Romankomposition zur simultanen Wiedergabe einer zweifachen Distanz gezwungen, wobei sowohl die empirisch-konkrete Welt als auch ihre Erweiterung ins Utopisch-Irreale als im Rahmen der Fiktion auszuschließende Optionen gelten.31 In seiner Theorie der Dichtkunst, die nicht aus formalen Bedingungen erwächst, sondern auf ästhetischen Systematisierungskriterien beruht, befreit auch Friedrich Schlegel das poetische Werk von jeglicher Gegenwärtigkeit, indem er die synthetische Macht der romantischen Poesie beschwört. So verlangt das AthenäumFragment 101 ausdrücklich: »Was in der Poesie geschieht, geschieht nie oder immer. Sonst ist es keine rechte Poesie. Man darf nicht glauben sollen, daß es jetzt wirklich geschehe.«32 27
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Dazu Harro Segeberg, Prosa der Apokalypse im Medienzeitalter. Der Essay ›Über den Schmerz‹ (1934) und der Roman ›Auf den Marmor-Klippen‹ (1939). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 116–123. Jünger, Heliopolis, S. 310 f. Jünger, Ortner über den Roman, S. 388. Jünger, Ortner über den Roman, S. 388. Vgl. Crescenzi, Die nächste Wahrheit des Romans, S. 84 f. – Zu Jüngers prognostischer Utopie vgl. Harro Segeberg, »Wir irren vorwärts«. Zur Funktion des Utopischen im Werk Ernst Jüngers. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 403–414. Schlegel, Athenäums-Fragmente, S. 180.
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Im Spannungsfeld von Textualisierung der Geschichte und erzähltechnischer Handlungssukzession wird eine ähnlich sinnstiftende Heterogenität von Gestaltung und Zeiträumlichkeit in Jüngers Eumeswil oxymorisch demonstriert.33 Was in diesem Roman geschieht, geschieht tatsächlich nie oder immer, abhängig vom räumlichen und zeitlichen Verlorengehen des sich als Anarch stilisierenden Ich-Erzählers Venator. Im Epilog des Bruders heißt es dazu: »Martin Venator, seit Jahren mit dem Tyrannen und seinem Gefolge verschollen, ist jetzt auch amtlich für tot erklärt worden.«34 Somit sieht sich der Leser gezwungen, mit dem Romanschluss, nachdem Martins Bruder sich als Herausgeber des Werks manifestiert hat, seine Haltung zum Erzählten von neuem zu überdenken, weil der gesamte Erzählerbericht nun als zukunftsungewisse Vorausdeutung der eskapistischen Neigungen Venators gelten muss: Eine Überraschung boten die Papiere, die erst vor kurzem in der Wildnis am oberen Sus entdeckt wurden. Jäger, die einem Büffel folgten, fanden sie in einem Bunker neben Waffen und Vorräten. […] Daß er sich dieses Versteck mit großer Mühe errichtete, zeugt für seine Skepsis und für geistigen Widerstand.35
Ursache dafür ist die gezielte Unvollständigkeit der vom auktorialen Standpunkt abgeleiteten szenischen Darstellung, die im Aufbau einer textinternen Zeitlosigkeit weiterhin die Umschreibung des Weltwissens leistet. Die plastische Wiederbelebung von historischen Ereignissen, die durch das nicht weiter erläuterte »Luminar« geleistet wird, befähigt die wissenschaftliche Elite Eumeswils, die Geschichte nicht nur urkundlich zu erfassen, sondern auch sinnlich zu erfahren und nachzuerleben. Wird die Vergangenheit folglich »nicht nur beschrieben, sondern auch gespielt«,36 so wird die von der Literaturtheorie des Novalis herbeigewünschte, aber als »noch ganz unbekannt« avisierte »qualitative Potenzierung«37 in der Textualisierungspraxis des Jünger’schen Romans umgesetzt. Die metahistorische Abbildung38 der von Novalis postulierten Abschaffung der Wahrnehmungsgrenze offenbart sich in der Auflösung der Erzählperspektive: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des 33
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Zur textanalytischen Erschließung der Struktur von Eumeswil, mit besonderer Rücksicht auf die Mitwirkung von Erzähler, fiktivem Herausgeber und Autor, vgl. Peter Uwe Hohendahl, Der unsichtbare Autor. Erzählstruktur und Sinngehalt in Ernst Jüngers Roman ›Eumeswil‹. In: DVjs, Bd. 83, 2009, S. 310–336. Jünger, Eumeswil, S. 378. Jünger, Eumeswil, S. 378. Jünger, Eumeswil, S. 306. Novalis, Logologische Fragmente. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, historisch-kritische Ausgabe in 4 Bänden, einem Materialienband und einem Ergänzungsband, hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, 3. Aufl., Darmstadt 1981, S. 522–563, hier S. 545. Zum Begriff des Metahistorischen bei Jünger vgl. Peter Koslowski, Die Rückkehr des Titanen Mensch zur Erde und das Ende der »Geschichte«. Jüngers Essay ›An der Zeitmauer‹ (1959). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 217–247.
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Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.«39 Eine solche, beinahe nihilistische Verabsolutierung des Erzählbaren, die zu dessen Steigerung über die Erlebnisfähigkeit hinausführt, ist durch die Wahrnehmungsskepsis bedingt, die in den Abschiedsworten des Historikers Vigo anklingt: »Wir scheitern nicht an unseren Träumen, sondern daran, daß wir nicht stark genug geträumt haben.«40 Sie erfolgt kurz vor der narrativen Problemlösung und der Verlegung des Werks, infolge der Herausgeberfiktion, in »ein archivarisches Gewissen«.41 Die Kongruenz der Bedeutung des Schlegel’schen ›jetzt‹ mit der ästhetischen Anschaulichkeit des Romans ist des weiteren auch bei Heliopolis zu ermessen. Hier trägt die Nullfokalisierung dazu bei, dass das Nie und das Immer, als Grundbegriffe der frühromantischen Chronologie der Poesie, eine Determinationsbestimmung erhalten, die die Engführung von Geschehen und Konzepten zum Text der Geschichte, d. h. die Romanschreibung, vorbereitet. Deklariert Friedrich Schlegel den Roman scheintautologisch als »romantisches Buch«,42 so wird diese literaturtheoretische Bedeutungszuweisung erst durch die medientechnische Eigenständigkeit des Romans als Buch vervollständigt. Der ästhetische Totalitätsanspruch eines Werks, an dem »man sieht, daß die Personen, Dinge, Orte im Kosmos eingebettet sind«,43 wird auch von Ortner in den Glossen zu Heliopolis aufgestellt und zielt auf eine Kunstform, die als »ein für sich bestehendes Ganzes«44 definiert werden kann. Selbst die These, dass es, Jünger zufolge, »zu allen Zeiten« nur »den klassischen Roman« gibt, »wenn man als klassisch die souveräne Absicht des Menschen, dem Ganzen in Ordnung zu begegnen, gelten lassen will«,45 weist auf den Willen hin, die epische Form als problematisierte Reflexion einer sprachlich und erzähltechnisch kategorisierbaren Vielfalt zu artikulieren. Dem modernen Roman, an dessen Entwicklungsprozess die für die Frühromantik charakteristische Verflechtung von Theorie und experimenteller Textproduktion ausschlaggebend ist, entspricht in den Augen von Georg Lukács die literarisch-ästhetische Konstruktion der Selbstdarstellung eines Zeitalters, »für das die Lebensimmanenz der Sinne zum Problem geworden ist«.46 Die frühromantische Literaturtheorie 39 40 41
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Novalis, Logologische Fragmente, S. 545. Jünger, Eumeswil, S. 376. Jünger, Eumeswil, S. 379. – Dazu Peter Uwe Hohendahl, Der unsichtbare Autor, S. 312–315. Friedrich Schlegel, Brief über den Roman. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. von Hans Eichner, München u. a. 1967, S. 329–339, hier S. 335. Jünger, Ortner über den Roman, S. 388. – Zur literarischen Weltordnung in Heliopolis vgl. Krah, Die Apokalypse als literarische Technik, S. 233–242. Schlegel, Brief über den Roman, S. 335. Jünger, Ortner über den Roman, S. 389. Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt/Neuwied 1981 (Sammlung Luchterhand 36), S. 47.
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hatte diese Distanz der Erfahrung zur Darstellbarkeit erkannt und bemühte sich sowohl um den praktischen Ausdruck als auch um die terminologische Präzisierung der kompositorisch-spekulativen Kompensation, wie sie in Novalis’ These »Ein Roman ist ein Leben, als Buch«47 zum Ausdruck kommt. In diesem Zusammenhang erweist sich Heliopolis – vor allem aufgrund der Verwurzelung des politisch stark gefärbten Erzählduktus in seiner historischen Kausalität, die zugleich utopisch und distopisch auf den vermittelten Oberflächendiskurs einwirkt – als besonders für die Erforschung von Affinitäten zwischen der Jünger’schen Erzähltechnik der Nachkriegszeit und der romantischen Auffassung des Dichtungsprozesses geeignet. Wird in Jüngers Roman das ›nie oder immer‹ des Schlegel’schen poetischen Zeitmaßes auf die Darstellung der politischen Zweifelsucht des Lucius de Geer projiziert, so erhält das Werk seine ästhetische Geschlossenheit durch die posthistorische Kritik an der Idee des Fortschritts und ihre Übertragung in die fiktionale Jetztzeit einer intensivierten textinternen Kommunikation. Gemeint ist hier die Oszillation zwischen einer durch de Geers Standpunkt vermittelten Erzählsituation und den mit der Einfügung (schein)parenthetischer Ausblicke erzielten Auslassungen. Letztere rechtfertigen gleichsam die durch den Untertitel des Romans Rückblick auf eine Stadt angedeutete Funktion als fiktionale bewahrende Erinnerung. Die »progressive Universalpoesie«, die – wie in Friedrich Schlegels Athenäum-Fragment 116 betont wird – »das Leben und die Gesellschaft poetisch machen«48 soll, verdeutlicht durch den Hinweis auf konkrete Dichtarten, wie besonders den Roman, die biographischliterarische Palingenese, die der Devise des Novalis innewohnt. In der aus der Erstfassung von Heliopolis getilgten Explikationsglosse über den Roman weist Jünger ein solches gattungstypologisches Bewusstsein nach, das es dem abstrakten Autor auf der fiktionalen Kommentarebene ermöglicht, die Dynamik von Realitätsbezug und erzählten Geschehensmomenten als eine kulturgeschichtlich konzipierte Sukzession in der literarischen Textgruppenbildung zu erörtern: Wir sahen – ich beziehe mich auf Früheres – daß das Epos dem Heroon, dem Geist der Gräber gewidmet ist und damit die Geschichte einleitet. Die Lyrik ruht in den Wurzeln und deutet die Urheimat an. Wohl setzen beide mehr an unaufgeteilter, unmittelbarer Dichterkraft voraus; dagegen ist der Roman umfassender. Erfahrung muß hinzutreten, wie sie nur Kenntnis und Einblick in den Weltenlauf verleiht. Daher kommt er spät erst zur Blüte, sei es im Leben der Völker oder des Einzelnen.49
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Novalis, [Teplitzer Fragmente]. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, historisch-kritische Ausgabe in 4 Bänden, einem Materialienband und einem Ergänzungsband, hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, 3. Aufl., Darmstadt 1981, S. 596–622, hier S. 599. Schlegel, Athenaeums-Fragmente, S. 182. – Über das Verhältnis des Jünger’schen gnostischen Systems zu Schlegels universeller Synthese vgl. Peter Koslowski, Dichterische und dichtende Philosophie. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, hg. von Günter Figal/Heimo Schwilk, Stuttgart 1995, S. 223–230. Jünger, Ortner über den Roman, S. 389.
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Die im Vergleich zur Lyrik spätere »Blüte« des Romans macht diesen Texttyp für die frühromantische Denkweise zum dichterischen Sinnbild des Modernen. Ähnlich wird in Jüngers, unter dem Namen des fiktionalen Dichters Ortner ausgeführten Betrachtungen, die als Einfügung in die Textur von Heliopolis auf einen metasprachlichen Ursprung hinweisen, angedeutet, dass der Roman als moderner Nachfolger des Epos und der Lyrik angesehen werden kann. Da Jünger sein Literaturverständnis in Bezug auf den Roman an der universellen Progressivität der frühromantischen Theorie orientiert, entwickelt er eine darauf basierende eigentümliche Ästhetik, die auch einige spätromantische Erzählmotive kompositorisch aufnimmt. Diese kulturgeschichtliche Horizonterweiterung, die das Romantische als Geisteshaltung in die Romantik als Epochenbegriff einbezieht,50 wirkt auf den metaphernreichen Stil des späten Jünger ein und wirkt mit seinen eschatologischen Tendenzen zusammen.51 Das treffendste Beispiel für die Rezeption solcher spätromantischer Themenstellungen bieten Jüngers Gläserne Bienen (1957). Dieser Roman manifestiert sich als Textualisierung halluzinatorischer biologisch-genetischer Gegenutopien, und zwar mit Anklängen an die Prosa E. T. A. Hoffmanns. Dabei handelt es sich jedoch um einen Beweis für eine sorgfältige Stoffrezeption ohne strukturspezifische Bedeutung. Bei Heliopolis hingegen handelt es sich im Falle der novellenartigen Einfügung Ortners Erzählung um die Zuspitzung der Konfrontation von Realismus und Phantastik, wie sie aus Hoffmanns Erzählkunst geläufig ist. Erst im Rahmen einer Erörterung der Grenzen des Darstellbaren des in Heliopolis herrschenden Erkenntnisuniversalismus,52 gelangt Jünger (in Gestalt Ortners) zur Auffassung einer Parzellierung des Ich: Ganz im Hoffmann’schen Stil des furchterregenden Augenarztes Fancy erläutert Ortner in seiner Berliner Geschichte die Ausformung der Welt in »zwei Schichten […], die im Verhältnis von Innen- und Außenseite stehen und von denen die eine höhere, die andere mindere Wirklichkeit besitzt«,53 als eine Folge der übersteigerten Entfaltung der Sinneswahrnehmung, insbesondere des Sehens. Während der Philosoph Serner eine Kunstauffassung vertritt, in der das Ewiggleiche mit seiner geschichtsbedingten Neuerscheinung dialogisch verknüpft wird – »Wie könnte man aber von der Form absehen? Ohne sie gäbe es keine Bewegung, keinen Stil. Zum Ausweis des Künstlers gehört, daß er das Ewiggleiche in stets neuer und unberührter Form erkennt. Die Überraschung ist nicht nur epochal – sie ist auch wesentlich«54 –, widerlegt der Dichter Ortner diese von der klassischen Theorie beeinflusste Position und setzt ihr den romantischen Analogieschluss eines 50
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Zu dieser Begriffsbestimmung vgl. etwa Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007. Vgl. Gerhart Pickerodt, Rausch und Distanz. Zu Jüngers später Ästhetik. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 339–347. Jünger, Heliopolis, S. 99–113 (Das Symposion). Jünger, Heliopolis, S. 122. Jünger, Heliopolis, S. 106.
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ästhetischen Theorems entgegen, indem er schlagfertig repliziert: »Dem Autor fließe das Beste in den Pausen zu, als Antwort aus dem Unendlichen«.55 Schon im Sizilischen Brief an den Mann im Mond hatte Jünger als »Urenkel eines idealistischen, Enkel eines romantischen und Sohn eines materialistischen Geschlechts« seine Vorstellung des stereoskopischen Blicks dargelegt, der einer blitzartigen Verbildlichung des Sinneseindrucks entspricht, »nicht etwa so, daß sich ein Entweder-Oder in ein Sowohl-Als-auch verwandelte. Nein«, fügt Jünger hinzu, »das Wirkliche ist eben so zauberhaft, wie das Zauberhafte wirklich ist.«56 In diesem Chiasmus ist die ästhetische Dimension der Poesie in Jüngers fiktionalem Werk der Nachkriegszeit vorweggenommen. Im Spannungsfeld von Wirklichem und Zauberhaftem, die ihre syntaktischen Funktionen tauschen, wohnt man nicht so sehr einer Neugestaltung des Immergleichen als vielmehr einer Durchdringung von Poesie und Philosophie bei, die in Opposition zu der von Serner verteidigten Vorherrschaft der systematischen Nachbildung der wesentlichen Form steht. Hierin, so wie in der vom Maler Halder verkündeten Farbenlehre (»Umschlossen von der Form, wie die Vokale von den Konsonanten, umschließt sie wiederum das Unaussprechliche« 57), zeigt sich das gleiche Streben nach der Grenzüberschreitung, das den frühromantischen Transzendenzbegriff als poetologischen Ansatz begreift. Exemplarisch präsentiert sich insofern die Ansicht Friedrich Schlegels, der zufolge die romantische Poesie »zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen«58 kann. Gerhart Pickerodt hat hinsichtlich der späten Ästhetik Ernst Jüngers, seine Aufmerksamkeit besonders auf Annäherungen fokussierend, auf eine »Ästhetik jenseits der Sinne« hingewiesen.59 Auch in Heliopolis löst sich das Tempo des Erzählens immer mehr in der auffallenden Zeitlosigkeit fiktional auf. In den metasprachlich ausgearbeiteten Kapiteln, in denen ästhetische Reflexion und politisches Geschehen miteinander verflochten sind, erreicht die Erzählung eine Verabsolutierung des ästhetischen Denkens. In Ortner über den Roman heißt es: »Das Ziel entfernt sich, indem wir es verfolgen […]. Kunstwerke zeichnen als zerbröckelnde Altäre unsere Bahn.«60 Im Spiegel dieses Anachronismus der Kunst gibt Ortners/Jüngers Romantheorie der Erzählung die Gelegenheit, sich über die Geschichte zu erheben. Durch die abschließende prononciertere Annäherung an ein Science-Fiction-Szenario 55
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Jünger, Heliopolis, S. 105. – Zur auktorialen Erzählsituation in Heliopolis als Versuch der Balance zwischen Vergangenheit und Zukunft vgl. Krah, Die Apokalypse als literarische Technik, S. 246–249. Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond, S. 22. Jünger, Heliopolis, S. 106. Schlegel, Athenäums-Fragmente, S. 182 f. Pickerodt, Rausch und Distanz, S. 342. Jünger, Ortner über den Roman, S. 389.
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bleibt der Text der Geschichte unterhalb der Erzählzeit, während diese einen von der Technik ermöglichten Abstand von de Geers politischem Erzählerstandpunkt gewinnt. Diesbezüglich kündigt die Schlussszene in Heliopolis auch eine Raumüberschreitung an: Phares hatte sie vorbereitet für die Fahrt. […] Die Vorbereitung bezog sich nicht auf Pässe und Zollpapiere, auch war sie weder hygienischer noch psychologischer Natur. Sie ging nicht auf besondere Weihen aus; sie zielte eher auf die Verwirklichung des Traumes durch Erhöhung der Imagination und ihrer Herrschgewalt. Die Rolle, die bei den Mauretaniern die Askese und bei Nigromontan die Lehre von den Oberflächen spielte, war hier der Überwindung der Schwere zugeteilt. Das war ein Wissen, das sicherer führte als jedes Visum — ein Ausweis existentieller Art. […] Merkwürdig war die Anheftung – wie durch ein Äderchen, ein Würzelchen, durch das es die andere Seite des großen Stromes zu erreichen galt. Das Einfache daran war das Erstaunliche. Dann stellte sich ein Bewußtsein des Überflusses ein und mit ihm Heiterkeit.61
Friedrich Schlegels Athenäums-Fragment 116 beleuchtet die »romantische Dichtart« von der Seite ihrer absoluten Anachronie. »Sie allein ist unendlich«, so Schlegel, »wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide«.62 Am Ende von Heliopolis manifestiert sich eine ähnliche dichterische Willkür, indem der Text die Geschehenssukzession unterbricht und die Universalität zusammen mit der Autarkie über den Erzählrahmen hinausgehen lässt. Die Auflösung der ästhetischen Erfahrung gleicht der »Überwindung der Schwere«, die de Geer jenseits der Darstellbarkeit projiziert. Durch Ortners Bemerkungen aber wird, in Übereinstimmung mit der frühromantischen Literaturtheorie, der mögliche Fortbestand des Kunstdiskurses außerhalb des Kunstwerkes behauptet: »Bald hat die Welt, bald hat der Traum uns nicht genügt. Doch Welt und Freiheit sinnvoll zu verknüpfen, bleibt unsere Aufgabe.«63
Literatur Primärliteratur Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Stuttgart 1978–2004. Novalis: Blüthenstaub. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, historisch-kritische Ausgabe in 4 Bänden, einem Materialienband und einem Ergänzungsband, hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, 3. Aufl., Darmstadt 1981, S. 413–470. 61
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Jünger, Heliopolis, S. 342. – Die Szene ähnelt übrigens einem anderen berühmten Finale, nämlich demjenigen in Blade Runner, Ridley Scotts Verfilmung von Philipp K. Dicks Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? Schlegel, Athenäums-Fragmente, S. 183. Jünger, Ortner über den Roman, S. 389.
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Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, historisch-kritische Ausgabe in 4 Bänden, einem Materialienband und einem Ergänzungsband, hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 1: Das dichterische Werk, Darmstadt 1977, S. 181–369. Novalis: Logologische Fragmente. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, historisch-kritische Ausgabe in 4 Bänden, einem Materialienband und einem Ergänzungsband, hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, 3. Aufl., Darmstadt 1981, S. 522–563. Novalis: [Teplitzer Fragmente]. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, historisch-kritische Ausgabe in 4 Bänden, einem Materialienband und einem Ergänzungsband, hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, 3. Aufl., Darmstadt 1981, S. 599. Schlegel, Friedrich: Brief über den Roman. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 2, S. 335. Schlegel, Friedrich: Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 3, München u. a. 1958 ff, Bd. 2, S. 245. Schlegel, Friedrich: Literatur. In: Erste Abteilung. Kritische Ausgabe. Bd. 3: Charakteristiken und Kritiken II (1802–1829), hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, München u. a. 1975, S. 3–16. Schlegel, Friedrich: Über Goethes Meister. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 3, München u. a. 1958 ff, Bd. 2, S. 126–146.
Sekundärliteratur Baron, Ulrich: Jüngers Erzählung ›Besuch auf Godenholm‹ (1952). ›Annäherungen‹ an ›Drogen und Rausch‹ (1970). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 199–216. Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978. Crescenzi, Luca: Die nächste Wahrheit des Romans. Ortners Epos-Vision in den Stücken zu Heliopolis. In: Prognosen, Jünger-Studien, Bd. 1, hg. von Gunter Figal/Georg Knapp, Tübingen 2001. Fürnkäs, Joseph: Ernst Jüngers ›Abenteuerliches Herz. Erste Fassung‹ (1929). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 59–76. Großheim, Michael: Der Zauber der Moderne. Ernst Jüngers Absage an die Kulturkritik. In: Prognosen. Jünger-Studien, Bd. 1, hg. von Gunter Figal/Georg Knapp, Tübingen 2001, S. 32–53. Hohendahl, Peter Uwe: Der unsichtbare Autor. Erzählstruktur und Sinngehalt in Ernst Jüngers Roman Eumeswil. In: DVjs, Bd. 83, 2009, S. 310–336. Hohendahl, Peter Uwe: Erzwungene Synthese. Ernst Jüngers Roman ›Heliopolis‹ als poetisch-theologisches Projekt. In: Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, hg. von Erhard Schütz/Peter Uwe Hohendahl, Essen 2009. Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004.
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Koslowski, Peter: Dichterische und dichtende Philosophie. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, hg. von Günter Figal/Heimo Schwilk, Stuttgart 1995, S. 223–230. Koslowski, Peter: Die Rückkehr des Titanen Mensch zur Erde und das Ende der »Geschichte«. Jüngers Essay ›An der Zeitmauer‹ (1959). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 217–247. Krah, Hans: Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers ›Heliopolis‹ (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 225–251. Kron, Jürgen: Seismographie der Moderne: Modernität und Postmodernität in Ernst Jüngers Schriften von ›In Stahlgewittern‹ bis ›Eumeswil‹, Frankfurt/M. u. a. 1998 (Studien zur deutschen und europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts 38). Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt/Neuwied 1981 (Sammlung Luchterhand 36), S. 47. Pickerodt, Gerhart: Rausch und Distanz. Zu Jüngers später Ästhetik. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 339–347. Prümm, Karl: Gefährliche Augenblicke. Ernst Jünger als Medientheoretiker. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 356–358. Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007. Segeberg, Harro: Prosa der Apokalypse im Medienzeitalter. Der Essay ›Über den Schmerz‹ (1934) und der Roman ›Auf den Marmor-Klippen‹ (1939). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 116–123. Segeberg, Harro: »Wir irren vorwärts«. Zur Funktion des Utopischen im Werk Ernst Jüngers. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 403–414. Willwock, Jörg: Rückblick in die Zukunft. Zum Verständnis von Historie in Ernst Jüngers ›Eumeswil‹. In: Unter Argusaugen: Zu einer Ästhetik des Unsichtbaren, hg. von Gerd Held/Carola Hilmes u. a., Würzburg 1997, S. 134–148.
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Die Ethik der Mußezeit und die Umwertung der Werte in der Romantik Silvio Vietta in Dankbarkeit gewidmet »…denn mit den andern Regeln der Vernunft und der Sittlichkeit ist auch die Zeitrechnung dabey ganz von mir vergessen worden«. F. Schlegel (Lucine. Ein Roman. Erster Theil. Berlin 1799, S. 10)
1. 1954 schrieb Ernst Jünger programmatisch: »Es wäre eine Aufgabe für sich, zu verfolgen, wie langsam, aber mit wachsender Beschleunigung die Uhr an Herrschaft gewinnt«.1 Seine Ethik und Lebenskunst der Faulheit im technischen Zeitalter lassen sich vor der Folie einer begriffsgeschichtlichen und sozialpsychologischen Analyse verstehen, die im Folgenden unternommen wird und deren Ziel es ist, die Entstehung des Ideals der Mußezeit in der Antike, seine Tabuisierung durch das bourgeoise Arbeitsethos und schließlich seine romantische Rehabilitierung zu erhellen. In diesem Sinn kann Jünger als ein Erbe der romantischen und antibürgerlichen Umwertung der Werte betrachtet werden. Nietzsche hat die durch das moderne Zeiterlebnis ausgelöste Katastrophe in ihrem Umfang gefühlt. In der Fröhlichen Wissenschaft (1882) diagnostizierte er die Beschleunigung des Lebenstempos als Folge der durch die »Jagd nach Gewinn«2 motivierten Arbeitshetze. Dementsprechend charakterisierte er den bourgeoisen Erwerbsmenschen als denjenigen, der zeitbesessen »mit der Uhr in der Hand«3 denkt, d. h. als den Menschentypus, dessen Denk- und Seinsweise das Ergebnis seiner Unterwerfung unter das kapitalistische Zeitregime ist. An dieser Gestalt verdeutlichte Nietzsche also auch den Verlust der Eigenzeit, der zeitlichen Dimension, die sich, getrennt von der Arbeitszeit, als Mußezeit genießen lässt. Außerdem führte er die moderne arbeitszentrierte Zeitökonomie auf einen Umwertungsprozess zurück, der die einst als pöbelhafte Tätigkeit gebrandmarkte Arbeit an Stelle des Müßiggangs inthronisiert hatte. Bei den Alten hatte die Arbeit nämlich »das schlechte Gewissen auf sich«, und der Sklave »arbeitete unter dem Druck des Gefühls, dass er etwas Verächtliches thue«, weil nur »otium et bellum«4 als die einzigen vornehmen Tätig1
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Ernst Jünger, Das Sanduhrbuch. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 12: Essays VI: Fassungen I, Stuttgart 1979, S. 101–250, hier S. 167. Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft [1882]. In: ders.: Kritische Studienausgabe. Bd. 3, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Auflage, Berlin/New York 1988, S. 343–651, hier S. 556. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, S. 556. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, S. 557.
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keiten galten.5 An diesen Gedanken knüpft Jünger an, wenn er seine Romanfigur Leutnant Sturm räsonnieren lässt: »In solchen Einöden [scil. den Schlachtfeldern des Weltkrieges] ist der Mensch der Vita contemplativa besser daran«, dachte Sturm, als er das Kochgeschirr auf den Boden stellte und zwischen den Papieren wühlte, um endlich ein halbbeschriebenes Blatt hervorzuziehen.6
Leutnant Sturm mag zum Müßiggang befähigt sein, doch ist er zugleich gedanklich rege, von seinen Interessen in Anspruch genommen und mit seinen Aufzeichnungen beschäftigt. Er kennt wie sein Autor kein Phlegma, und so heißt es folgerichtig im Abenteuerlichen Herzen: »Aber der Geist geht niemals müßig, denn Geist und Müßiggang schließen sich aus«.7 Hier erweist sich Jünger als Repräsentant der Moderne, in der die antike Wertehierarchie auf den Kopf gestellt worden ist mit der Folge, dass der Arbeit »immer mehr alles gute Gewissen« zufiel, wohingegen die »vita contemplativa«8 in Misskredit geriet.9 Es war vor allem Seneca, der diesen Begriff des beschaulichen Lebens und des Genusses der Eigenzeit als Mußezeit in der Antike entwickelte. Wie Max Pohlenz betont hat, charakterisierte sich die Ethik der kaiserlichen Stoa, die in der »unablässigen Arbeit an sich selbst« die eigentliche Lebensaufgabe sah, durch die »Konzentration auf das Ich und das persönliche Seelenheil«.10 Um es in Foucaults Terminologie zu sagen, stellte sich die stoische Lebenskunst deswegen als eine Selbstethik dar, die bestimmte »Selbstbeziehungen« beinhaltete, »in denen man sich selbst zum Erkenntnisgegenstand und Handlungsbereich nehmen soll, um sich umzubilden, zu verbessern, zu läutern, sein Heil zu schaffen«.11 Dies implizierte auch, dass ein solcher »Selbstgestal5
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Dazu hat Pohlenz bemerkt: »Wortführer der öffentlichen Meinung blieben die adeligen Kreise, und ihnen ging der Sinn für eine gerechte Wertung der Arbeit immer mehr verloren. Gerade gegenüber dem Emporstreben der anderen Stände legten sie sich auf die Anschauung fest, daß wahres Mannestum sich nur in Krieg, Sport und vornehmer Lebenshaltung betätige und sie allein durch ihre Abstammung zu solcher Arete fähig seien. Nur sie fühlten sich als die ›Guten‹. Wer sich mit seiner Hände Arbeit sein Brot verdienen mußte, hieß ihnen der ›Mühebeladene‹, der πονηρός, und das Wort nahm schnell den Klang des moralisch Minderwertigen, ›Schlechten‹ an« (Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1949, S. 356). Ernst Jünger, Sturm. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 15: Erzählende Schriften I: Erzählungen, Stuttgart 1978, S. 9–74, hier S. 30. Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III, Stuttgart 1979, S. 31–176, hier S. 52. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, S. 557. Zu Nietzsches »kulturkritisch verdünntem romantischem Antikapitalismus« und dessen Sehnsucht nach dem »verloren gegangenen patriarchalisch-vorkapitalistischen Paradies« vgl. Georg Lukács, Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden? [1933], Budapest 1982, S. 84. Pohlenz, Die Stoa, S. 299. Michel Foucault, Die Sorge um sich. In: ders.: Die Hauptwerke, Frankfurt/M. 2008, S. 1369–1582, hier S. 1408.
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ter seines Lebens«,12 wie ihn Seneca im Traktat Vom glücklichen Leben nannte, dem stoischen Grunddogma der Dihairesis gemäß nie »die Scheidung von Eigenem und Frendem«13 aus den Augen verlieren sollte. Diesem Dogma zufolge hatte man immer zwischen den Außendingen, die nicht in unserer Macht stehen, und den innerlichen und immer zugänglichen Gütern zu unterscheiden, um dadurch die Einstellung der Prohairesis einnehmen zu können, die darin bestand, sich einzig um sein Inneres zu sorgen.14 Seneca sah auch die Zeit als eines dieser Güter an. »Nichts«, schrieb er im ersten Brief an Lucilius, »ist unser wahres Eigentum außer der Zeit«.15 Dieses Eigentum war aber zu behüten, wie es in Von der Kürze des Lebens heißt, da sich der Einzelne nur dadurch als der Weise konstituieren konnte, dass er, im Unterschied zu »den mit Geschäften Belasteten«,16 ein volles Leben »fern von aller unfreien Geschäftigkeit führend«, seine ganze Eigenzeit gewissermaßen ›kapitalisierte‹ und ›bewirtschaftete‹17 und somit nicht zögerte, »wann auch immer der letzte Tag kommt, […] festen Schrittes in den Tod zu gehen«.18 Darüber hinaus hatte das Leben des Weisen »einen weiten Spielraum«, zumal er, »sich über die dem Menschengeschlecht gesetzten Schranken« erhebend, die Vergangenheit »mit seiner Erinnerung« umspannte, die Gegenwart ausnutzte und sich die Zukunft »im voraus«19 zu Eigen machte, so dass Foucault die damit einhergehende Selbsterfahrung mit Fug und Recht als »die Erfahrung einer Freude« bezeichnet hat, die der Philosoph »an sich selber hat«.20 Die vergangene Zeit erschöpfte sich überdies nicht in seinem ›Kapital‹ von Erlebnissen, weil er sein Leben durch die Hinwendung zur Philosophie auf die vergangenen Epochen auszudehnen vermochte, in denen frühere Denker gelebt hatten. 12 13 14
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Seneca, Philosophische Schriften, Wiesbaden 2004, S. 14. Pohlenz, Die Stoa, S. 332. Dazu hielt Epiktet mit diesen Worten an: »Von den Dingen stehen die einen in unserer Gewalt, die andern nicht. In unserer Gewalt steht unser Denken, unser Tun, unser Begehren, unsere Abneigung, kurz: alles, was von uns selber kommt. Nicht in unserer Gewalt steht unser Leib, unsere Habe, unser Ansehen, unsere äußere Stellung – mit einem Wort, alles, was nicht von uns selber kommt. […] Sei dir also bewußt: Hältst du für frei, was seiner Natur nach unfrei ist, und für dein eigen, was fremd ist, so wirst du viele Schwierigkeiten haben, Aufregung und Trauer, und wirst mit Gott und allen Menschen hadern« (Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, Stuttgart 1984, S. 21). In Von der Gemütsruhe schrieb Seneca dazu: »Jedenfalls aber muß die Seele, von allem Äußerlichen absehend, sich ganz in sich selbst sammeln, muß volles Vertrauen zu sich gewinnen, muß an sich selbst ihre Freude haben, muß, was ihr gehört, hoch achten, was ihrem Wesen fremd ist, möglichst von sich fernhalten und mit sich selbst in Einvernehmen bleiben« (Seneca, Philosophische Schriften, S. 100 f.). Seneca, Philosophische Schriften, S. 2. Seneca, Philosophische Schriften, S. 128. »In einer amtlichen Tätigkeit«, ermahnt Seneca Paulinus, »erwirbst du dir Liebe; aber gleichwohl, glaube mir, ist es besser, mit dem Stande der Lebensrechnung vertraut zu sein als mit dem der staatlichen Getreiderechnungen« (Seneca, Philosophische Schriften, S. 145). Seneca, Philosophische Schriften, S. 131. Seneca, Philosophische Schriften, S. 141. Foucault, Die Sorge um sich, S. 1430.
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Das war auch die Meinung von Francesco Petrarca, der in seiner Abhandlung über Das einsame Leben (1346) in Anlehnung an Seneca21 feststellte, dass sich der Müßiggänger mit den hervorragenden Männern der Vergangenheit unterhalten22 und über seine ganze Lebenszeit verfügen konnte.23 Mehr noch: Er gewann dadurch den Zugang zu seinem Inneren wieder24 und war mithilfe von einsamen Selbstgesprächen in der Lage, sich zu sammeln, um sich Gott zuzuwenden: »Dieser Einsame betrachtet in Ruhe und Muße den Lauf der Zeit und lebt sein Leben ohne Hast und Hetze«.25 Nun stellt sich aber die Frage, wie es im Laufe der Neuzeit zur Verurteilung der zuvor ethisierten Mußezeit gekommen ist. Eine Antwort darauf lässt sich dank der Untersuchungen von Norbert Elias zum Wandel des modernen Zeiterlebens geben. In Über den Prozeß der Zivilisation (1939) hat Elias die Theorie dargestellt, der zufolge »die Modellierung zu einem zivilisierten Wesen«26 die Bearbeitung des psychischen Apparats des Einzelnen zum Zweck der »Umformung der Fremdzwänge in Selbstzwänge«27 und damit der »Über-Ich-Bildung«28 erfordert. Zu diesen »Modellierungserscheinungen«29 gehört auch die »Verwandlung des Fremdzwangs der sozialen Zeitinstitution«, repräsentiert durch Uhren, Kalender und Fahrpläne, »in ein das ganze Leben umgreifendes Selbstzwangmuster«,30 mit der Folge, dass der Einzelne von klein auf lernt, sein eigenes Verhalten nach einem kollektiven Zeitschema zu steuern. Nichtsdestoweniger funktioniert die so entstandene Selbstkontrollapparatur nicht immer blind und automatisch, denn es kommt oft zu »Revolten des einen Teils im Menschen gegen den anderen«,31 d. h. der unterdrückten Triebregungen gegen den internalisierten Zeitzwang. Ähnlich beobachtet Jünger eine »zunehmende Regulierung« des Selbst, und als Gegenbewegung den Versuch, 21
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Zu dieser Abhandlung hat Marlene Meuer angemerkt: »In letzter Gestalt bietet sich der Traktat aber nicht in Briefform, sondern als ganze Enzyklopädie des einsam-asketischen Lebens dar. Entschieden übernimmt Petrarca hier die stoische Lebenslehre, um ihr eine christliche Gestalt zu verleihen« (Marlene Meuer, Petrarcas Begründung der humanistischen Moralphilosophie: Rezeption und Relativierung der stoischen Tradition. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, hg. von Barbara Neymeyr u. a., Bd. 2, Berlin/New York 2008, S. 425–452, hier S. 426). Francesco Petrarca, De vita solitaria [1346]. In: ders.: Opere latine, Bd. I, hg. von Antonietta Bufano, Torino 1975, S. 261–565, hier S. 332. Petrarca, De vita solitaria, S. 372. Petrarca, De vita solitaria, S. 284. Harald Weinrich, Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens, München 2005, S. 39. – Dazu Petrarca, De vita solitaria, S. 417. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, Frankfurt/M. 1997, S. 343. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, S. 353. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, S. 362. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, S. 343. Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt/M. 1984, S. XVIII f. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, S. 341 f.
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»Zonen zu schaffen, die der rastlosen Veränderung entzogen sind«.32 Doch in einer regulierten Welt gerät sofort in Verdacht, wer »sich den empirischen Verhältnissen zu entziehen«33 versucht. Der Selbstregulierung gemäß den sozialen Zeitrhythmen gab die Industriegesellschaft einen gewaltigen Impuls, weil die Zeit als »Produktivitätsfaktor«34 entdeckt wurde und weil infolgedessen eine neuartige »Ökonomie der Zeit«35 verlangte, dass man innerhalb derselben Zeiteinheit mehr produzieren musste. Darin zeigte sich das für die kapitalistische Zivilisation charakteristische »Prinzip der auf Kalkulation, auf Kalkulierbarkeit eingestellten Rationalisierung«,36 das Lukács zufolge »sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft«37 erfasst und zur Ausschaltung ihrer qualitativen Dimension führt. In der Industriegesellschaft, in der die Uhr laut Marx »der genaue Messer« für die Arbeitsleistungen geworden ist, verliert die Zeit selbst »ihren qualitativen, veränderlichen, flußartigen Charakter: sie erstarrt zu einem genau umgrenzten, quantitativ meßbaren, von quantitativ meßbaren ›Dingen‹ […] erfüllten Kontinuum: zu einem Raum«,38 was den Abschied von den »anders (naturwüchsig) produzierenden und dementsprechend lebenden«39 vorkapitalistischen Gemeinschaften markiert. In der Moderne spielen die Uhren also eine entscheidende Rolle als Mittel zur Unterwerfung der Arbeiter unter die produktive Zeitdisziplin. Jacques Le Goff hat aber gezeigt, dass diese Disziplinierung der Arbeit durch solche Apparate schon im 14. Jahrhundert einsetzte, als die französischen Kaufleute die ersten Glockentürme errichten ließen, um die Arbeitszeit zu regulieren.40 Die bürgerliche Gesellschaftsordnung etablierte sich deshalb seit ihrer Frühphase als eine »uhrenhafte 32
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Ernst Jünger, Der Arbeiter. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Essays II: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 15–317, hier S. 185. Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III, Stuttgart 1979, S. 31–176, hier S. 200. Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt/M. 1989, S. 99. Nowotny, Eigenzeit, S. 49. Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein [1923]. In: ders.: Werke, Bd. 2, Darmstadt/Neuwied 1968, S. 161–517, hier S. 262. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 266. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 264. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 265. Jacques Le Goff/Nel Medioevo, »Tempo della Chiesa e tempo del mercante«. In: ders.: Tempo della Chiesa e tempo del mercante. E altri saggi sul lavoro e la cultura del Medioevo, Torino 1977, S. 1–20, hier S. 13. – Lewis Mumford hat die Wichtigkeit der Erfindung der mechanischen Uhr zur Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehoben: »The clock, not the steam-engine, ist the key-machine of the modern industrial age. […] But here was a new kind of power-machine, in which the source of power and the transmission were of such a nature as to ensure the even flow of energy throughout the works and to make possible regular production and a standardized product« (Lewis Mumford, Technics and Civilization, London 195, S. 14–15).
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Ordnung«,41 und es ist nicht verwunderlich, dass die englischen Luddisten oft die Uhr zerschlugen, die über dem Fabrikseingang angebracht war.42 Zur Festigung der Marktwirtschaft wurde auch die Verinnerlichung der von ihr geforderten Zeitdisziplin bezweckt. Man denke an Robinson Crusoe als den Inbegriff des puritanischen zeitregulierten Wirtschaftsmenschen: »Unser Robinson«, schrieb Marx, »der Uhr, Hauptbuch, Tinte und Feder aus dem Schiffbruch gerettet, beginnt als guter Engländer bald Buch über sich selbst zu führen«43 und »seine Zeit genau zwischen seinen verschiednen Funktionen zu vertheilen«.44 Von dieser Selbstdisziplin mag »so mancher schlechte Schüler« schon in drei Nächten mehr gelernt haben, »als sein Schulmeister sich träumen ließ«45, wie Ernst Jünger im Abenteuerlichen Herz bemerkte. Und es war Werner Sombart, der darauf hinwies, dass schon die mittelalterliche katholische Ethik die Zeitvergeudung und den Müßiggang verurteilt und dass sie dadurch die bürgerliche Lebensführung legitimiert hatte.46 All dies war in letzter Analyse vor dem Hintergrund der für das »Ökonomische Zeitalter« typischen Umwertung der Werte begreiflich, in deren Zuge »die wirtschaftlichen und damit im Zusammenhange die sogenannten ›materiellen‹ Belange eine Vorherrschaft vor allen übrigen Werten beansprucht und erobert haben«, so dass »die Eigenart der Wirtschaft allen übrigen Bereichen der Gesellschaft und der Kultur ihr Gepräge aufgedrückt hat«.47 Ein beredtes Zeugnis dafür legt die Zeitgebrauchslehre des italienischen Humanisten Leon Battista Alberti ab, den Sombart als »den vollendeten Typus des ›Bürgers‹«48 definierte. In seinen Dialogen Über die Familie (1437–1441) schrieb er, dass die Zeit das einzige Eigentum des Menschen war,49 und forderte demzufolge auf, dieses optimal in die Geschäfte zu investieren, statt es zu verschwenden. Mit Leon Battista Alberti gipfelte das frühkapitalistische Arbeitsethos also in der Verkehrung und in der Umfunktionierung der stoischen Lehre der Dihairesis und der senecanischen Ethik der Zeitsouveränität zur Begründung der Hinwendung zum zeitregulierten und arbeitsorientierten bürgerlichen Leben. Die dazu motivierende Theorie beraubte aber den Menschen letzten Endes der Muße41 42 43
44 45 46
47 48 49
Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik, Frankfurt/M. 1953, S. 51. Nowotny, Eigenzeit, S. 49. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1: Der Produktionsprocess des Kapitals, Hamburg 1867, S. 37. Marx, Das Kapital, S. 36. Jünger, Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung, S. 52. Sombart hat dazu bemerkt: »Aber nicht nur die Verschwendung: auch andere Feinde der bürgerlichen Lebensführung bekämpft die christliche Ethik und verdammt sie als Sünden. Vor allem den Müßiggang (otiositas), der auch für sie der ›Anfang alles Lasters‹ ist. Der Müßiggänger sündigt, weil er die Zeit, dieses kostbarste Gut, vergeudet; er steht tiefer als alle Kreatur; denn alle Kreatur arbeitet in irgendeiner Weise: nichts geht müßig« (Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München/Leipzig 1913, S. 310). Werner Sombart, Deutscher Sozialismus, Berlin Charlottenburg 1934, S. 1. Sombart, Der Bourgeois, S. 136. Leon Battista Alberti, I libri della famiglia, Torino 1969, S. 218.
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zeit, da die ganze Lebenszeit nun restlos mit der Arbeitszeit zusammenfiel. Der Homo oeconomicus stellte sich somit als ein zeitlich eindimensionaler Menschentypus dar, der darüber hinaus jede Möglichkeit zur erinnerungszentrierten Selbstzuwendung (Seneca) und zur einsamen Selbstbesinnung (Petrarca) verlor. 2. Der Denker, der den Müßiggang in der Moderne durch seine eigene Lebensführung aufwertete, war Rousseau. Nicht von ungefähr wandte er sich in der autobiographischen Schrift Rousseau als Richter des Jean-Jacques (1780) gegen Diderot, der im Anhang zum Fils naturel (1757) die These vertreten hatte, dass nur der Böse die Einsamkeit liebte. Diese Behauptung resultierte in den Augen Rousseaus aus der pervertierten Entwertung der bis dahin hochgeschätzten Liebe zum einsamen Leben.50 Dieser autobiographische Text dokumentiert auch Rousseaus Abneigung gegen die von außen erzwungene Einteilung des Lebens, die in der folgenden Stelle zum Ausdruck kommt: Arbeit kostet ihn nichts, wenn er sie nur zu seiner Zeit und nicht zu der eines anderen unternimmt. […] Er würde lieber doppelte Arbeit nach seiner Zeit machen als einfache zu einer vorgeschriebenen Zeit. […] Der Augenblick, in dem er jedem Glücksprojekt entsagte, um den Tag zu leben, und seine Uhr wegwarf, war einer der süßesten seines Lebens. Dank sei dem Himmel, rief er in einem Ausbruch von Freude, ich werde nie mehr nötig haben zu wissen, wie viel Uhr es ist!51
In den Träumereien eines einsamen Spaziergängers (1782) verbindet sich das Thema der Mußezeit mit dem der Einzigartigkeit des modernen Individuums. Im Unterschied zu den von Seneca und Petrarca verherrlichten Einsamen, die sich freiwillig für die Weltabkehr entscheiden, sieht sich Rousseau dazu gezwungen, weil er, gezeichnet durch das Stigma seiner mit dem Gesellschaftsleben unversöhnlichen Einmaligkeit, von seinen Mitmenschen geächtet wird. Das »absolute Ich«52 fühlt sich deshalb »auf dieser Erde so unheimisch«, als wäre es »von einem anderen Planeten herabgefallen«, und was es in der Umgebung wahrnimmt, verursacht ihm »entweder empörte Verachtung oder schmerzliche Betrübnis«,53 so dass es den Entschluss fasst, sich in sich selbst zurückzuziehen und um sich selbst zu sorgen. Der ausschlaggebende Anlass zur selbstzentrierten Prohairesis und damit zur Hinwen50
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Dazu notierte Rousseau: »Bis dahin hatte man Liebe zur Einsamkeit als für eines der untrüglichsten Zeichen einer friedlichen und gesunden Seele gehalten, die frei von Ehrgeiz, Neid und all den brennenden Leidenschaften ist, den Kindern der Eigenliebe, die in der Gesellschaft entstehen und gähren. Statt dessen ist jetzt durch einen unerwarteten Federstrich dieser friedliche und sanfte Geschmack, der sonst so allgemein bewundert wurde, auf einmal in eine höllische Wut verwandelt, sind in einem Augenblick so viele geachtete Weise, und selbst Descartes, in ebenso viele scheußliche Menschenfeinde und Schurken verwandelt« (Jean-Jacques Rousseau, Rousseau als Richter des Jean-Jacques. In: ders.: Schriften, Bd. 2, Frankfurt/M. 1988, S. 253–636, hier S. 401). Rousseau, Rousseau als Richter des Jean-Jacques, S. 467. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Reinbek bei Hamburg 1956, S. 23. Jean-Jacques Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, Stuttgart 2003, S. 14.
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dung auf sich selber ist also die existenzielle Lage des modernen Einzelgängers. Dieses Selbst weist außerdem stark ausgeprägte individuelle Eigenschaften auf, die Rousseau erforschenswert erscheinen54 und die er durch das Schreiben zutage fördern will. Damit taucht auch der moderne Begriff der Individualität als der für jedes Subjekt konstitutiven und zu verwirklichenden Eigennatur auf. Im Zeichen dieses modernen »Individualismus der Einzigkeit«55 betont Rousseau die Einmaligkeit seiner selbst sowie die Notwendigkeit, sie beharrlich zu bewahren. Er zieht es vor, schreibt er nämlich, selbst in Armut zu sein, als wie einer seiner reichen Feinde zu leben.56 Mehr noch: Er charakterisiert die Lebenskunst des Müßiggangs als den Schlüssel zur Totalität des individuellen Selbst, indem er bemerkt, dass nur die Mußezeit es ihm ermöglichte, völlig er selbst zu sein.57 Die Selbstethik der Mußezeit nimmt also die Form einer modernen individualistischen Selbstethik an, weil sie sich jetzt auf die Konstitution nicht des seine Eigenzeit souverän besitzenden Weisen Senecas, sondern eines selbstseienden Individuums richtet. 3 Um die Bedeutung der romantischen Revolte gegen die kapitalistische Zeitdisziplin zu erfassen, ist dieses Phänomen in den allgemeinen Denkrahmen der Romantik einzuordnen. Nach Michael Löwy und Robert Sayre repräsentierte die europäische Romantik »a critique of […] modern capitalist civilization, in the name of values and ideals drawn from the past (the precapitalist, premodern past)«.58 Die Romantiker hegten demnach den Traum der ›Reinthronisierung‹ der qualitativen Werte59 der Vergangenheit, an deren Stelle die bloß quantitativen Werte des »Öko54
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»Die vorliegenden Blätter sind, genau betrachtet, nur ein formloses Tagebuch meiner Träumereien. Es wird darin viel von mir die Rede sein, weil, wer einsam ist und dabei nachdenkt, sich zwangsläufig viel mit sich selbst beschäftigt. […] Man lernt hier die Gefühle und Gedanken kennen, die, seit ich mich in dieser seltsamen Situation befinde, die einzige Ergötzung sind, die mein Geist sich täglich gönnen kann« (Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 15). Zur modernen Methode der literarischen Subjektivität und ihrem Plan, die emotionale Seite des Ichs zu untersuchen, siehe: Silvio Vietta, Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, München 2005, S. 371 f. Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft). In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 16, Frankfurt/M. 1999, S. 59–149, hier S. 146. »Gleichviel: nicht einmal in diesem bedauernswerten Zustand möchte ich meine Existenz und mein Schicksal mit dem Glücklichsten unter ihnen tauschen. Sogar in meinem Elend noch möchte ich lieber ich selber sein als einer jener Leute in ihrem Wohlleben« (Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 141). »Nur in diesen Stunden der Einsamkeit, da ich Gelegenheit zum Nachsinnen habe und mich nichts ablenkt oder stört, bin ich ganz und gar ich selbst und gehöre mir allein; nur in diesen Stunden kann ich ehrlicherweise von mir behaupten zu sein, wie die Natur mich wollte« (Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 19). Michael Löwy/Robert Sayre, Romanticism against the Tide of Modernity, Durham/London 2001, S. 17. Bezeichnenderweise hat Isaiah Berlin die Romantik als »this violent revolt of […] quality against quantity« (Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism, Princeton 1999, S. 48) definiert.
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nomischen Zeitalters« getreten waren, und plädierten somit für eine Umwertung der Werte, die Sombart im Geist der Romantik mit diesen Worten verfocht: Das ökonomische Zeitalter hat […] in seinem Gefolge eine Ueberwertung der materiellen Güter und damit den Primat der Wirtschaft gebracht. Diese Herrschaft muss gebrochen werden. Wir müssen uns wieder auf die wahre Rangordnung der Werte besinnen, müssen inne werden, daß über den Nützlichkeits- und Annehmlichkeitswerten höhere Werte stehen. Das sind aber die Werte des Heiligen, die Werte des Geistes und des Lebens (die vitalen Werte).60
Mehr noch: Wie der junge Lukács in Die Seele und die Formen (1911) hervorhob, träumten die Frühromantiker davon, »eine ganze Welt umzuformen und neuzuschaffen«61 und »aus dem Chaos eine neue, harmonische, alles umfassende Kultur zu schaffen«.62 Zu diesem Zweck hielten sie es für notwendig, das Gesamtdasein überhaupt umzuwandeln, so dass Hermann Gschwind die Romantik treffend als »eine Bewegung des ganzen Lebens«63 bezeichnete, die durch den Plan charakterisiert war, »durch die Dichtung auf das Leben direkt umgestaltend einwirken zu wollen«.64 Darüber hinaus deutete Herbert Marcuse in seiner Doktorarbeit über Den deutschen Künstlerroman (1922) diese literarische Gattung als den Ausdruck des Unbehagens des »romantischen Künstlermenschen«65 an der bürgerlichen Zivilisation, der dieser seine »eigene Lebensform«66 entgegensetzte, und in Der eindimensionale Mensch (1964) wurde in Fortführung dieser Gedankengänge die These aufgestellt, dass die Literatur, »welche der Ordnung des Geschäfts unversöhnlich antagonistisch gegenüberstand, sie anklagte und verneinte«,67 das Verdienst hatte, durch antibürgerliche Gestalten wie etwa die des Künstlers, des Verbrechers oder des Narren »Bilder einer anderen Lebensweise«68 vor Augen zu führen. Im Übrigen beklagte schon Schiller die verkrüppelte Existenzweise und die verfehlte Identität des Homo capitalisticus als Folgen der bürgerlichen Gesellschaft. In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) stellte er fest, dass sich der Bürgermensch im Banne der Suche nach dem Nutzen, »dem großen Idol der Zeit«,69 auf einen Teilmenschen reduziert hatte, der nur der »Abdruck seines 60 61 62 63 64 65
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Sombart, Deutscher Sozialismus, S. 162. Georg Lukács, Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 111. Lukács, Die Seele und die Formen, S. 93. Hermann Gschwind, Die ethischen Neuerungen der Frühromantik, Bern 1903, S. 56. Gschwind, Die ethischen Neuerungen der Frühromantik, S. 6. Herbert Marcuse, Der deutsche Künstlerroman [1922]. In: ders.: Schriften, Bd. 1: Der deutsche Künstlerroman. Frühe Aufstätze, Frankfurt/M. 1978, S. 7–344, hier S. 108. Marcuse, Der deutsche Künstlerroman, S. 12. Herbert Marcuse, Der Eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft [1964], München 1994, S. 78. Marcuse, Der Eindimensionale Mensch, S. 79. Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Leipzig 1875, S. 103.
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Geschäfts«70 war. Der Verzicht auf eine abgerundete und geglückte Identität war also der für die Anpassung an das arbeitsteilige Erwerbsleben zu zahlende Preis. Ein noch düstereres Bild der arbeitsbesessenen Lebensweise des modernen Menschen mit Blick auf dessen Zeiterleben zeichnete aber Wackenroder im Text mit dem Titel Ein wunderbares morgenländisches Märchen von einem nackten Heiligen (1799). Der Held dieses Kunstmärchens ist ein Anachoret, dessen Lebensform die negativen Folgeerscheinungen des modernen Zeitgewissens verdeutlicht. Er hört nämlich »unaufhörlich in seinen Ohren das Rad der Zeit seinen sausenden Umschwung nehmen« und steht im Banne »der gewaltigen Angst, die ihn in immerwährender Arbeit«71 anstrengt. Er hat also die aus der Geldwirtschaft abgeleitete Zeitökonomie derart verinnerlicht, dass sie zu einem Bestandteil seines Über-Ichs geworden ist. Er kann demnach nicht umhin, diejenigen zu geißeln, die sich einem »taktlosen Geschäft« widmen, und in Panik zu geraten, sooft er versucht, »den schwindligten Wirbel zu unterbrechen«,72 d. h. das Joch des arbeitszentrierten Zeitregimes abzuschütteln. In diesem Sinn erscheint der Anachoret Wackenroders als der negativ konnotierte Gegentyp zu dem von Leon Battista Alberti verherrlichten zeitdisziplinierten Bourgeois, denn ersterer leidet unter seiner Unfähigkeit, »irgend etwas auf Erden zu tun«,73 d. h. unter dem Verlust seiner ganzen Eigenzeit. Nicht bei Wackenroder, sondern zwischen Goethe (»und aller Wille ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten«; Urworte, orphisch) und Novalis stehend, beobachtet Jünger, wie die Pflanze, »obwohl selbst kaum beweglich«, »das Bewegte in ihren Bann«74 zwingt. Eine scharfe Kritik am bürgerlichen Lebenstempo verwebt sich in Novalis’ Christenheit oder Europa (1799) mit der Klage über die Ablösung von »Glauben« und »Liebe« durch »die derben Früchte, Wissen und Haben«,75 und sie mündet in das (implizite) Plädoyer für die Wiedergewinnung eines Erlebnistyps, der kapitalistischen Wirtschaftsordnungen vorausliegt. Dies erhellt, dass die Romantik als erlebnishafte Gegenbewegung zur bürgerlichen Zivilisation auch bezweckte, den »Lebenselementen und Lebenshaltungen«, die »durch den kapitalistisch-rationalen Zug verdrängt wurden«,76 eine neue Dignität 70 71
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Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 149. Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ein wunderbares morgenländisches Märchen von einem nackten Heiligen. In: ders.: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst, Jena 1910, S. 157. Wackenroder, Ein wunderbares morgenländisches Märchen von einem nackten Heiligen, S. 159. Wackenroder, Ein wunderbares morgenländisches Märchen von einem nackten Heiligen, S. 159. Ernst Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 11: Essays V, Stuttgart 1978, S. 45. Novalis, Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa, Stuttgart 1984, S. 70. Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt/M. 1984, S. 85.
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zu verleihen, um dadurch die Funktion der »Erbin« eines antimodernen »Denkund Lebensstils«77 auszuüben. Novalis beschränkte sich nämlich nicht darauf, für eine christliche Wiederverzauberung Europas zu plädieren, sondern er wertete die Mußezeit als ein Mittel zur Wiederbelebung der Empfänglichkeit für das Heilige auf, die die kapitalistische Gesellschaft ihm zufolge erstickt hatte. Unter dem »Drucke des Geschäftlebens«,78 schreibt Novalis, findet die Flucht der Götter statt, verscheucht durch »den unruhigen Tumult zerstreuender Gesellschaften«,79 weil der Homo oeconomicus diesseitsorientiert auf der fieberhaften Suche nach »den Mitteln des Wohlbefindens«80 ist. Demzufolge bleibt ihm »keine Zeit zum stillen Sammeln des Gemüts, zur aufmerksamen Betrachtung der innern Welt«81 übrig. Ähnlich wie Petrarca fasst Novalis also die Mußezeit als ein Mittel zur Öffnung für die Transzendenz auf, aber das Neuartige an seinen Bemerkungen dazu ist, dass er die Abwendung vom hektischen Erwerbsrhythmus der bürgerlichen Daseinsweise als die Bedingung zur Wiedergewinnung einer davon getrennten Mußezeit und dadurch zur Rekonstituierung eines innerlichkeitsorientierten und transzendenzzugewandten Subjekts erachtet. Die Rehabilitierung der Mußezeit mündet also in den Entwurf eines antibürgerlichen Menschentypus, in dem, in den Worten Werner Sombarts, die »dynamische Struktur« des Daseins der »statischen«82 weicht. Ein solcher neuer Mensch tritt auch in Friedrich Schlegels Idylle über den Müßiggang (1799) auf. Hier wird der Müßiggänger nämlich als das Vorbild einer Lebensweise hingestellt, die der bürgerlichen Zeitordnung antagonistisch gegenübersteht. Als Lebensweise reicht sie bis in die Anfänge der Menschheit zurück: »Schließlich ist die Faulheit das letzte Gut, das uns vom Paradies geblieben ist«.83 Das Schlegel-Fragment, in Jüngers Autor und Autorschaft zitiert, ist ein Fundstück von Rang – gefunden bei einem Autor, der sein ganzes Leben als Fragment bezeichnete. Schlegel sieht in dem »Fleiß« und in dem »Nutzen«84 die höchsten Werte der modernen Welt, die vom »unbedingten Streben und Fortschreiten ohne Stillstand«85 durch und durch beherrscht ist, und unternimmt den Versuch ei77 78 79 80 81 82
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Mannheim, Konservatismus, S. 232. Novalis, Fragmente und Studien, S. 70. Novalis, Fragmente und Studien, S. 71. Novalis, Fragmente und Studien, S. 70. Novalis, Fragmente und Studien, S. 70. Sombart, Deutscher Sozialismus, S. 163. – Dazu schrieb Sombart: »Dieses Hetzen und Jagen, diese Unrast, dieses Zerflattern, dieses Hin- und Widerrennen müssen aufhören: die Menschen müssen wieder ›Zeit‹ haben, sich zu sammeln und zu erbauen. An die Stelle der äußerlichen Bewegtheit und der inneren Erstarrung sollen wieder die innere Bewegtheit und die äußere Ruhe treten« (Sombart, Deutscher Sozialismus, S. 163). Ernst Jünger, Autor und Autorschaft. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 19: Essays IX: Fassungen III, Stuttgart 1999, S. 9–266, hier S. 263. Friedrich Schlegel, Lucinde. Ein Roman, Jena 1907, S. 85. Schlegel, Lucinde, S. 84.
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ner Umwertung der Werte, indem er der Gestalt von Prometheus, dem »Erfinder der Erziehung und der Aufklärung«,86 der »die Menschen zur Arbeit verführt hat«,87 die von Herakles entgegensetzt, dessen Ziel »immer ein edler Müßiggang«88 war. Dieser Umwertung der Werte entsprechend wendet sich Schlegel der antiken – und vorkapitalistischen – Lebenskunst des Müßiggangs zu, aber er kodiert sie neu. Zwar bezieht er sich nämlich auf den antiken Lobpreis »der Einsamkeit, der Muße, und einer liberalen Sorglosigkeit und Unthätigkeit«,89 aber er spielt diese Existenzweise gegen den ›prometheischen‹ Zwang zum Aktivismus90 aus, und die daraus resultierende Selbstethik der Mußezeit hat wie im Falle Rousseaus die Selbstgestaltung eines Individualsubjekts zum Ziel. Kein Wunder also, dass sich dieses Ideal »der höchsten untheilbaren Individualität«91 leitmotivisch durch den ganzen Roman zieht und dass auch das Thema der »Liebeskunst«92 im engen Zusammenhang mit der Problematik der Selbstwerdung steht. Dementsprechend besteht die Lebenskunst des Müßiggangs in der Selbstbefreiung vom modernen arbeitszentrierten Zeitregime und damit in der Erlangung der pflanzenartigen »ächten Passivität« der Mußezeit, die den Menschen befähigt, sich an »sein ganzes Ich«93 zu erinnern. 4. In Das Sanduhrbuch (1954) äußert sich Ernst Jünger folgendermaßen über sein Thema: »Das eigentümliche Behagen schafft also nicht ein Unterschied von Bildung oder Alter, wirksam ist vielmehr ein Unterschied der Zeit. Mit ihm wird sich die Schrift beschäftigen«:94 In der Arbeiterwelt, heißt es an einer anderen Stelle, wird alles »meßbar, teilbar, anschneidbar«,95 und das gilt auch für die Zeit, da das Funktionieren dieser hochkomplizierten Gesellschaft eine genaue Zeitmessung sowie den Gehorsam gegen den sozialen Zwang zu zeitregulierten Arbeitsleistungen verlangt. »Von einem otium cum dignitate« ist also »kaum noch die Rede«,96 während man in der »Epoche der Sanduhren« mehr Zeit als heute hatte, 86 87 88 89 90
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Schlegel, Lucinde, S. 92. Schlegel, Lucinde, S. 93. Schlegel, Lucinde, S. 92. Schlegel, Lucinde, S. 83. In diesem Zusammenhang gewinnen Fuests folgende Ausführungen zum Müßiggang eine wichtige Bedeutung: »Je deutlicher sich die Anforderungen und Bedingungen der modernen Arbeitsgesellschaft konturieren, je klarer sich der ideologische und moralische Sieg der Arbeit abzeichnet, desto radikaler, negativer, abweisender, härter und reduzierter zeigt sich der Müßiggang, desto deutlicher scheinen Strategien oder Gesten der Verweigerung durch« (Leonhard Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800, München 2008, S. 17). Schlegel, Lucinde, S. 269. Schlegel, Lucinde, S. 62. Schlegel, Lucinde, S. 85. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 105. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 107. Jünger, Autor und Autorschaft, S. 102.
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da wir »tiefer in unseren zeitlichen als in unseren räumlichen Grenzen« stecken, »wenngleich die Fesseln weniger sichtbar sind«.97 Im Hinblick auf das Zeitgefühl stellt Jünger damit der Zivilisation der »Zeitingenieure«,98 ganz im Geist der Romantik, die vorindustrielle Vergangenheit gegenüber, und in Anlehnung an das romantische Bestreben, »eine frühere Art des Erlebens der Dinge«99 sowie das vorkapitalistische »Denken des Qualitativen«100 aufzuwerten, widmet er sich der Analyse der Unterschiede zwischen dem modernen und dem vormodernen Zeitgewissen. Jünger definiert die Uhrzeit als »eine der Abstraktionen ersten Ranges«101 und setzt dem ›uhrenhaften‹ Zeiterleben das der »uhrlosen Welt«102 entgegen, in der der Wilde mit »den kosmischen Abläufen«103 vertraut war und naturimmanente Rhythmen wie etwa »Saat und Ernte«, »Flut und Ebbe«104 das Handeln skandierten. Aus diesem Grund lebten Jäger, Fischer und Hirten »außerhalb der meßbaren, abstrakten Zeit«, und ihre Zeit »war konkret, insofern sie sich nach ihrer Tätigkeit richtete«.105 Hatte Lukács die verdinglichte Zeit der rationalisierten kapitalistischen Moderne als die »abstrakte, genau meßbare, zum physikalischen Raum gewordene Zeit«106 bezeichnet, so kritisiert Jünger die »abstrakte mechanische« Zeit der »Räderuhren« und deren quantitatives Erleben, dem er die »natürlich-elementare Zeit«107 und deren qualitatives und naturgebundenes Erleben entgegenstellt. Hinsichtlich der Sanduhrzeit schreibt Jünger weiter, dass derjenige Zugang dazu gewinnt, der »die Uhr zu Hause lässt« und sich dadurch vom quantifizierten und arbeitszentrierten Zeitregime emanzipiert und »nach dem Gange der Elemente«108 lebt. In diesem Sinn stellt sich die Sanduhrzeit auch als »die Zeit der Muße«109 dar, die derjenige genießt, der sich dank der »Abgeschiedenheit von den Mächten der Zeit« der »Beschaulichkeit« und der »Einkehr«110 zuwendet. In Abwendung von der »romantischen Politik« glaubt Jünger aber nicht an die Möglichkeit einer »Wiederbesetzung ehrwürdiger Positionen«.111 Vielmehr ist er der Ansicht, dass man einige Augenblicke als Auswege »aus dem Bannkreis der 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111
Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 108. Jünger, Autor und Autorschaft, S. 102. Mannheim, Konservatismus, S. 115. Mannheim, Konservatismus, S. 147. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 113. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 112. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 114. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 113 f. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 113. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 264. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 230. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 227. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 230. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 227. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 229.
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Automaten«112 ausnutzen kann, um sich davor ins Erlebnis der Sanduhrzeit zu flüchten.113 Kehren wir zum Bild der Uhr zurück. Wie schon gesagt, ist dies bei Jünger das Symbol für den technischen Zeitdruck. Nicht zufällig betrachtet er die Schenkung einer Uhr als den Akt, durch den die Erwachsenen einem Kind einen Teil ihrer Verantwortung »aufbürden«114 wollen. Daraus erklärt sich, dass die Uhr »nicht in die Welt der Liebenden und der Spiele, nicht zur Musik«115 gehört. Mit anderen Worten steht die Uhr für die bürgerliche leistungszentrierte Zeitdisziplin, der sich diejenigen widersetzen, die sich im Namen des Lustprinzips dem Eros, dem Spiel und der Kunst hingeben. Es steckt also etwas Anarchisches und Kindliches in dieser Revolte gegen das arbeitsorientierte Zeitregime, weil die Abneigung gegen die Uhren denjenigen eigentümlich ist, die »kindlich oder musisch«116 geblieben sind. Und dieser Rebellionsakt birgt in sich einen »Anspruch der Freiheit in Zonen, in denen man noch nicht gezähmt worden ist«.117 Aber wichtiger noch: Jünger beruft sich sowohl auf das antike Ideal des »homo litteratus, […] der sich in stiller Muße oder im vertrauten Gespräch den litteris zuwendet«,118 als auch auf Schlegels Umwertung der »Faulheit«119 und zeigt, dass die Empörung gegen die arbeitszentrierte Zeitdisziplin und den »Automatentakt«120 den Zugang zum Erlebnis der Mußezeit eröffnet. Der Müßiggänger repräsentiert somit den Gegentyp zu dem zeitlich eindimensionalen Menschen der Arbeiterwelt, der »ameisenartig im Banne des Werkes«121 lebt. Diesen Menschentypus nennt Jünger den »Büffler«,122 weil er unter dem Imperativ steht, seine ganze Eigenzeit als Arbeitszeit zu verwenden. »Jeder höhere Typus«, stellt Jünger aber fest, »ist […] daran zu erkennen, dass er Zeit hat, also über die Uhr bestimmt«.123 Der Müßiggänger ist dieser höhere Menschentypus, der nicht mehr »mit der Uhr in der Hand« denkt, d. h. der sich gegen die durch die Uhren von außen gesteuerte Zeitdisziplin auflehnt und der dadurch die Souveränität über seine ganze Lebenszeit und die Freiheit von den Zwängen der 112 113
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Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 228. Dazu notiert Jünger: »Trotzdem wohnt Ruhe immer auf unserem Grunde, Frieden der Wälder, auch wo wir mit der Geschwindigkeit von Schiffen dahineilen« (Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 230). Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 110. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 106. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 106. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 106. Jünger, Autor und Autorschaft, S. 88 f. Jünger, Autor und Autorschaft, S. 263. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 228. Jünger, Der Arbeiter, S. 49. Ernst Jünger, Am Sarazenenturm. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 6: Tagebücher VI: Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 219–323, hier S. 241. Jünger, Am Sarazenenturm, S. 241.
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arbeitsbesessenen Moderne wiedererlangt. Interessanterweise zeichnet Jünger auch das Bild des modernen Autors, der »nach der Uhr«124 nicht schafft und zu dessen Kapital die »Einsamkeit«125 gehört, nach diesem Lebensmodell. Der Autor, bemerkt er auch in impliziter Anlehnung an Senecas Theorie der Zeitökonomie des Weisen, »ist Freiherr gegenüber der Zeit, muß aber in der Verfügung über sie gewissenhafter als ein Buchhalter sein«.126 Der Rebell gegen die moderne Zeitdisziplin konstituiert sich auch als eine Art von Ganzmensch. »Ferien machen«, bemerkt Jünger, heißt »von frühesten Erbteilen zu zehren«,127 d. h. sich in die Tiefenschichten seiner selbst zu versenken, in denen unsere von den Vorfahren überlieferten Neigungen ihre Wurzeln haben, um sich dadurch zu einem ›erweiterten‹ Ich im Besitz seines Ahnenerbes abzurunden. »Wir verlassen die historische Welt«, so Jünger weiter, »und unbekannte Ahnen feiern in uns Wiederkehr«.128 Damit fällt der Unterschied zwischen der Selbstethik der Mußezeit Jüngers und derjenigen Rousseaus und Schlegels auf. Die letztgenannten thematisierten die Individuation als Ausfluss der Praktik des Müßiggangs, während Jünger von einem überindividuellen und ins Erbe der Ahnen ausgeweiteten Selbst spricht. Zwar verbreitete sich schon im ausgehenden 19. Jahrhundert die These von der Vergangenheit als Identitätsquelle, die ihre prägnantesten Ausformulierungen in der Evolutionstheorie Darwins und in der Freudschen Auffassung der Neuroseätiologie fand.129 Im Falle Jüngers trat jedoch die Vergangenheitsbefangenheit der Einzelseele auf den Schlachtfeldern auf. Nicht von ungefähr schrieb er in Der Kampf als inneres Erlebnis (1922), dass der Mensch »das ständig wechselnde Gefäß all dessen« war, »was vor ihm getan, gedacht und empfunden wurde«,130 weil er das von den Soldaten während des Ersten Weltkriegs erlebte Wiederauftauchen von früher verdrängten Urtrieben auf die seelische Vergangenheitsverwurzelung des modernen Menschen zurückführte.131 Weit davon entfernt, diese zu verurteilen, sah Jünger 124 125 126 127 128 129
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Jünger, Autor und Autorschaft, S. 71. Jünger, Autor und Autorschaft, S. 116. Jünger, Autor und Autorschaft, S. 34. Jünger, Autor und Autorschaft, S. 230. Jünger, Autor und Autorschaft, S. 230. Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880–1918, Cambridge, Massachusetts 1983, S. 36 f., S. 42. Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I: Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 9–103, hier S. 14. Über den Frontsoldaten schreibt Jünger: »Noch immer ist viel Tier in ihm, schlummernd auf den bequemen, gewirkten Teppichen einer polierten, gefeilten, geräuschlos ineinandergreifenden Zivilisation, verhüllt in Gewohnheit und gefällige Formen; doch wenn des Lebens Wellenkurve zur roten Linie des Primitiven zurückschwingt, fällt die Maskierung. Nackt wie je bricht er hervor, der Urmensch, der Höhlensiedler, in der ganzen Unbändigkeit seiner entfesselten Triebe. Das Erbteil seiner Väter flammt in ihm auf, immer wieder, wenn das Leben sich auf seine Urfunktionen besinnt« (Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 15).
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aber die vom Krieg bewirkte Regression zur primitiven Triebwelt als eine zu ergreifende Gelegenheit: »Dieser Krieg«, schrieb er in der Novelle Sturm (1923), »war ein Urnebel psychischer Möglichkeiten, von Entwicklung geladen«.132 Hatte Seneca die erinnerungszentrierte geistige Übung und die Zuwendung zur Philosophie als Mittel zur Bereicherung des Zeiterlebens mit dem Vergangenheitsgenuss befürwortet, so erblickt Jünger, belehrt durch den im Krieg traumatisch stattgefundenen Wandel der Selbsterfahrung, in der psychischen Einverleibung des Erbes der Ahnen die Möglichkeit einer Expansion des Seelenhaushalts zu früheren Stadien hin. Die Idee einer solchen vergangenheitsorientierten Seelenbildung liegt auch der Jüngerschen Ethik der Mußezeit zugrunde. Ähnlich wie der Frontsoldat stößt der Müßiggänger nämlich bei seiner Selbstauslotung auf früher ihm unbekannte Tiefenschichten seiner selbst, die weit über die Dimension des Ichs hinausgehen und die er durch ein Synthesestreben in eine endlich vollendete Gesamtpersönlichkeit zu integrieren sucht.
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Jünger, Sturm, S. 27.
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Modernität und Primitivismus bei Ernst Jünger Mit einem Blick auf Thomas Mann 1. Am Anfang der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens ist von Afrika die Rede. »Afrika war für mich« – so schreibt Jünger – »der Inbegriff des Wilden und Ursprünglichen, der einzig mögliche Schauplatz für ein Leben in dem Format, in dem ich das meine zu führen gedachte«.1 In diesem Format lebt man aber nur unter der Bedingung, dass das Wilde und Ursprüngliche sich unbefleckt bewahrt, undurchlässig gegenüber den externen Eingriffen der zivilisierten Welt: Mit grimmiger Freude las ich, daß Schwarzwasserfieber und Schlafkrankheit den Ankommenden schon an der Küste erwarteten und hohe Opfer forderten. Es schien mir billig, daß der Tod seinen Gürtel zog um ein nur für Männer geschaffenes Land und schon an seinen Pforten jeden zurückschreckte, der nicht ganz entschlossen war. Abbildungen jedoch vom Bau zentralafrikanischer Bahnen oder eine gelegentliche Notiz in der Zeitung über ein gegen den Stich der Tsetsefliege erfundenes Serum pflegten meine Entrüstung zu erwecken; solche Siege des Fortschrittes über die Mächte der Natur verstimmten mich sehr.2
In Das Abenteuerliche Herz beschreibt Jünger mit knappen und beeindruckenden Zügen den Erziehungsplan seiner früheren Jahre: nach der »unvergleichlichen Schule des Krieges«, die ihm die Möglichkeit geboten hatte, »das Leben in seiner höchsten Flutung und in seinen äußersten Möglichkeiten« zu betrachten; nach einer sich daran anschließenden Zeit der ruhigeren Erforschung von dessen »tierischen Grundlagen«; nach einem Aufenthalt »in einer jener entlegendsten und unberührten menschlichen Siedlungen inmitten unermeßlicher tropischer Urwälder«, von denen man bei Frobenius liest; dann, endlich, »wohlausgerüstet«, der Sturz »ins Zentrum der großen Städte«, »an die Stätten der kompliziertesten Barbarei«.3 Im Buch des Herzens und seiner Abenteuer spricht Jünger auch von der »Wut«, von jenem sehr eigenartigen Gefühl, das aus dem technischen Sprung in zyklopische Landschaften resultiert:
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Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III. Das Abenteuerliche Herz, Stuttgart 1978, S. 31–176, hier S. 48. Jünger, Das Abenteuerliche Herz, S. 49. Jünger, Das Abenteuerliche Herz, S. 98.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-006
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Domenico Conte Und hier empfand ich wieder, was man hinter dem Triebwerk des Flugzeuges empfindet, wenn die Faust den Gashebel nach vorn stößt und das schreckliche Gebrüll der Kraft, die der Erde entfliehen will, sich erhebt oder wenn man nächtlich im D-Zug sich durch die zyklopische Landschaft des Ruhrgebietes stürzt, während die glühenden Flammenhauben der Hochöfen das Dunkel zerreißen und inmitten der rasenden Bewegung dem Gemüte kein Atom mehr möglich scheint, das nicht in Arbeit ist. Es ist die kalte, niemals zu sättigende Wut, ein sehr modernes Gefühl, das im Spiel mit der Materie schon den Reiz gefährlicherer Spiele ahnt und der ich wünsche, daß sie noch recht lange nach ihren eigentlichen Symbolen auf der Suche sei. Denn sie als die sicherste Zerstörerin der Idylle, der Landschaften alten Stils, der Gemütlichkeit und der historischen Biedermeierei wird diese Aufgabe um so gründlicher erfüllen, je später sie sich von einer neuen Welt der Werte auffangen und in sie einbauen läßt.4
Im ersten Satz der Jünger’schen Einleitung (1933) zu Die veränderte Welt – ein von ihm und Edmund Schultz herausgegebenes Photographienbuch, das uns unter anderem vom Abenteuerlichen Herzen zum Kontext der politischen Publizistik führt – liest man, dass »zu den mannigfaltigen Anzeichen einer neuen Primitivität auch die Tatsache« gehöre, »daß das Bilderbuch wieder eine Rolle zu spielen beginnt. Es sei dahingestellt« – so Jünger – »ob diese Primitivität selbst als erfreulich oder unerfreulich zu bezeichnen ist. Jedenfalls ist es gewiß, daß man mit ihr zu rechnen hat.«5 Die angeführten Zitate, deren Zahl leicht zu vervielfältigen wäre, stehen im Mittelpunkt dessen, was ich hier als »Primitivität« und »Primitivismus« definieren möchte. Wobei sofort zu präzisieren ist, dass die beiden Begriffe ähnlich, aber nicht identisch sind, da der Primitivismus den Geschmack an der Primitivität und die Neigung dazu bezeichnet, also – so könnte man auch sagen – die »Mode« der Primitivität. Beim ersten Zitat (Afrika) manifestiert sich der Jünger’sche Impuls zur Primitivität – d. i. sein Primitivismus – in der im Grunde genommen noch traditionellen Gegenüberstellung einer unkontaminierten Natur mit einer kontaminierenden Zivilisation. Diese Argumentation wird durch die Polemik gegen die Humanitätsidee verschärft:
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Jünger, Das Abenteuerliche Herz, S. 154. Vgl. Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 629. – Vor wenigen Jahren wurde in Italien, anläßlich einer Ausstellung der Photographien Jüngers (La violenza è normale? L’occhio fotografico di Ernst Jünger, Accademia di Belle Arti di Brera, 14–30 settembre 2007), ein anastatischer Neudruck von Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit veröffentlicht. Der Neudruck wird von einem Bändchen mit italienischer Übersetzung begleitet. Vgl. Ernst Jünger/Edmund Schultz, Il mondo mutato. Un sillabario per immagini del nostro tempo, a cura di M. Guerri, Milano 2007 (das Nachwort von Maurizio Guerri liest man auf S. 69–79).
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Daß aber die Einführung der Technik in ein solches Gebiet zugleich die Einführung der modernen Humanität und damit die Einebnung der unerbittlichen Rangordnung des natürlichen Lebens bedeutete, das war mir gefühlsmäßig klar.6
Die übrigen drei Zitate (Städte als Orte der kompliziertesten Barbarei, zyklopisches Ruhrgebiet, Bilderbücher als Zeichen der Rückkehr zu primitivistischen Dimensionen) gehen alle aus theoretischer Sicht einen Schritt weiter, indem sie eine nicht konventionelle Verbindung von Modernität und Primitivität herstellen. Die Moderne resultiert damit nicht nur aus Innovations- und Erneuerungsphänomenen (kurz und gut: aus dem Fortschritt), sondern auch aus dem Kontakt mit zyklopischen und titanischen (tendenziell mythischen) Zügen. Sehr ähnlich entwickelt sich die Argumentation Ernst Jüngers in der Rezension des Romans O.S. (steht für Ober-Schlesien) von Arnolt Bronnen, ursprünglich in »Der Tag« im Mai 1929 erschienen, und jetzt in der Politischen Publizistik zu lesen, wo sie zu einer der bedeutendsten Schriften zählt. O.S. sei ein großer Gewinn in der Gattung »Kriegsbücher«, schreibt hier Jünger, da Bronnens Sprache zum Glück »die überflüßige Mühe der schönen Rede« scheute, indem sie an eine Arbeit erinnere, »die durch den Gang von Maschinen hindurchgegangen ist«.7 Arnolt Bronnen besitze die Gabe, den Krieg in seiner nackten Wahrheit zu betrachten, ohne in sterilen Argumentationen über das Gute oder das Böse Zeit zu verlieren. »Der Krieg ist keine humanitäre Erscheinung« – so die Behauptung Jüngers – »daher ist es lächerlich, wenn man ihn künstlerisch in humanitäre Formen fassen will«. Gerade hier liege aber die Schwäche »des bedeutendsten Romans der Nachkriegszeit«, d. h. des Zauberbergs von Thomas Mann, ein Roman, der in seinem für Jünger »störenden« Epilog eben deshalb scheitere, weil der Lübecker Schriftsteller hoffnungslos versucht habe, »das Elementare mit zivilisatorischen Mitteln zu fassen«, ohne zu verstehen, dass hier eine völlige Umkehrung notwendig sei, weil »im Zivilisatorischen das Barbarische als eine notwendige Konsequenz enthalten ist«.8 »Und wir sind scheue Schatten am Wege, schamhaft in Schattensicherheit, und keineswegs gesonnen, uns in Prahlerei und Jägerlatein zu ergehen«: so hatte sich »der Geist der Erzählung« im abschließenden Kapitel des Zauberbergs, »Der Donnerschlag«, ausgedrückt,9 in der äußersten Betrachtung des »Sorgenkindes des Lebens«, das aus der Höhe des zaubernden Berges in die feurige Ebene des »Weltfest des Todes« gestürzt war. Die Einstellung war pazifistisch, die Töne traurig und schmerzlich, und von den martialischen Akzenten Jüngers sehr entfernt. 6 7
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Jünger, Das Abenteuerliche Herz, S. 49. Ernst Jünger, Wandlung im Kriegsbuch: Arnolt Bronnens Roman »O.S.«. In: ders.: Politische Publizistik, 1919–1933, Stuttgart 2001, S. 483–486. Jünger, Wandlung im Kriegsbuch, S. 483 f. Thomas Mann, Der Zauberberg [1924], hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann, Frankfurt/M. 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 5.1), S. 1081.
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Unsererseits wäre es aber banal, wenn hier die Gegenüberstellung Thomas Mann– Ernst Jünger10 ausschließlich auf den (wenn auch sehr wichtigen) Kontrast zwischen pazifistisch-humanitären und kriegerisch-inhumanen Werten reduziert würde. Die Jünger’sche Problemstellung enthält nämlich, auch jenseits der Polemik über Thomas Mann, theoretisch sehr relevante Elemente, die übrigens dem geistigen Horizont des Lübecker Schriftstellers nicht fremd waren. Man denke hier vor allem an die Dialektik zwischen »Elementarem«, »Zivilisatorischem« und »Barbarischem«, die die soeben angeführten Zitate in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Die absolute Neuheit der Fragestellung Jüngers besteht in der positiven Verbindung des »Zivilisatorischen« mit dem »Barbarischen«, da damit zum ersten Mal innerhalb des konservativen bzw. revolutionär-konservativen Denkens, dem Begriff der Zivilisation direkt bejahend begegnet wird. Das ist ein für unsere Fragestellung ganz wichtiger Punkt, welcher aber die Komplexität der Jünger’schen Auslegung der Zivilisation noch nicht erschöpft, da es selbstverständlich auch Kontexte gibt, wo ihre positive und zu bejahende Funktion nicht mehr aus der Berührung mit dem Barbarischen entsteht, sondern im Kontakt mit Dimensionen, die dem Barbarischen anscheinend diametral entgegengesetzt sind. Das ist zum Beispiel der Fall bei einer der wichtigsten und typischsten Schriften des ›ersten‹ Jünger, Die totale Mobilmachung, in der die Zivilisation sehr eng mit dem Fortschritt verbunden wird, also mit einer Macht, die als die Quintessenz der Modernität erscheinen könnte. Mehr noch: in der Totalen Mobilmachung wird die strikte Verbindung von Zivilisation und Fortschritt in eine ›revolutionäre‹ Interpretation der Gründe, die die Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg verursacht hätten, miteinbezogen. Deutschland habe nämlich den Krieg nicht verloren, weil es gegen eine ganze Welt von Feinden gekämpft hatte, bzw. weil ihm ein Dolchstoß von hinten seitens der innerlichen antipatriotischen Kräfte zugefügt worden wäre, sondern weil es im Vergleich mit den restlichen westlichen Mächten den Glauben an den Fortschritt schuldhaft verzögert habe. Zu wenig Zivilisation und zu wenig Fortschritt, also zu wenig Modernität: darin liegt, in der antikonventionellen Perspektive Jüngers, die Schuld Deutschlands. Wenn man aber daran 10
Dazu vgl. insbesondere Lothar Bluhm, »Ein geistiger Wegbereiter und eiskalter Wollüstling der Barbarei«. Thomas Mann über Ernst Jünger. Eine Studie zu Manns politisch-literarischer Urteilsbildung. In: Wirkendes Wort, 46, H. 3, 1996, S. 424–445. Vgl. auch: Jürgen Manthey, Ein Don Quijote der Brutalität. Ernst Jüngers »Der Arbeiter«. In: Ernst Jünger, hg. von Heinz-Ludwig Arnold, München 1990 (Text+Kritik 105/106), S. 36–51; Karlheinz Hasselbach, »Das Geheimnis der Identität«. Ernst Jüngers »Der Arbeiter« im Lichte von Thomas Manns »Doktor Faustus«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 69, H. 1, 1995, S. 146–171; Michael Rupprecht, Thomas Mann und Ernst Jünger. In: Wirkendes Wort, 46, H. 3, 1996, S. 411–423. – Die Beiträge von Bluhm und Rupprecht liest man auch in: »Weil ich finde, daß man sich nicht ›entziehen‹ soll«. Gesammelte Aufsätze zu Thomas Mann und seinem Werk, hg. von Lothar Bluhm und Heinz Rölleke, Trier 2001, dem Sonderband von Wirkendes Wort, der die Thomas Mann von der Zeitschrift in einer fast fünfzig Jahre langen Zeitspanne gewidmeten Aufsätze sammelt.
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denkt, dass dieser Mangel am Fortschritt in Wirklichkeit ein Mangel an Glauben an den Fortschritt ist, so wird man auch verstehen, warum Jünger schreibt, dass dieser Glaube »eine Kraft von kultischer Art« ist.11 Das 20. Jahrhundert als Epoche der Wiederbelebung der Kulte: so hat Ernst Jünger die Modernität gesehen. Was uns aber wieder vor ihr Janusgesicht stellt. Angesichts des Jünger’schen Zivilisationsbegriffs erscheint die Position Thomas Manns traditioneller. In den Betrachtungen eines Unpolitischen zum Beispiel, die geradezu auf das Begriffspaar Kultur/Zivilisation aufgebaut sind (wie der im selben Jahr 1918 veröffentlichte Untergang des Abendlandes Spenglers), werden die komplexen und äußerst vielseitigen Überlegungen Manns dennoch von der konservativ-konventionellen Überzeugung dominiert, nach der die nur negativ gewertete Zivilisation ausschließlich der Gruppe der feindlichen Mächte und ihrer deutschen Mitläufer (»Zivilisationsliterat« Heinrich Mann) zuzuschreiben wäre, während die »Kultur« ein angebliches Vorrecht des Deutschtums bliebe. Das hindert aber Thomas Mann nicht daran, das für Jünger zentrale Problem des »Barbarischen« auch seinerseits im Auge zu behalten. Mit folgendem wichtigen Unterschied, dass während das Barbarische bei Jünger in die Zivilisation eingeführt wird, es bei Mann in der Form eines konstitutiven Teils der Kultur erscheint. So zum Beispiel am Anfang der Gedanken im Kriege, einer Schrift, die zur direkten Vorgeschichte der Betrachtungen eines Unpolitischen gehört: Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Natur. Niemand wird leugnen, daß etwa Mexico zur Zeit seiner Entdeckung Kultur besaß, aber niemand wird behaupten, daß es damals zivilisiert war. Kultur ist offenbar nicht das Gegenteil von Barbarei; sie ist vielmehr oft genug nur eine stilvolle Wildheit, und zivilisiert waren von allen Völkern des Altertums vielleicht nur die Chinesen. Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist. Ja, der Geist ist zivil, ist bürgerlich: er ist der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften, er ist antidämonisch, antiheroisch, und es ist nur ein scheinbarer Widersinn, wenn man sagt, daß er auch antigenial ist.12
Für unsere Fragestellung ist die oben kurz behandelte Rezension Jüngers zu Arnolt Bronnens O.S. aus zwei Gründen besonders wichtig. Einerseits, weil sie eine 11
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Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930). In: ders.: Politische Publizistik, S. 558–582, hier S. 560. Thomas Mann, Gedanken im Kriege. In: ders.: Essays II 1914–1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von Jöelle Sloupy u. a., Frankfurt/M. 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 15.1), S. 27–46, hier S. 27.
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gute Gelegenheit dafür bietet, das Problem des modernen Krieges bei Jünger zu betrachten. Ein Krieg, der seinen barbarischen Zug nicht seiner Modernität und Technizität zum Trotz aufweist, sondern gerade weil er modern und technisch ist. Außerdem ein Krieg, der ohne störende Milderung durch eine mißverstandene Zivilisation (das ist der Fehler Thomas Manns) den ersehnten Kontakt mit dem Elementaren wiederherstellt. Das Zivilisatorische versüßt nichts, da es von sich aus bitter genug ist. Andererseits ist diese Rezension bedeutend, weil hier die Polemik Jüngers gegen Thomas Mann und dessen Nachkriegsroman Der Zauberberg sehr klar und instruktiv ist. Weitere relevante Bemerkungen zu diesem hermeneutisch erhellenden Kontext findet man in einer anderen Jünger’schen Rezension, zum Roman Die andere Seite (1911) von Alfred Kubin, ebenfalls 1929, diesmal aber im »Widerstand« von Ernst Niekisch, erschienen.13 Auch dem düsteren Roman des österreichischen Malers und Zeichners (der unter anderem auch für Thomas Mann arbeitete: erinnert sei hier an einen schönen Umschlag für Der Tod in Venedig) wird nämlich von Ernst Jünger als dem Zauberberg überlegen angesehen. »Lange bevor ein Zauberberg geschrieben wurde«, sei es Kubin mittels eines »Tastvermögens von empfindlichster Feinheit« gelungen, »den langsamen Angriff der Verwesung« und »ihre auflösende Unerbittlichkeit, ihre Schauder, ihre Visionen, ihre verräterische Süßigkeit« zu vernehmen.14 Während im Zauberberg Thomas Mann den Untergang nur »in der individuellen Sphäre« betrachtet habe, sei Alfred Kubin in Die andere Seite imstande gewesen, ihn »mit allen seinen Schaudern im größeren Bestande« wahrzunehmen.15 Das steht in einem Beitrag, dem man, auch jenseits der Diskussion des Romans von Kubin und der Gegenüberstellung Kubin–Mann, eine allgemeinere Bedeutung in Bezug auf die Jünger’sche Anschauung des Untergangs der bürgerlichen Welt und der entsprechenden Apokalyptik zuschreiben muss.16 Die Polemik gegen Thomas Mann und seine republikanische Wende wird von Jünger in einer anderen wichtigen Schrift der Politischen Publizistik fortgesetzt, deren sehr bedeutender Titel, Der Wille zur Gestalt, als eine klare Anspielung auf eine der bekanntesten Parolen der Philosophie Nietzsches (»Der Wille zur Macht«) zu 13 14 15 16
Ernst Jünger, Die andere Seite. In: ders.: Politische Publizistik, S. 458–465. Jünger, Die andere Seite, S. 462. Jünger, Die andere Seite, S. 465. Die von Jünger für die Veranschaulichung der Szenerie des Untergangs verwendeten Bilder (Vulkane, Vesuv, Pompei, die »Blumen«, die das Leben »noch am Rande der dunkelsten Abgründe treibt«) erinnern an Ginestra (Der Ginster) von Giacomo Leopardi, ein Lied, das auch die späten Überlegungen von Benedetto Croce zum Thema Untergang beeinflußte (vgl. Benedetto Croce, La fine della civiltà. In: ders.: Filosofia e storiografia, a cura di S. Maschietti, Napoli 2005, S. 283–291). Die Jünger’sche Auslegung des Romans von Kubin als »apokalyptische Vision« ähnelt dagegen den Kubin-Hinweisen seitens eines italienischen Experten der Apokalyptik wie Ernesto De Martino. Vgl. La fine del mondo. Contributo all’analisi delle apocalissi culturali, a cura di C. Gallini, Torino 1977, S. 497–498. Hier findet sich auch, auf der Basis eines Zitats von Franz Altheim, das glänzende Urteil, dass Apokalyptik und Nihilismus grundverschieden seien.
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interpretieren ist.17 Der »Wille zur Gestalt«, zu verstehen als der Drang zur Vision von »Gestalten« und »Formen«, insbesondere in einer neuen und auf der Höhe der Moderne sich bewegenden Geschichtsschreibung, wird hier von Jünger mit der »morphologischen Betrachtung« Spenglers identifiziert: eine Art von Historiographie, die nicht »den Zeiten verhältnismäßiger Ruhe«, sondern denen »der Bewegung« geeignet sei.18 Nur durch die Morphologie könne nämlich die Vergangenheit »mobilisiert« werden: eine Tatsache, die aber die rückwärtsgewandte Opposition der »Liberalen« wecke, mit Thomas Mann an der Spitze, dessen »in den letzten Jahren übellaunigen Seitenhiebe Thomas Manns gegen einen Geist wie Bachofen oder den ›Görres-Komplex‹« gerade die Opposition gegen die Gestalt bzw. »das notwendige So-und-nicht-anders-Sein« bezeuge.19 Woraus es sich auch sehr klar ergibt, dass sich hier die Jünger’sche Polemik vor allem gegen die Pariser Rechenschaft richtete, d. h. gegen jenes weitangelegte Reisetagebuch, das Thomas Mann, unmittelbar nach seiner fast in der Rolle eines offiziellen Botschafters des neuen Deutschlands vollbrachten Frankreich-Reise, 1926 verfasste; ein mit Überlegungen verschiedener Art gefülltes Reisetagebuch, das unter anderem den Bruch mit dem Bachofen-Verehrer Alfred Baeumler bedeutete.20 Wenngleich sehr entschieden, spielten sich die bisher behandelten Angriffe Ernst Jüngers auf Thomas Mann noch auf der Ebene der kulturellen Auseinandersetzung ab. Weniger kulturell und mehr ›materiell‹ (um ein Lieblingswort von Jünger zu benutzen) war aber die Auseinandersetzung, die in der bekannten, von Arnolt Bronnen zusammen mit Ernst und Friedrich Georg Jünger ausgeführten Störungsaktion von Thomas Manns Rede Ein Appell an die Vernunft gipfelte (13. Oktober 1930 im Berliner Beethoven-Saal: derselbe Ort, wo Mann 1922 seine Republik-Rede vorgetragen hatte). Davon gibt es einige interessante und unter bestimmten Hinsichten symbolische Fotos: der Redner Thomas Mann erscheint 17 18
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Vgl. Ernst Jünger, Der Wille zur Gestalt. In: ders.: Politische Publizistik, S. 489–493. Man wird hier an eine wichtige Seite des Historismus-Buches von Ernst Troeltsch erinnert: »ruhige Zeiten« lüden zu »scheinbar rein objektiven Kontemplation« ein; in »unruhigen und katastrophenhaften Gasamtlagen« verachte man dagegen »die kontemplative und realistische Historie« und behandle »alle Historie sehr subjektiv als Mittel ihrer Zielkonstruktionen« (Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922, S. 697–698). Schon im »Vorwort« empfand Troeltsch das Bedürfnis, das Verhältnis seines Historismus-Buches »zu dem heute die Diskussion beherrschende Buche Spenglers« unter die Lupe zu nehmen (S. IX). Jünger, Der Wille zur Gestalt, S. 491. – Vgl. dazu auch in diesem Band: Andrea Benedetti, »Schicksalszeit«, »Zeitalter des Wassermannes« und »ewige Gegenwart«, Ernst Jüngers Rezeption der deutschen Romantik (Novalis, Friedrich Hölderlin und Joseph von Görres), zwischen Mythos, Moderne und Postmoderne, S. 9–36. Die Pariser Rechenschaft liest man jetzt in Mann, Essays II, S. 1115–1214. – Die Bekanntschaft zwischen Thomas Mann und Alfred Baeumler knüpfte sich an die bejahende Lektüre Manns einer auf dem Vergleich zwischen den Betrachtungen eines Unpolitischen und dem Untergang des Abendlandes basierenden Schrift Baeumlers (Metaphysik und Geschichte. Offener Brief an Thomas Mann. In: Die neue Rundschau, XXXI, 1920, Bd. 2, S. 1113–1129).
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allein und isoliert am Pult, während die Köpfe des Publikums sich nach hinten drehen.21 Es scheint nicht unangebracht, daran zu erinnern, dass auch Friedrich Georg Jünger eine Rolle in der literarischen Polemik gegen Thomas Mann spielte. Im März 1928 veröffentlichte er nämlich im Berliner Der Tag eine sehr feindliche Rezension des Zauberbergs.22 Im Namen eines »neuen Nationalismus« das Wort ergreifend, kritisiert hier Friedrich Georg Jünger heftigst die Vermittlerrolle zwischen Deutschland und Frankreich, die Thomas Mann in der Nachkriegszeit zu üben versuchte. Der Zauberberg sei der literarische Ausdruck einer falschen politischen bzw. kulturellen Einstellung, letzten Endes das Produkt des Geistes einer parasitären und schmarotzerhaften »Bourgeoisie«, die nichts von den elementaren Kräften des Lebens wisse. Und Thomas Mann, »der exakte Darsteller einiger Fäulnisprozesse am menschlichen Bestande«, sei nichts anderes als »der repräsentable Vertreter« dieser Schicht und ihrer Lebensweise: Die Sozietät dieser Bourgeoisie ist es, die Thomas Mann empfiehlt. Wir kennen sie! Wir kennen ihre Sozietäre und Aktionäre und kennen auch die Sphäre, in der sie wirksam ist. Keine Arbeiter- und Soldatensphäre, nein, eine sehr gepolsterte Sphäre, ein kosmetischer Salon, eine feminine Sesselloge mit kulturellem und zivilisatorischem Weihrauch – je nach Bedarf. Dieser Raum, in den keine Zugluft eindringt, und den man sehr wohl mit dem Schwindsuchtssanatorium auf dem Zauberberge vergleichen kann, dieses teppichbelegte Sanktuarium für verzärtlichte, weichliche Gemüter, in das kein gefährliches Dämonenauge mehr hineinleuchtet, das von allen Elementargeistern verlassen ist – so verlassen, wie ein amerikanisches Hotelfoyer –, kurz, dieser wattierte Palast wird uns von Thomas Mann empfohlen, empfohlen zum Platznehmen, zum Verweilen, zum gefälligen Verwesen.23
Ganz anders ist aber, in Friedrich Georg Jüngers Augen, die Aufgabe der deutschen nationalistischen Jugend. Und deshalb muß man den Zauberberg entzaubern: Ach, erlebten wir bald den Tag, an dem eine junge, kühne Mannschaft sich gegen den Zauberberg hinaufbewegt, mit Holzfälleräxten, die einen langen Stiel und eine breite Schneide haben, und mit diesen prachtvollen Aexten den ganzen Zauberberg in Scherben und Trümmer schlägt. Vielleicht deckt ihn dann der gütige Schnee, der senkrecht auf die Eisgebirge von Eishimmeln niederfällt, und der trübe Dunst und die Seelentuberkeln fliegen in alle Winde.24
Von der Zauberberg-Auslegung zum Problem der Mann’schen Beziehung zu Freud und der Psychoanalyse führt uns der Aufsatz über die Konstruktionen und 21
22
23 24
Diese Fotos sieht man in Friedrich Aspetsberger, Arnolt Bronnen. Biographie, Wien u. a. 1995, S. 496. Vgl. Friedrich Georg Jünger, Der entzauberte Berg. In: Ulrich Fröschle/Thomas Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger. Mit einem Anhang der überlieferten Korrespondenz und weiterem Material, Dresden 2008, S. 206–211. Friedrich Georg Jünger, Der entzauberte Berg, S. 208–209. Friedrich Georg Jünger, Der entzauberte Berg, S. 210–211.
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Parallelen, den Friedrich Georg Jünger 1929 im »Widerstand« von Ernst Niekisch veröffentlichte.25 Trotz der am Ende auch unangenehmen Radikalität des Tons, handelt es sich hier um einen Beitrag von hohem intellektuellen Niveau, der dabei hilft, auch jenseits der direkten Polemik gegen Thomas Mann, die Basis der antifreudianischen und antipsychologischen Opposition bestimmter rechtsorientierter Kreise zu verstehen. Dem Versuch Thomas Manns, die Freud’sche Psychologie als Interesse für die Nacht, den Traum, die Triebe, das Vorvernünftige, das Unbewußte zu interpretieren, muß man – so Friedrich Georg – folgendermaßen erwidern: Sehr wohl! Dies aber, damit es nicht verschwiegen bleibe, aus Haß gegen den Traum, den Trieb, das Vorvernünftige, den Begriff des Unbewußten, aus dem beizenden Ressentiment und Drang, zu zerstören, zu entwerten, zu deuten und das Reich der Symbole, der Urphänomene, das die metaphysische Scheu nicht weiter berührt, durch eine Sammlung intelligenter »Lösungen« im gröbsten Stile zu verdrängen. Denn nichts anderes ist die Freudsche Psychoanalyse als der konzentrierte Haß gegen das Metaphysische, Wut gegen den elementarischen Kern der Welt, Grimm gegen das Schicksal, ein Dolchstoß in den Rücken jeden Lebens, das sich dem Heroischen verpflichtet weiß.26
Die »Konstruktionen« und »Parallelen«, die Thomas Mann zwischen sehr entfernten Autoren bzw. geistigen Tendenzen zieht (so zum Beispiel die Annährung Freuds zur Romantik und zu Nietzsche, oder – in der gehassten Republik-Rede – die Verbindung zwischen Novalis und Walt Whitman) seien »verklausuliert« und »labyrinthisch«. Die intellektuellen Versuche des Lübecker Schriftstellers seien deshalb nur auf der Basis der exzessiven »Transportabilität« seiner Gedanken möglich. Da aber das Aluminium sich durch große Transportabilität charakterisiere, sei es in der Tat auch angebracht, die Gedanken Thomas Manns als »Aluminiumgedanken« zu bezeichnen.27
2. Wichtig für uns sind aber nicht nur die Thomas-Mann-Urteile der Gebrüder Jünger, sondern auch die Ernst-Jünger Urteile Thomas Manns. Für unsere Fragestellung sind sie sogar wichtiger. Das bekannteste davon steht in einem Brief an Agnes Meyer vom Dezember 1945: Ernst Jünger sei »ein Wegbereiter und eiskalter Ge25
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Friedrich Georg Jünger, Konstruktionen und Parallelen. In: Fröschle/Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger, S. 211–216. – Es handelt sich um eine großangelegte Rezension von Thomas Manns Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (noch zu lesen in Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band X: Reden und Aufsätze 2, Frankfurt/M. 1974, S. 256–280). Friedrich Georg Jünger, Konstruktionen und Parallelen, S. 214. Friedrich Georg Jünger, Konstruktionen und Parallelen, S. 213.
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nüßling des Barbarismus«.28 Es handelt sich dabei um ein Urteil, das sehr gut in unsere kritische Rekonstruktion passt. Messerscharf ist die Verbindung, die Thomas Mann in Meine Zeit, seiner letzten amerikanischen Rede (1950) zwischen deutscher Jugend, erstem Weltkrieg und entsprechenden geistigen Phänomenen (Jünger darunter), zieht. Ausgangspunkt der Überlegung ist die selbstbiographische Erinnerung an den Zauberberg: Ein Buch, geschrieben unter wie anderen Umständen als das Werk meiner Jugend! Der erste Weltkrieg lag zurück, der Roman war durch ihn hindurchgegangen, wie das junge Geschlecht, das sinn- und zwecklos in ihm gekämpft und gelitten hatte, – ein Geschlecht, gründlich verschieden nach seiner seelischen Verfassung von den zeitlichen Geschwistern Hanno Buddenbrooks und Tonio Krögers, entbürgerlicht völlig und enthumanisiert, gestählt und zerrüttet zugleich, athletisch und verzweifelt. Der Nihilismus, den Nietzsche als unabwendbar angekündigt, und der sich als geistige Lebensform durch den zweiten Weltkrieg vollenden sollte, war in den Spitzen der Intelligenz, in den Schriften eines Ernst Jünger etwa, schon fix und fertig. Den Nationalsozialismus hat ein in ihm Erfahrener »Die Revolution des Nihilismus« genannt, – er war es, im Gemisch mit sinistren Gläubigkeiten an das Inhumane, das Vorvernünftige und Chtonische, an Erde, Volk, Blut, Vergangenheit und Tod.29
Die eben angeführten Zitate beziehen sich direkt auf Jünger. Im Werke Thomas Manns gibt es aber auch sehr wichtige Kontexte, wo, obwohl der Name Jüngers nicht buchstäblich genannt wird, trotzdem ›Jünger’sche‹ Argumente im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Hier kann man zuerst gerade an den Zauberberg denken, wo ›Jünger’sche‹ bzw. zur geistigen Familie Jüngers (konservative Revolution) gehörende Argumentationen vom Jesuiten Leo Naphta vertreten werden. Naphta ist nämlich ein Befürworter des Krieges und seines auch antibürgerlichen Reinigungspotentials (»er werde kommen, dieser Krieg, und das sei gut, obgleich er anderes zeitigen werde, als seine Veranstalter sich davon versprächen«).30 Dann erscheint Naphta als ein Asket, der die bürgerliche Anhänglichkeit an Gesundheit und Leben, »die Liebe zu den körperlichen Bequemlichkeiten« grundsätzlich verachtet.31 Übrigens ist Naphta ein harter Pädagoge, für den die Erziehung der Jugend einem unerbittlichen Disziplinierungsprozess gleichzusetzen ist: Alle wahrhaft erzieherischen Verbände haben von jeher gewußt, um was es sich in Wahrheit bei aller Pädagogik immer nur handeln kann: nämlich um den absoluten Befehl, die 28
29
30 31
Thomas Mann, Briefe, hg. von Erika Mann, Bd. II: 1937–1947, Frankfurt/M. 1992, S. 464. – Fast dieselben Worte (»Wegbereiter des Nationalsozialismus und eiskalter Genüßling des Barbarismus«) stehen in einem Brief vom September 1945 an den Verleger Friedrich Krause (vgl. Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register, hg. von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer, 5 Bände, Frankfurt/M. 1977–1987, Bd. 3: Regest 45/467, S. 194). Thomas Mann, Meine Zeit. In: ders.: Essays, Bd. 6: 1945–1955, hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 1998, S. 160–182, hier S. 172 f. Mann, Der Zauberberg, S. 1046. Mann, Der Zauberberg, S. 677.
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eiserne Bindung, um Disziplin, Opfer, Verleugnung des Ich, Vergewaltigung der Persönlichkeit. Zuletzt bedeutet es ein liebloses Mißverstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit. Ihre tiefste Lust ist der Gehorsam.32
Unmittelbar darauf folgt im Zauberberg die berühmte Erklärung Naphtas für den Terror: »Nicht Befriedigung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie [die Jugend] braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist – der Terror«.33 Und es ist für unsere Fragestellung wichtig, dass die terroristische Erklärung Naphtas sehr eng mit der Zerstörung des (bürgerlichen) Ichs verbunden ist. Die Polemik des Jesuiten gegen »das liebe Individuum«34 repräsentiert nämlich den Punkt, an dem sowohl auf politischer als auch auf theoretischer Ebene die Parallele zwischen dem Naphta’schen Denken und der Jünger’schen bzw. konservativ-revolutionären Ideologie am interessantesten wirkt. Die »Verehrung des Einzelwesens« – so behauptet Naphta im großen Kapitel über die »Operationes spirituales« – gehöre nur »den allerplattsten bürgerlichen Regenschirmzeitläufen«, also nur den Perioden, die von der durch und durch bürgerlichen Idee der Sicherheit geprägt sind. Aber sobald etwas wirklich Ernstes im Spiele sei – und der Ernst stammt für Naphta immer aus der Sphäre des Überpersönlichen und Überindividuellen – wird »das Einzelleben nicht nur dem höheren Gedanken ohne Federlesen geopfert, sondern auch freiwillig, vom Individuum aus, unbedenklich in die Schanze geschlagen«.35 Wer sich an die Liquidierungsoperation des Individuums erinnert, die im Jünger’schen Arbeiter vollzogen wird – »immer wirkungsloser verhallt der Protest, der der privaten Sphäre entsteigt«36 – wird auch die beeindruckende Nähe zwischen einem genialen erzählerischen Produkt einerseits und einer unruhigen und gefährlichen historischen Konstellation andererseits ohne große Schwierigkeiten erkennen. Das für unsere Fragestellung mit Abstand wichtigste Werk Thomas Manns ist aber Doktor Faustus (1947). Mehr als zwanzig Jahre sind seit dem Zauberberg vergangen: eine sehr lange Zeitspanne, die für den Lübecker Schriftsteller größtenteils mit der kolossalen Arbeit am Joseph, dem mythischen Roman, gefüllt wurde. Und dass der Joseph programmatisch als mythischer Roman konzipiert wurde – »ich erzählte von Anfängen, wo alles zum ersten Male da war«37 – könnte auch für unseren Versuch von Belang sein, da die Mann’sche Beschäftigung mit der Welt des Mythos eine potentielle Brücke zu einem mythischen Schriftsteller wie Jünger schlagen könnte (was ist denn der »Arbeiter«, mit seinem fundierenden Appell, wenn nicht 32 33 34 35 36
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Mann, Der Zauberberg, S. 603. Mann, Der Zauberberg, S. 604. Mann, Der Zauberberg, S. 1054. Mann, Der Zauberberg, S. 694 f. Ernst Jünger, Der Arbeiter. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Essays II: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 9–317, hier S. 154. Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag (1942). In: ders.: Essays, Bd. 5, Deutschland und die Deutschen 1938–1945, hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 1996, S. 185–200, hier S. 196.
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ein Mythos?). Auch wenn in diesem Zusammenhang sofort festzustellen wäre, dass das mythische Interesse Thomas Manns auf seiner berühmten, aber für Jünger mitsamt seiner ganzen geistigen Familie völlig unakzeptablen Verbindung von Mythologie und Psychologie gründete, worauf Mann seine »Um-Funktionierung« des Mythos stützte. Obwohl in den tiefen und unergründlichen Brunnen der Vergangenheit versetzt, ist Joseph und seine Brüder ein Werk, das durch die Dialektik Modernität–Primitivismus stark geprägt ist. Joseph spielt hier nämlich die Rolle eines sehr modernen Menschen, der sich mit gefährlichen Atavismen (vor allem die Ägyptens – »das äffische Ägypterland« – aber auch die seines eigenen Stammes) auseinandersetzen muß. Und dieselbe Dialektik zwischen Modernität und Primitivismus – diesmal aber auf der Höhe des 20. Jahrhunderts verpflanzt – charakterisiert Doktor Faustus. Aber mit dem wesentlichen Unterschied, dass hier die Hauptfigur des Romans – der geniale deutsche Tonsetzer Adrian Leverkühn, dessen Leben von seinem humanistischen Freund Serenus Zeitblom erzählt wird – nicht mehr als Vertreter des Lichtes und Feind der Primitivität erscheint, sondern als eine tragische Gestalt, deren Schicksal sich gerade in einer äußerst komplizierten Verflechtung von Modernität und Primitivismus vollzieht. Was für den Jünger-Leser von größtem Interesse ist. Auch im Doktor Faustus wird selbstverständlich der Name Jüngers nicht genannt. Mehr denn je zirkulieren aber hier Jünger’sche und konservativ-revolutionäre Argumente, die für die Behandlung der Primitivismus-Frage bei Ernst Jünger sehr hilfreich sind. Die Mann’sche Rekonstruktion der Gespräche, die innerhalb des »Kridwiß-Kreises« von einer Gruppe unangenehm-intelligenter Vertreter eines neuen, auf der Höhe der Zeit konzipierten Konservatismus, geführt werden, repräsentiert in diesem Zusammenhang eine Quelle von großer Bedeutung. Im Kridwiß-Kreis spricht man zum Beispiel mit Genugtuung und böser Freude vom Tode des bürgerlichen Individuums und vom Heraufkommen neuer, den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts adäquaterer Gemeinschaften: das ist – wie wohlbekannt und oben schon kurz angedeutet – ein zentrales Argument des Arbeiters. Serenus Zeitblom, der den Diskussionen des Kreises beiwohnt, berichtet mit Bitterkeit von »einem neuen Lebensgefühl«, wo »Achtlosigkeit« und »Indifferenz gegen das Schicksal des Einzelwesen« dominieren: Es wurde sehr stark empfunden und objektiv festgestellt: der ungeheuere Wertverlust, den durch das Kriegsgeschehen das Individuum als solches erlitten hatte, die Achtlosigkeit, mit der heutzutage das Leben über den Einzelnen hinwegschritt, und die sich denn auch als allgemeine Gleichgültigkeit gegen sein Leiden und Untergehen im Gemüte der Menschen niederschlug.38 38
Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde [1947], hg. und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski u. a., Frankfurt/M. 2007 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 10.1), S. 529.
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Die Vertreter des Kridwiß-Kreises, dessen Hauptfigur der jüdische Gelehrte Chaim Breisacher ist (eine Montage zwischen Oswald Spengler und Oskar Goldberg), sind alle als die Exponenten einer »heraufziehenden Barbarei«39 und einer »intentionellen Re-Barbarisierung«40 dargestellt. Die »Re-Barbarisierung« ist intentionell: das bedeutet, dass die kulturkritische Gruppe konservativ-revolutionäre Positionen ausdrückt, bei denen gerade die absichtliche und schockierende Mischung aus Altem und Neuem tonangebend ist. Re-Barbarisierung: für uns als Jünger-Leser ist es hier von besonderer Wichtigkeit, dass der Pädagoge der Gruppe an eine Schulreform denkt, wo das Schreiben und das Lesen (das wäre das intellektualistische Wissen) vor dem »Sehen« und der »Vision«, und zwar vor unmittelbareren und verläßlicheren Formen einer als direkten Anschauung konzipierten Erkenntnis, zurücktreten müssten. »Wozu überhaupt Wörter, wozu Schreiben, wozu Sprache?« – fragt sich ungläubig, vor diese irrationalistischen Argumente gestellt, Serenus Zeitblom.41 Und obwohl er in diesem spezifischen Zusammenhang mit Hilfe der Ironie anscheinend davonkommt,42 bleibt ihm der Kontakt mit der avantgardistischen Gruppe und ihrer Forderung nach einer »an die Dinge«, an diese allein gebundenen »radikalen Sachlichkeit«,43 eine unvergesslich-bedrohliche Erfahrung. Um die Sachlichkeit zu erreichen, bedürfe man also nicht des Denkens, sondern des Blickes: ein im Deutschland der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sehr gefragtes Gut.44 »Ich habe als Mitgift für das Leben den Blick bekommen«, so sagte von sich selbst, in seinen biographischen Aufzeichnungen, ein großer »Seher« wie Oswald Spengler,45 der – wie wohlbekannt – für Jünger sehr wichtig war.46 Die unkonventionelle Bemerkung Ernst Jüngers über die Bilderbücher und ihre Primitivität, die am Anfang unseres Beitrags diskutiert wurde, steht ganz offensichtlich in diesem Zusammenhang. Die Mitglieder des Kridwiß-Kreises (Kridwiß ist bekanntlich ein literarisches alter ego von Emil Preetorius) sind von Thomas Mann als die Fahnenträger einer 39 40 41 42
43 44
45
46
Mann, Doktor Faustus, S. 531. Mann, Doktor Faustus, S. 537. Mann, Doktor Faustus, S. 537. »Und ich erinnerte mich an eine Satire von Swift, wo reformfreudige Gelehrte beschließen, zur Schonung der Lungen und um der Phrase zu entgehen, Wort und Rede überhaupt abzuschaffen und sich nur durch Vorzeigung der Dinge selbst zu unterhalten, die man allerdings, im Interesse der Verständigung, möglichst vollzählig auf dem Rücken mit sich würde herumtragen müssen« (Mann, Doktor Faustus, S. 537). Mann, Doktor Faustus, S. 491. Dazu die spöttische Opposition eines Max Weber: »Wer ›Schau‹ wünscht, gehe ins Lichtspiel« (Max Weber, Vorbemerkung. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1988, S. 1–16, hier S. 14). Oswald Spengler, Ich beneide jeden, der lebt. Die Aufzeichnungen »Eis heauton« aus dem Nachlaß, mit einem Nachwort von Gilbert Merlio, Düsseldorf 2007, S. 11. Die Beziehungen zwischen Jünger und Spengler werden in meinem Buch Albe e tramonti d’Europa. Ernst Jünger e Oswald Spengler, Roma 2009, analysiert.
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neuen, der langsamen und mühsamen Mechanismen des Denkens und der Vernunft immer mehr überdrüssigen Sensibilität dargestellt. Die daraus resultierende Ideologie ist eine Ideologie, die, indem sie die Zentralität der Instinkte, des Elementaren, der Unmittelbarkeit, der Wesentlichkeit, des Sehens hervorhebt und verabsolutiert, als modern und archaisch zugleich erscheint. Gerade in dieser Mischung aus Modernität und Archaik bestehen nach Thomas Mann ihre Gefährlichkeit und Explosivität. Das ist aber noch nicht alles. Einer aufmerksamen Betrachtung dürfte es nämlich nicht entgehen, dass auch die Musik des genialen Tonsetzers Adrian Leverkühn von Thomas Mann auf eine Art und Weise konstruiert wird, die auf musikalischer Ebene gerade demselben Grundmuster folgt, das auf ideologischem Niveau von den Mitgliedern des Kridwiß-Kreises vertreten wird. Auch die Musik Leverkühns ist modern und archaisch: Dodekaphonie und Oratorium zugleich, mit dem nicht nur musikalischen, sondern auch politischen Effekt, dass es in solcher Musik »keine freie Note mehr« gibt.47 An einer wichtigen musiktheoretischen Stelle des Doktor Faustus, die auch für Jünger-Leser hochinteressant ist, wird das Arietta-Thema in der Sonate Opus 111 von Beethoven als die »rührendste, tröstlichste, wehmütig versöhnlichste Handlung von der Welt« beschrieben: Es ist wie ein schmerzlich liebevolles Streichen über das Haar, über die Wange, ein stiller, tiefer Blick ins Auge zum letzten Mal. Es segnet das Objekt, die furchtbar umgetriebene Formung mit überwältigender Vermenschlichung, legt sie dem Hörer zum Abschied, zum ewigen Abschied, so sanft ans Herz, daß ihm die Augen übergehen.48
Um aber wirklich das Präludium der Cello-Suite von Bach hören zu können – das für Leverkühn und seinen Musiklehrer Wendell Kretschmar in eine andere, ihrer Meinung nach überlegene Dimension führt – müsse das Herz, wie es in der Schrift heiße, »mit Besemen gekehret« werden.49 Das Herz muß also – so unser Kommentar – von den Verkrustungen der Individualität gereinigt und befreit werden. Das Herz, das abenteuerliche. Die antipsychologistischen, antiindividualistischen, antibürgerlichen Elemente der Musik Adrian Leverkühns weisen Züge auf, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Bild des neuen Menschen offenbaren, das Ernst Jünger am prägnantesten in Der Arbeiter und in den Schriften der dazu gehörenden Konstellation (so Über den Schmerz und Die totale Mobilmachung) zeichnet. Die außerordentlichen physiognomischen Analysen des menschlichen Gesichtes und seiner Verwandlungen in der Epoche des Übergangs von der sterbenden bürgerlichen Welt zur herauf47
48 49
Mann, Doktor Faustus, S. 280. – Zu dieser Problematik sei der Hinweis erlaubt auf Domenico Conte, »Spazzare il cuore con la scopa«. Crisi dell’individuo, primitività e fascismo nel Doktor Faustus di Thomas Mann. In: Krise als Chance aus historischer und aktueller Perspektive, hg. von Elmar Schafroth u. a., Oberhausen 2010, S. 78–111. Mann, Doktor Faustus, S. 85. Mann, Doktor Faustus, S. 96.
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steigenden des Arbeiters drücken diese Problematik am klarsten aus. Man liest im Arbeiter: Verändert hat sich auch das Gesicht, das dem Beobachter unter dem Stahlhelm oder der Sturzkappe entgegenblickt. Es hat in der Skala seiner Ausführungen, wie sie etwa in einer Versammlung oder auf Gruppenbildern zu beobachten ist, an Mannigfaltigkeit und damit an Individualität verloren, während es an Schärfe und Bestimmtheit der Einzelausprägung gewonnen hat. Es ist metallischer geworden, auf seiner Oberfläche gleichsam galvanisiert, der Knochenbau tritt deutlich hervor, die Züge sind ausgespart und angespannt. Der Blick ist ruhig und fixiert, geschult an der Betrachtung von Gegenständen, die in Zuständen hoher Geschwindigkeit zu erfassen sind. Es ist dies das Gesicht einer Rasse, die sich unter den eigenartigen Anforderungen einer neuen Landschaft zu entwickeln beginnt und die der Einzelne nicht als Person oder als Individuum, sondern als Typus repräsentiert.50
Dieselben Argumente werden von Jünger 1934 in dem großen, aber auch inhumanen Aufsatz Über den Schmerz wieder aufgenommen, in dem vom »disziplinierten« Gesicht die Rede ist: Was man in der liberalen Welt unter dem »guten« Gesicht verstand, war eigentlich das feine Gesicht, nervös, beweglich, veränderlich und geöffnet den verschiedenartigsten Einflüssen und Anregungen. Das disziplinierte Gesicht dagegen ist geschlossen; es besitzt einen festen Blickpunkt und ist einseitig, gegenständlich und starr. Bei jeder Art von gerichteter Ausbildung bemerkt man bald, wie sich der Eingriff fester und unpersönlicher Regeln und Vorschriften in der Härtung des Gesichtes niederschlägt.51
Noch ein kleiner Schritt, den Jünger gerne zurücklegt, und das neue Gesicht zur Maske wird, bei den Männern einen »metallischen«, bei den Frauen dagegen einen »kosmetischen« Eindruck erweckend.52 Und eben dieser Maske wird von Jünger eine »heraldische« Bedeutung zugeschrieben.53 Die Maske: das Symbol sowohl antiker und vorbürgerlicher Epochen als auch einer typisierenden und roboterhaften, nachbürgerlichen Modernität.
3. Der neue Mensch, der von Ernst Jünger angekündigt wird, schwebt tatsächlich wie »an der Zeitmauer«, zwischen düster-metallischen Zukunftsvisionen und einer mythenbildenden Primitivität. In der Mitte, die Krise einer bürgerlichen, humanen, letzten Endes individuellen Welt, die, zu Recht oder zu Unrecht, im hoffnungslosem Untergang gesehen wurde. 50 51
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Jünger, Der Arbeiter, S. 116–117. Ernst Jünger, Über den Schmerz. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7, Essays I. Betrachtungen zur Zeit, S. 143–191, hier S. 165. Jünger, Der Arbeiter, S. 126. Jünger, Der Arbeiter, S. 157.
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Literatur Aspetsberger, Friedrich: Arnolt Bronnen. Biographie (Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 34), Wien u. a. 1995. Baeumler, Alfred: Metaphysik und Geschichte. Offener Brief an Thomas Mann. In: Die neue Rundschau, XXXI, 1920, Bd. 2, S. 1113–1129. Bluhm, Lothar: »Ein geistiger Wegbereiter und eiskalter Wollüstling der Barbarei«. Thomas Mann über Ernst Jünger. Eine Studie zu Manns politisch-literarischer Urteilsbildung. In: Wirkendes Wort, 46, 1996, H. 3, S. 424–445. Auch in: »Weil ich finde, daß man sich nicht ›entziehen‹ soll«. Gesammelte Aufsätze zu Thomas Mann und seinem Werk, hg. von Lothar Bluhm/Heinz Rölleke, Trier 2001 (Wirkendes Wort, Sonderband), S. 378–399. Conte, Domenico: »Spazzare il cuore con la scopa«. Crisi dell’individuo, primitività e fascismo nel Doktor Faustus di Thomas Mann. In: Krise als Chance aus historischer und aktueller Perspektive, hg. von Elmar Schafroth u. a., Oberhausen 2010 (Beiträge zur Kulturwissenschaft 19), S. 78–111. Conte, Domenico: Albe e tramonti d’Europa. Ernst Jünger e Oswald Spengler, Roma 2009 (Uomini e dottrine 50). Croce, Benedetto: La fine della civiltà. In: ders.: Filosofia e storiografia, a cura di S. Maschietti, Napoli 2005, S. 283–291. De Martino, Ernesto: La fine del mondo. Contributo all’analisi delle apocalissi culturali, a cura di C. Gallini, Torino 1977 (Nuova biblioteca scientifica Einaudi 59), S. 497–498. Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register, hg. von Hans Bürgin/Hans-Otto Mayer, 5 Bände, Frankfurt/M. 1977–1987. Hasselbach, Karlheinz: »Das Geheimnis der Identität«. Ernst Jüngers ›Der Arbeiter‹ im Lichte von Thomas Manns ›Doktor Faustus‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 69, 1995, H. 1, S. 146–171. Jünger, Ernst: Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung (1929), Stuttgart 1987. Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Stuttgart 1978–2004. Jünger, Ernst/Edmund Schultz: Il mondo mutato. Un sillabario per immagini del nostro tempo, a cura di M. Guerri, Milano 2007. Jünger, Friedrich Georg: Der entzauberte Berg. In: Ulrich Fröschle/Thomas Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger. Mit einem Anhang der überlieferten Korrespondenz und weiterem Material, Dresden 2008, S. 206–211. Jünger, Friedrich Georg: Konstruktionen und Parallelen. In: Ulrich Fröschle/Thomas Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger. Mit einem Anhang der überlieferten Korrespondenz und weiterem Material, Dresden 2008, S. 211–216. Mann, Thomas: Briefe, hg. von Erika Mann, Bd. II: 1937–1947, Frankfurt/M. 1992. Mann, Thomas, Der Zauberberg [1924], hg. u. textkritisch durchgesehen von Michael Neumann, Frankfurt/M. 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 5.1). Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde [1947], hg. u. textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski u.a., Frankfurt/M. 2007 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 10.1). Mann, Thomas: Essays, Bd. 5, Deutschland und die Deutschen 1938–1945, hg. von Hermann Kurzke/Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 1996. Mann, Thomas: Essays, Bd. 6, 1945–1955, hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 1998.
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Mann, Thomas: Essays II 1914–1926, hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von Jöelle Sloupy u. a., Frankfurt/M. 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 15.1). Mann, Thomas: Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte. In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band X: Reden und Aufsätze 2, Frankfurt/M. 1974, S. 256–280. Manthey, Jürgen: Ein Don Quijote der Brutalität. Ernst Jüngers ›Der Arbeiter‹. In: Text+Kritik, Heft 105/106 Ernst Jünger, 1990, S. 36–51. Rupprecht, Michael: Thomas Mann und Ernst Jünger. In: Wirkendes Wort, 46, 1996, H. 3, S. 411–423. Auch in: »Weil ich finde, daß man sich nicht ›entziehen‹ soll«. Gesammelte Aufsätze zu Thomas Mann und seinem Werk, hg. von Lothar Bluhm/Heinz Rölleke, Trier 2001 (Wirkendes Wort, Sonderband), S. 365–377. Spengler, Oswald: Ich beneide jeden, der lebt. Die Aufzeichnungen ›Eis heauton‹ aus dem Nachlaß, mit einem Nachwort von Gilbert Merlio, Düsseldorf 2007. Troeltsch, Ernst: Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922. Weber, Max: Vorbemerkung. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionsoziologie I, Tübingen 1988, S. 1–16.
Gabriele Guerra
Auf den Marmorklippen: (k)ein Schlüsselroman? Opfertheologische und -politische Bemerkungen am Beispiel der Rezeption durch Julius Evola1 Im Mythos ist das Opfer unfreiwillig; im Mysterium ist es freiwillig2
Am 15. November 1942 merkt Ernst Jünger in seinen Strahlungen etwas Merkwürdiges an, das sich lohnt, näher zu betrachten: Lektüre der Zeitschrift »Zalmoxis«, die sich nach einem von Herodot erwähnten skythischen Herakles benennt. Ich las darin zwei Aufsätze, einen über die Bräuche, unter denen die Wurzel der Mandragora ausgegraben und verwendet wird, und einen zweiten über den »Symbolisme Aquatique«, der die Beziehungen zwischen dem Monde, den Frauen und dem Meer bespricht. Beide stammen von Mircea Eliade, dem Herausgeber, über den, sowie über seinen Meister René Guénon, Carl Schmitt mir Näheres berichtete.3
Dies ist Jüngers erste Eintragung, in der er den bekannten rumänischen Religionswissenschaftler erwähnt. Aber die Anmerkung ist nicht nur deswegen wichtig, sondern auch, weil er hier Eliade überraschenderweise als Schüler von René Guénon vorstellt. Diese Stilisierung des wissenschaftlichen Werdegangs Eliades ist ziemlich gewagt und verkürzend, aber nicht falsch;4 und sie vermag so manche damalige geistige, politische und kulturelle Konstellation zu erklären: vor allem eine geistespolitische Stimmung, die aus einem in Krieg versunkenen und »verdunkelten Dahlem« – so Jünger weiter in dieser Anmerkung – herausragt: 1
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Anlass für diesen Aufsatz sind die Studien, die der verstorbene italienische Religionswissenschaftler Cristiano Grottanelli dem Thema des Opfers bei Jünger, Evola und Mircea Eliade u. a. gewidmet hatte und mir somit Raum für dessen literaturwissenschaftliche und geistesgeschichtliche Vertiefung bietet. Vgl. Cristiano Grottanelli, Il sacrificio, Roma-Bari 1999 (Biblioteca essenziale 24), bes. S. 104–107; Cristiano Grottanelli, Mircea Eliade, Carl Schmitt, René Guenon, 1942. In: Revue de l’historie des religions, Bd. 219, H. 3, 2002, S. 325–356; Cristiano Grottanelli, Fruitful death: Mircea Eliade and Ernst Jünger on human sacrifice, 1937–1945. In: Numen, Bd. 52, H. 1, 2005, S. 116–145, und Cristiano Grottanelli, War-time Connections: Dumézil and Eliade, Eliade and Schmitt, Schmitt and Evola, Drieu La Rochelle and Dumézil. In: The Study of Religion under the impact of the Fascism, hg. von Horst Junginger, Leiden 2008, S. 303–313. Dmitri Mereschkowski, Die Geheimnisse des Ostens, Berlin 1924, S. 218. Ernst Jünger, Strahlungen I [1949]. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II. Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 414. René Guénon ist tatsächlich wichtig für den jungen Eliade gewesen; dennoch hat Ersterer kaum, wenn doch nur kritische, Spuren im späteren Werk des Zweiten hinterlassen. Vgl. dazu Enrico Montanari, Eliade e Guénon. In: Studi e materiali di storia delle religioni n.s. XIX, H. 1, 1995, S. 131–149.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-007
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Abends Spaziergang durch das verdunkelte Dahlem; wir sprachen dabei über die Herrnhuter Tageslosungen, die Quatrains von Nostradamus, über Jesaja und Prophezeiungen überhaupt. Daß Prophezeiungen zutreffen, und zwar für die verschiedensten Zeiträume, ist das Zeichen, an dem man die eigentlich prophetische Kraft der Vision erkennt. Im Ablauf der Zeiten wiederholt sich kaleidoskopisch, was der Seher in den Elementen schaut. Sein Blick ruht nicht auf der Historie, sondern auf der Substanz, nicht auf der Zukunft, sondern auf dem Gesetz. Mit Recht gilt daher die bloße Kenntnis zukünftiger Daten und Konstellationen als Zeichen krankhafter Einsicht oder niederer Magie.5
Wenn Ernst Jünger über die Kraft der Prophezeiungen »als Zeichen krankhafter Einsicht oder niederer Magie« spricht, soll das nicht etwa irreführen, denn es geht hier schließlich darum, eine »echte« von einer »falschen« prophetischen Kraft zu unterscheiden. Nicht umsonst spricht Jünger in dieser Anmerkung von Eliade und dessen Bilderschrift, die die neue, von ihm herausgegebene Zeitschrift »anspinne«, also auch kennzeichne, und setzt diese Bilderschrift der logischen Schrift entgegen.6 Eine Bilderschrift impliziert für Jünger im Gegensatz zur Logikschrift den Rekurs auf das Symbolische, auf das Supranaturale, und daher auch den Rekurs auf das Verborgene als Element einer noch zu entwickelnden Geheimwissenschaft. Im Folgenden geht es darum, diese Faszination Jüngers für das Symbolische kurz in ihrer Entwicklungsgeschichte, besonders in den 1930er und -40er Jahren sowie in einigen späteren Phasen, zu rekonstruieren. Ein Ziel ist dabei, sichtbar zu machen, wie sich diese Faszination in Form einer Lehre entwickeln wird, die »auf dem Gedanken einer Elite der Wissenden« beruht.7 Der Roman Auf den Marmorklippen, 1939 verfasst und veröffentlicht, ist der entscheidende Anhaltspunkt für eine Konstellation, in der Esoterik und romantisches Heldenepos, verkappte politische Stellungnahme und religiös gefärbte Symbolik zusammenkommen. Schon in den ersten Zeilen des Romans begegnen wir einer von der Philosophie geprägten Erzählweise, die programmatisch zwischen »wilder Schwermut« und »lockendem Hervortreten der Bilder«, so Jünger selbst, oszilliert: »Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch tre5 6
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Jünger, Strahlungen I, S. 414 f. »Der Plan, der sich in dieser Zeitschrift ausweist, ist vielversprechend; statt der logischen spinnt sich eine Bilderschrift in ihr an« (Jünger, Strahlungen I, S. 414). »Die Bildung von esoterischen Zirkeln, von Gemeinden von Eingeweihten beruhte vielmehr in hohem Maße auf dem Gedanken einer Elite der Wissenden. Je dürftiger die Zeiten, desto mehr musste sich diese Elite zunächst auf sich selbst konzentrieren, doch immer mit der Perspektive und dem Anspruch, die Keimzelle künftiger Wirkung zu bilden« (Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 24), S. 332.
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ten im Nachglanz die Bilder lockender hervor«.8 Schon am Anfang des Romans ergibt sich somit ein symbolischer Bildraum, der die Flucht aus den »Schrecken der Geschichte« (um hier die Terminologie Eliades zu benutzen) hin ins Symbolische und Archetypische erlaubt: Der nun einsame Schriftsteller erarbeitet sich eine »verdeckte Schreibweise« und somit eine Kodierung, die ihm einen individuellen Weg ermöglicht, sich dem Terror des Nationalsozialismus zu entziehen, ohne dabei jedoch einen idyllischen Literaturbegriff zu wählen, der eine schlichte Politikflucht wäre. Jünger entscheidet sich damit für eine kryptopolitische Haltung, die er auch noch später beibehält.9 Das anziehende Hervortreten der Bilder im Nachglanz, von dem Jünger spricht, ist hier also eine politische Pathosformel, die durchaus auch religiös konnotiert ist. In diesem Sinne dokumentiert Jüngers Roman ein kulturpolitisches Denken dieser Jahre, das sich bei genauerem Hinsehen als implizite Opposition gegen das Regime entlarvt. Indem man auf einen »neuen«, »kommenden Gott« hoffte, wünschte man sich die Befreiung Deutschlands von der braunen Pest. Und dieses Hoffen auf einen neuen, kommenden Gott in einem nunmehr gottlos gewordenen Land hat wiederum seine Wurzeln in der Geistesgeschichte der Romantik. Manfred Frank hat diesen Gott, wenngleich für die Frühromantik, wie folgt beschrieben: »der Zukunfts-Gott, der am Endpunkt eines mythischen Prozesses, unter Bedingungen einer rationalen Daseinsorientierung die Substanz der religiösen Hoffnung späteren Geschlechtern aufbewahrt«.10 Diese intellektuelle Haltung sieht Frank durch den Hang zur Mythologie als offenbarte Religion überlagert (wie es im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus exemplarisch deklariert wird). Sie kennzeichnet dabei aber auch die kultursoziologische Stilisierung des Intellektuellen, die bis zum Hegel’schen Begriff der Kunstreligion zurückreicht. Nach Hegel nämlich entwirft der Geist die kultischen Handlungen und das Kunstwerk als ein Einziges; er denkt also Kult und Kultur zusammen.11 So entsteht die Tendenz zur Sakralisierung der Kunst als Theorie und Praxis, aber eben auch eine esoterische, das Geheimnis suchende Haltung, die sich formell an 8
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Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen [1939]. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 15: Erzählende Schriften I: Erzählungen, Stuttgart 1978, S. 247–351, hier S. 249. Mit »Schrecken der Geschichte« versteht man einen locus classicus des Denkens Mircea Eliades (vgl. exemplarisch dazu Mircea Eliade, Der Mythos von der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953, S. 215); von »verdeckter Schreibweise« als Praxis der Literatur der Inneren Emigration sprechen Heidrun Ehrke-Rotermund und Erwin Rotermund in dem von ihnen herausgegeben Buch Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur »Verdeckten Schreibweise« im »Dritten Reich«, München 1999. Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982 (Neue Folge 142), S. 12. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807]. In: ders: Werke, Bd. 3, Frankfurt/M. 1979, S. 512–515.
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den antiken Mysterien orientiert.12 Diese intellektuelle Haltung war sehr einflussreich in der deutschen Geistesgeschichte und hat in mehreren Aspekten auf deren Wirkungsgeschichte ausgestrahlt, schließlich auch auf die Literatur der Inneren Emigration. Die Marmorklippen lassen sich eben in diesem Sinne als eine »Mysterienrede« verstehen,13 die nach Dirk von Petersdorff das Selbstverständnis romantischer Intellektueller kennzeichnet. Der Autor spricht davon, dass »die romantische Intelligenz einen Exklusionscode [entwickelt], der die Inkommunikabilität des eigenen Wissens behauptet und sich gegen das Postulat diskursiver Explikation wendet«.14 Das impliziert, dass der Roman eine kultursoziologische Kodierung zeigt, die sich politisch und religiös zugleich und daher nicht ausschließlich literarisch deuten lässt. Jüngers Roman ist eine »symbolistische Erzählung mit Anklängen an die Schauerromantik« im Sinne Helmuth Kiesels,15 und auch ein »philologisches Politikum«, wie es Günter Scholdt sagt.16 Die Marmorklippen sind ferner als »Widerstandsparabel« und nahezu als eine »politische« Stellungnahme zu lesen, wenngleich in dem relativierenden und metaphysischen Sinn, in dem Jünger die Politik versteht. Die Romanlektüre, die auf diese Weise entsteht, ist als eine literarische und politische Leistung zu definieren, die den Bedarf nach einer religiösen – also mysterienorientierten – Tendenz zeigt. Es ist dabei nun wichtig, daran zu erinnern, dass die Tendenz zur gemeinschaftsstiftenden Exklusivität im Sinne Petersdorffs ganz der literarischen und politischen Haltung Jüngers entspricht: man denke z. B. an die Reflexion in der Erstfassung seines Abenteuerlichen Herzens, die programmatisch von »eine[m] Verdacht« spricht, »der die Grenzen der Gewißheit streift«, 12
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Ist die Kunstreligion Hegels eine christliche Denkkonstruktion, so lässt sie sich aber auch als religionskritische Operation ertappen: »Kunstreligion wird immer irgendwie die Kunstreligion des Christentums sein. Wenn aber Kunstreligion notwendig beides zu sein hat: neu und adäquat modern ebenso wie auf eine kaum noch zu rechtfertigende Tradition angewiesen, so wird sie stets nur existieren können in Koexistenz mit ihrer eigenen Krise: ein Monstrum, hervorgegangen aus der unheiligen Hochzeit von Religion und Religionskritik« (Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006 (Palaestra 323), S. 502). In diesem Sinn setzt sich jede Kunstreligion dem konstitutiven Widerspruch aus, christlich und nicht-christlich (also heidnisch) zugleich zu sein. Man denke z. B. an die Romanepisode, in der der Prinz Sunmiyra und Braquemart, der »reine Techniker der Macht«, in die Wälder gegangen sind, um ohne Vorwarnung den Oberförster erfolglos anzugreifen: »Doch schien uns möglich – so der Kommentar des Erzählichs –, daß Pater Lampros beide auf eine tiefe Weise hätte ändern und einen können, wie es durch die Mysterien geschieht« (Jünger, Auf den Marmorklippen, S. 322). Dirk von Petersdorff, Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller, Tübingen 1996, (Studien zur deutschen Literatur 139), S. 11. Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 478. Vgl. Günter Scholdt, »Gescheitert an den Marmorklippen«. Zur Kritik an Ernst Jüngers Widerstandsroman. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 98, 1979, S. 543–577.
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daß unter uns eine erlesene Schar, die sich längst aus den Bibliotheken und dem Staub der Arenen zurückgezogen hat, im innersten Raume, in einem dunkelsten Tibet, an der Arbeit ist. Ich glaube an Menschen, die einsam in nächtlichen Zimmern sitzen, unbeweglich wie Felsen, durch deren Höhlen die Strömung funkelt, die draußen jedes Mühlrad dreht und das Heer der Maschinen in Tempo hält – hier aber jedem Zweck entfremdet und von Herzen aufgefangen, die als die heißen, zitternden Wiegen aller Kräfte und Gewalten jedem äußeren Lichte für immer entzogen sind.17
Einen solchen literarischen und politischen Diskurs der erlesenen Schar, der den Nöten der Zeit ein Geheimwissen entgegenstellt (Ausdruck einer »klassisch-romantischen Ästhetik«18), teilt Jünger mit Carl Schmitt,19 wie auch mit anderen kulturkonservativen Denkern und Intellektuellen der Zeit. Darunter ist auch der Italiener Julius Evola: Dieser war – und ist noch immer – eine sehr umstrittene Figur, vor allem, weil sie zum rechtsradikalen – wenn nicht explizit zum faschistischen – politischen Lager auch in der Nachkriegszeit zu zählen ist. Es ist hier aber nicht von Bedeutung, seine politische Position in der italienischen Kultur zu berücksichtigen, vielmehr geht es mir darum, seine Rolle in der deutschen Geistesgeschichte der Dreißiger und Vierziger Jahre zu skizzieren. Ein unerwarteter Zeuge kann uns dabei helfen: Hermann Hesse, der in einem Brief aus dem Jahr 1935 an den Verleger Peter Suhrkamp Folgendes schreibt: 17
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Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht [1929]. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III. Das abenteuerliche Herz, Stuttgart 1978, S. 31–176, hier S. 39. Dieselbe Stelle taucht in der zweiten Fassung wieder auf, dann aber nicht subjektiv eingeführt (»ich hege einen Verdacht...«), sondern durch den Rekurs auf die Figur des Nigromontanus: »Zu den Dingen, die Nigromontanus mich lehrte, gehört die Gewissheit...« (Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Figurationen und Capriccios [1938]. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III. Das abenteuerliche Herz, Stuttgart 1978, S. 177–330, hier S. 189). Hinter dieser Figur, die eine große Rolle in den Marmorklippen spielen wird, steht der mit Jünger befreundete Philosoph Hugo Fischer (Vgl. dazu Steffen Martus, Ernst Jünger, Stuttgart 2001 (Sammlung Metzler 333), S. 125). Vgl. Kiesel, Ernst Jünger, S. 348. »Goethes Idee der ›kleinsten Schar‹; der Clan und der Totem. Entdeckte einen locus classicus der Soziologie der Elite als association politico-criminelle; die préface zur Historie des Treize von Balzac; alle Requisiten: Geheimbund, verschworene Gemeinschaft, Elite, Gefolgschaftstraum, Magie, Macht, alles das romantisiert. Warum soll das kein Wegbahner des H[itlers] Regimes gewesen sein? Diese Romantisierung des Verbrechens!« (Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, Berlin 1991, S. 35). Schmitts Bezug auf Goethe verweist auf dessen Vermächtnis zurück: »Und war es endlich dir gelungen, / Und bist du vom Gefühl durchdrungen: / Was fruchtbar ist, allein ist wahr / Du prüfst das allgemeine Walten, Es wird nach seiner Weise schalten, / Geselle dich zur kleinsten Schar« (Johann Wolfgang Goethe, Vermächtnis [1827]. In: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 2, Frankfurt/M. 1987, S. 685–686, hier S. 686).
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Wie ich sehe, haben Sie auch den Evola vergeben [gemeint ist hier die deutsche Ausgabe des Buches Erhebung wider die moderne Welt]. [...] Dieser blendende und interessante, aber recht gefährliche Autor ist ein klassisches Beispiel für eine gewisse Art, esoterisches Wissen anscheinend in exoterisches umzusetzen. [...] Ich teile weitgehend seine exoterische Grundauffassung: seit bald 20 Jahren schon sehe ich die Weltgeschichte nicht mehr im Bilde irgendeines »Fortschritts«, sondern eher wie die alten Chinesen als allmählichen Verfall einer Ordnung, die göttlich war. Die Art aber, wie Evola bald mit »wirklicher« Historie, bald mit wichtigtuerischem Okkultismus seine Halbwissenschaft treibt, ist lediglich gefährlich. Es wird in Italien beinahe niemand auf ihn hereinfallen, in Deutschland ist das anders (siehe G. Benn etc.).20
Das Zitat zeigt sehr gut den Einfluss Evolas auf die deutsche Kultur und Politik. Der von Hesse erwähnte Benn war in der Tat von Evola derart beeindruckt, dass er über das Buch Erhebung wider die moderne Welt schrieb: »Es ist für mich kein Zweifel, daß es politisch in die Richtung jener ghibellinischen Synthese geht, von der Evola sagt, die Adler Odins fliegen den Adlern der römischen Legion entgegen«.21 Jenseits der pathosgeladenen und politisch befremdenden Rhetorik ist hier auf den ghibellinischen Reichsgedanken hinzuweisen, durch den sich Evola im nationalsozialistischen Deutschland bekannt gemacht hatte. Durch die Übersetzung zweier seiner Werke – eben die schon erwähnte Erhebung wider die moderne Welt sowie Heidnischer Imperialismus – verbreiteten sich in Deutschland seine politischen Überzeugungen, die auf einer imperialen, traditionsverhafteten hierarchischen Idee aufbauten. Er fand somit einen relativ breiten Widerhall innerhalb des politischen Lagers der Konservativen Revolution, etwa bei dem schon erwähnten Benn, aber auch im Deutschen Herrenklub des Baron von Gleichen, Edgar Jungs und Franz von Papens, bei einem Hans Blüher oder beim Prinz von Rohan.22 Die Beziehung Julius Evolas zu Ernst Jünger ist einerseits, auf der rein biographischen Ebene, durch viele Missverständnisse und Schatten geprägt und daher wirklich nicht als »Symbiose« zu beschreiben, wie es in Italien bisweilen getan wurde.23 Andererseits gibt es durchaus einen gemeinsamen Nenner zwischen dem deutschen Schriftsteller und dem italienischen Philosophen: beide teilten eine radikale und antizivilisatorische Kulturkritik sowie 20
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22
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Hermann Hesse, Gesammelte Briefe. Zweiter Band 1922–1935. Frankfurt/M. 1979, S. 465. Gottfried Benn, Bekenntnis zum Expressionismus [1933]. In: ders.: Gesammelte Werke Bd. 1: Essays – Reden – Vorträge, Wiesbaden 1958, S. 255. Vgl. dazu H. T. Hansen, (id est Hans Thomas Hakl), Julius Evola und die deutsche konservative Revolution. In: Criticón, Bd. 158, 1998, S. 16–32. Vgl. Francesco Cannata, A destra del fascismo. Profilo politico di Julius Evola, Torino 2003, S. 356: »In particolare tre sono gli aspetti che rendono la simbiosi Evola-Jünger particolarmente rilevante per le sue implicazioni politico-ideologiche: 1) la giustificazione della violenza, come via di realizzazione spirituale; 2) l’elaborazione del modello eticoantropologico del ›guerriero‹ mutuato in gran parte da quello dell’Arbeiter; 3) l’idea di un attraversamento della linea del nichilismo sulla base di un’etica fondata sul »realismo eroico« jüngeriano«.
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eine programmatische Hermetik und Esoterik. Evolas Faszination für Jünger konzentrierte sich im Wesentlichen auf den Arbeiter;24 seine Interpretation der Marmorklippen ist jedoch ebenfalls interessant, denn sie ist als symbolische und traditionsbezogene Romaninterpretation exemplarisch. Evola betont in einer 1943 geschriebenen Rezension den Schlüsselcharakter des Romans, in dem sich zwei Welten gegenüberstehen: die der »Marina« ist, wie er schreibt, »eine patriarchalische und traditionale Welt, wo das Leben in der Natur und in deren Studium ihr Pendant in der höheren Weisheit und in einem asketischen und sakralen Symbol haben. Diese Welt wird im Roman durch Pater Lampros hervorragend verkörpert«.25 Demgegenüber steht eine Welt, »wo eine furchterregende, diabolische Figur herrscht, die Jünger durch den ›Oberförster‹ darstellt: diese Welt ist eine ›elementare‹, gewalt- und grausamkeitsvolle, ja eine schmachvolle, menschenverachtende Welt«.26 Evola evoziert eine »Götterdämmerung«-Stimmung in dem Roman, eine »phantastisch-symbolische« Dimension, die einen episch-tragischen Charakter hat, weil »das letzte Wort für diese Welt der Marmorklippen durch den Triumph der von dem Oberförster freigegebenen Mächte dargestellt ist«.27 Die »einzige Hoffnung in dieser Tragödie« sieht Evola dagegen darin, dass »gerade die Erfahrung des vernichtenden Feuers für den Einzelnen den Anfang der Wiedergeburt und die Schwelle zu einer unbestechlichen Welt sein kann«.28 Das, was nach Evola in der Marina auf diese Weise untergeht, ist eine Welt »der Qualität, der Persönlichkeit, der Askese, der Mysterien- und Heilstradition, ja der ›Kultur‹ im höheren Sinn«.29 Seine Schlussfolgerung ist in dieser Hinsicht sehr konsequent: Er lehnt die »apokalyptische Seite« des Romans ab, erkennt aber deren »Hellsichtigkeit« an, die »dem Ernst dieser Zeit entspricht«, denn der Roman beschreibe den Einbruch des Elementaren als ein reales Phänomen. Dementgegen wünscht sich Evola eine geistige Tradition in ihrem höchsten Sinn, eine Ordnung, nicht nur in dem kriegerisch-aktivistischen Sinn des früheren Jünger, sondern eben in Bezug auf transzendentale Werte, auf die geheimen Reihen, die ›nicht von dieser Welt sind‹ und die vielleicht bis heute aufbewahrt worden sind. […] Das Antlitz der kommenden Epoche geht von der Wahrscheinlichkeit aus, mit der sich trotz alledem diese Möglichkeit verwirklichen wird.30 24
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Zu dessen Interpretation vgl. Andrea Benedetti, Die Rezeption des Arbeiters bei Delio Cantimori und Julius Evola. In: Ernst Jünger – eine Bilanz, hg. von Natalia Żarska u. a., Leipzig 2010, S. 358–367. Julius Evola, L’»Operaio« e le Scogliere di Marmo [1943]. In: ders.: L’Operaio nel pensiero di Ernst Jünger, Roma 1998, S. 131–142, hier S. 139 f. Evola, L’»Operaio« e le Scogliere di Marmo [1943], S. 139. Evola, L’»Operaio« e le Scogliere di Marmo [1943], S. 141. Evola, L’»Operaio« e le Scogliere di Marmo [1943], S. 141. Evola, L’»Operaio« e le Scogliere di Marmo [1943], S. 142. Evola, L’»Operaio« e le Scogliere di Marmo [1943], S. 143.
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Evola stützt sich in seiner traditionsverankerten Deutung darauf, die Marmorklippen als »traditionales« Bollwerk zu bezeichnen (und ich benutze hier lieber das Adjektiv »traditional«, um auf den spezifischen Traditionsbegriff Evolas hinzuweisen); ein Bollwerk also gegen die steigende Herrschaft des Elementaren, bzw. des Pöbelhaften und der Gewalt. Er stilisiert damit den Roman und somit auch Jünger als Hüter der Tradition. Auf diese Weise liefert Evola auf der einen Seite eine schlüssige Interpretation der Marmorklippen, denn er schreibt dem Roman eine geistesaristokratische Dimension zu, die sich letztlich »gegen den Strom« der modernisierenden Nivellierung stellt. Auf der anderen Seite agiert Evola aber auch als »terrible simplificateur«, weil er den Roman falsch deutet und ihn vorbehaltlos zum Medium einer absoluten und metaphysischen Weltfremdheit macht, im Sinne Guénons und des »traditionalen« Denkens. In Evolas Rezension ist die religiöse, fast sakrale Dimension des Romans zentral – wie übrigens auch in anderen italienischen Rezensionen derselben Zeit, sogar in denen, die sich sehr kritisch mit dem Roman auseinandersetzen.31 Diese sakrale Dimension gipfelt in der Figur Sunmyra (übrigens von Evola stetig falsch geschrieben als »Sanmyra«). Er deutet den abschließenden »kosmischen« Brand, der die Welt der Marina, ihren Tempel und ihren Priester Pater Lampros vernichtet, als Symbol eines notwendigen Untergangs, der sich opfertheologisch auf die blutige Begründung eines neuen Heilsraums bezieht (gemeint ist hier der neu aufzubauende Dom, in dessen Grundstein Sunmyras Haupt einzumauern ist. Diese Idee spiegelt sich genau so bei Eliade wider, der 1943 einen Aufsatz mit dem Titel Comentarii la legenda Meşterului Manole (Deutsch »Kommentare über die Legende von Meister Manole«) schrieb, in dem von dem Bauopfer-Motiv als sakrales Gründungsritual die Rede ist). In diesem Punkt stimmt die Interpretation Evolas mit der Intention Jüngers völlig überein. Wir finden die Idee – oder noch genauer: das Bild – des Menschenopfers in mehreren Werken Jüngers wieder: z. B. in beiden Fassungen des Abenteuerlichen Herzens, und zwar in der zugleich blitzenden und 31
Schon Alessandro Pellegrini, der 1942 die Marmorklippen übersetzte, erkannte den religiösen Charakter des Romans (»La vicenda, significata con evidenza d’immagini, che a volte hanno una scultorea precisione contesta d’orrore, così da ricordare i gironi dell’Inferno dantesco, appare ad un tempo quale esteriore avvenimento e quale intima esperienza dell’anima. La misura e il principio di un risorgimento di vita civile sono dati dal dolore, dal martirio voluto ed accolto da parte di chi è più debole e più puro, il giovane principe di Sunmyra, che supera la decadenza della famiglia e del sangue nel supremo eroismo del sacrificio«; Alessandro Pellegrini, Ernst Jünger. In: Ernst Jünger, Sulle scogliere di marmo e altri scritti, Milano 1942, S. 9–22, hier S. 20 f.). Auch der antifaschistische Intellektuelle und Germanist Giaime Pintor hatte Jünger schon 1942 gelesen und dessen Roman als eine »falsche Botschaft« an die jüngeren Leser gebrandmarkt: »Nonostante i suoi significati religiosi e guerrieri Jünger appartiene per noi a una letteratura decadente, o se si preferisce, decaduta. Egli non ha nulla da dire alla nostra generazione, e i soldati tedeschi che si sono portati al fronte Auf den Marmorklippen, accanto ai testi di Goethe hanno commesso un grave errore di scelta« (Giaime Pintor, Un messaggio sbagliato. Sulle scogliere di marmo [1942]. In: ders.: Il sangue d’Europa (1939–1943). Torino 1977, S. 129–132, hier S. 132).
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obskuren Vision mit dem Titel »Die Klosterkirche«, in der ein Mord in Form eines blutigen Menschenopfers dargestellt ist;32 oder noch deutlicher in der theoretischen Schrift über den »Frieden«, die auf die Marmorklippen folgte, in der Jünger die Notwendigkeit des Opfers ausdrücklich thematisiert: Wenn nun der Krieg für alle Frucht tragen soll, so müssen wir zunächst nach dem Samen fragen, aus dem denn solche Ernte erwachsen kann. Sie kann nicht gedeihen aus all dem Trennenden, aus der Verfolgung, dem Haß, den Ungerechtigkeiten unserer Zeit. [...] Die wahre Frucht kann nur erwachsen aus dem gemeinsamen Gut des Menschen, aus seinem besten Kern, aus seiner edelsten, uneigennützigen Schicht. Diese ist dort zu suchen, wo er, ohne an sich und das eigene Wohl zu denken, für andere lebt und stirbt, für andere Opfer bringt. Das aber ist überreich geschehen; es ist ein großer Schatz von Opfern angesammelt als Grundstock zum neuen Bau der Welt.33
Diese Haltung Ernst Jüngers kennzeichnet ein in die Krise geratenes kulturkritisches Denken konservativer Diktion, das sich in der Zeit zwischen den Kriegen politisch neu aufgebaut hat. Um auf den Schrecken des Kriegs zu reagieren, entwickeln Ernst Jünger und Carl Schmitt, Eliade und Evola ein Denken, das Sterben und Töten jener Jahre rechtfertigen, ja diese Abgründe als Lebensopfer positiv umwerten will. Der Prinz Sunmyra, Meister Manole, Iphigenie (die klassisch-griechische Figur wurde zum Thema eines Dramas, das Mircea Eliade 1939 schrieb) oder Epimetheus bei Carl Schmitt34 werden zu Sinnbildern der sieg- oder heilbringenden Menschenopfer, die die Welt neu gründen sollen, dabei aber zugleich auch die Ideen ihrer Autoren maskieren. Noch genauer: im Rückgriff auf die religionsgeschichtliche Idee des Opfers verweisen Ernst Jünger & Co. eindeutig auf ein Modell der Antike zurück. Nach dem Altertumswissenschaftler 32
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»Wir gehörten zu jenen, die abirren, weil sie die Güte des Mächtigen wie Wein berauscht. Unser Führer war ein noch junger Mensch, der kostbarer als alle anderen gekleidet war. [...] Plötzlich wurde unser Führer ergriffen und auf eine Chorbank gezerrt. [...] Eine Gruppe von niederen Mönchen mit Gesichtern von verknöcherter Bosheit umringte die liegende Gestalt; aber kälter noch als ihre blanken Messer erschienen mir die Blicke der Hierarchen, die am Hochaltar, am Tor der Sakristei und am Reliquiarium aus dem Claustrum heraustraten und die Gruppe in feierlicher Haltung betrachteten. Es war nicht zu sehen, was geschah; ich nahm nur mit Entsetzen wahr, daß die Mönche Kelche zum Munde führten, mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt, auf der sich ein blutiger Schaum kräuselte« (Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung, S. 191). Bezeichnend sind hier die wenigen Änderungen im Vergleich zur ersten Fassung: dort ist nämlich von Personen die Rede, »die im geheimen einem neuen Glauben anhingen« (Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung, S. 66). Ernst Jünger, Der Friede [1945]. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I: Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 193–280, hier S. 196. Der mythologischen Figur von Epimetheus widmete Konrad Weiß die Verse, die von Carl Schmitt gelesen, geschätzt und nicht zuletzt als sehr persönlich wahrgenommen wurden: »So wird der Sinn, je mehr er sich selber sucht, / Aus dunkler Haft die Seele geführt zur Welt. / Vollbringe, was du mußt es ist schon / Immer vollbracht und du tust nur Antwort« (Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erinnerung der Zeit 1945/1947, Köln 1950, S. 53).
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Walter Burkert sind die religiösen Handlungen in der heidnischen Antike unauflöslich mit dem Opfer und mit der Gewalt in ihren rituellen Verwirklichungen verbunden: »Der homo religiosus agiert und wird sich seiner selbst bewußt als homo necans«.35 In diesem Sinn lässt sich die Opfertheologie Ernst Jüngers einem Denken zuordnen, das kaum christliche Züge annimmt.36 Zwar wird nun das Opfer in der Liturgie wegen der mit ihm verbundenen Gewalt in der neuesten christlichen Theologie (vor allem in der katholischen, aber auch in der evangelischen Theologie nach dem Zweiten Vatikanischem Konzil) skeptisch betrachtet.37 Dennoch ist eine Opfersymbolik bei den genannten Autoren präsent, weil sie – auch ungewollt – die ursprüngliche Etymologie des Wortes ernst nehmen: Das Wort »Opfer« stammt aus der doppelten lateinischen Wurzel von operari und offere, verweist somit zugleich auf den Handlungs- und Gabencharakter dieser religiöser Tat. Das Opfer erscheint daher bei Jünger, Evola u. a. als ein Theologoumenon, das als Spiegel eines Handlungs- und Entscheidungspathos zu sehen ist, der in der Zwischenkriegszeit für diese Autoren typisch ist. Durch diese pseudotheologische Kategorie wird nun die konservativ-revolutionäre, exemplarische Tat ins Theologische umfunktioniert und ihr subversives Potential somit geschwächt: Je weniger es um Handlung geht, desto stärker wird die fromm-erbauliche Dimension des Opfers, die die Nachkriegsschriften Jüngers auszeichnet. Dazu kommt, dass der Opfersymbolik Jüngers jede Idee von (christlicher) Erlösung fehlt. Als Beleg dafür sei hier abschließend eine Anmerkung Jüngers vom 7. März 1944 zu seiner Paulus-Lektüre zitiert: 35
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Walter Burkert, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin/New York 19972 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 32), S. 9. Dagegen Uwe Wolff, der sich spezifisch mit dem Roman beschäftigt: »Die Marmorklippen bedienen sich nicht nur eschatologischer Bilder; sie sind eine ›Apokalypse der Seele‹. Eschatologie ist nach Hans Urs von Balthasar die Lehre vom Verhältnis der Seele zu ihrem ewigen Schicksal. Die Apokalypse ist die Erfüllung dieses Schicksals.« (Uwe Wolff, Ernst Jüngers Glaube. Eine theologische Deutung der Marmorklippen. In: Ernst Jünger – eine Bilanz, hg. von Natalia Żarska u. a., Leipzig 2010, S. 132–145, hier S. 136). Hier ist die Verbindung von eiserner Haltung und klagender Existenz hervorzuheben, die so typisch für diese neusachliche Literatur der inneren Emigration mit konservativ-revolutionärem Hintergrund ist, laut einer treffenden Aussage von Helmuth Lethen: »Vom Gesichtspunkt unserer Typologie aus schwankt die neusachliche Literatur zwischen Extremen; zwischen dem selbstbewussten Subjekt im Panzer in soldatischer oder dandyistischer Montur und dem Menschen als organischem Bündel von Reflexen in Todesnot. Der moderne Raum ist erfüllt von dem Gesang des gepanzerten Subjekts und den Legenden der gnadenbedürftigen Kreatur« (Helmuth Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994 (Neue Folge 884), S. 256). Vgl. exemplarisch aus katholischer Sicht: Joachim Negel, Ambivalentes Opfer. Studien zur Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, Paderborn 2005.
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Weiter im 1. Korintherbrief. Dort 15, 22: »Denn gleich wie sie in Adamo alle sterben, also werden sie in Christo alle lebendiggemacht werden«. Die Unterscheidung des natürlichen und des supranaturalen Menschen gleicht der Entdeckung einer höheren Chemie. Christus ist der Mittler, der die Menschen der metaphysischen Verbindung fähig macht. Die Möglichkeit lag in ihnen seit Anbeginn; so werden sie durch das Opfer auch nicht neu geschaffen, sondern vielmehr »erlöst«, das heißt, in höhere Aktivität versetzt. Diese war immer, als Potenz der Materie.38
Theologisch gesprochen enthält diese Anmerkung zwei grundlegende Missverständnisse: zum einen, dass der Mittler Christus’, Jünger zufolge, dem Menschen nur seine Neigung zum Metaphysischen ermögliche; zum anderen, dass die Erlösung in der Sphäre einer »höheren Aktivität« geschehe. Ausgeblendet wird damit die Tatsache, dass Christus nach Paulus den Beginn einer spezifischen ekklesiologischen Genealogie und somit einer Heilslehre darstellt. So lauten die auf Jüngers Zitat folgenden Verse des Korintherbriefs (1. Kor 15, 23–24): »Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus [aparkh CristoV]; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat«. Christus schafft für Paulus die Opferlogik ab, weil der Erlöser für ihn kein Teil eines gewaltsam gesteuerten Mechanismus ist, sondern als eine primitia – wie die lateinische Übersetzung des griechischen Ausdrucks lautet –, als die frühe Frucht einer Heilsfolge gilt, die die gesamte Menschheit erlösen soll. Jünger lehnt also jene strikt soteriologischen Züge der christlichen Erlösung ab, die sich der klassischen (heidnischen) Opferlogik entziehen. Es sind jene soteriologischen Züge nämlich, die Paulus dem Opfer Jesu zuschreibt. Hingegen hebt Jünger die dunkle, gewaltorientierte Opfersemantik hervor und bestätigt deren heidnische Ursprünge, insofern er die seit je bestehende »Potenz der Materie« dem konkreten Opfer Christi – mit dessen soteriologischer Dimension – vorzieht. Damit lässt sich die neuromantische Tendenz Jüngers aus der schon erwähnten Mysterienrede auch unter einem spezifischeren religionswissenschaftlichen Blickwinkel begreifen: Dieser Hang zum Mysterium ist mehr als eine intellektuelle Haltung, geht es doch auch um eine religiöse Konstruktion, die magisch in der Rückbesinnung auf geistige Herrschaft, esoterisch in der Wahrung des Geheimnisses und exklusiv im Ausschluss Außenstehender ist.39 Das rituelle Siegel dieser Religiosität ist das Opfer. Jene Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, die das politische Agieren Carl Schmitts in der Nachkriegszeit nach Dirk van Laak charakterisieren,40 können damit als allgemeine Pathosformel einer Epoche verstanden werden. Diese Formel spiegelt nämlich eine geistespolitische Haltung wider, in der die sakrale 38 39
40
Jünger, Strahlungen II, S. 233. »›Mysteriös‹ schlechthin war die Feier allenfalls für Außenstehende; den Geweihten wurden Erklärungen gegeben, die allerdings kraft heiligen Eides nicht nach außen getragen werden durften« (Burkert, Homo necans, S. 274). Vgl. Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993.
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Rolle des Künstlers und des Schriftstellers sich auf verkappte und esoterische Weise zeigt: nämlich sozusagen in Form einer ›Exilstrategie des rituellen Unsagbaren‹. Diese Strategie verwirklicht die für Jünger typisch bundesrepublikanische Selbststilisierung, in der die totale Abstandnahme von der Tagespolitik mit seinen auffällig häufigen Positionierungen korrespondiert, wie es Lutz Hagestedt formuliert hat.41 So ist Jüngers geistespolitische Haltung in der Zeit zwischen konservativ-revolutionären Enttäuschungen, nationalsozialistischem Eskapismus und Nachkriegsabsetzungsmanövern zu beschreiben.
Literatur Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006 (Palaestra 323). Benedetti, Andrea: Die Rezeption des ›Arbeiters‹ bei Delio Cantimori und Julius Evola. In: Ernst Jünger – eine Bilanz, hg. von Natalia Żarska u. a., Leipzig 2010, S. 358–367. Benn, Gottfried: [Bekenntnis zum] Expressionismus [1933]. In: ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. von Dieter Wellershoff, Bd. 1: Essays – Reden – Vorträge, Wiesbaden 1958, S. 240–256, hier S. 255. Burkert, Walter: Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin/New York 21997 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 32). Cannata, Francesco: A destra del fascismo. Profilo politico di Julius Evola, Torino 2003 (Saggi. Storia filosofia e scienze sociali). Eliade, Mircea: Der Mythos von der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953. Evola, Julius: L’»Operaio« e le Scogliere di Marmo [1943]. In: ders.: L’Operaio nel pensiero di Ernst Jünger, Roma 1998, S. 131–142. Frank, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982 (edition suhrkamp 1142 = N. F. 142). Goethe, Johann Wolfgang: Vermächtnis [1827]. In: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 2, Frankfurt/M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 34), S. 685–686. Grottanelli, Cristiano: Il sacrificio, Roma-Bari 1999 (Biblioteca essenziale 24). Grottanelli, Cristiano: Mircea Eliade, Carl Schmitt, René Guenon, 1942. In: Revue de l’historie des religions, Bd. 219, H. 3, 2002, S. 325–356. Grottanelli, Cristiano: Fruitful death: Mircea Eliade and Ernst Jünger on human sacrifice, 1937–1945. In: Numen, Bd. 52, H. 1, 2005, S. 116–145. Grottanelli, Cristiano: War-time Connections: Dumézil and Eliade, Eliade and Schmitt, Schmitt and Evola, Drieu La Rochelle and Dumézil. In: The Study of Religion under the impact of the Fascism, hg. von Horst Junginger, Leiden 2008 (Numen book series 117), S. 303–313. Hagestedt, Lutz: Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 167–179. 41
»Jüngers Konzept der totalen Distanzierung, keinerlei Partei zu ergreifen, korrespondiert mit Jüngers auffällig häufigen indirekten Positionierungen, sprich Absetzbewegungen« (Lutz Hagestedt, Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 167–179, hier S. 178).
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Thomas Gloning
Ernst Jüngers Publizistik der 1920er Jahre Befunde zum Wortgebrauchsprofil 1. Einleitung Die Publizistik Ernst Jüngers aus den 1920er Jahren liegt seit dem Jahr 2001 in der umfangreichen, von Sven Olaf Berggötz herausgegebenen und kommentierten Edition vor. Hier sind neben den programmatischen Vorworten zu eigenen und fremden Werken in erster Linie Ernst Jüngers Zeitschriftenbeiträge aufgenommen, die jeweils mehr oder weniger eng auf bestimmte militärische (z. B. im Militär-Wochenblatt) oder soldatisch-nationalistische Themen (z. B. in Der Stahlhelm oder Die Standarte) bezogen waren. Hinzu kommen Beiträge in Tageszeitungen und Buchkritiken (z. B. in Reclams Universum oder in Der Scheinwerfer). Das 660 Druckseiten starke Textcorpus ist nicht nur als Seitenstück zu den größeren, selbstständig erschienenen essayistisch-literarischen Werken Ernst Jüngers der 1920er Jahre zu sehen − hierzu gehören vor allem In Stahlgewittern (1920), Der Kampf als inneres Erlebnis (1922), Das Wäldchen 125 (1925) sowie Feuer und Blut (1925) −, die publizistischen Beiträge sind eigenständige Aufschlussquellen für Denkweisen, Darstellungsformen und sprachliche Gestaltungsweisen im Umkreis des soldatischen Nationalismus und seiner ideologischen Bezugspunkte. Thematische Schwerpunkte dieser Schriften sind unter anderem die Frage nach der soldatischen Lebensform und der Rolle des Frontsoldatentums im politischen Leben der 1920er Jahre, das Problem einer Sinngebung der Kriegserfahrung und des verlorenen Krieges, die Suche nach der zukünftigen Form des Gemeinwesens und seiner Stellung in der Welt sowie Aspekte der Deutung und Beurteilung von Modernisierungserscheinungen, zum Beispiel im Bereich der Technik. All diese und weitere Themenfelder sind vielfach verwoben, so etwa bei der Frage nach dem Zusammenhang von technisch-militärischer Modernisierung (Material, Maschine) und ihren Folgen für das Selbstverständnis und die Berufsethik des Soldatenstandes (Mann). Ernst Jüngers Schriften der 1920er Jahre sind nicht nur Quellen für seine eigenen Positionen in ihrer jeweiligen sprachlichen Form, sie hängen auch mit anderen Denkweisen im Umkreis des Nationalismus dieser Zeit und mit einschlägigen Traditionslinien im frühen 20. und im ausgehenden 19. Jahrhundert zusammen. Autoren wie Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck, Hans Blüher oder Carl Schmitt sind hier exemplarisch zu nennen. Bei der Darstellung nutzt Jünger ein dichtes begriffliches Netzwerk von Schlüsselwörtern, von thematisch und ideologisch geprägten Wortschatzsektoren sowie von Verwendungsweisen, deren Stellenwert in der Regel erst durch ihren Gebrauch https://doi.org/10.1515/9783110279795-008
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in textuellen Zusammenhängen rekonstruierbar wird. Die genaue Verwendungsweise von Ausdrücken wie Auslese, Draufgänger, Führer, Held, männlich, Maschine, Material, Maulwurfsarbeit, Nationalist, Nationalismus, Pflicht, rücksichtslos, übermenschlich etc. in der Publizistik Ernst Jüngers aus den 1920er Jahren lässt sich in vielen Fällen nicht einfach in historischen Bedeutungswörterbüchern nachschlagen. Ihr Gebrauch ist eingebettet in das eigenwillige und zeitlich nicht durchweg einheitliche Denken des Autors und seines diskursiven Traditionshorizonts. Das Ziel dieses Beitrags ist es, ausgewählte Aspekte des Wortgebrauchs in Ernst Jüngers Publizistik der 1920er Jahre aus einer wortgeschichtlich-lexikologischen Perspektive zu beleuchten. Bezugspunkte sind dabei sowohl wort- und begriffsgeschichtliche Befunde der Jünger-Forschung1 als auch Ergebnisse der sprachgeschichtlichen und der lexikographischen Forschung. Im Mittelpunkt stehen folgende Leitfragen und Perspektiven, die forschungsmethodisch im Überschneidungsfeld von historischer Semantik, historischer Lexikologie und historischer Diskursanalyse zu verorten sind: –
– – –
Wie lassen sich Schlüsselbegriffe und zentrale Verwendungsweisen von Wörtern in der Publizistik Ernst Jüngers aus den 1920er Jahren bestimmen und wie lassen sie sich abbilden auf zentrale Elemente seines Denkens, seine kommunikativen Strategien und seine Entwicklung in dieser Zeit? Welche Parallelen bietet das literarisch-essayistische Werk? Wie lassen sich Zusammenhänge zwischen dem Sprach- und Wortgebrauch Ernst Jüngers mit zeitgenössischen Diskursen und älteren Diskurstraditionen rekonstruieren? Wie – wenn überhaupt – lassen sich die sprachlichen Befunde einer »Faszinationsgeschichte des Totalitären« zuordnen? Welchen Aufschlusswert haben die Texte für die sprachgeschichtliche und lexikographische Dokumentation des Deutschen der 1920er Jahre?
2. Wortgebrauch und militärische Praxis In den frühen 1920er Jahren veröffentlichte Ernst Jünger eine Reihe von Beiträgen zu Fragen der militärischen Praxis. Sie standen im Zusammenhang mit seiner Mitarbeit an einer Neuordnung des Heereswesens, die in der Ausbildungsvorschrift für die Infanterie (1922) eines ihrer Ergebnisse fand. Die thematische Orientierung an 1
Vgl. u. a. Hans-Peter Schwarz, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i.Br. 1962; Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978; Steffen Martus, Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 333); Hans-Harald Müller, Ernst Jüngers Frühwerk im Kontext der literarischen Moderne der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. In: Ernst Jünger – eine Bilanz, hg. von Natalia Żarska/Gerald Diesener/ Wojciech Kunicki, Leipzig 2010, S. 14–25.
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Fragen der militärischen Praxis und Lebensform in diesen und auch den späteren Artikeln manifestiert sich in einschlägigen Wortschatzsektoren, die mehrheitlich von fachlichem Sprachgebrauch geprägt sind. Hierzu gehören u. a. folgende Bezeichnungsgruppen, die in der nachstehenden Aufstellung durch ausgewählte Ausdrücke mit jeweils einer einzigen Stellenangabe belegt werden sollen: –
–
– – – –
Personenbezeichnungen: Einzelkämpfer (26), Frontsoldat (173), Führer (14), Grabenkämpfer (90), Grabenposten (456), Infanterist (24), Kampfflieger (172), Kompagnieführer (17), Krieger (185), Kriegsfreiwilliger (574), Mann (23), Melder (17), M.G.-Schütze (26); Regimentskommandeur (442); Waffen und Waffengattungen: blanke Waffe (14), Bombenflugzeug (25), Flieger (29), Geschütz (15), Gewehr (28), Grabenmörser (600), Granatwerfer (600), Handgranate (14), (leichtes) Maschinengewehr (28), Maschinenpistole (600), Minenwerfer, (28), Panzer (24), Panzerkraftwagen (23), Panzersturmwagen (18), schwere Artillerie (29), Tank (24); militärische Verbände: Kampfgeschwader (578), Kompagnie (17), Kriegsfreiwilligenregiment (599), Maschinengewehrkompanie (600), Minenwerferkompanie (37), Regiment (19), Stoßtrupp (15); Aspekte der militärischen Taktik: Angriffshetze (31), Bewegungskrieg (30), Durchbruch (30), Feuerkraft (600), Feuerwirkung (600), Gegenstoß (30), Infanterietaktik (25); Aspekte der militärischen Topographie: Exerzierplatz (14), Grabennetz (436), Grabenstück (48), Kampfgraben (185), Hauptwiderstandslinie (30), Tiefenzone (30); Typen von Ereignissen: Bauchschuß (42), Bogenwurf (17), Exerzierausbildung (27), Gasangriff (573), Gefechtsausbildung (27), Gefechtsdrill (14), Kopfschuß (42), Schützengefecht (14), Sperrfeuer (600), Tankschlacht (24).
Solche Wortschatzsektoren sind lexikalische Gegenstücke zu fachlichen Systemstellen, die teilweise auch im Text selbst mit entsprechenden Kategorisierungsausdrücken belegt werden, zum Beispiel Waffengattung (601) mit Elementen wie Kavallerie und Fliegertruppe als Untereinheiten. Die Texte bieten ein breites Repertoire an Ausdrucksweisen des Militärwesens, und sie bieten Ansatzpunkte für eine fachorientierte Strukturierung. Der Bestand dieser Ausdrucksmittel ist zum einen durch Verfahren der Wortbildung und durch Wortbildungszusammenhänge (Feuerkraft, Feuerpause, Sperrfeuer, Feuersteigerung, feurig (»in den feurigen Wällen der Schlachtfronten«, 579), Feuerwirkung; Waffenwirkung, Gegenwirkung, Massenwirkung, wirkungsvoll), zum anderen durch spezifische Verwendungsweisen – zum Beispiel von Feuer2 – geprägt. Darüber hinaus finden sich sprachreflexive Textstellen, an denen Jünger den Zusammenhang von militärgeschichtlicher und begrifflich-terminologischer Entwicklung thematisiert: 2
»Auf den Kampfplätzen der Mandschurei zeichneten sich bis in die Einzelheiten die Verhältnisse des Stellungskrieges vor, dessen Kennzeichen darin besteht, daß beide Gegner beim Besitz eines Höchstmaßes an Feuer fast bewegungsunfähig sind«. (598) – Vgl. zu Schlüsselwörtern und ihren Verwendungsweisen auch Abschnitt 5.
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Die Steigerung des Feuers nimmt in diesen Schlachten nie geahnte Ausmaße an. Die Artillerien schwellen zu Belagerungsparks, deren Geschütze an Zahl und Schwere ununterbrochen wachsen, und deren Wirkung sich nicht nur durch den vermehrten Munitionsverbrauch steigert, sondern auch dadurch, daß sie auf ruhende, begrenzte und bekannte Ziele gerichtet ist. So entstehen die neuartigen Begriffe des Sperrfeuers, des Vernichtungsfeuers, des Trommelfeuers. (600; Herv. TG)3
Trotz dieser Prägung durch fachlichen Sprachgebrauch sind viele der Texte nicht zu vergleichen mit systematisch angelegten Lehr- und Handbüchern – wie etwa die Ausbildungsvorschrift für die Infanterie (1922) – und ihrer Terminologie. Fragen der militärischen Praxis sind für Jünger – mit Ausnahme der wenigen frühen Fachbeiträge im Militär-Wochenblatt – nicht eine rein fachliche Angelegenheit, sie stehen vielmehr in engem Zusammenhang mit publizistischen Zielen sowie mit Fragen der Beurteilung und Deutung vergangener, zeitgenössischer und zukünftiger Entwicklungen, die sich lexikalisch beispielsweise in Schlüsselwörtern wie Materialschlacht (53), Tankschlacht (24) und Zukunftsschlacht (23) oder Entgegensetzungen wie Materie /Material /Maschine vs. Mann /Mannschaft /Mensch zeigen.4 Ein Kernstück von Jüngers publizistisch formulierter Weltanschauung der 1920er Jahre ist das Bild des ›neuen‹ Soldaten.
3. Das Bild des ›neuen‹ Soldaten und seine sprachliche Verfertigung Ausdrücke wie Krieger, Mann oder Frontsoldat sind nicht einfach Personenbezeichnungen des Militärwesens, sie sind gleichzeitig Anlagerungspunkte für Jüngers Entwurf eines neuen Soldatentyps und seiner Bestimmung. Auch die oben erwähnte Gegenüberstellung Material vs. Mann wird im Verbund mit anderen sprachlichen Mitteln dafür genutzt, um einen neuen Typus des Soldaten zu entwerfen, der als das Produkt der Fronterfahrung – insbesondere in den Materialschlachten seit 1916 – gezeichnet wird und dem dann an vielen Stellen auch eine besondere Bestimmung für das nationalistische Programm des Autors zugeschrieben wird: Und die Erkenntnis, daß die innere Kraft dem Material überlegen ist, das ist ein bleibender Gewinn, den wir aus der Materialschlacht, die gerade das Gegenteil beweisen sollte, mit in den Frieden bringen. Hier schied sich der Frontsoldat zum zweiten Mal von allen andern. (97) Der große Krieg gehört der Geschichte an, sein Geist bleibt in dem Kern von Kämpfern bestehen, die nicht die Absicht haben, ihn aus ihrer Erinnerung zu streichen. Dieser 3
4
Ein weiteres Beispiel: »So ist gerade die Frage der Geschwindigkeit der Durchdringung sehr umstritten. Dieser Streit dreht sich um das Wort ›Angriffshetze‹, das seine Freunde und Gegner besitzt« (31); »Die Anhänger des Gedankens der Angriffshetze«. (31) Vgl. zum Beispiel S. 23: »Wo die Maschine auftaucht, erscheint der Wettlauf des Menschen mit ihr aussichtslos«.
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Geist muß aber auch lebendig bleiben, wenn keiner von denen mehr am Leben ist, die in den Wüsteneien der Materialschlacht die männliche Lehre empfingen, daß die Materie nichts, und der Wille alles bedeutet. (78)
In solchen Passagen wird die Kriegserfahrung der Frontsoldaten als eine Art von Übergangsritus, als eine besondere Form der Einweihung (die männliche Lehre empfangen) gestaltet, welche diese Gruppe von anderen Personen trennt.5 Die Nominalphrase der Frontsoldat wird in der eben zitierten Passage generisch verwendet; auch an weiteren Textstellen wird deutlich, dass es sich hierbei um einen Typus handelt. Im folgenden Zitat sind es die Ausdrücke Geschlecht, Typ und Bild, die auf einen Typus verweisen:6 Ja, diese Landschaft riß alles ab, was nicht unbedingt notwendig war, sie duldete keinen Luxus, auch nicht den des Gefühls. Ihr Sinn war rein auf die sachliche Leistung gestellt. Dafür zog sie aber auch unter Entbehrungen und Gefahren ein Geschlecht von Männern heran, dem der Kampf nicht mehr ein Ausnahmezustand, sondern eine eiserne Gewohnheit war. In ihm entstand der Typ des Grabenkämpfers, der es während endloser Nachtwachen längst aufgegeben hatte, nach dem Warum zu fragen, und in dem als Triebfeder nur das: Du mußt! zurückgeblieben war. Und durch die Tatsache, daß er dieses: Du mußt! auch innerlich anerkannte, unterschied sich der wirkliche Frontsoldat von allen übrigen. Die Materialschlacht sollte sein Bild vollenden. (90; Herv. TG)
Das Bild des neuen Soldaten als »ein neuer Menschenschlag« (53) wird durch unterschiedliche sprachliche Techniken und ihre Kombination realisiert. Im folgenden Textstück werden zum Beispiel einschlägige nominale Zuschreibungen (Meister des Sprengstoffs) mit dem Gebrauch von Adjektiven wie intelligent, diszipliniert, gestählt, rücksichtslos, tollkühn und zäh kombiniert. Gleichzeitig wird der Ausdruck Mann bereits als Schlüsselwort vorbereitet und mit anderen (Auslese, Jugend, Held, Stoßtrupp, Eliteschar) in einen Zusammenhang gebracht: Maschine und Material haben überragende Bedeutung errungen [...]. Trotzdem liegt letzte Entscheidung in der lebenden Kraft, immer noch kommt es in diesem Flammenwirbel von Sprengstoff und Eisen zuletzt auf den ›Mann‹ an, auf seine Eigenschaften, seine Tüchtigkeit, seinen Geist, seine Schulung und seine Art, sich zu schlagen. 5
6
Vgl. zur Einordnung in Männlichkeitskonzepte der Zeit u. a. Hannelore Scholz-Lübbering, Gewalt und Männlichkeit bei Ernst Jünger. In: Ernst Jünger – eine Bilanz, hg. von Natalia Żarska/Gerald Diesener/Wojciech Kunicki, Leipzig 2010, S. 158–170 und Ulrike Brunotte, Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2004; dies., Martyrium, Vaterland und der Kult der toten Krieger. Männlichkeit und Soteriologie im Krieg. In: Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums, hg. von Andreas Kraß/Thomas Frank, Frankfurt/M. 2008, S. 95–117. An anderer Stelle nutzt Jünger auch den Begriff der Gestalt, der vor allem in »Der Arbeiter« (1932) eine prominente Rolle spielen wird: »Sicher muß die Gestalt des einfachen Kämpfers, des Mannes im Stahlhelm, des unbekannten Kriegers, der die schwerste Last zu tragen hatte, das Idealbild dieser Bewegung sein« (73). – Vgl. auch Ernst Jünger, Typus, Name, Gestalt, Stuttgart 1963; auch in Ernst Jünger, Sämtliche Werke, 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 13, Essays VII, Fassungen II, Stuttgart 1981, S. 83–174.
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Mehr denn je muß daher der Soldatenstand eine Auslese der tüchtigsten Jugend seines Landes sein. [...] Eine neue Zeit des Soldatentums ist angebrochen, ihr Held ist der intelligente, streng disziplinierte, in Kampf und Sport gestählte, rücksichtslose Sturmsoldat. Er ficht im geschlossenen Rahmen seines Stoßtrupps, einer Eliteschar, begierig auf den Wettlauf gegen den Feind, Meister des Sprengstoffs, tollkühne Draufgänger, zähe Verteidiger des Gewonnenen, Kameraden auf Leben und Tod. (14 f.)
Die Verdichtung zu einem Typus wird sprachlich dadurch bewerkstelligt, dass solche Zuschreibungen in den Texten immer wieder vorgenommen werden, teils mit inhaltlich ähnlichen Charakterisierungen, teils aber auch durch Anlagerung neuer Bestimmungsaspekte wie zum Beispiel Todesverachtung, Kameradschaft, Männlichkeit, Wortkargheit, Entschlossenheit, Pflichtbewusstsein, Absage an Fortschrittsideen, Bejahung der Gefahr.
4. »rücksichtslos«: ein Fall von Umwertung semantischer Werte? Wie ist der Gebrauch des Ausdrucks rücksichtslos in einer Reihe mit Adjektiven wie intelligent, gestählt und diszipliniert in wortgeschichtlich-semantischer Hinsicht zu beurteilen? Von den gegenwartssprachlichen Gebrauchsbedingungen her beurteilt, wäre der Gebrauch erklärungsbedürftig und damit gegebenenfalls ein Beispiel für eine Umwertung, wie sie auch für fanatisch und brutal in der Zeit des Nationalsozialismus in Anspruch genommen wurde. Der Bezugspunkt für die Beurteilung des Gebrauchs in den 1920er Jahren ist aber nicht die Gegenwart, sondern die Wortgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Und hier sind die bedeutungsgeschichtlichen Wörterbücher – das Grimm’sche Wörterbuch, Trübner, Paul, Pfeifer – insgesamt nur bedingt hilfreich, weil keine breite Beleggrundlage dokumentiert wird und weil die Unterscheidung von konventionalisierten und kontextuell bedingten Bewertungsfestlegungen nicht zuverlässig behandelt wird. Im Trübner-Artikel heißt es zwar: »Das Adj. rücksichtslos, früher richtiger rücksichtlos, ist seit den Tagen der Klassiker bezeugt. Es kann Tadel wie Lob enthalten«.7 Aber es ist erstens unklar, auf welchen Zeitraum sich diese Angabe bezieht – ich nehme an, sie bezieht sich auf die fünf DWb-Belege aus dem 18. und 19. Jahrhundert –, und es ist zweitens unklar, ob es sich hierbei um semantische, konventionalisierte und über längere Zeiträume stabile Eigenschaften des Ausdrucks im engeren Sinn oder vielmehr um Aspekte der kontextuellen Verwendung in einzelnen Belegen handelt.8 7
8
Trübners Deutsches Wörterbuch. Begründet von Alfred Götze. In Zusammenarbeit mit Eduard Brodführer und Alfred Schirmer hg. von Walther Mitzka. Fünfter Band. Berlin: de Gruyter 1954, V 466. Ein klares Beispiel für einen nur kontextuell, durch den Gebrauch des Adjektivs erzeugten Verstoß gegen etablierte Erwartungen ist zum Beispiel die Formulierung erfrischende Gesetzlosigkeit (214).
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Für das frühe 20. Jahrhundert bietet nun das erweiterte DWDS-Corpus9 eine breitere Beleggrundlage. Neben einer ganz deutlich überwiegenden Zahl von Belegen, in denen rücksichtslos tatsächlich mit einer Festlegung auf eine negative Bewertung gebraucht wird, finden sich dort vereinzelt auch Textstellen wie die drei folgenden aus einem Artikel in einer pädagogischen Zeitschrift des Jahres 1911, aus den Memoiren einer Sozialistin von Lily Braun und aus einem Zeitungsbericht aus dem Reichstag von 1904. In all diesen Belegen ist der Gebrauch des Ausdrucks rücksichtslos jeweils mit einer positiven Bewertungsfestlegung verbunden: die Reform stützt nichts weiter als ein glänzender Idealismus, ungestümer Drang nach dem Fortschritt, aus einem deutschen Luther-Gewissen herausgeboren, und die Macht der Zeit, die die grosse Masse der Deutschen schon gewonnen hat, wenn auch ein grosser Teil noch nicht den rücksichtslosen Mut hat, das Erkannte und im Leben Bekannte für die Volksschulerziehung durchzusetzen. (1911; DWDS-Corpus) Und während er sein Feuerschwert gegen all die zückte, die vor lauter Wenn und Aber den rücksichtslosen Kampfmut einzubüßen im Begriffe standen, traf es auch die Inquisitoren, die ihn besaßen, aber auf die Ketzer im eigenen Lager zielten. (1911; DWDS-Corpus) Junge Assessoren hielten sich für berufen, mit diesem Paragraphen zu wirtschaften. Redner schließt mit den Worten: – Wir müssen rücksichtslos die Sonde an unsere richterlichen Zustände legen, damit der Richter wieder der Vertrauensmann – des ganzen Volkes wird. Beifall links. (1904; DWDS-Corpus)
Die positive Bewertungsfestlegung lässt sich in diesen Belegen aus der textuellen Umgebung ableiten. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit dem Gebrauch von rücksichtslos bei Ernst Jünger. In den folgenden Beispielen sind es entweder explizit formulierte Bewertungen oder Aspekte der textuellen Umgebung (u. a. Forderungen, Kontrastierung), die signalisieren, dass der Autor die Eigenschaft der Rücksichtslosigkeit aus bestimmten Gründen positiv bewertet. Die positive Bewertung wird also teilweise explizit zum Ausdruck gebracht, zum Teil ist sie nur als implizite Schreibervoraussetzung rekonstruierbar. Wichtig ist, dass eine solche Bewertung in der Mehrzahl der Belege klar und unzweifelhaft erkennbar ist. Auch wenn es sich bei dieser Art der Verwendung nicht um eine überindividuelle Konvention handelt, so kann man sie doch als eine individuelle und vermutlich auch strömungsspezifische stabile Gebrauchstendenz auffassen: Mit der ihnen Lebensform gewordenen Rücksichtslosigkeit schwangen sie in tollen Nächten den Becher, bis ihnen die Welt versank. (10; Vorwort zur Erstausgabe von In Stahlgewittern) der alte Staat hatte jenen rücksichtslosen Willen zum Leben verloren, der in solchen Zeiten unbedingt notwendig ist. (35) 9
Vgl. die Website des »Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache« (www.dwds.de), wo die genannten Textcorpora zugänglich sind.
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Wir brauchen für die kommenden Zeiten ein eisernes, rücksichtsloses Geschlecht. (43) wer das mit wachen Augen beobachtete, der mußte fortan mit Notwendigkeit die härtesten, rücksichtslosesten und diktatorischsten Maßregeln für die besten halten. (57) Der Krieg hat dagegen einen neuen, sehr gefährlichen Menschenschlag erzeugt, sehr unbürgerlich, rücksichtslos in der Wahl der Mittel und erzogen in der Gewohnheit des Kampfes. (197) aber wenn die Idee in Frage steht, wird Rücksichtslosigkeit zur Pflicht. (253)
Eine aufschlussreiche Parallelstelle kann den Status der Gebrauchsweisen von rücksichtslos und von Brutalität deutlich machen. Hier bezieht sich Jünger auf Äußerungen von Johannes R. Becher10 über den Neuen Nationalismus und kommentiert dabei die Frage, wie der Ausdruck Brutalität wohl gemeint sei und welche Gesichtspunkte diese Deutung stützen. In unmittelbarer textueller Umgebung wird auch der Ausdruck Humanität als Gegenbegriff zu Brutalität mit einer offenkundig negativen Bewertungsfestlegung gebraucht: eine rücksichtslose, blutmäßige Brutalität. Ein Ausdruck dieser letzteren, hinter der Maske einer kriegerischen Entschlossenheit verborgenen Verfassung, die den Kampf als ›an sich‹ verehrungswürdig betrachte, sei in Deutschland der Neue Nationalismus, [...]. Das Attribut der Brutalität, also des Willens zum Kampf mit allen Mitteln unter Verzicht auf den Gebrauch der liberalistischen Phrase, erkennen wir umso lieber als zutreffend an, als es gerade von dieser Seite aus nur in anerkennendem Sinne gemeint sein kann. Herr Becher ist uns bekannt als Autor eines, gleich nach Erscheinen beschlagnahmten Buches ›Lewisit‹, in dem mit Liebe und großer Sachkenntnis der Sieg einer roten Armee im Giftgaskampf geschildert wird. Die Lektüre hat uns überzeugt, daß wir in Bezug auf das Wertverhältnis, das zwischen einer als notwendig empfundenen Idee und den Hemmungen der modernen Humanität als dem Ethos der Bequemlichkeit besteht, recht verwandte Ansichten besitzen. (330; Herv. TG)
Diese sprachreflexive Passage zeigt, dass im Verständnis von Zeitgenossen Zuschreibungen wie rücksichtslos oder Brutalität durchaus »in anerkennendem Sinne gemeint« und verstanden werden konnten, sofern geeignete Hintergrundannahmen unterstellt wurden. Die Zuschreibung von Rücksichtslosigkeit als positiv bewertete Eigenschaft wird auch an anderen Textstellen verbunden mit der Abwertung humanitärer Orientierung und anderer Überzeugungen. Im folgenden Textbeispiel verbindet sich eine anti-humanitäre Darstellungstendenz mit der positiven Bewertung einer als Instinkt bezeichneten Orientierungsgrundlage. Das Wort Instinkt ist ein zentrales Element im Geflecht der Schlüsselbegriffe von Jüngers im Kern anti-rationalistischer, anti-bürgerlicher und vitalistischer Grundauffassung: 10
Vgl. dazu die Anmerkungen in der Ausgabe von Berggötz: Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg. kommentiert u. mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 741 f.
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Als positive Note sei eine gewisse Rücksichtslosigkeit hervorgehoben, die sowohl das konventionelle wie das humanitäre Pathos mit erfreulichem Instinkt zu vermeiden weiß. Ein Buch, in dem schon die reinere, aber gefährlichere Luft des 20. Jahrhunderts bläst. (494)
Der Gebrauch von rücksichtslos und Rücksichtslosigkeit ist zum einen ein Mosaikstein im Repertoire der Verfahren und Mittel, mit denen Jünger sich auf einen neuen Soldatentypus bezieht. Das Beispiel soll darüber hinaus verdeutlichen, dass bei der Beschreibung solcher Gebrauchszusammenhänge auch grundlegende Fragen der Sprachtheorie, der historischen Semantik, der Wortgeschichte, der Corpuslinguistik sowie der historischen Pragmatik und Diskursanalyse im Spiel sind: Es ist keine triviale Frage, wie man Bewertungsaspekte behandelt, die mit Wörtern wie rücksichtslos oder brutal verbunden sind. Sind sie konventionell? Sind sie pragmatisch-kontextuell eingeführt? Welche Rolle spielen dabei textuelle Umgebungen? Welche Rolle spielt die Frequenz von Verwendungen in einem bestimmten Sinn für die Etablierung einer Gebrauchstendenz? Wie können wir corpuslinguistische Konzepte wie zum Beispiel semantische Prosodie oder Polarität nutzen, um typische Gebrauchstendenzen zu erfassen?
5. Schlüsselwörter: Verwendungsweisen und Zusammenhänge Die 660 Druckseiten des publizistischen Werks der Jahre 1919 bis 1933 sind vielfältig durchzogen von Ausdrücken mit spezifischen Verwendungsweisen, die eng zusammenhängen mit einzelnen Facetten von Jüngers Weltanschauung in dieser Zeit. Zu diesen Ausdrücken gehören unter anderem: Aufmarsch, Auslese, Bewegung, Bindung, Blut, Charakter, Erb-, Feuer, Fortschritt, Frontsoldat, Frontsoldatentum, Führer, Führerinstinkt, Ganzes, Gefahr, Generation, Geschlecht, Graben, hart / Härte, Held / heldisch, heroisch / Heroismus, Herz, Idee, Instinkt, Jugend, Kampf, Krieger, Leben, Mann / männlich / Männlichkeit, Maschine, Material, Materialschlacht, Materie, Menschenschlag, Nation / Nationalismus, neu, notwendig / das Notwendige / Notwendigkeit, Opfer / Opfertod, Ordnung, Pflicht, Rang, Rasse, Revolution, scharf, Schicksal, Schicksalsraum, Stoßtrupp, Tat, Technik, Vaterland, Volk, Wille.
Diese Wörter haben in vielen Fällen mehrere Verwendungsweisen, die jeweils unterschiedlich zu beurteilen sind und die einen unterschiedlichen Beitrag zum Ausdruck von Jüngers ›Weltanschauung‹ leisten. Ich möchte dies nun an drei Beispielen verdeutlichen. (i) Betrachten wir den Ausdruck Feuer und seine Wortbildungen, so finden wir zunächst Belege, in denen der Gebrauch von Feuer sich ohne weitere ›weltanschauliche‹ Implikationen11 auf eine Art von militärisches Ereignis bezieht, so zum Beispiel in »und nehmen Feuer auf« (16.15) oder beim Gebrauch von Artillerie11
Das schließt nicht aus, dass solche Implikationen teilweise in der unmittelbaren textuellen Umgebung mit anderen sprachlichen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden.
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feuer: »Mit feinfühligem, indianerhaftem Spürsinn werden eingesehene Streifen, Artilleriefeuer und markante Punkte vermieden« (15.31). Diese im engeren Sinne militärtechnische Verwendungsweise schließt nicht aus, dass der Ausdruck auch bei der Deutung militärgeschichtlicher Entwicklungen eine zentrale Rolle spielt, so beispielsweise im Beitrag Krieg und Technik (1930),12 und dass den rein fachlichen Elementen mit der Formulierung vom indianerhaften Spürsinn ein Aspekt gegenübergestellt wird, der offenbar im Bereich der Instinkte und der persönlichen Begnadung – also jenseits des fachlich Vermittelbaren – anzusiedeln ist. Sodann finden wir zahlreiche Belege, in denen beim Gebrauch von Feuer auf unterschiedliche Weise signalisiert wird, dass es sich dabei um ein zentrales Element eines eigenen Erfahrungs-, Handlungs- und prägenden Erlebnisraumes handelt, der die Frontsoldaten von anderen Personengruppen unterscheidet: Die Waffenbrüderschaft! Das ist ein Wort, unverständlich denen, die nicht durch das Erbteil der Väter, das Blut, sich ihrem Lande verbunden fühlen; unverständlich auch denen, die leugnen, daß für dieses Land sein Blut zu geben, höchste Ehre sei. Aber die, die ihre Kameraden fallen sahen im Sturm, den Blick geradeaus, die je von treuen Händen aus dem Feuer geschleppt wurden, und die einmal im Hochgefühl einer gewonnenen Schlacht den Weg nach Westen offen sahen, die alle kennen dieses Wort. Wenn diese Männer, die schweigend und ernst durch alle Feuer schritten, sich versammeln, um sich des Geleisteten zu erinnern, so wird ihr Tag das Zeichen der Waffenbrüderschaft und der Treue tragen. (19; Herv. TG) Wenn dieser Krieg uns auch alles genommen hat – eins hat er uns gegeben: den neuen, entschlossenen Menschen, den das Geschick in tausend furchtbaren Stunden dazu erzog, sich ganz für seine Sache hinzugeben. Wir sind gewohnt, uns für unsere Sache ins Feuer zu stellen, für sie das Schwerste zu erdulden und Furchtbarste zu tun. (45; Herv. EJ)
Eine dritte markante Verwendungsweise von Feuer, die sich auf individuelle Eigenschaften von Personen bezieht, kann man so paraphrasieren: ›feste Überzeugung und intensive Begeisterung einer Person, die sich in entsprechender Handlungsbereitschaft niederschlägt‹: »Es ist sehr wichtig, daß in dieser Zeit der Gegensätze und Unklarheiten im Frontsoldaten ein revolutionäres Feuer wach gehalten wird, schon um die Gefahr eines bewaffneten Spießbürgertums zu vermeiden« (124.23 f.). (ii) Ein zweites Beispiel soll den spezifischen Zusammenhang von Schlüsselwörtern und Denkweisen illustrieren. Eine für das frühe 20. Jahrhundert und auch für Jünger charakteristische Denkfigur beinhaltet die Idee, dass es eine Art 12
»Die Arbeit der Industrien läuft letzten Endes darauf hinaus, an der Front Feuer und immer dichteres Feuer zu erzeugen. Freilich scheint in diesem Abschnitt das Maß der Bewegung vom Maße des Feuers abhängig zu sein. Wo Truppen vorgehen, gehen sie unter feurigen Helmen vor, aus deren Schutz sie ebensowenig heraustreten können, wie der Taucher seine Rüstung im Element eines tödlichen Druckes verlassen kann. Wo dies dennoch erzwungen werden soll, finden Katastrophen statt. [...] Die Bewegung sucht immer näherliegende Ziele. Dorfränder, Grabenstücke und vereinzelte Geländepunkte auf, sie findet nach immer längeren Pausen statt, sie wird gleichsam durch Feuer chloroformiert.« (601)
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lebensnahe Schicht des Daseins, der Lebensführung und des (militärischen) Handelns gibt, die höher zu bewerten ist als der Verstand und andere zivilisationsnahe Instanzen.13 Diese Denkfigur wird an vielen Stellen, besonders prägnant aber in Blut und Intellekt (152–157; 1925) genutzt, einem Beitrag in der Standarte, der die Opposition zweier Sphären schon im Titel signalisiert. Der einen Sphäre lassen sich folgende Wörter und Wendungen zuweisen: Blut, Instinkt, (tieferer) Wille, Erdkraft des Lebens, traumhafte Sicherheit, Schicksal, Sprache des Blutes, fühlen. Zur anderen Sphäre gehören: Intellekt, Verstand, Zahl (zahlenmäßig), Begriff, Denken, Grund / Gegengrund, Zivilisation, Sprache des Verstandes, wissen. Die Sphären werden auch mit unterschiedlichen Personengruppen gekoppelt: Die Sphäre des Intellekts vertritt der Generalstabsoffizier, die des Blutes und des Instinkts der Frontsoldat (156.30 ff.).14 Für diese ›tiefere‹ Lebenssphäre des Blutes und des Instinkts werden an anderen Stellen noch weitere Ausdrücke verwendet (z. B. Urtriebe, 10.11; Blutseite des Lebens, 371.26), umgekehrt gibt es mehrere Stellen, an denen das Wort Instinkt und die Wortbildungen instinktiv, instinktmäßig, instinktsicher und Führerinstinkt in diesem Sinne verwendet werden.15 Auch das Wort ahnen hat ein eigenwilliges Gebrauchsprofil, das sich dieser Denkfigur zuweisen lässt: Es wird an vielen Stellen in Bezug auf Einsichten verwendet, die nicht der Sphäre des Verstandes zuzuordnen sind, sondern einer diffus angedeuteten ›anderen‹ Lebensschicht. Im folgenden Textbeispiel ist es der Ausdruck Blut, der diese ›andere‹ Lebensschicht und Erkenntnisgrundlage signalisiert: Und wo Ich und Du ein Gemeinsames haben, da muß auch noch ein Mehr vorhanden sein, ein Medium, das diese beiden umschließt, wie wir selbst im leeren Raum einen Äther annehmen, der den Lichtstrahl trägt. Dieses Mehr ist das Schicksal, das die Einzelnen verbindet zu einem gemeinsamen Sinn. Mit den Sinnen nehmen wir nur die gewachsene Erscheinung wahr, aber das unterirdische Wurzelgeflecht, das überall die Keime in 13
14
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Vgl. zur Ideengeschichte dieser Denkfigur insbesondere Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart/Weimar 1994 (Metzler Studienausgabe), Teil 1 und 2. Vgl. auch die Kontrastierung des »einfachen Mannes« und des Generalstabsoffiziers in Sturm (Ernst Jünger, Sturm. In: ders., Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 15, Erählende Schriften I, Stuttgart 1978, S. 9–74, hier S. 15, sowie S. 27 f.). Instinkt: 84.1; 86.12; 156.8; 424.26 u. ö. – »Beide Arten des Angriffs führen erst in wechselseitiger Unterstützung zum Erfolg, jede ist nur an ihrem Platze richtig; die richtige und unmittelbare Anwendung ist eine Kunst und als solche letzten Endes nicht erlernbar, sondern unterworfen dem angeborenen Führerinstinkt«. (33.11; Herv. EJ) – »Unter dem neuen Geschlecht, das instinktiv und durch das Erlebnis des Krieges aufgewühlt eine scharfe Wendung nach der Seite des Blutes vornimmt und daher sich einer verstandesmäßigen Weltanschauung zu entwinden strebt«. (160.5) – instinktmäßig: 633.31. – »Sind so die wissenschaftliche Haltung und die mit ihr verquickte fortschrittliche Moral auf der einen Seite bemüht, dem Kriegertum seine männliche Ursprünglichkeit und instinktsichere Unbedenklichkeit zu nehmen«. (426.34) – Hierher gehört auch die oben zitierte Wendung vom indianerhaften Spürsinn.
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die Höhe treibt, dieses eigentlich Verbindende, dem der Einzelne nichts bedeutet, weil es gebärende Kraft besitzt, das ahnen wir durch das Blut, und diese Ahnung verleiht uns das beglückende Gefühl einer tiefen Zusammengehörigkeit. (191 ff., hier 193.3; Herv. TG)16
(iii) Eine weitere wichtige, auch lexikalisch vielfältig repräsentierte Denkfigur ist der Gedanke einer personalen oder in kleinen militärischen Gruppen realisierten Elite und ein damit eng verbundener Helden-/Heroismusbegriff. Bereits der frühe Beitrag Skizze moderner Gefechtsführung (1920) konzeptualisiert den wünschenswerten Soldatenstand als eine Auslese (14.32), bezeichnet das Idealbild des Soldaten der ›neuen Zeit‹ mit dem Ausdruck Held (15.6) und nennt seinen Wirkungskreis, den Stoßtrupp, eine Eliteschar (15.8), dessen Zusammensetzung und Handeln wenig später (17.18 ff.) mit Formulierungen wie »höchste Zusammenfassung erlesener Kräfte« oder »Ideal kriegerischer Tat« charakterisiert wird. Es ist unverkennbar, dass hier autobiographische Bezüge zu Jüngers eigenem Status als Stoßtruppführer vorliegen. Ein wesentlicher Kern von Jüngers Heldenkonzept ist der Begriff der Bindung an und der Opferbereitschaft für bestimmte Ideen (376) und höher bewertete Sphären: »Der Mensch ohne Bindungen stirbt und mit ihm sein Werk, weil es in seinen Ausmaßen nur auf ihn selbst zugeschnitten war; der Held geht unter, aber sein Untergang ist wie das blutrote Versinken der Sonne, das einen neuen und schöneren Morgen verspricht« (126).17 Die Ausdrücke im Umfeld von Held und Heldentum werden auch in Anspruch genommen für den unspektakulären Alltag des Grabenkämpfers, der durch Kälte, Nässe, Hunger, Eintönigkeit usw. geprägt ist (z. B. 90.14; 97.28) sowie für den technisch geprägten Handlungsraum der »Führer der Flugzeuge, der Luft-, Schlacht- und Unterseekreuzer« (431), die als Ausnahmeerscheinungen mit der Sphäre des Bürgerlichen und des Politischen kontrastiert werden (»gegen die bürgerliche und mit Notwendigkeit unheroische Politik der Parlamente«, 431; vgl. 461.28 »der unheroische Mensch, der Bürger«). Gleichzeitig finden wir kritische sprachreflexive Kommentierungen zum Gebrauch 16
17
Weitere Belegstellen: 47.6; 65.2; 88.20; 105.11; 113.5; 165.25; 172.33; 184.25; 201.22; 209.28; 237.4; 249.30 u. ö. – Vgl. auch 321.14 die syntaktische Konstruktion ahnen um, die offenbar parallel bzw. kontrastierend zu wissen um verwendet wird: »Und in Augenblicken, in denen uns das Blut glühend durch die Adern rollt, ahnen wir um die großen Kräfte alles Lebendigen überhaupt«. Der Begriff der Bindung wird auch in Kontexten gebraucht, wo nicht explizit vom Helden die Rede ist, sondern von verwandten Konzepten, z. B. vom Frontsoldaten: »Der Frontsoldat kann nicht reaktionär sein, weil er ein Mann der Wirklichkeit ist und aus der Geschichte lernen will. Er kann es schon aus dem Grunde nicht, weil er bei aller Erkenntnis der Größe und des Glanzes der Bismarckschen Schöpfung bereits ein neues, größeres Deutschland vor seinem geistigen Auge sieht, und weil er in der Zerschlagung der alten Bindungen die Möglichkeit größerer Bindungen erfaßt« (124). – Umgekehrt wird die Idee der Bindung an eine höhere Sphäre auch mit anderen sprachlichen Mitteln, also ohne den Gebrauch des Wortes Bindung, zum Ausdruck gebracht: »im Helden vollendet sich das Notwendige, schicksalhaft Bedingte, er ist der eigentlich sittliche Mensch, der nicht nur an sich, nicht nur heute, sondern auch für Alle und für jede Zeit von Bedeutung ist« (126).
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des Wortes Held, die sich auf eine offenbar inflationäre Verwendung im zeitgenössischen Diskurs bezieht: »Und doch hat auch dieser Krieg seine Männer und seine Romantik gehabt! Helden, wenn das Wort nicht so wohlfeil geworden wäre« (9.30 f.). Oder: »Mit bitterem Lächeln lasen sie das triviale Zeitungsgewäsch, die ausgelaugten Worte von Helden und Heldentod« (11.4). Solche sprachreflexiven Kommentierungen können sich auch auf andere Schlüsselwörter und andere Aspekte beziehen, zum Beispiel auf die Konkurrenz von Schlüsselwörtern der eigenen und einer gegnerischen Weltanschauung: »und statt Ehre, Pflicht und Opfer heißt es Friede, Freiheit, Brot« (113.13). Allen Beispielen ist gemeinsam, dass die Schlüsselwörter und ihre Verwendungsweisen unter sich netzwerkartige Zusammenhänge und Abhängigkeiten aufweisen. So gehören spezifische Verwendungsweisen von Ehre, Opfer, Bindung, Schicksal oder Blut mit zu den Bestimmungsaspekten der Personenkategorien, die mit Ausdrücken wie Held, Frontsoldat, Grabenkämpfer bezeichnet werden. Anhand eines Textbeispiels (Der Charakter, 1926) soll nun exemplarisch aufgezeigt werden, wie auf wenigen Seiten netzwerkartige, wechselseitige Bestimmungen von Grundbegriffen wie Schicksal, Erlebnis, Blut usw. durch geeignete textuelle Verfahren etabliert werden. Der Beitrag Der Charakter wurde im Mai 1926 in der Zeitschrift Standarte, der Beilage zum Stahlhelm, veröffentlicht. Er entwirft in komprimierter Form eine Konzeption mit nationalistischen, anti-rationalistischen, dezisionistischen und totalitären Elementen. Für unsere Zwecke ist er aufschlussreich im Hinblick auf die Verfahren, mit denen der entsprechende begriffliche Apparat eingeführt und aufgebaut wird. Der Beitrag beginnt mit folgender Passage: Wir Nationalisten haben uns entschlossen, das Notwendige zu wollen – das, was das Schicksal will. Mit diesem Entschlusse verlassen wir bewußt das Reich jener Sicherheit, das der Verstand über uns gewölbt hat, um uns der höheren Sicherheit des Schicksals anzuvertrauen. (207; Herv. TG)
Mit dem Gebrauch des Ausdrucks Nationalisten wird die weltanschauliche Position einer eigenen Gruppe identifiziert. In kontrastierender Weise werden sodann zwei Sphären (Reich) unterschieden, die durch zwei Instanzen repräsentiert sind: Sie werden mit den Ausdrücken Verstand und Schicksal bezeichnet. Durch die Verwendung von höher wird die Denkfigur einer Stufenfolge, einer Rangunterscheidung aufgerufen, die sich im Werk von Ernst Jünger an vielen Stellen findet, und der sich im Beitrag Der Charakter auch der Gebrauch des Ausdrucks überordnen (208.16) zuweisen lässt. Mit den Ausdrücken entschließen, Entschluss und wollen werden Entscheidungen von Personen bezeichnet, die als eigenständig, nicht vernunftgeleitet, sondern in Übereinstimmung mit der Instanz Schicksal dargestellt werden. Hier ist das dezisionistische Element. Dass diese persönlichen Entschlüsse damit in Übereinstimmung mit der überpersönlichen Instanz Schicksal gedacht werden, ist eine Denkfigur der Totalität. Unter Schicksal versteht Jünger in diesem Beitrag offenbar eine überpersönliche, auf ein Volk bezogene geschichtsleitende Instanz. Einer ver-
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standesmäßigen Folgerichtigkeit wird im Weiteren dann wiederum kontrastierend eine höherwertige Schicksalsfolgerichtigkeit (208.17; 209.31) entgegengestellt. Den beiden Polen bzw. Sphären werden im Text dann weitere Gegensatzpaare zugeordnet, zum einen überzeugen, beweisen auf der Seite des Verstandes vs. zwingen auf der Seite des Schicksals, zum anderen die Kontrastierung Verstand, Gehirn vs. Blut, Herz, Erlebnis, fühlen, Charakter, die erneut mit einer Rangbestimmung verbunden ist. Ich zitiere noch einmal eine Kernstelle, in der nicht nur die Kontrastierungen, sondern auch die Zusammenhänge zwischen den Schlüsselbegriffen zum Ausdruck kommen: Der durch die Sinne bedingten äußeren Folgerichtigkeit des Verstandes ordnen wir auf Grund seelischer Erlebnisse über: die innere, die Schicksalsfolgerichtigkeit. Ihr Mittel ist nicht das Gehirn, sondern das Blut, das das Gehirn seinen Zielen dienstbar macht oder sie verwirklicht gegen seinen Widerstand. Die Gründe des Blutes sind in erster Linie zwingende und nicht überzeugende. Seine Ziele sind nicht die logisch konstruierten, sondern die notwendigen. Sein zentrales Organ ist das Herz. Das, was zum Herzen in derselben Beziehung steht, wie der Verstand zum Gehirn, nennen wir den Charakter. Diese Beziehung ist zwar nicht anatomisch nachzuweisen, aber wir legen sogar Wert darauf, daß sie es nicht ist. Daß wir im Gegensatz zur Aufklärung auf den Charakter den höchsten Wert legen, ist das bedeutsamste Zeichen unserer inneren Wandlung. (208)
Versucht man, die Zusammenhänge auf der höher bewerteten Seite des Schicksals zu rekonstruieren, so ergibt sich etwa folgende Reihe: Das Schicksal ist die übergeordnete geschichtsleitende Instanz. Das Blut ist das Mittel des Schicksals. Das Herz ist das zentrale Organ des Blutes. Der Charakter verhält sich zum Herzen wie das Gehirn zum Verstand. Diese Relationen dürfen aber nicht in einem organischen Sinne verstanden werden. Aufklärung und Verstand sind Gegenbegriffe dazu. Die entworfene neue Anschauung ist das Ergebnis einer inneren Wandlung, auch hier sind beide Ausdrücke (innere, Wandlung) zu beziehen auf ein zentrales weltanschauliches Element, das nicht zuletzt im Titel von Der Kampf als inneres Erlebnis zum Ausdruck kommt, in der Unterscheidung innen / außen und schließlich auch in weiteren Textstellen, an denen die Natur der Wandlung und ihre Bedingungsfaktoren thematisiert werden. Dazu folgendes Textbeispiel aus dem Beitrag Der Krieg als inneres Erlebnis (Standarte, 1925): Eine öde und fürchterliche Leere kam in den Orgien des Materials zum Vorschein, und auf das Bild unserer Zeit, das uns im Spiegel des Produktionskrieges vorgehalten wurde, haben wir keinen Grund stolz zu sein. Nur die heroische Haltung des einzelnen, der eine Schuld abbüßte, an der er vielleicht den geringsten Anteil hatte, leuchtet wie ein strahlendes Licht aus diesen Wüsteneien. [...] Das ist das eigentliche seelische Erlebnis dieses Krieges, die aufflammende Erkenntnis des hoffnungslosen Zusammenbruches einer ganzen Zeit. Das hat sogar der Materialist erkannt, und er versucht, auf seine Weise die Folgerungen daraus zu ziehen, die sich aber doch nur wieder in seinem Kreise bewegen, in der Änderung von Formen, Systemen und Einrichtungen aller Art. Das heißt von außen kurieren, wo eine innere Wandlung das Notwendige ist. (105 f.; vgl. 234.20 ff.)
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Der hier angesprochene Zusammenhang von Erlebnis und Wandlung wird auch an anderen Textstellen erneut formuliert (348.26) oder mit weiteren Schlüsselbegriffen (z. B. Bindung, 480) kombiniert. Eine auch nur annähernd umfassende Analyse der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Schlüsselwörtern aus Jüngers Publizistik der 1920er Jahre ist in diesem Beitrag nicht möglich, weil sie die genaue, belegstellengestützte Beschreibung der einzelnen Verwendungsweisen von Ausdrücken wie Schicksal, Blut, das Notwendige, Nation und vielen anderen erfordern würde. Immerhin sollte deutlich geworden sein, wie begriffliche Zusammenhänge innerhalb einzelner Beiträge etabliert werden, wie sich Zusammenhänge innerhalb der Publizistik der 1920er Jahre rekonstruieren lassen und wie sich Schlüsselwörter bzw. Verwendungsweisen von Schlüsselwörtern einzelnen Elementen der soldatisch-nationalistischen Weltanschauung Ernst Jüngers zuordnen lassen.18 Zur Erschließung solcher Zusammenhänge tragen zwei weitere Perspektiven bei, denen wir uns in den folgenden beiden Abschnitten zuwenden: Formen der Polarisierung und Figuren der Totalität.
6. Wortgebrauch und Formen der Polarisierung Ernst Jüngers Publizistik der 1920er Jahre ist auf vielfältige Weise und auf unterschiedlichen Ebenen von Formen der Polarisierung bzw. der Kontrastierung geprägt. Sie sind zum einen ein strukturelles Merkmal im Ideenhaushalt, der durch zahlreiche polare Denkfiguren gekennzeichnet ist, sie formen damit zusammenhängend auch viele Aspekte des Wortgebrauchs, schließlich finden wir ein reichhaltiges Repertoire von textuellen Verfahren der Kontrastierung. Der Zusammenhang von polaren Denkfiguren und Wortgebrauch wird zunächst deutlich bei Begriffspaaren, deren Elemente als Oppositionen eingeführt und verwendet werden und die einen zentralen ideologischen Stellenwert aufweisen, zum Beispiel die Oppositionen Mann vs. Material, Wort vs. Tat, Stadt vs. Natur bzw. Stadt vs. Land (230). Solche Begriffspaare werden von Jünger zum Teil auch in Reihungen genutzt: »Sie [die echte, wirkliche Revolution; TG] wird ersetzen das Wort durch die Tat, die Tinte durch das Blut, die Phrase durch das Opfer, die Feder durch das Schwert« (36; vgl. 43). Zwischen solchen Begriffspaa18
Vgl. Anja Lobenstein-Reichmann, Liberalismus – Demokratie – Konservativismus: Moeller van den Bruck, das Begriffssystem eines Konservativen zu Beginn der Weimarer Republik. In: Neue deutsche Sprachgeschichte, hg. von Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/ Angelika Linke, Berlin/New York 2002 (Studia linguistica Germanica 64), S. 183–206, zum Begriffssystem bei Arthur Moeller van den Bruck und zu darauf bezogenen lexikographischen Verfahren der Analyse und der Dokumentation. Vgl. weiter auch Anja Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain. Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Analyse, Berlin/ New York 2008 (Studia linguistica Germanica 95).
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ren lassen sich teilweise auch Zuordnungen erkennen, so zum Beispiel zwischen Feder vs. Schwert und Literatentum vs. Kampftruppe (225). Die Begriffspaare lassen sich in der Regel unterschiedlichen Denkfiguren bzw. Teilthemen zuordnen, so etwa das Paar der Einzelne vs. das Ganze der Annahme einer höherwertigen, total gedachten Einheit (57), das Paar Mann vs. Material dem Teilthema einer Deutung militärischer Modernisierungserscheinungen, das Paar Verstand vs. Charakter der Erzeugung des Bildes vom neuen Soldaten, die Opposition von Sicherheit vs. das Gefährliche (620) der Kontrastierung des bürgerlichen und des soldatischen Lebenskreises. Neben einzelnen Begriffspaaren durchzieht die Jünger’sche Publizistik eine Opposition zwischen dem Eigenen und dem der Anderen. Ausdrücke wie Blut, Schicksal, Frontsoldat oder Held (ggf. mit unterschiedlichen Verwendungsweisen) lassen sich klar zuordnen zu einer Sphäre, die Jünger für sich und seine Gruppe in Anspruch nimmt, Ausdrücke wie Liberalismus, Phrase, Vereinswesen oder Parlament beziehen sich ebenso klar auf einen Bereich gegnerischer oder jedenfalls abgelehnter Überzeugungen. Die Darstellungsweisen und die textuellen Umgebungen beim Gebrauch solcher Ausdrücke sind überwiegend binär angelegt, Formen der Differenzierung, der Erörterung, der gewichtenden oder abwägenden Diskussion von Positionen spielen keine nennenswerte Rolle. Diese kompromisslose Trennung des Eigenen vom Anderen wird stellenweise auch selbstreflexiv als Bestandteil der politischen Strategie kommentiert: Die Zeichen mehren sich, die uns zeigen, daß wir auf dem rechten Wege sind. Und schon beginnen Kreise, die noch vor einem halben Jahre vor dem Worte Nationalismus zurückschreckten als vor etwas Kompromittierendem und ganz Unmöglichem, dieses Wort zum neuen Aushängeschilde dessen zu machen, was sie seit sieben Jahren ohne Erfolg getrieben haben. Wir verbitten uns das und wir werden den Trennungsstrich deutlich zu ziehen wissen. Wir wissen, was wir durch dieses Wort auf das Schärfste bejahen wollen, wir haben es als ein Schimpfwort, zu dem sich niemand drängte, aus dem Staube genommen, aber wir wissen auch, was verneint werden soll. Es ist so, daß es nur dort gut ansteht, wo wirklich ein neuer Begriff dahintersteckt und eine Haltung, die nicht durch die Übernahme von Worten erworben werden kann, sondern die eine Generation als selbstverständlich im Blute trägt. (225 f.; Herv. TG)
Für den Aufbau dieser insgesamt polaren Überzeugungswelt spielen neben den zentralen Ausdrücken auch sprachliche Techniken und textuelle Mittel eine wesentliche Rolle. So finden wir zunächst Fälle, in denen eine Opposition mit Ausdrücken wie Unterschied (188) oder (scharfer, tiefer) Gegensatz (230) eingeführt wird. Auch Verben wie scheiden oder unterscheiden werden in solchen Zusammenhängen gebraucht.19 Das folgende Textbeispiel ist ein Beleg für den Gebrauch von Unterschied in dieser Funktion, es zeigt darüber hinaus auch die typische Kombinatorik von 19
»Dies ist das Wesen des Nationalismus ... Dies scheidet ihn vom Patriotismus, der der Legitimität nicht entbehren kann. Dies unterscheidet ihn von jeder rein geistigen Bewegung, da er tiefer als jede geistige Bewegung ist.« (535)
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kontrastierenden Verfahren und Konstruktionen (der eine, der andere; hier, dort; mechanisch vs. schöpferisch; messen vs. fühlen): Das ist der große Unterschied zwischen dem freien und dem verbundenen Geist: der eine sucht das Leben mechanisch zu bestimmen, und der andere arbeitet schöpferisch aus ihm heraus. Der eine sagt, was sein müßte und der andere wirkt in dem, was ist. Der eine sieht den platten Fortschritt und der andere fühlt die unendliche Bewegung, die in allem Lebendigen ist. Dort wird nach allgemeinen Begriffen gemessen, und hier werden die besonderen Werte gefühlt. (188; Herv. TG)
Auch ein sprachliches Formulierungsmuster wie Das wahre / echte / wirkliche X kann für Zwecke der Kontrastierung genutzt werden, zum Beispiel in Wendungen wie der wahre Mann (12), die echte Revolution (36), eine wirkliche Revolution (63), ggf. auch in Verbindung mit sogenannt, das als Mittel der Distanzierung dient: Unter dem Schlammspiegel der sogenannten Revolution, deren Vertreter noch immer nicht da sind, wo sie hingehören, muß an einer wirklichen Revolution gearbeitet werden. (63; Herv. TG)
Konnektoren sind lexikalische Mittel, mit denen die Art des Zusammenhangs, darunter Gegensätze oder Einschränkungen, zwischen Textteilen signalisiert werden kann. Zu den Konnektoren, die Jünger in kontrastierender Weise einsetzt, gehören unter anderem: aber (552.9), dagegen (»Das Gewordene ... Das Werdende dagegen ...«; 535), sondern und das Paar nicht / sondern20 sowie vielmehr21 oder während: So steht er zu der unerbittlichen Landschaft des Krieges in einem ähnlichen Konflikt wie der »Soldat Suhren«. Aber während Von der Vring, der Autor des »Soldaten Suhren«, sich individualistisch entscheidet und seinem Roman ungefähr die Form einer Anklage wegen Freiheitsberaubung verleiht, erkennt Schauwecker das unbedingte Vorrecht der überpersönlichen Bindungen an, mit denen er die persönlichen Konflikte, ohne sie zu übersehen oder zu leugnen, überwölbt. (520; Herv. TG)
Das Textbeispiel zeigt schön, wie der Gebrauch des Konnektors während zusammenspielt mit dem Begriffspaar individuell / persönlich vs. überpersönlich und dem Ausdruck der eigenen Präferenz (Vorrecht). An einer anderen Stelle wird ein Kontrast mit den Ausdrücken Unterschied und Zweiteilung eingeführt und dann mit dem Paar auf der einen Seite / auf der anderen Seite wieder aufgenom20
21
»die richtige und unmittelbare Anwendung [zweier unterschiedlicher Arten von Angriff; TG] ist eine Kunst und als solche letzten Endes nicht erlernbar, sondern unterworfen dem angeborenen Führerinstinkt«. (33) »Der innere Zusammenhang, der den in diesem Buche gesammelten Aufsätzen zugrunde liegt, ist der des deutschen Nationalismus, dessen Kennzeichen es ist, daß er den Anteil sowohl am Idealismus der Großväter als auch am Rationalismus der Väter verloren hat. Seine Haltung ist vielmehr die eines heroischen Realismus, und das, was er zu begreifen wünscht, ist«. (557; Herv. TG)
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men.22 Weitere Verfahren der Kontrastierung sind zum Beispiel die Nutzung von Vergleichskonstruktionen oder der Gebrauch von sprachlichen Mitteln, die eine zeitliche Dynamik, einen vorher/nachher-Kontrast oder auch einen Rangunterschied ausdrücken. Die wesentliche Rolle textueller Verfahren wird auch deutlich, wenn man Verwendungen ein und desselben Ausdrucks in unterschiedlichen Zusammenhängen vergleicht. Der Ausdruck Verstand ist ein gutes Beispiel dafür: Er wird an mehreren Stellen als niederwertiger Gegenbegriff zu Konkurrenzvokabeln wie Instinkt, Blut (83), lebendig (75), Seele (104), Schicksal (104) gebraucht, auch in Wortbildungen wie verstandesmäßig vs. gefühlsmäßig (137). In seinem Nachruf Zur Erinnerung an unseren Oberst von Oppen (1921) wird der Ausdruck Verstand dagegen eindeutig für eine wünschenswerte Eigenschaft verwendet: Doch nicht nur der Geist, nicht nur das Vorwärtsreißen zum schimmernden Ziel, das über allem Handeln und Kämpfen hängt, bringt den Erfolg; der Verstand muß dem guten Willen auch die rechten Bahnen weisen. Wir 73er haben in unserem Kommandeur auch einen Führer besessen, der sein Handwerk verstand. Er war nicht nur Meister der Form, die in diesem Kriege so schnell und häufig wechselte wie in keinem anderen, sondern ein scharfer Verstand befähigte ihn, auch das Wesen zu durchdringen. Solche Männer sind selten zu jeder Zeit und in jedem Beruf. (19 f.; vgl. auch S. 66)
Das Beispiel zeigt, dass Polarisierung in erster Linie eine textuelle Technik mit mehr oder weniger stabilen, manchmal aber auch nur punktuellen Reflexen im Wortgebrauch ist.23 Textuelle Verfahren und lexikalische Mittel der Kontrastierung sind auch alltagssprachlich weit verbreitet. Sie werden aber zu einem Charakteristikum des Jünger’schen Sprachgebrauchs in der Publizistik durch ihre Häufigkeit, durch ihre Kombinatorik in polar verdichteten Textstücken und auch durch ihre Rolle für den Aufbau eines Systems von Schlüsselbegriffen. Die polare Gegenüberstellung ist eine zentrale sprachliche Grundfigur in Jüngers publizistischem Werk der 1920er Jahre. 22
23
»Dem Buche ist das Motto vorangesetzt: ›Wir mußten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen.‹ – Auf diesen Unterschied gründet sich die Zweiteilung der Wertung, die den ganzen Roman durchzieht. Gewertet wird die Hülle, die die Nation umgibt, und gewertet werden die Erscheinungen, die als dieser Nation selbst zugehörig betrachtet werden. So sehen wir auf der einen Seite die Produkte einer schematischen Erziehung, die schnell abspringende Politur, ein mehr oder weniger verhülltes Strebertum, eine an vielen Stellen brüchige Gesellschaft, den sehr formal gewordenen Staat und auf der anderen Seite jene Tugenden, die der Mann und die männlichen Gemeinschaften in der Not, im Feuer in sich entdecken« (519). In seltenen Fällen finden sich auch vermittelnde Passagen: »Damit soll nicht gesagt sein, daß die nationale Idee der ausgesprochen intellektuellen Vertretung entbehren könnte. [...] Alle Aufgaben, die an uns herantreten, alle Feindschaften, die wir ausfechten, alle Pläne, die wir fassen, alle propagandistischen Maßnahmen müssen auch in einen intellektuellen Zusammenhang gebracht werden, aber sie dürfen um Himmelswillen nicht rein intellektuell behandelt werden. Der aus sich heraus zu selbstherrlichen Übergriffen neigende dialektische Verstand muß dauernd in seine Schranken gewiesen werden, sonst wollen wir lieber gleich bei Ullstein eine Filiale errichten« (141).
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7. Wortgebrauch und Figuren der Totalität Zu den Formen der Polarisierung gehört auch die Gegenüberstellung des Einzelnen und einer größeren, organisierten Ganzheit. Diese Denkfigur ist in Jüngers Publizistik der 1920er Jahre in einer militärischen und in einer völkischen Ausprägung zu belegen. Die militärische Spielart besteht in der Diskussion des Verhältnisses von einzelnen Soldaten zu größeren Verbänden. Hier finden wir zum einen Formulierungen für die Einbindung in größere Ganzheiten (»Glied einer kämpfenden Abteilung«; 28), umgekehrt erfährt die einzelne Person dabei durchaus Zuschreibungen der Wichtigkeit, der Eigenständigkeit und der Wertschätzung, besonders herausgehoben der Typus des Stoßtruppführers. Im Wortgebrauch kann man hier drei Systemstellen verzeichnen: eine für die militärischen Einzelpersonen (zum Beispiel Führer, Mann, Sturmsoldat), eine für die größeren, zum Teil funktional differenzierten militärischen Einheiten (Eliteschar, Kompanie, Stoßtrupp, Verband, Artillerie) und eine dritte mit Bezeichnungen für das Verhältnis, das Zusammenspiel von Beteiligten in militärischen Verbänden. Zu dieser dritten Gruppe gehören zahlreiche spezielle Ausdrücke für militärische Aktionen in ihrem Zusammenhang (flankieren), aber auch Formen der Körper-Metaphorik (zum Beispiel 37.29) oder der Maschinen-Metaphorik bzw. des Maschinen-Vergleichs: Immerhin, wenn es auch noch zuletzt der reinen Menschenkraft, der Muskulatur, vorbehalten bleibt, nach sorgfältiger Vorarbeit die Faust, die blanke Waffe und die Handgranate an den Gegner heranzutragen, so besitzt schon der ganze Arbeitsgang, der in diesem Moment seinen Höhepunkt findet, durchaus maschinenhaftes Gepräge. Der Angriff, und zwar nicht nur der Angriff aus dem Stellungskriege heraus, ist ein Werk, das mit Hebeln, Wellen und Zahnrädern ineinandergreift. Wo und wie der Angriff sich auch entwickeln möge, immer entwickelt er sich zu einem gleichmäßigen Vorgang, bei dem alle seine verschiedenartigen Mittel sich zu einem ineinandergreifenden Ganzen zu verbinden suchen. Technik ist das Zusammenwirken von Feuer und Bewegung, dem Gang eines mit Explosion und Expansion arbeitenden Motors vergleichbar. (38; Herv. TG)
In diesen und anderen Passagen entwirft Jünger ein Bild des militärischen Handelns und militärischer Strukturen als funktionale Ganzheiten, deren Elemente nicht einer grundsätzlich unterschiedlichen Bewertung und Höher- oder Tiefer-Stufung unterliegen, wie wir es bei der völkischen Totalitätsfigur sehen werden, sondern deren Organisiertheit am übergeordneten Ziel der Leistung und des Erfolgs ausgerichtet ist. Diese militärtechnische Sicht ist aber über das Bild des neuen Soldaten (vgl. Abschnitt 3) und die ihm zugeschriebene Wertorientierung mit der zweiten, völkisch-nationalistischen Totalitäts-Figur verbunden.24 Sie wird jenseits der Leistungs- und Erfolgsperspektive auch überlagert von der Idee des Männerbunds, der sich sprachlich in zentralen Ausdrücken wie Waffenbrüderschaft (19) niederschlägt. 24
Vgl. etwa die Charakterisierung des Frontsoldaten als »ein Mann, der über vier Jahre lang auf alles, was das Leben lebenswert macht, verzichten mußte für Werte, die größer und umfassender als das Einzelschicksal sind« (57.16 f.; eine parallele Formulierung auf S. 116).
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Die soeben erwähnte zweite, ungleich brisantere Figur der Totalität beinhaltet eine völkisch-nationalistische Ideologie. Ihr Kern besteht in einer Gegenüberstellung des Einzelnen und einer als überpersönlich und höherwertig gedachten völkischen Einheit bzw. Ganzheit. Diese Konfiguration kam unter anderem in der Fallstudie zu Der Charakter (1926; vgl. oben, Abschnitt 5) bereits zur Sprache. Hier bezog sich der Begriff des Schicksals auf eine überpersönliche geschichtsleitende Instanz, der sich der Einzelne unterwirft, die ihn gleichzeitig aber mit einer höheren Einheit, der Bestimmung des Volks verbindet. Weitere Ausdrücke wie Bindung oder Blut (»das Erbteil der Väter, das Blut«; 19) gehören mit zum begrifflichen Netzwerk dieser Figur. Betrachtet man den lexikalischen Anteil am Aufbau dieses völkisch-nationalistischen Begriffsnetzwerkes, dann lässt sich ein erster Wortgebrauchssektor umreißen, der sich im weitesten Sinne auf das Volk, die Nation und die sie bestimmenden Eigenschaften bzw. Wunsch- und Zielvorstellungen bezieht. Ausdrücke wie Volk, Nation, Vaterland, Schicksal, Blut, Deutschlands Größe, das Deutsche, Herrschaft, Leben, Wille zur Macht und andere sind aber in ihrem Gebrauch oft nur diffus andeutend, wenn es zum Beispiel darum geht, was unter Blut in diesem Zusammenhang genau verstanden werden soll.25 Zum zweiten weisen diese Ausdrücke zum Teil mehrere Verwendungsweisen auf, Blut etwa bezeichnet auch in einem ganz biologischen Sinne die Körperflüssigkeit, die man bei einer Schusswunde verliert. Auch der Ausdruck Leben bezieht sich zum einen auf die Gesamtheit der individuellen biologischen Funktionen, die mit dem Tod erlöschen, zum anderen steht es in Formulierungen wie »das Recht eines großen Volkes zur Herrschaft und zum Leben« (44) in den zeitgenössischen Denktraditionen des Vitalismus und des Sozialdarwinismus. Eine zweite Systemstelle bezieht sich auf das Verhältnis des Einzelnen zur Sphäre des höheren Ganzen. Hier lassen sich zum Beispiel folgende Ausdrücke bzw. bestimmte Verwendungsweisen dieser Ausdrücke zuordnen: Bindung, Gefolgschaft, Opfer, Opfertod, sowie Bezeichnungen für Tugenden und personale Eigenschaften, die sich auf das Verhältnis des Einzelnen zur höheren Einheit (Volk, Nation, Staat) beziehen: u. a. Disziplin (251), Pflicht (20), pflichtbewußt (20), Opferwilligkeit (26). Der größeren und höher bewerteten Einheit steht der Einzelne gegenüber. Sie [die echte Revolution; TG] wird alle Kennzeichen der echten und gerechten Empörung an sich tragen, und wird alle Finsterlinge ausschließen, schon allein deshalb, weil es bei ihr nichts zu verdienen gibt. Denn nicht das Geld wird in ihr die bewegende Kraft darstellen, sondern das Blut, das in geheimnisvollen Strömen die Nation verbindet und das lieber fließt als sich knechten läßt. Das Blut soll unsere neuen Werte gebären, es soll die Freiheit des Ganzen unter Opferung des einzelnen erstehen lassen [...]. (36; Herv. TG; vgl. auch S. 59) 25
Karl Heinz Bohrer hat auf die »verwirrend synkretistische, scheinsystematische Begrifflichkeit einiger zentraler Schriften Jüngers« im Frühwerk und in der Publizistik hingewiesen (Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, S. 14).
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Ein Ausdruck wie Einzelschicksal zeigt erneut, dass die jeweilige Verwendungsweise vom textuellen Zusammenhang mitbestimmt wird. Der Ausdruck kommt in der Publizistik insgesamt fünfmal vor, an zwei Stellen in der Wendung »Werte, die größer und umfassender als das Einzelschicksal sind« (57 und 116), nur diese beiden Belege sind der völkisch-nationalistischen Denkfigur mit ihrer charakteristischen Höher-und-Tiefer-Bewertung zuzuordnen. In drei weiteren Belegen aus den Jahren 1928 und 1929 wird der Ausdruck gebraucht für individuelles Erleben als stellvertretend für das Erleben Vieler und auch in Kontrastierung zu den vielen namenlosen Opfern des Krieges (387 f.; 495). Die völkisch-nationalistische Totalitätsfigur hängt eng zusammen mit anderen Strängen und Hauptthemen des Jünger’schen Denkens, so zum Beispiel mit der Frage nach der Rolle des Frontsoldaten, mit der Verarbeitung des Kriegserlebens und des verlorenen Kriegs, mit der Frage nach der zukünftigen Form des Staats, mit Prinzipien der Elitenbildung, des Heroischen und des Männlichen, mit der Idee einer Stufung bzw. Rangunterscheidung sowie der Annahme einer aufwärts gerichteten Geschichtsentwicklung. Diesen Zusammenhängen im Ideenhaushalt entsprechen auch Zusammenhänge im Wortgebrauch und in den Darstellungsformen, die sich als Begriffsnetzwerke und als thematische bzw. topische Netzwerke rekonstruieren lassen.26
8. Perspektiven und Aufgaben In den vorangehenden Abschnitten haben wir exemplarisch zu zeigen versucht, wie der Wortgebrauch der politischen Publizistik Jüngers von thematischen Erfordernissen geprägt ist und wie Ausdrücke und ihre Verwendungsweisen zur Erzeugung von Sichtweisen im Umkreis einer völkisch-nationalistischen Überzeugungswelt beitragen. In den folgenden Abschnitten sollen nun fünf weitere Perspektiven und Fragestellungen in gebotener Kürze eröffnet und erläutert werden, die sich in erster Linie auf Aspekte der Einordnung und der Entwicklung von Jüngers Sprachgebrauch in der Zeit beziehen. Ich bespreche diese Perspektiven jeweils im Anschluss an die Formulierung von entsprechenden Leitfragen (i–iv). 26
Vgl. Gerd Fritz, Thema und thematischer Zusammenhang. In: ders.: Kohärenz. Grundfragen der linguistischen Kommunikationsanalyse, Tübingen 1982 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 164), S. 205–223; Josef Klein, Topik und Frametheorie als argumentations- und begriffsgeschichtliche Instrumente, dargestellt am Kolonialdiskurs. In: Neue deutsche Sprachgeschichte, hg. von Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/Angelika Linke, Berlin/New York 2002 (Studia linguistica Germanica 64), S. 167–181; Malcolm D. Hyman, Semantic Networks: A Tool for Investitating Conceptual Change and Knowledge Transfer in the History of Science. In: Übersetzung und Transformation, hg. von Hartmut Böhme/Christof Rapp/Wolfgang Rösler, Berlin/New York 2007 (Transformationen der Antike 1), S. 355–367.
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(i) In welchen Traditionen des Wortgebrauchs steht die frühe Publizistik Ernst Jüngers und wie lässt sie sich ggf. beurteilen im Hinblick auf ein spezifisches »Kohorten-Vokabular«? Diese Frage bezieht sich auf Ernst Jüngers Verhältnis zu früheren und zeitgenössischen Traditionen des Denkens und des dafür typischen Wortgebrauchs. Hier sind unter anderem Autoren wie Friedrich Nietzsche, Arthur Moeller van den Bruck, Oswald Spengler, Franz Schauwecker, Carl Schmitt, Hans Blüher, Charles Darwin oder Maurice Barrès zu nennen, aber auch die Militärschriftsteller, die Jünger zitiert.27 Nicolaus Sombart hat in seinem Buch über Carl Schmitt nicht nur Schmitt, sondern auch Jünger als prototypische Fälle für eine mentalitätsgeschichtliche Kohortenforschung bezeichnet.28 Er schreibt weiter: Das Schmittsche Denken, sein Diskurs in seiner zeitgeschichtlichen Relevanz, ist nicht seine Privatangelegenheit. Carl Schmitt ist kein Einzelfall. Er ist auch nicht originell. Er ist vielleicht nur der prominenteste Vertreter einer ganzen Generation ›deutscher Männer‹ − alle um 1888 geboren −, die mit exemplarischer Klarheit einen Denkstil, eine Denkrichtung, eine Geistesverfassung, eine ›Mentalität‹ zum Ausdruck gebracht haben, die für die politische Kultur und damit für die Geschichte Deutschlands ebenso charakteristisch wie verhängnisvoll war.29
Unter den Beispielen für die Vertreter dieser Generation wird auch Ernst Jünger genannt.30 Im Hinblick auf den Sprachgebrauch stellt er danach eine recht weitreichende These zum Wortgebrauch, zum Vokabular auf: 27
28 29 30
»Nietzsche, den mancher von ihnen im Tornister trägt«, schrieb Franz Schauwecker in seinem Kriegsbuch Im Todesrachen (1919, 7); zu Jünger und Nietzsche vgl. Jan Ipema, Pessimismus der Stärke. Ernst Jünger & Nietzsche. In: Zur Wirkung Nietzsches, hg. von Hans Ester/Meindert Evers, Würzburg 2001, S. 13–30; zu Nietzsches Wortgebrauch vgl. besonders Hartmut Schmidt, Anfänge der Moderne, Nietzsches Wortbildungstechniken und Formulierungsvariationen. In: Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge, hg. von Dieter Cherubim u.a., Berlin/ New York 2002, S. 207–238. – Zu Spengler, Blüher und Moeller van den Bruck vgl. die im Quellenverzeichnis genannten Werke sowie den Beitrag von Anja LobensteinReichmann, Liberalismus – Demokratie – Konservativismus. – Zu Schauwecker vgl. Nadja Bengsch, Franz Schauwecker – der »Dichter des heldischen Lebens«. In: Dichter für das »Dritte Reich«, Band 2: Biographische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie, hg. von Rolf Düsterberg, Bielefeld 2011, S. 175–205. – Zu Carl Schmitt vgl. Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München/Wien 1991 und die im Quellenverzeichnis genannten Werke und Briefwechsel. – Zu Maurice Barrès vgl. Stefanie Arend, Ernst Jüngers Frühwerk im Fluchtpunkt von Maurice Barrès’ Konzeption des Nationalismus. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 25–34. Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 17. Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 15. Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 15.
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In ihrer Struktur sind die Texte dieser Autoren gleich. Ihre Argumente laufen in die gleiche Richtung. Ihre Wertsetzungen und Vorurteile sind dieselben, ihre Thesen austauschbar, ihr Vokabular identisch. Ob ›wissenschaftlich‹, essayistisch, literarisch oder philosophisch – sie schreiben Pamphlete.31
Auch wenn die These von einem gemeinsamen Kohorten-Vokabular in einer weitreichenden Lesart (»identisch«) nicht haltbar erscheint und bei Sombart vor allem nicht textgestützt unterfüttert wird, so liegt hier doch eine sehr fruchtbare Untersuchungslinie. Kommt man von der Lektüre der Jünger’schen Publizistik und liest dann mit der lexikalischen Brille Schriften von Moeller van den Bruck, Spengler, Blüher usw., dann sind Ähnlichkeiten in den Denkfiguren und Übereinstimmungen bzw. Verwandtschaften der lexikalischen Ausdrucksmittel unübersehbar. Aber der genaue Abgleich der sprachlichen Mittel, die textgestützte Bestimmung einzelner Verwendungsweisen und ihrer Gebrauchsfrequenz, das Zusammenspiel von lexikalischen Mitteln und textuellen Verfahren, die Struktur begrifflicher Netzwerke bei einzelnen Autoren, die Berücksichtigung von Aspekten der zeitlichen Dynamik und auch der tatsächlichen Rezeption, all dies sind Fragen, die im Detail noch viel Arbeit bereiten werden. Um ein Beispiel zu nennen: Wie werden Ausdrücke wie Schicksal, Blut oder Leben bei Oswald Spengler, wie in der frühen Publizistik von Jünger verwendet? Wie hängen die Gebrauchsweisen zusammen? Welche Rezeptionswege sind tatsächlich nachweisbar und zum Beispiel über Lektürenotizen auch zeitlich datierbar?32 Will man detaillierte Befunde zum Verhältnis der Wortgebrauchsprofile in Jüngers Publizistik und in Schriften von Spengler, Moeller van den Bruck, Nietzsche, Blüher, Schauwecker usw. bieten, dann muss man zum einen mit dem Umfang und der Komplexität der Textbestände umgehen und darüber hinaus auch die vielfältigen Verzweigungen der einzelnen Verwendungsweisen in ihren jeweiligen textuellen Zusammenhängen überschaubar machen. Hinweise auf solche Zusammenhänge liefert Ernst Jünger teilweise selbst, wenn er begriffliche bzw. konzeptuelle Grundlagen von Autoren erwähnt, auf die er sich bezieht, so zum Beispiel Oswald Spenglers Begriff des Schicksals (vgl. dazu auch oben, Abschnitt 5): Es kann aber gar kein Zweifel sein, daß das Schicksal und nicht der Mensch das eigentlich Bewegende ist, und daß das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von starken Persönlichkeiten selbst ein Teil des Schicksals ist. Und wenn wir uns die tiefe Unterscheidung von Spengler zwischen Schicksal und Zufall zu eigen machen, nach der Schicksal das ist, was mit Notwendigkeit und Zufall das, was ohne tiefere Beziehung geschieht, dann besitzen wir auch den Schlüssel für unsere Betrachtung der Wilhelminischen Zeit. (80) 31 32
Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 16; Herv. TG. Jünger schreibt zum Beispiel am 13. 2. 1930 an Carl Schmitt: »Sehr geehrter Herr Professor | Ihre ›Politische Romantik‹ erhielt ich mit bestem Dank. Ich habe die Lektüre dieses Buches heute beendet. Ich halte die Arbeit für ausgezeichnet«. Man kann daraus schließen, dass Jünger dieses Buch nicht vor 1930 gekannt hat.
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Gemeinsamkeiten im Wortgebrauch beziehen sich nicht nur auf einzelne Grundbegriffe wie Schicksal oder das Notwendige, sondern auch auf typische Konstellationen, zum Beispiel Formen der Kontrastierung bei Spengler (Schicksal vs. Kausalität; der Gebrauch von Zivilisation für eine gesellschaftliche Stufe des Niedergangs im Unterschied zu Kultur). Solche Zusammenhänge darf man sich aber nicht als eindimensionale Rezeption vorstellen, denn auch zwischen den Werken etwa von Spengler und Nietzsche bestehen vielfältige begriffliche Zusammenhänge, Spengler bezieht sich häufig auf Nietzsche und erwähnt explizit die mit seinem Denken verbundenen Schlüsselwörter (z. B. »Wille zur Macht«; 32). Auch polemisch eingesetzte Ausdrücke wie Literat, Zivilisationsliterat oder Intellektuelle haben eine Geschichte, auf die Jünger zum Teil selbst anspielt. Ihre Verwendung bei Jünger lässt sich klar in die Wortgebrauchstradition des Antiintellektualismus einordnen, wie sie Dietz Bering aufgearbeitet hat.33 Diese Andeutungen müssen vorerst genügen. Die umfassende und detaillierte Beschreibung begrifflicher Gemeinsamkeiten und Unterschiede im WortgebrauchsNetzwerk des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zu dem auch Ernst Jünger gehört, ist eine Zukunftsaufgabe, bei der unter anderem die jeweilige diskursive Einbettung, die genaue Bestimmung der Verwendungsweisen, eine Analyse der Konstellationen von Ausdrücken in kleinen, ideologisch geprägten Wortschatzsektoren oder in Figuren der Kontrastierung, der Stufenfolge etc. berücksichtigt werden muss. Es steht zu hoffen, dass die Komplexität dieser Aufgabe in Zukunft auch durch größere und breiter gestreute digitale Corpora sowie durch bessere Erschließungswerkzeuge erleichtert wird.34 33
34
Vgl. die Erwähnung Thomas Manns auf S. 314 (»das Zeugnis des Zivilisationsliteraten, von dessen Wesen Thomas Mann ein so unerfreuliches Bild entworfen hat«). – Zur Wortgebrauchstradition des Antiintellektualismus vgl. Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978. – Ein Textbeispiel, in dem der Ausdruck Intellektuelle klar für ein gegnerisches Lager gebraucht wird: »Dem Aufmarsch der Intellektuellen, mit dem sich die demokratische Presse in reklamehafter Weise zu brüsten pflegt, dürfen wir wohl entgegensehen: er hat noch nichts gezeitigt, was uns verstandesmäßig, geschweige denn tatsächlich oder gefühlsmäßig in unserer Haltung erschüttern könnte.« (82) Erste Versuche mit dem Google-Ngram-Viewer (http://ngrams.googlelabs.com) haben gezeigt, dass die Nutzung großer Textmengen einerseits interessante Belegstellen zutage fördern kann, die man durch Lektüre allein nicht mehr ermitteln könnte. Eine Verbindung wie zum Beispiel neuer Menschenschlag ist im Sprachgebrauch des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor Jünger mehrfach und in einer Vielfalt von Texttypen und Diskurszusammenhängen belegt, zum Teil auch ohne politische Bezüge. Andererseits erfordert die Frage nach der genauen Verwendungsweise von Ausdrücken wie neuer Menschenschlag eine genaue Kenntnis der jeweiligen ideengeschichtlichen Kontexte und Zusammenhänge. Hinzu kommt das Problem, dass bei den derzeitigen Google-Textsammlungen zwar die Größe, nicht aber die genaue Zusammensetzung bekannt ist. Insofern ist die Arbeit an großen, im Hinblick auf die Zusammensetzung kontrollierten und balancierten Textcorpora eine Aufgabe, welche die Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften nicht allein wissenschaftsexternen Anbietern überlassen kann.
Ernst Jüngers Publizistik der 1920er Jahre
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(ii) Wie lässt sich der Wortgebrauch in Jüngers Publizistik und in den literarischessayistischen Werken der 1920er Jahre vergleichend charakterisieren? Ernst Jünger hat Themen und Teilthemen seiner politischen Publizistik der 1920er Jahre mehrfach auch in den literarisch-essayistischen Werken behandelt, insbesondere die Fragen des Erlebens, der nationalen Rolle und der Lebensform des Frontsoldaten. Besonders auffällig wird dies schon mit der Wahl von Titeln signalisiert wie zum Beispiel Der Krieg als äußeres Erlebnis (1925; PP 85 ff.), Der Krieg als inneres Erlebnis (1925; PP 100 ff.) in der Publizistik und das selbstständig veröffentlichte Werk Der Kampf als inneres Erlebnis (1923; 21925). Zunächst kann man alle Analysegesichtspunkte, die wir oben in den Abschnitten 2 bis 7 behandelt haben, auch als Vergleichsaspekte nutzen. Als erste Hypothesen kann man festhalten, dass Publizistik und literarisch-essayistisches Werk bemerkenswerte Parallelen in der lexikalischen Strukturierung aufweisen. Sowohl in der Publizistik als auch in Werken wie In Stahlgewittern, Sturm oder Das Wäldchen 125 sind fachlich-thematische Wortschatzsektoren des Militärs und der Kriegsführung in einiger Breite belegt.35 Zum zweiten sind zentrale ideologisch geprägte Ausdrücke (Leben, Blut, Schicksal), Wortschatzsektoren (etwa der Männlichkeit oder der heroischen Lebensform) und Darstellungsfiguren (etwa die innen / außen-Kontrastierung) sowohl in der Publizistik als auch in den Werken zu finden.36 Solche Parallelen reichen bis hinunter zu kleinen Details wie dem Prädikat wortkarg37 als Element im Bild des tatkräftigen Soldaten oder Parallelen im Gebrauch von rücksichtslos.38 Drittens kann man feststellen, dass sowohl die Publizistik als auch das literarisch-essayistische Werk viele Themen der 1920er Jahre ausgrenzt, die demzufolge auch im Wortgebrauchsprofil nicht aufscheinen. Inflation und die Konsequenzen der Geldentwertung waren zum Beispiel in den Jahren um 1923 ein beherrschendes Thema mit einem reichhaltigen thematisch-fachlichen Wortschatz, der in Zeitungen, im Fachschrifttum, aber auch in popularisierenden Schriften etwas von Alfred Lansburgh, der unter dem Pseudonym Argentarius veröffentlichte, greifbar ist. Davon und von vielen anderen Themen und Fragen der Zeit ist weder in der Publizistik noch im literarischen Werk die Rede, entsprechend eindimensional ist das Wortgebrauchsprofil Jüngers in beiden Textgruppen. 35
36 37
38
Siehe dazu oben, Abschnitt 2, und Thomas Gloning, Ernst Jüngers Aufzeichnungen und ihr Wortschatz-Profil. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 145–165. Vgl. oben, Abschnitt 5, und Wünsch, in diesem Band, zu Der Kampf als inneres Erlebnis. Ernst Jünger, Das Wäldchen 125. In: ders., Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. I, Tagebücher I, Stuttgart 1978, S. 301–439 I, hier S. 305; vgl. auch S. 327 »wenig Worte«. Vgl.: Jünger, Das Wäldchen 125, S. 306: »Die Nähe des Todes ist heilsam wie ein unbekanntes Licht. Die Umgebung ist männlich und rücksichtslos, es wird um den höchsten Einsatz gespielt; da merkt man, daß man Mark in den Knochen und Blut in den Adern hat«).
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(iii) Wie lässt sich das Wortgebrauchsprofil in Jüngers Publizistik mit dem allgemeinen Sprachgebrauch der 1920er Jahre abgleichen? In einem Beitrag zur deutschen Sprache zwischen 1918 und 1933 hat Siegfried Grosse insbesondere die Vielfalt, die Heterogenität und das Nebeneinander von ganz unterschiedlichen Strömungen und Erscheinungen hervorgehoben,39 was zum Teil auch von zeitgenössischen Schriftstellern wie Döblin oder Hesse explizit formuliert wurde. Wie oben am Beispiel des Themas Inflation schon exemplarisch gezeigt wurde, blendet Jünger viele Themen seiner Zeit aus, entsprechend eingeschränkt ist auch das Wortschatzprofil seiner Publizistik, die ganz vom Versuch einer Sinngebung der Kriegserfahrung und von den politischen Zielsetzungen des Nationalismus geprägt ist. Im Hinblick auf diese beiden Schwerpunkte weist die Publizistik Gemeinsamkeiten im Wortgebrauch mit anderen Werken der Kriegsliteratur auf (zum Beispiel von Dwinger oder Schauwecker), mit anderen Strömungen des Nationalismus und auch mit Werken zu Teilthemen wie etwa der Rassetheorie der 1920er Jahre. Die beiden Thesen einer gewissen Eindimensionalität und der Verwandtschaft zu ähnlich ausgerichteten Schriften könnte mit Hilfe von Corpusvergleichen auch quantitativ unterfüttert werden. Siegfried Grosse hat 2002 das Fehlen von »messbaren Belegkorpora« für den Vergleich der Zeiten nach 1918 und nach 1945 beklagt. Inzwischen steht mit dem DWDS-Corpus ein Werkzeug zur Verfügung, mit dem sich der Wortschatz der Jünger’schen Publizistik abgleichen ließe mit einem allgemeinen Corpus zur 1920er-Dekade. Einschränkend muss auch hier gesagt werden, dass die Unterscheidung der einzelnen Verwendungsweisen (siehe exemplarisch oben zu Blut) bei einem elektronischen Abgleich nach wie vor ein ernsthaftes Problem darstellt. Insofern stellt dieses Arbeitsfeld der Digital Humanities wohl zunächst explorative und heuristische Aufgaben, deren Ergebnisse mit den Befunden traditioneller Methoden abzugleichen sind. (iv) Verändert sich der Wortgebrauch und das Wortgebrauchsprofil in Jüngers Publizistik im Laufe des Jahrzehnts? Um die Frage nach Veränderungen im Wortgebrauchsprofil zu behandeln, kann man wiederum auf unterschiedliche Analysegesichtspunkte zurückgreifen. Betrachtet man zum Beispiel den Gesichtspunkt der thematischen Prägung des Wortgebrauchs, dann kann man an Frequenzverläufen zu Wörtern wie Frontsoldat, wie er exemplarisch in der folgenden Wordline-Grafik40 abgebildet ist, eine deutliche Konzentration des Gebrauchs in der ersten Hälfte des Textbestandes erkennen. Diese quantitativ erste Hälfte mit etwa 90.000 von knapp 200.000 laufenden Wortformen reicht zeitlich bis etwa 1926/27. 39
40
Vgl. Siegfried Grosse, Zur deutschen Sprache zwischen 1918 und 1933. In: Neue deutsche Sprachgeschichte, hg. von Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/Angelika Linke, Berlin/New York 2002 (Studia linguistica Germanica 64), S. 253–268, z. B. S. 258 f. Mit Dank an Thomas Zastrow, Universität Tübingen.
Ernst Jüngers Publizistik der 1920er Jahre
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Abb 1: Häufigkeitsverteilung des Wortes »Frontsoldat« im Textstrom
Eine solche Frequenzentwicklung deutet auf eine Verlagerung der thematischen Schwerpunkte hin, die natürlich anhand weiterer Beispiele erhärtet oder ggf. auch modifiziert werden müsste. Damit hängt auch die Frage zusammen, wie sich neue Themen und thematische Entwicklungen im Wortgebrauch spiegeln, zum Beispiel die sich im Laufe der Publizistik zunehmend herausbildende Gestalt des Arbeiters. Eine weitere Frage ist, ob und ggf. wie sich Jüngers Gebrauch ideologisch geprägter Zentralausdrücke wie Blut oder Schicksal im Lauf des Jahrzehnts verändert hat, auch in ihrer wechselseitigen Bestimmtheit. Betrachtet man unter diesem Blickwinkel zum Beispiel den Beitrag Zum Jahreswechsel (Anfang 1928; PP 408 ff.), dann verzeichnen wir nach wie vor den Gebrauch wesentlicher Kernausdrücke in ihrem gefügehaften Zusammenhang (Schicksal, Nation, Bindung, Feuer, Blut, Leben), wir finden nach wie vor die Technik der Polarisierung (etwa zwischen Geist und Blut) und auch einen Bestand an polemisch genutzten Abgrenzungsausdrücken (humanitäre Phrase, Parteikram). Auf der anderen Seite enthält der Beitrag auch eine Stelle, die sich kritisch mit der Rolle nationalistischer Terminologie auseinandersetzt: Wir hatten im letzten Jahre Gelegenheit, das Abwegige von Bestrebungen zu beobachten, die aus dem Nationalismus an sich eine Art Religion machen möchten. Aus Worten wie Schicksal, Glaube und Blut wurde eine Art von Ritus gebraut, der Schutzwall einer feierlichen Terminologie, innerhalb deren man sich trefflich zu Hause und allen Angriffen gewachsen glaubte. So einfach liegen die Dinge nicht. (411.17 ff.)
Auch wenn sich dieser Kommentar auf eine kritisierte Strömung innerhalb des Nationalismus bezieht, so wird hier doch der Wortgebrauch zugunsten einer »lebendigen Kraft« (411.24) relativiert.
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(v) Wie könnte eine lexikographisch-lexikologische Dokumentation zum Wortgebrauch von Jüngers Frühwerk aussehen? Meine Notizen und Wortschatzaufzeichnungen zu unterschiedlichen Teilaspekten des Wortgebrauchs in Jüngers Frühwerk haben mir gezeigt, dass auch eine einzelwortbezogene Dokumentation von Nutzen sein könnte zu Wörtern und spezifischen Verwendungsweisen wie zum Beispiel: Auslese, Blut, blutmäßig, brutal, Brutalität, Einzelkämpfer, Entschlossenheit, Erb-, Feuer, Führer, Held, Heldentod, heroisch, Instinkt, Leben, Mann, männlich, Maschine, Material, Materie, Nationalist, Nationalismus, Opfer, Opfertod, Opferwilligkeit, Pflicht, Schicksal, Tank, Technik, Treue, Volk, übermenschlich, Zivilisation, um nur einige zu nennen. Im Rahmen einer solchen Darstellung, die sich an neueren Vorschlägen zur Diskurs- und Textlexikographie orientieren kann, lassen sich darüber hinaus auch die Zusammenhänge innerhalb des Jünger’schen Wortgebrauchs und die Bezüge zu zeitgenössischen und früheren Autoren dokumentieren.
9. Schlussbemerkung Ziel dieses Beitrags war es, erste Befunde zu einem Wortgebrauchsprofil der Jünger’schen Publizistik aus den 1920er Jahren herauszuarbeiten. Hierzu gehörten zum einen die fachlich-thematische Strukturierung von Wortschatzsektoren durch den Gegenstand Krieg, Kriegserfahrung und militärische Praxis (Abschnitt 2), zum zweiten die ideologische Prägung des Wortgebrauchs durch nationalistischvölkische Zielsetzungen (Abschnitte 3–5), zum dritten der Zusammenhang des Wortgebrauchs mit zwei spezifischen Denk- und Darstellungsfiguren: Polarisierung und Totalität (Abschnitte 6 und 7), die mit der ideologischen Prägung natürlich sehr eng zusammenhängen. Abschließend wurden im Abschnitt 8 weitere Fragestellungen und Arbeitsperspektiven immerhin angedeutet.
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Ernst Jüngers Publizistik der 1920er Jahre
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Thomas Gloning
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Sandro Gorgone
Ernst Jünger und die metaphysische Kategorie der Totalität Schon in seinem bekanntesten Buch Der Arbeiter zeichnet Jünger die Grundlinie des möglicherweise bedeutsamsten Phänomens des 20. Jahrhunderts, d.h. des Technototalitarismus, dessen zwei wichtigsten Verwirklichungen – der Nationalsozialismus und der Kommunismus – nur geschichtliche Erscheinungen darstellen. Die Kategorie der Totalität wird dort aus der geschichtlichen Prägung der metaphysischen Auffassung der Arbeit als totale Mobilmachung und technische Vormacht der Welt gedacht und soziologisch und anthropologisch in der Bildung der »organischen Konstruktion« am Werk beobachtet. Der vorliegende Beitrag will neben dieser Auslegung der Totalität als Technototalitarismus einen neuen Blick auf die Jünger’sche Auffassung der Gestalt – die sehr nah an der Gestalttheorie Goethes liegt – vermitteln, die das Totale als das Einheitliche in einer nicht totalitären Weise zu entfalten vermag. Entscheidend dafür ist die Auseinandersetzung mit der klassischen Auslegung des Totalen (pan) und des Ganzen (ólon) bei Aristoteles.
Der Technototalitarismus des Arbeiters Die erste Erscheinung des Begriffs des Totalen finden wir in dem Essay zur Totalen Mobilmachung aus dem Jahr 1930. Die Durchsetzung von totalen Maßnahmen im Ersten Weltkrieg ist das Zeichen dafür, dass die Monarchie keine geschichtliche Rolle mehr spielt und dass die Zeit der Massendemokratie begonnen hat: »Die partielle Mobilmachung entspricht also dem Wesen der Monarchie, die ihr Maß in demselben Verhältnis überschreitet, in dem sie gezwungen wird, die abstrakten Formen des Geistes, des Geldes, des ›Volkes‹, kurzum die Mächte der heranwachsenden Nationaldemokratie an der Rüstung zu beteiligen«.1 Dass die gesamte zivile Bevölkerung zur Arbeitsarmee auf verschiedene Weise, aber unabwendbar ›eingezogen‹ ist, bildet die Voraussetzung dafür, dass sich auch in Friedenszeiten die individuelle Freiheit durch die immer durchdringenderen technischen Vorgänge zugunsten der Zwänge des Arbeitssystems verringert. Die Arbeit ist eine totale Lebensform geworden; ihre totalitäre Macht verursacht eine Entindividualisierung: Das Vermögen, Verantwortung anzunehmen, wird von der inneren Bereitschaft ersetzt, von der Technik mobilisiert zu werden. Das Individuum ist nicht das Subjekt der totalen Mobilmachung, die »weit weniger vollzogen [wird], als sie sich selbst vollzieht, sie ist in Krieg und Frieden der Ausdruck des geheimnis1
Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1980, S. 119–142, hier S. 125. – Im Weiteren: DtM).
https://doi.org/10.1515/9783110279795-009
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vollen und zwingenden Anspruchs, dem dieses Leben im Zeitalter der Massen und Maschinen uns unterwirft« (DtM, S. 128). Am Ende des Textes stellt Jünger die verschiedenen Weltanschauungen der Zeit (Faschismus, Bolschewismus, Amerikanismus, Zionismus) in Hinblick auf ihren gemeinsamen Glauben an Fortschritt und Technik einander gegenüber, die den echten »Weltgeist« darstellen. Je mehr die Macht total wird, desto mehr verschwindet das Individuum in der Masse, und der totale Typus des Arbeiters setzt sich durch: »Es ist ein großartiges und furchtbares Schauspiel, die Bewegungen der immer gleichförmiger gebildeten Massen zu sehen, denen der Weltgeist seine Fangnetze stellt« (DtM, S. 141). Der Weltgeist der totalen Mobilmachung habe die Geschichte des 20. Jahrhunderts immer offensichtlicher geführt. Der endgültige Einsturz des ideologischen Totalitarismus, der sich 1989 mit der ›Wende‹ vollzieht, bedeutet das Misslingen der Idee einer möglichen politischen Leitung der totalen Mobilmachung. Der Wille zur Macht – den schon Nietzsche prophetisch als das Sinnbild des kommenden Zeitalters gekennzeichnet hatte – und dessen absolut aggressive Natur werden in der Technik verwirklicht, die jetzt das Kommando über die totale Mobilmachung übernimmt. Eine neue, unheimlichere und unberechenbarere Art des Totalitarismus hat sich angekündigt und gedeiht ungestört in unseren demokratischen Gesellschaften. Endlich frei von irgendwelcher ethischen, politischen oder ideologischen Hemmung übernimmt die Technik die Aufgabe, ihre totale Vormacht über die ganze Erdsphäre durchzusetzen. Das eindimensionale Denken wird zum neuen Glaubensbekenntnis der wohl verbreitetsten und am wenigsten angezweifelten Religion, deren Dogmata das unbeschränkte technische Experimentieren, der wirtschaftliche Liberalismus und die völlig grenzenlose Forschungsfreiheit sind. Der neue Technototalitarismus,2 der unauffällige und überzeugende, sogar verführerische Mittel verwendet, verfolgt mittels einer absoluten Kontrolle aller Bereiche der Existenz ein hedonistisches Ideal. Der Totalitarismus in seiner äußeren Gestalt des technischen postideologischen Nihilismus wird zum ›normalen‹ Zustand unseres geschichtlichen Zeitalters. In der Epoche der totalen Entzauberung (Max Weber) wird die Technik die äußere Form der Bezauberung, wie auch der Philosoph Martin Heidegger, der die Technikfrage in der Nachkriegszeit im Gespräch mit der Jünger’schen Metaphysik der Arbeit entfaltet hat, in seinem nachgelassenem Werk Beiträge zur Philosophie notierte: »Die Behexung durch die Technik und ihre sich ständig überholenden Fortschritte ist nur ein Zeichen dieser Verzauberung, der zufolge alles auf Berechnung, Nutzung, Züchtung, Handlichkeit und Regelung drängt.«3 Das »Am-Arbeiten-sein« dechiffriert das neue Wesen des Menschen als homo technologicus: er wird vom unaufhörlichen Herstellungsvorgang vereinnahmt, von 2
3
Über diesen Begriff mit Hinweisen auf Jünger und Heidegger vgl. vor allem Caterina Resta, Heidegger e il tecnototalitarismo planetario. In: Heidegger e gli orizzonti della filosofia pratica. Etica, estetica, politica, religione, hg. von Adriano Ardovino, Milano 2003, S. 157–187. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1989 (Gesamtausgabe Bd. 65), S. 124.
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der absoluten Vormacht des Machens und des Gemacht-Werdens, das Heidegger Ende der 30er Jahre die »Machenschaft« nennt.4 Der nietzscheanische Wille zur Macht enthüllt sich nun als jener Wille, der fortwährend das Wollen will, als »Wille zum Willen«,5 der gebieterisch seinen Befehl durch die unbegrenzte Berechnung auf die Ganzheit der Seienden auferlegt. Die Technik, als universale Sprache des Arbeiters, ist nichts anderes als die planetarische Verwirklichung des Willens zur Macht, ein gebieterischer Befehl, der die Erde massiv und ohne Rücksicht auf geographische, gesellschaftliche oder ethische Ordnungen angreift und totalisiert. Das umstrittene Phänomen der Globalisierung ist in dieser Hinsicht die Vollendung der technischen Totalisierung der Welt, die sich jetzt im Namen der Arbeit zeigt, als einer absoluten Existenzform, die nichts anderes kennt als Arbeit. Dieser Angriff vollzieht sich mit dem einzigen Ziel, die Macht der arbeitstechnischen Tätigkeit zu verstärken, unter absoluter Gleichgültigkeit gegenüber den katastrophalen oder vernichtenden6 Folgen seines Wirkens. Die Erde wird zum homogenen und leeren Raum, der durch die Berechnung und die technische Rüstung geordnet und grenzenlos ge- und abgenutzt wird. Unsere Epoche ist die der totalen Abnutzung von Stoffen und Menschen, in der der Krieg kein Ende kennt, weil er als technischer Vorgang jedes menschliche Tun beherrscht. Der totale Charakter der Arbeit macht die nicht-ideologische Wahrheit des endlich enthüllten und immer durchdringenderen Technototalitarismus aus, der nach Jünger nicht nur ein gesellschaftliches und anthropologisches Aussehen zeigt, sondern ein inneres metaphysisches Wesen besitzt. Die Gestalt des Arbeiters verlangt einen totalisierten Anwendungsraum, um sich in der technischen Welt verwirklichen zu können. Die geschichtliche Durchsetzung des Typus des Arbeiters zu Ungunsten des bürgerlichen Individuums beschreibt Jünger folgendermaßen: »Daher treten hier nicht nur sehr viele Dinge als Arbeit auf, von denen das früher kaum zu träumen war, etwa Fußballspielen, sondern es fließt auch ein totaler Arbeitscharakter immer mächtiger in die speziellen Gebiete 4
5
6
Die entscheidende Rolle der Machenschaft für das Seinsdenken erklärt Heidegger an folgender Stelle des Textes Besinnung: »Machenschaft heißt hier die alles machende und ausmachende Machbarkeit des Seienden, dergestalt, dass in ihr erst die Seiendheit des vom Seyn (und der Gründung seiner Wahrheit) verlassenen Seienden sich bestimmt« (Martin Heidegger, Besinnung, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1989 [Gesamtausgabe Bd. 66], S. 16). Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche. In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 6.1–6.2., hg. von Brigitte Schillbach, Frankfurt/M. 1989. Mit dem Grundwort »Machenschaft« im Denken Heideggers und dem damit verbundenen Vorgang von Heimatlosigkeit und Verwüstung der Erde habe ich mich schon beschäftigt. Vgl. Sandro Gorgone, Machenschaft und Totale Mobilmachung. Heideggers Besinnung als Phänomenologie der Moderne. In: Heidegger Studies, 22, 2006, S. 49–69 sowie in Sandro Gorgone, Entwurzelung und Verwüstung. Heidegger und die Dichtung der Heimat. In: Schreiben Dichten Denken. Zu Heideggers Sprachdenken, hg. von David Espinet, Frankfurt/M. 2010 (Reihe Heidegger-Forum), S. 127–144.
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ein. Der totale Arbeitscharakter aber ist die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt zu durchdringen beginnt.«7 Der »Schwerpunkt der Tätigkeit« verschiebt sich »vom individuellen Arbeitscharakter auf den totalen Arbeitscharakter.« (DA, 108) Die totale Arbeit überschreitet sowohl die Grenzen der kollektiven (daher kann der Technototalitarismus mit der sozialistischen totalitären Ordnung nicht verwechselt werden) als auch der individuellen Bereiche. Sie zeigt ihre totalitäre Macht vor allem in der zunehmenden Gleichsetzung der Geschlechter, die sich in der Bildung des metallischen und ausdruckslosen Maskengesichts des Arbeiters vollzieht.8 Der neue Totalitarismus nimmt sogar einen nicht biologistisch gemeinten (vgl. DA, 156) ›eugenetischen‹ Charakter an, indem er das Entstehen einer neuen Rasse, die Herstellung eines neuen menschlichen Typus fordert, dessen Ausstattung einheitlicher und den Aufgaben innerhalb einer Ordnung angemessen ist, die der totale Arbeitscharakter bestimmt. Dies hängt damit zusammen, dass die Möglichkeiten des Lebens überhaupt sich in zunehmendem Maße verringern, im Interesse einer einzigen Möglichkeit, die alle übrigen gleichsam verzehrt und Zuständen einer stählernen Ordnung entgegeneilt. (DA, 111)
Das anschaulichste Bild des Technototalitarismus des Arbeiters ist die »organische Konstruktion«, die im Zeitalter des Arbeiters die Figur der Masse ersetzt. Die organische Konstruktion vollzieht dank der technischen Mittel die »Verschmelzung des Menschen mit den Werkzeugen, die ihm zur Verfügung stehen. In bezug auf diese Werkzeuge selbst ist von organischer Konstruktion dann zu sprechen, wenn die Technik jenen höchsten Grad von Selbstverständlichkeit erreicht, wie er tierischen oder pflanzlichen Gliedmaßen innewohnt« (DA, 191). Einer solchen organischen Konstruktion gehört man nicht durch einen Willensakt an, d.h. durch die Übung einer bürgerlichen Freiheit, sondern »durch eine tatsächliche Verflechtung […], die der spezielle Arbeitscharakter bestimmt«. (DA, 123 f.) Die organische Konstruktion fordert eine nicht ideologische, sondern »substantielle« (vgl. DA, S. 124) Teilnahme, die einen inneren totalitären Charakter besitzt. Der Mensch ist in das System der Arbeit solchermaßen einbezogen, dass er keinen Gegenständen mehr begegnet, sondern nur Beobachter eines höheren Prozesses ist, auf den er keinen Einfluss mehr hat: die einzigartige, unwiederholbare und individuelle Erfahrung wird durch eine serielle Erfahrung der Welt ersetzt. Als Glied der organischen Konstruktion ist der Arbeiter »durchaus ersetzbar« (DA, 155). Der Technototalitarismus wird in der Utopie des Romans Heliopolis 9 – die eine durch Technik geprägte und uniformierte Wirklichkeit darstellt – literarisch so um7
8 9
Ernst Jünger, Der Arbeiter. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 8: Essays II, Stuttgart 1980, S. 9–317, hier S. 107. – Im Weiteren: DA). Vgl. DA, S. 116 f. und S. 126. Über die technische Utopie des Romans Heliopolis vgl. Philippe Wellnitz, Ernst Jünger. Le Mythe et l’utopie. ›Héliopolis‹, cité idéale? In: Ernst Jünger, hg. von Philippe Barthelet, Lausanne 2000 (Les dossiers H), S. 38–44.
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gesetzt, dass sogar der Arbeiter nicht mehr anschaulich erscheint: Die Realität von Heliopolis ist gläsern geworden, der technische Komfort hat die Arbeitsvorgänge zum Schweigen gebracht und den totalitären Zugriff auf das Wirkliche auf subtile Weise vollzogen. »Nicht nur die Dinge« – schreibt Martin Meyer –, »sondern auch die Menschen sind einfach geworden – starr, fest begrenzt«.10 Solcher Totalitarismus verwirklicht sich in der Form tyrannischer Demagogie. Die hier dargestellte »gebrochene Utopie der Übermoderne«11 wird somit als technisch realisierbar betrachtet, da die planetarische totale Regentschaft alle politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in jedem erwünschten Sinn zu gestalten vermag.
Totalität und Einheit Die Durchsetzung des ›totalen‹ Typus des Arbeiters überwindet alle klassischen Kategorien des politischen Liberalismus, indem es die Individuen dem Typus, die Teile dem Ganzen opfert. Dieser Vorrang des Ganzen gegenüber den Teilen entspricht dem, was Hannah Arendt explizit12 und Martin Heidegger implizit mit dem Begriff der »Machenschaft« dem metaphysischen Wesen des Totalitarismus zuordnen: die Machenschaft nach Heidegger deutet »das Sicheinrichten auf die Machsamkeit von Allem, so zwar, dass das Unaufhaltsame der unbedingten Verrechnung von Jeglichem vorgerichtet ist«.13 Ganz ähnlich hat schon Aristoteles einen ontologischen Vorrang des Ganzen postuliert. Für Aristoteles jedoch heißt »ein Ganzes […] zunächst dasjenige, woran keines der Teile fehlt, aus denen natürlicherweise das Ganze [ólon] bestehen soll«.14 Mit dem Ausdruck ólon bleibt die Entscheidung zwischen dem Verständnis vom Ganzen als Vollkommenheit des Seins und dem Verständnis als totalitärem Begriff der Seienden noch aus. Dieses logisch-ontologische Gewirr kompliziert sich noch mit der Auslegung von ólon als katólou, d.h. als das Allgemeine, das von allen Seienden einer bestimmten Klasse ausgesagt werden kann. Heidegger war vielleicht der erste Denker, der sich mit diesem Gewirr eingehend beschäftigte und schon in Sein und Zeit ein Verständnis des Daseins nicht als Allheit oder Allgemeinheit sondern als Ganzheit ins Feld geführt hat. 10 11
12
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14
Martin Meyer, Ernst Jünger, München/Wien 1990, S. 388. Vgl. Helmuth Kiesel, Wissenschaftliche Diagnose und dichterische Vision der Moderne. Max Weber und Ernst Jünger, Heidelberg 1994, S. 161. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München/Berlin 1996 (Serie Piper 1032), S. 946–979. Heidegger, Besinnung, S. 16. Der Hauptcharakter der Machenschaft, obwohl am meisten verhüllt, ist die vernichtende Gewalt: »Das stets vernichtende und schon durch Androhung der Vernichtung sich ausfaltende Wesen der Machenschaft ist die Gewalt. Diese entwickelt sich in der Sicherung von Macht als dem sogleich losbrechenden und immer wandlungsfähigen Vermögen zur beliebigen und dabei sich überholenden und ausbreitenden Unterwerfung« (ebd). Aristoteles, Metaphysik, Δ 26, 1023b 26–28, Berlin 1990, S. 140.
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Schon bei Aristoteles kann man aber eine besondere totalitäre Bestimmung des ólon finden, die die metaphysische Herkunft des Totalitarismus besser zeigt; es geht um den Sinn, den das ólon annimmt, wenn es für die homeomerischen Körper verwendet wird, d.h. Körper, wie Luft und Wasser, bei denen eine Veränderung der wechselseitigen Lage der einzelnen Teile keine Veränderung des Körpers selbst verursacht.15 Die Einheit dieser Seienden bezeichnet Aristoteles als pan. Es bedeutet die bloße Summierung von gleichgültig ersetzbaren Elementen. Die panische Aggregation – die sich in der »organischen Konstruktion« vervollkommnet – ist die Voraussetzung für jede totalitäre Ordnung, in der totale Gleichförmigkeit und Gleichgültigkeit herrschen. Die panische Gleichmäßigkeit der von der technischen Mobilmachung zur Totalität reduzierten Welt erlaubt die universale planende Berechnung, in die auch der Mensch einbezogen ist. Jedes Seiende bestätigt also die allgemeine Unterschiedslosigkeit, die nur noch von Mobilmachungs- und Organisationsvorgängen beherrscht wird, deren Gültigkeitswerte allein das Leistungsprinzip ist. Aber schon in den 30er Jahren und noch klarer in den Kriegsjahren setzt sich bei Jünger die Überzeugung durch, dass die panische Totalisierung nur die nihilistische Verwirklichungsmöglichkeit der metaphysischen Gestalt der Ganzheit darstellt. Grundsätzlich ist sie vielmehr von der Idee der symbolischen (oder mit einem Schlusswort Jüngers »stereoskopischen«16) Einheit geleitet, wie sie in der Mannigfaltigkeit der Natur- und Geschichtsphänomene erscheint. In der glänzenden Vielfalt von Formen und Aussehen, die Jünger auch imagines nennt, erhellt sich dem stereoskopischen Blick des Beobachters das Geheimnis einer synoptischen Ganzheit, die die Unterschiede nicht beseitigt, sondern verherrlicht und in sich einschließt. Jünger beschreibt die Annäherung zu dieser Ganzheit als den Gang durch eine Reihe von Gärten, deren Farben und Formen allmählich intensiver und reicher werden, bis zu dem Punkt, an dem man zu einer äußeren Vereinfachung und Vergeistigung der Schönheit gelangt: So werden die Farben allmählich leuchtender, dann durchsichtig wie Edelsteine […]. Die Formen steigern sich in immer höhere und einfachere Verhältnisse, über Kristall- zu Kreis- und Kugelformen, in denen endlich der Gegensatz von Peripherie und Mittelpunkt erlischt. […] Wir steigen aus dem Reichtum in die Quelle des Reichtums, in die gläsernen Schatzkammern, ein. […] Im Paradiese als dem ersten und letzten dieser Gärten, im Gottesgarten, herrscht höchste Einheit; dort unterscheiden sich nicht Gut und 15 16
Aristoteles, Metaphysik, Δ 26, 1024a 2–3, S. 141. Vgl. Ernst Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond. In: Sämtliche Werke, Bd. 9: Essays III, Stuttgart 1980, S. 9–22, und ders.: Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 9: Essays III, Stuttgart 1980, S. 31–176. Über das stereoskopische Sehen und seine phänomenologische Bedeutung bei Jünger vgl. Sandro Gorgone, Naturphilosophie und stereoskopische Sicht bei Ernst Jünger. In: Jünger Studien, 5, 2011, S. 21–39.
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Böse, Leben und Tod. Die Tiere zerreißen sich nicht, sie stehen noch in der Hand des Schöpfers, sowohl im Urgrund als auch in geistig-unverletzlicher Gestalt.17
Die Annährung zu dieser Einheit, die also nicht als eine Askese, sondern als die Vertiefung und Verklärung jeder Individualität zu verstehen ist, bedarf des Erwerbes neuer Sinnesorgane, die durch die stereoskopische Betrachtung der Natur vorbereitet, jedoch allein durch den großen Übergang des Todes vollkommen angenommen werden: »Die körperlichen Augen werden gleich unserer Nabelschnur verdorren; wir werden mit einer neuen Sehkraft ausgestattet sein. Und wie wir hier die Farben im Aufgeteilten sehen, so dort mit höherem Genuß ihr Wesen im ungeteilten Licht« (S II, 26). In der endlichen Welt unserer sinnlichen Erfahrung verfügen wir nur über Metaphern, Ahnungen dieser ›göttlichen‹ Einheit, in der alle Unterschiede aufgenommen und verwandelt werden, wie die vielfältigen Nahrungsweisen von den Lebewesen synthetisiert werden. Übrigens ist die Einheit schon in jedem Wirklichkeitsfragment als Samen vorhanden, wie die mannigfaltigen Keimungsvorgänge der Natur wunderbar beweisen. Solche Einheit bewahrt sich heimlich auch im Herzen des Einzelnen als Geheimnis der Zeit und des Schicksals; sein rhythmisches Pulsieren erzeugt die verschiedenen Lebensphasen und spendet dem Menschen das Sehnen, die Fülle und die helle Freude; in ihm ahnen wir die tiefe Verbindung, die mit dem Zeitlosen vereinigt, »die wunderbare Brücke, die aus der Vernichtung führt« (S II, 200).
Das Ganze und die Gestalt: Jünger und Goethe Die Gestalt enthält einen inneren Bezug zur Ganzheit, aber während Jünger in Der Arbeiter diesen Bezug in die Richtung der Totalität entfaltet, wird er später vor allem den symbolischen und vereinigenden Charakter der Gestalt betonen, sehr ähnlich der Gestalttheorie Goethes. Die Vormacht der Gestalt des Arbeiters, aus der der Typus des Arbeiters seinen geschichtlichen Sinn bekommt, nimmt in der technischen Welt einen totalitären Charakter an. Hier ist nämlich die Gestalt »nicht zu erfassen durch den allgemeinen und geistigen Begriff der Unendlichkeit, sondern durch den besonderen und organischen Begriff der Totalität. Diese Abgeschlossenheit bringt es mit sich, daß hier die Ziffer in einem ganz anderen Range erscheint, nämlich in unmittelbarer Beziehung zur Metaphysik« (DA, 149). 17
Ernst Jünger, Strahlungen II. In: Sämtliche Werke, Bd. 3: Tagebücher III, Stuttgart 1979, S. 74 f. (Im Weiteren: S II). So schreibt Jünger weiter: »Aus diesem Garten stammen auch die beiden großen Sekten, die durch die ganze Geschichte des menschlichen Denkens und Wissens zu verfolgen sind. Die eine erinnert sich der Einheit und sieht synoptisch, während die andere analytisch am Werke ist« (Jünger, Strahlungen II, S. 75). An dieser Stelle taucht nicht nur die Dialektik klarer neuplatonischer Herkunft eins–viele auf, sondern ebenso eine starke religiöse Komponente, die sich aber auf keine konfessionelle und geschichtlich bestimmte religiöse Tradition beruft.
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Sandro Gorgone
Schon Goethe erkannte die wesentliche Tendenz des neuen Zeitstils in der allesumfassenden Beschleunigung der Moderne: »So springt’s von Haus zu Haus« – schreibt er in den Wanderjahren –, »von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich, und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles velociferisch«.18 Ähnlich in einem Brief an Zelter vom 6. Juni 1825: »Reichtum und Schnelligkeit« sei es, was die Welt bewundere und wonach jeder strebe; »Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren«.19 Wie für Goethe beruht auch für Jünger das Ziel des dichterischen und denkerischen Blickes nicht auf der Erkenntnis der Totalität der Sinnesbeziehungen, sondern auf der Offenbarung des Gestaltwesens. Das heißt, jedes Phänomen ist als eine Ganzheit und das Einheitliche als Urbild nicht im Sinne eines ursprünglichen Bildes zu betrachten. Man kann es nur durch die von Goethe beschriebene »anschauende Urteilskraft« 20 erfahren, d.h. die Kraft, Gestalten zu sehen und sie in dem, was sie sind, zu erfassen. Jüngers Hauptziel liegt hingegen gerade in der Wahrnehmung des Urbildlichen und Typischen; diese will er in den der Wissenschaft nicht zugänglichen Bereichen zur Geltung bringen und gegen die alltägliche Sichtweise als das Ungewohnte und Unberechenbare einsetzen. So kann er das »Sehen von Gestalten« (DA, 46), vor allem der Gestalt des Arbeiters, als Organisationsprinzip einer neuen Welt, als »einen revolutionären Akt« (DA, 46) betrachten, der eine »neue Wirklichkeit« (DA, 70) erschließt.21 Über die Beziehung zu Goethes Gestalttheorie äußert sich Günter Figal folgendermaßen: Dass Jünger sich bei der Konzeption des Arbeiters ausdrücklich an Goethes Begriff der Gestalt und an seinem Verständnis der anschauenden Urteilskraft orientiert hat, ist eher unwahrscheinlich. Aber gewiss besteht eine indirekte Verwandtschaft, die sich über Spenglers Kulturmorphologie ergibt und über den Vitalismus, wie er Jünger aus seinen biologischen Studien bekannt war.22
Solche Verwandtschaft zeigt sich aber noch klarer in den späteren Jünger’schen Naturbetrachtungen, besonders mit Hinweisen auf Goethes Gedanken zur Urpflanze, 18
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Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 17. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert u.a., München 1991, S. 519. Johann Wolfgang Goethe, Brief an Zelter vom 6. Juni 1825. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 20.1, S. 851. Johann Wolfgang Goethe, Morphologische Hefte. Abt. 1, Texte. Hg. Von Dorothea Kuhn, Sigmaringen 1994. S. 95. Vgl. dazu auch Ernst Jünger, Siebzig verweht IV. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 21, Tagebücher VIII - Strahlungen VI, Stuttgart 2001, S. 325. Günter Figal, Morphologie der Beschleunigung. Jünger und Goethe. In: Verwandtschaften, Jünger-Studien, Bd. 2, hg. von Günter Figal/Georg Knapp, Tübingen 2003, S. 11–20, hier S. 18.
Ernst Jünger und die metaphysische Kategorie der Totalität
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die Jünger wahrscheinlich schon früh für die Formulierung seiner Version der Morphologie verwendet hatte. Die Gestalt der Urpflanze stellt aber für Jünger nicht nur die innerliche Wahrheit und Notwendigkeit aller möglichen existierenden und noch nicht existierenden Pflanzen dar,23 sondern die Ganzheit und die unauslotbare Tiefe jeder bestimmten Pflanze, die in sich ungehobene Möglichkeiten birgt.24 Das Sehen von Gestalten ist nun entsprechend die Erfahrung der Tiefendimension der Phänomene, d. h. einer Wirklichkeit, die ins Überwirkliche gesteigert ist.25 Die Erfassung der Urpflanze ermöglicht also das Durchschauen des Phänomens und die Hervorhebung seiner kristallischen, tiefdimensionalen und nicht totalitären Einheit. Das, was wir den romantischen Kern der Auffassung Jüngers vom Totalen im Sinne dieser symbolisch-synoptischen Einheit nennen könnten, ist gerade das Leuchten der Tiefe auf der phänomenalen Oberfläche, die sich gleichzeitig erhellt und verbirgt, indem sie sich einerseits in das unbegreifbare Ungesonderte und in seine Geheimnisse einwurzelt und andererseits die wunderbare Vielzahl der Phänomene gewährt und behütet: ›Gestalt‹ nähert sich einerseits der ›Idee‹, andererseits der ›Form‹ und ›Figur‹. Man könnte sie auch als mythisches Gerüst der historischen Erscheinung auffassen. Oder als Genus, das zwar in der Natur nicht vorkommt, wohl aber in den Spezies erscheint, wie diese wiederum in den Individuen. Siehe auch Goethes und Schillers Gespräch über die Urpflanze. […] Der ›Typus‹ ist das Prägende, wie die Type in der Buchdruckerei.26
Jünger meint, Goethe habe unter der Urpflanze »das Urbild der höher organisierten Gewächse«27 verstanden. Lesen wir schließlich eine in dieser Hinsicht aufschlussreiche Stelle aus einer Notiz in den Strahlungen am 15. Oktober 1945: Was nützen Lupen und Mikroskope – die wahren Vergrößerungsgläser sind die Blumen selbst. Wir müssen sie betrachten, bis sie wie Linsen durchsichtig werden, dann werden wir im Brennpunkt des Strahlenbüschels hinter ihnen ein Leuchten schauen. Den Glanz des geistigen Samenkornes, das keine Ausdehnung besitzt. Das ist die wahre Urpflanze. (S II, 566)
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Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 15, S. 327 (17.4.1787) und S. 393 f. (17.5.1787). Vgl. dazu Ernst Jünger, Maxima – Minima. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8, Essays II, Stuttgart 1981, S. 395. Vgl. Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 9, Essays III, Stuttgart 1980, S. 177–330, hier S. 182. Ernst Jünger, Eine gefährliche Begegnung. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 22, Späte Arbeiten, Verstreutes, Aus dem Nachlass, Stuttgart 2003, S. 325. Jünger, Eine gefährliche Begegnung, S. 325.
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Sandro Gorgone
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Lutz Hagestedt
»Waffe im geistigen Raum«: Ernst Jüngers Essayistik »Throughout his career Jünger’s favorite vehicle has remained the collection of fragments in which short narrative episodes, aphorisms (or longer reflexions), reproductions of dreams, philosophical comments, presentations of readings, natural descriptions, and other forms elbow one another and constitute a kind of subtle counterpoint. Jünger’s preferred position has most often been that of the cool and dispassionate outsider, always capable of describing objectively things small and large, as well as placing the ideal values of the spirit above the incidents of sociohistorical process.«1 Jüngers typische Arbeitsweise ist die Geburt des Essays aus dem Bonmot und die Geburt des Romans aus dem Essay. Er pflegt einen erzählenden, gedanklichen, sprachlichen Pointillismus. Er negiert, wie Benn, die »Einzelheiten« zugunsten der »Totalisation«.2 Seine Prosa neigt entschieden zur Sentenz und zum Aphorismus. Sie ist das Ergebnis einer Sammeltätigkeit, nicht einer Systematik des Denkens und Argumentierens in einem strengen und folgerichtigen Sinn. Ein unklarer Denker wie Jünger steht mit Logik ohnehin auf Kriegsfuß – oft genug löst sie sich in Rausch und Dunkelheit auf: »Drei Zustände gibt es, die Schlüssel zu allen Erlebnissen sind: den Rausch, den Schlaf und den Tod.«3 Wer nach »theoretischen Implikationen essayistischen Denkens« bei Jünger fragt, wird kaum fündig werden, obgleich sich diese philosophisch-literarische Mischgattung, »die den Weg ihrer Erkenntnis, ihre [gedankliche] Bewegung selbst umschreibt«, phänomenologisch durchaus bei ihm finden lässt.4 Daher werte ich Jünger als Essayisten, nicht jedoch als Theoretiker des Essays. Jünger bevorzugt die einzelne Beobachtung oder Betrachtung, an die sich weitere Beobachtungen oder Betrachtungen anlagern lassen, die man dann – per Analogieschluss etwa (aber auch per Kurzschluss) – aufeinander beziehen kann. Er nimmt dabei harte Schnitte und Brüche in Kauf und ähnelt darin dem Ahnherrn 1
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Virgil Nemoianu, Jünger, Ernst. In: Encyclopedia of the Essay, hg. von Tracy Chevalier, London/Chicago 1997, S. 930–933, hier S. 930. Vgl. Theo Meyer, Subjektivität und Wesensschau. Zur visionären Gestaltung im Expressionismus. In: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 33 (2007), S. 107–137, hier S. 118. Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung (1929). In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III, Stuttgart 1979, S. 31–176, hier S. 72. – Vgl. dazu Adrian Widmann, Lob der Vokale – Sprache und Körperbau. Zwei Essays von Ernst Jünger zum Zeitgeschehen. Textkommentar und Fassungsvergleich, Würzburg 2011, S. 151, 158 ff. Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin 1995, S. [9].
https://doi.org/10.1515/9783110279795-010
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des modernen Essais, Michel de Montaigne, der ebenfalls schon »kein deduktives oder systematisches Projekt« verfolgt hatte, aber eine ähnlich »sich schreibend manifestierende und reflektierende Subjektivität« erkennen ließ.5 Montaigne kommt, soweit ich sehe, bei Jünger nur sehr sporadisch und nur im Spätwerk gelegentlich vor: Jünger scheint ihn kaum gelesen zu haben, und so gehört Montaigne nicht zu seinen Kronzeugen. Für den Essayisten Jünger könnte Johann Georg Hamann ein wichtiger Anreger gewesen sein, Goethe ist einer, ferner sind Rivarol sowie Nietzsche und Schopenhauer zu nennen.6 Gern hat er Aphorismen von Prominenten abgeschöpft und daraus Betrachtungen gewonnen. Jüngers Essayistik steht, so meine These unter dem Vorzeichen des Rückbezuges (und nicht des Weltbezuges): Der Essay ist kein Senkblei, das in die Wirklichkeit gehalten wird; der Essay fragt nicht nach der Konsistenz von Beobachtungen, Betrachtungen und Deutungen, die Jüngers Werk im Kern ausmachen; und der Essay hat auch wenig »Sachbezug«, obwohl er in der Zwischenkriegszeit vielfach in den Leitartikel übergreift.7 Sondern der Essay ist das Ergebnis einer Kombinationsgabe, mit der sich Jünger selbst unterhält. Er gleicht dem diffusen Selbstgespräch eines Autors, der sich gern Patiencen legte – ist der Essay publiziert, kann man ihm als Leser quasi dabei zusehen.8 Auf Widerspruchsfreiheit, Logik, Stimmigkeit, Konsequenz kommt es ihm dabei weniger an, und sie werden augenscheinlich auch in der Rezeption selten vermisst: Die Positionslosigkeit sich radikalisierender politischer Positionierung, die Unschärfe und Austauschbarkeit der Begriffe […], die Konturlosigkeit seiner erzählerischen Welten, das ebenso Andeutungsreiche und wie Unkonkrete seiner essayistischen Entwürfe gehört zur Inszenierung einer Wendezeit, die die Gegensätze von Sieg und Niederlage ineinsfallen läßt und einen Indifferenzpunkt markiert, der argumentativ nicht zugänglich sein soll, sondern nur mit »Glaube« und »Ernst«, wie Jünger schreibt, erfaßt werden kann.9
Jünger interessiert sich nicht für Wissenschaft als Wissenschaft, nicht für Soziologie und nicht für Psychologie, ja nicht einmal – und das mag uns überraschen – für Geschichte als solche.10 Nein, er hat als Visionär kosmologische Umwälzungen zu gewärtigen, er hat viel umfassendere Dimensionen zu betrachten, als sie in der See5 6 7
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Müller-Funk, Erfahrung und Experiment, S. 63. Vgl. dazu Widmann, Lob der Vokale – Sprache und Körperbau, S. 139 f. und 149 ff. Vgl. dazu Ulrich Fröschle, Oszillationen zwischen Literatur und Politik. Ernst Jünger und »das Wort vom politischen Dichter«. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 101–143, hier S. 139. Vgl. dazu Stefanie Arend, Ernst Jüngers Frühwerk im Fluchtpunkt von Maurice Barrès’ Konzeption des Nationalismus. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, S. 25–34, hier S. 33. – Dort heißt es: »Diffus entwickelt dieser wie auch viele der anderen Essays eine mithin lebensphilosophisch anmutende Fiktion vom ›neuen Menschen‹, die sich eklektizistisch bei kurrentem kulturphilosophischem Gedankengut bedient.« Steffen Martus, Scheitern als Chance. Ernst Jüngers Kunst der Niederlage. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, S. 253–270, hier S. 267. Vgl. dazu Müller-Funk, Erfahrung und Experiment, S. 236.
»Waffe im geistigen Raum«. Ernst Jüngers Essayistik
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le, in der Gesellschaft, in der Historie sich ereignen. Dafür ein Beispiel: In seinem ersten Rhodos-Tagebuch von 1938 (Ein Inselfrühling, 1948 erschienen) beobachtet er italienische Soldaten, die den »Passo Romano«, den Stechschritt also, üben – und sich nach Meinung Jüngers dabei lächerlich machen: Vor der Kaserne Soldaten, kleine Süditaliener, beim Üben des Parademarsches, der als »Passo Romano« soeben in die Armee eingeführt worden ist. Obwohl an Schweiß nicht gespart wurde, war doch zu erkennen, daß dergleichen, ähnlich den Teltower Rübchen, wohl nur auf märkischem Sande gedeiht.«11
Dergleichen schreibt ein Autor, der wenige Jahre zuvor, in seinem Essay Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), eine »Gestalt« von planetarischer Dimension beschrieben haben will, die künftig die Weltgeschicke kraft ihrer Gleichförmigkeit und Funktionalität lenken werde. Diese Gestalt, Fritz Lang hatte sie 1927 bereits in Metropolis ins Bild gesetzt,12 beherrscht selbstverständlich auch den Stechschritt –, der bekanntlich im 20. Jahrhundert Karriere gemacht hat: nicht nur in der NVA (also auf märkischem Boden), sondern etwa auch in der Sowjetunion, in der Volksrepublik China, in Nordkorea und anderen Militärmächten. Um eines hübschen Bonmots willen suspendiert Jünger seine Phantasmagorie des Arbeiters als einer Weltmacht, die den Weltstaat lenken wird. Es ist ein Spezifikum der Jünger’schen Essayistik, dass die Gegenprobe, die dem schönen Gedanken den Wind aus den Segeln nehmen könnte, unterbleibt. Der Einfall ist wichtiger als die Logik der Bilder und die Folgerichtigkeit der Argumentation, da aus jedem Einfall »ein Verhältnis zum Ganzen entfaltet werden kann«13 – und Jünger geht immer aufs Ganze! Obgleich Jünger viele seiner Schriften unter dem Terminus »Essays« firmieren lässt, wird doch kaum deutlich, was er darunter versteht. Das ist schon seinen Primärrezipienten aufgefallen. Fast ärgerlich bemerkt Ernst von Salomon 1953, anlässlich eines Besuches in Wilflingen, dass die »in schöner Regelmäßigkeit« erscheinenden Bücher Jüngers mit »Grandezza« vorgelegt würden, aber »ohne Beachtung der erprobten und als gut erwiesenen Regeln des Schreibens«.14 Salomon führt aus: 11
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Ernst Jünger, Ein Inselfrühling. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 6, Tagebücher VI, Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 185–217, hier S. 202 f. Vgl. dazu Reinhard Wilczek, Fritz Langs Metropolis und Ernst Jüngers Der Arbeiter. Aspekte des intermedialen Technik-Diskurses in der Weimarer Zeit. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, S. 445–457. – Dort heißt es: »Die kryptische Bildlichkeit des jüngerschen Essays und seine antisystematische Ordnung sind vermutlich auch das Resultat einer intensiven Medien-Rezeption.« (S. 456). Müller-Funk, Erfahrung und Experiment, S. 154, Fußnote 392. Ernst von Salomon, Prosa, Besuch bei Ernst Jünger, 5. Oktober 1953. In: DLA, A. Salomon. – Zitiert nach: Claudia Scheufele, »Sie begann mit ›sehr verehrter‹ und schloß mit ›mein lieber …‹ ab.« Die Korrespondenz zwischen Ernst Jünger und Ernst von Salomon aus den Jahren 1929 bis 1970. In: Les Carnets Ernst Jünger (11), 2011, S. 183–256, hier S. 190.
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»Ja, ich ging von Mal zu Mal mit einem immer stärkeren Grad von unabweisbarer Ironie an die Lektüre seiner Bücher, an Essays, die wie Fragmente wirkten, an Tagebücher, welche mir als die leichteste und billigste Art der Publizistik erschienen, an Romane, welche die Grundregeln der Belletristik zu verachten drohten.«15 Ernst von Salomon sieht hier bestimmte Gattungsvorgaben und -erwartungen nicht erfüllt, doch kämpft er mit stumpfem Schwert, da es für vergleichsweise offene Formen wie den Essay, das Tagebuch und auch den Roman verbindliche Gattungsnormen nicht gibt: Jünger, nicht Salomon, hat das Recht auf seiner Seite. Jünger selbst setzt den Begriff »Essay« zumeist in Bezug zum Roman. Einerseits geschieht dies zur Abgrenzung, andererseits plädiert Jünger damit auch für eine Vermischung beider Texttypen. Dem entspricht, dass »auch erzählende Texte Jünger zum Essay werden«, dass »Gespräche und Reflexionen« die Handlung »überwuchern«, die über lange Strecken suspendiert wird.16 In dieser Gemengelage von Hybridformen können dann »sowohl Gedanken als auch Bilder wirken«.17 Erst durch dieses Zusammenwirken von Verschiedenem kann die »optimale Aussage«18 getroffen werden: Über einen Roman läßt sich besser sprechen als über Essays, denn im Roman überwiegen Personen und Objekte; wir finden nicht nur eine Straße, sondern auch Kammern und ihre Einrichtung.19
Gleichwohl hat auch Ernst von Salomon etwas Richtiges gesehen – der Essay bei Jünger kann eine windige Angelegenheit sein, wie auch der Romanist Bruno Berger glaubt: die gelegentlich fatale Snobistik und ein Paradieren mit entlegenen geistigen Bibelots [scil. Nippes] machen seine Essays manchmal zu schönen Blendern.20
Sehr nachdrücklich geht Kai Köhler mit dem Essayisten Jünger ins Gericht: Im Essay wird insgesamt eine Vielzahl von ideologischen Bedürfnissen befriedigt. Von Originalität kann an kaum einer Stelle die Rede sein; dies macht sicher einen großen Teil von Jüngers Erfolg aus. […] Dennoch hat die Genrewahl ihre Funktion: Seltsam, gerade bei einem so sehr aufs Militärische bezogenen Autor wie Jünger, geht es ums Abwarten, Ausweichen, Hoffen und um Sinnstiftung. Die Essay-Form, die keinen Handlungszusammenhang fordert, ist in diesem Fall den Kräfteverhältnissen angemessen; es handelt sich hier um eine Form der Defensive.21 15 16
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Salomon, Besuch bei Ernst Jünger, S. 190. Kai Köhler, Nach der Niederlage. Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und der Gordische Knoten. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, S. 206–223, hier S. 217. Ernst Jünger, Strahlungen, Vorwort. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II: Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 9–23, hier S. 21. Ernst Jünger, Kirchhorster Blätter. In: Ernst Jünger, Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 3: Tagebücher III: Strahlungen II, S. 295–401, hier S. 384 f. Ernst Jünger, Siebzig verweht III. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 20: Tagebücher VII, Strahlungen V, Stuttgart 2000, S. 580. Bruno Berger, Der Essay. Form und Geschichte, Bern/München 1964, S. 235. Köhler, Nach der Niederlage, S. 217.
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Ob Krise oder Defensive, ob Blendwerk oder L’art pour l’art, ob Talmi in Spurenelementen oder Nippes auf breiter Front: Der Essayist wird dies nicht als Desiderat verstehen wollen, sondern als Chance, als Freibrief quasi, der eigenen Produktivität die Zügel schießen zu lassen – und seinem Publikum mehr oder minder ungeschützt Angebote zu unterbreiten. Ein »Hauptziel« dieser essayistisch-aphoristischen Rede ist daher »nicht die präzise Darstellung, Erklärung usw. von Sachverhalten und ihre Überprüfung im Hinblick auf das Wahre und das Falsche« – Ziel seiner Art des Sprachgebrauchs »ist es vielmehr, dem Leser zu Denken zu geben.«22 Der Essay ist somit als offene Form willkommen.
Reflexionsepik eines Spätromantikers Die These von Rainer Gruenter, Jüngers Essays verhielten sich zu seinen Dichtungen wie Text und Interpretation, wird 1978 von Gruenters Schwiegersohn Karl Heinz Bohrer aufgegriffen und auf Jüngers Romantizismen bezogen, denn schon die Theoretiker der Romantik strebten die Öffnung des Gattungssystems an und nutzten dafür die bislang nicht definierten oder festgelegten Texttypen, wobei der Essay, soweit ich sehe, bei ihnen noch keine prominente Rolle spielte. In den Philosophischen Lehrjahren Friedrich Schlegels (seinen Notizheften bis 1806) steht der Essay in folgendem Zusammenhang [PhL V 319]: ‹Δρ [Drama] – Arab[eske] – Stud[ien] Uebers[etzung] Fr[agmente] Diss[ertation] – Essay – Charakteristik –› 23
Der Zusammenhang ist Schlegels Vorhaben einer Geschichte der griechischen Poesie [Ph L V 312] und der Bestimmung der poetischen Gattungen, und da heißt es [Ph L IV 837]: Roman und Διθ [Dithyrambus] sind Werke, Δρ [Drama] und Uebersetzung nebst Novelle sind π [poetische] Studien, Diaskeuasen, Essays.24
Schlegel unterschied hier epische Formen der Dichtkunst und lyrische Großformen (wie die Chorlyrik, den Dithyrambus) von Drama, Satire und Parodie (scil. Übersetzung), von Novelle, Studien, Diaskeuasen (Umarbeitungen, Anordnungen) und Essays. Ich lerne daraus, dass Essays keine Werke sind [vgl. Ph L IV 841]: 22
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Thomas Gloning, Ernst Jüngers Aufzeichnungen und ihr Wortschatz-Profil. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, S. 145–165, hier S. 159. Friedrich Schlegel, Philosophische Lehrjahre. In: ders.: Kritische Ausgabe, mit Einleitung und Kommentar, hg. von Ernst Behler, Bd. 18, Abt. 2, Tl. 1: Schriften aus dem Nachlass, Philosophische Lehrjahre 1796–1806, nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828, S. 347. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, S. 264.
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Das Ganze nie als Werk behandeln sondern als Essay.25
Der Essay steht also der Studie nahe, vielleicht auch dem Fragment und der Arabeske, er repräsentiert die offene Form poetischer Sondierung [vgl. Ph L V 293]: Essays sind d[er] Gegensatz d[er] Novellen.26
Der Essay gehört damit in die Kategorie der »Einfälle«, die spontan ausgesponnen werden und mehr oder weniger weit tragen.27 Insoweit Einfälle durch ›Erwartung‹ und ›Aufschluß‹ charakterisiert sind, weisen sie ein gewisses Spannungsmoment auf – eine Pointe oder ein anderer überraschender Effekt mögen dann hinzutreten und die Auflösung herbeiführen. Die Nähe zum Bonmot oder zum Prosaepigramm ist auffällig, wobei das Exempel häufig mit einer gewissen Beiläufigkeit inszeniert wird, etwa durch einen Satzbeginn mit »freilich«, gern gefolgt von einem nicht minder beiläufigen »übrigens«: Abends im Bett, bei strömendem Regen, kam mir die Person eines nahen, im vorigen Jahre verstorbenen Bekannten in den Sinn. Ich sah ihn in dieser und jener Situation – kleine, bezeichnende Eigenarten tauchten vor der lebhafter werdenden Erinnerung auf; er schien für einen Augenblick leibhaftig, ganz nahe erreichbar zu werden, bis plötzlich eine nüchterne Kontrolle die Tatsache seines Todes ins Gedächtnis rief. Dieser jähe Zusammenstoß des Lebendigen mit dem Toten erschütterte irgendwie das innere Gleichgewicht, und es war wohl das Bedürfnis nach völliger Klärung, das die Gedanken hinausriß in die dunkle, verregnete Ecke irgendeines Kirchhofes, sie die lockere Erde durchdringen und in den Sarg hineinspähen ließ. »Während ich hier im Warmen liege, liegst du dort, zur gleichen Zeit – sonderbar, daß ich so noch nicht gedacht habe an dich das ganze Jahr.« Freilich ist das sonderbar, und noch sonderbarer, daß erst ein kleiner Unfall im Denken nötig war, um eine eigentlich so logische Vorstellung hervorzurufen. Übrigens werde ich ganz erwachsener Mensch jedesmal, wenn ich in der Zeitung von einer gerichtlichen Exhumierung lese, von einem unüberwindlichen Erstaunen befallen – darüber, daß man dabei wirklich auf die Leiche stößt.28
Durch »freilich« und »übrigens« wird inhaltslogisch die Vertrautheit des Phänomens unterstellt und das charakteristische Strukturmerkmal der Anlagerung und Weiterung unterstützt, das am Ende den Essay ergibt. Den auf sentenzhafte Sätze ausgerichteten Ausführungen eignet dabei die Tendenz zur Abstraktion, denn sie zielen auf die Allgemeingültigkeit der Aussage. Der soeben anzitierte Passus aus dem Abenteuerlichen Herzen ebnet dem gut geeigneten Terminus der »Reflexions-Epik« den Weg, den Rainer Gruenter anlässlich seiner Rezension von Jüngers Roman Gläserne Bienen 1957 entwickelte: 25 26 27 28
Schlegel, Philosophische Lehrjahre, S. 264. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, S. 345. In gereimter Form kannte man sie in Früher Neuzeit und Aufklärung als Sinngedichte. Jünger, Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung, S. 95 f.
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Der Essay Über den Schmerz verhält sich also zu den Dichtungen Jüngers wie Text und Interpretation, die freilich nicht analysiert, sondern illustriert. Dadurch bekommen diese Dichtungen etwas Allegorisches, einen Zug, den wir als Grundzug der repräsentativen modernen Dichtung ansprechen möchten, insofern er die Zunahme an Reflexion, die die Funktion des ›Erlebnisses‹ in der Dichtung abgelöst hat, schlagend verdeutlicht. Dichten scheint nur noch als Demonstration des Denkens möglich zu sein, als dichterische Verbildlichung einer Reflexion, die im Begriffe steht, jeden Mythos spurlos zu verzehren, doch zugleich mythische Formen anzunehmen.29
Der Terminus der Allegorie (Allegorese) bei Gruenter lässt sich mit dem Begriff der Übersetzung bei Schlegel korrelieren, insofern die Allegorie die »veranschaulichende Darstellung« eines Gedankens durch »ähnliche sinnlichere Begriffe« bezweckt, wohingegen die allegorische Auslegung unterstellt, dass der Urheber einer Dichtung »etwas Anderes, gewöhnlich etwas Geistigeres, gedacht und angedeutet habe, als Worte und Form seiner Rede unmittelbar aussprechen.«30 Bei Jünger firmieren alle Texte der »Zweiten Abteilung« der Sämtlichen Werke (18 Bände plus vier Supplementbände) unter »Essays«, beginnend mit Band sieben, Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Mein Titelzitat »Waffe im geistigen Raum« findet sich in jenem Essay, der 1930 in Jüngers Sammelband Krieg und Krieger erschienen ist: Die totale Mobilmachung. Hier bestätigt sich die These, dass Jünger sich weigert, den Krieg als historisches Phänomen, als Ausdruck »menschliche[n] Handeln[s]«31 zu begreifen. Der Krieg ist vielmehr eine Erscheinung der Landschaft, er hat planetarische Bedeutung, er gleicht dem »Erdfeuer«, das beim Ausbruch der Vulkane sein »fesselndes Schauspiel« (ebd.) der »Verwandlungen« auf die Bühne bringt. In ganz typischer Weise wird hier die Lebensideologie32 der Epoche ins Bild gefasst: Man kann freilich sagen, daß die Verschiedenheit der Landschaften im gleichen Maße schwindet, in dem man sich dem glühenden Rachen des Kraters nähert, und daß dort, wo die eigentliche Leidenschaft zum Durchbruch kommt, also vor allem im nackten, unmittelbaren Kampf auf Leben und Tod, es eine nebensächliche Rolle spielt, in welchem Jahrhundert, für welche Ideen und mit welchen Waffen gefochten wird; doch nicht davon soll im Folgenden die Rede sein. | Wir werden uns vielmehr bemühen, einige Daten 29
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32
Rainer Gruenter, Reflexions-Epik. In: Neue deutsche Hefte, 4. Bd. (1957) H. 41, S. 840–842, hier S. 840. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon. Neunte Originalauflage. Erster Band: A bis Balbuena. Leipzig 1843, S. 247 (Stichworte Allegorie, Allegorische Auslegung). Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1980, S. 119–142, hier S. 121. Unter ›Lebensideologie‹ subsumiert Martin Lindner die »Welt-« und »Lebensanschauungen« der ›Synthetischen Moderne‹ (circa 1890–1955). Vgl. Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart/Weimar 1994, S. 5.
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zu sammeln, die den letzten Krieg, unseren Krieg, das größte und wirksamste Ereignis dieser Zeit, unterscheiden von anderen Kriegen, deren Geschichte uns überliefert ist.33
Der Kampf ums Dasein wird hier mit einem tektonischen Geschehen ins Bild gesetzt, durch ein Naturereignis: Der Ausbruch der glühenden Lava aus dem »Rachen« des Vulkans gleicht dem »Durchbruch« der glutvollen Leidenschaft des Kriegers, der einen »Kampf auf Leben und Tod« zu bestehen hat. Vor diesem Elementarereignis werden die Kriegstechnik und die Weltanschauung, für die man kämpft, unwichtig und unsichtbar. Dem Gedanken der Totalität wird hier der Weg bereitet, denn er liefert das wichtigste Unterscheidungskriterium: Krieg wird nicht mehr, wie bislang, von einer Kriegerkaste geführt, sondern von der Gesamtgesellschaft. Die gesamte Wirtschaft wird auf Kriegswirtschaft umgestellt, Kirchen und Verbände, Schulen und Universitäten, alle nur denkbaren Institutionen sehnen diesen Krieg herbei und wollen ihn führen. Aufgabe des Essayisten ist es da, das Charakteristische dieser neuen Totalität des Krieges herauszustellen und dafür ›Daten‹ zu sammeln. Schaut man sich einmal die verstreuten Bemerkungen an, die Jünger über die Kunst des Essays fallen lässt, so ergibt sich das folgende Bild: - Ein Essay sollte weniger »Lesefrüchte« bieten, »als Frucht eines eigenen, konzentrierenden Nachdenkens sein«.34 - Er darf gelehrt sein und Anspielungen auf gelehrtes Wissen enthalten, darf damit aber nicht auftrumpfen: Ein vortrefflicher Essayist hat seine Vortrefflichkeit nicht zum wenigsten darin, daß er seine Gelehrsamkeit (wie ich leider) nicht ausbreitet und feil bietet, sondern dieselbe nur sanft spüren, durchschimmern läßt.35
- Der Essay setzt das freie, nicht-ideologische Denken voraus: »ein unbefangener Kopf […] voll geistiger Kühnheit«36 stiftet überraschende Kontexte und belebt die Lektüre. - Zur gedanklichen muss die sprachliche Befähigung kommen, einen Essay anzuspinnen; Jüngers Beispiel für den kreativen Autor, der Sprache souverän handhabe, ist – ausgerechnet – Francis Bacon, der Moralist und Aufklärer. - Der Sprache muss dabei eine »assoziierende[] Kraft«37 eignen, so zwar, wie sie in der Aphoristik Nietzsches oder im Analogieschluss Schopenhauers38 zum Ausdruck 33 34
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Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung, S. 121. Ernst Jünger, Siebzig verweht II. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 5: Tagebücher V. Strahlungen IV, Stuttgart 1982, S. 510. Ernst Jünger an Walter Patt, Carloforte, 16. September 1978. Zitiert nach: Jünger, Siebzig verweht II, S. 417. Jünger, Siebzig verweht II, S. 333. Ernst Jünger, Rivarol. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 14: Essays VIII: Ad hoc, Stuttgart 1978, S. 210–329, hier S. 320. Vgl. Jünger, Rivarol, S. 320.
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kommt. Jünger spricht hier vom »Sprachgeist«, wie er ihn oft bei Lichtenberg und gelegentlich bei Jean Paul beobachtet habe.39
Offenheit und Geschlossenheit des essayistischen Diskurses Damit ist der Bezugsrahmen ungefähr abgesteckt, doch sind zwei Spuren noch nicht benannt. Die Essayistik der Romantiker im engeren Sinn (das essayistische und zugleich fragmentarische Philosophieren der Frühromantiker) und Jüngers Hauptbezugsautor Goethe. 1979 schreibt Jünger an den Mainzer Philosophen Walter Patt: Damit komme ich zum ›Arbeiter‹. In diesem Essay, den ich heute anders anfassen würde, versuchte ich das, was Marx aus Hegel hinausdestillierte, wieder einzubringen und statt einer ökonomischen Figur eine Gestalt, etwa im Sinne der Urpflanze, zu sehen.40
Jünger stilisiert sich hier zum Klassiker, bei dem eine »Äußerung […] jederzeit in eine Form von Kurzabhandlung münden kann«.41 Seinen Essay zum Arbeiter hat Jünger mehrfach annotiert und über eine lange Lebensspanne hinweg erweitert und verändert. Verwandte Gegenstände finden sich aber auch in anderen Prosaformen und Kontexten, es sind dies Themata eines Jünger’schen Denkkosmos, oder Teile, die sich zu einem Gesamtessay aufsummieren lassen und überall ins Werk einwandern können, etwa auch in den Peritext: Immerhin sind auch die Ansätze […] im Anhang zusammengefaßt.42 39
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»Der Sprachgeist läßt uns nie im Stich.« Vgl. Ernst Jünger, Siebzig verweht IV. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 21: Tagebücher VIII: Strahlungen VI, Stuttgart 2001, S. 439 (8.6.1990). – Weitere Bezugnahmen auf den Terminus finden sich in (die Bandangabe bezieht sich auf Ernst Jünger, Sämtliche Werke): Das zweite Pariser Tagebuch (Bd. 3: Strahlungen II), S. 253 (18.4.1944); Kirchhorster Blätter (Bd. 3: Strahlungen II), S. 376 (27.2.1945); Myrdun (Bd. 6: Tagebücher VI, Reisetagebücher), S. 74 (16.8.1935); Ein Vormittag in Antibes (Bd. 6: Tagebücher VI, Reisetagebücher), S. 398; Das abenteuerliche Herz. Zweite Fassung (Bd. 9: Essays III), S. 308; Sgraffiti (Bd. 9: Essays III), S. 352 und 391; Subtile Jagden (Bd. 10: Essays IV), S. 270; Lob der Vokale (Bd. 12: Essays VI), S. 31, 34 und 39; Sprache und Körperbau (Bd. 12: Essays VI), S. 87; Philemon und Baucis (Bd. 12: Essays VI), S. 444; Rivarol S. 230 f., 319 f. und 324; Gläserne Bienen (Bd. 15, Erzählende Schriften I), S. 487; Siebzig verweht III, S. 547 (26.9.1985); Sp. R. Drei Schulwege (Bd. 22: Späte Arbeiten), S. 766. Ernst Jünger an Walter Patt. Wilflingen, 28. Oktober 1979. Zitiert nach: Ernst Jünger, Aus der Korrespondenz zum »Arbeiter«. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Essays II: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 388–396, hier S. 391. Joachim Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, II. Teil. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Bd. 7 (1975), H. 2, S. 60–97, hier S. 62. – Die Untersuchung, die zuerst als Beitrag zu dem Rahmenthema »Der Dichter als Essayist und Journalist« erschienen ist, liegt seit 1981 auch als Monographie im Peter Lang Verlag vor. Jünger, Der Arbeiter. Vorwort. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Essays II: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 11–13, hier S. 13.
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Jüngers Essayistik wäre demnach weniger durch die Abgeschlossenheit des Einzelessays charakterisiert, als durch die Möglichkeit und Erwartbarkeit der Anknüpfung an Bestehendes. Bei ihm liegt weniger eine Geschlossenheit in puncto Gegenstand und Darbietungsform vor, als vielmehr eine transgenerische Konturlosigkeit, die freilich die Chance bietet, den gedanklichen oder erzählerischen Faden jederzeit wieder aufnehmen und weiterspinnen sowie in Beziehung zu anderem setzen zu können: aus dem Einzelwerk soll sich das Werkganze herausbilden. Bereits der 40-Jährige plante eine Werkausgabe, und wie Goethe hat Jünger zwei Werkausgaben selbst noch zu Lebzeiten realisiert. Die Kompositionsprinzipien dieser beiden Werkausgaben waren jeweils rasch gefunden, da sich Jüngers Arbeiten, trotz aller Verschiedenheit, doch auch ähneln. So kann sein Kriegsbuch Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) mühelos als Essay firmieren, und auch erzählende Schriften wie Das abenteuerliche Herz (1929, 1938) eignen sich als Klammer für scheinbar (oder anscheinend) Heterogenes. Jüngers erzählerisches Programm zielt ohnehin auf den essayistischen Roman, dessen Erkenntnisinteresse in diversen Digressionen formuliert wird. Endlich eröffnet die Möglichkeit der Fortschreibung auch die Chance zur Revision, die Jünger weidlich nutzt. Die Adnoten zum Arbeiter (Maxima – Minima, 1964) künden ebenso davon wie die Ergänzungen und Nachträge zu Autor und Autorschaft (1984) in der Werkausgabe (Bd. 19); die Umarbeitungen der Strahlungen (1949) bezeugen dies ebenso wie die zahllosen Eingriffe in das erste Kriegstagebuch In Stahlgewittern (1920 und öfter). Mit dem Ergebnis aber gibt sich Jünger niemals zufrieden. Bestimmte Betrachtungen, Einfälle oder Grundannahmen sowie Bilder und Vergleiche sind überdies toposhaft versetzbar und funktionieren in allen Texten, Kontexten und Texttypen. Die Vorstellung vom Zeitalter des Arbeiters etwa ist schon in seinem Essay Die totale Mobilmachung präsent und wird noch im Waldgang (1951) bemüht und findet später Eingang in Jüngers Roman Gläserne Bienen (1957).43 Und ähnlich wie Goethes Wilhelm Meister sind auch Jüngers Romane von allerlei Maximen und »gnomischen Kleinopera ohne inneren Abschluß«44 durchsetzt; deren Symbolik und Parabolik bremst ihren erzählerischen Elan und führt auch – wie im Falle von Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt (1949) – durch erhebliche Kürzungen, Straffungen und Überarbeitungen in der zweiten Fassung nicht zum glücklichen Resultat. Typisch für Jünger ist die strategische Behandlung eines Essaythemas durch die Einreihung in literarische Traditionslinien und Vertextungsverfahren. In Der Kampf als inneres Erlebnis widmet er sich der Schilderung des Grabenkampfes und seiner Auswirkungen auf den Soldaten. Jedes Kapitel ist dabei einem [nicht sortenrein realisierten und realisierbaren] Aspekt gewidmet: Kampfeslust (Eros), Kameradschaft (untereinander), Anspannung unmittelbar vor dem Kampf (Vorm Kampf), usw. Die Aspekte werden aber nicht in einem klaren Gedankengang dargestellt, sondern sind 43
44
Vgl. dazu: Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1999, S. 318, 322. Wohlleben, Goethe als Journalist und Essayist, S. 65.
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immer schon Transgressionen. Jünger benutzt eine auf Transzendierung angelegte bildreiche Sprache, um die Phänomene des Krieges in ihrer überwältigenden Wirkung adäquat schildern zu können. »Gedanken« allein können den Phänomenen des Krieges nicht gerecht werden, es müssen »Bilder« hinzutreten: Zuweilen erstrahlt an den Horizonten des Geistes ein neues Gestirn, das die Augen der Rastlosen trifft, Verkündigung und Sturmsignal einer Weltwende wie einst den Königen aus dem Morgenlande. Dann ertrinken die Sterne ringsum in feuriger Glut, Götzenbilder splittern zu irdenen Scherben, und wieder einmal schmilzt alle geprägte Form in tausend Hochöfen, um zu neuen Werten gegossen zu werden. Die Wellen solcher Zeit umbranden uns von allen Seiten. Hirn, Gesellschaft, Staat, Gott, Kunst, Eros, Moral: Zerfall, Gärung – Auferstehung? Noch flirren rastlos die Bilder vorüber, noch wirbeln die Atome in den Siedekesseln der Großstadt.45
Die Großstadt als Hochofen, der Krieg als Schmelztiegel – solche Ausdruckskonstanten, Klischees, Topoi sind für sich genommen nichts weniger als originell – und würden einer eingehenden Metaphernkritik gute Argumente liefern, besonders dort, wo die Bildwirklichkeit und die zu erfassende ›Realität‹ allzu gewaltsam aufeinanderprojiziert werden. Sie haben aber ihren Zweck erfüllt, wenn sie an die überindividuelle Bildwelt der Primärrezipienten anknüpfen und soweit sie von Jüngers Sprach- und Gesinnungsgemeinschaft akzeptiert werden. Dem Verhältnis von Bildlichkeit und Studie, Erzählung und Betrachtung hat sich Karl Heinz Bohrer zugewandt. Hier sein zentrales Beispiel aus dem Abenteuerlichen Herzen: Ich glaube, daß folgendes Bild das Entsetzen besonders treffend zum Ausdruck bringt: Es gibt eine Art von sehr dünnem und großflächigem Blech, mittels dessen man an kleinen Theatern den Donner vorzutäuschen pflegt. Sehr viele solcher Bleche, noch dünner und klangfähiger, denke ich mir in regelmäßigen Abständen übereinander angebracht, gleich Blättern eines Buches, die jedoch nicht gepreßt liegen, sondern durch irgendeine Vorrichtung voneinander entfernt gehalten werden. Auf das oberste Blatt dieses gewaltigen Stoßes hebe ich dich empor, und sowie das Gewicht deines Körpers es berührt, reißt es krachend entzwei. Du stürzt, und stürzt auf das | zweite Blatt, das ebenfalls, und mit heftigerem Knalle, zerbirst. Der Sturz trifft auf das dritte, vierte und fünfte Blatt und so fort, und die Steigerung der Fallgeschwindigkeit läßt die Detonationen in einer Beschleunigung aufeinander folgen, die den Eindruck eines an Tempo und Heftigkeit ununterbrochen verstärkten Trommelwirbels erweckt. Immer noch rasender werden Fall und Wirbel, in einen mächtig rollenden Donner sich verwandelnd, bis endlich ein einziger, fürchterlicher Lärm die Grenzen des Bewußtseins sprengt.46
Die Mittel, die hier zur Beschreibung des Entsetzens verwendet werden, sind Edgar Allan Poe entlehnt. Die bis in die Unendlichkeit gesteigerte Wiederholung eines grauenerregenden Erlebnisses ruft bei Jünger wie bei Poe das Entsetzen hervor. Bei Poe ist es das unendlich wiederholte »Nimmermehr« des Raben, bei Jünger das 45 46
Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 11. Jünger, Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung, S. 35 f.
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Knallen der Blechplatten. Postuliert wird: »jedem Wort entspricht eine Wirklichkeit«; Grauen – ein Blech, dem Entsetzen – die unendliche Steigerung zum Blechsturz; aber das überzeugt nicht, denn nicht jedem Wort entspricht eine Realität, wie Mephisto zynisch anmerkt: »Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, | Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.« (Faust I, Verse 2565 f.) Der Mephisto des Faust ist Negativist; Jünger ist und bleibt ein wortbemühter Positivist. Uns begleitet das Problem auf ähnliche Weise: Weil wir für die Bestimmung von Texten ein reich entfaltetes Begriffsregister entwickelt haben, glauben wir, dass jedem Begriff ein Texttyp entsprechen müsse – weshalb sich die Novelle vom Roman und der Essay vom Aufsatz zu unterscheiden habe; eine moderne Texttypologie müsste sich jedoch von den historischen Gattungsnamen und dem Versuch einer Wesensbestimmung è nomine emanzipieren. Wie eingangs behauptet, muss sich ein unklarer Denker wie Jünger gegen die Offenbarung der Aporien seiner utopischen Entwürfe schützen: »Unübersehbar ist die Tendenz, die eigene theoretische Konstruktion zu retten, die die Struktur von Erfahrungen gegen den Universalismus der Moral ins Feld führt.«47 Die Offenheit des essayistischen Diskurses kommt ihm darin entgegen, indem sie ihm hilft, argumentative Schwächen und Blässen des Denkens und Argumentierens zu camouflieren. Jüngers Figur des Waldgängers ist eine solche, halb versteckte Aporie. Behauptet wird von ihm, dem Waldgänger, dass er sich im totalen Staat seine Unabhängigkeit bewahren könne, indem er sich Rückzugsräume erschließt, in die ihm die Staatsmacht nicht folgen kann. Noch Jüngers später, von essayistischen Reflexionen durchsetzter Roman Eumeswil (1977) erzählt von einem Protagonisten, der sich in den Nischen der Macht einzurichten sucht, einem Segregateur, der sich in einem undurchdringlichen Schilfgürtel im Niemandsland zwischen den Großreichen der verfeindeten Chane Residuen baut, um im Falle einer Invasion abtauchen zu können. Dies aber kann ihm nur gelingen, solange es der Staatsmacht gefällt – oder soweit man von deren Totalität noch nicht sprechen kann. Ist der Staat einmal total, dann holt er den Waldgänger auch aus seinem Erdloch – sei es bei Dostojewski (einem von Jüngers Kronzeugen), sei es im modernen Irak, wo es den Machthaber selbst trifft. Und wenig mehr überzeugen die zween Brüder in Jüngers berühmtester Fabel Auf den Marmorklippen (1939), die sich hingebungsvoll ihren Studien und ihrem Herbarium widmen, während ringsumher die Welt in Gewalt versinkt. Das trügerische Paradies, das Kleist im Erdbeben in Chili (1811) imaginiert und in der Mitte seiner Erzählung platziert, um dann zum ehrlich-grausamen Gemetzel zu schreiten – bei Jünger rückt es ans utopische Ende und wird damit unglaubwürdig, wenn nicht sogar kitschig: Die Brüder entkommen dem martialischen Gemetzel eines Söldnerheeres, indem sie sich ein Schiff erbitten, noch Frauen und Kinder aufnehmen und einer friedlichen Zuflucht entgegen schippern. Eine ähnliche Utopie kon47
Müller-Funk, Erfahrung und Experiment, S. 234. – In der Fußnote 591 erwähnt MüllerFunk eine missglückte Assoziation Jüngers, der zufolge die aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreiten Insassen »plündernde Horden« sein könnten, die sich »über das Land ergießen würden«.
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zipiert Jünger zehn Jahre später für den Erzählausgang seines Romans Heliopolis. In all diesen Fällen scheitert der Anarch am essayistisch mühsam ausgeklügelten Spiel, weil die Partie nicht nach seinen Regeln läuft. In seinen von erzählerischen Passagen durchsetzten Essays ebenso wie in seinen essayistisch durchbrochenen Romanen imaginiert sich Jünger gedankenvoll totalitäre Welten, um dagegen seinen Helden, sein planetarisches Konzept, sein utopisches Bild opponieren zu lassen, den Solitär, den Weltstaat, das Refugium, die Insel der Seligen, die allen Ansprüchen, allen Zumutungen dieser totalitären Weltgesellschaft zu trotzen weiß. Der Essay ist deshalb der geeignete Ort für solche Gedankenspiele, weil man hier die Widersprüche, die sich ergeben, nicht bis zum Ende konsequent durchdeklinieren muss. Man führt den Gedankenfaden, soweit man ihn führen kann und möchte – ungelöste Probleme und offene Fragen bleiben bestehen, ohne dass dies als Manko empfunden würde. Mit den gleichen Problemen und offenen Lösungen haben auch Jüngers Erzähltexte und auch seine Tagebücher und Reisetagebücher zu tun. Das Webmuster all dieser Formen ist ähnlich, und es gehört zu den Zeichen der Moderne, dass es seine Protagonisten in Aporien verstrickt. Schon Goethes Willhelm Meister wurde attestiert, er neige zum Traktat; Vormärzautoren wie Gutzkow schoben essayistische Betrachtungen in ihre Romanprosa ein; Heinrich, der Protagonist in Stifters Nachsommer, rezensierte Shakespeare; der alte Stechlin kommentierte sachkundig die Zeitläufte; Brochs Trilogie Der Schlafwandler, Musils Mann ohne Eigenschaften, Thomas Manns Romane Der Zauberberg und Doktor Faustus – die essayistische Einlage in dichterische Prosa konnte und kann sehr häufig beobachtet werden und folgt ähnlichen oder unterschiedlichen Programmatiken.
Das ›Alte‹ und das ›Neue‹ Testament eines Tendenzschriftstellers Zur Schärfung und Abgrenzung des unklaren Konzepts des Essays bei Jünger ist hervorzuheben, dass der Autor seine Politische Publizistik der 1920er und 1930er Jahre nicht in seine beiden Werkausgaben übernommen und folglich auch nicht unter Essays subsumiert hat. Mit seinen »offenen und aktualitätsbezogenen« Kampfschriften bediente Jünger, »trotz seiner Selbststilisierung als elitärer Geist«, ein vergleichsweise niedriges Niveau, mit dem Ziel, »authentische Urteile eines an der gedanklichen Durchdringung der zeitgenössischen Wirklichkeit elementar interessierten empirischen Autors« zu garantieren; aus der Perspektive Gottfried Benns jedoch degradierten ihn diese »relativ einfach zugängliche[n] Genres« zum bloßen »Schriftsteller«.48 Wie mit Michael Ansel zu folgern ist, handelte es sich 48
Vgl. Michael Ansel, Der verfemte und der unbehelligte Solitär. Gottfried Benns und Ernst Jüngers literarische Karrieren vor und nach 1933. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, S. 1–23, hier S. 11. – Sowie Müller-Funk, Erfahrung und Experiment, S. 227 f., S. 236, S. 247.
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bei dieser politischen Publizistik um reine Tendenzliteratur, die nur für den Tag und die Stunde und die politische Aktion geschrieben und gedacht worden ist, wohingegen die Essays anderes und Bedeutenderes sein wollten. Ohnehin schon als Tendenzschriftsteller wahrgenommen, wollte sich Jünger ab Ende der 20er Jahre eine neue Verfassung geben, sich vom Bellizisten zum Belletristen entwickeln. Fortan bezeichnete er sein Frühwerk als sein »Altes Testament«, sein späteres Werk firmierte hingegen als »Neues Testament«. Also, an mangelndem Selbstbewusstsein litt er nicht: Zum Opus: meine Bücher über den ersten Weltkrieg, der Arbeiter, die Totale Mobilmachung und zum Teil auch noch der Aufsatz über den Schmerz – das ist mein Altes Testament. Ich darf darein aus anderen Ebenen nichts mehr einzeichnen. Den »Sizilianischen Brief an den Mann im Mond« sehe ich als bedeutenden Vorgriff an. Hier wurde mir deutlich, daß die Erkenntnis nicht abzuwerfen, sondern wieder einzuschmelzen ist, und unter Siegel beschreiben diese Seiten den Weg dazu. Sie führen in eine der tieferen Arbeitskammern, die selten vom Bewußtsein betreten werden, ein. Auch fasse ich sie als Erinnerung an den Punkt, nicht nur des Scheide- sondern auch des Kreuzwegs auf, an dem ich entweder in die Romantik oder in den Realismus hätte einbiegen können – auf die eingeleisige, »unstereoskopische« Bahn. So spalten sich die Bildner in Maler und Zeichner auf. Doch soll die Feder immer zugleich auch Pinsel sein.49
Nicht nur die Offenheit des Werkes, auch seine operative Schließung ist hier von Relevanz. In seinen Aufsatz über den Schmerz darf er »aus anderen Ebenen nichts mehr einzeichnen«. So tritt an die Seite des Kanons das Apokryphe, das nicht ins Werk integrierbar ist. Der Essayist begegnet damit der Gefahr, sich zu verzetteln – denn die Form tendiert auch thematisch zu Abschweifungen: Dabei stößt man auf apokryphe Stellen, die, wenn nicht »gut und nützlich«, so doch recht amüsant zu lesen sind und die man ungern unterschlägt. […] Wir sagen: »Jedes Ding hat seine Zeit.« Aber auch jeder Ort und jeder Mensch hat seine Zeit. Es ist ferner bekannt, daß wir keine Zeit haben. Das soll heißen, daß wir keine überflüssige Zeit haben, denn der eine hat mehr, der andere weniger Zeit.50
Daher bedarf auch die offene Form des Abschlusses. Ein Pour le mèrite oder ein massiver Scarabaeus symbolisiert den Abschluss von Texten und wird oben auf den Papierstoß aufgelegt.51 Mit seinem ›Alten‹ Testament hat Jünger die Phase der Bewältigung des Weltkrieges und der Nachkriegswirren abgeschlossen und sich als Autor gefunden. Seine Essayistik muss sich neue Themen suchen – darunter die Poesie, die er im Span49 50
51
Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 166. Ernst Jünger, Das Sanduhrbuch. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 12: Essays VI. Fassungen I, Stuttgart 1979, S. 101–250, hier S. 108 f. »Der Scarabaeus wird nicht nur als massiver Talisman gebildet, sondern auch, als oberer Abschluß von Toren oder Texten, im Fluge dargestellt.« Ernst Jünger, Das spanische Mondhorn. In : ders. : Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 13: Essays VII, Stuttgart 1981, S. 49–82, hier S. 64.
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nungsfeld von Rousseau und Rivarol, Hamann und Herder zu bestimmten sucht. War das ›alte‹ Testament Prosa und der Darstellung des Krieges und des Hässlichen vorbehalten, so wird das ›neue‹ Testament Poesie und erschließt sich neue Gegenstandsbereiche: Hier trifft sich Rivarol mit Hamann, der Poesie die Muttersprache des menschlichen Geschlechtes nennt. Rousseau ging dem in seinem »Essai sur l’origine des langues« voraus, indem er die Sprache nicht aus dem Bedürfnis, sondern aus der Leidenschaft erklärt. Daher sei sie gesprochen stärker als geschrieben; Homers Sprache sei der Gesang. Im Lauf der Zeit verlieren die Sprachen an Kraft und nehmen an Klarheit zu.52
Max Bense unterscheidet in seiner Studie Über den Essay und seine Prosa (1947) genau diese beiden Ausdrucksformen, Poesie und Prosa, und er folgt darin der idealistischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts.53 Bense führt aus: In der Poesie ist Schöpfung möglich, in der Prosa im Grunde nur Tendenz, genauer gesagt: Poesie ist ein Medium der Schöpfung, aber Prosa ist ein Medium der Tendenz.54
Die totale Mobilmachung, Jüngers Essay aus dem Jahre 1930, ist nun, so mein Eindruck, eine Tendenzschrift, die dem Grauen des Krieges – zumindest auch – Poesie abgewinnen will: Es ist ein großartiges und furchtbares Schauspiel, die Bewegungen der immer gleichförmiger gebildeten Massen zu sehen, denen der Weltgeist seine Fangnetze stellt. Jede dieser Bewegungen trägt zu einer schärferen und unbarmherzigeren Erfassung bei, und es wirken hier Arten des Zwanges, die stärker als die Folter sind: so stark, daß der Mensch sie mit Jubel begrüßt. Hinter jedem Ausweg, der mit den Symbolen des Glückes gezeichnet ist, lauern der Schmerz und der Tod. Wohl dem, der diese Räume gerüstet betritt.55
Und nicht nur hier, auch in den anderen Essays findet sich diese pathetische Bildlichkeit, diese »eigentümliche Koincidenz von Tendenz und Schöpfung.«56 Diese ›Koincidenz‹ wäre auch genau nach dem Geschmack der Romantiker, die es schon nicht mehr akzeptieren mochten, dass die Darstellung des Schönen der Poesie vorbehalten sei und die Darstellung des Prosaischen der Prosa. Lebensgeschichtlich fällt diese Essayistik also in eine Phase, in der sich der Kriegsschriftsteller ein neues Konzept von Autorschaft zurechtschneidert. Jüngers 52 53
54
55 56
Jünger, Rivarol, S. 230. Vgl. dazu eingehend Michael Titzmann, Der Strukturwandel der philosophischen Aesthetik 1800–1880. Der Symbolbegriff als Paradigma, München 1978 (Münchener Universitätsschriften, 18). Max Bense, Über den Essay und seine Prosa. In: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, März 1947, 1. Bd., H. 3, S. 414–424, hier S. 415. – Vgl. dazu Gerhard Haas, Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman, Tübingen 1966 (Studien zur Deutschen Literatur, 1), S. 14. Jünger, Die Totale Mobilmachung, S. 141. Bense, Über den Essay und seine Prosa, S. 416. – Vgl. dazu Haas, Studien zur Form des Essays, S. 14.
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eigene ›romantische‹ Phase beginnt, die Karl Heinz Bohrer in seiner bahnbrechenden Studie im Abenteuerlichen Herzen kulminieren lässt – das spätere Werk interessiert ihn nicht mehr. Freilich ist für den heutigen Leser Jüngers, den Leser seines »Kriegstagebuches« etwa, unverkennbar, daß der Autor von Anfang an immer schon beides gewesen ist, Belletrist wie Bellizist, Aphoristiker wie Erzähler. Denn schon das originale Kriegstagebuch, zwischen 1914 und 1918 entstanden, enthält, je weiter es fortschreitet, desto mehr Überlegungen des Autors, wie er seinem Leser sein Material präsentieren könne. Aspekte wie summarisches und repetitives Erzählen, zeitraffendes und zeitdehnendes Berichten, das Ausschmücken und Anreichern (aber auch Weglassen) von Erlebtem und Aufgezeichnetem bestimmen mehr und mehr seine Ausführungen. Und bekanntlich stellt er seinen Kriegs(tage) büchern sehr früh schon einen Roman an die Seite, Sturm, in Fortsetzungen 1923 im Hannoverschen Kurier erschienen, ein »Decamerone des Unterstandes«,57 wie er später formuliert. Fast erübrigt es sich zu sagen, dass diese erste reine Erzählprosa Ernst Jüngers ihren Figuren zahlreiche Reflexionen in den Mund legt, die sich zum Essay entfalten ließen. Reflexionen, die sich aus der existenziellen Lage der drei Erzählerfiguren ergeben. Abschließend: Der Essayismus Ernst Jüngers ist als Selbstreflexion der Moderne, als Medium der Selbstbetrachtung eng mit dem Tagebuch korreliert, das Jünger (fast) zeitlebens geführt hat. Der Essay dient der »Verschränkung« ästhetischer und existenzialistischer Erkenntnisformen, während Jünger mit Wissenschaft im Grunde genommen nichts anfangen kann. Jüngers Essay stellt gleichwohl eine »Mischung von Reflexion und Narration«58 dar, die in Konkurrenz zur Wissenschaft treten möchte, der sie sich überlegen wähnt. Jüngers Essayistik ist »Ausdruck modernen Krisenbewußtseins« und zugleich »Krisensymptom«,59 sie ist Hinwendung zum Ephemeren, ohne dieses Beiläufige freilich als solches, als Nebensächliches, Flüchtiges, Vergängliches zu klassifizieren und zu akzeptieren. Im Gegenteil, bei Jünger hat »das Unsystematische […] geradezu System«,60 und darin weiß er sich in guter, sogar wissenschaftlicher Gesellschaft.
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Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biografie. Mit 44 Abbildungen auf Tafeln, München/Zürich 2007, S. 254 f. Birgit Nübel, Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, Berlin/New York 2006, S. 5. Nübel, Robert Musil, S. 5. Nübel, Robert Musil, S. 10. – Hier wird Siegfried Kracauers Nachruf auf seinen Lehrer Georg Simmel paraphrasiert.
»Waffe im geistigen Raum«. Ernst Jüngers Essayistik
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Lutz Hagestedt
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Stephan Lesker
»Spätherbst eines Äons« Krise und Krisenbewältigung im Werk Ernst Jüngers (mit einem Seitenblick auf Hermann Hesse) In seinem über ein Jahrhundert währenden Leben sah sich Ernst Jünger vor eine Vielzahl weltgeschichtlicher, politischer und auch persönlicher Umwälzungen gestellt. Jünger (Jahrgang 1895) erlebte eine Jahrhundertwende, die Weimarer Republik, eine Weltwirtschaftskrise, zwei Weltkriege, den Beginn und sogar das Ende des Kalten Krieges. Er lebte in einer Zeit, in der die Welt sich neu ordnete, in der die Zukunft ungewiss und das Leben jedes Einzelnen zeitweilig bedroht war. Eine Zeit also, die jeglicher Sicherheit entbehrte. Herman Hesse beschreibt dies anlässlich der Lektüre von Jüngers Buch An der Zeitmauer wie folgt: Wir leben im Spätherbst eines Aeons, in einer untergehenden, sich auflösenden Welt, die für viele zur Hölle, für beinah alle unbehaglich geworden ist und deren Bedrohungen ständig zunehmen.1
Die ersten fünfzig Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts können als Krisenjahre bezeichnet werden. Die vielen Teilkrisen dieser Jahre (Weltkriege, Weltwirtschaftskrise) werden als Symptom einer großen, allumfassenden Misere gesehen. In solch einer Zeit nimmt das Individuum einen Konflikt oft als »Auflösung« der bestehenden Ordnung wahr. Eine Neuordnung ist für den Einzelnen noch nicht erkennbar, woraus dann auch die Notlagen des Individuums entstehen. Die Ordnung, in der es lebt, zerfällt, die Wertsysteme werden aufgehoben bzw. stehen im Widerspruch zueinander. So gilt in Kriegszeiten ein anderes Wertesystem als in Friedenszeiten. Es resultiert ein spürbarer Sicherheitsverlust. Mein Beitrag soll der Frage nachgehen, inwieweit man eine Krisendarstellung in Jüngers Werk als solche thematisiert findet. Insbesondere soll beleuchtet werden, wie diese Krise dargestellt wird. Auch der Weg aus der Krise soll skizziert werden. Es ergeben sich einige Topoi, die nicht nur für Jüngers Werk charakteristisch sind, sondern sich auch in Texten anderer Schriftsteller finden lassen, wie ein Blick in zwei Texte Hermann Hesses zeigen soll. Zunächst wird jedoch ein Modell benötigt, das darlegt, was überhaupt unter einer Krise verstanden werden soll, welche Eigenheiten sie hat, woraus sie entspringt und in welchen Facetten sie auftreten kann. Dieses Modell hat Martin Lindner in seiner Dissertation Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne entwickelt. Der Darlegung dieses 1
Hermann Hesse, Nach der Lektüre des Buches »An der Zeitmauer«. In: Über Ernst Jünger, hg. von Hubert Arbogast, Stuttgart 1995, S. 73–79, hier S. 73, Hervorh. S. L.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-011
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Modells widmen sich die anschließenden Ausführungen. Abschließend wird ein exemplarisches Beispiel der Krisenbewältigung skizziert. Helmut Lethens Buch Verhaltenslehren der Kälte beschreibt eine Möglichkeit, das Leben in der Krise zu bewältigen. Anhand dieses Theoriekonstrukts können dann die entsprechenden Werke analysiert werden.
Krise als Ausdruck der Dichotomie von leiblichem und mentalem Pol Lindner versteht unter Lebensideologie (im Folgenden LI) eine Weltanschauung, die für die ›synthetische Moderne‹ (die Zeit zwischen 1890 und 1955) charakteristisch war. Leben wird hier als eine Art Polarität aufgefasst. Der Mensch lebt in einer jeweils individuellen unbeweglichen Oberflächenform. Die Welt des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts in Europa war beispielsweise durch die Aufteilung der Gesellschaft in Klassen geordnet. Sie gliederte sich ähnlich wie heute in Staaten und Länder mit jeweils verschiedenen Verfassungen und Gesetzgebungen. Diesen starren Formen widerstrebt nach Verständnis der LI die dynamische Ganzheit des Lebens.2 Eine Krise entsteht folglich immer dann, wenn die alte Form die dynamische Ganzheit des Lebens in ihrem Lauf behindert. Die alten Formen werden zerstört, und die neuen Formen sind noch nicht zu erkennen.3 Kriege wären demnach ein beinahe prototypisches Beispiel für eine große überindividuelle Krise. So zerstörte beispielsweise der Erste Weltkrieg die bis zu seinem Ende bestehenden Formen. Aber nicht nur, dass die bisherige Ordnung zerstört wurde, auch die neuen Formen waren nicht auf Anhieb zu erkennen. Und so auch nach dem Zweiten Weltkrieg: Das Gebiet des ehemaligen »Dritten Reiches« wurde zunächst in vier Besatzungszonen aufgeteilt, bevor es möglich war, aus diesem Provisorium neue Formen (nämlich zwei neue deutsche Staaten) zu erschaffen, die ihrerseits nur Provisorien waren. Das Leben ist also durch Dichotomien entgegengesetzter Pole gekennzeichnet. Das Denkmodell der LI ließe sich in einer Raumstruktur zusammenfassen, in der es eine Oberfläche (eine äußere Form) und eine Tiefenstruktur (innere Dynamik, Inhalt) gibt, die beide allerdings durch eine Grenze getrennt sind.4 Eine Krise ist nun genau der Punkt, der eine Bruchstelle darstellt, an der Form und Inhalt divergieren.5 Diese Krise muss sich jedoch nicht immer in großen gesellschaftlichen Umbrüchen manifestieren. Jeder Mensch kann auch ohne solche Umwälzungen in eine individuelle Lebenskrise geraten. Die Opposition zwischen Oberfläche und Tiefenstruktur kann hier mit Leben vs. Geist überschrieben werden, wobei der Status 2
3 4 5
Vgl. Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart/Weimar 1994, S. 5. Vgl. Lindner, Leben in der Krise, S. 5. Vgl. Lindner, Leben in der Krise, S. 7. Vgl. Lindner, Leben in der Krise, S. 10.
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des Geistes innerhalb der LI umstritten ist. Die sogenannte radikale LI hält die Opposition zwischen Geist und Leben für unaufhebbar, da sie die Existenz eines vom Leben getrennten Geistes leugnet. Das vitale Leben wird hier grundsätzlich am höchsten bewertet. Die gemäßigte LI hingegen definiert den Geist als Zähmer der ursprünglichen Vitalenergien.6 Unabhängig davon bleibt die Definition einer Krise unverändert, denn ein Widerspruch beider Pole wird von keiner LI-Strömung infrage gestellt. Ein Beispiel für eine überindividuelle Krise (die allerdings auch individuelle Krisen zeitigt) ist eben bereits angesprochen worden. Für die individuelle Krise, die sich auch ohne überindividuelle Krise manifestiert, nennt Lindner zwei verschiedene Arten. Sie entsteht dann, wenn entweder ein Gegensatz zwischen der Person und ihrer sozialen Rolle vorliegt oder ein Gegensatz zwischen realisiertem und unbewusstem Potenzial der Person vorhanden ist. Für beide Arten lassen sich in der Literatur (auch epochenübergreifend) Beispiele finden. Einen Gegensatz zwischen Person und sozialer Rolle könnte man etwa in Fjodor Dostojewskis Der Idiot finden. Fürst Myschkin ist ein Mann von hohem Stand, jedoch lässt seine gesundheitliche Konstitution es nicht zu, dass er von allen auch diesem Stande gemäß behandelt wird. Ein Gegensatz zwischen realisiertem und unbewusst vorhandenem Potenzial liegt am Beginn von E.T.A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr vor. Der Kater entdeckt seine Begabung für das geschriebene Wort. Die Ausübung und Pflege dieser Begabung durch intensive Klassikerlektüre und eigenpfotige Schreibarbeit wird ihm allerdings zunächst von seinem »Herrchen«, dem Meister Abraham, versagt, worauf Murr dazu gezwungen ist, diese Begabung fortan im Geheimen auszuüben.7 Was hier unter einer Krise verstanden werden soll, lässt sich wie folgt definieren: Es handelt sich um eine Art Grenzerfahrung. An dieser Grenze driften der leibliche (vitale) und mentale (geistige) Lebenspol bzw. die Oberfläche und die Tiefenstruktur des Lebens auseinander. Eine Krise wird immer individuell empfunden, muss sich aber nicht zwangsläufig überindividuell ereignen. Was noch zu untersuchen bleibt, ist zum einen die Art und Weise, wie eine Krise vom Individuum empfunden werden kann. Zum anderen soll auch noch einen Blick auf die LI-Geschichtsphilosophie geworfen werden, und auch die Entdeckung des Unbewussten ist für den Krisenbegriff nicht unerheblich. Die Krise kann als Katharsis empfunden werden, als eine Art reinigendes Gewitter also, nach dem der Widerstreit zwischen leiblichem und mentalem Pol seinen Höhepunkt und sein Ende findet. Sie kann aber auch einen Punkt darstellen, an dem sich das Individuum zwischen zwei Extremen (im äußersten Fall Leben und Tod) entscheiden muss. Der Höhepunkt einer Krankheit kann ebenfalls als Krise 6 7
Vgl. Lindner, Leben in der Krise, S. 23. Vgl. E.T.A. Hoffmann, Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern, Stuttgart 2000, S. 35.
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verstanden werden. In diesem Fall würde die Überwindung des Scheitelpunkts den Beginn der Rekonvaleszenz darstellen. In dem Moment, in welchem eine Krise virulent wird, wird Euphorie empfunden.8 Eine Krise ist zwar eine Ausnahmesituation, aber selten ist eine solche Erfahrung nicht. Vielmehr sieht die LI das Leben als Prozess, der »diskontinuierlich, in durch Katastrophen (›Krisen‹) geschiedene Phasen« verläuft.9 Dies führt dazu, dass Brüche im Leben durchaus als notwendig und heilsbringend und nicht als gefährlich und schädlich angesehen werden können. Die Entdeckung des Unbewussten spielte beim Krisenverständnis der LI eine nicht unbedeutende Rolle, denn dadurch rückte die Möglichkeit psychisch bedingter Krisen, im Speziellen von Selbstfindungskrisen, stärker in den Fokus. In den beiden oben erwähnten Arten individueller Krisen (Individuum vs. soziale Rolle und abgerufenes vs. vorhandenes Potential) bestanden die Spannungen immer zwischen dem Individuum und der außerhalb des Individuums liegenden Welt. Die Begriffsdefinition des Unbewussten ermöglichte jedoch die Einsicht, dass eine Polarität auch innerhalb der Person bestehen kann, nämlich zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Die Krise bezeichnet hier folglich das Aufbrechen von inneren Spannungen. Am Ende einer psychischen Krise steht zumeist die Herausbildung einer neuen Identität – Resultat einer Reihe beinahe mystischer Erfahrungen, die einen emphatischen Tod, die Erfahrung der Einheit mit dem überindividuellen Leben und die Verarbeitung dieser Erfahrung in einer Selbsterkenntnis beinhalten.10 Ein Wort noch über überindividuelle Krisen: Eine solche über dem Individuum stattfindende Krise, also die Zerstörung der Formen, spielt in der LI- Geschichtsphilosophie eine zentrale Rolle. Die Geschichte bzw. das Weltgeschehen wird hier als eine Art Strom betrachtet, der unterhalb der Formenwelt – für den Menschen nur schwer erschließbar – fließt. Immer, wenn dieser Strom durch die Formen gehemmt wird, zerstört er diese und stellt neue her.11 Dies ist laut LI-Geschichtsphilosophie bei Epochenumbrüchen der Fall. Es besteht also ein Widerspruch zwischen der Oberflächenstruktur der Welt, in der der Mensch lebt, und einer Tiefenstruktur. Was in der Tiefe passiert, ist für den Menschen nur schwer ersichtlich.12 Die Krise ist nur ein Übergangszustand, an dessen Horizont bereits die neuen Formen aufscheinen. Diese Zerstörung der Formen durch den Strom des Weltgeschehens wiederholt sich, und demzufolge verlaufen Krisen und Epochenumbrüche immer ähnlich und enden mit demselben Resultat, nämlich der Herstellung neuer Formen.13 8 9 10 11 12
13
Zu den dargelegten Manifestationen der Krise vgl. Lindner, Leben in der Krise, S. 11. Lindner, Leben in der Krise, S. 6. Vgl. Lindner, Leben in der Krise, S. 31. Vgl. Lindner, Leben in der Krise, S. 54. Vgl. Michael Titzmann, ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹. In: ders.: Realismus und Frühe Moderne. Beispielinterpretationen und Systematisierungsversuche, hg. von Lutz Hagestedt, München 2009, S. 275–307, hier S. 280. Vgl. Lindner, Leben in der Krise, S. 56.
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Zur besseren Übersicht sei das hier zugrundeliegende Krisenmodell noch einmal zusammengefasst: Eine Krise ist immer ein Ausdruck eines Gegensatzes zweier Pole. Diese Polarität äußert sich auf dreierlei Weise. Es kann sich um eine Spannung zwischen Oberflächenformen und dynamischer Tiefenstruktur des Lebens handeln. Wir können es aber auch mit einer Opposition des Individuums mit der Gesellschaft, in der es lebt, zu tun haben oder gar mit einem Widerspruch zwischen Bewusstem und Unbewusstem eines einzigen Individuums. Es kann also zwischen drei Krisenarten unterschieden werden: Einer überindividuellen, einer individuellen, die außerhalb des Individuums begründet liegt, und einer individuellen, die ihre Ursachen in der Psyche des Individuums hat. Letztere können wir deshalb auch als psychische Krise bezeichnen. Das Resultat eines Konflikts ist immer eine neue Form, sei es im ersten Fall eine neue Gesellschaftsordnung, im zweiten Fall eine neue Rolle des Individuums in der Gesellschaft oder im dritten Fall eine neue Persönlichkeitskonstitution des Individuums – die auch der Tod darstellen kann.
Krisenbewältigung mittels Verhaltenslehren? »Wenn […] die Horizonte der Orientierung einstürzen und der Bewegungsraum des Menschen unter extrem agonaler Spannung steht, schlägt die Stunde der Verhaltensregeln.«14 So formuliert es Helmut Lethen in seinem Buch Verhaltenslehren der Kälte. Die hervorgehobenen Passagen geben genau das Verständnis der Krise wieder, wie es oben erläutert wurde. Der Verlust der Formen (einstürzende Orientierungshorizonte) und das Widerstreiten zweier oder mehrerer Wertesysteme (extrem agonale Spannung) führen zum Verlust von Sicherheit. Der Mensch benötigt nunmehr eine Anleitung, um die Krise zu überwinden. Verhaltenslehren sind mögliche Formen solcher Anleitung. Eine Krise ist durch den Verlust der äußeren (gesellschaftliche Formen) und/ oder der inneren (psychische Formen) Kontrollinstanzen gekennzeichnet. Die Aufgabe von Verhaltenslehren ist es nun, diesen Verlust auszugleichen, indem sie »als schriftliches Gehäuse externer Direktiven, Handel und Wandel der Einzelnen« anleiten.15 Es gibt hierbei keine spezifische Form von Verhaltenslehre. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass Verhaltenslehren in Krisenzeiten vermehrt auftreten und bspw. aus der Ratgeberliteratur, philosophischen Denksystemen, Katechismen u.v.m. zu entnehmen sind. Sie haben die Aufgabe, in unübersichtlichen Zeiten eine Orientierungshilfe zu sein, indem sie helfen, Elementares zu unterscheiden. Durch sie soll eine Vermengung der Räume bzw. der Wertesysteme verhindert werden. Innen und Außen, Männliches und Weibliches sollen so auch in Zeiten großer 14
15
Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994 (edition suhrkamp 1884), S. 64, Hervorh. – S. L. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, S. 36.
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Unsicherheit unterscheidbar bleiben. Der Mensch, der durch den Verlust der Formen und der Sicherheit quasi schutzlos ist, erfährt durch Verhaltenslehren wieder Sicherheit, da sie ihm sagen, wie er handeln soll. Das Individuum, das Gefahr läuft, in der Welt nicht mehr zu funktionieren, wird durch solche Maßgaben auf dieses Funktionieren hin trainiert.16 Verhaltenslehren bilden also eine Art Anker, der dem Individuum in Zeiten großer Unsicherheit Halt gibt. Ein konkretes Beispiel für eine Verhaltenslehre stellt das Handorakel von Gracian aus dem 17. Jahrhundert dar. Die dort aufgestellten Verhaltensnormen feierten in den 20er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine Renaissance, da einige von ihnen mit Verhaltensregeln der Distanz, die um 1920 in Umlauf waren, übereinstimmten. Es seien hier zwei Maßgaben Gracians herausgegriffen. Die eine lautet, man solle »nie die Fassung verlieren«, die andere, dass man sich »nie beklagen« solle.17 Diese Regeln führen im Idealfall zu einer Mäßigung der Affekte und zum Schutz gegen äußere Einflüsse. Sie panzern das Individuum gegen widrige Umstände, was wiederum zu einer sachlichen und distanzierten Haltung, ja beinahe zu einer Art Maskenhaftigkeit des Individuums im öffentlichen Raum führt.18 Beide zusammen legen also eine Sachlichkeit des Verhaltens nahe, was auch der Grund ist, warum sie in den 1920er Jahren wieder auflebten. Das mit Gracians Verhaltenslehren gewappnete Individuum kann als »persona« bezeichnet werden. Einem Nachfolger einer solchen persona werden wir in Ernst Jüngers Arbeiter begegnen.
Der Tod als »mahnender Pförtner« – Die Grenzerfahrung des Krieges in den Kriegstagebüchern Ernst Jüngers Im Ersten Weltkrieg entstand eine große Menge an Literatur, die sich mit dem Erlebnis des Krieges auseinandersetzte. Es bildeten sich eigene Genres heraus, zum Beispiel Offiziersmemoiren, die eine hohe Authentizität der Darstellung des Kriegserlebnisses versprachen. Der künstlerische Anspruch spielte dabei eine sekundäre Rolle. Im Vordergrund stand die Darstellung des Kriegserlebnisses aus dem persönlichen Augenschein oder aus der herausgehobenen politisch-militärischen Verantwortung heraus.19 Die Publikation der Kriegstagebücher von Soldaten oder Offizieren diente eigener Exkulpation. Das Erlebte sollte für die Nachwelt bewahrt werden.20 16 17 18 19
20
Vgl. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Vgl. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, S. 55/56. Vgl. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, S. 57. Vgl. Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman in der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 13. Vgl. Müller, Der Krieg und die Schriftsteller, S. 15.
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Jünger hingegen beschreibt die Krisenhaftigkeit des Kriegserlebnisses als neues Normensystem, er erschloss es literarisch und in seinen Auswirkungen auf die individuelle Person, dargestellt anhand der Somme-Schlacht. Die Stahlgewitter wurden von Jünger immer wieder überarbeitet. Insgesamt liegen sie in sieben verschiedenen Fassungen vor, wobei die Ausgabe letzter Hand aus dem Jahr 1978 datiert.21 Hinzu kommt, dass die Stahlgewitter kein eigentliches Kriegstagebuch darstellen, sondern von Jünger narrativ aufbereitet wurden.22 Das bedeutet, dass auch die Authentizität der Schilderung des Kriegserlebnisses infrage steht. Als Vergleichstext ziehe ich daher die von Helmuth Kiesel herausgegebenen Originaltagebücher zu Rate und setze sie zur Fassung der Werkausgabe in Beziehung. Der Krieg stellt ein neues Wertesystem dar. Der Eintritt des Kriegsfalles suspendiert die Werte und Normen der Friedenszeit. Mit der Meldung zum Kriegsdienst manifestiert sich bereits ein neues Wertesystem. Am Beginn der Stahlgewitter liegt die Grenzüberschreitung bereits hinter dem Protagonisten. Das neue System wird mit Begeisterung begrüßt. Das Herkunftssystem des Friedens und dessen Werte scheinen vergessen: Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren […] zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch […]. Der Krieg musste es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche […]. Ach, nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen.23
Ein Bruch mit dem alten Wertesystem wird deutlich. Das »Zeitalter der Sicherheit«, wie es Jünger nennt, war reizlos geworden, und der Krieg galt als willkommene Abwechslung, die das ersehnte »Große, Starke, Feierliche« bringen sollte. Diese Kriegsbegeisterung findet sich, wenn auch in abgeschwächter Form, im Kriegstagebuch wieder. Dort heißt es im schönsten Landserdeutsch: »Stimmung war fidel. Die Gegend bekommt kriegsmäßiges Aussehn.«24 Die Initiationserlebnisse jedoch, die Jünger aus dem Friedenssystem in das Kriegssystem einführen, stehen ihm erst noch bevor.25 Sein erster Initiationsritus, der ihn mit dem neuen Normensystem vertraut macht, hinterlässt bleibenden Eindruck. Er wird sich bewusst, dass er nun in immerwährender Gegenwart des Todes steht und ihm der »Tod als mahnender Pförtner« zu einem dauernden Begleiter wird. (S 14) Dennoch zeigt er sich zunächst relativ unbeeindruckt: »Im allgemeinen ist mir der Krieg schrecklicher vorgekommen, wie er wirklich ist.«26 Das neue Wertesystem wird begrüßt und löst 21 22 23
24 25 26
Vgl. Steffen Martus, Ernst Jünger, Stuttgart 2001 (Sammlung Metzler 333), S. 21. Vgl. Martus, Ernst Jünger, S. 17. Ernst Jünger, In Stahlgewittern. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 1: In Stahlgewittern, Stuttgart 1978, S. 11. (Im Weiteren: S). Ernst Jünger, Kriegstagebuch 1914–1918, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010, S. 7. Vgl. Martus, Ernst Jünger, S. 24. Jünger, Kriegstagebuch 1914–1918, S. 9/10.
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noch keine Missstimmung aus, selbst wenn bereits erste Schrecknisse durchlebt wurden. Jünger spricht von einer »klotzigen« Gleichgültigkeit dem Tode gegenüber27 und davon, dass »zum Angsthaben zu wenig Zeit« bleibe.28 Zumal der Krieg aus monotonem Alltagsgeschäft besteht, das sich vor allem auf Schlachtvorbereitungen erstreckt. Zudem schuf die neue Kriegstechnik mit ihren modernen Waffen neue Umstände, sodass ein Zweikampf nach altem Muster kaum zustande kam. Dieser Maschinerie war der Einzelne in der Regel schutzlos ausgeliefert.29 Die zwei Systeme, die für Jünger im Widerstreit stehen, sind also nicht das System »Frieden« und das System »Krieg«; der Konflikt liegt vielmehr zwischen den Erwartungen, die Jünger bei Kriegseintritt mitgebracht hatte, und den tatsächlichen Gegebenheiten an der Front. Hieraus erwächst die Krise, für die Jünger einige Bewältigungsstrategien entwickelt. Zunächst versucht er, seine Heroismuskonzeption zu bewahren. Der einzelne Frontkämpfer könne immer noch als Held zählen, wenn er der gesichtslosen Macht der schweren Artillerie Kampfeslust entgegensetze. Auf diese Weise könne der Soldat vom passiven Objekt (zu dem ihn die schwere Artillerie macht) wieder zum handelnden Subjekt werden.30 Prominent könne nur der kämpfende Frontoffizier Heroentum erlangen.31 Für den Widerspruch von Vorstellung und Wirklichkeit entwickelt Jünger also eine Bewältigungsstrategie. In der Somme-Schlacht erlebt Jünger eine Situation, die für ihn selbst während des Krieges Ausnahmecharakter hat: »Zum ersten Mal sah ich hier ein Feuer, das nur einem Naturschauspiel zu vergleichen war.« (S 85) Die Kraft der feindlichen Artillerie ist so überwältigend, dass es den Anschein hat, als würde sie ein Feuer entfachen, welches sonst nur eine Naturgewalt auslösen könnte. Auch der erste Kontakt mit Giftgas entsprich nicht dem, was die Ausbilder lehrten: »Das alles entsprach sehr wenig dem ›Unterricht über Gasangriffe‹, den ich selbst oft genug abgehalten hatte.« (S 86) Eine Situation, auf die Jünger glaubt, bestens vorbereitet zu sein, stellt sich im Kampfgeschehen nun völlig anders dar. Doch Jünger entwickelt auch hierfür eine Bewältigungsstrategie: Im Schlendern sah ich mir die kleinen Tiere an, die, durch das Chlor getötet, reichlich auf der Grabensohle lagen, und dachte dabei: »Gleich muss das Sperrfeuer wieder einsetzen, und wenn du so weiter bummelst, dann sitzt du hier ohne Deckung wie die Maus in der Falle.« Trotzdem gab ich mich meinem unverbesserlichen Phlegma [Hervorh. – S. L.] hin. (S 87) 27 28 29
30 31
Vgl. Jünger, Kriegstagebuch 1914–1918, S. 48. Jünger, Kriegstagebuch 1914–1918, S. 143. Vgl. Wilhelm Krull, Im Foyer des Todes. Zu Ernst Jüngers »In Stahlgewittern« und anderen Texten über den Ersten Weltkrieg. In: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Ernst Jünger (Nr. 105/106), hg. von Heinz Ludwig Arnold, München Januar 1990, S. 27–35, hier S. 29. Vgl. Krull, Im Foyer des Todes. Vgl. Müller, Der Krieg und die Schriftsteller, S. 226.
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Während einer gigantischen Kampfhandlung, in der allgemeines Durcheinander herrscht, bewahrt Jünger seinen Gleichmut dadurch, dass er seine persönliche innere Ruhe durch Fokussierung auf Details (hier: kleine tote Tiere) wiederherstellt. Auf diese Weise, und obwohl Jünger selbst sich dieser Gefahr bewusst ist, kann er sich zumindest einen Teilüberblick über die Situation verschaffen: Selbst das Regiment und die Division weiß noch nicht einmal, wo wir eigentlich liegen wie die Front verläuft. Auch die Engländer wissen nicht wo wir liegen, wir nicht, wo die Engländer liegen, obwohl wir anscheinend oft nur 20 m weit voneinander liegen.32
Indem sich die Somme-Schlacht der Perspektive des Einzelnen entzieht, steht sie stellvertretend für den ganzen Krieg, dessen Ordnungen und Werte der Beurteilung und dem Verständnis bereits entzogen sind.33 Dennoch versucht Jünger, sich das System des Krieges zu erschließen. Dies geschieht durch den Einsatz von Metaphern und Vergleichen. Zur Krisenbewältigung scheint diese Strategie besonders geeignet, da durch sie ein unbekannter Komplex erschlossen werden kann. Sie ermöglicht das Verständlichmachen unbekannter Konzepte mithilfe bekannter Begrifflichkeit.34 Schon der Titel des Buches ist eine Metapher, die das unbekannte System »Krieg« mithilfe bekannter Begriffe aus Natur und Industrie erschließbar machen soll. Der Krieg wird mit einem Neologismus aus Gewitter und Stahl charakterisiert und somit auch für Menschen, die das Kriegserlebnis nicht geteilt haben, in Ansätzen verstehbar. Diese Charakterisierung des Krieges als Maschinen- und Naturgewalt setzt sich durch das ganze Buch hindurch fort. Eine Schlacht wird mit einem »Ausbruch der Elemente« (S 103) verglichen, das Artilleriefeuer »brandete« (S 102) oder wird mit dem Begriff »Funkenregen« (S 110) umschrieben, ein Gegenangriff »stürmte«, woraufhin ein »furchtbares Gewitter« losbrach. (S 111) Diese Figuren, deren Ursprungsbereich Naturkatastrophen sind, helfen, die Mechanik des Krieges fassbar zu machen, indem sie auf geläufige Bildquellen zurückgreifen. Außerdem findet Jünger für die Unübersichtlichkeit einzelner Schlachten sowie für den Krieg im Allgemeinen eine Bewältigungsstrategie, indem er versucht, in Zeiten des größten Durcheinanders durch die Bewahrung seines Phlegmas den Überblick zu behalten und das fremde System des Krieges mit Metaphern und/oder Vergleichen zu erklären, die den Lebenserfahrungen des Einzelnen geläufiger sind.35 Indem man sich einen Zugang verschafft, wird der Krieg fassbar und es besteht somit die Gefahr, ihm zu erliegen: 32 33 34 35
Jünger, Kriegstagebuch 1914–1918, S. 176. Vgl. Paul Noack, Ernst Jünger. Eine Biographie, Berlin 1998, S. 37. Vgl. George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors we live by, Chicago 1980, S. 61. Harald Weinrich konnte belegen, dass dies eine bewährte Strategie ist. Vgl. ders.: Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld. In: Romanica. Festschrift für Gerhard Rohlfs, hg. von Heinrich Lausberg und Harald Weinrich, Halle (Saale) 1958, S. 508–521.
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Da erblickte ich den ersten Feind. Eine Gestalt in brauner Uniform, anscheinend verwundet, kauerte zwanzig Schritt voraus in der Mitte der zertrommelten Mulde. […] Es war eine Erlösung, den Widersacher endlich greifbar zu sehen. Ich setzte die Mündung [der Pistole – S. L.] an die Schläfe des vor Angst Gelähmten […]. Ein Offizier; er mußte in diesen Gräben kommandiert haben. Mit einem Klagelaut griff er in seine Tasche, aber er zog keine Waffe, sondern ein Lichtbild aus ihr hervor, das er mir vor die Augen hielt. Ich sah ihn darauf, von einer vielköpfigen Familie umgeben, auf einer Terrasse stehen. Das war eine Beschwörung aus einer versunkenen, unglaublich fernen Welt [Hervorh. – S. L.]. Ich habe es später als großes Glück betrachtet, daß ich ihn losließ und weiter vorstürzte. (S 243/244)
In den Originaltagebüchern heißt es an gleicher Stelle: Ein Engländer kauerte verwundet mitten in dem zertrommelten Hohlweg. Die Pistole hebend ging ich auf ihn zu, da hielt er mir flehend eine Karte entgegen. Ich erblickte ein[e] Photografie, auf der eine Frau und mindestens ein halbes Dutzend Kinder waren. Ich freue mich jetzt doch, daß ich meine irrsinnige Wut bezwang und an ihm vorüberschritt.36
Hier lässt sich erkennen, dass die Abstumpfung schon sehr weit fortgeschritten sein muss, denn die Situation, die das Foto des Offiziers zeigt, scheint für Jünger schon sehr entrückt zu sein. Man sieht aber genauso, dass Gracians Maßgaben zur inneren und äußeren Panzerung des Subjektes nicht vollständig greifen. Die Tötung oder zumindest die Gefangennahme des feindlichen Offiziers wäre im Wertesystem des Krieges sanktionslos geblieben und sogar die erwartete Handlung gewesen. Im ersten Zitat wird der Pistolenlauf sogar schon an die Schläfe des Engländers gehalten. Dennoch bleibt der Offizier verschont, was als Aufleben von Friedenswerten verstanden werden kann. Gleichwohl geht der Protagonist nicht soweit, dem Verwundeten beizustehen oder ihm Linderung zu verschaffen. Was in der Krise entsteht, ist eine Irritation der Werte, was von ihr bleibt, ist die Zerstörung, die der Krieg anrichtet. Ihr muss ein Sinn zugeschrieben werden, um die vom Krieg ausgelöste Krise zu bewältigen. Der Status, den Jünger während des Zweiten Weltkrieges hat, ist ein anderer, als im Ersten Weltkrieg. Er ist kein Frontkämpfer mehr und erlebt daher nur noch selten Kampfhandlungen. Jünger gelangt nach Paris und wird dort »offiziell mit der Briefzensur beauftragt.«37 In der französischen Hauptstadt spielt auch die im Folgenden zu betrachtende Szene: Alarme, Überfliegungen. Vom Dache des »Raphael« sah ich zweimal in Richtung SaintGermain gewaltige Sprengwolken aufsteigen […]. Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit gleich einem 36 37
Jünger, Kriegstagebuch 1914–1918, S. 379. Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 498.
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Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.38
Hier richtet sich der Blick auf die Zerstörung der Formen: Paris wird von Flugzeugen bombardiert. Jüngers Optik aber erkennt mehr. Er sieht eine »erhöhte Macht«, die hinter dieser Zerstörung waltet. Die Wahrnehmung dieser Macht deutet auf eine weitere Krisenbewältigungsstrategie. Der Vernichtung durch den Krieg wird ein Sinn eingeschrieben, der in einer höheren Ordnung besteht. Die Destruktion der Formen muss nicht das Nichts zur Folge haben, sondern birgt die Entstehung neuer Formen in sich. Was Jünger erkennt, ist die Elementarkraft, die hinter allem wirkt. Indem Jünger die höhere Macht, die hinter aller Zerstörung steht, wahrnimmt, spekuliert er auf eine neue Ordnung. Somit würde er die Krise überwinden, sobald er die neuen Formen erkennt. Wir werden noch sehen, dass Jünger schon nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Ordnung im Typus des Arbeiters erblickt hat und nach dem Zweiten Weltkrieg im Typus des Waldgängers versucht, eine solche Ordnung zu entwickeln. Angesichts der Zerstörung steht Jünger mit einem Glas Burgunder auf dem Dach und hat noch einen Blick für die Schönheit des »Schauspiels«. Nicht zuletzt ist die Strategie der paradoxalen Sinnzuschreibung an die Zerstörung zu nennen. Die Gewissheit einer höheren Macht und die Hoffnung auf neue Formen werden in dem Zitat deutlich. Noch klarer wird dies allerdings, wenn man die nachfolgende Passage betrachtet, in der Jünger seine Lektüre der Johannesoffenbarung abschließt. Sie bildet den Hintergrund für die vorangegangenen Szenen. In der Offenbarung ist ebenfalls vom Weltende, also der Zerstörung der Formen, die Rede. Aber auch dort wird eine neue Ordnung in Aussicht gestellt: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der alte Himmel und die erste Erde sind vergangen.«39
Die Furcht, keine Antwort zu finden – Der stereoskopische Blick als Weg aus der Krise? – Das Abenteuerliche Herz In der Zerstörung der Pariser Seine-Brücken nahm Jünger eine höhere Macht und somit einen höheren Sinn wahr. Diese Besonderheit seiner Wahrnehmung soll nun genauer betrachtet werden. Zur Erinnerung sei gesagt, dass eine Zerstörung der bestehenden Formen krisenhafte Auswirkungen zeitigt, besonders dann, wenn noch keine neue Ordnung sichtbar ist, die Verheerung also als sinnlos erscheint. Auf die Vernichtung der bekannten Formen muss eine Antwort gefunden werden. Die Furcht vor der Formenlosigkeit ist zu überwinden. Dies versucht Ernst Jünger in Das Abenteuerliche Herz. 38
39
Ernst Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 3: Strahlungen I, Stuttgart 1978, S. 271. Offenbarung 21/1.
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Ähnlich wie bei den Tagebüchern aus dem Ersten Weltkrieg, ergibt sich auch hier das Problem der Fassungen, weswegen wir sowohl die erste Fassung von 1929 als auch die Figuren und Capriccios von 1938 berücksichtigen wollen. In der zweiten Fassung fehlen bspw. Bezüge zum Krieg, und die erste Fassung ist nur etwa zu einem Drittel unverändert übernommen.40 Was uns hier jedoch interessieren soll, ist in beiden Fassungen enthalten. Der Pariser Luftangriff ist in seiner Wahrnehmungsqualität ein Resultat dessen, was Jünger im Abenteuerlichen Herzen entwirft und unter dem Terminus Stereoskopie zusammenfasst: Stereoskopisch wahrnehmen heißt also, ein und demselben Gegenstande gleichzeitig zwei Sinnesqualitäten abgewinnen, und zwar – dies ist das Wesentliche – durch ein einziges Sinnesorgan. Dies ist nur auf die Weise möglich, daß hierbei ein Sinn außer seiner eigenen Funktion noch die eines anderen übernimmt.41
Statt von einem »Gegenstand«, dem man zwei Sinnesqualitäten zuordnen muss, wird in der zweiten Fassung von einem »Tone« gesprochen.42 Die Stereoskopie ist zunächst eine Form der doppelten sinnlichen Wahrnehmung. So werde mit dem Zimtgeruch zugleich auch der Geschmack des Zimtgewürzes mit aufgenommen.43 Ein paar Seiten später erweitert Jünger die Stereoskopie jedoch um einen Aspekt. Die geistige Stereoskopie erstreckt sich nicht auf Sinneseindrücke, sondern vielmehr auf mentale Fähigkeiten. Die Sprache eines Dichters erzeugt im Leser gleichzeitig den Eindruck von Wörtern und Bildern. Der Sinn, mit dem wir wahrnehmen, spaltet sich und wird mit einer neuen Qualität ausgestattet.44 Dies alles erklärt jedoch noch nicht, auf welche Weise es Jünger möglich ist, hinter der Zerstörung von Paris eine wirkende höhere Macht zu erkennen und somit diesem sinnlosen Vorgang doch einen Sinn zuzuschreiben. Wie dies möglich sein kann, erklärt eine Passage aus der zweiten Fassung. Jede stereoskopische Wahrnehmung ruft in uns ein Gefühl des Schwindels hervor, indem wir einen sinnlichen Eindruck, der sich uns zunächst in seiner Fläche bot, in der Tiefe auskosten. Zwischen dem Erstaunen und dem Entzücken liegt, wie von einem köstlichen Sturz, eine Erschütterung, in der sich zugleich eine Bestätigung verbirgt – wir fühlen, wie das sinnliche Spiel sich als ein geheimnisvoller Schleier, als ein Vorhang des Wunderbaren leise bewegt.45 40 41
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Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S. 452. Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Das abenteuerliche Herz, Stuttgart 1979, S. 83. Vgl. Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Figuren und Capriccios. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Das abenteuerliche Herz, Stuttgart 1979, S. 197. Vgl. Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung, S. 83/84. Vgl. Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung, S. 86. Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung, S. 199, Hervorh. – S. L.
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Die Welt der Formen wird immer als starre Fläche wahrgenommen. Der stereoskopische Blick ermöglicht die Wahrnehmung einer dynamischen Ganzheit des Lebens in der Tiefe. Die Zerstörung von Paris, die Jünger wahrnimmt, kann so als »sinnliches Spiel« entlarvt werden, das lediglich als »Vorhang des Wunderbaren« dient. Die »Erschütterung« der Kriegszerstörung wird auf diese Weise gleichzeitig als »Bestätigung« empfunden. Beim stereoskopischen Wahrnehmen handelt es sich also um eine Reflexionsform, die dabei helfen kann, scheinbar sinnlosen Vorgängen einen höheren, nicht sofort sichtbaren Sinn zuzuschreiben. Blick, Empfindung, Folgerung ermöglichen eine Sinnzuschreibung, wie sie Jünger für seine Kriegserfahrung gesucht hat. Die Zerstörungen und Katastrophen stellen für Jünger gleichzeitig eine Möglichkeit zur Höherentwicklung dar.46 Aus der Destruktion der Formen können neuere und bessere Formen resultieren.47 Das stereoskopische Sehen hat für die Krisenbewältigung jedoch einen entscheidenden Nachteil. Es handelt sich zwar, wie Helmuth Kiesel schreibt, um eine besondere Art der Objektivität, die es ermöglicht, die Formenwelt und die unter ihr liegenden Elementarkräfte gleichzeitig wahrzunehmen. Was man dazu allerdings benötigt, ist eine gewisse Distanz, die eine Art Überblick erlaubt.48 Freilich hat Jünger diese ästhetische Distanz seiner Darstellung ja geradezu eingeschrieben. Auch der Mann im Mond, wie ihn Jünger in einem seiner Texte aus der Zwischenkriegszeit entwirft, wäre zu einem stereoskopischen Blick fähig: Aber von dir aus, der du bereits ein kosmisches Wesen und doch noch ein Teil der Erde bist, wird das alles in seiner Ruhe wahrgenommen […]. O immer wieder wunderbares Schauspiel, wie aus der Verschiedenheit, aus der Feindschaft der Zeiten und Räume Bildung um Bildung erwächst! Dies ist es, was ich die tiefere Brüderlichkeit des Lebens nenne, in die jede Feindschaft einbezogen ist. Uns hier unten aber ist es selten vergönnt, den Zweck dem Sinne eingeschmolzen zu sehen. Und doch gilt unser höchstes Bestreben jenem stereoskopischen Blick, der die Dinge in ihrer geheimeren, ruhenderen Körperlichkeit erfasst.49
Für »uns hier unten« ist der stereoskopische Blick also nur schwer zu erreichen, da uns Distanz und Überblick fehlen. Wir müssen also nach anderen Wegen zur Krisenbewältigung suchen.
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47
48 49
Vgl. Harro Segeberg, »Wir irren vorwärts«. Zur Funktion des Utopischen im Werk Ernst Jüngers. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 403–414, hier S. 405. Vgl. Reinhard Wilczek, Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers NietzscheRezeption, Trier 1999 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 47), S. 60. Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S. 349 und Martus, Ernst Jünger, S. 84 Ernst Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. und vier Supplementbände, Bd. 9: Das abenteuerliche Herz, Stuttgart 1979, S. 20.
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Der Arbeiter und der Waldgänger – Zwei Repräsentanten einer möglichen Neuordnung In einer Zeit, in der die Elementarkräfte die Oberflächenformen zerstören, hält Jünger eine besondere Wahrnehmungsqualität für erforderlich. Es müsse möglich sein, die unterhalb der Formenwelt waltende Elementarkraft zu erkennen. Jünger zufolge, ist die Menschheit seit 1914 in die Elementarwelt eingetreten.50 In einer solchen Zeit ist es von immenser Bedeutung, über die Formen hinauszublicken. In seinem Text Der Arbeiter von 1932 skizziert Jünger im Typus des Arbeiters eine Gestalt, die eben dazu in der Lage ist. Der Untergang des Bürgertums liegt in dessen Unfähigkeit zur Akzeptanz des Elementaren begründet.51 Der Bürger ist bestrebt, sich abzuschotten und die Formen zu bewahren, anstatt die Vernichtung der Formen als notwendig zu akzeptieren. Es herrscht ein Sicherheitsdenken vor: Das Bestreben des Bürgers, den Lebensraum hermetisch gegen den Einbruch des Elementaren abzudichten, ist der besonders gelungene Ausdruck eines uralten Strebens nach Sicherheit, das in der Natur- und Geistesgeschichte, ja in jedem einzelnen Leben zu verfolgen ist.52
Dieser Ausschluss des Elementaren ist keine angemessene Reaktion auf seinen Einbruch in die Formenwelt. Der Bürger verdrängt die Krise, anstatt sie zu bekämpfen. Er erkennt sein Schicksal nicht an und ist demzufolge zu heroischen Handlungen nicht fähig.53 Niemals wird der Bürger sich getrieben fühlen, das Schicksal in Kampf und Gefahr freiwillig aufzusuchen, denn das Elementare liegt jenseits seines Kreises, es ist das Unvernünftige und damit das Unsittliche schlechthin.54
Der Bürger stellt sich der Krise nicht, sondern er verleugnet sie. Er kann sie demzufolge auch nicht überwinden und auf die veränderte Umwelt nicht reagieren. Der Arbeiter ist für Jünger ein der neuen Realität angemessener Typus, da das Aufkommen der Arbeitswelt bereits im Alltag zu beobachten ist. Alles Tun steht in einem Produktions- und Konsumptionszusammenhang und ist somit als Arbeit anzusehen.55 Die Gestalt des Arbeiters ist nun aber keineswegs als Gesellschaftsschicht zu verstehen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit zufällig am angemessensten auf die Krise reagieren kann. Vielmehr ist sie das Ergebnis einer effizienten Neuord50
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53 54 55
Vgl. Ernst Jünger, Der Waldgang. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 363. Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S. 386/387. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 52. Vgl. Wilczek, Nihilistische Lektüre des Zeitalters, S. 92. Vgl. Jünger, Der Arbeiter, S. 53. Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S. 386.
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nung der Welt nach dem Ersten Weltkrieg und auf keine Schicht oder Klasse beschränkt.56 In einer Welt, in der sogar die Freizeitgestaltung (bspw. der Kinobesuch) den Charakter eines Konsumprozesses und somit Arbeitscharakter hat und sogar »Dinge als Arbeit auf[treten], von denen das früher kaum zu träumen war«,57 muss jeder sich dieser Welt anpassen und zum Arbeiter werden. Die Gestalt des Arbeiters wird als »ideologischer Denktyp« begriffen.58 Sie zeichnet sich durch besondere Eigenschaften aus, die den Arbeiter in Krisenzeiten zur Begründung einer neuen Ordnung befähigen. Er ist bereit, sich der Krise zu stellen, bejaht den Schmerz, ist gewillt, auf seine eigene Lust zu verzichten, und sogar die Selbstopferung ist kein Tabu für ihn.59 Sein Verhältnis zur Technik ist ebenfalls den neuen Zeiten angepasst. Die Weiterentwicklung technischer Möglichkeiten brachte es mit sich, dass der Mensch selbst zu bekannten Systemen einen neuen Zugang suchen musste. Es deutete sich an, dass die Welt bald vollends von der Technik bestimmt war. Im Arbeiter verschmelzen mechanische und organische Formen. Er ist im Stande, sich die Technik zu Nutze zu machen.60 Wer dazu nicht fähig ist, wird scheitern. So ergeht es auch dem Protagonisten aus Jüngers erzählender Schrift Gläserne Bienen. Die Hauptfigur ist Kriegsveteran in einem Reiterregiment und versucht nun, in einer technisierten Welt Fuß zu fassen. Zapparoni bietet ihm die Möglichkeit dazu. In dessen Garten wartet der Protagonist auf den Besitzer. Doch trotz der Warnung »Seien sie mit den Bienen vorsichtig!«61 zerstört er eines dieser gläsernen Insekten. Der Anblick von menschlichen Ohren, um die diese Bienen herumschwirrten, hatte ihn dermaßen verwirrt, dass er Zapparonis Warnung vollkommen vergaß. Die Ohren stellen sich dann als künstlich heraus. Zapparoni bezieht sie von einem Marionettenmacher, der mit seinen Auftraggebern in Streit geriet und allen seinen Marionetten die Ohren abschnitt, damit niemand aus ihnen Profit schlagen kann. Zapparoni benutzt sie nun, um seinerseits besonders realistisch aussehende Marionetten zu fertigen. Der Protagonist war der neuen Technik nicht gewachsen. Der Typus des Arbeiters hingegen ist es. Deswegen und durch seinen unerschrockenen Willen zur Macht ist er in einer technisierten Welt zur Herrschaft bestimmt. Das Resultat dieser Herrschaft wäre ein Arbeitsstaat.62 56 57 58
59 60
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Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S. 388. Vgl. Jünger, Der Arbeiter, S. 107. Vgl. Marianne Wünsch, Ernst Jüngers Der Arbeiter. Grundpositionen und Probleme in: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 459–476, hier S. 464. Vgl. Wilczek, Nihilistische Lektüre des Zeitalters, S. 97ff. Vgl. Jürgen Manthey, Ein Don Quijote der Brutalität. Ernst Jüngers »Der Arbeiter«. In: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Ernst Jünger (Nr. 105/106), hg. von Heinz Ludwig Arnold, München Januar 1990, S. 36–51, hier S. 40. Ernst Jünger, Gläserne Bienen. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 15: Erzählungen, Stuttgart 1978, S. 497. Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S. 391.
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In einer Welt, wie Jünger sie 1932 vorfindet, scheint die Herrschaft des Arbeiters ein möglicher Weg aus der globalen Krise zu sein. Es sollen im Folgenden drei Gründe dargelegt werden, warum die Herrschaft des Arbeiters keinen adäquaten Weg zur Krisenbewältigung beschreitet. Der erste Grund ist die nicht gewährleistete Freiheit des Individuums. In einem Arbeitsstaat ist Freiheit gegenüber diesem Staat nicht vorgesehen. Dem Einzelnen werden Funktionen zugewiesen, die er zu erfüllen hat. Aus dieser Funktion darf er nicht ausbrechen.63 Weiterhin ist die Herrschaft in einem Arbeitsstaat ungeklärt, da nicht jeder einzelne Arbeiter zur Herrschaft gelangen kann. Der Typus des Arbeiters würde herrschen, was einer Diktatur bedenklich nahe käme, da der Typus gegen die Ansichten der Masse und des Einzelnen handeln könnte: So erlebt man das Schauspiel von Diktaturen, die sich die Völker gleichsam selbst auferlegen, damit das Notwendige angeordnet werden kann. [...] In diesen Erscheinungen verkörpert sich der Angriff des Typus gegen die Wertungen der Masse und des Individuums […].64
Schließlich ist der Weg, den der Arbeiter zur Herrschaft antreten soll, nicht klar umrissen. Vielmehr scheint es für Jünger unerheblich, wie dieser Weg sich vollzieht. »Es ist auch kein Unterschied, ob die ›Ergreifung der Macht‹ sich auf den Barrikaden oder in der Form einer nüchternen Übernahme der Geschäftsordnung vollzieht.«65 Aus diesen drei Gründen kann der Arbeiter keinen angemessen Beitrag zur Krisenüberwindung leisten, vor allem, weil unter seiner Herrschaft keine Freiheit herrschen würde und somit neue Krisen zu gewärtigen wären. Ein weiterer Typus, den Jünger entwirft, versucht, sich in Zeiten der Unfreiheit die Freiheit zu bewahren.
Der freie Waldgänger und die totale Katastrophe »Wir leben in Zeiten, in denen ununterbrochen fragenstellende Mächte an uns herantreten.«66 So heißt es zu Beginn des 1951 publizierten Essays Der Waldgang. Diese Mächte verlangen nun von jedem einzelnen eine Antwort. Man ist vor das Problem gestellt, eine solche zu finden. Die Herrschaft des Arbeiters stellt wie gezeigt wurde keine adäquate Antwort dar. Wichtig ist hierbei jedoch weniger die Richtigkeit der Antwort, sondern eher die Tatsache, dass überhaupt eine solche gegeben wird. Das Beispiel des Wahlzettels verdeutlicht dies. Nehmen wir einmal einen Staat mit einer scheinbar freien und geheimen Wahl an, in welchem die Mit63 64 65 66
Vgl. Wünsch, Ernst Jüngers Der Arbeiter, S. 467. Jünger, Der Arbeiter, S. 273, Hervorh. – S. L. Jünger, Der Arbeiter, S. 274. Jünger, Der Waldgang, S. 283/284.
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glieder des Staates weitestgehend gleichgeschaltet sind. In einem solchen Staat hat ein »Ja« oder ein »Nein« für den Einzelnen nur wenig Bedeutung. Stimmt er für »Ja« und unterstützt somit die Machthaber, ist es relativ bedeutungslos, da alle anderen es auch tun. Stimmt er für »Nein« unterstützt er die Machthaber ebenso. In einem weitestgehend gleichgeschalteten Gesellschaftssystem ist es für die Herrscher aus zwei Gründen wichtig, dass es eine kleine Ziffer (zumindest die Illusion einer solchen) gibt, die nicht gleichgeschaltet ist. »Den Diktaturen ist der Nachweis wichtig, daß die Freiheit, Nein zu sagen, bei ihnen nicht ausgestorben ist.«67 Auf diese Weise legitimieren sie sich vor der Außenwelt als Staat, der seinen Bürgern Freiheit zusichert. Weiterhin ist »die Propaganda […] auf einen Zustand angewiesen, in dem der Staatsfeind […] schon fast lächerlich geworden, doch immerhin noch nicht ganz ausgestorben ist.«68 Wenn es keine Gegner mehr gäbe, wäre der Terror einer Diktatur sinnlos und ihr wäre der Schrecken genommen. Dies ist ein Beispiel für die Bedrohung, die die Freiheit des Individuums erfährt. Der Waldgang ist ein Mittel, sich diese Freiheit wieder zu erkämpfen. Er ist der erste Schritt aus der Automatisierung der statistisch überwachten Welt.69 Wie alle anderen Individuen dieser Zeit, sieht sich auch der Waldgänger von der Vernichtung bedroht. Ihn unterscheiden jedoch zwei Eigenschaften vom Rest der dargestellten Welt. Er duldet keine Übermacht und ist entschlossen, sich zu verteidigen. Was der Waldgang genau ist, und was er bewirkt, wird durch folgende Passage verdeutlicht: In Wahrheit ist alles, was sich heute an technischer Macht entfaltet, ein flüchtiger Schimmer aus den Schatzkammern des Seins [Hervorh. – S. L.]. Gelingt es dem Menschen, auch nur für unmeßbare Augenblicke in sie einzutreten, so wird er Sicherheit gewinnen: das Zeitliche wird nicht nur das Drohenden verlieren, sondern ihn sinnvoll anmuten. Wir wollen diese Zuwendung den Waldgang [Hevrorh. im Original] nennen und den Menschen, der sie vollzieht, den Waldgänger [Hervorh. im Original].70
Der Waldgang bewirkt beim Waldgänger einen Blick in die »Schatzkammern des Seins«. Er erkennt also, was Jünger selbst erkannte, als er der Zerstörung von Paris zusah. Das, was ihn bedroht, sind lediglich Erscheinungen der Formenwelt, denen ein Sinn zugeschrieben werden muss, damit eine Krise behoben werden kann. Der Waldgänger muss jedoch auch begreifen, dass eine Krise notwendig ist, ja sogar als Aufgabe begriffen werden kann, und dass auch Katastrophen eine Prüfung sind, hinter denen sich ein tieferer Sinn verbirgt und nach denen ein Fortschritt möglich ist. Zweifel, Schmerz und Furcht müssen durchlitten werden. Indem der Waldgang nah an die Krise und manchmal sogar mitten hindurch führt, befreit er den Waldgänger von der Furcht und der Sorge, vor die ihn die Zukunft stellt. Er gibt 67 68 69 70
Jünger, Der Waldgang, S. 287. Jünger, Der Waldgang. Vgl. Martus, Ernst Jünger, S. 292. Jünger, Der Waldgang, S. 317 f.
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ihm somit seine Freiheit zurück. Er kann wieder handeln ohne sich von seiner Furcht bestimmen zu lassen. Der Wald ist ein Ort der Sicherheit. Gleichzeitig ist er auch eine Metapher, denn ein Waldgang kann überall stattfinden. Der »Wald« steht hier zeichenhaft für einen Ort der Ruhe und Sicherheit, in den sich der Mensch zurückziehen kann. Er ist ein Ort, in dem der Mensch das geistige Rüstzeug für seinen Kampf gegen die Furcht bekommt.71 Der Waldgang lehrt den Menschen das, was weiter oben als stereoskopischer Blick bezeichnet wurde. Dessen Herausbildung scheiterte jedoch bisher an der mangelnden Übersicht. Astrologie und Meteorologie, die die großen siderischen Abläufe der Erdgeschichte für den Menschen erfassbar machen, mussten herhalten, um den Einzelnen aus seiner Krise angesichts der Zerstörung der Formen zu holen. Der Waldgang schafft nun aber einen solchen Überblick, indem er den Waldgänger nah an die totale Katastrophe heranführt und ihm auf diese Weise zeigt, dass die Zerstörung der Formen nicht notwendigerweise die völlige Leere zur Folge haben muss, sondern auch der Beginn einer höheren Existenz sein kann. Der Untergang hat auch transzendentale Aspekte: »Der freilich ist am leichtesten einzuschüchtern, der glaubt, daß, wenn man seine flüchtige Erscheinung auslöscht, alles zu Ende sei.«72 Der Waldgang trägt also maßgeblich zur Krisenüberwindung bei. Leider haben aber nicht alle die Gelegenheit zu dieser Form der Segregation. Dieses Problem kann jedoch gelöst werden. Der Waldgänger kann, nachdem er seine persönliche Krise erfolgreich durchlitten hat, auch die Rolle eines »Seelenführers« für andere übernehmen und somit den Part eines Helfers bei der Krisenüberwindung spielen: »Es ist die Aufgabe des Seelenführers, den von ihm Geführten an der Hand dorthin [in den Wald – S. L.] zu leiten, damit er die Furcht verliert.«73 Diese Eigenschaft des Waldgängers korrespondiert mit einem weiteren Modell zur Krisenbewältigung, das Jünger in seinem Essay An der Zeitmauer entwickelt.
Jüngers Modell des Hinzutretenden In Jüngers Essay An der Zeitmauer erwächst die Krise des Individuums aus einer Zeitenwende. Die humanen Zeiteinteilungen reichen nicht mehr aus und der Mensch muss sich an erdgeschichtlichen Abläufen orientieren. Aus eigener Kraft ist er dazu nicht immer in der Lage. Der Mensch benötigt in der Krisenzeit jemanden, der ihm hilft, diese zu überstehen. Jünger nennt dies den Hinzutretenden. Der Mensch fühle sich immer dann einer Sinnzuschreibung bedürftig, »wenn es zu Krisen oder gar zu Katastrophen kommt, angesichts deren der technische Optimismus bedroht wird 71 72 73
Vgl. Wilczek, Nihilistische Lektüre des Zeitalters, S. 176 f. Jünger, Der Waldgang, S. 370. Jünger, Der Waldgang, S. 329.
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oder zusammenbricht.«74 Für diese Sinngebung benötigt er einen Hinzutretenden. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er mehr sieht als andere. »Oft werden die Güter an entfernten, unzugänglichen Orten lagern; dann ist es schon beruhigend, von jemandem zu hören, daß er sie gesehen hat. Das ist der Hinzutretende.«75 Nach vollzogenem Waldgang wäre also der Waldgänger ein prototypisches Beispiel für einen Hinzutretenden. Er kann, nachdem er durch seinen Gang die Krisenerfahrung bereits hinter sich hat, andere auf ihrem Weg begleiten und führen. Auch Jünger selbst nimmt als Autor die Rolle des Hinzutretenden ein. Indem er in seinem Ersten Pariser Tagebuch hinter der Zerstörung von Paris eine höhere Macht wahrnimmt und ihr somit einen Sinn gibt, ist er für alle Rezipienten seines Tagebuchs ein Hinzutretender, der die Vernichtung der Formen für sie deutet und ihnen somit hilft, diese Vernichtung zu ertragen und die aus ihr resultierende Krise zu überwinden. Der Hinzutretende weist den Menschen auf Mächte hin, die außerhalb und hinter den Formen verborgen liegen.76 Er hilft somit allen, die nicht in der Lage waren einen stereoskopischen Blick zu entwickeln – sei es aus Mangel an Distanz oder aus anderen Gründen. Der Hinzutretende ist es, der Verhaltenslehren formulieren und auch an die Menschen kommunizieren kann. Sie müssen jedoch nicht immer explizit formuliert sein. Der Hinzutretende kann sie schon durch die Deutung der Ereignisse für den in der Krise befindlichen Menschen oder durch Einführung in andere Lebensbereiche weitergeben. Er zeigt so andere Möglichkeiten und auch Wege aus der Krise auf, ohne dem Betreffenden einen Katalog von Verhaltenslehren an die Hand zu geben. In vielen literarischen Texten der Jahrhundertwende sowie der Kriegs- und Zwischenkriegszeit ist Jüngers Modell des Hinzutretenden in bestimmten Figuren vorbzw. nachgebildet. Dem Protagonisten werden Personen an die Seite gestellt, die als »Seelenführer« fungieren oder der Hauptfigur schlicht helfen, sich in einem neuen Lebensbereich zurechtzufinden. Meist zeichnen sich diese Helferfiguren durch größere Kenntnis der Umstände aus und können so ihrem Schützling zur Seite stehen. Hans Castorp bekommt bspw. in Leo Naphta und Lodovico Settembrini zwei divergierende Charaktere an die Seite, die ihm neue philosophische Sichtweisen der Welt eröffnen, für Paul Bäumer übernimmt Stanislaus Katczinsky die Rolle des Anführers und Freundes, die nach dessen Tod auf Paul selbst übergeht, und für Harry Haller übernehmen Hermine und Pablo die Seelenführung bei den Experimenten im magischen Theater. Zum Abschluss soll gezeigt werden, wie Jüngers Modell des Hinzutretenden in literarischen Texten realisiert wird. Das Werk Hermann Hesses, der, wie oben gezeigt, von Jüngers An der Zeitmauer beeindruckt war, scheint hierfür prädestiniert
74
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Ernst Jünger, An der Zeitmauer. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Der Arbeiter, Stuttgart 1980, S. 415. Jünger, An der Zeitmauer, S. 415. Vgl. Jünger, An der Zeitmauer, S. 415.
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Hesses Demian – der Weltendeuter Emil Sinclair, die Hauptfigur aus Hermann Hesses Demian ist ohne die Hilfe Demians nicht fähig, in der Welt, die außerhalb seines Elternhauses liegt, zurechtzukommen. Um die Rolle eines Hinzutretenden einzunehmen, müsste Max Demian allen anderen oder zumindest Sinclair überlegen sein. Die erste Beschreibung Demians bestätigt dies: Er ging in eine höhere Klasse als ich und war mehrere Jahre älter, aber auch mir fiel er bald auf, wie allen. Dieser merkwürdige Schüler schien viel älter zu sein, als er aussah, auf niemanden machte er den Eindruck eines Knaben.77
Demian sticht deutlich aus seiner Umwelt heraus. Hinzu kommt noch, dass er aus einer anderen Stadt zugezogen ist, also auch schon mehr Lebenserfahrung haben dürfte, als Sinclair, für den schon die Welt außerhalb seines Elternhauses Gefahren birgt. Die Voraussetzungen für einen Hinzutretenden werden von Demian erfüllt. Die Aufgabe, die er übernimmt, ist vorwiegend die eines Weltendeuters. Er interpretiert und erklärt Sinclair Dinge, die dieser mit keiner Sinnzuschreibung versehen kann oder falsch deutet. So auch die Geschichte von Kain und Abel. Das Zeichen, mit dem Kain nach der Tötung seines Bruders von Gott versehen wird, wird von Sinclairs Religionslehrer als Brandmarkung interpretiert, die allen Menschen Angst vor Kain und seinen Nachkommen einflößt. Demian interpretiert das Kainszeichen jedoch wie folgt: Das, was vorhanden war und womit die Geschichte ihren Anfang genommen hat, war das Zeichen. Es war da ein Mann, der hatte etwas im Gesicht, was den anderen Angst machte. Sie wagten nicht, ihn anzurühren, er imponierte ihnen, er und seine Kinder. […] Man konnte das erklären, wie man wollte. Und »man« will immer das, was einem bequem ist und recht gibt. […] Also erklärte man das Zeichen nicht als das, was es war, als eine Auszeichnung, sondern als das Gegenteil.78
Das Kainszeichen ist hier nicht von vornherein eine negative Brandmarkung, wie noch in der Deutung des Religionslehrers. Es ist vielmehr eine Auszeichnung und wird erst von den Menschen aus Furcht umgedeutet. Demian nimmt jedoch nicht nur die Rolle eines Weltendeuters ein. Die Hilfe, die er Sinclair gibt, äußert sich auch in konkreten Taten. So hilft er ihm bspw., sich von der Herrschaft Franz Kromers zu befreien. Primär bleibt er jedoch Weltendeuter. Er interpretiert nicht nur Dinge, die von außen an Sinclair herangetragen werden, sondern auch Dinge, die in seinem Innern sind, wie das Bild des Vogels, der aus einem Ei (die Weltkugel) schlüpft und dieses dabei zerstört, das Sinclair malt und an Demian schickt. Dieser identifiziert den Vogel als Gott Abraxas. Der 77
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Hermann Hesse, Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. In: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Volker Michels, Bd. 3: Die Romane, Frankfurt/M. 2003, S. 253, Hervorh. – S. L. Hesse, Demian, S. 255.
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Vogel ist gleichsam ein Bild für die Zerstörung der Formen. Er ist die Macht, die dahinter waltet. Indem Demian Sinclair diesen Vogel als Gott erklärt, hilft er ihm aus der Krise. Demian sieht hinter der Zerstörung der Formen eine höhere Macht und nimmt ihr somit den Schrecken und die Angst vor dem Ungewissen und gibt diese Deutung an Sinclair weiter. Auch Demians Mutter Eva nimmt für Sinclair die Rolle einer Führerin und Hinzutretenden ein, indem sie seinen Lebensweg aus der Retrospektive deutet und ihn mit Verhaltenslehren versieht. »Aber es gibt keinen immerwährenden Traum, jeden löst ein neuer ab, und keinen darf man festhalten wollen.«79 Eva und Demian helfen Sinclair auf seinem Weg durch die Krise, indem sie ihm die Welt deuten. Sowohl Sinclair, als auch Demian werden im Krieg verwundet, Demian sogar so schwer, dass er auf einem Lazarettbett neben Sinclair stirbt. Mit Demians Tod gehen alle seine Werte und alles, was er symbolisiert, auf seinen Schützling Sinclair über.80 Eine seiner letzten Botschaften an Sinclair lautet: »Du wirst mich vielleicht einmal wieder brauchen, gegen den Kromer oder sonst. […] Du mußt dann in dich hineinhören, dann merkst du, daß ich in dir drinnen bin.«81 Dieser und auch der letzte Satz des Buches verdeutlichen, dass Demian seine Aufgabe als Weltendeuter erfüllt hat. Sinclairs Krise ist überwunden und er selbst kann nun die Rolle eines Hinzutretenden übernehmen: Aber wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich selbst hinuntersteige, da wo im dunkeln Spiegel die Schicksalsbilder schlummern, dann brauche ich mich nur über den schwarzen Spiegel zu neigen und sehe mein eigenes Bild, das nun ganz Ihm gleicht, Ihm, meinem Freund und Führer.82
Plinio Designori – die andere Welt Demian erfüllt seine Aufgabe als Hinzutretender dadurch, dass er Sinclair gegenüber als Weltendeuter auftritt. Plinio Designori, der Freund Josef Knechts aus Das Glasperlenspiel, nimmt diese Aufgabe anders wahr. Dies kann damit begründet werden, dass Designori einen anderen Status als Demian hat. Er hat Josef Knecht zwar voraus, dass er die Welt außerhalb der pädagogischen Provinz Kastalien kennt und mit ihren Gepflogenheiten vertraut ist. Rückständig ist er jedoch in der Kenntnis Kastaliens, das für ihn ein unbekanntes Wertesystem darstellt, ähnlich wie für Knecht die Außenwelt. Designori ist demnach kein Hinzutretender im Sinne eines Weltendeuters. Vielmehr besteht ein wechselseitiger Austausch zwischen ihm und Knecht. Beide erfüllen für den jeweils anderen die Aufgabe eines Führers. Designori 79 80 81 82
Hesse, Demian, S. 346. Hervorh. – S. L. Vgl. Theodore Ziolkowski, Der Schriftsteller Hermann Hesse, Frankfurt/M. 1979, S. 77. Hesse, Demian, S. 365. Hesse, Demian, S. 365. Hervorh. – S. L.
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Stephan Lesker
lernt in den Disputationen mit Knecht Kastalien kennen und Knecht wird seinerseits gezwungen, sich mit der Bildungsprovinz noch besser vertraut zu machen. Folgende Passage verdeutlicht dies: Jetzt zwangen ihn [Designori – S. L.] Knechts Repliken einzusehen, daß er zwar die Welt recht gut kenne, besser als jeder Kastalier, daß er aber keineswegs Kastalien und seinen Geist ebenso gut kenne wie die, die hier zu Hause waren und deren Heimat und Schicksal Kastalien war. […] Knecht hingegen, um seiner Rolle als Apologet zu genügen, war genötigt, […] sich das, was zu verteidigen er dastand, immer deutlicher und inniger zu eigen und bewusst zu machen.83
Durch die Disputationen mit Plinio wird Knecht aber nicht nur Kastalien und seine Ordnung besser vor Augen geführt. Plinios Reden zwingen ihn auch, sich mit den Problemen Kastaliens und dessen Satus in der Außenwelt auseinanderzusetzen. Seine Argumente schockieren ihn in ihrer Härte, rundheraus ablehnen kann er sie jedoch nicht: Wenn Plinio unsre Lehrer und Meister als Priesterkaste bezeichnet und uns Schüler als gegängelte und kastrierte Herde, so sind das natürlich derbe und übertreibende Worte, aber irgend etwas Wahres enthalten sie vielleicht doch, sonst könnten sie mich ja auch nicht so beunruhigen.84
Designori und Knecht führen einander wechselseitig die jeweils andere Welt vor Augen. Plinio weckt die »ersten Regungen von Zweifel und Kritiklust«85 in Knecht. Er legt somit den Grundstein sowohl für Knechts Auseinandersetzung mit den kastalischen Werten, als auch für sein Bewusstsein der fragilen Existenz der pädagogischen Provinz. Wir haben gesehen, dass Ernst Jünger in seinem Werk einer erlebten Krisensituation einen Sinn zuschreibt oder es zumindest versucht. Hierfür entwickelt er verschiedene Strategien: das Bewahren einer inneren Ruhe in einer akuten Krise (vgl. sein Festhalten an einer phlegmatischen Gemütsstimmung in den Grabenkämpfen des Ersten Weltkrieges), der stereoskopische Blick, der hinter die Formen und auf das Elementare zielt, und schließlich den Seelenführer, der in einer Krise an das von ihr gebeutelte Individuum herantritt. Letzteres Modell ist nicht nur für Jünger typisch, sondern findet seine Realisierung auch in literarischen Texten anderer Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, wie wir am Beispiel Hermann Hesses gesehen haben.
83
84 85
Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel. In: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Volker Michels, Bd. 5: Die Romane, Frankfurt/M. 2003, S. 86. Hesse, Das Glasperlenspiel, S. 84. Hesse, Das Glasperlenspiel, S. 83.
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Literatur Hesse, Hermann: Nach der Lektüre des Buches »An der Zeitmauer«. In: Über Ernst Jünger, hg. von Hubert Arbogast, Stuttgart 1995, S.73–79. Hesse, Hermann: Sämtliche Werke, hg. von Volker Michels, Frankfurt/M. 2003. Hoffmann, E.T.A.: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern, Stuttgart 2000. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Stuttgart 1978–2004. Jünger, Ernst: Kriegstagebücher 1914–1918, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007. Krull, Wilhelm: Im Foyer des Todes. Zu Ernst Jüngers »In Stahlgewittern« und anderen Texten über den Ersten Weltkrieg. In: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Ernst Jünger (Nr. 105/106), hg. von Heinz Ludwig Arnold, München Januar 1990, S. 27–35. Lakoff, George/Johnson, Mark: Metaphors we live by, Chicago 1980. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994 (edition suhrkamp 1884). Lindner, Martin: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart/Weimar 1994. Manthey, Jürgen: Ein Don Quijote der Brutalität. Ernst Jüngers »Der Arbeiter« in: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Ernst Jünger (Nr. 105/106), hg. von Heinz Ludwig Arnold, München Januar 1990, S. 36–51. Martus, Steffen: Ernst Jünger, Stuttgart 2001 (Sammlung Metzler 333). Müller, Hans-Harald: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman in der Weimarer Republik, Stuttgart 1986. Noack, Paul: Ernst Jünger. Eine Biographie, Berlin 1998. Segeberg, Harro: »Wir irren vorwärts«. Zur Funktion des Utopischen im Werk Ernst Jüngers. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 403–414. Titzmann, Michael: ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹. In: ders.: Realismus und Frühe Moderne. Beispielinterpretationen und Systematisierungsversuche, hg. von Lutz Hagestedt, München 2009, S. 275–307. Weinrich, Harald: Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld. In: Romanica. Festschrift für Gerhard Rohlfs, hg. von Heinrich Lausberg/Harald Weinrich, Halle (Saale) 1958, S. 508–521. Wilczek, Reinhard: Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption. Wissenschaftlicher Verlag. Trier 1999 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 47). Wünsch, Marianne: Ernst Jüngers Der Arbeiter. Grundpositionen und Probleme. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 459–476. Ziolkowski, Theodore: Der Schriftsteller Hermann Hesse, Frankfurt/M. 1979.
Volker Mergenthaler
Bildpolitik und Autorschaft: Ernst Jüngers Das Antlitz des Weltkrieges
1. Ernst Jüngers Bildgeschäfte als Forschungsobjekt Zu Ernst Jüngers Das Antlitz des Weltkrieges, 1930 im Berliner Verlag Neufeld & Henius veröffentlicht,1 verzeichnet das Werktitelregister der den Zeitraum 1928 bis 2002 abdeckenden Ernst Jünger-Bibliographie genau einen Titel:2 den im Jahr 2000 in Spanien publizierten, immerhin 48 Seiten umfassenden Aufsatz von Nicolás Sánchez Durá: Guerra técnica, fotografía y humanidad en los foto-libros de Ernst Jünger.3 Allerdings befaßt sich der Beitrag nicht etwa nur mit dem Antlitz des Weltkrieges, sondern darüber hinaus mit einer beachtlichen Zahl weiterer »foto-libros« des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – von Jünger und anderen. Auch wenn die magere bibliographische Ausbeute es nicht vermuten läßt: Jüngers Antlitz des Weltkrieges ist, wie einer ganzen Reihe an übergreifenden Fragestellungen interessierter sowie einigen jüngeren, durch Riedels Bibliographie nicht mehr erfaßten Publikationen abzulesen ist, keineswegs im toten Winkel der Forschung geblieben. Insbesondere an Jüngers Haltung gegenüber der Photographie und ihrem ästhetischen oder ideologischen Ort in der Moderne zeigt man sich interessiert und untersucht Das Antlitz des Weltkrieges oder Teile daraus in seinem familiären Umfeld, im Umfeld weiterer Photographien und Texte darbietender Publikationen, an denen Jünger als Herausgeber, als Autor, zuweilen auch in beiden Funktionen beteiligt war: Die Bände Luftfahrt ist not! 4 und Der Kampf um das Reich 5 erscheinen, herausgegeben von Jünger, 1928 und 1929. Zu den 1931 veröffentlichten Bänden Hier spricht der Feind. Kriegserlebnisse unserer Gegner 6 und Der gefährliche Augenblick. Eine Sammlung von Bildern und Berichten 7 und zum 1933 publizierten Band Die veränderte 1
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3
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Ernst Jünger, Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten, Berlin 1930. Nicolai Riedel, Ernst Jünger-Bibliographie. Wissenschaftliche und essayistische Beiträge zu seinem Werk (1928–2002), Stuttgart/Weimar 2003, S. 178. Nicolás Sánchez Durá, Guerra técnica, fotografía y humanidad en los foto-libros de Ernst Jünger. In: Ernst Jünger. Guerra, técnica y fotografía, hg. von Nicolás Sánchez Durá, València 2000, S. 9–57. Luftfahrt ist not!, hg. von Ernst Jünger, Berlin 1928. Der Kampf um das Reich, hg. von Ernst Jünger, Berlin 1929. Hier spricht der Feind. Kriegserlebnisse unserer Gegner, hg. von Richard Junior, Berlin 1931. Der gefährliche Augenblick. Eine Sammlung von Bildern und Berichten, hg. von Ferdinand Bucholtz, Berlin 1931.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-012
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Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit 8 steuert Jünger Einleitungen bei.9 Diesem Ensemble und einigen weiteren für Jüngers Perspektive auf die Photographie einschlägigen Beiträgen, vor allem dem Arbeiter 10 und dem Essay Über den Schmerz,11 gilt seit der Mitte der 1990er Jahre verstärkt die Aufmerksamkeit, zumeist in medienästhetischer oder mediengeschichtlicher Perspektive. Zu erwähnen sind neben den beiden Pionierarbeiten aus den Jahren 1994 und 1995 von Brigitte Werneburg zu Ernst Jüngers Überlegungen zur Photographie 12 und (mit Blick auch auf Walter Benjamin) Zur Entwicklung einer Medienästhetik in der Weimarer Republik 13 die Beiträge von Wojciech Kunicki,14 Enrique Ocaña,15 Reinhart Meyer-Kalkus,16 Julia Encke,17 Michael Neumann,18 Bernd Stiegler19 und Jonathan J. Long.20 Die genannten Beiträge gleichen sich, so unterschiedlich und überzeugend sie im einzelnen argumentieren, in ihrem methodisch-heuristischen Profil. Sie arbeiten mit langen Verschlußzeiten 8 9
10 11
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Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit, hg. von Edmund Schultz, Breslau 1933. Ernst Jünger, Einleitung. In: Hier spricht der Feind, Kriegserlebnisse unserer Gegner, hg. von Richard Junior, Berlin 1931, S. 9–12; Ernst Jünger, Einleitung. Über die Gefahr. In: Der gefährliche Augenblick. Eine Sammlung von Bildern und Berichten, hg. von Ferdinand Bucholtz, Berlin 1931, S. 9–16 und Ernst Jünger, Einleitung. In: Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit, hg. von Edmund Schultz, Breslau 1933, S. 5–9. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932. Ernst Jünger, Über den Schmerz. In: ders.: Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 154–213. Brigitte Werneburg, Die veränderte Welt. Der gefährliche anstelle des entscheidenden Augenblicks. Ernst Jüngers Überlegungen zur Photographie. In: Fotogeschichte, 51, 1994, S. 51–67. Brigitte Werneburg, Ernst Jünger, Walter Benjamin und die Photographie. Zur Entwicklung einer Medientheorie in der Weimarer Republik. In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segebrecht, München 1995, S. 39–57. Wojciech Kunicki, Erich Maria Remarque und Ernst Jünger. Ein unüberbrückbarer Gegensatz? In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des ›modernen Krieges‹ in Literatur, Theater, Photographie und Film, hg. von Thomas F. Schneider, Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg. Der Erste Weltkrieg, Osnabrück 1999 (Krieg und Literatur. Internationales Jahrbuch zur Kriegs- und Antikriegsliteraturforschung III/IV, 1), S. 291–308. Enrique Ocaña, Fotografía, guerra y dolor. In: Ernst Jünger. Guerra, técnica y fotografía, hg. von Nicolás Sánchez Durá, València 2000, S. 59–86. Reinhart Meyer-Kalkus, Der gefährliche Augenblick. Zu Ernst Jüngers Photobüchern. In: Ikono-Philologie. Wechselspiele von Texten und Bildern, Berlin 2004 (Potsdamer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte 2), S. 249–277. Julia Encke, Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne, München 2006, S. 40–48, S. 93–101. Michael Neumann, Eine Literaturgeschichte der Photographie, Dresden 2006, S. 221–254. Bernd Stiegler, Ernst Jünger: Photographie und Bildpolitik. In: Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts, hg. von Natalia Borrisova u. a., Bielefeld 2009, S. 77–93. Jonathan J. Long, From »Das Antlitz des Weltkrieges« to »Der gefährliche Augenblick«: Ernst Jünger, Photography, Autobiography, and Modernity. In: German Life Writing in Twentieth Century, hg. Von Birgit Dahlke/Dennis Tate/Roger Woods, Rochester 2010, S. 54–70.
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und einer Optik mit geringer Brennweite. Die Parameter der wissenschaftlichen Aneignung sind weitgehend standardisiert und (erstens) eingestellt auf mehrere, zuweilen zahlreiche Texte und (zweitens) auf einen mehrere Jahre, ja zum Teil Jahrzehnte umspannenden Untersuchungszeitraum: in der Untersuchung von Reinhart MeyerKalkus auf »Ernst Jüngers Fotobücher«,21 in den Abhandlungen von Brigitte Werneburg auf »Ernst Jüngers Überlegungen zur Photographie«22 und seinen Beitrag »zur Entwicklung einer Medientheorie in der Weimarer Republik«,23 auf »das neue Sehen« in der Nachkriegsmoderne und seine entsprechenden Bildpolitiken in Bernd Stieglers Aufsatz24 und, ähnlich weit gefaßt, auf die »Bilderbücher« und zeitgleich publizierten Essays von Jünger in Michael Neumanns25 und auf die »Wahrnehmungspolitik um 1930« in Julia Enckes Dissertation.26 Ich möchte demgegenüber eine lange Brennweite und eine kurze Verschlußzeit wählen, meine Aufmerksamkeit nicht auf übergreifende werk- oder medienästhetische, mediengeschichtliche oder -politische Zusammenhänge richten, sondern auf einen bescheidenen Ausschnitt, auf nur eines der sogenannten »Fotobücher«, und es einer Lektüre unterziehen, die vom Wissens- und Verständnishorizont eines zeitgenössischen Erstlesers ausgeht. Gegenüber den üblicherweise für eine Vermessung des Jüngerschen Buches explizit vorgeschlagenen oder latent angelegten Koordinaten ›Autor‹ und ›politischer Diskurs der Weimarer Republik‹ möchte ich mich auf die Faktur des Jüngerschen Buches konzentrieren und eine poetologische Perspektive einnehmen, in der Jüngers Antlitz des Weltkrieges als Reflexion auf den politischen wie ästhetischen Standort des Künstlers unter den Bedingungen der technischen Moderne lesbar wird.
2. Photographie als Waffe 4 Reichsmark und 80 Pfennige mußte im August 1930 entrichten,27 wer die unter dem Titel Das Antlitz des Weltkrieges »mit etwa 200 photographischen Aufnahmen auf Tafeln, Kartenanhang sowie einer chronologischen Kriegsgeschichte in Tabellen« von Ernst Jünger herausgegebenen Fronterlebnisse deutscher Soldaten erwerben wollte. Vergolten wurde die Investition mit einem Band, der zugleich »›Erinnerungsbuch‹ und ›Kulturgeschichte‹ [...] sein« will, »und darüber hinaus auch ein Handbuch des Weltkriegs«. Seine »Materialfülle« zielt allem Anschein nach darauf, »den Krieg in der Totalität [zu] erfassen«.28 Er setzt daher, wie das knappe, vom 21 22 23 24 25 26 27 28
Meyer-Kalkus, Der gefährliche Augenblick. Werneburg, Die veränderte Welt. Werneburg, Ernst Jünger, Walter Benjamin und die Photographie. Stiegler, Ernst Jünger, S. 81. Neumann, Literaturgeschichte der Photographie, S. 240. Encke, Augenblicke der Gefahr, S. 40. Vgl. Hier spricht der Feind, S. [320]. Encke, Augenblicke der Gefahr, S. 45.
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»Verlag« beigesteuerte »Vorwort« deutlich macht, auf »Worte« und »Photographien«. Beide »können [...] von der Zeit des Krieges berichten«, die »Photographien« allerdings, wie es heißt, »unmittelbarer noch«.29 Ihre ›gesteigerte‹ Unmittelbarkeit wird umgehend erklärt, und zwar im ersten, Krieg und Lichtbild betitelten Beitrag. Daß ihm offenbar eine besondere Funktion zukommt, er gleichsam als Gebrauchsanweisung zu lesen ist, wird nicht nur dadurch angezeigt, daß er die ›Pole Position‹ einnimmt; er ist zudem mit einem gegenüber den anderen Beiträgen leicht angehobenen Durchschuß gesetzt worden. Hier nun finden sich die vielzitierten Bemerkungen Jüngers zur Photographie: Es ist derselbe Verstand, der den Gegner über große Entfernungen hinweg auf die Sekunde und auf den Meter genau mit seinen Vernichtungswaffen zu treffen weiß, und der das große geschichtliche Ereignis in seinen kleinsten Einzelheiten zu bewahren sich bemüht. [...] Schon hat sich über den Weltkrieg in allen Ländern eine riesenhafte Literatur gebildet, die ununterbrochen im Wachstum begriffen ist, und die aus einem unübersehbaren Vorrat an persönlicher Erinnerung und aktenmäßigen Darstellungen schöpft. [...] Zu den Dokumenten von besonderer Genauigkeit, wie sie dem menschlichen Verstande erst seit kurzer Zeit zur Verfügung stehen, gehören die Lichtbilder, von denen sich im Kriege ein großer Vorrat angesammelt hat. Neben den Mündungen der Gewehre und Geschütze waren Tag für Tag die optischen Linsen auf das Kampfgelände gerichtet; sie bewahrten als die Instrumente eines technischen Bewußtseins das Bild dieser verwüsteten Landschaften auf, von denen die Welt des Friedens seit langem wieder Besitz ergriffen hat.30
Militärische Vernichtungs- und photographische Aufnahmeapparatur, Waffe und Kamera, beide technisch-maschinelle Ausstülpungen des menschlichen Verstandes, werden enggeführt.31 Beide Apparaturen operieren mit äußerster Genauigkeit in Zeit und Raum, »auf die Sekunde und auf den Meter genau« werden sie im Raum ausgerichtet und zur rechten Zeit ausgelöst. Und beide bringen in der Logik dieser Engführung den Tod, die Vernichtungswaffe den real-physischen, die Kamera in der Stillstellung und Mortifikation ihres Objekts den metaphorisch-semiotischen. Die Kamera und die mit ihr geschossenen Bilder sind, so lautet hier, offensichtlich genug, die Suggestion, eine Waffe, die im Krieg mannigfach zum Einsatz gekommen ist.
3. Die photographischen Eingangsportale: Schutzumschlag und Frontispiz ... Dem Leser sind bis zu diesem Zeitpunkt, wenn er, wie es den Gepflogenheiten entspricht, vorne zu lesen begonnen und sich Seite für Seite linear im Buch vorge29 30 31
Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S.[7]. Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S. 9. Zu den Implikationen dieser Engführung vgl. grundlegend Paul Virilio, Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Übersetzung von Frieda Grafe/Enno Patalas, Frankfurt/M. 1989, S. 19 f.
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arbeitet hat, erst zwei Photographien begegnet, die eine auf dem »Schutzumschlag des Buches«, die der Titelei zufolge einen »Angriff bulgarischer Schützen auf eine serbische Stellung« zeige, die andere zwischen Vorsatz und Titelseite als Frontispiz eingeklebt, ein Grabenschnappschuß, wie es scheint. Die für den Umschlag verwendete Photographie (Abb. 1) findet sich im Band selbst wieder (Abb. 2), und zwar auf Seite 98, dort allerdings mit abweichender Bildunterschrift.32 »Vorgehende bulgarische Schützenlinie« steht dort zu lesen, und wer sich die Mühe macht, die Illustration des Schutzumschlages zum Vergleich heranzuziehen, wird noch eine weitere Abweichung33 registrieren.
Abb. 1: Jünger, Das Antlitz des Weltkrieges, Schutzumschlag
Abb. 2:
Jünger, Das Antlitz des Weltkrieges, S. 98
Das »Lichtbild« im Buch zeigt vier Explosionswolken, drei ungefähr in der Bildmitte, eine am linken Rand. Das »Lichtbild« auf dem Umschlag zeigt ebenfalls vier Rauchwolken, die drei in der Bildmitte, die vierte ist dagegen am rechten Rand angesiedelt und stellt für die marschierende Schützenlinie eine erheblich größere Bedrohung dar. Da an der Haltung der marschierenden Soldaten unzweifelhaft abzulesen ist, daß es sich exakt um denselben Aufnahmemoment handelt, wird ersichtlich, daß beide Photographien manipuliert worden sind, diejenige auf dem Schutzumschlag zieht das Gefahrvoll-Dramatische des Moments in die Hälfte zusammen, die die Vorderseite des Buches ziert, diejenige im Buchinnern verteilt das GefahrvollDramatische des Moments gleichmäßig auf die dem Betrachter ja vollständig sich präsentierende Bildfläche. Während der Leser des Jahres 1930 auf diese doppelte Manipulation allerdings erst verhältnismäßig spät, auf Seite 98 nämlich, aufmerksam wird, zeigt sich eine weitere, am Frontispiz vorgenommene, schon erheblich früher. Der besagte Grabenschnappschuß (Abb. 3) präsentiert, mit der Bildunterschrift »Ruhe vor dem Sturm« versehen, fünf Feldgraue im sonnenbeschienenen Schützengraben. Vier liegen schlafend auf der Grabensohle, einer, der das kompositorische Zentrum des Bildes einnimmt, steht wachsam an der Brustwehr, einen Karabiner 32
33
Einer breiteren Öffentlichkeit vertraut war diese Aufnahme aus dem Großen Bilderatlas des Weltkrieges (vgl. Encke, Augenblicke der Gefahr, S. 54) sowie aus dem Lieferungswerk Die große Zeit. Illustrierte Kriegsgeschichte (Die große Zeit, Bd. 2, Doppelheft 53/54, o. J.: S. 520). Und zwar nicht nur gegenüber der mutmaßlichen Quelle, dem Großen Bilderatlas des Weltkrieges, wie Encke, Augenblicke der Gefahr, S. 54, festgestellt hat.
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im Anschlag. Die Mündung seiner Waffe weist nach links, nach Westen also. Die »optische Linse« der Kamera aber, die dieses Bild hervorgebracht hat, ist zwar auf »das Kampfgelände gerichtet«, allerdings nicht dorthin, wohin die »Mündungen der Gewehre und Geschütze« bildsprachlich zeigen, nach Westen nämlich, sondern nach Norden, und derjenige, der sie ausgelöst hat, befand sich im selben Moment, da der wachhabende Soldat offensichtlich mit feindlichem Feuer rechnet, deutlich exponiert und ein leichtes Ziel bietend, hoch, vermutlich aufrecht stehend, über dem Grabenrand. Daraus ist der Bildlogik nach zu schließen, daß sich der Photograph entweder in akuter Lebensgefahr oder aber in der Sicherheit einer gestellten Szene befand. Diejenigen am Weltkrieg interessierten Leser des Jahres 1930, die nicht nur Jüngers Antlitz des Weltkrieges, sondern weitere einschlägige Bücher mit Photographien zur Hand hatten, konnten auch andernorts auf diesen Schnappschuß stoßen: in der 1929 von Wolfgang Foerster herausgegebenen Sammlung Wir Kämpfer im Weltkrieg34 (Abb. 4) oder im 1930 publizierten und von Helmuth Theodor Bossert herausgegebenen Dokumentationsband Kamerad im Westen. Ein Bericht in 221 Bildern35 (Abb. 5). Das Buch avancierte zu den Bestsellern des Jahres 1930 – im Bücherwurm z. B. wurde es zusammen mit Jüngers Band besprochen.36
Abb. 4: Foerster, Wir Kämpfer im Weltkrieg, Abb. S. 305
Abb. 3: Jünger, Das Antlitz des Weltkrieges, Frontispiz 34
35
36
Abb. 5: Bossert, Kamerad im Westen, S. 156
Wir Kämpfer im Weltkrieg. Feldzugsbriefe und Kriegstagebücher von Frontkämpfern aus dem Material des Reichsarchivs, hg. von Wolfgang Foerster, München 1934 [erstmals 1929]. Kamerad im Westen. Ein Bericht in 221 Bildern, hg. von Helmuth Theodor Bossert, Frankfurt/M. 1930. Vgl. Karl Rauch, Anonymus (1930): o.T. In: Der Bücherwurm, 15, H. 11, 1930, S. 304.
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Die besagte Photographie allerdings sieht, worauf schon mehrfach hingewiesen wurde,37 bei Jünger anders aus als in den Büchern von Bossert und Foerster. Sie reproduzieren im Querformat, Jünger im Hochformat. Und vor flüchtigen Blicken gewinnt es den Anschein, als hätten Bossert und Foerster das Bild am oberen Rand um etwa ein Zehntel seiner Höhe beschnitten, während bei Jünger links ein schmaler und rechts ein erheblich breiterer Streifen fehlen; sie machen zusammen fast die Hälfte der Bildbreite aus. Auf dem rechts entfernten breiteren Streifen sind bei Bossert und Foerster die hintere Grabenwand und Aufschüttungen zu sehen, zwei weitere Soldaten, einer schlafend, einer in der wenig medienwirksamen, eher unspektakulären Pose des Melancholikers auf der Grabensohle sitzend, sowie eine Spitzhacke und eine Gasmaske. Der bei Jünger erhaltene obere Rand des Bildes zeigt dagegen nur undifferenziert aufgelockertes Erdreich. »Für den aufmerksamen Betrachter«38 allerdings, von dem Jünger in seinem Aufsatz über Krieg und Lichtbild spricht, erweist sich das Frontispiz am oberen Rand als retuschiert; die Grabenlandschaft wurde manuell erweitert. Außerdem wurden Bildinhalte nicht nur durch Beschneiden entfernt, sondern auch durch Retusche. Bei Bossert und Foerster liegt der Karabiner des wachhabenden Soldaten nämlich auf dem Stiel einer Spitzhacke auf, die bei Jünger fehlt. Grund genug also »für den aufmerksamen Betrachter«, der von Jünger vorgelegten »Sammlung von [...] optischen Dokumenten«,39 »Dokumenten von besonderer Genauigkeit«, wie es heißt, vom ersten »Lichtbild« bis zum letzten zu mißtrauen und das um 1930 so hoch gehandelte Authentizitätsdogma40 hier nicht als Meßlatte anzulegen.
4. ... und der Ausgang: das Saarburger Kreuz Auch das die Sammlung beschließende, unter dem Titel »Die Ruhe nach dem Sturm« abgedruckte »Lichtbild« ist dem »aufmerksamen Betrachter« 1930 nicht unbekannt (Abb. 6). Es zeigt, folgt man der Bildunterschrift, »ein Feldkreuz, dessen Christusfigur unversehrt blieb«,41 hoch aufragend in einer Ackerlandschaft. Etwas mehr als die Hälfte des Bildraums wird von einer so kontrastreichen wie dynamischen Wolkenlandschaft eingenommen.
37
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Vgl. Sánchez Durá, Guerra técnica, fotografía y humanidad en los foto-libros de Ernst Jünger, S. 14 f.; Encke, Augenblicke der Gefahr, S. 50. Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S. 10. Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S. 10. Vgl. Bernd Hüppauf, Kriegsliteratur. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. Auflage, hg. von Gerhard Hirschfeld u. a., Paderborn u. a. 2004, S. 177–191, hier S. 179 f. Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S. 312.
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Abb. 6: Jünger, Das Antlitz des Weltkrieges, Abb. S. 312
Spuren des Krieges sind allerdings nicht zu sehen: keine Ruinen, keine Gräben, keine Granattrichter, keine Gefallenen, kein Kriegsgerät. Und auch die dem Bild zur Seite gestellten Informationen geben nicht genauer zu erkennen, in welchem Verhältnis das Motiv zum Weltkrieg steht. Hierzu bedurfte es 1930 schlechterdings keiner näheren Angaben, da das Motiv ungemein weit verbreitet war. Hervorgegangen ist es aus der, wie die Kriegsgeschichtsschreibung einhellig urteilt, »erste[n] große[n] Schlacht des Krieges«.42 Sie wurde bereits Mitte August 1914 geschlagen, und zwar im Umfeld der lothringischen Stadt Saarburg, wo das besagte Feldkreuz der Mythe nach so beschädigt wurde, daß davon nur noch der gemauerte Sockel und die Christusfi42
Karl Deuringer, Die Schlacht in Lothringen und in den Vogesen 1914. Die Feuertaufe der Bayerischen Armee, Bd. 1: Friedensgestalt der Armee, Mobilmachung, Ereignisse bis 22. August, München 1929, S. 274; analog Hermann Stegemann, Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges, Bd. 1, Stuttgart/Berlin 1917, S. 127.
Bildpolitik und Autorschaft: Ernst Jüngers Das Antlitz des Weltkrieges
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gur übrigblieben. Das Bild ist, wie einer 1915 unter dem Titel Das Heilandsbild bei Saarburg nach der Schlacht am 20. August 1914 veröffentlichten Monographie von August Fleischmann zu entnehmen ist, »eine Original-Aufnahme Sr. Kgl. Hoheit des Fürsten Wilhelm von Hohenzollern«,43 und es ist nicht nur von Fleischmann und 15 Jahre danach von Jünger abgedruckt worden, sondern auf einer Vielzahl von Bildpostkarten (Abb. 7–9), in zahlreichen Periodica und Buchpublikationen,44 vor allem aber und wohl am wirkungsmächtigsten in der enorm auflagenstarken Illustrierte[n] Kriegsgeschichte des Ullstein-Verlags.45
Abb. 7 (Abb. 7–14: 43
44
45
Abb. 8 Das Kreuz von Saarburg, Bildpostkarten)
So die Titelei von August Fleischmann, Das Heilandsbild bei Saarburg nach der Schlacht am 20. August 1914, Berlin 1915. Gemeint ist der Generalmajor und spätere General der Infanterie Fürst Wilhelm von Hohenzollern (1864–1927). Vgl. Hanna Vogt-Vilseck, Das Kreuz bei Saarburg. In: Unsere Bayern im Felde. Erzählungen aus dem Weltkriege 1914/16. Berichte von bayerischen Feldzugsteilnehmern, München 1914/1916, S. 1348; Großer Bilderatlas des Weltkrieges. Erster Band mit 1600 Abbildungen, Bildnissen, Karten und Urkunden, München 1915, S. 59; Karl Kraus, Erhöret mich! In: Die Fackel, 18, Nr. 423–425, 1916, o. P.; Paul Jäger, Zwei Schicksalsfragen, 1. Vom Schicksal der Werte, 2. Vom Wert des Schicksals, Marburg 1916, S. 39; Karl Heise, Entente-Freimaurerei und Weltkrieg. Ein Beitrag zur Historie des Weltkrieges und zum Verständnis der wahren Freimaurerei, Basel 1919, S. 94; Friedrich Lienhard, Westmark. Roman aus dem gegenwärtigen Elsaß, Stuttgart 1919, S. 159; Max Hildebert Boehm, Die deutschen Grenzlande, Berlin 1925, S. 268 sowie Abb. 10. Die große Zeit. Illustrierte Kriegsgeschichte. Mit zahlreichen Bildern, Karten und Kunstbeilagen, Bd. I, Berlin/Wien 1915.
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Abb. 9
Abb. 10
Abb. 11
Abb. 12
Das vom Hohenzollern-Fürsten festgehaltene Motiv ist darüber hinaus auch von vielen anderen photographisch aufgenommen (Abb. 17–20), in einer Fülle graphischer Variationen (Abb. 10–14) und, nicht zuletzt, durch zahlreiche literarische Bearbeitungen unterschiedlichster Qualität – zu nennen sind u. a. Alfred Lichten-
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stein46 und Richard Dehmel47 – verbreitet worden. Das Saarburger Kreuz gehört zu den virulentesten Ikonen des Ersten Weltkrieges.48 Ihre Prominenz verdankt sie ihrem Sinnstiftungspotential. Besonders deutlich akzentuiert wird es in denjenigen Darstellungen, die nicht nur das entkontextualisierte Relikt des Feldkreuzes zeigen, sondern den geschichtlichen Grund für seine Beschädigung mit ins Bild rücken (Abb. 13–14): die Schlacht bei Saarburg am 20. August 1914.
Abb. 13
Abb. 14 46
47
48
Alfred Lichtenstein, Die Schlacht bei Saarburg. In: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, 5, 1915, S. 107. Richard Dehmel, Der Entkreuzigte. Ein Bild aus dem Weltkrieg von Richard Dehmel. In: Die neue Rundschau, 26, 1915, S. 1259. Bodo von Dewitz/Detlef Hoffmann, Christus in aktualisierter Gestalt. Über ein Motiv der Kriegsfotografie von 1914 bis 1954. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 1, 1981, S. 45–58.
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Die teils dargestellte, teils in Erinnerung gerufene »Zerstörung am Menschen, an seinen Werken und Siedlungen und an der Natur«49 tritt ins Verhältnis zur dargestellten Christusfigur, die ihres Kreuzes beraubt, einer Fülle von Deutungen des Geschehens offen steht – abhängig freilich von den sie jeweils erklärenden oder kommentierenden Texten.50 In religiös-pazifistischer Perspektive illustriert sie ein Friedensgebet,51 in ausschließlich soteriologischer Perspektive segnet sie gleichsam die Gefallenen und hebt sie in einen heilsgeschichtlichen Sinn auf, in einer national-patriotisch verbrämten Perspektive wertet sie die Gefallenen als Gott, Kaiser und Vaterland gegenüber erbrachte Opfer auf,52 in ikonographischer Perspektive schließlich aktualisiert sie das Hermannsdenkmal ebenso wie Fidus’ berühmtes Lichtgebet (Abb. 15 und 16).
Abb. 15: Fidus, Lichtgebet
Abb. 16: Hermannsdenkmal
Auch an dieser Reproduktion bleiben dem »aufmerksamen Betrachter« Veränderungen, wenn er zum Vergleich andere Drucke des königlichen Schnappschusses heranzieht, nicht verborgen. Wie Bodo von Dewitz und Detlef Hoffmann allerdings von »intensiven Retuschen«53 zu sprechen, schießt erheblich über das Ziel 49 50
51
52 53
Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S. 9. Vgl. hierzu grundlegend: Clive Scott, The Spoken Image. Photography and Language, London 1999, S. 46–74 und S. 99–130. Vgl. hierzu das »vom Hl. Vater Benedict XV.« auf Postkarten verbreitete Friedensgebet; abgedruckt in: Volker Mergenthaler, Das Kreuz von Saarburg und seine Deutung durch Richard Dehmel. In: Cahiers d’Études Germaniques, H. 53, 2007, S. 35–57, hier S. 54. Vgl. von Dewitz/Hoffmann, Christus in aktualisierter Gestalt, S. 52–55. Vgl. von Dewitz/Hoffmann, Christus in aktualisierter Gestalt, S. 55.
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hinaus. Eingriffe sind lediglich in der unteren linken Bildecke zu erkennen: In den kontrastarmen und tiefen Schatten des Sockels sind Grashalme eingezeichnet worden, womit eine optische Aufhellung dieses Bildbereichs und eine deutlichere Exposition der im Zentrum stehenden Christusfigur erreicht wird. An welchem Original aber soll der Leser des Jahres 1930 dies messen? Von Dewitz und Hoffmann verweisen auf eine der von Jünger am Ende des Bandes selbst pauschal angegebenen Bildquellen, und zwar auf den Großen Bilderatlas des Weltkrieges, wobei im Unklaren bleibt, ob und, wenn ja, inwiefern die darin aufgenommene Photographie ihrerseits bearbeitet worden ist. Im Wahrnehmungshorizont der Zeitgenossen ist das Motiv ohnehin präsent, ja es zirkulieren 1930 davon so viele Varianten und Bearbeitungen, solche, die das Motiv von vorn (Abb. 6–9), und solche, die es von hinten zeigen (Abb. 17), solche mit Telegraphenmast im Bildhintergrund (Abb. 7 und 8) und solche ohne (Abb. 9), solche mit Baum neben dem Kreuz (Abb. 18) und solche ohne (Abb. 19 und 20), Zeichnungen, Grafiken, Gemälde in schwarzweiß und koloriert, daß die Rede vom Original ins Leere läuft.
Abb. 17
Abb. 18
Abb. 19 Abb. 20 (Abb. 17–20: Das Kreuz von Saarburg, Bildpostkarten)
5. Bestandsaufnahme Drei in besonderer Weise exponierte »Lichtbild[er]«, das für den Schutzumschlag verwendete, das Frontispiz als Eingangsportal und das den visuellen Schlußpunkt setzende, erweisen sich vor den Augen des einigermaßen »aufmerksamen Betrachter[s]« als manipuliert. Die Engführung von photographischer Aufnah-
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me- und militärischer Vernichtungsapparatur gewinnt angesichts dieses Befundes einen anderen, von Bernd Stiegler bereits eingeklagten Sinn: Die Engführung von Kamera und Waffe wird metonymisch verschoben, das Lichtbild vom Aufnahmeapparat abgetrennt und der photographische Schuß als wirksame, nicht im Krieg allerdings, sondern nach seinem Ende wirksame Waffe präsentiert, als politische Waffe in einem ganz anderen Krieg: Es geht um nichts Geringeres als um eine dezidierte Bildpolitik, d. h. um die Frage, wie Photographien politisch gelesen werden können und sollen. Es geht, mit anderen Worten, um die Rolle der Photographie in einem Kampf der Bilder. [...] Ernst Jüngers Bildbände folgen einer strategischen Entscheidung im Bilderkrieg und sind Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln und an anderen Fronten.54
Es stellt sich dann nur die Frage, weshalb dies im Antlitz des Weltkrieges gleichsam transparent gemacht wird, weshalb ausgerechnet die exponiertesten, der Aufmerksamkeit des Lesers in besonderer Weise sich empfehlenden und zudem bereits aus anderen Kontexten vertrauten »Lichtbild[er]« so augenfällig manipuliert und in der Nähe derjenigen Bemerkungen plaziert worden sind, die ostentativ auf die Objektivität des Mediums verweisen, indem sie Photographien als »Dokumente von besonderer Genauigkeit«55 bezeichnen.
6. Rahmen, Kaleidoskop, Fragment, Totalität, Phantasie und Autorschaft Auf diese durch den ersten Beitrag zum Antlitz des Weltkrieges aufgeworfene Frage gibt der Das große Bild des Krieges betitelte letzte des Bandes eine (wiederum häufig zitierte) Antwort. Sie ist korreliert mit einer Bemerkung im ersten, Krieg und Lichtbild überschriebenen Aufsatz: Es ist auf diese Weise ein Schatz von Bildern entstanden, der sich auf mannigfaltige Weise zusammensetzen läßt, und der nicht nur die Erinnerung des Kämpfers lebhaft erregen, sondern auch der Vorstellungskraft dessen, der an dieser Welt nicht teilhaben konnte, eine wertvolle Hilfe erteilen wird. Das Leben der Krieger in den Ruheorten, den Reservestellungen und der Kampfzone, die Arten der Vernichtungsmittel und der Anblick der durch sie bewirkten Zerstörung am Menschen, an seinen Werken und Siedlungen und an der Natur, das Gesicht des Schlachtfeldes in seiner Ruhe und in der höchsten Steigerung seiner Bewegung, so wie es sich dem Beobachter aus den Gräben und Trichtern oder von der Höhe des Fluges aus darstellte –, alles dies ist vielfach erfaßt und für spätere Zeiten erhalten in einer Weise, die schriftliche Aufzeichnungen ergänzt. [...] Man darf überhaupt vom Lichtbild nicht mehr erwarten, als es zu geben vermag. Ein feiner Abdruck des äußeren Geschehens, gleicht es den Abdrücken, die uns das Dasein seltsamer Tiere im Gestein hinterlassen hat. Wohl bieten diese den Stoff der Anschauung dar – wie aber das Leben des großen Tieres in seinen geheimnisvollen Be54 55
Stiegler, Ernst Jünger, S. 81. Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S. 9.
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wegungen sich abspielte: dies zu ahnen, dazu ist Phantasie erforderlich. Hinter den Abbildern einer versunkenen Welt, hinter den Ruinen den Atem großer Taten und Leiden zu spüren, das ist die Aufgabe, die wie jedes Dokument, so auch das Lichtbild aus den Zonen vergangener Kämpfe dem aufmerksamen Betrachter stellt.56 Die einzelnen Bilder, aus denen der Krieg sich zusammensetzt, tragen zum Verständnis des Gesamtbildes des Krieges bei; sie können andererseits nur gewertet und eingeordnet werden aus diesem Gesamtbilde heraus. Es ist jedoch besonders deshalb sehr schwierig, einen klaren Überblick über die Erscheinung des Weltkrieges zu gewinnen, weil erst eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne uns von dem großen Ereignis trennt. Die ungeheuren und mannigfaltigen Formen sind uns noch zu nahe, als daß der Blick sie in einen Rahmen zusammenzufassen vermöchte.57
Jünger nun formiert allerdings mit dem ersten, »Ruhe vor dem Sturm«, und dem letzten »Die Ruhe nach dem Sturm« überschriebenen »Lichtbild« seines Bandes genau einen solchen Rahmen.58 Und er verstärkt diesen im Medium des Bildes generierten Rahmen durch einen aus Texten gewonnenen zweiten, durch die beiden programmatischen, auf Darstellungsprobleme reflektierenden Essays nämlich: Krieg und Lichtbild, den ersten, und Das große Bild des Krieges, den letzten im Buch. In diesen Rahmen, in den durch die Rede von der »Ruhe vor dem Sturm« [meine Hervorhebung; V. M.] und der »Ruhe nach dem Sturm« [meine Hervorhebung; V. M.] generierten Ausstellungsraum nun rückt in der Logik dieser bildsprachlichen Inszenierung mit dem »Sturm« eine Metapher des Krieges selbst.59 Im Rahmen ist nichts weniger anzutreffen als ein aus Texten und Bildern aufgebautes, Kunstanspruch erhebendes Portrait, das Das Antlitz des Weltkrieges zeigt. Nicht zufällig gebraucht Jünger das anachronistisch anmutende Antlitz: »Den Mundarten ist«, wie Trübners Deutsches Wörterbuch Ende der 1930er Jahre registriert, das Wort »A[ntlitz] abhanden gekommen; schon im 16. Jh. finden sich Anzeichen dafür, daß es auch von Gebildeten nur noch gelesen, nicht mehr gesprochen wurde [...]. Dichterwort« 56 57 58
59
Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S. 9–11. Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S. 238. Das ist bisher wohl gesehen, allerdings nicht in seiner ästhetischen Tragweite ausreichend vermessen worden. Vgl. Encke, Augenblicke der Gefahr, S. 45. Zu Jüngers semantischer Auslotung des Lemmas ›Sturm‹ vgl. Volker Mergenthaler, »Versuch, ein Dekameron des Unterstandes zu schreiben«. Zum Problem narrativer Kriegsbegegnung in den frühen Prosatexten Ernst Jüngers, Heidelberg 2001 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 183), S. 107–139. Daß es für die Aufladung des Lemmas ›Sturm‹ mit der Bedeutung ›Krieg‹ einer gewichtigen Umakzentuierung beider Bilder bedarf, hat Encke in Augenblicke der Gefahr (von Dewitz/Hoffmann, Christus in aktualisierter Gestalt, beerbend) bereits betont: Das erste Bild stammt nicht aus der Anfangsphase des Krieges, sondern aus der zweiten Hälfte, das Schlußbild nicht aus der Zeit nach dem Krieg, sondern aus seinen ersten Wochen. Ich folge allerdings nicht der von von Dewitz/ Hoffmann und Encke unternommenen Deutung, daß dies als Plädoyer Jüngers für einen neuen Krieg zu entziffern sein soll.
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allerdings sei es bis dato »geblieben«.60 Als solches »Dichterwort« nun inszeniert sich, medienästhetisch einerseits auf der Höhe der Zeit, ja, mit der Avantgarde durchaus Schritt haltend, und doch ohne ihr nach dem Mund zu reden,61 Jüngers Buch, indem es »Worte« und »Photographien«62 »zusammensetzt«. Andererseits aber rekurriert dieses Verfahren, das Antlitz zum »Leben« zu bringen, auf Denkfiguren, Medienmodelle und Kunstbestimmungen frühromantischer Poetik: auf das Fragment und sein Komplement: die Totalität, auf das Kaleidoskop, auf die Phantasie. Wenn es heißt, daß »der Blick« »die ungeheuren und mannigfaltigen Formen« nicht »in einen Rahmen zusammenzufassen vermöchte«, dann erinnert dies an den Topos der gegenüber jeder Totalität unzureichenden Darstellung im Paradigma rationalistischer Rahmenschau. Wenn es heißt, daß sich der im Krieg angesammelte »Schatz von Bildern [...] auf mannigfaltige Weise zusammensetzen läßt«, dann wird das von den literarischen Romantikern hochgeschätzte Kaleidoskop63 als Darstellungsmedium aktualisiert, in dem durch Schütteln oder Drehen viele, je für sich genommen unzureichende Teile in die Totalität einer prinzipiell unabschließbaren Fülle möglicher Kombinationen überführt werden: neben den Karten und Tabellen, neben den bereits genannten Essays Kriegserzählungen und -berichte über einzelne Schlachten, über das Grauen, über Trommelfeuer oder Tanks, Photographien von allen Teilen der Front, aus der Frühzeit wie aus den Materialschlachten des Stellungskriegs, aus den Gräben, aus den zerstörten Siedlungen und aus der Luft. Wenn auf die »Vorstellungskraft dessen« gesetzt wird, »der an dieser Welt nicht teilhaben konnte« (man möchte freilich lieber sagen: mußte), wenn »Phantasie erforderlich« sein soll, um »den Abdrücken« der Photographie »Leben« zu geben, dann wird das von Walter Benjamin 1920 freigelegte frühromantische Modell eines kongenialen Kunstkritikers auf den Plan gerufen, dessen Lektüre als poetische Aktualisierung und Vollendung des Kunstwerks bestimmt ist.64 Sein systemisches Äquivalent ist freilich der geniale Künstler, dessen Antlitz hier zwar im Verborgenen portraitiert wird, doch auch in aller Unbescheidenheit hindurchschimmert. Jüngers Antlitz des Weltkrieges bestimmt sich selbst in einer solchen Perspektive nicht etwa nur als Dokumentationsband, auch keineswegs nur als bildpolitische Waffe im seit Ende der 1920er Jahre geführten Krieg der Bilder, er bestimmt sich auch als Gestaltetes, als Artefakt, und liefert dem vielbeschworenen »aufmerksamen Betrachter« zugleich eine apokryphe Selbstcharakteristik des schaffenden Künstlers, des (fraglos) politischen Autors Ernst Jünger. 60
61 62 63
64
Trübners Deutsches Wörterbuch. Im Auftrage der Arbeitsgemeinschaft für deutsche Wortforschung hg. von Alfred Götze, Erster Band A – B, Berlin 1939, S. 109. Vgl. Stiegler, Ernst Jünger, S. 85–88. Jünger, Antlitz des Weltkrieges, S. [7]. Vgl. Gerhard Neumann/Günter Oesterle, Bild und Schrift in der Romantik. Einleitung. In: Bild und Schrift in der Romantik, hg. von Gerhard Neumann/Günter Oesterle, Würzburg 1999 (Stiftung für Romantikforschung VI), S. 9–23, hier S. 10. Vgl. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Bern 1920 (Neue Berner Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 5), S. 58–61.
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Bildpolitik und Autorschaft: Ernst Jüngers Das Antlitz des Weltkrieges
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Giampiero Moretti
Zwischen Sehen und Fühlen Anmerkungen zu Jünger, Heidegger und der Romantik
Wie der Großteil des in einem Band1 der Gesamtausgabe von Martin Heidegger enthaltenen Materials zu Ernst Jünger, scheinen auch die drei kleinen Abschnitte, auf die wir hier unsere Aufmerksamkeit richten, auf die Jahre 1939 und 1940 zurückzugehen. Aus diesen wenigen Seiten sticht deutlich Jüngers Schrift Über den Schmerz aus dem Jahre 1934 hervor, auf die sich Heidegger in seinen Reflexionen konstant und mit teilweise ungewöhnlich persönlichen Zügen bezieht. Noch im Jahr 1995 hingegen macht Jünger, der mittlerweile von den vielen unveröffentlichten, ihn selbst betreffenden Schriften Heideggers erfahren hat, darauf aufmerksam, dass Heidegger von allen seinen Schriften vor allem den Arbeiter und Die totale Mobilmachung2 geschätzt zu haben scheine. Dies ist ein weiteres Element, um die Beziehung zwischen beiden zu verstehen, und die Entscheidung, uns hier gerade auf diese Seiten Heideggers zu konzentrieren, basiert auf der hermeneutischen Feststellung, dass Heidegger sich gerade auf diesen Seiten zu bemühen scheint, in der Position Jüngers ein Unterscheidungsmerkmal zu finden, welches dessen Werk auf unmissverständliche Weise ›kennzeichnet‹. Darauf weist schon der Titel hin, den Heidegger den hier zu besprechenden drei Abschnitten zuweist, sofern sich dieser auf das, was Heidegger das ›Sehen‹ nennt, bezieht: Und somit wird im ›Sehen‹ (oder im nicht-›Sehen‹) dem Werk Jüngers eine unterscheidende Form verliehen. Halten wir uns das ontologische Substrat seines Denkens vor Augen, können wir sicher sein, dass die Insistenz Heideggers auf diesen Punkt nicht zufällig ist. Es handelt sich also um ein ontologisches ›Sehen‹. Beginnen wir hier, indem wir Heidegger zuhören:
1
2
Es handelt sich um folgenden Band: Martin Heidegger, Zu Ernst Jünger. In: ders.: Gesamtausgabe. IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 90, hg. von Peter Trawny, Frankfurt/M. 2004. – Die von uns behandelten §§ befinden sich auf den Seiten 263–266. Vgl. Antonio Gnoli/Franco Volpi, I prossimi titani. Conversazioni con Ernst Jünger, Milano 1997, S. 54 [Dt. Übers. Ernst Jünger. Die kommenden Titanen. Gespräche, Deutsch von Peter Weiß, hg. von Antonio Gnoli/ Franco Volpi , Wien/Leipzig 2002]. – Die Schrift Jüngers Über den Schmerz (1934) wird unter anderem, wenn auch flüchtig, zitiert in Martin Heidegger, Zur Seinsfrage, (1955), dessen ursprünglicher Titel Über »Die Linie« war.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-013
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Giampiero Moretti
Was Ernst Jünger sieht Er sieht die heutige Wirklichkeit als Wille zur Macht. Er sieht, daß und wie diese Wirklichkeit ihr Wirkliches überall bestimmt. Er sieht diese Wirklichkeit in mannigfacher Gestalt. Und dieses Sehen selbst bewahrt den Charakter dieser Wirklichkeit: ist kalte Beschreibung mit der Präzision einer gemäßen Sprache aus einem »zweiten« Bewußtsein,3 das außerdem sich selbst in diesem zeitgemäßen Charakter als ein Instrument der Rüstung erkennt. Ernst Jünger ist ein Erkenner des Wirklichen im Lichte der von Nietzsche und diesem allein und vollständig gedachten Wirklichkeit. Jünger ist ein Erkenner, aber nirgends ein Denker. Gemäß dem zum Willen zur Macht gehörigen Menschentum (der Übermensch als »Gestalt« und »Typus« des Menschseins) ist das »Ethos« die »Herrschaft« über das Wirkliche, die »Überlegenheit«, das In-die-Gewalt-bekommen, das Innehalten der Kommandohöhe, das Pathos der Entfernung innerhalb der »Vergegenständlichung«. Diese hat Nietzsche klar erkannt als die zum »Leben« (als Wille zur Macht) gehörige Festmachung der Dinge; Jünger spricht von der »Versteinerung«, »Galvanisierung«. Der Mensch selbst wird zu einem Gegenstand, d. h. zu einem Machtinstrument; was einschließt, daß der Mensch außerhalb der Zone des Schmerzes zu stehen versuchen muß. Weil aus Nietzsches Begriff des Willens zur Macht aufleuchtet, daß dieser west im Befehlenkönnen, das auf seine eigene Sicherung und nur auf diese bezogen bleibt, muß überall die Unverletzlichkeit, d. h. die Sicherung der Sicherheit der Befehlsmöglichkeit und damit der Befehlsübermittelung vorbereitet und eingerichtet werden. Und weil der »Wille zur Macht« nicht ein »psychologisch« gemeinter Wille ist, den man »wollen« kann oder nicht, sondern die wesende Wirklichkeit des Wirklichen, deshalb ist das Grundvermögen zur Einfügung in den Rüstungsvorgang »eingeboren« und ein Einschlag im Menschenwesen, der dieses zu einem eigenen »Schlag«, »Typus« einrichtet, welches Schlaghafte Jünger genau wie Nietzsche als »Rasse« begreift; eine Bestimmung (»die Rasse« nämlich), die nur deshalb in den Vorrang kommen muß, weil der Metaphysik die Ausbildung der Herrschaft des Anthropologismus zugeordnet ist. Was Jünger deutlicher sieht als Nietzsche ist das, was Nietzsche zu seiner Zeit in diesen Erscheinungen noch nicht sehen konnte, da sie selbst noch in der Wirklichkeit versteckt lagen. Im Ganzen sind es die Erscheinungen der Technik als der Grundweise der Einrichtung und Sicherung des Wirklichen als Wille zur Macht.4
Trotz der zahlreichen, philologisch gelehrten Abhandlungen, die sich in der Zeit auf verschiedene Weise mit dem Verhältnis Heidegger–Jünger befasst haben, wird unserer Ansicht nach ein vorausgehender Aspekt noch wenig deutlich: was das Verhältnis selbst für beide bedeutet hat. Vielleicht könnte man versuchen, es so auszudrücken: Heidegger hat Jünger, und besonders einigen seiner Werke der zwanziger und dreißiger Jahre, eine bedeutende Rolle zugeschrieben, da diese tiefgreifend funktionell für die Rekonstruktion der Ergebnisse der Metaphysik und des Wesens des Nihilismus waren, die der Philosoph zur selben Zeit vollendete. Eine Rekonstruktion, deren Grundlage und Wert (Heideggers Ansicht nach) sicherlich nicht in einer Bereicherung eines abstrakten historisch-philosophischen Horizonts zu fin3
4
Vgl. Ernst Jünger, Über den Schmerz. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1980, S. 143–191, hier S. 181. Zit. nach Heidegger, Zu Ernst Jünger, S. 263–264.
Anmerkungen zu Jünger, Heidegger und der Romantik
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den war, sondern eben in ihrer funktionellen Rolle, was unter anderem heißt: das Beiwohnen am Schicksal selbst des westlichen Denkens. Jünger hat seinerseits immer zu gleichen Teilen Überraschung und Respekt gegenüber Heideggers Interesse ausgedrückt; niemals aber, so scheint man sagen zu können, hat er Heideggers ›ursprüngliche‹ (ontologische) Aufmerksamkeit mit gleichwertigen Gesten erwidert. Der große Einzelgänger5 hat den Philosophen immer mit dem Abstand betrachtet, der eine vielleicht unvermeidbare Haltung begründet, für denjenigen, der es gewohnt ist, das Seiende zu kreuzen und ihm so zu begegnen. Dies ist das Über-dieLinie-, d. h. Jenseits-der-Linie-Sein, das nicht nur das Jenseits, sondern auch das Diesseits bezeichnet, im Unterschied zum Denken des Seins als Andenken: für Heidegger soll nämlich das Denken fast zögerlich auf der Linie haltmachen. Derjenige, der auf der Linie haltmacht, und der, der diese, wenn auch schnell, überschreitet, kreuzen weitergehend ihre Blicke, als ob sie sich grüßten. Mehr können sie aber nicht machen, Heidegger und Jünger, weil das, was sie teilen, zwar wesentlich ist, es jedoch nicht hilft, miteinander zu sprechen. Was ist also der Unterschied zwischen dem Sehen und dem Denken? Das Sehen wohnt helfend der Vollfüllung einer Geschichte des Seins und der Metaphysik (des Seins als Anwesenheit) bei, mit der das Denken hingegen (nur) interagiert. Beide, das Sehen und das Denken, jedes nach seinen eigenen Gesetzen, ›helfen‹ der Geschichte des Seins. Ist es aber nicht merkwürdig, dass, als ob man den Leser täuschte, indem man seine normalen Erwartungen umkehrt, das Beiwohnen stärker an die Überlegenheit der Subjektivität (die bei Jünger ›objektiv‹ als Schrift und Stil erscheint) gebunden ist, während die Interaktion vor allem der Effekt eines ›subjektiven‹ Denkens der Gelassenheit (Heidegger) wird? Bei diesem Aspekt möchten wir uns kurz in der Weiterführung unserer Reflexionen aufhalten. Auf den ersten Blick scheint die Jünger von Heidegger zugeschriebene Bedeutsamkeit in den hier behandelten Textabschnitten sehr begrenzt zu sein, sogar eingeschränkt zu werden, besonders bei einigen Wendungen, die überwiegend ›negative‹ Aspekte von Jüngers Werk hervorheben. Sobald man aber erinnert, dass das Auftauchen des Negativen bei Heidegger eine wesentliche Konnotation im Bereich der Reflexion über den Nihilismus und sein Schicksal hat, und dass dieses ›Entstehen‹ keine einfache ›Tatsache‹ in der Geschichte des Seins (und seiner Vergessenheit) ist, sondern ein wahres und echtes Ereignis, das ›in Folge‹ der Aktion der Kunst stattfindet, zeigt sich die Rolle Jüngers wiederum in ihrer ganzen Kraft: Jünger demonstriert, zusammen mit Rilke, den der Philosoph ebenfalls, obgleich in einem anderen Kontext, in den Blick nimmt, das Ausmaß der Prägung Nietzsches auf das Sein. Der ontologische Horizont des ›Sehens‹ beginnt sich im Bezug darauf deutlicher zu zeigen: 5
Es fällt auf, dass Antonio Gnoli und Franco Volpi ihr Vorwort des zitierten Buchs der Interviews mit Jünger mit demselben Ausdruck schließen. Ich nutze diese Gelegenheit, um den schönen Sammelband Ernst Jünger e il pensiero del nichilismo (herausgegeben von Luisa Bonesio, Milano 2002 (Passaggi 1)) zu zitieren.
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Giampiero Moretti
Was Ernst Jünger nicht sieht Er sieht das nicht, was auch nicht gesehen werden kann, da es nur im Denken erreicht wird. Und das ist das Wesen des Willens zur Macht als Wirklichkeit des Wirklichen. Das ist das Wesen der »Wirklichkeit« als einer Wesung der Seiendheit. Das ist die Bestimmung der Seiendheit ins Wesen des aus seinem Anfang fortgegangenen Seins. Weil Jünger nirgends als Denker denken kann, weil er überall nur als Beschreiber das Wirkliche mit einer ungewöhnlichen Präzision prä-pariert, ahnt er nichts davon, was in der Vergegenständlichung der Welt und des Menschen sich ereignet. Das Letzte, was Jünger erkennt, ist Psychologie und Moral: d. h. er sieht auch jetzt ein »Ethos« und ein »Zentrum«, aus dem diese Haltungen »gerechtfertigt« werden sollen. Jünger hält sich überall in der Metaphysik und d. h. neuzeitlich verstanden in der Romantik, wenn auch in der Gestalt des »Realisten« und Antiromantikers, der seine Träume noch als Instrumentarium der Beschreibung »einsetzt« und das »Abenteuer« als den Decknamen für die Nichtigkeit des ganzen Menschentreibens ins Absolute erhebt. Weil Jünger nicht sieht, was nur »denkbar« ist, deshalb hält er diese Vollendung der Metaphysik im Wesen des Willens zur Macht für den Anbruch einer neuen Zeit, wogegen sie nur die Einleitung ist zum raschen Veralten alles Neuesten in der Langeweile des Nichtigen, in dem die Seinsverlassenheit des Seienden brütet. Die Vergegenständlichung scheint dem »Elementaren« »wieder« gerecht zu werden und so in das Seiende zu führen. In Wahrheit stößt sie überall in die Nichtigkeit der Leere der Sicherung der Sicherheit, die eine Rüstung ist um der Rüstung willen. Die hier sich »durchsetzende« Herrschaft und Überlegenheit ist die äußerste Verknechtung in den leeren Vorgang der Sicherung des Vorgehens in die Erhaltung der endlosen Möglichkeit des Vorgehen- und Befehlenkönnens. Jünger setzt der Verhärtung und Versteinerung gegenüber die »Empfindsamkeit« und bleibt deshalb, wenngleich in der Form des Reaktiven, überall »sentimental«. Das Wesen der »Sentimentalität« beruht ja nicht in der Gefühlsduselei, sondern darin, daß die Gefühle nur als Gefühle und d. h. als Erscheinungen der Subjektivität betrachtet und »erlebt« werden. Überall ist das Erste die Reflexion der Gegenstände im Menschen. Und deshalb ist das Beschreiben überall ein Zergliedern der »Situation«. Solange aber die »Situation« wesentlich bleibt, herrscht der Historismus, der die Historie als ein Instrument der Technik selbst dem Vorgang der Rüstung des Willens zur Macht dienstbar macht. Ernst Jünger übertrifft alle heutigen »Dichter« (d. h. Schriftsteller) und »Denker« (d. h. Philosophiegelehrte) an Entschiedenheit des Sehens des Wirklichen, so zwar, daß das »Sehen« kein Begaffen ist, sondern existenziell vollzogen und gewußt wird.6
Heidegger ist also der Ansicht, dass Jünger die ›heutige‹ Wirklichkeit als Willen zur Macht sieht. Diese Behauptung, endlich einmal wörtlich genommen, sofern wir wirklich dazu fähig sind, bedeutet: indem Jünger in seinem Werk sieht und erkennt – was auch bedeutet: beisteht7 und beschreibt –, setzt er das Denken, das Licht, das über der Wirklichkeit aus dem Denken Nietzsches strömt, ins Werk. In diesem Sinne und vor diesem Hintergrund ist das Werk Jüngers, wie andererseits auch jenes von Rilke, der höchstmögliche künstlerische Ausdruck im Zeitalter der (von Nietzsche) gedachten 6 7
Zit. nach Heidegger, Zu Ernst Jünger, S. 264 f. Es handelt sich um ein ›Beistehen‹, das eine Hilfe in der Vision ist, d. h., niemals nur ›Passivität‹.
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Wirklichkeit als Wille zur Macht. In gewisser Hinsicht, und dies kann in diesem begrenzten Rahmen nur angedeutet werden, bedarf das Wesen der Technik, das sich im Werk Jüngers wie Rilkes zeigt, des Werkes beider Autoren, um das, was mit Nietzsche – natürlich ontologisch, im Sinne der Seinsgeschichte – seinen Anfang genommen hatte, zu vollenden, aber so, als ob es eine endgültige Entfaltung, die der Kunst zusteht, erwarte. Das Denken öffnet (»erreicht«), die Kunst setzt ins Werk, verwirklicht in der Form des Stils, die gleichwohl aber eine moderne ›neue‹ Erscheinung der Subjektivität ist.8 Diese ›Teilung‹ der Aufgaben zwischen Denken und Kunst scheint ihrerseits deshalb nicht frei von einem metaphysischen Erbe zu sein. Hören wir also, was Heidegger im letzten der drei für unsere Interpretation gewählten Abschnitte sagt: Ernst Jünger als »Denker« Das neuzeitliche »Denken« ist metaphysisch und denkt in der Vollendung seines Ganges das Sein als Wille zur Macht. Wo immer dieses Wesen der Wirklichkeit gedacht und aus diesem Denken das Seiende erfahren wird, ist das »Denken« ein »Rechnen«. Man »rechnet«, indem man »plant« und das Planbare erst durch die Zerlegung der »Lage« errechnet. Die Schilderung und »Beschreibung«, »Betrachtung« und Beobachtung der »Situation« ist ein wesentliches Kennzeichen solchen Denkens. Unter allen Betrachtern der Situation ist Ernst Jünger der kälteste und schärfste; weil er über ein Doppeltes verfügt: 1. die ursprüngliche Erfahrung der Wirklichkeit im Sinne der Metaphysik Nietzsches. 2. die Gabe des strengen Sagenkönnens des Gesehenen. Dieser »Denker« ist ein zeitgemäßer Rechner, der vorausblickend im Bezirk des wesenden Seins als Wille zur Macht rücksichtslos Wesentliches seiner »Zeit« »vor«-rechnet. Aber das ist auch Alles; denn zugleich bleibt er im »Wert«-denken hängen.9
Wie ist also die zweifache Beobachtung Heideggers zu interpretieren, der zufolge Jünger ein ›Beschreiber‹ sei und niemals ein Denker, ein ›Beschreiber-Assistent‹, der jedoch den Beschreibungsprozess selbst existenziell bewusst gemacht hat? Vielleicht wenigstens teilweise in dem Sinne, dass die beschreibende Kunst Jüngers eine Garantie der sie auszeichnenden Echtheit bildet, und durchaus nicht einen Mangel, sondern eben eine Hilfestellung darstellt. Wenn dem so ist, dann erweist sich diese Echtheit als Stil im ›Sehen‹. Das letztere unterscheidet sich vom Denken, sagt Heidegger weiter (und wir wissen nicht, ob diese Unterscheidung ihrerseits riskiert, ein Erbe jener Metaphysik zu sein, die man verlassen möchte), da es dasjenige nicht sieht, was nicht gesehen werden kann, weil es nur im Denken erreicht wird. Das, was das Sehen (für Heidegger noch »sentimental«, und in diesem Sinne ›subjektiv‹ und außerdem an das Denkennach-Werten gebunden) nicht erreicht, ist die »Situation«, der ›Zustand‹,10 als Erfah8
9 10
Vgl. Giampiero Moretti, Stile. Breve storia filosofica di un concetto. In: Storia dei concetti musicali, vol III: Melodia, stile, suono, hg. von Gianmario Borio, Rom 2009, S. 105–119. Zit. nach Heidegger, Zu Ernst Jünger, S. 265 f. Über die Konstellation der Bedeutungen, die sich um die Begriffe Zustand, Lage und Situation drehen, vgl. den Beitrag: Giampiero Moretti, Novalis e la religione come ›stato‹. A partire da Christenheit oder Europa. In: ders.: Novalis. Pensiero, poesia, romanzo, Brescia 2016, S. 189–200.
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Giampiero Moretti
rung des Seins, sofern sie nicht mehr reiner Ausdruck der individuellen Innerlichkeit ist. Es ist hierbei nicht das Ziel, eine größere Abstraktheit im Sinne der Universalität kenntlich zu machen, die dem Denken eigen wäre, gegenüber dem innigeren und verinnerlichenden Charakter, der dagegen eher dem künstlerischen Akt eigen wäre. Es scheint sich hingegen um einen problematischen Horizont zu handeln und um eine Öffnung auf der Ebene des Seins und seiner Geschichte, bezüglich dessen wir vielleicht einen weiteren Hinweis aus einem Text von Carl Schmitt erhalten können, der besonders bedeutsam nicht so sehr aufgrund seiner Interpretation des Wesens der Romantik in Deutschland11 ist, als vielmehr aufgrund der Bedeutung, die man in jenen Jahren dieser geistigen Bewegung zu geben entschied, besonders von Seiten einiger kulturell herausragender Persönlichkeiten, wie eben Carl Schmitt, der immer ein bevorzugter Gesprächspartner Jüngers war: Politische Romantik. In seinem Vorwort aus dem Jahre 1924 beschreibt Schmitt ein Bild der Romantik, das für unsere Reflexionen besonders nützlich und wirksam erscheint: Die Romantik erhob den Anspruch, wahre, echte, natürliche, universale Kunst zu sein. Niemand wird den eigenartigen ästhetischen Reiz ihrer Produktivität leugnen. Trotzdem ist sie als Ganzes der Ausdruck einer Zeit, die, wie auf anderen geistigen Gebieten, auch in der Kunst keinen großen Stil aufbringt und, im prägnanten Sinne, keiner Repräsentation mehr fähig ist. […] Die auf den ersten Blick so ungeheure Steigerung bleibt in der Sphäre unverantwortlichen Privatgefühls, und ihre schönsten Leistungen liegen in der Intimität des Gemüts.12
Es geht hier nicht um eine Bewertung von Schmitts Deutung der deutschen Romantik, zumal sich diese Interpretation des literarischen Phänomens im allgemeinen und des Romantischen im besonderen auf Hegels und Nietzsches Lesart stützt, sondern vielmehr darum, festzustellen, wie Schmitt mit seiner, unserer Ansicht nach sehr beschränkten, Auffassung der Romantik in Wirklichkeit einen wichtigen Interpretationsschlüssel bietet, um zu verstehen, wie Heidegger einerseits das Werk Jüngers als sentimental und somit subjektiv ›gestimmt‹ lesen konnte (hier erkennen wir dasjenige wieder, was Schmitt, aber wahrscheinlich auch Heidegger, als ›romantischer‹ Zug Jüngers erschien), andererseits aber, auf Grund eines nihilistischen Elementes, bei Jünger ein völlig nietzscheartiges, den Romantikern unbekanntes Element auffand, das dieser viel stärker entwickelt hat als die Romantiker. Diese sozusagen vor-gefühlte Sentimentalität öffnet sich also (so Heidegger) der ontologischen Wirklichkeit und Echtheit des Seins, womit sie den romantischen Subjektivismus wohl überschreitet, die Tiefe des dichterischen Denkens aber ›noch‹ nicht erreicht. Die vermeintliche romantische Unverantwortlichkeit des Fühlens, von Schmitt in der Hoffnung auf die Anklagebank gesetzt, dass diese von den deutschen Künstlern durch ein erhabeneres, organisch an das Leben eines ›neuen‹ Staates gebundenes Fühlen ersetzt wird, versteht Heidegger hingegen als Unverant11
12
Vgl. Giampiero Moretti, Heidelberg romantica. Romanticismo tedesco e nichilismo europeo, Brescia [e. A.] 2013. Zit. nach Carl Schmitt, Politische Romantik, 2. Aufl., München/Leipzig 1925, S. 19–21.
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wortlichkeit eines Fühlens, das noch unfähig ist, sich authentisch in die Richtung des Hörens des Seins und seiner Geschichte zu begeben. Hier beginnt also in der Tat das Ersetzen der Triade Nietzsche–Rilke–Jünger durch das Binom Heidegger– Hölderlin. Hölderlin, der Dichter, der die ontologisch-existenzielle Umkehrung der Empfindsamkeit erfahren hat, die/der Jünger beisteht. Mit Heidegger erfahren wir13 unsererseits eine Umkehrung und damit eine radikale, extreme, hermeneutische Vertiefung: Heidegger folgt Hölderlin chronologisch, er steht ihm bei, er geht ihm außerdem voraus, in dem Moment, da er – vor der Zeit – seinen poetischen Raum denkt (er denkt ihn, er denkt für ihn, nämlich für Hölderlin). Die Interpretation wandelt sich von einer Interpretation des Werks in eine Interpretation der Existenz und ihres Ursprungs, da die existenzielle Öffnung dem Werk auf jeden Fall vorausgeht. Dieses Denken, das bei Hölderlin der gar nicht subjektive Zustand des Propheten war (der irgendwie ein Seher ist),14 wird nun (mit Heidegger) Sehen. Das Denken springt mit Heidegger in ein nun ontologisch ganzheitliches Sehen zurück. Die Vision, die mit der erreichten Situation (dem Zustand) übereinstimmt, ist keine Beschreibung mehr, die sich noch sentimental, irrationalistisch ›künstlerisch‹ vom Denken unterscheidet. Die radikale Zeitlichkeit des Seins wird in der Hölderlin-Interpretation Heideggers berührt, die Ordnung ist umgestürzt, und es wird bei dieser Umkehrung klar, wie Heidegger, wenn auch für einen Moment nur, die Metaphysik hat vorüberziehen sehen können.
Literatur Ernst Jünger e il pensiero del nichilismo, hg. von Luisa Bonesio, Milano 2002 (Passaggi 1). Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Matthias Schöning, Stuttgart 2014. Gnoli, Antonio/Volpi, Franco: I prossimi titani. Conversazioni con Ernst Jünger, Milano 1997 [Dt. Übers. Gnoli, Antonio/Volpi, Franco: Ernst Jünger. Die kommenden Titanen. Gespräche. Deutsch von Peter Weiß, Wien/Leipzig 2002]. Heidegger, Martin: Andenken [19431]. In: ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Bd. 4, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M., 1981, S. 79–151. Heidegger, Martin: Zu Ernst Jünger. In: ders.: Gesamtausgabe. IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Bd. 90, hg. von Peter Trawny, Frankfurt/M. 2004. Heidegger, Martin: Zur Seinsfrage [19551]. In: ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Wegmarken. Bd. 9, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1976, S. 385–426. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Stuttgart 1978–2004. 13
14
Vgl. Giampiero Moretti, Il poeta ferito. Hölderlin, Heidegger e la storia dell’essere, Imola 1999 (Autografi 2), und ders., Per immagini. Esercizi di ermeneutica sensibile, Bergamo 2012 (Narrazioni della conoscenza 24). Heidegger behandelt die Frage der Beziehung Poesie-Prophezeiung in seiner langen Schrift Andenken (in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt/M. 1971, S. 113 f.), aus dem Jahre 1943.
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Giampiero Moretti
Moretti, Giampiero: Heidelberg romantica. Romanticismo tedesco e nichilismo europeo, Brescia, n. A. 2013. Moretti, Giampiero: Il poeta ferito. Hölderlin, Heidegger e la storia dell’essere, Imola 1999 (Autografi 2). Moretti, Giampiero: Novalis e la religione come ›stato‹. A partire da Christenheit oder Europa. In: ders.: Novalis. Pensiero, poesia, romanzo, Brescia 2016, S. 189–200. Moretti, Giampiero: Per immagini. Esercizi di ermeneutica sensibile, Bergamo 2012 (Narrazioni della conoscenza 24). Giampiero Moretti, Stile. Breve storia filosofica di un concetto. In: Storia dei concetti musicali. vol. III Melodia, stile, suono, hg. von Gianmario Borio, Rom 2009. Schmitt, Carl: Politische Romantik, 2. Aufl., München/Leipzig 1925. Schöning, Matthias (Hrsg.), Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014.
Maik M. Müller
Jüngers physiognomischer Blick und die Reisetagebücher der fünfziger Jahre Der mediterrane Raum bildete den Rahmen für Ernst Jüngers im Jahre 1950 wieder aufgenommene Reiseunternehmungen. Neben der französischen Mittelmeerküste stand vor allem die Insel Sardinien im Mittelpunkt zahlreicher Aufenthalte zwischen den Jahren 1954 und 1963.1 Ihren literarischen Niederschlag fanden diese Exkursionen in den Texten Am Sarazenenturm (1955), San Pietro (1957), Serpentara (1957) und Ein Vormittag in Antibes (1960),2 die Jünger im Rahmen der Reisetagebücher in beide Werkausgaben aufgenommen hat. Gemeinsam ist diesen Texten nicht nur ihr zeitlicher Ursprung, sondern auch ihr Gestus einer Durchmessung der mediterranen Welt, die mit ihren südlichen Atmosphären, ihrer Flora und Fauna und ihrer Antimodernität vor allem den zeitgenössischen Rezipienten in starkem Kontrast zur eigenen Lebenswirklichkeit erschienen sein wird. Auch zu Jüngers eigener literarischer Nachkriegsproduktion, zu den (Kriegs-)Tagebüchern Strahlungen (1949), zur artifiziellen Modellanlage des Heliopolis-Romans (1949) oder zur politisch-geschichtsphilosophischen Essayistik, wie sie im Waldgang oder im Gordischen Knoten ihren Ausdruck fand, steht jene locker gefügte Reiseliteratur mit ihrem Blick für das südländisch Heitere in ihren Sujets und im sprachlichen Duktus in äußerlich starkem Kontrast.3 1
2
3
Zu Jüngers Sardinienreisen in biographischer Perspektive vgl. Jan Robert Weber, Ernst Jüngers Reisejournal Am Sarazenenturm: Sardinien als Entschleunigungsinsel. In: Ernst Jünger. Eine Bilanz, hg. von Natalia Zarska u.a., Leipzig 2010, S. 252–270, hier S. 255 ff. Vgl. ders., Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher (1934–1960), Berlin 2011, hier S. 299–342, Godehard Schramm, »Wunderbare Augenblicke«. Ernst Jüngers unerschöpfliche ›Sardische Heimat‹. In: Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart, 46, 2008, S. 61–78 sowie Jörg Magenau, Brüder unterm Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger. Eine Biographie, Stuttgart 2012, hier S. 256–263. Zum Komplex der Sardinien-Texte zählen außerdem Neunte Sardinienreise. Texte und Zeichnungen aus Ernst Jüngers Tagebuch der Neunten Sardinienreise, Biberach a.d.R. 1965 sowie Herbst auf Sardinien (Ernst Jünger, Herbst auf Sardinien. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 18: Erzählende Schriften IV, Stuttgart 1983, S. 451–462), das ursprünglich im Jahre 1965 – wie auch San Pietro und Serpentara im Jahr 1957 – als Privatdruck erschien. In den vierten Supplement-Band der Sämtlichen Werke wurden außerdem sechs weitere Sardinien-Tagebuchnotizen aufgenommen. Vgl. Ernst Jünger, Reisenotizen. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. und vier Supplementbände. Bd. 22: Späte Arbeiten, Stuttgart 2003, S. 472–551, 575–605 sowie 646–673. Jenseits der Differenzen von Schreibweisen lässt sich die Reiseliteratur jedoch derart kontextualisieren, dass deren Ästhetik als inhärenter, zentraler Teil von Jüngers Autorschaft erscheint, wie Jan Robert Weber in seiner breit angelegten Studie Ästhetik
https://doi.org/10.1515/9783110279795-014
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Maik M. Müller
Gleichwohl ist Jüngers Rolle als »Reiseschriftsteller, der sich ohne politische Mission auf eigenen Pfaden bewegt«4 keine Erfindung der Nachkriegszeit, sondern gehört seit den dreißiger Jahren zum Repertoire seiner literarischen Selbstdarstellung. Bereits die Texte Dalmatinischer Aufenthalt (1934), Aus der Goldenen Muschel (1944) und das Rhodos-Tagebuch Ein Inselfrühling (1948) verarbeiten Jüngers südländische Exkursionen zwischen 1929 und 1938 auf eine Art und Weise, die in ihren ästhetischen Perspektiven stark mit den Reisetexten der fünfziger Jahre korrespondiert.5 Schon in Jüngers aus seinem frühen Sizilien-Aufenthalt hervorgegangenen Reisebericht ist jene charakteristische Mischung aus genussvollem Müßiggang und gespannter Aufmerksamkeit deutlich zu erkennen, in der die phänomenalen Dinge der natürlichen und kulturellen Erscheinungswelt akribisch registriert und gedeutet werden. Blüten, Schlangen, Eidechsen und Käfer bilden immer wieder bevorzugte Gegenstände dieser Streifzüge durch ein vegetatives Erfahrungsfeld, auf das mit naturkundlichem Wissen, aber auch mit dem Instrumentarium einer gesteigerten Sensualität zugegriffen wird. Charakteristisch für all diese Texte erscheint ein Blick, der sich an der Fülle der südländischen Flora und Fauna entzündet. Dabei wird oft das Detail der Pflanzenund Tierwelt in den Fokus genommen, der Ausschnitt in geometrische Formen aufgelöst und die sinnliche Qualität der Farben als intensives Erlebnis beschrieben. Der Gegenpol dieser Blickführung hin zum naturkundlichen Detail bildet in Jüngers Schreibweise das Panorama, der Blick in die Weite der Topographie. Aus dieser Wechselbeziehung, dieser Oszillation der Blickführung, die bisweilen angereichert wird mit olfaktorischen und akustischen Eindrücken, entsteht jener Eindruck einer verdichteten Natur- und Landschaftserfahrung, den Jüngers Reisetexte von Beginn an vermitteln. Die Reisetagebücher präsentieren ihren Autor als Flaneur in südlichen Gefilden, als Naturforscher in einem Terrain, das zumindest in Teilen auch in den 50er Jahren noch kaum touristisch erschlossen war. Neben Tieren und Pflanzen geraten in
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der Entschleunigung gezeigt hat: Die Suche nach bzw. die literarische Inszenierung von vormodernen, naturnahen Lebensverhältnissen an den zivilisatorischen Peripherien dokumentiere Jüngers fortgeführte Auseinandersetzung mit dem Prozess einer planetarischen Modernisierung, die seit den frühen 30er Jahren nun nicht mehr aktivistisch proklamiert, sondern als destruktive Nivellierung charakterisiert und in ihrem expansiven Verlauf erfasst wird. Das Aufsuchen von »Beharrungsräumen und Entschleunigungsinseln« (ebd., S. 16) sowie die Erfahrung von »Verlangsamung und Zeitentrückung« (ebd., S. 293) diene Jünger der Vertiefung seiner geschichtsphilosophischen Deutungskonzepte, aber auch der Einübung einer kontemplativen und stoischen Haltung gegenüber einer längst als unaufhaltsam erkannten Expansion der technischzivilisatorischen Moderne. Lutz Hagestedt/Luise Michaelsen, »Wie man ein Tagebuch führt«. Nachwort. In: Ernst Jünger, Drei Mal Rhodos. Die Reisen 1938, 1964 und 1981, hg. von Lutz Hagestedt/ Luise Michaelsen, Marbach a.N. 2010 (Aus dem Archiv 2), S. 81–106, hier S. 87. Vgl. Jan Robert Weber, Reisetagebücher. In: Ernst Jünger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Matthias Schöning, Stuttgart 2014, S.159–164, hier S. 160f.
Jüngers physiognomischer Blick und die Reisetagebücher der fünfziger Jahre
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dieser Zeit zunehmend historische Artefakte, »Spuren geschichtlicher Epochen«6 sowie die kulturellen Eigenheiten der Ansässigen in Jüngers Blick. Die Form des Tagebuches bildet dabei den idealen Rahmen zur Darstellung einer Erfahrungsform, die im Rhythmus aus Bewegung, Beobachtung und Reflexion kontinuierlich eine Physiognomie der Landschaft und ihrer Bewohner entfaltet, indem sie immer wieder an den phänomenalen Form- und Gestaltbildungen der Erscheinungswirklichkeit ansetzt. Die Reisetagebücher als »bemerkenswertes Korpus innerhalb des Werkganzen«7 stellen dabei die leiblich erfahrbare Phänomenalität der Welt als bedeutungstragende Oberfläche ins Zentrum einer Erfahrungsform, die von der »Vorstellung einer einheitlichen Struktur der physischen und geistigen Sphäre«8 getragen wird.
Der physiognomische Blick und die Tradition physiognomischer Wahrnehmung In einer programmatischen Eingangspassage bestimmt Jüngers Tagbuch-Ich das Ziel seiner südlichen Sardinien-Exkursion als Form von Lektüre und Entzifferung eines Textes, der gleichsam universal in den Erscheinungsformen und Gestalten der elementar-unbelebten, der biologischen und der kulturellen Wirklichkeit verortet wird. Zudem bin ich der Meinung, daß Geschichte und Vorgeschichte einer solchen Insel noch auf andere Weise erfaßbar sind als durch Studien. Auf ihren Bergen, an ihren Riffen und im besonnten, eidechsenhaften Frieden ihrer Täler muß noch in den Atomen, im Zeitlosen schlummern, was in der Folge der Zeiten sich zu Mustern gewoben hat. Es muß an Wind und Woge, aus den Gesichtern der Menschen, aus ihrer Sprache und ihren Melodien, aus der Art, in der sich der Rauch der Herdfeuer am Abend über ihrer Heimstatt kräuselt, ablesbar sein.9
Die oberflächliche Textur der Welt erscheint in dieser Perspektive als entzifferbares Relief, als Produkt eines historischen Formierungsprozesses, dem Bildungskräfte zugrunde liegen, die außerhalb des Zeitlichen vermutet und die zum Gegenstand des Jünger’schen Lesbarkeitspostulates erhoben werden. Am Sarazenenturm und diejenigen kleineren Texte, die entstehungsgeschichtlich, motivisch und thema6
7 8
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Ernst Jünger, Serpentara. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 6: Tagebücher VI, Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 363–385, hier S. 377. Hagestedt/Michaelsen, »Wie man ein Tagebuch führt«, S. 91. Gregor Streim, Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin/New York 2008 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 49 = 283), S. 141. Ernst Jünger, Am Sarazenenturm. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 6: Tagebücher VI, Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 219–323, hier S. 225.
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Maik M. Müller
tisch um diesen Reisebericht gruppiert sind,10 lassen sich damit in den Kontext einer literarischen Auslotung und Ausleuchtung der »Tiefenstruktur der Historie«11 einordnen, dem auch die Strahlungen verpflichtet sind. Das Erfassen sinngesättigter Muster bzw. die sprachliche Bildung einer literarischen Äquivalenz zur Erscheinungswirklichkeit, die den Blick freigeben soll auf eine Tiefenstruktur, auf Elemente universaler Ordnung, auf Gestaltbildungen, gehört zu den Grundcharakteristika, die Jüngers Schreibweise in ihrer Entwicklung seit den 30er Jahren immer wieder zugeschrieben werden.12 Bei aller Kontinuität wird in den Reisetagebüchern jedoch der Fokus verschoben. Der Schauplatzwechsel entspricht einem Sprung vom Zentrum des historischen Geschehens zur Peripherie, aus dem ›Bauche des Leviathan‹ hin zu den »Ränder[n] des historischen Bewußtseins«.13 Damit einher geht eine Verschiebung der Aufmerksamkeit hin zu den Formen natürlicher Gestaltbildung, die in den Details der Flora und Fauna, im Körperbau von Pflanzen und Tieren, in der Topographie und der Architektur ihren wahrnehmbaren Ausdruck finden. Galt Jüngers Interesse in den 30er Jahren »einer gestalttypologischen Betrachtungsweise, die unter der bewegten Oberfläche ein ruhendes Sein zu erkennen versucht«,14 so bildet in den Reisetagebüchern eine ruhende Oberfläche den unmittelbaren Erfahrungshorizont, der zum Gegenstand von Entzifferungsversuchen wird. Nun hört diejenige Anschauungsform, die ihren Gegenstand mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe bzw. von Teil und Ganzem beobachtet, auf den Namen Physiognomik. Die zentrale Figur in der Tradition physiognomischen Denkens bildet die Dichotomie von Äußerem und Innerem. Es ist die sichtbare Oberfläche, die Gestalt und Erscheinungsweise der Dinge, die als bedeutungstragende Schicht interpretiert wird. Diese »Wesenserkenntnis aus äußeren Zeichen«15 10
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Neben Serpentara und San Pietro, die hier betrachtet werden, wären dazu auch Sardische Heimat (1962) und Das Spanische Mondhorn (1962) zu zählen, die beide Sardische Sujets thematisieren, (Ernst Jünger, Sardische Heimat. Ein Gang durch das Museum von Cagliari. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 12: Essays VI, Fassungen I, Stuttgart 1982, S. 267–287; Ernst Jünger, Das Spanische Mondhorn. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 13: Essays VII, Fassungen II, Stuttgart 1982, S. 49–82), sowie die in Fußnote 2 erwähnten Texte. Auch Ein Vormittag in Antibes besitzt in Am Kieselstrand einen (wenn auch früher publizierten) Satellitentext, der ausschnitthaft einen begrenzten Schauplatz aufnimmt und beleuchtet. Streim, Ende des Anthropozentrismus, S. 118. Meist wird dabei Bezug genommen auf die Zäsur, die mit dem poetologischen Konzept des ›Stereoskopischen Blicks‹ eingetreten sei. Vgl. z. B. Alexander Rubel, Zur Quelle der »Stereoskopischen Wahrnehmung«. Ernst Jünger und Karl-Joris Huysmans’ ›À Rebours‹. In: Études Germaniques, 65, 2010, S. 925–939, hier S. 929; Streim, Ende des Anthropozentrismus, S. 119 sowie Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 359 ff. Jünger, Sarazenenturm, S. 249. Streim, Ende des Anthropozentrismus, S. 121. Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M. 1995 (edition suhrkamp 1927), S. 132.
Jüngers physiognomischer Blick und die Reisetagebücher der fünfziger Jahre
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beruht auf dem Postulat einer Korrespondenz bzw. Kongruenz sichtbarer und sinnlich wahrnehmbarer Gestaltformen mit den inneren, tiefenstrukturellen Eigenschaften. Die Physiognomik des 18. Jahrhunderts, wie sie wesentlich von Johann Caspar Lavater16 als Projekt entworfen wurde, von äußeren Erscheinungsformen des Menschen auf seinen Charakter zu schließen, stand im engen Kontext eines theologisch fundierten Weltbildes. Die Kongruenz von Innen und Außen als Grundbaustein einer universalen Ordnung, die Geist und Materie gleichermaßen umgreift, wurde in einen eschatologischen Rahmen gefasst. Vom Bild des Menschen aus ordnet sich dann die gesamte Natur (buchstäblich in der Wahrnehmung) zur Einheit, die Lavater immer wieder als ›homogen‹ oder ›harmonisch‹ bezeichnet; analog zur abstrahierenden Systematik soll die Anschauung vom Einzelwesen über die Gattung schließlich bis zur höchsten Gesamtheit gelangen.17
Bereits mit Lavaters Spekulation, ob »nicht die ganze Natur Physiognomie [sei,] Oberfläche und Innhalt? Leib und Geist? Aeußere Wirkung und innere Kraft? Unsichtbarer Anfang; sichtbare Endung?«18 beginnt die Ausweitung des physiognomischen Denkens in den Raum der Natur und ihrer belebten wie unbelebten Bildungsformen. Schon in der zeitgenössischen Rezeption Goethes und Lichtenbergs19 wird im Zuge einer »Erweiterung und Übertragung des Begriffs des Physiognomischen von der Körperoberfläche auf soziale und kulturelle Verhältnisse«20 die Orientierung an einem theologischen Signifikat, einem statischen Sinnzentrum aufgegeben. Die Denkfigur von der Bedeutsamkeit der äußeren Erscheinungsgestalt hat daraufhin auf vielfältige Weise in der Ausdifferenzierungsphase der Naturund Kulturwissenschaften ihre Wirkung entfaltet. Bis in die Moderne transportiert die Tradition physiognomischer Anschauung das Versprechen, die Oberflächenvorgänge »als Bewegungen eines subkutanen Sinnzusammenhangs«21 zu entschlüsseln. 16
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Vgl. zur Physiognomik des 18. Jahrhunderts: Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Caspar Lavater, hg. von Karl Pestalozzi/Horst Weigelt, Göttingen 1994 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 31) sowie Geschichten der Physiognomik. Text – Bild – Wissen, hg. von Rüdiger Campe/Manfred Schneider, Freiburg i. Br. 1996 (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae 36). Johannes Saltzwedel, Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit, München 1993, S. 80. Zit. n. Saltzwedel, Gesicht der Welt, S. 101. Zu Lichtenbergs Physiognomik-Rezeption vgl. Gerhard Neumann, »Rede, damit ich dich sehe«. Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick. In: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposium, hg. von Ulrich Fülleborn/Manfred Engel, München 1988, S. 71–108. Gerd Mattenklott, Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek bei Hamburg 1982 (Das neue Buch 170), S. 21. Heiko Christians, Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 74, 2000, S. 84–110, hier S. 85.
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Die Deutung sichtbarer Wirklichkeit durch eine physiognomische »Regeneration des hermeneutischen Lesens«22 ist im Hinblick auf Jünger nicht nur für die Werkperiode von Belang, deren Horizont die (medien)technische Fragmentarisierung der Welt und die Frage ihrer Rekonstruktion bildete.23 Auch in den Texten der zweiten Werkphase, die, je nach Betrachtung auf geschichtsmythologische, naturphilosophische oder theoretisch-physikalische Konzepte zurückgreifen,24 um auf tiefenstruktureller Ebene erkennbare Muster zu rekonstruieren, sind Figuren aus der physiognomischen Tradition an vielen Stellen identifizierbar.25 Auch in ihrer klassischen Form, als Versuch, aus den äußeren Zügen des menschlichen Antlitzes Züge des Charakters abzulesen, ist die Physiognomik in Jüngers Texten präsent, so wenn die »Physiognomien« mancher Sarden als »gelblich und finster spähend« beschrieben werden, während andere »von ausgeprägtem und edlem Schnitt«26 seien. Die Merkmale des Körpers sind der intuitiven Lektüre zugänglich und verweisen auf Eigenschaften, die sich im Äußeren manifestieren: »Der Wein macht die Gesichter deutlicher, die Züge und die Schrift. Die Charaktere treten ausgesprochener hervor, ohne daß Worte nötig sind«.27 Von der Frau eines sardischen Hirten heißt es: »Das Gesicht hat Größe; in seinen Zügen verbinden sich Klugheit, Tugend und Willenskraft.«28 Jüngers Deutungen greifen jedoch über die Sphäre individueller Charakterbilder hinaus und finden ihren Bezugshorizont in der Tiefe des historischen, kulturgeschichtlichen Raumes: »Wie ist es aber mit den Spuren der Phönizier? Hier gibt es sicher Einwebungen, deren Muster sich auch für den schärfsten Blick nicht abheben«.29 In den Physiognomien der Gegenwart sucht Jünger die 22 23
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Christians, Gesicht, Gestalt, Ornament, S. 103. Heiko Christians zeigt in Gesicht, Gestalt, Ornament auch anhand von Jünger, wie die Leitunterscheidungen der Physiognomik, vielfältig transformiert, in den medientheoretischen Diskurs der 20er Jahre einwandern. Vgl. Streim, Ende des Anthropozentrismus, S. 119. Mit Blick auf Jüngers Gesamtwerk hat Ingo Stöckmann ein universales Wahrnehmungsund Deutungsschema physiognomischer Provenienz als Charakteristikum schlechthin identifiziert: Jüngers Schreibweise beruhe »auf einer überaus stabilen und transsemantisch angelegten Tiefenstuktur« (Ingo Stöckmann, Jüngers Spätwerk. In: Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte, hg. von Matthias Schöning und Ingo Stöckmann, Berlin & Boston 2012. S. 37–60, hier S. 45), die als semiotischer Formalismus in unterschiedlichen Werkphasen lediglich unterschiedliche Totalitätsentwürfe produziert habe: »Auf einer imaginären Oberfläche bloßer Erscheinungen, die im ›Blick‹ des Autors den Status von bedeutenden Zeichen gewinnen, ordnen die Texte Phänomene an, die aufgrund ihrer Heterogenität zunächst disparat bleiben, in einem zweiten Schritt aber tiefensemantisch integriert werden.« (ebd.) Jünger, Sarazenenturm, S. 229. Jünger, Sarazenenturm, S. 379. Jünger, Sarazenenturm, S. 266. Vgl. auch S. 307: »Wenn man die Gesichter der großen Verfolger unserer Zeit studiert, so fällt ein angeekelter Zug auf, der ihnen gemeinsam ist. Er macht die Ähnlichkeit zwischen Hitler und Berija frappant. Wer ohnmächtig schnüffelt, wird mächtig töten; das kann man als Gesetz nehmen.« Jünger, Sarazenenturm, S. 229.
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Zeichen historischer Migrations- und Kolonisierungsbewegungen. Die physiognomische Lektüre bezieht ihre Evidenz aus dem Gedanken einer bis in die Gegenwart fortgeschriebenen Textualität des Historischen und zugleich aus einem Vokabular der Optik, die den zu lesenden Text in der Sphäre des unmittelbar Sichtbaren ansiedelt. Um »aus der Stirn, den Augen, der Eigentümlichkeit des Ganges«,30 auf die der Blick des Betrachters fällt, eine Erkenntnis abzuleiten, bedarf es spezifischer Kompetenzen: Es gewinnen ja nicht nur unsere Messungen und Ermittlungen an Feinheit, sondern zugleich eine Musikalität in der geistigen Beherrschung der Formen, die Vergangenes wie durch Melodien heraufbeschwört und glaubwürdig macht.31
Dieser Rekurs auf physiognomische Deutungstechnik des 18. Jahrhunderts aktualisiert eine (kaum auflösbare) Ambivalenz zwischen dem Anspruch auf Exaktheit einerseits und Momenten von Virtuosität, Spontanität und Intuition in der Deutung der Formen, wie man sie schon in den Schriften Lavaters findet.32 Die Rede von Musikalität eröffnet aber zugleich den Blick auf die rhetorische Form, in der in Jüngers Reisetexten die Physiognomik zum Darstellungsprinzip gemacht wird, indem Kohärenzen und simultane Kontexte von Deutungsebenen hergestellt werden: Oft sind es Farbeindrücke, die als zentrale sinnliche Eigenschaft der Oberflächen, als optisch-sprachliche Leitmotive Wahrnehmungsfelder dominieren und dem Text ein subtiles Gewebe von Anschlussstellen unterlegen. In Civitavecchia, auf der Anreise nach Sardinien, deutet eine rotbraune Fischsuppe auf die sinnlichen Genüsse voraus, die die Insel bereithalten wird. In den Inselbeschreibungen erscheint das Rotbraun dann als charakteristische Eigenschaft von Pflanzen, Tieren und Gegenständen, die als beobachtete Details in den Kontext der Landschaft eingefügt werden. Seien es Korkeichen, deren Stämme »im grünen Dickicht ein scharfes Rotbraun aus[strahlen], wie frisch gestoßener Zimt«,33 sei es ein »großer Würger mit rostbraunem Kopfe«34 oder die Serva, die »den rotbraunen Krug auf dem Kopfe«35 trägt: Das Rotbraun steht leitmotivisch im Zentrum von Bildern, 30 31 32
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Jünger, Sarazenenturm, S. 230. Jünger, Sarazenenturm, S. 230. Vgl. Ulrich Stadler, Der gedoppelte Blick und die Ambivalenz des Bildes in Lavaters ›Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe‹. In: Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, hg. von Claudia Schmölders, Berlin 1996, S. 77–92. Jünger, Sarazenenturm, S. 224. Jünger, Sarazenenturm, S. 238. Jünger, Sarazenenturm, S. 305. – Der Text Sardische Heimat entwirft daran anschließend eine Physiognomie des Kruges und verortet diesen, ausgehend von seiner materiellen Gestalt, funktional, symbolisch, anthropologisch und kulturgeschichtlich. »Im Kruge begegnen sich die beiden großen Elemente des Wassers und der Erde; sie grenzen sich durch ihn ab. Der Krug begrenzt das Wasser, das ihm den Inhalt gibt. […] Der Krug hat in der Geschichte des Menschen und seiner Gesittung, die durch Geräte nicht nur bestimmt wird, sondern sich auch in ihnen ausdrückt, seinen eigenen Ort, seinen besonderen Rang.« (Jünger, Sardische Heimat, S. 282.)
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die chthonische Ursprünglichkeit und intakte Natur- und Kulturverhältnisse imaginieren sollen.36 Das »Verfahren von Mythisierung und Dechronologisierung«,37 durch dessen Anwendung die sardischen Szenerien in den literarischen Schein einer geschichtsphilosophisch verortbaren Vormoderne getaucht werden,38 wird (auch) umgesetzt durch eine Farbsymbolik, die als Teil einer physiognomischen Deutung der Naturdinge vorgestellt wird.39 Ein weiteres Adjektiv, das leitmotivische Verwendung findet, ist in seiner Semantik und den intertextuellen Bezügen komplexer: Die mit »ausgeglühten Ziegeln gedeckt[en]«40 Dächer typisch sardischer Bebauung korrespondieren mit der Architektur der Moderne, mit der »kalzinierte[n] Strenge, die Bilder und Gebäude ausglüht und entkeimt.«41 Auch der Sarazenenturm selbst ist charakterisiert durch sein »ausgeglühtes Gestein«.42 Der Begriff weckt vielfältige Assoziationen: Stets taucht er auf in Bildfeldern gleißender Helle, des Bleichen und Sonnenhaften. Als Beschreibung einer Materialeigenschaft bezeichnet er den Endzustand eines thermischen Prozesses, der nur die anorganische Kernstruktur unangetastet lässt, sie aber zugleich verfestigt. Die verfahrenstechnische Konnotation überschneidet sich dabei mit einer klimatischen, der kulturelle Herstellungs- mit einem natürlichen Aushärtungsvorgang. Das permanent der Sonnenhitze ausgesetzte Material, dem alles Organische entzogen wurde, scheint in einen Zustand der Dauerhaftigkeit und ein Stadium der Zeitlosigkeit einzutreten, welcher wiederum als atmosphärische Charakteristik Sardiniens leitmotivisch aufscheint. In denselben Assoziationsbereich ragt Serpentara hinein: »Die Sonne brannte auf den bleichen Fels«, auf eine »Schädelstätte«, »auf der die Überreste von Meerestieren bleichten«.43 Die Insel selbst erscheint als osteologisches Präparat:
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Weitere Fundstellen der rotbraunen Farbe: Jünger, Sarazenenturm, S. 222, 233, 239, 263, 268, 308. Weber, Ernst Jüngers Reisejournal, S. 264. Vgl. Weber, Ernst Jüngers Reisejournal, S. 264 ff. Auch das von Jünger selbst entworfene ästhetische Konzept der Stereoskopie steht mit seinem Anspruch einer synoptischen Verschmelzung polykontexturaler Bedeutungsebenen zu universalen Sinneinheiten deutlich in der historischen Tradition der Physiognomik. Vgl. Sandro Gorgone, Die Ethik der Landschaft bei Ernst Jünger. In: Werke und Korrespondenzen. Ernst Jünger im Dialog, hg. von Danièle Beltran-Vidal/Lutz Hagestedt, München 2011 (Les Carnets Ernst Jünger 11), S. 119–140, hier S. 127 ff. Jünger, Sarazenenturm, S. 227. Jünger, Sarazenenturm, S. 234. – Eine Untersuchung der Wanderung des Partizips »ausgeglüht« durch Jüngers Werk würde vielfältige Bezüge aufdecken, angefangen von den Weltkriegstexten bis hin zu den Szenerien der Posthistoire, als deren Charakterisierung der Begriff z. B. in Eumeswil wiederkehrt. Vgl. Ernst Jünger, Eumeswil. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 17: Erzählende Schriften III, Eumeswil, Stuttgart 1980, S. 333. Jünger, Sarazenenturm, S. 247. Jünger, Serpentara, S. 375.
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Das Inselchen lag wie ein bleicher Knochen in der Flut. Die Fische benagten ihn in der Tiefe, und Vögel flatterten um seinen Grat. Es lag fern der Geschichte, vor der berechenbaren Zeit, als winziger Balkon, auf den man hinaustritt und zeitlose Flut erblickt.44
Die an Gesichtern eingeübte Technik des physiognomischen Schauens wird auch auf andere Bereiche angewendet. Spuren des Phönizischen finden sich nicht nur in den Gesichtszügen, sondern werden auch in der Bautechnik entdeckt: Der Anblick primitiver Lehmziegel gibt über nichts weniger Aufschluss als über das Schicksal Babylons. Wieder ist es die Oberfläche, hier als materielle Tünche der Lehmziegelwände, die »durch Augenschein belehrt«: Erst die Lasur konnte der Architektur jener »glänzenden Städte des frühen Orients« Dauer und Haltbarkeit verliehen haben, so Jünger. Die materielle Schutzschicht der schnell verwitternden Ziegel erscheint als Hülle, in der die babylonische Baukultur in Erscheinung trat. Mit ihrem Vergehen verwandelten sich die Städte »in nur von Eulen bewohnte Schutthalden«.45 Die materielle Hülle markiert die historische Grenze zwischen Prachtentfaltung und Trümmerfeld. In den historischen Landschaften,46 die Jünger durchwandert, bilden die Bunkeranlagen des Zweiten Weltkrieges in ihrer Unvergänglichkeit den extremen Gegensatz. Der Verwitterung als Form organischer Vergänglichkeit wird hier das Modell der Korrosion entgegengestellt: Bis die chemisch-physikalische Auflösung greift, »bleibt zu hoffen, daß die Flechten diesen Klötzen eine Patina, ein buntes Gewand geben«.47 Die vegetative Verhüllung wird Teil der architektonischen Gestalt. 48 Die Unterscheidung zwischen harter Substanz und weicher Verhüllung wird in Jüngers Reisetexten vielfältig variiert. Auch sie gehört in die Tradition der Physiognomik.49 44 45 46
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Jünger, Serpentara, S. 378. Jünger, Sarazenenturm, S. 294. »Als ›Landschaft‹ versteht Jünger nicht eine bloße Ansicht, sondern eine Sinneinheit, einen physiognomischen und kulturellen Ausdruck; die Landschaft ist also nicht der rein physikalisch, sondern kulturell und sinnbildlich gemeinte Lebensort einer Gemeinschaft einschließlich ihrer Geschichte und Sitte. Sie ist das Zeichen des Vollzuges der Gemeinsamkeit zwischen Kultur und Natur eines Raumes, d.h. einerseits Architektur, Bauwerke, technische und wirtschaftliche Gebietsformen, und andererseits die physische, geologische Ordnung und der Bestand der Pflanzen und Tiere der Umwelt.« Gorgone, Ethik der Landschaft, S. 119. Jünger, Sarazenenturm, S. 316. Vgl. auch Ernst Jünger, Ein Vormittag in Antibes. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 6: Tagebücher VI, Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 387–420, hier S. 408: »Die Bunker werden für lange Zeit das Bild der Küste beeinträchtigen, wenn sie nicht gesprengt werden. Die Verwitterung kann ihnen wenig anhaben. Ein Trost liegt darin, daß sie sich allmählich mit Moos und Flechten überziehen und daß sich Kräuter wie der Lavendel auf ihnen ansiedeln.« Vgl. Rotraut Fischer/Gabriele Stumpp, Das konstruierte Individuum. Zur Physiognomik Johann Kaspar Lavaters und Carl Gustav Carus’. In: Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte, hg. von Dietmar Kamper/Christoph Wulf, Berlin 1989 (Reihe historische Anthropologie 6), S. 123–143.
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Schon die frühen Reisetexte führen diese Unterscheidung zur Charakterisierung von Landschaften ein: »Der Stein steht in einem besonderen Verhältnis zur Zeit. Er stellt im Körper der Erde das Knochengerüst dar, das allen Verwandlungen in geringerem Maße unterliegt.«50 Über dem »Knochenbau einer Landschaft«51 bilden die charakteristische Vegetation und die Formationen der Kultur gleichsam eine Epidermis. So sind die Gebirge »mit Dickichten bezogen«,52 die Architektur der französischen Riviera bildet eine »Oberfläche, [die] als zeitliche Haut über dem Altprovençalischen der Landschaft […] die Urlandschaft verbirgt, de[n] glühende[n] Fels über dem leuchtenden Meer«.53 Die Isotopie der Epidermis korrespondiert mit den Bildern von Schichtung, Verhüllung und Ablagerung. Jüngers Text verschränkt im Bildbereich der Haut geologische und biologische Prozesse mit Ereignissen der Historie, Natur und Kultur scheinen sich gegenseitig zu überlagern und werden – gleichsam stereoskopisch – auf eine gemeinsame Ordnung des Wirklichen bezogen. Bei der Betrachtung der Gegenstände des organischen Lebens widmen Jüngers Reisetexte der äußeren Hülle als der materiellen Bedingung und ästhetischen Erscheinungsform des Lebendigen dieselbe Aufmerksamkeit. Gert Mattenklott konstatiert im Hinblick auf die physiognomisch inspirierte Morphologie Goethes: Haut und Hülle sind hier keine beliebigen zoologischen oder botanischen Details, deren Wesen mit der Aufzählung ihrer pragmatischen Funktionen erschöpft wäre, sondern es kommt an ihnen ein Grundsatz der Lebensorganisation zur Erscheinung. Die Hülle ist epidermis und als solche die stationäre Form, in der die Lebenstätigkeit an die Oberfläche tritt. Dauer ist ihr nicht beschieden. Das Leben geht durch sie hindurch wie die Natur durch die Kunstformen. Aber zum Erscheinen kommt das Leben auch nicht anders als in der Form dieser Verhülltheit.54
Diese Anschauungsform, die die Ausbildung materieller Oberflächen nicht funktionalistisch abwertet, sondern die »Hülle als Lebensprinzip«55 ins Zentrum einer ästhetischen Erfahrung stellt, korrespondiert eng mit den Darstellungsprinzipien Jüngers, wie sie in vielen Naturbeschreibungen der Reisetagebücher zur Anschauung kommen. In einer Reminiszenz an die wilhelminisch geprägte Welt des Vaters kommt jene Sicht auf die Details der belebten Natur zur Sprache: Wenn wir mit dem Vater in den Wald gingen, mußten wir bald an dieser Blüte, bald an jenem Flügel die geniale Zweckmäßigkeit bewundern als das non plus ultra des Einzusehenden. Was da bewundert wurde, bezog sich auf eine unsichtbar im Kosmos verteilte 50
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Ernst Jünger, Dalmatinischer Aufenthalt. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 6: Tagebücher VI, Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 9–35, hier S. 20. Jünger, Dalmatinischer Aufenthalt, S. 11. Jünger, Sarazenenturm, S. 234. Jünger, Antibes, S. 397. Mattenklott, Der übersinnliche Leib, S. 24 f. Mattenklott, Der übersinnliche Leib, S. 25.
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und dann durch Wissenschaft herausgefällte, synthetisch kristallisierte Intelligenz. Die Proben wurden als eine Art Arkanum überreicht.56
In der biographischen Episode wird nicht nur die patriarchalische Ordnung des 19. Jahrhunderts aufgerufen, sondern auch die rationalistische Mentalität, jene Mischung aus Naturwissenschaft und Utilitarismus, die den Geist der Epoche geprägt und ihren Fortschrittsglauben befeuert hat. Zugleich sind die Vorbehalte aber nicht zu übersehen: Mit Ausfällung, Synthese und Kristallisation werden Begriffe aus der Berufswelt des Vaters entlehnt, die den Erkenntnisprozess, um den es geht, als mechanistisch-künstlichen kennzeichnen. In der Kritik steht dabei das Erkenntnismodell rationalistischer Naturwissenschaft, das den phänomenalen Natur-Zusammenhang reduziert und im »Nacheinander, in der Zerlegung«57 ein Wissen akkumuliert, das im Anschaulichen nur noch die Bestätigung unsichtbarer, fragmentierter Gesetzmäßigkeiten findet. Letztlich resultiere daraus ein Wissen, das »aus einer ungeheuren Menge von Einzelheiten [besteht], aus denen wir dürftige und zum Teil unsinnige Schlüsse ziehen.«58 Mit seiner Bezugnahme auf die Parzellierung des Wissens durch die Moderne bedient Jünger gängige Topoi der Wissenschafts- und Modernekritik. Bemerkenswert erscheint jedoch, dass die Reisetagebücher als Versuch gelesen werden können, dem Rückzug in Abstraktion und Anschaulichkeitsverlust ein Erkenntnismodell entgegenzustellen, das seinen Ankerpunkt im Prinzip der Sichtbarkeit und sinnlichen Fassbarkeit der natürlichen Dinge sucht. Es überrascht daher kaum, dass Jünger oft Bezug nimmt auf die Episteme der Taxonomie, auf jenes Klassifikationssystem, das aus den sichtbaren Merkmalen seine Systematik ableitet und in den naturkundlichen tableaus Carl von Linnés seinen wissenschaftsgeschichtlich wichtigsten Ausdruck gefunden hat. Linnés System ist ein vorzüglicher Schlüssel, aber es dient, wie alle Schlüssel, zu nichts mehr und zu nichts weniger als zum Aufschließen. In den Fächern liegt anderes, liegt mehr. Die Kenntnis der Insekten hat auch eine magische Seite: wie einem Auge, das lange auf einem winzigen Kristall geruht hat, ein Tor sich öffnet, hinter dem Paläste, Zeltlager, Festzüge erscheinen, so kann der Blick, indem er sich auf eines dieser Wesen richtet, das Geheimnis einer Landschaft aufschließen.59
Jenseits der enzyklopädischen Systematik des Klassifikationssystems erscheint die wissenschaftliche Benennung nicht als Endzweck, sondern als Einstiegspunkt eines 56 57 58
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Jünger, Sarazenenturm, S. 310. Jünger, Sarazenenturm, S. 310. Jünger, Sarazenenturm, S. 262. – Rationalistische Anschauungsformen werden in einem Bild eingefangen, das selbst wiederum der physiognomischen Tradition entstammt: »So ist ein Skelett entstanden, das mit seinen Sehnen und Gelenken im Museum der menschlichen Vorstellungen Verwunderung erregt. Es wird anderen Bildern weichen, wenn die Imagination ihre Decke darüber wirft.« (Jünger, Sarazenenturm, S. 311). Jünger, Antibes, S. 410.
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Aneignungsprozesses, der, ausgehend von der Bedeutung des naturkundlichen Namens, zur Anschauung und sinnlichen Erfahrbarkeit der Pflanzen und Lebewesen zurückführt. Es gibt hier außerordentliche Leistungen, deren Eleganz und Treffsicherheit noch kein Anthologist seinen Eifer gewidmet hat. Wer etwa jemals den heiligen Skarabaeus beim unermüdlichen Rollen seiner Kugel beobachtete, wird zugeben, daß man keinen besseren Namen für ihn finden konnte als den des Sisyphus […].60
Jüngers Texte imaginieren Tiere und Pflanzen in ihrer qualitativen Phänomenalität und sinnlichen Prägnanz. Die Anschauungsform der Hülle erfährt dabei vielfältige Variationen: Die Wüstenbewohner müssen »sich entweder unsichtbar machen […] oder die Oberfläche schirmen und abhärten«.61 Blütenspinnen imitieren ihre Mikrolebensräume, indem sie sich in »die Farben der Blütenkronen, etwa das grelle Email der weißen Margeriten oder ein sahniges Crèmegelb«62 hüllen; Agaven und Springkräuter sprengen die eigene Form in ihrer Blütenpracht bzw. im Vorgang der Samenverteilung.63 Während solche Detailbeschreibungen das Naturgeschehen als Modulation der oberflächlichen Erscheinungsform erfassen, knüpfen sich in exponierten Textpassagen an das Erscheinen von Lebewesen immer wieder Bilder von Topographien und räumlicher Tiefe, die eine Sphäre hinter der Oberfläche der Erscheinungswirklichkeit imaginieren: Die Formen sind Signaturen, sind Zeugnisse; Stil ist die Oberfläche der Existenz. Wenn wir eine Alge, einen Schmetterling, eine Blüte, wenn wir eine Flosse, einen Flügel, ein Auge betrachten, so sind das Muster der Schöpfungstiefe auf der Außenhaut der Welt. Abgründe sind unter ihr.64
Die Herzmuschel als Produkt von »Schatz- und Prägekammern, die unseren Augen verschlossen sind«,65 der Falke als »Aussichtspunkt in das Unsichtbare«, in die »ideale Werkstatt, die Heimat der Bilder, den Schöpfungsgrund«,66 die Schlange als »vorgeschobenes Bild, das wie aus einer Wand hervorragt – berühren wir es, dann eröffnen sich Höhlen und Abgründe«:67 Im Leib der Tiere soll jenseits von enzyklopädischer Verwaltung oder funktionalistischer Betrachtung ein Kernbestand von transhistorischen Grundmächten unmittelbar sichtbar werden als Zugang »zur ganzen, unaufgeteilten Wirklichkeit der Welt«.68 Momente solcher 60 61 62 63 64 65 66 67 68
Jünger, Dalmatinischer Aufenthalt, S. 18. Jünger, Sarazenenturm, S. 232. Jünger, Sarazenenturm, S. 243. Vgl. Jünger, Antibes, S. 402 f. Jünger, Sarazenenturm, S. 304. Jünger, Sarazenenturm, S. 248. Jünger, Sarazenenturm, S. 274. Jünger, Sarazenenturm, S. 300. Jünger, Sarazenenturm, S. 273
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Wahrnehmungen werden gestaltet in Bildern von Räumlichkeit, als Teichoskopie oder als Blick auf den unbegrenzten Meereshorizont wie in der Szenerie der Insel Serpentara, die »fern der Geschichte [liegt], vor der berechenbaren Zeit, als winziger Balkon, auf den man hinaustritt und zeitlose Flut erblickt«.69 Die Frage nach den Kräften kosmischer Formbildung im Modus von Zeitlosigkeit wird im Bild des Meeres in die Geosphäre zurückgespiegelt:70 Das Meer verleiht der Herzmuschel ihre Form, indem seine »Woge das Muster gibt. Man sieht die Welle strahlig niederstürzen, sieht ihre Rundungen und Kämme, die Rippen und Riffelungen, die sie im Sande hinterläßt.«71 Im Bild des Meeres wird nicht nur die Formbildung verankert, sondern auch das Lektüreparadigma: Als physischer Körper wird die Herzmuschel durch die Woge wieder zu Staub zermahlen und zum Substrat materieller Einschreibungen an der Linie des Strandes: »Es waren Netze, Lineamente von großer Harmonie. Jede Woge wischte sie weg, und jede folgende schuf einen neuen Entwurf«.72 Der intendierte Blick in die Räume, Abgründe, Werkstätten und Schatzkammern jenseits der zeitlichen Formbildung, der Versuch, jene Schöpfungstiefe hinter der äußeren Hülle sprachlich auszuloten, bleibt nicht nur in einer (freilich symbolisch aufgeladenen) Diesseitigkeit gefangen, sondern produziert letztlich immer nur neue Verhüllungen. So laufen die genannten Passagen stets aus in den Raum der religiösen, kulturpraktischen, mythologischen oder symbolischen Diskurse, die das jeweilige Lebewesen historisch begleiten. »Macht« und »Schönheit« als kosmische Prinzipien, die im Bild des Falken aufscheinen, entstammen sichtbar einer heraldischen Tradition, die den Falken als »Wappentier«73 auszeichnet. Die Schlange evoziert eine ganze Serie von Wandlungen der Gestalt, die sie in der Literatur- und Kulturgeschichte durchlaufen hat; zur Physiognomie des Skarabäus gehört auch seine Rolle in der altägyptischen Mythologie.74 Die physiognomische Ästhetik der 69 70
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Jünger, Serpentara, S. 378. Auf ähnliche Weise greift die Beschreibung von Geranien in San Pietro auf geologischmagmatische Bilder zurück. Vgl. Ernst Jünger, San Pietro. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 6: Tagebücher VI, Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 325–361, hier S. 341. Jünger, Sarazenenturm, S. 248. – Die Analogisierung von Muschel und Welle anlässlich der äußeren Erscheinungsgestalt bleibt vereinbar mit der Theorie der Formbildung durch die Mechanismen von Variation und Selektion, durch die im Rahmen der Evolutionstheorie die Ausbildung von Körperformen in Wechselwirkung mit den umgebenden Medien erklärt wird. Jüngers Naturästhetik soll den Naturwissenschaften nicht widersprechen, sondern diese gleichsam umfassen. Jünger, Sarazenenturm, S. 247. Vgl. auch Jünger, Serpentara, S. 377 f.: »Wir treten selten […] so aus dem Menschlichen und seinen Wohnungen hinaus in die Bewegung und Zeichensprache unmittelbarer Schöpfungsmacht. Da werden die Spuren geschichtlicher Epochen zu ameisenfüßiger Schrift im Sande, die zwischen zwei Wogen lesbar sind.« Jünger, Sarazenenturm, S. 272. Vgl. Jünger, Sarazenenturm, S. 396 ff. bzw. S. 260. – In diesen Kontext fügt sich auch der beziehungsreiche Begriff der »Hieroglyphe« in den besprochenen Passagen: Vgl. Jünger, Sarazenenturm, S. 248 und S. 273.
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Hülle findet in der Erscheinungswirklichkeit nur einen Horizont unter vielen. Jüngers Reisetexte entwickeln eine Welt-Textur, die die Trennung der Bereiche und Disziplinen unterläuft und Natur, Kultur, Geschichte und Mythologie ebenso umfasst wie sinnliche und intelligible Anschauung. Im Begriff der »Aura« wird das Verfahren bewusst reflektiert: Jede Pflanze hat ihre Aura oder, wie die Alten sagten, ihre Tugend; sie hat ihre Freunde und Verehrer, ihre Mythen, ihren Zauber, ihre Gifte und Heilkräfte. Sie hat ihr Wachstum, nicht nur aus dem Keimgrund in die ausgedehnte, sondern auch aus der Substanz in die qualitative Welt. Hier beginnt der Reiz der höheren Botanik, der Wissenschaft von den Geheimnissen der Pflanzen, die zu den Zweigen der Symbolik gehört.75
Die physiognomische Lektüre, die es auf die Substrukturen des Phänomenalen abgesehen hat, multipliziert letztlich die Oberflächen, indem sie über die Erscheinung die Hüllen des kulturellen Wissens legt. Der Bewegung nach innen entspricht damit eine komplementäre Bewegung nach außen, die wiederum den Blick auf die Phänomene prästrukturiert und historisiert: Das bleiben Perspektiven; sie ändern sich mit den Räumen, den Kulten, den Zeitaltern. Zur Grundmacht dringen wir nicht vor. Aber die Grundmächte erscheinen, etwa in der Meditation oder der Ekstasis, im Maße, in dem die Zeitmächte zurücktreten.76
Der Prozess des Erkenntnisgewinnes wird letztlich in seiner Operationalisierbarkeit in Frage gestellt, der Intentionalität entzogen und an eine bestimmte leiblich-mentale Disposition gebunden.
Der Leib als Medium physiognomischer Wahrnehmung Jüngers Reisetagebücher bringen einen bestimmten Zugriff auf die natürliche Erscheinungswelt zur Anschauung. Tiere und Pflanzen werden in ihren natürlichen Lebensräumen aufgesucht, die Beobachtungssituation wird zum »Schauplatz«,77 zur »Bühne«,78 zum »Amphitheater«,79 in dem es dann mitunter zu den gesuchten Begegnungen kommt. Die Tiere erscheinen dabei eher als Epiphanie denn als Beobachtungsobjekt. Die Begegnungen mit Reptilien, Schlangen und Vögeln in den Tagebüchern sind geprägt von Momenten unkalkulierbarer Plötzlichkeit einerseits und von einer spezifischen leiblich-geistigen Disposition andererseits: 75 76 77 78 79
Jünger, Antibes, S. 405. Jünger, Sarazenenturm, S. 302. Jünger, Sarazenenturm, S. 261. Jünger, Sarazenenturm, S. 298. Jünger, Sarazenenturm, S. 298.
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Die Jagd hat ihren meditativen Teil, ihre innere, erwartende Seite; er ist sogar der wichtigste. Was wir sonst durch Übungen anstreben, bewirkt hier die natürliche Disziplin: Konzentration auf einen unsichtbaren Mittelpunkt. Sie setzt Entäußerung voraus. Der Augengrund des Jägers verwandelt sich in ein unbeschriebenes Blatt, die Wahrnehmung in ein gespanntes Trommelfell.80
Im Gegensatz zur Methodologie klassischer Naturwissenschaft, die ihren Gegenstand in der Beobachtung isoliert und in der kontrollierten Experimentalanordnung bezifferbare Resultate reproduziert, imaginieren Jüngers Reisetagebücher einen Naturzugang, bei dem der Beobachter mit seinem Sinnesapparat als Teil des Wahrnehmungsfeldes auftritt. Dort ist das Objekt und hier der Mensch mit seinem Auge, das liebend erkennt. Das gibt ihm den freien Gang des Kämpfers, der nackt in die Arena tritt. Die Apparate schärfen und klären, aber sie filtern auch, wenngleich im umgekehrten Sinne, indem sie Unwägbares zurückhalten. Was den Mechanismus passiert, tritt in die Ziffernordnung ein.81
Natur erscheint bei Jünger »in ihrer sinnlichen Gegebenheit für den Menschen«,82 die spürbare Präsenz der Naturdinge und die leibliche Rezeption bilden komplementäre Teilaspekte eines umfassenden Zusammenhanges. Jünger stellt sich damit erkenntnistheoretisch erkennbar in die Tradition Goethes, in dessen Naturforschung Wahrnehmung als aktive Partizipation am Wahrnehmungsgegenstand modelliert wird.83 In Jüngers Naturbeobachtung kehrt der Gedanke einer Korrelation von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt wieder, mitsamt der Ablehnung optischer Hilfsmittel, die permanent im Verdacht stehen, die Wahrnehmung zu deformieren. Das durch die Sinne Wahrgenommene wird auch bei Jünger nicht als bloßes Datenmaterial rezipiert, sondern auf die physiognomische Ausdrucksgestalt der Naturdinge bezogen, die in der Vielfalt ihrer Phänomenalität zum Gegenstand einer sinnlich-affektiven Naturerfahrung werden. Dabei gerät scheinbar Peripheres ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Farbeindrücke, Blütenduft, Stille, akustische Wahrnehmungen: Der Ton, mit dem [die Buprestiden] die Luft durchschneiden und am Ziel einfallen, gehört zu ihrer Physiognomik im weiteren Sinn. Ich habe das Ohr dafür geschärft wie jeder Jäger für das Nahen seines Wildes und unterscheide ihn deutlich vom Gewebe der Geräusche, von dem der Ort durchflochten ist.84 80 81 82 83
84
Jünger, Sarazenenturm, S. 297. Jünger, Antibes, S. 411. Böhme, Atmosphäre, S. 180. Natürlich kann dabei der historische Abstand, der beide Autoren trennt, nicht außer Acht gelassen werden. Während Goethe seine Naturforschung im Horizont einer Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften entwickelte, schreibt Jünger von einer Position der Spätmoderne aus, in der die wesentlichen Formen naturwissenschaftlicher Theoriebildung bereits zum disponiblen Wissensbestand gehören. Jünger, Antibes, S. 410.
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Das Bild der Textur veranschaulicht die Art und Weise, in der der Raum in Jüngers Texten gestaltet wird: Der Raum ist nicht die Leere zwischen den Dingen, sondern die Sphäre, die durch Wechselwirkungen erst konstituiert und erfahrbar wird, der Artikulationsraum, in dem die Dinge ihre spürbare Präsenz entfalten: Die Pflanze spricht, indem sie ihren Zauber um sich breitet, den wir durchschreiten, oft ohne es zu merken, als ob wir Netze zerrissen, die zu fein für uns gesponnen sind. Das wurde mir eines Abends deutlich, als ich im Dünensande einen Strauß der großen duftenden Trichterlilien gepflückt hatte […]. Indem ich, ihn in der Hand haltend, durch die Dämmerung schritt, kamen große, schwarz und rot gestreifte Nachtschwärmer, Sphinxe mit sammetweichen Flügeln, angeflogen und tauchten den Rüssel in die Blüten ein.85
Die Reisetagebücher entwerfen eine Form der Naturerfahrung, die nicht durch distanzierte Beobachtung, sondern durch leibliche Anwesenheit mitsamt einer Fülle sensorischer Empfindungen geprägt erscheint. Jüngers Tagebuch-Ich durchschreitet die südlichen Gefilde als leiblichen Erfahrungsraum, stets auf der Suche nach Partizipation. Im Rhythmus von Fußmärschen, Meeresbädern, verweilenden Pausen mit Tier-, Pflanzen- und Landschafts-Betrachtungen wird eine Naturästhetik entfaltet, in deren Rahmen das Individuum kinästhetisch, visuell, haptisch, olfaktorisch und nicht zuletzt kulinarisch einen Zugang zur Welt erfährt.86 Die Momente besonders prägnanter Naturerfahrung werden als Form des inneren Nachvollzugs gestaltet, indem der Text den Leib in die physiologische Ordnung der Natur einrückt: In solchen Stunden fallen die Sorgen von uns ab. Wie Pflanzen fühlen wir dann die Macht der Sonne – liegt das nun daran, daß wir heiterer werden, oder erheitert uns die große Zuflutung? Gleichviel, das Sonnenhafte des Universums spiegelt sich im Pflanzenhaften unserer inneren Natur, es badet sich im Wurzel- und Laubwerk auf dem Wesensgrund.87
Der Zustand der Heiterkeit erscheint als Form einer atmosphärischen Naturerfahrung. Besonders in den Sardinien-Texten wird die Landschaft immer wieder auf eine Weise literarisch in Szene gesetzt, die auf die Darstellung von Atmosphären abzielt. Der Begriff der Atmosphäre88 beschreibt dabei eine Form der sinnlichen Raum-Wahrnehmung, die physiognomisch verursacht und leiblich vermittelt wird, dabei aber den Komplex affektiver, emotionaler und imaginativer Erfahrungsformen mitumfasst. 85 86
87 88
Jünger, Antibes, S. 405 f. Im Bilde einer totalen Wahrnehmungsfülle skizziert auch Magenau, sichtlich inspiriert durch die Primärtexte, den gemeinsamen Aufenthalt der Brüder Ernst und Friedrich Georg auf Sardinien im Jahre 1955: »So nahmen sie den Geschmack der Insel und ihrer Geschichte auf, sogen ihn mit der Landschaft ein, atmeten ihn mit dem Wind und maßen die Zeit mit den Wellen des Meeres.« Jörg Magenau, Brüder unterm Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger. Eine Biographie, Stuttgart 2012, S. 260. Jünger, Sarazenenturm, S. 282. Was hier entwickelt wird, geht im Wesentlichen auf Gernot Böhme zurück, der im Anschluss an die Leib-Philosophie von Hermann Schmitz eine ökologische Naturästhetik mit dem Anspruch skizziert hat, Ästhetik von der sinnlich-leiblichen Aisthesis her als eine Form der Wahrnehmung von Atmosphären zu bestimmen. Vgl. Böhme, Atmosphäre.
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Atmosphäre als das, was von den Dingen und Menschen ausgeht, was Räume mit affektiver Tönung erfüllt, ist zugleich das, woran teilnehmend das Subjekt, indem es sich so und so befindet, seiner eigenen Anwesenheit gewahr wird.89
Jünger entwirft literarische Landschaften, von denen eine affektive Wirkung auf den Leib ihres Protagonisten ausgeht. Dabei werden Wahrnehmungsfelder aufgerufen, die in ihrer literarischen Gestaltung als Synästhesien auf sinnliche Fülle abzielen: Der Charakter einer Landschaft präsentiert sich in einer Atmosphäre, deren Gegenstück eine sensuelle Wahrnehmung bildet, die sich nicht in die Logik der Einzelsinne auflösen lässt: »Die Schwalben kreisen immer noch über den rostigen Dächern, die in den Farben alter Fayencen leuchten; die Sonne hat sie vergilbt. Die Schreie sind gläsern, zerschneiden wie Diamanten den Azur.«90 Der ganze Bereich, der die »Beziehung von Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden«91 betrifft, wird in den Reisetagebüchern vielfältig ausgeleuchtet. Dazu gehört die Wahrnehmung von Sympathie und Antipathie im Zwischenmenschlichen92 ebenso wie der Charakter der architektonischen Überreste. Um den titelgebenden Sarazenenturm etwa »wittert ein Hauch von nackter Macht, von bleicher Wachsamkeit«,93 und im Angesicht des Bauwerkes wird »die Schönheit des Landes durch einen Rest von Schrecken grundiert, wie ein Gefühl des Schwindels die Höhe unterstreicht«.94 Das bauliche Detail und die umgebende Landschaft werden im Text nicht nur Gegenstand historischer Imaginationen, die »wie Schwingen die Stirn berühren«,95 sondern auch im Rahmen eines affektiven Wertes charakterisiert, der wiederum als Körpererfahrung beschrieben wird. So vage die Stimmungsbilder, die in den Reisetagebüchern aufgerufen werden, oft bleiben mögen: Stets finden sie ihre Ursache, die Bedingung ihrer Wahrnehmbarkeit, in den Erscheinungsformen der Dinge. So wird der Leuchtturm auf der Möweninsel durch die »Ausstrahlung einer unpersönlichen Intelligenz« charakterisiert, die eine »nervöse Wachsamkeit erregt. […] Hier schlummert die Bewegung im Erstarrten, das ungeheure Energie beängstigend bewegt.« In der Physiognomie der geometrischen Architektur scheint jene Dynamik zusammengezogen, die die technische Moderne als System immaterieller, energetischer Ströme in ihrem Kern bestimmt. Im Bild der Gebäude findet »die italienische Spielart des Nihilismus ihre Stimmung«.96 89 90
91 92 93 94 95 96
Böhme, Atmosphäre, S. 177. Jünger, Antibes, S. 399. Vgl. auch: Jünger, Sarazenenturm, S. 237: »Wie kommt es, daß es bei diesen Gängen im klarsten Lichte so stille wird? So stille, daß man endlich die webende Lust der Pflanzen zu hören glaubt und den Goldklang der Sonne, die sich über sie ausschüttet.« Böhme, Atmosphäre, S. 22 f. Vgl. Jünger, Sarazenenturm, S. 306 f. Jünger, Sarazenenturm, S. 247. Jünger, Sarazenenturm, S. 249. Jünger, Sarazenenturm, S. 252. Jünger, Sarazenenturm, S. 234.
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Besonders Details der Vegetation werden in Jüngers Reisetagebüchern zu Kulminationspunkten atmosphärischer Eindrücke: Den schweren Pflanzen haftet auch Vorweltstimmung an. […] Das Vorweltliche der Gruppe verbirgt sich auch im Chemismus, im Wabennetz der Formeln, in Drogen, die über die meßbare Zeit hinausführen, in Einsamkeiten jenseits des Berges Kaf.97
Im Bild jener Pflanzen wird deutlich, dass atmosphärische Wechselwirkungen in Jüngers Gestaltung keine Gegenstände einer rein subjektiven Emotionalität darstellen, sondern als physiologisch wirksame Realität aufgefasst werden. Die Modifikation, die ein präsenter Gegenstand entfaltet, gipfelt im Bereich pharmakologischer Effekte. Als Materialästhetik wird die atmosphärische Wahrnehmung im Erkenntnismedium des Leibes besonders deutlich. Ich habe mich oft gefragt, warum von der üblichen Kücheneinrichtung das Aluminium die Augen in besonderer Weise kränkt. Es gibt auch eiserne, kupferne, irdene Töpfe, die flüchtig und schlecht gemacht sind, aber keiner beleidigt den angeborenen Sinn für Formen und Stoffe auf diese Art. […] Um alles, was wir Rohstoffe nennen, fließt ein besonderer, heilsamer oder schädlicher Kraftstrom, und es ist schlimm, wenn der Instinkt dafür verlorengeht.98
Die Wahrnehmung der Materialqualität, des Charakters von Materialität, führt, ausgehend vom Augensinn, in einen Bereich, der weder auf Einzelsinne reduzierbar erscheint noch aus Eigenschaften besteht, die feststellbar oder objektivierbar wären.99 Der Text stellt das »leibliche Spüren«100 vielmehr als Wahrnehmungsrealität dar, die der Ausdifferenzierung in einzelne Sinnesqualitäten vorgelagert zu sein scheint. Es sind stets die wahrgenommenen Muster, Linien und Konturen der natürlichen und anorganischen Dinge im Detail wie im Panorama, die zum Ausgangspunkt solcher physiognomischen Wahrnehmungsweise werden: In der Betrachtung von Granitschichten fallen Lagen auf, denen der »Schimmer« fehlt. Das qualitative Defizit, das in der Betrachtung Unzufriedenheit hervorruft, wird, so die Beobachtung, auch von den Tieren wahrgenommen. Der wahrnehmbare Mangel der Materialität wird dadurch objektiviert: »Das Mißbehagen steckt tief in der Materie.«101 Atmosphären in diesem Sinne beschreiben eine ursprüngliche Wahrnehmungsfülle und zielen auf »dieses Ganze, in das alles Einzelne, das man dann je nach Auf97 98 99
100 101
Jünger, Sarazenenturm, S. 232. Jünger, Sarazenenturm, S. 303. Die Abwertung des Aluminiumtopfes als Produkt eines industriellen Herstellungsprozesses bildet dabei einen weiteren Kontext, im Kern geht es hier jedoch um eine physiognomische Wahrnehmung, die darauf beruht, dass »Qualitäten als Formen sichtbar werden« (Jünger, Sarazenenturm, S. 303). Auch das Maß, in dem das Material dem natürlichen Wachstum förderlich ist, stellt in Relation zur Qualität des Materials nur ein Symptom dar. Böhme, Atmosphäre, S. 56. Jünger, Sarazenenturm, S. 253.
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merksamkeit und Analyse daraus hervorheben kann, eingebettet ist«.102 Diese Naturästhetik will einen in Relation zu Naturwissenschaft und Technik alternativen Zugriff auf die Gestalten der Erscheinungswirklichkeit bieten. Ihre Erfahrungsinhalte sind weder wissenschaftlich objektivierbare Eigenschaften der Dinge – auch wenn sie in den physiognomischen Erscheinungsformen ihren Bezugshorizont finden – noch sind sie rein fiktive Konstruktionen und Produkte eines reinen Subjektivismus. Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist.103
Die Imagination von Atmosphären in ihrer Doppelcodierung aus einer Stimmungsqualität, die eine Umgebung ausstrahlt und einer Befindlichkeit, die Wahrnehmung als spürbare Präsenz artikuliert, korrespondiert mit dem Modell von Jüngers Autorschaft, wie sie im mittleren Tagebuchwerk artikuliert wird. Tritt hier der Autor mit dem Anspruch auf, im Gefüge der als »Strahlungen« aufgefassten Wirklichkeitseindrücke »sinnvolle Muster«104 herauszuarbeiten, so führen die Reisetagebücher eine Erfahrungsform vor, die auf ähnliche Weise »emotional-kognitive Eindrücke […] als Komplement sensueller Eindrücke«105 erscheinen lässt. Denn was die physiognomische Tradition vor allem als Ausdrucksqualität der Dinge verhandelt hat, erhält im Rahmen einer Theorie der Atmosphären ein Gegenstück als Eindrucksqualität in der Wahrnehmung.106 »Strahlungen – darunter sei einmal der Eindruck verstanden, den die Welt und ihre Objekte auf den Autor hervorrufen, das feine Gitter von Licht und Schatten, das durch sie gebildet wird«.107 In den Reisetagebüchern werden die verschiedenen Ebenen physiognomischer Wahrnehmung im Bild der Textur überlagert: Geschichte wird zu Geschichtetem. Die zeitliche Folge wird zum räumlichen Bild. Im Plan der Städte und Landgemeinden summieren sich Epochen, die nun im Augenblick sich offenbaren als Konstellationen, als Webmuster. An ihm entzündet sich der historische Sinn, der zur Entfaltung immer auf die Kenntnis höherer Einheiten angewiesen ist, als sie die handelnden Mächte darstellen.108
Die materielle Gestalt der Gegenwart, durchaus auch im Sinne archäologischer Artefakte, ist das Produkt historischer Sedimentation, schichtweise sich ablagernder Hüllen, die eine bestimmte Erscheinungsform zeitigen. Als Gewebe wird die Er102 103 104
105 106 107 108
Böhme, Atmosphäre, S. 95. Böhme, Atmosphäre, S. 34. Ernst Jünger, Strahlungen I. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 2: Tagebücher II, Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 14. Streim, Ende des Anthropozentrismus, S. 142. Vgl. Böhme, Atmosphäre, S. 134 f. Jünger, Strahlungen, S. 14. Jünger, Sarazenenturm, S. 316.
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scheinung der Gegenwart zur Projektionsfläche der historischen Tiefe. Als Gegenstand der Rekonstruktion ist der Raum der Geschichte angewiesen auf die Verknüpfungen historischen und kulturellen Wissens, das ebenfalls im Bild der Textur repräsentiert wird. Das Bild des Gewebes dient aber auch der Beschreibung atmosphärischer Kraftfelder, die wie der »Bannkreis«,109 den manche Blumen um sich breiten, den räumlichen Charakter von Landschaften und die Aura historischer Artefakte konstituieren. Der Autor als Physiognomiker registriert auch und gerade die Details in ihrer atmosphärischen Präsenz. Das rührt ein Thema an, mit dem ich mich in der letzten Zeit nicht selten beschäftigte: den elementaren Einschuß in das historische Gewebe und seine musterbildende Kraft. Wir sind ja stets umringt, umschossen von unsichtbaren Fäden und Fadenbahnen, die wir ebenso wenig in ihrem Sinn und ihrer Gefahr erkennen wie die Menschen der vergangenen Jahrhunderte den Tanz der Mücken, die abends aus den Sümpfen die Todeskeime zutrugen.110
Der physiognomische Blick rekonstruiert das Gesicht der Welt in einer Dialektik der epidermalen Verhüllung und demaskierenden Enthüllung, die eine physiologisch-materielle Ebene mit einer sensuell-geistigen in Übereinstimmung zu bringen sucht. Im Rahmen einer »naturphilosophischen Konzeption einer Einheit der kognitiven, sensuellen und materiellen Welt«111 wird dabei ein »Interdependenzverhältnis zwischen Beobachter und Objekt bzw. zwischen Geist und Materie«112 zum Formprinzip des Textes. Im Blick von Jüngers Tagebuch-Ich überlagern sich die Flugbahnen der Malaria-Mücke mit jenen Strahlen, die »[uns] berühren, umweben, durchschießen«113 einerseits, mit dem Bild des historischen Gewebes andererseits. Als Faktor historischer Formbildung verbindet die Malaria die biologische mit der historischen Welt. Die Einstichstelle in die Epidermis und der Einschuss ins historische Gewebe erscheinen als zwei Seiten einer physiognomischen Unterscheidung.
Literatur Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M. 1995 (Edition Suhrkamp 1927). Christians, Heiko: Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 74, 2000, S. 84–110. 109 110 111 112 113
Jünger, San Pietro, S. 341. Jünger, Sarazenenturm, S. 255. Streim, Ende des Anthropozentrismus, S. 148. Streim, Ende des Anthropozentrismus, S. 128. Jünger, Strahlungen, S. 15.
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Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Caspar Lavater, hg. von Karl Pestalozzi/Horst Weigelt, Göttingen 1994 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 31). Fischer, Rotraut/Stumpp, Gabriele: Das konstruierte Individuum. Zur Physiognomik Johann Kaspar Lavaters und Carl Gustav Carus’. In: Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte, hg. von Dietmar Kamper/Christoph Wulf, Berlin 1989 (Reihe historische Anthropologie 6), S. 123–143. Gorgone, Sandro: Die Ethik der Landschaft bei Ernst Jünger. In: Werke und Korrespondenzen. Ernst Jünger im Dialog, hg. von Danièle Beltran-Vidal/Lutz Hagestedt, München 2011 (Les Carnets Ernst Jünger 11), S. 119–140. Geschichten der Physiognomik. Text – Bild – Wissen, hg. von Rüdiger Campe/Manfred Schneider, Freiburg i. Br. 1996 (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae 36). Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Stuttgart 1978–2004. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007. Hagestedt, Lutz /Michaelsen, Luise: »Wie man ein Tagebuch führt«. Nachwort. In: Ernst Jünger, Drei Mal Rhodos. Die Reisen 1938, 1964 und 1981, hg. von Lutz Hagestedt/ Luise Michaelsen, Marbach a. N. 2010 (Aus dem Archiv 2), S. 81–106. Magenau, Jörg: Brüder unterm Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger. Eine Biographie, Stuttgart 2012. Mattenklott, Gerd: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek bei Hamburg 1982 (Das neue Buch 170). Neumann, Gerhard: »Rede, damit ich dich sehe«. Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick. In: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposium, hg. von Ulrich Fülleborn/ Manfred Engel, München 1988, S. 71–108. Rubel, Alexander: Zur Quelle der »Stereoskopischen Wahrnehmung«. Ernst Jünger und KarlJoris Huysmans’ ›À Rebours‹. In: Études Germaniques, 65, 2010, S. 925–939. Saltzwedel, Johannes: Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit, München 1993. Schramm, Godehard: »Wunderbare Augenblicke«. Ernst Jüngers unerschöpfliche ›Sardische Heimat‹. In: Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart, 46, 2008, 61–78. Stadler, Ulrich: Der gedoppelte Blick und die Ambivalenz des Bildes in Lavaters ›Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe‹. In: Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, hg. von Claudia Schmölders, Berlin 1996, S. 77–92. Stöckmann, Ingo: Jüngers Spätwerk. In: Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte, hg. von Matthias Schöning/Ingo Stöckmann, Berlin/Boston 2012. S. 37–60. Streim, Gregor: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin/New York 2008 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 49 = 283). Weber, Jan Robert: Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher (1934– 1960), Berlin 2011. Weber, Jan Robert: Ernst Jüngers Reisejournal Am Sarazenenturm: Sardinien als Entschleunigungsinsel. In: Ernst Jünger – eine Bilanz, hg. von Natalia Zarska u.a., Leipzig 2010, S. 252–270. Weber, Jan Robert: Reisetagebücher. In: Ernst Jünger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Matthias Schöning, Stuttgart 2014, S.159–164.
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Ein großer Morgen, ohne Zweifel1 Ernst Jüngers Der Waldgang als Entwurf einer Neuen Mythologie »Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne. Dieses ist es, was ich mit der neuen Mythologie meine.« Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie (1800) »Es handelt sich vielmehr um Experimente mit einem höchsten Ziel, das darin liegt, Freiheit und Welt in neuer Harmonie zu einigen. Wo das im Kunstwerk sichtbar wird, muß sich die angestaute Furcht zerteilen wie Nebel im ersten Sonnenstrahl.« Ernst Jünger: Der Waldgang (1951)
Als »politische[] Schrift[]«, als »Beitrag zum Leben sowohl unter diktatorischen als auch unter demokratischen Bedingungen sowie zum Umgang der Alliierten mit dem besiegten Deutschland«:2 Lesarten wie diese von Steffen Martus, die Ernst Jüngers 1951 veröffentlichten Essay Der Waldgang in erster Linie als Beitrag zur politischen Zeitgeschichte verstehen, bilden bis heute den Tenor der Rezeption.3 Und diese Deutung hat in der Tat ihre Berechtigung: Der Waldgang, verstanden als »Akt der Selbstbefreiung, freilich auch der Selbstausgrenzung«, ist als Antwort auf die »Vereinnahmungs- und Mobilmachungserfahrung der beiden letzten Jahrzehnte zu lesen«, 1
2 3
Dieser Aufsatz geht auf einen mit Kai Sina konzipierten und am 20.05.2011 unter dem Titel »Der Wald ist Heiligtum. Ernst Jüngers Der Waldgang als Neue Mythologie« gemeinsam gehaltenen Vortrag zurück. Ich danke ihm für die zahlreichen Anregungen und besonders für das überlassene Manuskript. Steffen Martus, Ernst Jünger, Stuttgart 2001 (Sammlung Metzler 333), S. 191. Vgl. für weitere Lesarten in diesem Sinne u. a. Eva Horn, Verrat im 20. Jahrhundert. Zur Genealogie des Irregulären in der politischen Theorie der fünfziger und sechziger Jahre. In: Freund, Feind und Verrat. Das politische Feld der Medien, hg. von Cornelia EppingJäger/Torsten Hahn/Erhard Schüttelpelz, Köln 2004 (Mediologie 12), S. 138–156, darin zum Waldgang S. 139 ff. sowie Erhard Schütz, Der Name für Unabhängigkeit. Die Strategien von Ernst Jüngers ›Waldgang‹ im Kontext. In: Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservativismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, hg. von Erhard Schütz/Peter Uwe Hohendahl, Essen 2009, S. 55–67. Zu den politischen Lesarten auch Friedrich Balke, Der Waldgang (1951). In: Ernst Jünger. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Matthias Schöning, Stuttgart 2014, S. 185–192. – Balke lässt die literarischen Bezüge des Essays jedoch völlig außer Acht.
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schreibt Helmuth Kiesel in seiner Biographie4 und ordnet Jünger mit dieser Haltung dem Nonkonformismus der fünfziger Jahre zu, wie er im Bereich der Literatur in (freilich nur) strukturell vergleichbarer Hinsicht bei Autoren wie Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann oder Hans Magnus Enzensberger Gestalt gewonnen habe. Eine zentrale Dimension des Textes ist damit in der Tat benannt; sie umfasst schwerpunktmäßig etwa das erste Drittel, das sich dem Phänomen des Fragebogens des Military Government of Germany (vom 15. Mai 1945) widmet, dem sich Jünger selbst im Rahmen des alliierten Entnazifierungsprogramms entzog. Darüber hinaus wird die Wahl als systemstabilisierendes Instrument der Diktatur verhandelt sowie ihre Verweigerung als Widerstand des Einzelnen gegen die Übermacht des »Leviathan«.5 Gerade weil Jünger durchgängig im Allgemeinen spricht und zudem einen konkreten Zeitbezug weitgehend vermeidet, lassen sich die verhandelten Themen als Kommentare der politischen Verhältnisse sowohl im besetzten Deutschland lesen als auch auf die nur einige Jahre zurückliegende nationalsozialistische Diktatur beziehen. In der also berechtigten Betonung der zeithistorischen Ausrichtung gerät eine weitere, nicht weniger zentrale Dimension des Essays allerdings tendenziell aus dem Blick, die schon rein quantitativ sein Kernstück bildet. Sie betrifft das MenschSein in der Moderne insgesamt, das Jünger grundsätzlich als entfremdet betrachtet – eine Haltung, die für das Genre antimoderner Waldgeschichten immer schon konstitutiv war (so u. a. bei Ernst Wiechert, Friedrich Griese, Knut Hamsun, Karl Heinrich Waggerl, Konrad Beste).6 Mit dieser Grundannahme steht Der Waldgang in einer Reihe mit essayistischen Schriften wie Der Friede (1945) und Über die Linie (1951), die der Autor seinem »Neuen Testament«7 zurechnet.8 Mit der folgenreichen Absage an traditionelle Welterklärungsmodelle und Heilsversprechen in der Moderne hat der Nihilismus, so Jünger, umgreifende sozialpsychologische Deformationen nach sich gezogen, die gegenwärtig weder erkannt noch bewältigt seien. Denn anstatt die von Friedrich Nietzsche geforderte Überwindung des Nihilismus – dort bekanntlich im Zeichen des 4 5
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7
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Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 602. Ernst Jünger, Der Waldgang. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I. Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 281–374, hier S. 288. – Im Weiteren: W. Vgl. zu diesen und weiteren Autoren die Kapitel »Wald« und »Waldrand« bei Ulrike Hass: Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegung im frühen 20. Jahrhundert, München 1993, S. 189–204, darin zu Jünger S. 198 f. »Zum Opus: meine Bücher über den ersten Weltkrieg, der Arbeiter, die Totale Mobilmachung und zum Teil noch der Aufsatz über den Schmerz – das ist mein altes Testament.« (Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 166) – In den Werkausgaben finden sich diese Klassifikationen von Früh- und Spätwerk nicht mehr. Vgl. zu Jüngers politischer Essayistik der fünfziger Jahre nun den konzisen Überblick von Daniel Morat, Die Entpolitisierung des Politischen. Ernst Jüngers Essayistik der 1950er Jahre. In: Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte, hg. von Matthias Schöning/Ingo Stöckmann, Berlin/Boston 2012, S. 163–183, darin zum Waldgang S. 164–169.
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›Übermenschen‹9 – zu vollziehen, schätzt der moderne und metaphysisch obdachlose Mensch sein bloßes »Da-Sein« mehr als sein eigentliches »So-Sein« (W 363). Das heißt, er unterwirft sich ganz und gar der fremdbestimmenden Macht des »Leviathan«, und er verliert dadurch seine ursprüngliche Selbständigkeit. Der Waldgänger erscheint vor diesem Hintergrund als der eine und eigentliche Mensch, ja als ›der Andere‹ schlechthin, der die Verbindung zu seinen Wurzeln aufrechterhält und dadurch »Freiheit und Welt« zu »neuer Harmonie« (W 308) vereinigt. Als Dichter vermag der Waldgänger diese »Harmonie« darüber hinaus sinnstiftend an die Allgemeinheit zu vermitteln –; und dadurch schließlich nichts Geringeres als ein »neues Zeitalter« (W 301) zu begründen. Die romantischen Merkmale dieses Konzepts deuten sich nicht nur bereits im titelgebenden Topos des Waldes an, der den Aspekt der ›Totalität‹ immer schon einschließt: »›Wald‹ ist mehr als die Addition von tausend oder hunderttausend Bäumen. Wer ›Wald‹ denkt, sieht das Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Nur die Totale definiert den Sakralraum, weitet die ›grüne Halle‹ zum Dom.«10 Oder mit Gert Mattenklott gesprochen: »Der Wald als kosmisches Gleichnis ist eine Sehnsuchtsgebärde der Sprache, literarisch durch und durch.«11 Darüber hinaus sind dem Essay zentrale Denkfiguren der Romantik, die Jünger u. a. aus seiner Lektüre der Politischen Romantik (1919) von Carl Schmitt bekannt gewesen sein dürften,12 in 9
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»Die Sorglichsten fragen heute: ›wie bleibt der Mensch erhalten?‹ Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: ›wie wird der Mensch überwunden?‹ Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes, und Einziges, – und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste.« (Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 4: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1999, S. 357, Hervorhebung im Original gesperrt) – Nur nebenher sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der Wald auch im Zarathustra eine Sphäre höherer Wahrheit darstellt, die allerdings zwischen dem ›Unten‹ der Unwissenden und dem ›Oben‹ der Erleuchteten angesiedelt ist – und in diesem Sinne einer Art Transitionsraum entspricht (vgl. ebd., S. 12 ff.). Ute Jung-Kaiser, Der Wald als romantischer Topos. Eine Einführung. In: Der Wald als romantischer Topos, hg. von Ute Jung-Kaiser, Bern u. a. 2008 (5. Interdisziplinäres Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/M. 2007), S. 13–36, hier S. 15. Gert Mattenklott, »Kosmisches Walderleben«. In: Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald. Ausstellungskatalog der Akademie der Künste, hg. von der Akademie der Künste Berlin 1987 (Akademie-Katalog 149), S. 42–46, hier S. 46. Die Lektüre belegt ein Brief Jüngers an Schmitt vom 2. August 1930: »Sehr geehrter Herr Professor! Ihre ›Politische Romantik‹ erhielt ich mit bestem Dank. Ich habe die Lektüre dieses Buches heute beendet. Ich halte die Arbeit für ausgezeichnet.« Die Kritik Schmitts an der Romantik weist Jünger dabei zumindest teilweise zurück, was nicht verwundert, hält man sich die Aktualisierung entsprechender Modelle nicht nur im Waldgang, sondern auch im Frühwerk insgesamt (vgl. Karl Heinz Bohrer, Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978) vor Augen: »Es ist mir nicht ganz klar geworden, ob ihre Kritik auf die Romantik in ihrem ganze Umfange anwendbar ist« (Ernst Jünger/Carl Schmitt, Briefe 1930–1983, hg., kommentiert u. mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, S. 6).
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struktureller Hinsicht eingeschrieben. So liegt ihm erstens ein triadisches Geschichtsverständnis zugrunde, das die Vergangenheit als eigentlichen Urzustand entwirft, die Moderne als langen, tiefgreifenden Entfremdungsprozess beschreibt und einzig der Kunst eine zukünftige Synthese des Zerfallenen zutraut. In eben diesem Anspruch zeigt sich zweitens eine zuweilen religiös anmutende Kunstemphase, die Jünger selbstbezüglich als Sinnstiftungsangebot an die Leser auch auf seinen eigenen Text bezieht. Wir wollen diese beiden Aspekte zunächst im Detail rekonstruieren – soweit dies Jüngers »abstrakt-unkonkrete […] Terminologie«13 eben zulässt –, um drittens nach dem Status des Gesamtentwurfs zu fragen: Welche Reichweite kommt der Verarbeitung romantischer Vorstellungen in diesem Text zu? Dabei wird sich zeigen, dass Jünger in seinem Entwurf einer ›Neuen Mythologie‹ bezeichnenderweise eine für die romantische Theorie und Ästhetik zentrale Denkfigur vollkommenen ausspart: die Ironie.14
1. Geschichte Ausgangspunkt des Geschichtskonzepts im Waldgang ist zunächst die Vorstellung einer Moderne, die den »freie[n] Menschen, so wie ihn Gott geschaffen hat« (W 313), in einen Zustand der Uneigentlichkeit versetzt. Dies gilt in einem allumfassenden Sinne, betrifft also sämtliche Lebensbereiche und darüber hinaus (fast) alle Menschen. Als Sinnbild für diesen Status quo dient Jünger die Katastrophenfahrt der Titanic – und damit das Symbol für die bedenkenlose und unheilvolle Beschleunigung in der Moderne schlechthin. Auf diesem Schiff bewege sich der Mensch mit hoher Geschwindigkeit, dabei befinde er sich in einem Zustand »mannigfaltiger Bequemlichkeit«, was allerdings mit dem »Verlust an Freiheit« einhergehe (W 309). Als »Passagier« setze sich der Mensch der »Technik« mit Haut und Haar aus, er befinde sich in einem Zustand vollkommener Heteronomie: »Der Mensch ist zu stark in die Konstruktionen eingetreten«, so Jüngers kulturkritische Bewertung dieser Lage, »[d]as bringt ihn den Katastrophen nahe, den großen Gefahren und dem Schmerz.« (W 328) Der Verlust an Selbstbestimmung zugunsten von »Komfort« (W 308) korreliert nun mit einer tiefgreifenden »Furcht« vor einer drohenden Katastrophe, in der die »Technik« und mit ihr notwendigerweise auch der moderne Mensch sich den »elementare[n] Kräften«, den »feuerspeiende[n] Inseln und Eisberge[n]« (W 309) hilflos ausgeliefert sieht. Mit der Zunahme des »Automatismus« (u. a. W 304) in 13
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Karl Heinz Bohrer, Karl Heinz Bohrer im Gespräch mit Stephan Schlak. In: Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund, hg. von Heike Gfrereis, Marbach a. N. (Marbacher Katalog 64), S. 6–79, hier S. 74. Vgl. für eine Rekonstruktion der hier aufgerufenen romantischen Aspekte Detlef Kremer, Romantik. Lehrbuch Germanistik, 3. Aufl., Stuttgart/Weimar 2007, S. 74–78 und S. 92–95. Vgl. grundlegend zu diesem Komplex auch die Arbeiten von Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Teil 1, Frankfurt/M. 1982 (Edition Suhrkamp 1142 = N. F. 142), sowie ders., Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Teil 2, Frankfurt/M. 1988 (edition suhrkamp 1506 = N. F. 506).
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Amerika und Europa steigert sich die »Furcht« schließlich zur »Panik« (W 308), deren Auswirkungen sich besonders deutlich im Medienkonsum der Menschen zeigen: »Schon das Bedürfnis, mehrere Mal am Tage Nachrichten aufzunehmen, ist ein Zeichen der Angst; [...]. All diese Antennen der Riesenstädte gleichen dem gesträubten Haar.« (W 310)15 Auch das Verlangen nach »Theorien, die eine logische und lückenlose Welterklärung anstreben«, gehe mit dem Aufstieg »Hand in Hand« (W 302), die Bestimmung und Vernichtung möglicher Gefahren und Gegner eingeschlossen, wodurch deutlich werde, so Jünger, »daß das rationale Denken grausam ist« (W 303). Das ganze verkehrte Wesen, das die Welt der Zahlen und Figuren hervorbringt, mündet in letzter Konsequenz also in den »Terror« (W 303).16 Dass diese Situation den Menschen nicht nur weltanschaulich, sondern auch politisch verführbar macht, liegt auf der Hand. Ein jeder, der sich dazu berufen sieht und überzeugend verspricht, »dem Schrecken ein Ende« (W 311) zu setzen, hat bei den Verängstigten und Verschreckten leichtes Spiel. Der konkrete historische Bezugsrahmen des hier aufgeworfenen Wirkungszusammenhangs von Moderne und Macht liegt nahe, wenngleich er nur angedeutet wird: Man kann sich jedoch nicht darauf beschränken, im oberen Stockwerk das Wahre und das Gute zu erkennen, während im Keller den Mitmenschen die Haut abgezogen wird. Man kann das auch dann nicht, wenn man sich geistig in nicht nur gesicherter, sondern auch überlegener Position befindet, und zwar deshalb, weil das unerhörte Leiden von Millionen Versklavter zum Himmel schreit. Immer noch liegt der Dunst der Schinderhütten in der Luft. (W 314)
Statt in diesem Zusammenhang nun aber ausdrücklich von der Shoa zu sprechen, greift Jünger im Folgenden wiederum auf die uneindeutige und auf beliebige historische Situationen übertragbare Schiffsmetapher zurück: Dann wechselt der zivilisatorische Anstrich des Lebens, indem die komfortablen Kulissen schwinden und sich in Vernichtungszeichen umwandeln. Der Luxusdampfer wird zum Schlachtschiff, oder die schwarzen Piraten- und die roten Henkersflaggen werden auf ihm gehißt. (W 318)
In der modernen Fremdbestimmung sowie in der Furcht, im Hass und in der Vernichtung als ihren unausweichlichen Folgeerscheinungen erkennt Jünger nun den 15
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Diese Engführung von Kultur- und Medienkritik ist ein Topos der Moderne, der sich noch in der Gegenwart – und zwar ebenso mit dem Verweis auf eine tiefgreifende Zivilisationsangst – bei einem Autor wie Uwe Tellkamp finden lässt (vgl. dazu Kai Sina, Das Haus an der Havel gegen den Schmutz der Moderne. Zur Modernekritik bei Uwe Tellkamp. In: Kulturen der Kritik. Mediale Gegenwartsbeschreibungen zwischen Pop und Protest, hg. von Ole Petras/Kai Sina, Dresden 2011, S. 33–50, hier S. 36–38). An genau dieser Stelle der Argumentation – und nur an dieser Stelle – überschneidet sich Jüngers Konzept mit einem Schlüsseltext der Postmoderne-Diskussion. Denn bekanntlich definiert auch Jean-François Lyotard u. a. die Aufklärung als eine ›große Erzählung‹, die ihren Ziel- und Endpunkt im »Terror« des faschistischen Konzentrationslagers findet (Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986, S. 175).
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entscheidenden Unterschied gegenüber »unserer Urväter Zeiten«, in denen der Mensch an »eigene Gedanken«, »hartes Leben« und »selbstherrliches Handeln« gewöhnt war (W 318). Für dieses ursprüngliche, vormoderne Menschsein wählt Jünger als Sinnbild den Wald, der nicht etwa das Gehölz im engeren Sinne, sondern jenseits aller Topographie ein »überzeitliche[s] Sein« gegenüber dem »zeitliche[n] Sein« der Schiffspassagiere bezeichnet (W 317).17 Dieser Wald ist – im Gegensatz zu dem in Adalbert Stifters Novelle Der Waldgänger (1846) – kein Exil, kein abgeschiedenes Draußen, sondern ein potentiell immer zugängliches Asyl im »Jetzt und hier« (W 283), so lautet das dem Essay vorangestellte Motto.18 Mehr noch: Der Waldgang könne, schreibt Jünger 1951 an seinen Verleger, »unnmittelbar in die Praxis übergehen«,19 wodurch sich die eingangs beschriebene Plausibilität einer politischen Lesart des Textes bestätigt. In der Spiegelfunktion, die der Wald gegenüber dem Dasein auf dem Schiff einnimmt, nähert sich Jünger strukturell einem Konzept von Michel Foucault: Der Wald bei Jünger ist wie die Heterotopie bei Foucault ein – allerdings abstrakter20 – Anders- und Gegen-Ort, in dem all die anderen Orte, die man in der Kultur finden kann, »in Frage gestellt und ins Gegenteil gekehrt werden.«21 Im Wald komme der Mensch – mit Novalis gesprochen – immer nach Hause; dieses »Reich«, schreibt Jünger, »ist Hafen, ist Heimat, ist Friede und Sicherheit, die jeder in sich trägt. Wir nennen es den Wald.« (W 315) Mit dem Waldgang verlässt der Mensch also die vollautomatisierte Komfortzone der Titanic. Gegen den Prozess einer rationalen Entzauberung der Welt setzt Jünger den Schritt Über die Linie, den er im gleichnamigen Essay bereits beschrieben hatte und der nun als Waldgang seine volle begriffliche und programmatische Ausgestaltung findet. Diese Grenzüberschreitung bedeutet im übertragenen Sinne auch den Austritt aus einem entfremdeten Zustand und den Eintritt in ein eigentliches Sein. 17
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Vgl. zu dem hier angelegten Konzept der Posthistoire Morat, Die Entpolitisierung des Politischen, S. 168 sowie 170–173. Zum zeitgeschichtlichen Kontext weiterführend auch Lutz Nietzhammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989 (Rowohlts Enzyklopädie 504), S. 82–104. Ertragreicher für eine vergleichende Lektüre erschiene – u. a. hinsichtlich der Zivilisations- und Modernekritik sowie Entfremdungsthematik – Henry David Thoreaus Walden, or Life in the Woods (1854). Brief von Ernst Jünger an Vittorio Klostermann vom 11. August 1951, zitiert nach Morat, Die Entpolitisierung des Politischen, S. 166. Hier ist zu bedenken, dass es Foucault, anders als Jünger, um »reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte« (Michel Foucault, Von anderen Räumen [1984]. In: ders.: Dits et Ecrits/Schriften, Bd. IV, hg. von David Defert/ François Ewald. Aus dem Französischen von Michael Bischoff u. a., Frankfurt/M. 2005, S. 931–942, hier S. 935) geht – so etwa die »Abweichungsheterotopien«, also »Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht. Dazu gehören Sanatorien und psychiatrische Anstalten, sicher auch die Gefängnisse, aber ohne Zweifel auch die Altersheime […].« (Foucault, Von anderen Räumen, S. 937) Weitere Heterotopien erkennt Foucault u. a. in Friedhöfen, Museen, Bibliotheken, Freudenhäusern und Kolonien. Foucault, Von anderen Räumen, S. 935.
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Dabei kennzeichnen den Wald – auf den ersten Blick zunächst durchaus im Gegensatz zur Bezeichnung als ›Heimat‹ des Menschen – unmittelbare Bedrohungen. Er ist »das große Todeshaus, der Sitz vernichtender Gefahr« (W 329), in dem »die uralte Frage an den Menschen wieder fällig« (W 337) wird: »Das Nichts«, dem sich der auf sich zurückgeworfene Mensch in der Waldeinsamkeit ausgesetzt sieht, »will wissen, ob ihm der Mensch gewachsen ist, ob Elemente in ihm leben, die keine Zeit zerstört.« (W 336) Wer im Zustand dieser größten Furcht, die vor allem in der »Elementarwelt« (W 363) des Krieges sowie im entgrenzenden Rausch und nah des Todes erfahrbar sei, sein Dasein auf die Urenergien des Lebens zurückführt, den kann nun nichts mehr schrecken – eine Denkfigur der Abhärtung: Man wird erkennen, daß der Mensch im ›de profundis‹ eine Tiefe erreicht, die an die Grundfesten rührt und die gewaltige Macht des Zweifels bricht. Dem folgt der Verlust der Angst. (W 338)
Dieser Weg zum eigentlichen Ich schafft zugleich die Grundlage für ein neues Wir. Im Wald wird der Mensch umgewendet zu einem ursprünglichen »So-Sein«, das er mit allen anderen Menschen teilt. Die Vereinzelung führt den Menschen »auf jene Schicht, die allem Sozialen zugrunde liegt und urgemeinsam ist. Sie führt auf den Menschen zu, der unter dem Individuellen den Grundstock bildet und von dem die Individuationen ausstrahlen. In dieser Zone ist nicht nur Gemeinsamkeit; hier ist Identität.« (W 359, Hervorhebung im Original)22
Spätestens an dieser Stelle gewinnt Der Waldgang an utopischem Potenzial, denn nichts weniger als eine neue Einheit der Welt und der Menschen nach der Moderne wird hier als Möglichkeit in Aussicht gestellt. Der Wald erscheint entsprechend als die »Reifeprüfung für ein neues Zeitalter« (W 336) – und der Kunst und dem Künstler kommt dabei eine zentrale Funktion zu.
2. Kunst In der eingangs nachgezeichneten Zwangslage einer automatisierten Moderne findet sich das zum Waldgang herausgeforderte Ich, das »vereinzelt und heimatlos geworden«, aber durch sein »ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit« zum Widerstand gegen den »Automatismus« bereit ist (W 306). Erfolg könne dieses »Wagnis« jedoch nur dann versprechen, wenn ihm »von den drei großen Mächten der Kunst, der Philosophie und der Theologie Hilfe geboten und Bahn im Ausweglosen gebrochen wird.« (W 306) Die Kunst verengt sich in Jüngers Waldgang bald auf die Lite22
Weiter heißt es: »Das Ich erkennt sich im Anderen — es folgt der uralten Weisheit des ›Das bist du‹.« (W 359 f.) Diese Passage weist auf das Motiv der »isländischen Umarmungen« in Eumeswil voraus, in denen sich Manuel Venator und seine Geliebte Ingrid »erkennen« (Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 17: Eumeswil, Stuttgart 1980, S. 35).
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ratur, die kunstreligiöse Züge annimmt und damit dem in Strahlungen formulierten Vergleich entspricht: »So spendet der Dichter aus der Sprache, wie es der Priester mit dem Wein tut – für alle anderen mit.«23 Diese Aufgabe versucht der Waldgänger nun einzulösen, den Jünger im Rückgriff auf die mittelalterliche Literatur Islands entwirft.24 Dabei stellt er einen nur vagen Bezug zu jener Gattung her, in der diese Figur beschrieben worden ist: »Es kann nicht schaden, daß der Ausdruck bereits als eines der alten Isländerwörter Vorgeschichte hat, wenngleich er hier weiter gefaßt sein soll.« (W 318) Dieser knappe Hinweis auf den gleichermaßen literarischen wie realhistorischen Vorläufer ist schon beinahe alles, was Jünger in der endgültigen Druckfassung vom Waldgang zur Begriffsgeschichte liefert. ›Waldgang‹ – schon dieser Terminus gehört zum motivischen Kernbestand der altisländischen Saga-Literatur. Dort finden wir ihn als skóggangr, das ihn ausübende Individuum als skógarmaðr oder skóggansmaðr – Waldgangsmann (vgl. Abb. 1 und 2). Ein solcher konnte dort nur werden, wer auf dem Þing, dem Gesetzestreffen, rechtskräftig verurteilt und verbannt worden war, eine Ehrenstrafe für Verbrecher, die zu hohen gesellschaftlichen Ranges oder Ansehens waren, als dass sie in entehrender Weise direkt vor Ort hingerichtet worden wären. Der so in »schwere Friedlosigkeit«25 aus der Gesellschaft Verstoßene war für jedermann vogelfrei und schutz- und hilflos auf sich allein zurückgeworfen. Zwei der prominentesten Isländersagas überliefern die Lebensgeschichten von Waldgängern: Die in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Gísla saga Súrssonar und die im 14. Jahrhundert aufgeschriebene Grettis saga Ásmundarsonar. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Jünger in einem Punkt grundsätzlich vom historischen Vorbild abweicht: Mit der Umdeutung des ursprünglich verordneten, fremdbestimmten Waldganges in einen freiwilligen, selbstbestimmten Akt vollzieht er eine radikale Wende und umgeht zudem die Frage nach der Schuld, die der Verurteilte auf sich geladen haben musste und die schließlich zu seiner Verbannung führte – eine im Kontext der frühen Nachkriegszeit freilich bemerkenswerte Auslassung. Nicht unwesentlich scheint darüber hinaus die besondere Begabung der SagaProtagonisten, und eben darin besteht die Parallele zum Typus des Waldgängers bei 23
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Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 2: Tagebücher II. Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 231. – Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch bei Novalis im Blüthenstaub-Fragment 71: »Dichter und Priester waren im Anfang Eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben.« (Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. II: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. von Hans-Joachim Mähl, München u. a. 1978, S. 255). Vgl. zur Rezeption altisländischer Sagaliteratur und nordischer Mythologie im Gesamtwerk Ernst Jüngers nun Niels Penke, Ernst Jünger und der Norden. Eine Inszenierungsgeschichte, Heidelberg 2012 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 51). Gunnar Jónsson, Waldgang und Lebensringzaun (Landesverweisung) im älteren isländischen Recht – Verfahren, Erscheinungsformen und Strafgründe der Friedloslegung nach der Graugans und in den Sagas, Diss. Hamburg 1987, S. 130.
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Jünger: Wie die literarischen Waldgänger Gísli und Grettir verkörpert auch Jüngers Gestalt die Dichtkunst: »[D]er Dichter ist Waldgänger.« (W 320, Hervorhebung im Original) Die kursiv gesetzte Prädikation zeigt an, dass der Dichter auch gar nichts anderes sein kann, im Waldgang erst findet er seine ureigene Bestimmung. Er wendet sich vom herrschenden Zeitgeist und der Automatenwelt der Moderne ab, um absolut frei für sich sein zu können: Und wirklich sehen wir die Perspektive wechseln, insofern die Schilderung der fortschreitenden oder sich zersetzenden Gesellschaft abgelöst wird durch die Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem technischen Kollektiv und seiner Welt. Indem der Autor in ihre Tiefe eindringt, wird er selbst zum Waldgänger, denn Autorschaft ist nur ein Name für Unabhängigkeit. (W 307)
Mit dieser herausgehobenen Stellung des Dichters ist auch eine emphatische Funktion der Dichtung verbunden. Zunächst muss der Einzelne seine Lage in der Welt erkennen. Als erstes Mittel dieser Selbsterkenntnis dient dabei jene »Kunst«, in der »tatsächlich das Thema des umstellten Einzelnen an Raum gewinnt« (W 306 f.), wobei Jünger etwa an die »Unterwelten« eines Franz Kafka denkt (W 342). Die Dichtung im Allgemeinen sowie der Dichter im Besonderen helfen dem Menschen, sich im Spiegel der Kunst wiederzuerkennen und so zu seinen Wurzeln zurückzufinden. Der Dichter wisse um die »gewaltige Überlegenheit der musischen über die technische Welt«, die er »sowohl im Werk als in der Existenz« sichtbar mache. (W 319 f.) Damit übernimmt er ausdrücklich die Rolle eines »Stellvertreter[s]« und »Mittler[s]« (W 372). Gleich einem Hierophanten führt der Dichter den anderen Einzelnen ihre Lage vor Augen und schafft durch sein Werk das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Waldganges. Die Dichtung zeigt auf, was im Zeitgeist der Moderne endgültig zu verschwinden droht und allein dem Waldgänger noch immer zugänglich ist: »Diesen Menschen ahnen zu lassen [...] was sich an gewaltiger Kraft in ihm verbirgt – das ist die theologische Aufgabe« (W 342), die der Literatur hier zugewiesen wird. Jünger spitzt die Stellvertreter- und Mittlerstellung des Waldgängers, womit eben immer auch der Dichter gemeint ist, schließlich zu einer Art Kreuzesnachfolge zu: Das »Leiden« (W 343), das »unmittelbare[] Opfer«, macht den Waldgänger zum »Märtyrer« (W 295 f.), dem mit der Bezeichnung als »Sohn des Vaters« (W 345) christusartige Eigenschaften zugewiesen werden; auch die pathetische Rede von der »Erhöhung des Opfers« (W 332) fügt sich in das aufgerufene Bild. Literaturgeschichtlich betrachtet führt dieses Künstlerkonzept wiederum in die Romantik; schon Friedrich Schlegel und Novalis haben sich im Rahmen ihres Projekts einer »neuen Bibel« zum »Christus« und »Paulus« einer neuen Universalreligion ernannt.26 26
Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich Hardenbergs, Bd. III: Kommentar, hg. von Hans Jürgen Balmes, München u. a. 1987, S. 577. – Dieser Inszenierung liegt ein folgenreicher literaturgeschichtlicher Paradigmenwechsel zugrunde: »Während die ästhetische Säkularisierung von der Renaissance bis zur Romantik im Wesentlichen darin bestand, dass sie die christlichen Glaubensinhalte ästhetisch darstellte, mithin die Ästhe-
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Auch die Beschwörung des Wortes, die sich in Jüngers Werk zuvor bereits in der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1942) zeigt, lässt sich in diesem Zusammenhang lesen. Dort heißt es, dem Autor sei »das Wort verliehen, damit es an das Ein und das Alles gerichtet« werde.27 Ähnlich erscheint nun, ungefähr ein Jahrzehnt später, der Wald als »Ort des Wortes« (W 371, Hervorhebung im Original), wobei unklar bleibt, ob hier das Wort der Bibel, das im Anfang und bei Gott war, oder das romantische Zauberwort, durch das die Welt zum Gesang anhebt, gemeint sein soll. Darüber hinaus klingt beim Hamann-Verehrer Jünger die oft zitierte Vorstellung an, Reden sei Übersetzen aus einer »Engelsprache« in eine Menschensprache, worin die eigentliche Aufgabe des Dichters bestehe.28 Jünger argumentiert in ähnlicher Weise substantialistisch: »Im Urgrund ist das Wort nicht Form, nicht Schlüssel mehr. Es wird identisch mit dem Sein.« (W 373) Insbesondere das Gedicht – und hier klingt Jünger schließlich wie Stefan George, der Hauptvertreter moderner Kunstreligion – künde davon, dass »der Eintritt in die zeitlosen Gärten« (W 373) gelungen sei. Dass sich Jünger unter der Hand selbst die Rolle des »Mittler[s]« und »Stellvertreter[s]« zuweist, liegt nahe und ergibt sich bereits aus dem Modus des Sprechens: Der Waldgang ist kein literarischer Text etwa in dem Sinne, dass er sich als fiktional verstünde. Der Essay umfasst die subjektive Beschreibung allgemeiner historischer und sozialer Phänomene, er umfasst deren Deutung sowie eine daran geknüpfte Handlungsanleitung. Dabei legt uns der Sprecher des Textes nahe, dass er selbst durchlebt und vollzogen habe, was er nun beschreibt. Wenn Jünger allen voran den Soldaten im Geiste »abendländischer Ritterschaft«, den Kämpfer von »antike[r] Größe« als Waldgänger beschreibt, wie er zuletzt in den ›Stahlgewittern‹ des Ersten Weltkriegs in Erscheinung getreten sei (W 302), lässt sich daraus unschwer eine Strategie der biografischen Beglaubigung ableiten. Die – um eine Formulierung Peter Trawnys aufzugreifen – »Autorität des Zeugen«29 bestimmt also auch den Waldgang. Der Verfasser dieses Textes ist Garant und Bürge dafür, dass
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tik bei aller ästhetischer Transformation der Inhalte doch an jene rückgebunden bleibt, neigen ästhetische, aber auch politische und philosophische Programme seit der Romantik dazu, die Religion und ihr Bedeutungspotential zu absorbieren und zu ersetzen. Sie gewinnen für sich selbst an Bedeutung, indem sie sich so weit mit religiöser Bedeutung aufladen, dass sie Funktionen und Formen der Religion übernehmen.« (Silvio Vietta/ Stephan Porombka, Einleitung. Ästhetik – Religion – Säkularisierung in der klassischen Moderne. In: Ästhetik – Religion – Säkularisierung II. Die klassische Moderne, hg. von Silvio Vietta/Stephan Porombka, München 2009, S. 7–20, hier S. 7). Zu Friedrich Schlegels Kunstreligion vgl. Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2009, S. 380–439. Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 9: Essays III. Das abenteuerliche Herz, Stuttgart 1978, S. 183. Johann Georg Hamann, Aesthetica in Nuce. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. II: Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik: 1758–1763, hg. von Josef Nadler, Wien 1950, S. 195–217, hier S. 199. Peter Trawny, Die Autorität des Zeugen. Ernst Jüngers politisches Werk, Berlin 2009 (Blaue Reihe Wissenschaft 7).
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Waldgang möglich ist, und Mentor für diejenigen, die ihm folgen wollen; der Autor ist Zeuge und Prophet zugleich.30 Die jüngere Rezeptionsgeschichte scheint diese Textfunktion als erfolgreich zu bestätigen. Das Rollenmodell des Waldgängers erfreut sich bei einigen Vertretern der sogenannten Neuen Rechten großer Beliebtheit. Nicht nur deren Ahnherr Armin Mohler nahm den Essay enthusiastisch auf und bezeugte Jünger, eine »geeignetere Leitfigur« als den ›Soldaten‹ und den ›Arbeiter‹ gefunden zu haben.31 Auch der Verleger und »konservativ-subversive« Aktivist Götz Kubitschek kann als ein prominentes Beispiel in der Gegenwart dienen: Kubitschek vertritt einen »politischen Existenzialismus«, der die Haltung des subversiv-aktionistischen Waldgängers wieder aufnimmt und realpolitisch umzusetzen sucht.32 Verhaltener war hingegen die Reaktion Carl Schmitts ausgefallen. Noch 1961 verfasst er eine lyrische Entgegnung, ebenfalls Der Waldgang betitelt, die Jüngers Programmschrift als Waldspaziergang satirisch-polemisch verwirft. Dies zeigt sich bereits in der ersten Strophe des Gedichts: Die Knabenlehrerknaben traben Schon längst nicht mehr im Schützengraben; ihr Kampfrevier ist jetzt der Wald, in rein vergeistigter Gestalt.33
3. Mythos Der Rückgriff auf die isländischen Sagas und religiöse Denkfiguren, auf romantische Ideen sowie der Verweis u. a. auch auf die griechische Mythologie (vgl. W 332): Jünger lässt all diese unterschiedlichen Versatzstücke in seinen Entwurf münden. 30
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Mario Bosincu hat hierfür Vorbilder in der englischen Literatur aufgetan, namentlich bei Thomas Carlyle, der das Amt des Schriftstellers als das eines »säkularen Heilsbringers« und »Seelenführers« definierte. Vgl. Mario Bosincu, Autorschaft als Widerstand gegen die Moderne. Über die Wende Ernst Jüngers, Würzburg 2013, S. 247–260. Vgl. Karlheinz Weißmann, Mohler und Jünger. In: Sezession 22, Februar 2008, S. 10–14, hier S. 12. Vgl. dazu das mit Zitaten aus dem Waldgang gespickte Portrait Michael Kreuzbergs über Kubitschek, das unter dem sprechenden Titel Die Waffen der Geächteten am 14. 3. 2008 in der Jungen Freiheit erschien. Online abrufbar unter: http://www.jf-archiv.de/archiv08/200812031458.htm (letzter Zugriff: 11. 8. 2011). Jünger/Schmitt, Briefe 1930–1983, S. 872. – Der Terminus »Knabenlehrerknaben« bezieht sich dabei »auf Jüngers Großvater Fritz (Friedrich) Jünger (1840–1904), der in Hannover als Gymnasiallehrer wirkte und Ernst Jünger während seiner Hannoveraner Gymnasialzeit 1903 in sein Haus aufnahm« (Komm. von Helmuth Kiesel in Jünger/ Schmitt, Briefe 1930–1983, S. 884). Zu weiteren zeitgenössischen Reaktionen auf den Waldgang vgl. Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 24), S. 447 f. oder S. 526 f.
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Diese umfangreiche Synthese erstreckt sich dabei entschieden auch auf die Figur des Waldgängers selbst: Die Mythen und Legenden, die Jünger in seinem Essay aufruft, bilden eine Einheit, denn Christus, der sagenhafte skóggangr, oder auch – um zwei weitere angeführte Figuren nur zu nennen – Herakles und Dionysos (W 332) sind nach seiner Lesart allesamt eben Waldgänger. Der Waldgang entspricht darin also, mit Thomas Mann gesprochen, einer »zeitlosen Immer-Gegenwart«.34 Dabei ist er selbst ein Meta-Mythos, der in der Figur des Waldgängers zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder Gestalt gewinnt und damit all die anderen Mythen unterschiedlichster kultureller Herkunft umfasst: »Mythos ist keine Vorgeschichte«, so Jünger, »er ist zeitlose Wirklichkeit, die sich in der Geschichte wiederholt.« (W 315) Von der ›Neuen Mythologie‹ im romantischen Sinne unterscheidet sich Der Waldgang insofern in einem Kernpunkt, als jene nicht nur auf ein Herbeizitieren älterer Mythen hinausläuft, sondern sich in der Kunst selbst verwirklichen soll.35 Prägnant heißt es bei Schelling: »Ueberhaupt wenn eine Mythologie zum Gebrauch herabgesunken, z. B. der Gebrauch der alten Mythologie in den Modernen, so ist dieser, eben weil bloß Gebrauch, bloße Formalität; sie muß nicht auf den Leib passen, wie ein Kleid, sondern der Leib selbst seyn.«36 In ihrer zugedachten Funktion treffen sich das romantische Konzept und Jüngers Entwurf allerdings durchaus: Tatsächlich ›neu‹ ist der Mythos in beiden Fällen nämlich insofern, als er einer entfremdeten, weil eben mythenlosen Gegenwart als Idealbild entgegengehalten, geschichtsphilosophisch aufgeladen und als einziger Weg in ein ›neues Zeitalter‹ verstanden wird. Der von Jünger behauptete Zusammenhang unterschiedlicher Mythen in der Figur des Waldgängers deutet darüber hinaus auf eine Totalitätsannahme hin, die sich für die Romantik beispielhaft in der Phantasie vom ›absoluten Buch‹ ausgestaltet findet. So wie für Schlegel »in der vollkommnen Literatur alle Bücher nur Ein Buch sein [sollen]«,37 sind für Jünger, zugespitzt gesagt, alle Mythen nur ein Mythos. Dass dabei durchaus heterogene Bilder und Vorstellungen zu einem einheitlichen Sinnhorizont verschmolzen werden – besonders deutlich etwa in der Verbindung von nordischer Mythologie und christlicher Religion –, muss dabei nicht als Bruch gewertet werden, im Gegenteil: In der Synthetisierung des Disparaten erweist sich ja gerade die harmonisierende Kraft des Mythos, und gerade in diesem Synkretismus weist sich der Essay als genuin romantisch aus. Die mythenversöh34
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Thomas Mann, Ein Wort zuvor: Mein »Joseph und seine Brüder«. In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XI: Reden und Aufsätze, Frankfurt/M. 1990, S. 626–629, hier S. 628. Kremer, Romantik, S. 112. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst (1803–1804). In: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke, I. Abteilung, Bd. 5, Stuttgart/Augsburg 1859, S. 353–736, hier S. 443 f. Hervorhebung im Original gesperrt. Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, München u. a.1967, S. 265.
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nende Schlüsselfigur ist der Waldgänger, der auch ohne institutionelle Bindung seine Aufgabe erfüllt – als »Priester aus Eigenem« (W 318). Ein eindrückliches Vergleichs- und Kontrastbeispiel aus dem Bereich der bildenden Kunst liefert Philipp Otto Runges Gemälde Der große Morgen (1809; vgl. Abb 3), in dem eine umstrahlte Frauenfigur, die Runge selbst als Aurora und Venus bezeichnet, mit Kindern, Engeln und einem Neugeborenen in einer Offenbarungsszene gemeinsam auftreten, so dass religiöse, romantische und mythologische Motive miteinander verschmelzen.38 Das fertige Gemälde sollte, so die Planung des Künstlers, als ein Teil in seinem Zyklus der Zeiten in einem eigens errichteten »Sakralraum«39 vorgeführt werden. Dazu aber kam es nicht. Runge ließ das Werk vor seinem Tod zerstören, so dass es heute lediglich als Fragment zu sehen ist. Gerade darin offenbart sich jedoch seine Zugehörigkeit zur Romantik und erweist sich überdies der zentrale Unterschied zum hier behandelten Essay: Im Fragment zeigt sich für die Romantik die universelle Einheit, die das Kunstwerk darstellen und bewirken will, in ihrer Abwesenheit. Die angestrebte Universalität erscheint als unerreichbare Voraussetzung, womit eben jene »Form des Paradoxen«40 benannt ist, die grundlegend ist für das Konzept romantischer Ironie. Bei Jünger fehlt diese Form ironischer Selbstreflexion und -relativierung allerdings in Gänze. Jene »Ambivalenz«,41 die der Autor als Charakteristikum seiner Autorschaft ex post verstanden wissen will, lässt sich für den Waldgang und seine Verarbeitung romantischer Konzepte eben gerade nicht bestätigen. Zwar schreibt sich Jünger in jene bis in die Moderne anhaltende Tradition romantischer Suchbewegungen ein, die der metaphysischen Entzauberung der Welt einen neuen Mythos entgegensetzen wollen, wie sich vor allem auf der Ebene seines Geschichts-, seines Kunst- und Künstlerkonzepts nachzeichnen lässt. Ein im romantischen Sinne ironischer Vorbehalt, der das spannungsreiche Nebeneinander von unbedingtem Anspruch und bedingten Möglichkeiten zum Ausdruck brächte, fehlt allerdings völlig. Als zumindest nachvollziehbar erweist sich diese Aussparung mit Blick auf jene angesprochene Strategie der biografischen Beglaubigung: Jüngers auf unbedingter Autorität beruhende Autorschaft verträgt keine selbstreflexiven Sollbruchstellen, welche die Garantie des Waldgang-Projekts relativierend unterlaufen würden – denn ohne Zweifel, dieser ›große Morgen‹ ist für ihn unumgänglich: »Die Aufgabe des Waldgängers liegt darin, daß er die Maße der für eine künftige Epoche gültigen Freiheit dem Leviathan gegenüber abzustecken hat. Dem Gegner kommt er nicht mit bloßen Begriffen bei. Der Widerstand des Waldgängers ist absolut […].« (W 344, Hervorhebung im Original) 38
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Vgl. Frank Büttner, Philipp Otto Runge, München 2010 (Beck’sche Reihe 2507), S. 107–117. Büttner, Philipp Otto Runge, S. 117. Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, S. 153. Ernst Jünger, Post Festum. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 18: Erzählende Schriften IV. Die Zwille, S. 481–491, hier S. 485.
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Abbildungsnachweis Abbildung 1: Egill nach einem Manuskript der Egils Saga aus dem 17. Jahrhundert (AM 426, Árni Magnússon Institute). Rechtefrei via http://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Egil_Skallagrimsson_17c_manuscript.jpg Abbildung 2: C. E. St. John Mildmey: Gisle Sursson with his wife Aud and their daughter Gudrid; in: The Story of Gisli the Outlaw. From the Icelandic by George Webbe Dasent. Edinburgh 1866. Rechtefrei via http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/ad/ Gisle_med_Aud_och_Gudrid.jpg Abbildung 3: Philipp Otto Runge: Der große Morgen, 1809; Öl/Leinwand, 152 x 113 cm; Hamburger Kunsthalle. Via http://www.hamburger-kunsthalle.de/archiv/bilder/runge10_morgen_gr.jpg
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Abb. 1:
Dichter und Krieger: Egill Skallagrímsson
Abb. 3:
Philipp Otto Runges ›Großer Morgen‹
Abb. 2:
Gísli Súrsson in einer spätromantischen Darstellung
Patrick Pfaff
»Vor beliebigen Interpretationen ist im Laufe seiner Rezeption kein Text gefeit« Über Tobias Wimbauers Lesart der ›Burgunderszene‹ Ernst Jüngers 1. »Von beliebigen Interpretationen« oder das Problem der Interpretation »Europa gleicht einer schönen Frau«, schreibt Jünger in den Strahlungen, »der es an Freiern nicht gefehlt hat; sie erwartet den richtigen.«1 So ergeht es auch seinen Texten – viele Interpreten, doch der richtige muss sich erst noch einstellen. André Fischer gelangt in seiner Studie Inszenierte Naivität. Zur ästhetischen Simulation von Geschichte bei Günter Grass, Albert Drach und Walter Kempowski (1992) zu der Einsicht, dass »es keinen Maßstab für Textstrategien [gibt], die ›richtiges‹ Lesen garantieren. Vor beliebiger Interpretation ist im Laufe einer Rezeption kein Text gefeit«.2 Eine dieser spekulativen Interpretationen ist meiner Meinung nach die Lesart von Tobias Wimbauer zur ›Burgunderszene‹ von Ernst Jünger. Denn ich bin der Ansicht, dass Wimbauer in seinem Aufsatz Kelche sind Körper. Der Hintergrund der ›Erdbeeren in Burgunder‹-Szene (2011)3 die entsprechende Textstelle nicht interpretiert, sondern zur Bestätigung seines übergeordneten Interpretationsziels gebraucht. Da dieses Ziel jedoch stark vom subjektiven Interesse des Interpreten abhängig ist, verliert sich die Analyse in der Sphäre des Beliebigen. Die Frage ist aber, wie sich solch eine pauschale Verurteilung belegen lässt. Denn jede Kritik steht vor der Aufgabe, die Kriterien ihres Bewertungshorizonts für den intersubjektiven Nachvollzug transparent zu machen. Im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation, welche ja im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht, ist der Kritiker jedoch vor besondere Herausforderungen gestellt. Denn seit dem Siegeszug der Rezeptionsästhetik in den 1960er und 1970er Jahren und dem damit verbundenen Paradigmenwechsel in der Litera1
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Ernst Jünger, Das erste Pariser Tagebuch. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II, Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 225–406, hier S. 374 (9. September 1942). André Fischer, Inszenierte Naivität. Zur ästhetischen Simulation bei Günter Grass, Albert Drach und Walter Kempowski, München 1992 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. Texte und Abhandlungen 85), S. 269. Vgl. Tobias Wimbauer, Kelche sind Körper. Der Hintergrund der »Erdbeeren in Burgunder«-Szene. In: Ernst Jünger in Paris. Ernst Jünger, Sophie Ravoux, die Burgunderszene und eine Hinrichtung. Mit Beiträgen von Felix Johannes Enzian, Henning Ritter, Alexander Rubel, Jörg Sader und Tobias Wimbauer, hg. von Tobias Wimbauer, Norderstedt 2011 (Bibliotope 6), S. 9–75.
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turwissenschaft4 ist die Interpretationstheorie im Rahmen der klassischen Hermeneutik und deren Leitlinien starken Angriffen ausgesetzt.5 In dem neuen Theoriefeld der Rezeptionsästhetik, welches in Deutschland vor allem Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß prägten und welches in der Diskussion um die Kriterien zur Bewertung von literaturwissenschaftlichen Textanalysen neue Problemfelder eröffnete, wurde das Verhältnis zwischen Text und dem Leser als konstitutive Elemente der poetischen Kommunikation neu bestimmt.6 Die traditionelle Kunstwerk-Auffassung mit ihrer Autonomie-Ästhetik wurde für die Annahme des sich erst in der Interaktion zwischen Rezipient und Text konstituierenden Textes aufgegeben. Das poetische Produkt komme erst zur Vollendung, wenn die sich darin befindlichen Unbestimmtheitsstellen im Sinne von Iser durch die Konkretisation des Publikums ausgefüllt werden.7 Die ästhetische Erfahrung entsteht dem folgend erst im interpretativen Akt der Rezeption, in der es zu einer Wechselwirkung zwischen den textuellen Strategien und Strukturen sowie der Umsetzung dieser Elemente durch den Rezipienten kommt.8 Auf diese Weise übersteige die in4
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Der Erfolg dieser Perspektive erklärt sich durch eine neue Relationierung der Instanzen ästhetischer Kommunikation im Sinne einer Freiheit des Rezipienten gegenüber Autorintention und Textstruktur. Es entstand eine liberalere Alternative zur konservativen Hermeneutik (vgl. Helge Schalk, Umberto Eco und das Problem der Interpretation. Ästhetik, Semiotik, Textpragmatik, Würzburg 2000 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften 276), S. 102, S. 105 f. und S. 111 f.). Die Rezeptionsästhetik profilierte sich als Gegensatz zu dem »geschlossenen Kreis einer Produktions- und Darstellungsästhetik« und wollte »den ästhetischen Gegenständen ihren objektivistischen Artefaktcharakter« nehmen (Helmut Pfeiffer, Rezeptionsästhetik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/New York 2003, S. 285–288, hier S. 287). Im Sinne der Rezeptionsästhetik wurde beispielsweise der Vorwurf erhoben, dass der ästhetische Gegenstand und dessen charakteristische Vieldeutigkeit durch die Verfahren eben genannten Theorierichtungen unzulässig auf eine einzelne, richtige Textbedeutung monosemiert werde (vgl. Wolfgang Wiesmüller, Methoden der Analyse und Interpretation literarischer Texte am Beispiel von Gedichten. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Textanalyse(n)« an der LFU Innsbruck, WS 2003/04. http://www.uibk.ac.at/ germanistik/mitarbeiter/wiesmueller_wolfgang/ringvl-textanalyse-skriptum%282%29. pdf (03.07.2014), S. 1–15, hier S. 1). Die Rezeptionsästhetik trat nämlich mit dem Ziel an, »die lit[eratur]wissenschaftliche Praxis von der Fixierung auf werkimmanente und produktionsästhetische Phänomene zu befreien und stattdessen den ›Dialog‹ von Text und Leser in den Blick zu nehmen« (Tilmann Köppe, Rezeptionsästhetik. In: Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart 2007, S. 650). Diese Annahmen hat Umberto Eco schon in seiner Theorie des offenen Kunstwerkes vorweggenommen. Er geht von einer im poetischen Text gezielt inszenierten Ambiguität aus. Aus seiner kommunikationstheoretischen Perspektive könne sich die eigentliche Bedeutung eines literarischen Zeichens deshalb nur im Dialog zwischen Werk und Leser herausbilden. Das neue an Ecos Sicht ist, dass diese Offenheit struktural im Werk angelegt ist (vgl. Schalk, Umberto Eco und das Problem der Interpretation, S. 17 f., S. 23–25 und S. 101). Vgl. Helge Schalk, Umberto Ecos Interpretationssemiotik und ihre erkenntnistheoretischen Sollbruchstellen. Vortrag während des kommunikationswissenschaftlichen Kolloquium der Universität Essen 2000, http://www.eco-online.de/Texte/Interpretationssemiotik.html (30.07.2014), S. 1–9, hier S. 4.
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terpretative Tätigkeit des Rezipienten den Gehalt der materiellen Textstruktur. Mit dem Leser wird also eine subjektiv-individuelle Komponente eingebunden. In der Rezeptionsästhetik wird dies mit dem Begriff des ›Erwartungshorizonts‹ beschrieben, der sich im Rahmen der Lektüre immer wieder neu ausbildet.9 Im Zuge der Abkehr von den klassisch-hermeneutischen Ansätzen nahmen die Vertreter der Rezeptionsästhetik an, dass sowohl das Primat des Textes als richtende Instanz des Textverständnisses als auch die Autorintention als konstituierendes Element der Textbedeutung obsolet geworden war. Vor allem der letze Punkt, bezeichnet als ›intentionaler Fehlschluss‹, kann mittlerweile als eine der Grundeinsichten der modernen Hermeneutik benannt werden.10 Doch was besetzt diese neu entstandene Leerstelle? Denn die neu konzipierte Wechselwirkung zwischen Rezipient und Text implizierte das Problem, welches für die moderne Interpretationstheorie konstitutiv werden sollte und sich damit auch direkt auf den Akt der Interpretationskritik auswirkt. Es stellte und stellt11 sich nämlich die Frage, wie trotz subjektiver Konkretisation bzw. Konstitution die Identität des Werkes gewahrt und sich daran anschließend wie trotz dieser individuellen Aneignung die literaturwissenschaftliche Interpretation vor dem Einfall des Subjektiv-Willkürlichen geschützt werden kann. Denn die Gefahr des subjektiv Beliebigen würde den wissenschaftlichen Status der Literaturinterpretation aufheben,12 da »[d]ie ›Konzeption eines autonomen, lebendigen, sich verändernden Sinns […] ganz einfach die Grundlage jeder Übereinstimmung zwischen Lesern und auch jeder objektiven Untersuchung überhaupt [zerstört]«.13 Dieser kurze und rudimentäre Abschnitt über die Geschichte der Interpretationstheorie soll gezeigt haben, wie sehr die moderne Hermeneutik in Bezug auf die literaturwis9 10
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12 13
Vgl. Pfeiffer, Rezeptionsästhetik, S. 286. Vgl. Peter J. Brenner, Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 1998 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft), S. 116 f. – Eco zieht auch in diesem Sinne Bilanz, wenn für ihn das gemeinsame Merkmal aller modernen Interpretationstheorien die erst im Lesevorgang stattfindende Konstruktion des Textes als die »Vorbedingung der Aktualisierung des Textes« ist (vgl. Eco Umberto, Die Grenzen der Interpretation. Aus dem Italienischen von Günter Memmert, 3. Auflage, München 2004, S. 27). U. a. zeigt die Tagung internationale und interdisziplinäre Tagung ›Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens‹ der Fritz-Thyssen-Stiftung am Freiburger Institute for Advanced Studies aus dem Jahre 2011 die fehlende Auslotung des Verhältnisses zwischen philologischer Praxis und methodologischen bzw. theoretischen Diskursen sowie allgemein der kontrovers geführten Theoriediskussion, wie etwa der Beitrag Beliebigkeit in der Literaturwissenschaft? Literaturtheorie zwischen Textontologie und Methodenpluralismus von Kai Büttner verdeutlicht (vgl. Andrea Albrecht/Olav Krämer, Interpretationstheorie nach dem »practice turn«. Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, Tagung am Freiburger Institute for Advanced Studies (FRIAS), 13.–16. 9. 2011, http://www.jltonline.de/index.php/conferences/article/view/429/1127 (30.07.2014), S. 1–8., hier S. 1, 3 und 7). – Das Forschungsfeld ist also noch lange nicht abgeschlossen. Vgl. Brenner, Das Problem der Interpretation, S. 107 und S. 114. Eric D. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München 1972, S. 268.
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senschaftliche Textanalyse in einer Dialektik zwischen der Offenheit der Werkkonstitution und der Begrenzung der Beliebigkeit gefangen ist.14 Damit sind wir beim ›Problem der Interpretation‹ angekommen, welches damit auch als Grundschwierigkeit für die Falsifikation von literaturwissenschaftlichen Interpretationen ausgemacht werden kann. Dieses fundamentale Problem bei der Bewertung einer textuellen Analyse kann teilweise15 durch den Rückgriff auf Umberto Ecos Interpretationstheorie gelöst werden. Der Semiotiker geht von der Beobachtung aus, dass trotz der unendlichen Semiose der Interpretation, die eine potentielle Unbegrenztheit impliziert, Interpretationen in der Praxis falsifiziert werden können. Damit positioniert sich Eco eindeutig gegen den unendlichen Abdrift des Dekonstruktivismus. Hierauf aufbauend entwickelt Eco ein Modell, in dem der Text als Parameter zur Falsifikation der Interpretation eines Werkes herangezogen und gleichzeitig die Offenheit des poetischen Produkts gewahrt werden kann.16 Konkret platziert er zwischen der ›intentio lectoris‹ als Ausdruck der radikal leserorientierten Interpretationstheorie und der ›intentio auctoris‹ als spezifisches Element der autororientierten Interpretationstheorie die ›intentio operis‹.17 Ausgehend vom logischen Prinzip der Abduktion 14 15
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Vgl. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, S. 148 f. Ich spreche hier von ›teilweise‹, weil auch Ecos Ansatz kontrovers diskutiert wurde und einigen Widerspruch provoziert, vgl. etwa die Beiträge von Richard Rorty, Jonathan Culler oder Christine Brooke-Rose in Umberto Eco, Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, 2. Auflage, München 2004. – Hier wird Eco vor allem vorgeworfen, als ein Mitbegründer »der Freiheit gegenüber der Werktreue« (s. Das offene Kunstwerk, 1973) nun in seinen späteren Schriften (etwa Die Grenzen der Interpretation (2004)) »ins Lager der konservativen Verfechter der einen, ›richtigen‹ Interpretation« zu wechseln. Dabei geht es Eco explizit nicht um eine Methode der Interpretation, sondern allein um die Falsifikation von Fehlinterpretationen, vgl. Schalk, Umberto Ecos Interpretationssemiotik, S. 6 f. Denn Eco akzeptiert, dass ein Text verschiedene Interpretationen haben kann (vgl. dazu Ecos Ästhetik des offenen Kunstwerkes), aber gleichzeitig lehnt er es ab, dass das Werk eine beliebige Bedeutung haben kann (vgl. Umberto Eco, Erwiderung. In: Zwischen Autor und Text, S. 150–162, hier S. 152). Nichtsdestotrotz kann die Diskussion nicht als abgeschlossen gelten und alle hier vorgestellten Ergebnisse haben einen vorläufigen Status. Eco geht davon aus, dass in der Struktur literarischer Texte eine »fundamentale Ambiguität der künstlerischen Botschaft« angelegt ist, die den Automatismus der konventionellen Zeichenverwendung durchbrechen soll, um basierend auf neuen Zeichenverwendungen das ästhetische Erlebnis zu schaffen. Dabei liefert aber das Werk einen Rahmen, in dessen Grenzen die subjektive Konkretisation erfolgen muss. Auf diese Weise kann es potentiell zu unendlich vielen Interpretationen kommen, ohne die »irreproduzible Einmaligkeit« des Textes anzutasten (Brenner, Das Problem der Interpretation, S. 108 f.). Diese ›Ambiguität des offenen Kunstwerkes‹ leitet Eco in seiner gleichnamigen Abhandlung (1973) daraus ab, dass die spezifisch ästhetischen Rezeptionsbedingungen und die konstitutive Rolle des Rezipienten bei der Produktion des Textes schon reflektiert werden und sich dadurch in der Struktur niederschlägt bzw. im ästhetischen Spiel der Offenheit manifestiert (vgl. Schalk, Umberto Ecos Interpretationssemiotik, S. 3 f.). Vgl. Umberto Eco, Interpretation und Geschichte. In: ders., Zwischen Autor und Text, S. 29–51, hier S. 29–31.
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konzipiert Eco ein wechselseitiges, quasi dialogisches Verhältnis zwischen der Textkonstitution durch die Rezeption und dem Text, da die abdukiven Vermutungsschlüsse des Lesers in einem gewissen Rahmen durch textimmanente Strukturen gelenkt werden.18 Denn für Eco ist der Text in erster Linie eine »Maschine zum Hervorbringen von Interpretationen«, die aber auch versucht, »bestimmte Interpretationswege vorzugeben«.19 Dies gelingt in der Art, dass die Textstrategien darauf ausgerichtet sind, einen bestimmten ›Modell-Leser‹ hervorzubringen. Die Initiative des Rezipienten besteht genau darin, durch Interpretationshypothesen diese ›intentio operis‹ als Manifestation des ›Modell-Lesers‹ zu rekonstruieren.20 Unterschiedliche Interpretationen variieren demnach in dem Grad, wie weit sie die relevanten Textstrategien zur Konstitution des Modell-Lesers herausarbeiten.21 Es lässt sich als Zwischenfazit festhalten, dass Eco in seiner semiotischen Interpretationstheorie durch das Einführen einer Mittlerinstanz die Dialektik zwischen Offenheit und Form aufzulösen versucht. Dadurch kann die neu geschaffene Instanz der ›intentio operis‹ als Kriterium zur Falsifikation von Textinterpretationen herangezogen werden, ohne dabei auf Grund der Doppelstruktur der Interpretation bezüglich des dialogischen Verhältnisses die Heterogenität von Interpretation von vornherein methodisch ausschließen zu müssen.22 Doch wie genau sieht dieses Kriterium aus, das neben den speziellen Richtlinien des wissenschaftlichen Arbeitens im speziellen Fall der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation herangezogen werden kann? Dies soll das nächste Kapitel näher beleuchten.
2. Die Falsifizierbarkeit von Interpretationen Ziel des nun folgenden Kapitels ist es, das Problem der Falsifizierung von Interpretation zu diskutieren und aufbauend auf einem möglichen Kriterienkatalog eine Heuristik zu konstruieren, nach der Wimbauers Lesart zu Ernst Jüngers ›Burgunderszene‹ und dessen Herleitung aus der Perspektive literaturwissenschaftlich akzeptabler Standards der Textanalyse bewertet werden kann. Dazu möchte ich neben den Kriterien des wissenschaftlichen Arbeitens und der allgemeinen Logik in erster Linie aus der Sicht der semiotischen Literaturtheorie, repräsentiert durch Umberto Eco, argumentieren. Dieser Ansatz drängt sich meiner Meinung nach deswegen auf, weil die Textanalyse die fundamentale und konstitutive Beschäftigung mit einem semiotischen und damit auch semantischen Objekt ist und deswegen diese Dimension bei der zugrunde gelegten Heuristik im Zentrum stehen 18 19 20
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Vgl. Schalk, Umberto Eco und das Problem der Interpretation, S. 149. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 143. Vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 49. Vgl. auch Schalk, Umberto Eco und das Problem der Interpretation, S. 165. Vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 51. Schalk, Umberto Eco und das Problem der Interpretation, S. 149.
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muss.23 Hinzu kommt, dass auch Wimbauer explizit auf diese Theorierichtung u. a. in Form der ›Wortfeldtheorie‹ zurückgreift.24 Damit soll sichergestellt werden, dass die Diskussion nicht durch die potentielle Problematik verschiedener Ebenenbezüge hinsichtlich der Argumente irrelevant wird. Desweiteren werde ich mich auf Werner Strubes Gliederung der Interpretationstätigkeit im Sprechakt beziehen, um das komplexe Geflecht der interpretatorischen Tätigkeit besser ordnen und begrifflich fassen zu können. Im Hinblick auf die Kriterien des wissenschaftlichen Arbeitens und der allgemeinen Logik verweise ich auf Michael Titzmann, der in seinem Buch Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation (1989²) »elementare Interpretationsregeln« für den wissenschaftlichen Umgang mit Texten definiert, die meiner Meinung nach über den strukturalistischen Hintergrund hinausreichen.25 Neben dem intersubjektiven Verständnis, welches nur mit einer möglichst präzisen Terminologie gesichert werden kann und so erst den Wahrheitsgehalt einer Aussage diskutabel macht,26 der Widerspruchsfreiheit der Textbeschreibung, also das Fehlen von Paradoxien und Zirkelschlüssen, welche ansonsten aus der logischen Perspektive jede beliebige Aussage zulassen würden,27 dem unmittelbaren oder mittelbaren empirisch zu erfüllenden Verifikations- bzw. Falsifikationszwang einer Aussage durch das Hinzuziehen von Textdaten, was die textinterpretatorische Aussage davor schützt, gegenstandslos zu sein, nennt der Literaturwissenschaftler den Legitimationszwang der Datenselektion aus dem Pool des Textes, da jede Interpretation selektiv vorgeht und die Kriterien der Auswahl für den intersubjektiven Nachvollzug transparent gemacht werden müssen. Diese Rechtfertigung könne nur in dem Aufzeigen der Relevanz der Daten für das Gesamtsystem ›Text‹ münden, »das den uneinlösbaren Anspruch auf ›Vollständigkeit‹ ersetzt und deren Fehlen wenigstens partiell kompensiert«.28 Doch ist hier vor allem von Eco im literaturwissenschaftlichen Bereich eine weitere Spezifizierung geleistet worden, die ich nun vorstellen möchte und von der ich mir ein noch größeres heuristisches Potential erhoffe. Ausgehend von der Arbeitshypothese, dass der Text auf Grund seines konstruierten ›Modell-Lesers‹ bestimmte Textinterpretationen privilegiert und es demzufolge ein Falsifikationsprinzip der Textanalyse geben muss, ernennt Umberto Eco die Textkohärenz, die sich in der semantischen Struktur des Textes manifestiert, zu dem entscheidenden Parameter der Delegitimierung von Lesarten: »Die jeweiligen Strukturmechanismen eines Textes, seine Codes, sein Idiolekt, würden ›willkürliche‹ oder ›beliebige‹ Interpretationen sanktionieren«.29 Fehlinterpretationen ent23
24 25 26 27 28 29
Michael Titzmann, Strukturale Textanaylse. Theorie und Praxis der Interpretation. 2., unveränderte Auflage, München 1989 (Information und Synthese 5), S. 20. Vgl. Wimbauer, Kelche sind Körper, S. 24 f. Vgl. Titzmann, Strukturale Textanalyse, Kapitel 0.4. Vgl. Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 22. Vgl. Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 22. Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 29 f. Schalk, Umberto Eco und das Problem der Interpretation, S. 190.
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stehen eben dadurch, dass das textspezifische Strukturgefüge ignoriert oder die Ergebnisse der Interpretation in einem sekundären Akt der Ergebnisdeutung schlicht missachtet werden. Als zentrales Konzept verweist Eco auf die durch Greimas in die Textlinguistik eingeführte semantische Isotopie.30 Darunter versteht man die semantischen »Korrespondenzen zwischen den sprachlichen Einheiten […] innerhalb eines Textes«.31 Die semantische Homogenität verschiedener Lexeme bzw. Lexemgruppen wird dabei durch Semrekurrenz in Form von »Wiederholung, variierte Wiederaufnahme und grammatischen Substitutionen (Pro-Formen)« in Isotopieketten erzielt, die so u. a. die Textkohärenz herstellen.32 Auf diese Weise können auch polyseme Ausdrücke im Rahmen ihrer semantischen Isotopie monosemiert werden.33 Sobald im Text verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Isotopieketten realisiert werden, sind mehrere Lesarten möglich.34 Doch kann im Hinblick auf die Textinterpretation zusammenfassend festgehalten werden, dass die Analyse immer im Rahmen des Isotopie-Netzwerkes bzw. im Rahmen einer Isotopiekette des Textes realisiert werden muss, um nicht die Identität des Werkes etwa im Sinne einer unendlichen Abdrift zu zerstören. Das literarische Produkt könne zwar unendlich viele Interpretationen anregen, aber nicht alle würden von ihm in gleicher Weise legitimiert werden. Zurückzuführen ist diese Ansicht auf Ecos Werkkonzeption. Denn für ihn »[ist] [e]in Text […] ein Organismus, ein System interner Relationen, das bestimmte mögliche Zusammenhänge aktualisiert und andere unterdrückt«.35 Die Deutung eines Textes muss also vor dem Gesamtnetzwerk an internen Relationen bestehen und es dürfen nur Kontexte verwendet werden, die auch durch das System Text aktualisiert werden. Die semantische Isotopie ist das zentrale Element in Ecos Katalog der ›Ökonomiekriterien‹, die zur Falsifikation von Interpretationen heranzuziehen sind. Darüber hinaus benennt er die Richtigkeit im Hinblick auf das zeitgenössische, enzyklopädische Wissen, den Relevanzgrad der identifizierten Relationen im globalen Textsyntagma und den textinternen Kontext.36 Auf diese Weise lässt sich das Ideal der sparsamsten und damit besten Erklärung, welches gegen die Verschwendung hermeneutischer Energien gerichtet ist und auch zur Hierarchisierung von Textanalysen herangezogen werden kann, verfolgen.37 30 31
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Vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 141 f. Wolfgang Heinemann, Isotopie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2., Berlin/New York 2000, S. 191 f., hier S. 191. Heinemann, Isotopie, S. 191. Vgl. Christine Kaiser, Isotopie. In: Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart 2007, S. 361. Die verschiedenen Isotopieketten werden dabei auch auf verschiedenen Ebenen des Textgefüges realisiert, etwa wenn eine semantische Isotopie einer phonologischen widerspricht (vgl. Heinemann, Isotopie, S. 191). Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 144 f. Vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 156–158. Vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 19 und Eco, Überzogene Textinterpretation. In: ders., Zwischen Autor und Text, S. 52–74, hier S. 56 f. – Eco nennt hier auch
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An dieser Stelle muss dann auch Ecos fundamentale Unterscheidung zwischen dem Gebrauchen eines Kunstwerkes und dessen Interpretation erwähnt werden, welche sich gut zur Differenzierung zwischen der Suche nach der ›intentio operis‹ und dem Hineinlegen der ›intentio lectoris‹ in den Text verwenden lässt.38 Für den Semiotiker ist in Bezug auf die literaturwissenschaftliche Textinterpretation essentiell, dass die Analyse, von der semantischen Interpretation als Basisoperation ausgehend, sich der ästhetisch-literarischen Botschaft und Rekonstruktion ihres Zustandekommens zuwendet.39 Das Gebrauchen von textuellen Produkten zielt dagegen allein auf das Erreichen willkürlicher, rezipientenspezifischer Ziele ab und sieht dabei den Text allein als ein Werkzeug an, um eben diese Ziele zu realisieren.40 Dies komme einem Aufzwingen der ›intentio lectoris‹ auf den Text gleich.41 Und genau hier sehe ich das Hauptproblem von Wimbauers Lesart, der meiner Meinung nach den Text und seine herangezogenen Metatexte dazu gebraucht, seine neue Interpretationshypothese zu legitimieren, anstatt umgekehrt aus dem literarischen Produkt seine Deutung herzuleiten. Da aber, wie oben beschrieben, gerade das Gebrauchen eines Textes als radikaler Ausdruck der ›intentio lectoris‹, also der vollständigen Ablösung vom Text, angesehen werden kann, öffnet hier Tobias Wimbauer der Beliebigkeit Tür und Tor. Dies soll meine Arbeitshypothese sein. Zur besseren Darstellung meiner Sichtweise möchte ich nun, wie oben angekündigt, das Konzept von Werner Strube, der den interpretatorischen Akt im Sinne von Searle und Austin in Sprechakte und die damit vollzogenen Handlungen gliedert,42 einführen. Davon erhoffe ich mir, dass die Struktur der Textanalyse deutlicher herausgearbeitet und die anzutreffenden Phänomene deutlicher beschrieben werden können. Werner Strube geht von einer »polytomische[n] Typologie der Textinterpretation« aus,43 sieht aber dabei den Akt des Interpretierens allgemein als eine spezifische Verhal-
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Negativbeispiele wie die Überbewertung von Indizien auf Kosten anderer, die Homologisierung von unterschiedlichen Relationen, den hermetischen Kurzschluss des ›post hoc, ergo ante hoc‹, die falsch verwendete Überlieferungsgeschichte, die überdehnte Intertextualität oder die überdehnte Analogiebildung (vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 56 f., S. 58, S. 63 f. und S. 65). Vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 47. Mit semantischer Interpretation meint der Literaturwissenschaftler die Semantisierung der linearen Manifestation des Textes, also das Realisieren der Textstrategien durch den Rezipienten. Der oben als zweiter Schritt präsentierte Vorgang wird dagegen als kritische Interpretation bezeichnet, die eben die Strukturmerkmale rekonstruieren muss, um das Zustandekommen der semantischen Interpretation zu erhellen (vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 43). Vgl. Schalk, Umberto Eco und das Problem der Interpretation, S. 161. Vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 35. Vgl. Werner Strube, Analytische Philosophie in der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung, Paderborn u. a. 1993 (Explicatio. Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft), S. 97 f. Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 68–70.
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tensform im Umgang mit ästhetischen Texten an, die ansatzübergreifend immer auf die gleichen Sub-Sprechakte im Sinne von Searle und Austin zurückgreifen.44 Daran anschließend werden dann in einem zweiten Schritt Objektivitätskriterien für die einzelnen Untergruppen entwickelt.45 Damit stößt Strube genau in den Problembereich dieses Aufsatzes vor. Es entsteht folgende Unterteilung des interpretatorischen Sprechakts, die er an einer strukturbestimmenden Textinterpretation exemplifiziert: 1. die fachsprachliche Textbeschreibung, 2. die einfache Auslegung, 3. die zweifache Auslegung, 4. die verknüpfende Auslegung, 5. die ausgliedernde Auslegung und 6. die Deutung. Die Textbeschreibung hat dabei die Aufgabe, den Text in die Terminologie der Fachsprache, abhängig von der impliziten Literaturtheorie, zu überführen. Dabei kommt es schon hier zu einer ersten Selektion des Textmaterials im Sinne der Relevanz für die Deutungshypothese, also zu der »Konstruktion der ›Fakten‹, auf denen die Auslegung gründet«. Diese Auswahl ist jedoch höchst legitimationsbedürftig, um intersubjektiv verstanden und akzeptiert zu werden.46 Das ist neben der allgemeinen empirisch richtigen Textbeschreibung das entscheidende Kriterium dieses Schrittes, ohne den die literaturwissenschaftliche Akzeptanz der Analyse starker Gefahr ausgesetzt ist: Eine notwendige Bedingung der fachsprachlichen Beschreibung ist demnach, daß diese Beschreibung literaturwissenschaftlich relevant ist, d. h. daß sie nur solche Wörter enthält, die mit Hilfe einer literaturtheoretisch fundierten methodologischen Regel ausgewählt sind.47
Der Benutzer literarischer Texte ist darauf nicht angewiesen. Allein seine Intention bzw. sein subjektives Ziel determiniert, was er aus dem Text herausnimmt. Die einfache, die zweifache sowie die verknüpfende als auch die eingliedernde Auslegung wird nun im Folgenden zu einer Einheit zusammengefasst, da sie von den gleichen interpretatorischen Mechanismen ausgehen, sich dabei aber auf temporal unterschiedliche Stadien des Analyseaktes beziehen. Es geht um das Auffinden paradigmatischer Klassen im Text, die durch eine Integration in spezifische Schemata zueinander in Relation gesetzt werden.48 Im Fortschreiten der Interpretation werden nun die verschiedenen textuellen Modelle wiederum miteinander verbunden (›verknüpfende Auslegung‹) und das so entstehende, hypothetische Gesamtsystem des Textes durch eine Ausweitung des Textmaterials verifiziert oder fal44 45 46
47 48
Vgl. Strube, Analytische Philosophie, Kapitel 6. Vgl. Strube, Analytische Philosophie, Kapitel 7. Strube, Analytische Philosophie, S. 99 f. – S. auch oben Titzmann und das Kriterium Selektionslegitimation. Strube, Analytische Philosophie, S. 115 f. Das Bilden von paradigmatischen Klassen und das Herausarbeiten der Relationen dieser Klassen zur Rekonstruktion des Textsystem ist hier nicht normativ zu verstehen, sondern dem Gegenstand der strukturbestimmenden Textanalyse, der hier exemplarisch herangezogen wird, geschuldet (vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 72 f.). Allgemeiner kann man hier wohl von einer auf den Text bezogenen Modellbildung sprechen, wobei die Modelle von der angelegten Literaturtheorie abhängig sind.
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sifiziert.49 Nur so könne der Analyst dem Prinzip gerecht werden, dass alle Elemente eines literarischen Textes korrelieren. Alle herausgearbeiteten Konzepte müssen in das hypothetisch angenommene Gesamtsystem integrierbar sein.50 Auch in dieser Phase der Textinterpretation identifiziert Strube mehrere Merkmale, die über ›Objektivität‹ bzw. die ›Akzeptanz‹ der interpretatorischen Aussage entscheiden. Da wäre zunächst die Plausibilität der Auslegung zu nennen, die genügend durch das Textmaterial gedeckt wird. Falls dieses Kriterium gebrochen wird, sind die angelegten Auslegungsschemata nicht genügend analog zu den Ergebnissen der Textbeschreibung.51 Desweiteren wird das Kriterium der historischen Richtigkeit angeführt, dass davor schützen soll, dass das Werk in einem ihm fremden bzw. beliebig vorgegebenen Kontext eingebettet wird. Vorwürfe auf dieser Ebene lassen sich nur durch den Vergleich mit anderen Werken des Autors, durch den Vergleich mit anderen Autoren des Literatursystems oder durch biographische Metatexte entkräften.52 Weiter nennt Strube dann das Kriterium der logischen Widerspruchsfreiheit, also das bei der Integration verschiedene Schemata keine Aussagenmenge entstehen darf, die in sich nicht widerspruchsfrei ist, und das Kriterium der bündigen Verknüpfung, welches den oben genannten Aspekt aufgreift, dass nicht Elemente aus dem Nichts integriert werden, die vorher nicht Teil der Analyse waren bzw. nicht durch den Text gedeckt werden. Hierzu zählt auch das ungerechtfertigte Weglassen von Ergbenissen.53 Als letztes Kriterium in diesem Block führt der Literaturwissenschaftler die interpretatorische Vollständigkeit an. Es dürfen nicht einfach Textebenen unter den Tisch fallen, die die Deutungshypothese nicht stützen. Ansonsten käme es zu einer illegitimen Verabsolutierung der im »Moment der opportunistischen Konstruktion« des Textes erfolgten Selektion des relevanten Textmaterials.54 Stattdessen »[ist] [es] [e] ine notwendige Bedingung der Textinterpretation […], daß diese Interpretation umfassend, und d. h. derart ist, daß alle von der betreffenden Literaturtheorie unterschiedenen Ebenen des Textes in ihr berücksichtigt sind«.55 Da es jedoch utopisch ist, dass eine Analyse alle relevanten Merkmale identifiziert und selbst wenn dies gelingen würde, dieser Status nicht zu beweisen wäre, stellt Strube noch die Richtlinie auf, dass bei zwei konkurrierenden Interpretationen diejenige 49 50 51 52
53 54 55
Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 100 f., S. 103 f. und S. 105 f. Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 105 f. Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 116 f. Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 117 f. Vgl. auch Gerhard Frey, Hermeneutische und hypothetisch-deduktive Methode. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, 1970, H. 1, S. 24–40, hier S. 30. – Frey bezeichnet hier das Hineinstellen des Textes in einen Kontext, ohne dass dieser Kontext durch das Werk legitimiert wird, als reine Spekulation, die es ermögliche, alles Beliebige in das Werk hineinzutragen. Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 120 f. Strube, Analytische Philosophie, S. 101. Strube, Analytische Philosophie, S. 122.
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besser sei, die mehr relevante Strukturschemata herausgearbeitet hat und deswegen umfassender ist.56 Den abschließenden Schritt stellt nach Strube, ähnlich den Auslegungen, die Deutung des Gesamttextes dar, indem nun auch die aus Sicht der Methodik peripheren Textebenen in das Grundschema widerspruchsfrei eingewebt werden müssen. Methodisch gesehen handelt es sich hier also um eine Ausweitung der Ergebnisse der Auslegung auf das ganze ästhetische Produkt. Dabei kann es zu Modifikationen des Grundschemas kommen. Jenes darf aber durch diese Veränderungen nicht gesprengt werden.57 Auch hier gilt wieder das Ideal der umfassenden Integration aller relevanten Schemata, damit die Deutung nicht unstimmig wird. Deswegen spricht Strube hier auch von der ›integrativen‹ oder ›synthetisierenden‹ Deutung. Außerdem müssen die Kriterien der Spezifizierung und der Konkretisierung beachtet werden, denn »[d]ie Deutung muß eben deutlich erkennbar die eigentümliche Struktur des betreffenden Textes intendieren, und sie muß in relativ ›sachnahen‹ Auslegungen gründen«.58 Die Deutung darf nicht zu allgemein sein, da sie sich sonst auf alle Texte übertragen ließe, und auch nicht zu abstrakt, da sie sich sonst zu weit vom Text entferne. Schließlich dürfe es auch zu keiner überkonstruierten Deutung kommen, etwa in der Form, dass zuerst eine Deutung entwickelt wird und der Interpret dann versucht, passende Schemata bzw. Belege im Werk zu finden. Vielmehr müssen erst die untergeordneten Schemata gefunden werden, die dann in einem zweiten Schritt als Manifestation/Konkretisation des zentralen, strukturgebenden Systems angesehen werden können. Hier ist also das Kriterium der Ungezwungenheit zu beachten.59 Mit Hilfe dieser Gliederung soll es möglich werden, eine Aussage genau im interpretatorischen Sprechakt zu positionieren und dann die entsprechenden Kriterien anzulegen. Dabei scheint mir das System flexibel genug, um die entwickelte idealtypische Kategorisierung auf die Praxis mit ihren unscharfen Grenzen übertragen zu können. Hinzuzufügen ist noch die Erkenntnis von Günther Grewendorf. Ausgehend von der von Toulmin (1969)60 entwickelten Argumentationsstruktur, auf die im 56 57 58 59 60
Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 122. Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 107 f. Strube, Analytische Philosophie, S. 125. Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 124 f. Stark zusammengefasst geht Stephen Toulmin davon aus, dass eine Argumentation aus einer ›Folgerung/Konklusion‹ besteht, die zunächst einen gewissen Geltungsanspruch für sich einfordert. Wird dieser Anspruch angegriffen, ist der Argumentierende gezwungen, auf relevante Tatsachen zu verweisen, die bei Toulmin als ›Daten‹ bezeichnet werden, und so eine Argumentation aufzubauen. Um die Relevanz der ›Daten‹ sichtbar zu machen und so die Korrelation zwischen ›Daten‹ zu ›Konklusion‹ zu legitimieren, muss eine ›Schlussregel‹ als Verbindungsstück eingeführt werden. Verschiedene Folgerungen können desweiteren durch den Grad ihrer Stärke differenziert werden, was durch einen ›Modalterminus/Operator‹ wie ›notwendig‹, ›wahrscheinlich‹ oder ›möglich‹ ausgedrückt werden kann. Um die Akzeptanz der Schlussregel zu erhöhen, können in die Argumen-
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Folgenden auch ich zurückgreifen werde, beobachtet der Wissenschaftler die enge Relation zwischen impliziter Literaturtheorie einer Interpretation und der Wertigkeit der in ihr verwendeten Argumente. Denn erst im begrenzenden Rahmen der impliziten, theoretischen Annahmen erhalten die einzelnen Argument-Typen ihr spezifisches Gewicht und können hierarchisiert werden.61 Dass der Beziehung zwischen der angesetzten Literaturtheorie und den Argumenten bei der Interpretationskritik eine wichtige Bedeutung zukommt, stellt auch Axel Bühler heraus. Diese Relation determiniert, »welche methodologischen Standards [als fachwissenschaftliche und gegenstandsspezifische Anforderung] für die durchzuführende Beurteilung relevant sind«.62 Damit müssen bei der Kritik einer Interpretation besonders die oft nur implizit dargestellten literaturtheoretischen Annahmen betrachtet werden, um den Status der Argumente abschätzen zu können. Abschließend muss aber ins Bewusstsein gerufen werden, dass die hier entwickelten Theoreme, vor allem die Sprechaktgliederung von Strube, weder disjunkt noch erschöpfend sind und einen idealtypischen Charakter haben. Diese Tatsache ist jedoch für das hier verfolgte Anliegen akzeptabel, da die Ergebnisse in erster Linie als Heuristik dienen sollen. Jene muss flexibel genug sein, um in der konkreten Analyse entsprechend dem individuellen Gegenstand angepasst zu werden. Das Schema soll vordergründig helfen, die bedeutsamen Ebenen und Strukturen einer literaturwissenschaftlichen Interpretation ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, die dann in der konkreten Untersuchung ausgeformt werden. Damit wird gleichzeitig die erforderliche Terminologie zur Beschreibung der Phänomene geliefert. Es wird von der Zielsetzung ausgegangen, eine Einzelfallanalyse und nicht die Konstruktion eines allgemeinen Modells zur Kritik literaturwissenschaftlicher Analysen zu betreiben, was vermutlich auch gar nicht zu leisten ist. Die Konkretisierung des Schemas kann dementsprechend erst in der Anwendung erfolgen.
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tation ›Stützen‹ für jenes Element eingebaut werden, die wiederum auf andere ›Daten‹ und ›Schlussregeln‹ zurückgreifen. Abschließend führt Toulmin die Kategorie der ›Ausnahmebedingungen‹ ein, da manche Schlussregeln dies erfordern (vgl. Stephen Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Berk, Kronberg/Ts. 1975 (Wissenschaftstheorie und Grundlagenforschung 1), S. 88–98.). Dabei ist das normative Minimalkriterium die argumentative Konsistenz (vgl. Simone Winko, Autor-Funktion. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Heinrich Detering, Stuttgart/Weimar 2002 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 24), S. 334–354, hier S. 338 f.). Ob ein Argumenttyp in einer literaturwissenschaftlichen Erörterung öfter die Position eines Begründungspotentials oder die eines Diskussionsobjektes einnimmt, verweist auf die implizite Literaturtheorie bzw. über die impliziten Standards der Fachrichtung und zeigt damit die intersubjektive Verbindlichkeit des Elements an (vgl. Günther Grewendorf, Argument und Interpretation. Wissenschaftstheoretische Untersuchung am Beispiel germanistischer Lyrikinterpretationen, Kronberg/Ts. 1975 (Wissenschaftstheorie und Grundlagenforschung 2), S. 30 f.). Axel Bühler, Die Vielfalt des Interpretierens. In: Analyse & Kritik 1999, H. 21, S. 117–137, hier S. 118.
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An dieser Stelle muss jedoch zur Anpassung des Schemas an den spezifischen Gegenstand noch auf die Form des ›literarischen Tagebuchs‹ Bezug genommen werden, da Ernst Jüngers Tagebücher eben auch unter dieser Gattung erfasst werden können.63 Denn das literarische Tagebuch steht unter einer besonderen Spannung, die sich in einer Stellung zwischen autobiographischer Gebrauchsform und literarischer Ausdrucksmöglichkeit manifestiert.64 Eine Trennung von der rein autobiographischen Form sei nach dem aktuellen Forschungsstand nur idealtypisch möglich, da es starke Kontinuitäten zwischen den beiden Formen im Bereich von Inhalt, Struktur und Funktion gibt.65 Es wurden verschiedene Möglichkeiten diskutiert wie etwa der Grad der Fiktionalität66 oder die intentionale Hinwendung zu einer rezipierenden Öffentlichkeit mit der entsprechenden poetischen Ausgestaltung.67 Doch all diese Kriterien hätten einen graduellen Status und könnten auch neben der autobiographischen Intention koexistieren. Aus diesem Grund schlugen u. a. Boerner, Wuthenow und Hassam den fiktionalen Geltungsanspruch als differenzierendes Merkmal vor, da das literarische Tagebuch eben nicht mehr vordergründig den »Anspruch auf Verifizierbarkeit« erhebe, sondern seinen Modellcharakter und damit die »Vielfalt der Sinndeutungen« im Sinne des ›offenen Kunstwerkes‹ in den Mittelpunkt stelle.68 Nichtsdestotrotz kann durch die große Heterogenität der literarischen Tagebücher immer nur auf die Einzelfallanalyse verwiesen werden, weil durch die starke Bindung an die autobiographische Ursprungsform jedes Mal neu ermittelt werden muss, welche formalen und strukturellen Eigenschaften übernommen und welche gebrochen werden.69 Diese Offenheit der Form, die sowohl 63 64
65 66
67
68 69
Vgl. Wimbauer, Kelche sind Körper, S. 12. Vgl. Meike Heinrich-Korpys, Tagebuch und Fiktionalität: Signalstrukturen des literarischen Tagebuchs am Beispiel der Tagebücher von Max Frisch, St. Ingbert 2003 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 76), S. 80. Vgl. Heinrich-Korpys, Tagebuch und Fiktionalität, S. 80 f. und S. 96. Nach Iser ist Fiktion das Ergebnis eines Prozesses, indem referenzlose und willkürliche Imaginäre mit dem Realen als außertextuelles Bezugsfeld relationiert wird. Dies geschehe durch Selektion von Elementen des Realen, deren individuellen Kombination und durch die Selbstentblößung der Fiktionalität durch Fiktionalitätssignale. Diese würden dazu führen, dass die Wirklichkeitsbezüge suspendiert werden und Realitätsfragmente nicht mehr ihrer selbst Willen wahrgenommen werden, sondern ihr intentionaler Verweisungscharakter im Sinne des Textsystems als Akt der Verfremdung der Diegese hervortritt (vgl. Heinrich-Korpys, Tagebuch und Fiktionalität-Signalstrukturen, S. 47 f., S. 50 f. und S. 56–58). – Besonders signifikante Fiktionalitätssignale der literarischen Tagebuchform sind die Differenzierung zwischen Autor und der diaristischen Instanz, autopoetologische Selbstreflexionen und die inhärente Veröffentlichungsabsicht, die zu der Konzeption eines autonomen Lesers führt und auf diese Weise zur Aufhebung der Selbstrezeptivität führt (vgl. Heinrich-Korpys, Tagebuch und Fiktionalität, S. 94). Hier ist vor allem die dialogische Konzeption zu nennen, die die oben genannte Selbstrezeptivität des autobiographischen Tagebuchs durchbräche (vgl. Heinrich-Korpys, Tagebuch und Fiktionalität, 94–96). Heinrich-Korpys, Tagebuch und Fiktionalität, S. 96 f. Vgl. Heinrich-Korpys, Tagebuch und Fiktionalität, S. 98.
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»nichtfiktionale [als auch] fiktionale Prosatexte in chronologischer Abfolge« zulässt, dient deshalb auch zur Abgrenzung von anderen Textformen wie Autobiographie oder Memoiren.70 Die Ermittlung der argumentativen Wertigkeit bestimmter Argument-Typen muss also vor der Folie der werkspezifischen Poetologie geschehen. Beispielsweise können autobiographische Daten nicht vorab als Beleg zu- oder ausgeschlossen werden.71 Zuletzt möchte ich hier auf die Visualisierung der Heuristik im Anhang verweisen.
3. Das Erkennen und Verstehen literarischer Symbole Hier möchte ich einen Exkurs zum literarischen Symbolerkennen- und verstehen einfügen, da die Symbolik in Wimbauers Argumentation eine bedeutende Rolle spielt und sich hier einige problematische Analyseschritte finden lassen, wie ich später zeigen möchte.72 Nach Goethes bekanntestem Symbolbegriff wandelt das Symbol eine Entität in das Bild einer Idee, wobei die natürliche Relationen zwischen den beiden Dingen bestehen bleibt und so das Allgemeine im Besonderen hervorgehoben wird.73 Diese 70
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Sibylle Schönborn, Tagebuch. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 3, Berlin/New York 2003. S. 574–577, hier S. 574. Ich verweise hier auf biographische Argumente, weil sie auf den ersten Blick bei der Tagebuchform eine wichtige Rolle zu spielen scheinen und diesen Status auch in Wimbauers Argumentation erhalten. Hier schließt man nach Kindt und Müller an die biographische Methode an, in der das Leben des Künstlers u. a. als Heuristik zur Textinterpretation verwendet wird, da sich die Eigenart des Urhebers im Kunstwerk fortsetze (vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller, Was war eigentlich der Biographismus – und was ist aus ihm geworden? Eine Untersuchung. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Heinrich Detering, Stuttgart/Weimar 2002 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 24), S. 355–375, hier S. 357). – Der große Diskussionsbedarf zu dieser Methode wird ersichtlich, wenn man die Forschungstradition betrachtet. Hier treffen Konzepte wie der oben genannte ›intentionale Fehlschluss‹ und Barthes ›Tod des Autors‹ auf die gegenwärtig erörterte Annahme über die Rückkehr des Autors (etwa Jannidis oder Winko) aufeinander. Diese Unentschiedenheit drückt sich auch in der Kritik von Kindt und Müller aus: »Als ›mißbräuchlich‹ oder als ›biographistisch‹ sollten vielmehr nur solche Anwendungen des biographischen Prinzips charakterisiert werden, die isolierte Teile von Werken auf das Leben ihrer Verfasser zurückführen, ohne die Relevanz solcher Verknüpfungen für die Konzeption und integrative Deutung des Werkes auszuweisen« (Kindt/ Müller, Was war eigentlich der Biographismus, S. 374 f.). Wieder wird auf den konkreten Fall verwiesen. Vgl. Wimbauer, Kelche sind Körper, S. 24. – Neben dem Aufzeigen der Fiktionalität der ›Burgunderszene‹ ist die Entschlüsselung der Symbolik als Ausdruck der ästhetischen Dimension die zweite Säule von Wimbauers Argumentation, s. Kapitel 3.1. Diese Auffassung kann heutzutage immer noch verwendet werden, wenn man sich von den metaphysischen Implikationen Goethes trennt (vgl. Clemens Kammler/Bettina Noack, Symbolverstehen im Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch 2011, H. 228, S. 4–11, hier S. 4 f.).
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synekdochische Beziehung wird aus einer Analogierelation hergeleitet, sodass diese Verbindung als Grundfigur des Symbolbegriffs bezeichnet werden kann.74 Die Symbolverwendung des literarischen Textes ist so u. a. eine Möglichkeit, den Automatismus bei der Verwendung des Zeichensystems der Normalsprache zu durchbrechen. Da der Autor bei der ästhetischen Produktion von der pragmatischen Konvention des Sprachsystems in einem gewissen Rahmen entbunden ist,75 kann der Rezipient nicht mehr auf Regelmäßigkeit der üblichen Sprachverwendung zurückgreifen. Die Aufmerksamkeit wird so auf die ästhetische Machart, auf die potentielle Modifikation der Normalsprache und auf die daraus resultierenden neuen Signifikationsprozesse gelenkt. Damit gilt auch für das literarische Symbol, dass für dessen Bedeutungszuschreibung allein das »Semnetz des gesamten Textes« zuständig ist, weil alle konventionellen Denotate und Konnotationen potentiell vom Text verabschiedet werden können. Diese werden dann vom Text durch autonome Bedeutungsrelationen ersetzt.76 Diesen letzten Aspekt betont Gerhard Kurz besonders, wenn er schreibt, dass die [s]ymbolische Deutung nun auf den Grundmaximen literarischer Hermeneutik [beruht], daß nämlich alle Elemente eines Textes thematisch kohärent sind, daß sie alle Teile eines zugrundeliegenden thematischen Prinzips sind, daß sie alle, auch das beiläufigste, bedeutungsvoll sein können.77
Doch wie lassen sich nun konkret literarische Symbole im Text identifizieren und damit etwa von normalsprachlichen Elementen unterscheiden? Dafür braucht es nach Eco literarische Verfahren, die einen symbolischen Modus als spezifische Form der Kommunikation initiieren, um nicht wie etwa im Dekonstruktivismus willkürlich allen Einheiten eine symbolische Dimension beizumessen.78 Hier verweise ich wiederum auf Kurz. Dieser benennt einige Textstrategien, die eine symbolische Deutung provozieren. Hierzu zählt die erhöhte Rekurrenz einer sprachlichen Einheit, die auf ihre supplementäre Bedeutungsebene verweist, die Konstruktionen 74
75
76
77 78
Vgl. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 2., verbesserte Auflage, Göttingen 1988, S. 71. Vgl. Dieter Janik, Zeichen – Zeichenbeziehung – Zeichenerkennung. Literatursemiotik für den Leser. In: Literatursemiotik I. Methoden – Analysen – Tendenzen, hg. von Achim Eschbach/Wendelin Rader, Tübingen 1980 (Kodikas/Code, Supplement 1), S. 135–147, S. 139 f. – Relativ bedeutet hier, dass er nicht beliebig verfahren kann, aber beliebig aus dem Gesamtsystem selektieren kann. Diese Befreiung von der pragmatischen, kontextgebundenen Kommunikationssituation des Alltags hat zur Folge, dass die interne Zeichenkonsistenz erhöht wird (vgl. Janik, Zeichen – Zeichenbeziehung – Zeichenerkennung, S. 137 f.). Die Bedeutung des Semnetzes des Textes spielt also auch hier die größte Rolle. Manfred Hardt, Zeichen in poetischen Texten. Bau – Verwendung – Rezeption – Sinnkonstitution. In: Literatursemiotik I. Methoden – Analysen – Tendenzen, hg. von Achim Eschbach/Wendelin Rader, Tübingen 1980 (Kodikas/Code, Supplement 1), S. 103–126, S. 115 f. Kurz, Metapher, S. 77. Vgl. Eco 2009, 325 und 326–328.
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von Antithesen zusammen mit anderen Textelementen, eine besondere Platzierung des Elements im textuellen Syntagma, eine parallele Anordnung sowie das Hervorheben des Ausdrucks durch die Erzählinstanz, die nicht motiviert zu sein scheint. All diese Strukturprinzipien bilden eine wahrnehmbare Zäsur im linearen Erzählverlauf im Sinne der schon oben genannten Durchbrechung des Automatismus. Damit verweisen sie auf eine über die normalsprachliche Wortbedeutung hinausgehende, uneigentliche Ebene.79 »Der Interpret empfindet einen Überfluß an Signifikation, da er errät, daß die Maximen der Relevanz, der Modalität und Quantität nicht zufällig oder aus einem Irrtum heraus verletzt worden sind«.80 Der ›Überfluss an Signifikation‹ muss dabei durch das Bedeutungsnetzwerk des Textes in Kombination mit dem enzyklopädischen Wissen präzisiert werden.81 Festzuhalten bleibt, dass es zu einem symbolischen Verstehen kommt, wenn der Leser den symbolischen Rezeptionsmodus aktiviert. Nichtsdestotrotz ist beim Symbolverstehen der Text die ausschlaggebende Instanz, indem erst besondere textuelle Strategien diesen Modus provozieren. Damit sind die Ergebnisse zum Symbolverstehen analog zu den Ergebnissen der allgemeinen Textinterpretation. Das diese Hervorhebung berechtigt ist, zeigt Janik mit seiner Kritik der literarturwissenschaftlichen Interpretationspraxis. Er bemängelt, dass oft von »prästabilierten Zeichenbeziehungen« ausgegangen wird und diese dann dem Text ohne Reflexion der Individualität des Werkes übergestülpt werden.82 Es ist also nicht auszuschließen, dass der Rezipient sich über den Text erhebt, und nach seinem subjektiven Empfinden eine symbolische Rezeptionsweise einnimmt. Dies wäre aber im Hinblick auf die ›intentio operis‹ zu sanktionieren. Wie weit dieser Fehler in Wimbauers Interpretation vorzufinden ist, soll weiter unten gezeigt werden.
4. Tobias Wimbauer im Reich des Beliebigen und des Spekulativen Bei der Interpretationskritik von Tobias Wimbauers Aufsatz möchte ich als erstes damit beginnen, die globale Argumentationsstruktur der Wimbauer’schen Lesart herauszuarbeiten, um Einsichten in die zugrundegelegte Literaturtheorie und die damit verbundenen argumentativ-interpretatorischen Standards und Schaltstellen zu erhalten. Damit soll auf der einen Seite der Nachvollzug der Problematisierung gewährt werden und auf der anderen Seite soll dieser Schritt sicherstellen, dass auch der Kern der Analyse getroffen wird. Auf diese Weise lassen sich schon vorab strukturbedingte Interpretationsfehler identifizieren. Diese sollen dann in dem sich 79 80
81 82
Vgl. Kurz, Metapher, S. 77 f. Umberto Eco, Symbol. In: Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft, hg. von Frauke Berndt/Heinz J. Drügh, Frankfurt/M. 2009 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1895), S. 325–335, hier S. 328. Vgl. Kurz, Metapher, S. 79. Vgl. Janik, Zeichen, S. 145 f.
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jeweils anschließenden Anwendungsteil an repräsentativen Textstellen sichtbar gemacht werden. Dabei soll gezeigt werden, wie der Autor im Sinne des Gebrauchs des Textes in die Sphäre des beliebig-subjektiven Abdrifts hinübergleitet. So soll exemplarisch das Vorgehen Wimbauers verdeutlicht werden, welches gegen die oben herausgearbeiteten Kriterien verstößt. Im darauf folgenden Kapitel erläutere ich, welchen Strategien sich Wimbauer bedient, um die Brüche in seiner Argumentation zu kaschieren, um mich dann im vorletzten Kapitel nochmal explizit der biographischen Dimension der Analyse zuzuwenden. Diese Hervorhebung entspricht ihrer herausragenden Bedeutung für die Lesart einer eskalierenden Liebessituation. Im finalen Kapitel werden dann ein letztes Mal meine Argumente zusammengetragen, warum Tobias Wimbauers Vorgehen aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive abzulehnen ist. 4.1 Wimbauers strukturell verankerte Fehlinterpretation Tobias Wimbauers zentrale Interpretationshypothese in Bezug auf die ›Burgunderszene‹ besteht darin, dass der Großteil der Interpretationsgemeinschaft bisher an der »Oberfläche der Textbilder« verblieben und deswegen auf das »[dargebotene] Vexierbild« hereingefallen sei.83 Aus diesem Grund sei die von jener Oberflächenbetrachtung abgeleitete Kritik am Autor Ernst Jünger etwa als ›kalter Ästhet‹ oder ›Dandy‹ nicht legitim.84 Aus der Berücksichtigung der biographisch gestalteten Tiefendimension ergibt sich für Wimbauer dagegen folgende Konklusion: Die Burgunderszene kann so gelesen werden, daß sie nicht einen Fliegerangriff auf das besetzte Paris schildert, sondern daß sie die metaphorisiert-verschleierte Schilderung einer eskalierten Liebes-Affaire Jüngers ist.85
Jünger nütze den Tagebucheintrag zur Darstellung eines empirisch-biographischen Ereignisses, in welchem dessen Frau Gretha Jünger das zweite Mal von der neu aufgelebten Affäre zwischen dem Literaten und der Kinderärztin Sophie Ravoux erfahre.86 Wimbauers vordergründiges Handlungsziel ist dementsprechend die Rehabilitation der empirischen Person Jüngers durch das Einführen der »alternative[n] Lesarten«, wodurch den nicht die biographische Dimension beachtenden Kritikern der Wind aus den Segeln genommen würde.87 Hieraus leitet sich auch Selektion dieses einzelnen Notats als zentrales Textmaterial ab. Es 83 84
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Wimbauer, Kelche sind Körper, S. 12. Vgl. Sven Olaf Berggötz, Ernst Jünger und die Geiseln. In: Ernst Jünger. Zur Geiselfrage. Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen, hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2011, S. 17–42, hier 35. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 12 f. (Herv. P. P.) – Das ›kann‹ zeigt schon den Versuch, sich einer möglichen Kritik zu entziehen. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 13. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 12.
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hat im Rahmen jener Diskussion den Status eines »Schlüsselbeleg[s]« inne, »der vornehmlich dazu diente, auf den Autor zwecks politisch-moralischer Diskreditierung zurückzuschließen«.88 Eine Begründung mit Perspektive auf die Position des Notats im syntagmatischen Bedeutungsgeflecht des Textes wird leider nicht geliefert, was aber bei der Zielstellung auch nicht vonnöten sei. Die eigentliche ›intentio operis‹ scheint nur sekundär oder besser nur als ›Gebrauchs[!]‹-Werkzeug für das übergeordnete Ziel von Interesse zu sein. Aus diesem Grund meine ich, dass das Kriterium der legitimierten Selektion innerhalb der fachsprachlichen Beschreibung hier nicht erfüllt wird, da nicht literaturwissenschaftliche, sondern außertextuelle, politisch-moralische Kriterien ausschlaggebend sind, auch wenn es einen literaturwissenschaftlichen Unterbau gibt.89 Wieweit dies auch negative Auswirkungen auf das Kriterium der Ungezwungenheit im Akt der Deutung hat, soll weiter unten gezeigt werden. Für seine Schlussregel einer biographischen Tiefendimension führt Wimbauer zwei Stütz-Säulen an. Auf der einen Seite die biographische Dimension im Bezug auf die Fiktionalität des Fliegerangriffes und die empirisch nachweisbare Faktualität der brisanten Liebeskonstellation zu eben jenem Zeitpunkt des Notats. Auf der anderen Seite die ästhetische Dimension. Hier geht Wimbauer vor allem auf die besondere erotisierte Symbolik der ›Burgunderszene‹ ein, welche sich aus dem traditionellen Liebesdiskurs speise und durch das nahe, syntagmatischen Umfeld im Text vorgezeichnet werde. Zuletzt identifiziert der Interpret eine ausgeprägte Tradition an Prätexten der Episode. Wimbauer betont bei diesen transtextuellen Beziehungen den Vorbildcharakter, spricht von gleichenden Gesten, Begriffen und Symbolen und nützt Assoziationen zur Konstruktion von parallelen Strukturen.90 Gleichzeitig relativiert er aber beispielsweise bei den Visionen Zosimos von Panopolis die Reichweite der Analyse, da die Textsegmente jeweils in andere Kontexte eingebettet sind. Dies wäre jedoch zu vernachlässigen, da es hauptsächlich darum ginge, in welcher Art »[sich] [die] Motive der Burgunderszene prätextuell anderorts vorgezeichnet finden« lassen.91 Helmuth Kiesel sieht darin deshalb hauptsächlich den Versuch, der ›Burgunderszene‹ ihre Singularität zu nehmen und auf diese Weise das Skandalon des Notats zu reduzieren.92 Hier blitzt also wieder Wimbauers eigentliches Ziel auf, den empirischen Autor Ernst Jünger zu rehabilitieren und weniger die ›intentio operis‹ herauszuarbeiten. Deswegen steht dieser Abschnitt 88 89 90 91 92
Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 12. Vgl. Strube, Analytische Philosophie, S. 116. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 13 und S. 57–67. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 60. »Die ›Burgunderszene‹ war also keineswegs singulär; vielmehr zeigt sich in ihr eine Verhaltensweise, die – abgesehen von gewissen Zuspitzungen – nicht ungewöhnlich war, und sie steht in einer literarischen Reihe, die Jünger teilweise bekannt war und ihn möglicherweise zur Fortsetzung animiert hat« (Helmuth Kiesel, Ernst Jünger: Die Biographie, München 2009, S. 519).
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außerhalb der eigentlichen Liebes-Affäre-Argumentation. Die Selektion des Datenmaterials wird weiter unten diskutiert. Die Reihenfolge der Analyseschritte ist analog zu der eben erfolgten Darstellung. Dabei fällt die große Bedeutung, die der biographischen Sphäre zugemessen wird, auf. Zwar ist diese durch die authentische Grundlage der ›Strahlungen‹,93 welche erst im Rahmen mehrerer Überarbeitungen literarisiert wurde, unleugbar.94 Doch gerade diese Literarisierung, die auch explizit bei Wimbauer benannt wird, lässt es zumindest diskussionswürdig erscheinen, der biographischen Dimension im Syntagma der Interpretation eine solch bedeutsame Position einzuräumen. Es klingt leicht schizophren, wenn Wimbauer zunächst die literarische Überformung des authentischen Kerns hervorhebt und kritisiert, dass diese Transformation nicht genügend bei der Interpretation gewürdigt wurde, dann aber der Interpretationsgemeinschaft vorwirft, »an der Oberfläche der Textbilder« stehen geblieben zu sein, weil sie eben nicht die Tiefenebene des ›Biographischen‹ einbezogen hat.95 Dabei hat die Forschung bisher eher eine Zurückdrängung des biographischen Bezugs durch die Literarisierung festgestellt. Wolfgang Brandes etwa hat in seiner Analyse zu den ›Strahlungen‹, die auf Fassungsvergleichen beruht, einen auktorialen Umgang mit Daten und Namen festgestellt und kommt zu folgendem Fazit: Jüngers auktoriales Vorgehen zerstört die vom Datum vorgespielte Authentizität des Tagebuches. Jünger blendet den ›normalen‹ Leser, der seine Taschenspielertricks nicht durch den philologischen Fassungsvergleich aufdecken kann, mit dem Schein der Echtheit des Augenblicks. Dabei operiert er freizügig mit Daten, fügt viele Jahre später Tageseintragungen hinzu oder streicht sie, datiert vor oder zurück. Jünger macht das Tagebuch zum literarischen Kunstprodukt, in dem der Verfasser beinahe beliebig seine Geschichte entwerfen kann.96 93
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Vgl. Lutz Hagestedt, Traumreiche und Feuerwelten. Kriegsbilder bei E. T. A. Hoffmann und Ernst Jünger. In: Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnungen. Für Volker Hoffmann, hg. von Thomas Betz/Fanziska Mayer, München 2005, S. 573–595, hier S. 574. »Vor allem durch diese Redaktion, die Stilisierung, Assoziationen oder Konnotationen und andere ästhetische Überformungen eingeführt bzw. entsprechende Markierungen des notizenhaften Prätextes ausformuliert, gewinnt der diarische Text die Mehrschichtigkeit und den Überhang an Verweisungscharakter, die ihn zur Literaturform macht« (Lothar Bluhm, Ernst Jünger als Tagebuchautor und die ›Innere Emigration‹. (Gärten und Straßen 1942 und Strahlungen 1949). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 125–153, hier S. 134). Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 12. – Wie oben gezeigt wurde, ist es aber gerade die Rekonstruktion der ›intentio operis‹, die das Ziel einer legitimen literaturwissenschaftlichen Textanalyse ist und sind es keine dahinter liegenden autobiographischen Bezüge, die entdeckt werden wollen. Wolfgang Brandes, Der ›Neue Stil‹ in Ernst Jüngers ›Strahlungen‹. Genese, Funktion und Realitätsproduktion des literarischen Ich in seinen Tagebüchern, Bonn 1990 (Abhandlung zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 389), S. 78.
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Der Erkenntnisgewinn durch das Hinzunehmen von biographischen Metatexten wird eher kritisch gesehen. Dabei zielt Jünger auch stark auf die Öffentlichkeit im Sinne einer gelingenden ästhetischen Kommunikation ab. Beispielsweise werden kryptische Textteile entschlüsselt und Kommunikationssituationen innerhalb der Notate derart rekonstruiert, dass auch ein nicht Eingeweihter sie nachvollziehen kann.97 Die dokumentatorische Komponente wird nicht getilgt, aber sie wird einem durch literarische Mittel erzeugten ästhetischen und interpretatorischen Mehrwert untergeordnet, der eben einen auktorialen Umgang mit den Daten einschließt.98 Vor dieser Perspektive möchte ich mich der Kritik von Kiesel an Wimbauers Lesart anschließen, die er folgenderweise formuliert: Die erotisch-biographische Komponente ist freilich nur für den Rezipienten erkennbar (oder erahnbar), der durch externe Dokumente über den Verkauf der Affäre JüngerRavoux informiert ist. Für den Leser des Zweiten Pariser Tagebuchs allein hat die Eintragung vom 27. Mai nur einen Sinn: Sie zeigt, daß Jünger gesonnen war, die ihrem Höhepunkt zustrebende Zerstörung des Zweiten Weltkrieges ins Positive zu kehren und als letztlich heilsgeschichtliche Ereignisse zu deuten.99
Wimbauer überspannt seine Lesart in der Hinsicht, dass er in sie Elemente integriert, die nicht zum enzyklopädischen Wissen des vom Text konstruierten Modell-Rezipienten gehören bzw. durch den Text nicht nachweisbares Geheimwissen voraussetzt. Würde der Text aber auf solch einem Wissen beruhen, wäre die ästhetische Kommunikation von vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch all diese Punkte werden bei Wimbauers Interpretation nicht reflektiert, sodass die Interpretation an dieser Stelle defizitär ist. Literaturtheoretisch verortet Wimbauer explizit nur die ästhetische und die prätextuelle Dimension seiner Interpretation. Für den Bereich der Symbolik wäre die semantische Wortfeldtheorie100 und Roland Barthes Abhandlung über den Liebes-Diskurs zu nennen.101 Im Bezug auf die Identifizierung von Prätexten der ›Burgunderszene‹, auf die die literarischen Bilder zurückzuführen sind, bezieht sich Wimbauer auf Gérad Genettes Konzept der ›Transtextualität‹, welches als Subkategorie u. a. die ›Intertextualität‹ impliziert.102 Ich bin aber der Meinung, dass Wimbauer hier die einzelnen Ansätze unzulässig reduziert bzw. diffus anwendet, um bei der Deutung nicht durch den eigenen Theorierahmen begrenzt zu werden und durch die so erhaltene Offenheit seine Lesart weiterhin bestätigen zu können. 97 98 99 100 101 102
Vgl. Brandes, Der ›Neue Stil‹ in Ernst Jüngers ›Strahlungen‹, S. 83 f. Vgl. Kiesel, Ernst Jünger, S. 546 und S. 549. Kiesel, Ernst Jünger, S. 520. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 24 f. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 25–27. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 50 f.
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Beispielsweise verweist Wimbauer auf die ›Wortfeldtheorie‹,103 um zu zeigen, dass die »einzelne[n] Bilder und Symbole aus der Burgunderszene und ihrem Text-Umfeld« dem »Wortfeld ›Liebe/Frau/[und die damit zusammenhängende Problematik]« angehörig sind.104 Dadurch soll eine Relation zu der »von uns [vielmehr von Wimbauer] vermuteten eigentlichen Thematik« hergestellt werden.105 Wimbauers Vorgehen besteht nun darin, die von ihm als wesentlich herausgehobenen Schlüsselbegriffe ›Blütenkelch‹, ›tödliche Befruchtung‹, ›Erdbeeren‹ und ›Burgunder‹ durch im Text angeblich entwickelte Analogiebeziehungen dem oben benannten ›Wortfeld‹, das nicht weiter spezifiziert wurde, zuzuordnen. Die Problematik liegt darin, dass Wimbauer ohne methodologische Reflexion ein normalsprachliches Konzept auf ein ästhetisches Produkt anwendet und außerdem seine Datenselektion nicht transparent macht. Teilweise sind die angenommenen Analogiebeziehungen auch einfach falsch gesetzt. Beispielsweise hier: Zentral in Wimbauers Interpretation ist das Notat vom 5. Mai 1943, in dem es heißt: Die Körper sind Kelche; der Sinn des Lebens liegt darin, sie mit immer köstlicheren Essenzen anzureichern, mit Balsam für die Ewigkeit. Wenn dies in vollem Maße sich verwirklicht, ists unbedeutend, ob das Gefäß zerbricht.106
Der Interpret leitet daraus die Gleichsetzung von Körper und Kelch ab, wobei auf einem höheren Abstraktionsniveau hier vom Text die Funktion eines Gefäßes betont wird. Wimbauer stellt nun das Körper-Zitat direkt in den Kontext einer Bemer103
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Die ›Wortfeldtheorie‹, die durch Jost Trier 1931 in die Linguistik eingeführt wurde, geht davon aus, dass die lexikalische Bedeutung von Wörtern nicht isoliert erfasst werden kann, sondern sich immer erst in Beziehungen zu anderen sprachlichen Zeichen konstituiert. Der Wortschatz ist nämlich nach Trier anhand von Sachverhaltsbereichen organisiert, denen die entsprechenden Bezeichnungen via einer semantischen Analogie zugeordnet werden. Dabei werden die Wörter, die einen gemeinsamen Sachverhaltsbereich beschreibt, als ›Wortfeld‹ aufgefasst. Ihre Bedeutung entsteht, indem sie durch die Abgrenzung von anderen Elementen des ›Wortfeldes‹ eine spezifische semantische Aufladung erlangen, was den relationalen Charakter dieser Ordnungseinheiten darstellt, (vgl. Angelika Linke/Markus Nussbaumer/Paul R. Portmann, Studienbuch Linguistik. Ergänzt um ein Kapitel »Phonetik/Phonologie« von Urs Willi. 5., erweiterte Auflage, Tübingen 2004 (Reihe Germanistische Linguistik 121 Kollegbuch), 173 f ). – Da für Wimbauer an dieser Stelle nur entscheidend ist, dass die herausgehobenen Wörter zum oben genannten Wortfeld gehören, suspendiert er die feldinternen Relationen zwischen den Wörtern (vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 24, Fußnote 45). Die Kriterien, wann etwas zu den oben genannten Wortfeldern gehört, wird im Aufsatz nicht weiter geklärt. Linke/Nussbaumer/Portmann, Studienbuch Germanistik, S. 24. – Die Offenheit und Schwammigkeit (›die damit zusammenhängende Problematik‹) determiniert schon den heuristischen Wert dieses Rasters. Linke/Nussbaumer/Portmann, Studienbuch Germanistik, S. 24. Ernst Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch. In: ders., Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 3: Tagebücher III, Strahlungen II, Stuttgart 1979, S. 9–294, hier S. 63 (5. Mai 1943).
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kung Jüngers, welche dem eben zitierten Abschnitt direkt vorausgeht: »Es scheint viel leichter, zum mindesten für Frauen, von der Freundschaft in die Liebe einzutreten als umgekehrt. Das spürt man in Ehen, die als Freundschaft weiterlaufen«.107 Dabei sind die Tagebucheinträge durch das Einführen einer Leerzeile strikt voneinander getrennt und der Anfang eines neuen Gedankengangs in der ›Sämtliche Werke‹-Ausgabe deutlich markiert. Dieser Umstand wird aber ignoriert, um die Suche nach der Sexualisierung des Kelches zu beginnen. Es soll die Gleichsetzung von Kelch und Frau belegt werden. Dabei dient Wimbauer ein »›Krug[], der nach einem Frauenleibe gebildet war‹« als erstes Indiz.108 Im weiteren Verlauf springt er vom ›Kelch‹ über den ›Krug‹ zum ›Becher‹ und ›Wein‹. Als Indiz, dass in der Logik der ›Strahlungen‹ »vom Becher und dem Wein als Metapher für eine konkrete Frau und die Frau überhaupt die Rede« ist, zieht er neben einem Auszug aus dem Tagebuch ›Siebzig verweht V‹ folgendes Notat heran: Die Liebe zu einer bestimmten Frau ist zweifach, denn sie ist einmal auf das gerichtet, was sie mit all den anderen Millionen Frauen gemeinsam hat, und dann auf das, was sie von allen anderen unterscheidet und ihr allein gehört. Wie selten ist es, daß beides auf hoher Stufe [in SW 2, 305: ›im Individuum‹] zusammentrifft – der Becher und der Wein.109
Das Gemeinsame ist dabei die allgemeine Form der Frauen, die biologisch vorherbestimmt ist. Mit dem Differenzmerkmal ist die innere Disposition oder Persönlichkeit gemeint. ›Becher‹ und ›Wein‹ sind also Hyponome der polaren Differenzrelation zwischen ›Gefäß‹ und ›Inhalt‹ auf der übergeordneten Ebene. Diese allgemeine Gegenüberstellung wird in diesem Notat auf das weibliche Wesen mit dem allgemeinen Äußeren als Gefäß eines individuellen Inneren verwendet. Jedoch legitimiert der Text nicht, wie es Wimbauer annimmt, dass ›Becher‹ und ›Wein‹ gleichwertig (vom Text mühevoll als Differenz aufgebaut) metaphorisch für »eine konkrete Frau und die Frau überhaupt« steht.110 Wimbauer setzt sich über die durch den Text semantisierten Differenzen und damit über das textuelle Bedeutungsnetzwerk hinweg, um auf eine allgemeinere Ebene zu gelangen, auf der er seine empirisch falschen Analogien konstruieren kann. Dabei sind es gerade die Differenzen, die das Sujet ausmachen und dementsprechend wichtige Bestandteile des textinternen Bedeutungsaufbaues sind. Neben dieser Verwischung der vom Text aufgebauten Relation bedient sich Wimbauer auch dem Mittel des Vertauschens. Um seine Interpretationshypothese weiter aufrecht halten zu können, muss das Objekt der ›tödlichen Befruchtung‹, 107 108
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Jünger, Strahlungen II, S. 63 (5. Mai 1943). Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 28 (Zitat nach Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 416 [20. September 1943]). Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 29 (Zitat nach Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, 96 [16. Februar 1942]). Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 29.
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also die Stadt Paris noch in den Zusammenhang der Konklusion gebracht werden. An diesem Punkt bezieht sich Wimbauer auf ein Notat vom 28. August 1941: »Die Stadt als Freundin; ihre Straßen, ihre Plätze als spendende Orte, an denen wir durch Geschenke überrascht werden«.111 Auch in einem Brief Ernst Jüngers an Carl Schmitt vom 28. August 1941 wird das Verhältnis des Tagebuchautors zu Paris mit dem zu einer Frau verglichen: »Es [Paris] ist die einzige Stadt, zu der ich ein Verhältnis besitze wie zu einer Frau.«112 Dieser Vergleich wird jedoch von Wimbauer im Sinne seiner Interpretationshypothese einfach umgedreht: »Im Zusammenhang mit der Burgunderszene mag das [der Vergleich] auch in der Umkehrung gelten: die Freundin als Stadt geschildert«.113 Da der Text keine Hinweise auf die Potentialität dieses Tausches gibt, sucht man nach einer Begründung durch den Interpreten. Leider vergebens. Diese zwei Beispiele sollen gezeigt haben, wie Wimbauer versucht, durch Analogiebildung auf einer zu allgemeinen Ebene, die ›Burgunderszene‹ und die darin von Wimbauer subjektiv identifizierten Schlüsselwörter dem oben benannten ›Wortfeld‹ bzw. Liebesdiskurs zuzuordnen. Dabei sind Analogien eben keine Identitäten, was sich Wimbauer für eine Überdehnung der semantischen Potentiale zu nutzen macht (was an einer Stelle für einen ›Krug‹ gilt, muss auch global für alle ›krugähnlichen‹ Entitäten gelten). Dies geschieht alles ohne die Legitimierung durch den Text. Es werden keine Begründungen durch den Interpreten angeführt, sodass man davon ausgehen muss, dass die angestrebte Konklusion hier den Ausschlag gibt, was ein höchst subjektives Kriterium wäre. Da wo die Lesart nicht mehr zum Text passt, wird der Text ›passend gemacht‹. Dieses Vorgehen lässt sich im ganzen Bereich der ›Symbolik‹ wiederfinden. Bei der speziellen Kontinuität des Bilder-Pool des Liebes-Diskurs, wofür Roland Barthes herangezogen wird und aus dem auch die ›Burgunderszene‹ schöpfe, erfährt man im Rahmen von Wimbauers Auslegung die Aura des Belieben noch deutlicher. Der Autor des Aufsatzes beruft sich auf Barthes Werk Fragmente einer Sprache der Liebe, wenn er das Konzept von tradierten Liebescodes einführt, welche erst das Sprechen über Liebesphänomene ermöglichen und damit auch für die ›Burgunderszene‹ essentiell sei.114 Um dies zu verdeutlichen, präsentiert Wimbauer dem Leser verschiedene, additiv verbundene Zitate aus dem eben genannten Werk und versucht den Eindruck von Relevanz durch eine assoziativ-suggestive Analogiebildung zur Interpretationshypothese zu wecken wie etwa beispielsweise hier: »Die ›Lösungsidee ist immer eine pathetische Szene, die ich mir ausmale und die mich bewegt; kurz ein Theater‹ 111 112
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Jünger, Das erste Pariser Tagebuch, S. 259 (14. Juli 1941). Ernst Jünger/Carl Schmitt, Briefe 1930–1983, hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, S. 127 (Brief Ernst Jüngers an Carl Schmitt vom 28. August 1941). Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 40. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 25.
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(alles war Schauspiel)«.115 Um den Vorwurf der Beliebigkeit an dieser Stelle zu verstehen, müssen kurz die Struktur und die Implikationen von Barthes Ansatz dargestellt werden. Durch die Unzeitmäßigkeit des Liebes-Diskurses, der sich deswegen der Behandlung entziehe, muss das Ziel einer Analyse ebendiesem aufgegeben werden und durch eine Inszenierung ersetzt werden: »Die Beschreibung des Diskurses der Liebe ist also durch seine Nachbildung ersetzt worden«.116 Aus diesem Grund spricht Barthes auch nicht von Codes, wie es Wimbauer andeutet, sondern von ›Figuren‹. Es soll verdeutlicht werden, dass im Sinne der Nachbildungsnotwendigkeit der Liebes-Diskurs auch immer nur in seiner Dynamik erfasst werden kann: »Die Figur – das ist der Liebende in Aktion«.117 Dabei sind die Figuren geprägt durch den Diskurs: »Aber der, der diesen Diskurs führt […] weiß lediglich, daß, was ihm in einen bestimmten Augenblick durch den Kopf schießt [der Liebende in Aktion], geprägt ist wie die Matrix eines Codes«.118 Der Code kann vielmehr abhängig von der individuellen Lebenssituation ausgefüllt werden, ist aber der Figur untergeordnet und wird deswegen auch nicht weiter verfolgt.119 Im Laufe der Abhandlung stellt Barthes dem Leser verschiedene Figuren des Diskurses nach einer willkürlichen Reihenfolge dar (hier die des Alphabets, verstärkt durch den Arbitraritätscharakter der Formative), um das ungeordnete Auftreten nachzubilden.120 Wimbauer verwendet für seine Darlegung Zitate aus den Figuren der ›Abwesenheit‹, der ›Anbetungswürdigkeit‹, des ›Ausweges‹, der ›Betretenheit‹, der ›Entwirklichung‹ und des ›Verbergens‹. Es stellt sich die Frage: Warum gerade diese Figuren und nicht etwa ›Schreiben‹ oder ›Umschreiben‹? Der Analyst begründet seine Selektion nicht und verhindert so einen intersubjektiven Nachvollzug. Allgemein hält sich der Verfasser in der Passage deutlich zurück und reduziert seine kommentierende Funktion fast ausschließlich auf das Nennen von Textbelegen aus der ›Burgunderszene‹. Auffallend ist, dass genau die Stellen aus Barthes Werk ausgesucht werden, die in der Wahrnehmung des Interpreten eine assoziative Relationierung auf die ›Burgunderszene‹ zulassen. Es gibt keine methodologische Absicherung. Es entsteht der Eindruck, dass hier das angeblich theoretische Gewand als Verschleierungsfunktion genutzt wird, um suggestiv die ›Burgunderszene‹ mit einem 115
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Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 25 f. (Herv. P. P.) – Ich spreche hier von ›suggestiv‹, weil Wimbauer die Zitate größtenteils unkommentiert lässt. Es erfolgt keine Auslegung bzw. Darstellung, wie sie im Rahmen der Interpretation anzuwenden sind, was wiederum den Effekt der Offenheit bewirkt. Der Rezipient ist auf sich gestellt durch das NichtFestlegen und muss für sich selber ein stimmiges System konstruieren. Dieses Vorgehen lässt sich noch öfters beobachten. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Aus dem Französischen von HansHorst Henschen, Frankfurt/M. 1988, S. 15. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 16. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 17. – Dadurch, dass das Zitat aus dem Kontext gerissen wird, kann Wimbauer an dem traditionellen Code-Begriff festhalten. Vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 17. Vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 19–21.
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wie auch immer geformten Liebes-Diskurs zu verknüpfen. Diese Sichtweise wird weiter verstärkt, da im weiteren Verlauf der Interpretation nicht wieder auf den Liebes-Diskurs im Sinne Barthes zurückgekommen wird.121 Zur Verdeutlichung des eben Geschilderten folgendes Beispiel: Im Rahmen der Figur ›Entwirklichung‹ als »Gefühl von Abwesenheit, von Zurückweichen der Realität, das vom liebenden Subjekt angesichts der Welt erlebt wird«122 heißt es weiter, dass die »Realität als Machtsystem« der Entwirklichung des liebenden Subjekts entgegenarbeitet, indem sie »ihr Seinssystem« aufzwingt, was als »Unhöflichkeit« bewertet wird. Doch damit nicht genug: »[M]it einer letzten Kränkung wird dieses System als ›Natur‹ präsentiert« und somit als ein ahistorischer Naturzustand in der Wahrnehmung des Liebenden dargestellt.123 Ohne weitere Ausführung verweist Wimbauer unscheinbar in Klammern auf »(Blütenkelch, Befruchtung)«.124 Worauf diese Beziehung fußt, etwa im schon oben beschriebenen Verfahren des Wortfeldes (›Befruchtung‹ und ›Blütenkelch‹ als Homonyme von ›Natur‹), bleibt offen. Der Transfer von Barthes Ausführungen auf den konkreten interpretatorischen Akt bleibt dem Rezipienten und dessen Kreativität überlassen. Wimbauer setzt höchstens nebulöse Reizpunkte für Assoziationsketten. Dadurch verläuft der argumentative und heuristische Wert der theoretischen Ausführung gegen Null. Als letzte methodologisch-theoretische Diskussion möchte ich zu Wimbauers Anwendung des ›Transtextualitäts‹- bzw. des ›Intertextualitäts‹-Konzeptes kommen. Dies aber nur querschnittsmäßig, bedingt durch den untergeordneten argumentativen Status. Doch lässt sich ebenfalls hier das Leitprinzip der Offenheit beobachten. Zunächst diskutiert der Autor des Aufsatzes die methodische Schwierigkeiten des ›Intertextualitätsbegriffes‹ von Julia Kristeva in Form von dessen Implikation einer »radikalen Dezentrierung des Textes« und einer unscharfen Verwendung in der Forschungspraxis,125 worauf hin sich Wimbauer dem ›Transtextualitätskonzepts‹ Gérad Genettes zuwendet, da dies über jene Defizite nicht verfügt.126 Hierbei hebt der Interpret besonders die Vorstellung des »›mehr oder weniger […] wörtliche[n] Vorhandensein eines Textes in einem anderen‹« hervor.127 Diese zwischentextliche Beziehung wird abschließend als »›transformatorische‹ ›Verwandtschaften‹« zwischen den Prätexten und der ›Bur121
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Dieses Phänomen scheint allgemein für Wimbauers theoretische Abhandlungen zu gelten. Sie werden zwar als angebliche Grundlage eingeführt, im Zuge der Interpretation wird darauf aber nicht wieder explizit Bezug genommen. Man könnte höchstens vermuten, dass sie implizit im Hintergrund jeweils mitgedacht werden sollen. Dies würde aber den Anwendungstransfer allein auf den Leser schieben, was ich als schlechten Stil bewerten würde. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 87. Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 89. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 26. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 48. Vgl. Wimbauer, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 49–51. Wimbauer, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 49 und S. 50. – Was unter dem ›mehr oder weniger‹ zu verstehen ist, bleibt leider offen.
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gunderszene‹ zusammengefasst.128 Es kommt zu einer schleichenden Ausweitung. Dies spiegelt sich vor allem darin wieder, dass »es [nach Wimbauer] ziemlich unerheblich ist, ob Jünger diese Stellen [die relevanten Textteile der Prätexte] im Einzelnen nachweisbar kannte oder nicht«, denn der Text existiere im Sinne von Barthes sowieso nur in einer ›chambre d’èchos‹.129 Mit dieser Auslegung nimmt jedoch der Interpret dann wieder die herausgearbeitete Verschärfung des Konzepts zurück und macht den ›Intertextualitäts‹- bzw. ›Transtextualitäts‹-Begriff nicht mehr operationalisierbar. Dieser Echo-Kammer-Entwurf führt nämlich zu der vorher abgelehnten, »radikale[n] Dezentrierung von Subjekt und Text«, da es in diesem Theorierahmen keine einzelnen Texte mehr gibt, sondern nur einen großen, alles umfassenden ›Intertext‹, außerhalb dem sich nichts befinden kann.130 Wimbauer verabschiedet hier stillschweigend den engen ›Intertextualitätsbegriff‹,131 dessen Vorteile er gerade erst hervorgehoben hatte. Dabei wird dem Leser die Rückkehr zum dekonstruktivistischen bzw. poststrukturalistischen Konzept nicht transparent gemacht.132 Auf diese Weise können bei Wimbauer potentiell in allen Texten verbindende Relation entdeckt werden, sodass sich der analytisch-argumentative Wert verflüchtigt. Neben der theoretisch begründeten Beliebigkeit der Selektion von Prätexten, die dem Interpreten freie Hand bei der Bestimmung der heranzuziehenden Werke lässt und zu derartigen Selektionslegitimationen führt wie »[d]aß Jünger Zosimos’ Visionen kannte, konnte bislang nicht belegt, aber auch nicht ausgeschlossen werden«,133 kann die Anwendung des ›Transtextualitäts‹-Ansatzes allgemein 128
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Wimbauer, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 52. – Eigentlich spricht Genette nur im Rahmen der Hypertextualität von Transformation (s. Fußnote 153 bei Wimbauer), sodass Wimbauer hier den konkreten Beleg der in Anführungszeichen gesetzten Aussage schuldig bleibt. Wimbauer, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 52 f. – Auffallend ist jedoch, dass der Autor trotzdem vor jedem Kapitel die Kenntnis Jüngers probiert, zu belegen. Das eigene Konzept und dessen Konsequenzen scheinen nicht ganz geheuer zu sein. Ulrich Broich, Intertextualität. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, S. 175–179, hier S. 175 f. Ohne im begrenzten Rahmen dieser Arbeit zu weit in die ›Intertextualität‹-Debatte einzusteigen, zeichnet sich der enge ›Intertextualitätsbegriff‹ gerade durch das Bewusstsein der ›Intertextualität‹ aus und widerspricht so Wimbauers Behauptung, es sei nicht relevant, ob der Autor sich seinen intertextuellen Bezügen bewusst war. Es sind nur rezeptions- und reflexionsrelevante Bezüge zu erfassen. Aus diesem Grund wird die ›Intertextualität‹ meist durch den Text markiert. Dabei wird der unbewusste Einfluss von etwaigen Quellen ausgeschlossen (vgl. Broich, Intertextualität, S. 176). Die strukturalistischen und hermeneutischen ›Intertextualitäts‹-Theorien grenzen sich davon eindeutig ab, wenn sie von einem intentionalen Akt der Beziehungssetzung durch den Autor sprechen, welche ästhetische Funktionen übernehmen und deswegen im Sinne eines angemessenen Textverständnisses für den Leser erkennbar sein müssen. Aus diesem Grund werden sie im Werk oft durch poetische Strategien markiert. Das Konzept einer ›chembre d’échos‹ wird abgelehnt (vgl. Matías Martínez, Intertextualität. In: Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart 2007, S. 357 f., hier S. 357). Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 57. – Damit wird jeder zeitgenössische Text, der sich nicht explizit Jüngers Kenntnis entzog, als potentieller Prätext relevant.
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als ›Begriffsjagt‹ beschrieben werden, wobei auch hier Differenzen verwischt bzw. marginalisiert werden und Analogien überdehnt oder sogar erst umständlich im Sinne der Interpretationshypothese konstruiert werden. Da entsteht aus einem »›feurige[m] Geist‹« »bombardierende[] Flugzeuge«,134 aus einen Vergleich »war süß in meinem Munde wie Honig« eine Indizierung von ›Blütenkelch‹/›Befruchtung‹135 oder Aussagen wie »[d]ie apokalyptischen Reiter können mit den angreifenden Fliegern assoziiert werden«.136 Und genau hier macht sich Wimbauer die Offenheit seines ›Transtextualitätsprinzips‹ zu nutze. Assoziationen sind Phänomene, die vom Rezipienten an den Text herangetragen werden. Diese subjektive Komponente wird dabei eigentlich durch die Textstrategien kontrolliert. Doch Wimbauer löst eben seine Belege aus diesem ›Semnetz‹ heraus, sodass sich die Assoziationen ohne Beschränkung entfalten können. Die vom Text aufgebauten semantischen Isotopie-Ketten werden suspendiert, um einseitig semantische Merkmale betonen zu können. Auf deren Basis werden dann die Analogien gebildet (etwa ›feuriger Geist‹ = [+ Zerstörung], ›Flugzeuge‹ = [+ Zerstörung]?). Das Verführerische dieser Ketten ist ihre potentielle Möglichkeit durch das Herauslösen aus den regulierenden Isotopien, den Eindruck von Plausibilität zu wecken. Doch auch dies ist teilweise nur mit einer hohen transformatorischen Verallgemeinerung möglich, wenn etwa bei Proust der Luftangriff nicht vom Dach, sondern von einem »›Balkon‹« aus beobachtet wird und weiter nicht die Alliierten angreifen, sondern die »›Deutschen‹« oder bei Wilde nicht Flugzeuge einen (wörtlich zu nehmenden) Blütenkelch angreifen, sondern »›[e]ine wütende Biene‹«.137 Dies gelingt durch den Bruch des Kriteriums der Spezifizität, indem die relevanten Merkmale auf solch einer allgemeinen Perspektive situiert werden (etwa ›Dach‹ und ›Balkon‹ vereint durch die erhöhte Postition) und dadurch der notwendige Minimalkonsens soweit reduziert wird, dass nahezu alles analog sein kann. Doch sind diese Assoziationen eben nicht explizit durch den Text markiert sondern rein subjektiv konstruiert, sodass sie nie den Sprung aus der Sphäre des Spekulativen schaffen. Es wird vielmehr durch die beliebigen, nach dem Kriterium der Passgenauigkeit ausgewählten Prätexte der ›Burgunderszene‹ ein subjektiv selektierter Kontext übergestülpt, der erst diese plausibel erscheinenden Assoziationsketten ermöglicht. Wimbauer schreibt beispielsweise selbst, dass »[es] [b]ei Zosimos freilich um das alchimistische Verlangen, Gold aus ›niederen‹ Metallen zu gewinnen, [geht] […]. Nicht um eine Liebeshandlung. Es soll hier nur wiederum gezeigt werden, wie einige der Motive der Burgunderszene sich prätextuell anderorts vorgezeichnet finden«.138 Die Funktion der Relationen für den Bedeutungsaufbau der ›Burgunderszene‹ scheint nebensächlich zu sein. Begründet liegt dieses Vorgehen wohl im 134 135 136 137 138
Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 58 Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 62. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 60. (Herv. P. P.) Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 54, S. 55 und S. 56. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 60.
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spezifischen Interesse des Interpreten, das eben nicht auf die ›intentio operis‹ abzielt. Der Höhepunkt der ›Begriffsjagt‹ ist dann erreicht, wenn die lexikalischen Einheiten komplett außerhalb des spezifisch semantischen Bedeutungssyntagma der Texte betrachtet werden und es nur noch darum geht, möglichst viele Übereinstimmungen an Formativen zwischen den Texten zu finden. Im Rahmen von Oscar Wildes Werk ›Das Bildnis des Dorian Gray‹ werden beispielsweise die Identifikation der Formative ›Fliederblüten‹, ›Schauspiel‹ oder ›Burgunder‹ oder die Farbe ›Rot‹ als Belege für eine ›Transtextualitäts‹-Relation herangezogen. Dabei heißt es: »Es ist vor allem der Gestus, der sich gleicht. Aber auch die in der Burgunderszene vorkommenden Begriffe und Symbole sind auf nahezu jeder Seite von Wildes Roman zu finden«.139 Doch hier gilt die gleiche Maxime, wie sie bei der Analyse Ecos von Rossettis DanteInterpretation gilt, der auch probiert, interpretatorischen Engpässen mit ›Intertextualität‹ zu begegnen: »Dennoch ist ein Pelikan bei Cecco noch keiner bei Dante, obwohl Rossetti versucht, diesen kleinen Unterschied durch Austausch von Fußnoten zu verwischen«.140 Genauso wenig kann vorausgesetzt werden, dass ein ›Burgunder‹ bei Wilde identisch mit einem ›Burgunder‹ bei Jünger ist. Dies könnte nur durch tiefere Analysen der jeweiligen Position im Textsyntagma und ihren semantischen Isotopien bewiesen werden, die hier nicht erbracht werden. Aus all diesen Beobachtungen zu Wimbauers Anwendung des ›Intertextualitäts-‹ bzw. des ›Transtextualitätskonzepts‹ verweise ich hier auf die Kritik Broichs: Gelegentlich wurde der Intertextualitätsbegriff als ein bloß modisches Etikett verwendet, um dahinter eine traditionelle ›sources and analogues‹-Forschung zu betreiben […] oder einzelne Texte assoziativ-impressionistisch zu interpretieren.141
Würde man diesen Weg weiter gehen, könnte man auch die Intertextualität zwischen der ›Burgunderszene‹ und einem floristischen Fachbuch darlegen. Deshalb muss in Kombination mit dem unsauberen, teilweise verschleiernden Umgang innerhalb der theoretischen Sphäre auch dieser Bereich kritisch betrachtet werden. Die Erörterung von Tobias Wimbauers theoretischem Vorgehen soll gezeigt haben, wie er frei nach dem Motto verfährt, daß »[t]heoretisch sich immer ein System erfinden [läßt],« – hier im Sinne des Gebrauchs des Textes zur Bestätigung eines subjektiven, der eigentlichen Interpretation übergeordneten Ziels – »in dem ansonsten unschlüssige Indizien plausibel werden«.142 Dass dabei die vom Text aufgebauten semantischen Isotopien nicht bedacht werden und unterschiedliche Kriterien literaturwissenschaftlichen Arbeitens gebrochen werden, scheint im Sinne des globalen Ziels des Textgebrauchs nicht weiter von Bedeutung zu sein. Als Letztes muss noch einmal allgemein auf Wimbauers Symbolverständnis eingegangen werden. Wie ich gezeigt habe, gibt es verschiedene Textstrategien, um 139 140 141 142
Wimbauer, Körper sind Kelche, S., 56 f. – Vgl. auch die Fußnote 177. Eco, Überzogene Textinterpretation, S. 65. Broich, Intertextualität, S. 179. Eco, Überzogene Textinterpretation, S. 70.
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den symbolischen Modus zu aktivieren. Wimbauer geht im Bezug auf die ›Burgunderszene‹ vor allem von der Symbolhaftigkeit von ›Kelch‹, ›Stadt‹ und ›Erdbeere‹ aus, wobei ich hier die herausgearbeitete Symbolik des Notats vom Vortag zurückstelle. Ich konzentriere mich auf die ›Erdbeere‹, weil die anderen beiden Punkte schon besprochen wurden. ›Erdbeeren‹ begegnen dem Leser in der ›Burgunderszene‹ folgenderweise: »Beim zweiten Mal [beim zweiten Überfliegen], bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand«.143 Wimbauers Vorgehen besteht nun darin, durch das Heranziehen verschiedener kultureller Zeugnisse von François Villons über Thomas Mann bis hin zu Hieronymus Bosch die Verwendung der ›Erdbeeren‹ als sexuelles Symbol darzulegen. Es wird kurz ein christlicher Kontext angetippt, indem die ›Erdbeere‹ symbolisch auf die Liebe Gottes verweist, um dann aber gleich wieder zur sexuellen Aufladung zurückzukommen. Auch wird ein Notat Jüngers noch erwähnt, indem ein Traum geschildert wird. In jenem befindet sich Jünger an einer Tafel mit seinem Vater. Es wird dort diskutiert, wie weit »jede, und gleichviel welche, Geste des Mannes im Gespräch mit einer Frau erotische Bedeutung trägt«. Kurz vor der Auflösung der Gesellschaft werden »rote Walderdbeeren auf einem Hügel aus weißem Eis« in einem Kelch serviert.144 Wieder üben die übereinstimmende Begrifflichkeit eine verführerische Strahlkraft aus. Es muss sich also in der Logik Wimbauers um ein sexuelles Symbol (was eigentlich für eins?) handeln, das in der ›Burgunderszene‹ wieder aufgenommen wird. Später wird Wimbauer dann diesen Umstand nutzen, um seine Auslegung des Paradoxons der ›tödlichen Befruchtung‹ darzulegen: Haben wir bislang feststellen können, daß die Erdbeeren sexuell konnotiert waren und daß Jünger die ›Blütenkelche‹ mit Körpern respektive Frauen gleichsetzte, so ist die Verbindung von Erdbeeren-Blütenkelchen im Zusammenhang mit der ›tödlichen Befruchtung‹ [im Sinne des Käfers Anthonomus rubi] vielleicht doch kein unlösbares Paradox mehr.145
Doch was berechtigt Wimbauer überhaupt zu der Annahme, es handle sich bei den ›Erdbeeren‹ um ein Symbol. Aus der Perspektive des zu provozierenden, symbolischen Modus kann das einmalige Auftauchen in einem anderen Notat nicht gerade als eine, den Text durchziehende Rekurrenz bezeichnet werden. Auch verfügen die ›Erdbeeren‹ weder über eine besonders markierte Position im TextSyntagma, noch hebt die Erzählinstanz sie besonders hervor. Übrig bleibt die antithetische Konstruktion. Doch auch hier muss festgestellt werden, dass man mit einer sexuellen Konnotation nicht weit kommt. Vielmehr funktioniert die ›Burgunderszene‹ dadurch, dass die ›Erdbeeren‹ in Kombination mit dem ›Burgunder‹ als Ausdruck des Genusses eine Kontrastierung zur Gefahr und Leid implizierenden Überfliegung aufbauen, worauf auch die enge Verknüpfung der 143 144 145
Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch, S. 271 (28. Mai 1944). Jünger, Das erste Pariser Tagebuch, S. 255 f. (18. Juni 1941). Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 39.
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beiden Einheiten hinweist.146 Dafür muss man nicht auf eine sexuelle Symbolik zurückgreifen. Zwar spricht auch Jörg Sader von einem privaten Symbol. Doch er meint dies nicht, wie es vielleicht Wimbauers Zitation vermuten lässt, in Bezug auf eine privat-intime Sphäre. Das Symbol stellt vielmehr einen Teil des privaten Codes Jüngers dar, sodass es genauso wenig aufklärbar sei wie die »Legierung mit dem Wein der Weine«.147 Saders bietet trotzdem einen Deutungsansatz an, indem er die ›Erdbeeren im Burgunder‹ als einen organisch-fragilen Gegensatz zur tödlichen Technik einführt und weiter »in einem freilich sehr weiten Sinne die Opferung der Kultur [vor allem der Wein als kultivierte Natur], der aus Spengler’schen Sicht ohnehin schicksalhafte Vernichtung droht – nämlich durch die seelenlosmechanische Avanciertheit einer nur noch technisch ausgeprägten Zivilisation«.148 Auch wenn diese Auslegung zu diskutieren wäre, kann man festhalten, dass Sader hier im Gegensatz zu Wimbauer, der gleich die ›symbolische Keule‹ schwingt, von der wörtlichen-konventionellen Bedeutung ausgeht, um dann in eine Tiefendimension vorzudringen. Auf diesen wichtigen Umstand weist auch Eco hin, wenn er gerade diesen wörtlichen Sinn als Fundament jeder interpretatorischen Tätigkeit konstituiert. Denn erst von der Oberflächenstruktur ausgehend lässt sich die Tiefendimension richtig erfassen.149 Wimbauer dagegen reißt, je nach Nutzen für seine Interpretationshypothese, sprachliche Einheiten aus ihrem syntagmatischen Kontext und damit aus dem durch den Text konstruierten Isotopienetzwerk, deklariert einen symbolischen Status mit vor-konstruiertem, entsprechendem Kontext und entwirft darauf eine Deutung, die sich in sein Interpretationssystem integrieren lässt bzw. die es stützt. Der Interpret schwingt sich auf zur strukturkonstituierenden Instanz und verschiebt den Text ins zweite Glied. Deshalb ist dieses Vorgehen, das hier am Beispiel der ›Erdbeeren‹ beispielhaft vorgestellt wurde, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive stark zu kritisieren. Das Wimbauers Lesart einige methodologische Brüche aufweist, die sich stark auf die argumentative Kraft auswirken, soll exemplarisch deutlich geworden sein. Doch scheint Wimbauer dieser Umstand selbst bewusst gewesen zu sein, da sich in der Interpretation verschiedene Strategien vorfinden lassen, die genau diesen Umstand im Hinblick auf den Rezipienten kaschieren soll. Diese sollen wiederum auszugsweise im folgenden Kapitel vorgestellt werden. 146
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Es sind eben nicht ›Erdbeeren‹, sondern »ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen«, s. o. Vgl. zur kontrastierenden Funktion: Hagestedt, Traumreiche und Feuerwelten, S. 577. Jörg Sader, »Im Bauche des Leviathan«. Tagebuch und Maskerade. Anmerkungen zu Ernst Jüngers »Strahlungen« (1939–1948), Würzburg 1996 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 156), S. 134. Sader, »Im Bauche des Leviathan«, S. 134. – S. a.: »Der Mensch als Techniker, als geistig-abstraktes Wesen, ist notwendig der Feind und Ausbeuter des Natur- und des Kulturmenschen«, Ernst Jünger, Die Hütte im Weinberg. Jahre der Okkupation. In: ders., Strahlungen II, S. 403–659, hier S. 535 (12. September 1945). Vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 40–42.
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4.2 Wimbauers Verschleierung brüchiger Argumente Trotz Wimbauers schiefem Akt der Analogiebildung, der auf dem Prinzip der freien Assoziation beruht und damit hochgradig subjektiv ist, erzielte der Aufsatz einige positive Rezensionen.150 Dies ist meiner Meinung nach darauf zurückzuführen, dass Wimbauer neben einer nicht abstreitbaren, intensiven Recherchetätigkeit verschiedene Techniken einsetzt, um die Risse in der Argumentation zu übertünchen. Einige davon sind im vorherigen Kapitel schon angeklungen. Doch möchte ich hier noch einmal verstärkt auf derartige Mechanismen zurückkommen, um anschaulich zu machen, wie der Interpret künstlich den Grad seiner Plausibilität erhöht. Da sich aber diese Strategien nicht mit den oben entwickelten Kriterien vereinen lassen, wird beim Erkennen die literaturwissenschaftliche Akzeptanz stark beschnitten. Zunächst möchte ich auf das von Wimbauer für seine Konklusion verwendete Textmaterial, also die ›Burgunderszene‹ zu sprechen kommen, um ein vernachlässigtes Element der Argumentationsstruktur nachzureichen. Ernst Jünger hatte einen besonders starken Hang, seine Texte wieder und wieder zu überarbeiten. Dies ist nach Brandes rückführbar auf Jüngers Relation zur Sprache, aus dessen Perspektive das Ideal als Übereinstimmung zwischen Intention und Ausdruck nicht zu erreichen ist, sondern man diesem nur annäherungsweise gerecht werden könne.151 »Die beste Erfassung des ersten Eindrucks ist die Frucht wiederholter Anstrengungen, passionierter Abschriften«.152 Hieraus leitet sich die Aufspaltung in verschiedene Fassungen ab.153 Die Fassungsdifferenz lässt sich auch bei der ›Burgunderszene‹ feststellen. Eine gute Zusammenführung aller Veränderung lässt sich bei Helmuth Kiesel finden: ›Alarme, Überfliegungen. Vom [1949: hohen; 1955 gestrichen] Dache des Raphael sah ich zwei Mal in der Richtung von St. Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe davonflogen. Es handelt sich um Angriffe auf die Flußbrücken. Die Art und Aufeinanderfolge der gegen den Nachschub gerichteten Maßnahmen deutet [ab 1963: deuten] auf einen feinen Kopf. Beim zweiten Male, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelche [ab 1963: Kelche], der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. [Ergänzung 1963: Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.] (Str, 522 (1949) = 3,271 (1979))‹.154 150
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Vgl. etwa Berggötz (Ernst Jünger und die Geiseln, S. 35), der sich der Deutung Wimbauers anschließt. Vgl. Brandes, Der ›Neue Stil‹ in Ernst Jüngers ›Strahlungen‹, S. 70. Ernst Jünger, Kirchhorster Blätter. In: ders., Strahlungen II, S. 295–401, S. 330 (24. November 1944). Überblick etwa bei Ralf Klausnitzer, Strahlungen (1949). In: Ernst-Jünger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Matthias Schöning, Stuttgart/Weimar 2014, S. 165–174. Kiesel, Ernst Jünger, S. 518.
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Es wird ersichtlich, dass etwa ›Blütenkelch‹ und die Ergänzung ›Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht‹ nicht koexistierten. Aus editionsphilologischer Sicht ist aber eine Trennung der einzelnen Fassungen unabdingbar. Die Varianten können nicht bedeutungsmäßig in eins gesetzt werden, da eben die unterschiedlichen Fassungen mehr sind als eine identische Aussage mit verschiedenen Entwicklungsstufen, die sich nur in der sprachlich-formalen Präsentation verändert. Martens umschreibt diesen Umstand so, dass jede Variante in einen eigenständigen Fassungskontext eingebunden ist, was ein jeweils anders strukturiertes Bedeutungsgefüge impliziert. Der Fassungsvergleich eigne sich dagegen als Heuristik, um den Blick auf die relevanten Schaltstellen zu lenken und die Tendenz der Veränderungsrichtung zu verstehen.155 Wimbauer vermischt dagegen die Fassungen im Sinne seiner Interpretation, was zum »Verdikt über die Kontamination« führt. Als Folge entstehen schiefe Ergebnissen.156 Der Autor des Textes verweist, wo es ihm passt, mal auf den ›Blütenkelch‹,157 mal auf das ›Schauspiel‹,158 ohne dieses Fassungs-Springen zu reflektieren. Die Fassungsdifferenz wird zwar im Laufe der Abhandlung erwähnt, aber nicht weiter beachtet: »Übrigends hat Jünger in der Burgunderszene ab der ersten Werkausgabe ›Blütenkelche‹ durch ›Kelche‹ ersetzt.«159 Der Umgang mit Varianten wird dagegen an anderer Stelle noch deutlicher: »In späteren Ausgaben korrigiert Jünger ›Ringen‹ zu ›Rängen‹, was – im Sinne unserer Auslegung – und der textimmanenten Stringenz folgerichtig ist. Halten wir uns an die Version der ›Ränge[]‹«.160 Vor der Folie des eben beschriebenen Phänomens wird sichtbar, welche Bedeutung die Deutungshypothese für den Interpreten hat. Die Auslegung richtet sich nicht mehr nach der (entsprechenden) Fassung, sondern die Fassungen werden nach ihrer Passgenauigkeit zur Auslegung bewertet und herangezogen. Wimbauer scheint davon auszugehen, selbstverantwortlich und, falls nötig, im Wechsel über die Textvarianten verfügen zu können, ohne die berechtigten, methodischen Einschränkungen zu beachten. Wieder thront die Bestätigung der Lesart über allen methodologischen Einwänden. Die Bedeutungen der Varianz wird nicht beleuchtet, stattdessen für einen flexiblen Umgang missbraucht. Als nächsten Punkt möchte ich Wimbauers Sprache der Suggestion behandeln. Wie ich gezeigt habe, ist der intersubjektive Nachvollzug einer der Säulen, durch 155
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Vgl. Jens Stüben, Edition und Interpretation. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth/Bodo Plachta/H. T. M. van Vilet/Hermann Zwerschina, Berlin 2000, S. 263–302, hier 285–287. Karl Konrad Polheim, Textkritik und Interpretation bedingen einander. In: Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaften, hg. von Gertraud Mitterauer/Ulrich Müller/Margarete Springeth/Verena Vitzthum, Tübingen 2009, S. 209–220, S. 210 f. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 28–33. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 43–46. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 32. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 43. (Herv. P. P.)
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die überhaupt ein wissenschaftlicher Diskurs möglich wird. Aus diesem Grund kann es keine Aussage geben, die selbstverständlich ist. Hinzu kommt der Methodenpluralismus, der das Bedürfnis nach Legitimation der einzelnen Arbeitsschritte nochmals verstärkt. In Wimbauers Aufsatz begegnen einem dennoch immer wieder Formulierungen wie etwa folgende: »Daß Gretha Jünger hier auf die mißliche Situation Jüngers mit Sophie Ravoux in Paris anspielt, scheint deutlich zu sein [also eine scheinbare Deutlichkeit?]«,161 »Im Zusammenhang mit der Burgunderszene mag das auch in der Umkehrung gelten: die Freundin als Stadt geschildert«,162 »Offenkundig ist, daß diese Tagebuch-Sentenz der Auftakt der Burgunderszene ist«163 und »daß dies [Jüngers Versuch, in der Burgunderszene sein moralisches Verhältnis zu ändern] um so mehr für die Ebene des von uns angenommenen Hintergrundes gültig ist, liegt auf der Hand «.164 All diese Aussagen werden dem Rezipienten ohne weitere Ausführung dargeboten. Die Sätze postulieren eine Deutlichkeit, die nicht vorhanden ist. Die Selbstverständlichkeit wird dem Leser untergeschoben mit Hoffnung, dass dieser die Schuld für das Nicht-Erkennen der Evidenz bei sich sucht und deswegen die Aussagen des Textes akzeptiert. Der Höhepunkt ist aber mit dem Kapitel ›Legitimation‹, welches direkt an den ›Transtextualitäts‹-Abschnitt folgt, erreicht.165 Hier wird dem Leser ein Zitat aus dem Vorwort der ›Strahlungen‹ und ein Textabschnitt aus dem Notat vom 15. September 1943 präsentiert. Aber es wird kein Wort über das Objekt der Legitimation noch über die genaue Funktionsweise der Textbeispiele als Rechtfertigung verloren. Der Leser soll praktisch den Text, über den er eine Interpretation erwartet, selbst im Sinne von Wimbauers Interpretationshypothese auslegen. In meinen Augen ist dieses nebulöse Vorgehen höchst leserunfreundlich und verschleiert mehr, als dass es erhellt. Kritisch sehe ich auch Wimbauers Umgang mit Metatexten und der Forschungsliteratur. Denn hier kann man das gleiche Herauslösen aus dem Kontext beobachten, um Aussagen im Sinne seiner Argumentation passend zu machen. Als Beispiel kann man auf das oben genannte Zitat von Jörg Sander und das ›private Symbol‹ verweisen oder auf den problematischen Umgang mit dem von Wimbauer selbst angelegten, theoretischen Gerüst. Dazu passt auch Jüngers »›Melodie des Analogen‹«.166 Wimbauer bringt diese Aussage Jüngers als Beleg, um seine Annahme eines allumfassenden ›Intertextes‹ zu bestätigen, durch den alle Texte durch eine irgendwie geformte Analogierelation miteinander verbunden sind. Dabei verweist dieses Zitat nicht auf irgendeine ›Transtextualitäts‹-Relation, sondern auf den Einfluss Oswald Spenglers »kulturmorphologische[n] Zugriff[s]«.167 Darin verbirgt 161 162 163 164 165 166 167
Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 30. (Herv. P. P.) Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 34. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 42. (Herv. P. P.) Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 42 f. (Herv. P. P.) Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 68. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 53. Bluhm, Ernst Jünger als Tagebuchautor, S. 141.
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sich die spezielle Poetik des Tagebuchs. Jünger geht davon aus, dass sich hinter der historischen Oberflächenschicht aller Dinge eine elementare-mythische Tiefenebene befindet.168 Doch diese Sphäre ist nicht einfach zugänglich, sondern vielmehr muss »[i]m höchsten Ordnungsgange kosmische und irdische Strahlen so verwoben [werden], daß sinnvolle Muster aufleuchten. […] Die Blumen sind Sinnbilder solcher Muster«.169 Nüchterne Naturbetrachtungen können eine Analogiekette in Gang setzten, über die der Literat durch eine fortlaufende Perspektiverweiterung von einer Typologie zu den elementaren Lebensprinzipien gelangen kann.170 Jüngers ›Melodie des Analogen‹ hat also rein gar nichts mit einer ›Transtextualitätskonzeption‹ zu tun. Als letzten Punkt möchte ich noch darauf verweisen, dass Wimbauer bei wackligen Argumenten gern auf Fremdtexte verweist. Etwa bei seiner herausgearbeiteten Gleichsetzung von ›Kelch‹ und ›Frau‹, die weiter oben schon angegriffen wurde. Auffallend ist, dass im Anschluss daran ein Exkurs eingeschoben wird, der mit folgendem Satz beginnt: »Der Kelch als das Weibliche oder die Frau schlechthin, ist ein geläufiges Symbol«.171 Es folgen willkürlich ausgewählte, d. h. nicht im Kontext des Textes verankerte Zeugnisse aus dem kulturellen Raum, etwa C. G. Jung oder Novalis, die die Ergebnisse Wimbauers zu bestätigen scheinen. Doch Querverweise können nicht das eigentliche semantische System des Textes überschreiben, vor allem nicht auf der Ebene der Symbolik, die bei jedem Text immer wieder neu im Bezug auf die ästhetische Freiheit betrachtet werden muss.172 Der Eindruck der gezielten Verschleierung der eigenen Fehlinterpretation wird also weiter verstärkt. An dieser Stelle muss ich durch den begrenzten Rahmen die Analyse abbrechen und kann nur noch als weiteres Beispiel auf Wimbauers Hervorhebungssystem deuten, das durchaus auch diskussionswürdig ist. Es sollte jedoch mittlerweile deutlich geworden sein, dass die ästhetische Stützung der Wimbauer’schen Schlussregel durch das Verfehlen nahezu aller Kriterien einer literaturwissenschaftlichen Textinterpretation in der Art nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Um nun die Lesart vollständig zu falsifizieren, wende ich mich im folgenden Kapitel der biographischen Sphäre zu. 4.3 Der auktoriale Tagebuchschreiber und die biographische Dimension Als letztes möchte ich mich, wie oben beschrieben explizit der biographischen Dimension zuwenden, da sie als eine der zentralen Stützen eine wesentliche Position in der vorliegenden Argumentation einnimmt. 168 169 170 171 172
Vgl. Sader, »Im Bauche des Leviathan«, S. 62. Jünger, Strahlungen I, S. 15. Vgl. Bluhm, Ernst Jünger als Tagebuchautor, S. 62. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 32. Vgl. Kammler/Noack, Symbolverstehen im Literaturunterricht, S. 6 f.
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Mit der Rekonstruktion der sozialen Relation zwischen Ernst Jünger und Sophie Ravoux hat sich Tobias Wimbauer ein schwieriges Feld ausgesucht. Unter anderem heißt es bei Kiesel in Hinblick auf diese Thematik: In der Druckfassung der Pariser Tagebücher hat Jünger sie [Sophie Ravoux ], wie Krömer durch einen Vergleich mit dem Manuskript gezeigt hat, stark verschleiert oder fiktionalisiert: Er setzte Tarnnamen ein und änderte die Abfolge der Aufzeichnungen. Er strich manches weg, was Rückschlüsse auf Fakten – wie etwa eine gemeinsame Nacht – erlaubt hätte, und verlegt die erotische Erfahrungen in die Traumsphäre. Er formulierte Situationsbeschreibungen so, daß sie einen allgemeinen Charakter gewannen.173
Trotz alledem identifiziert der Literaturwissenschaftler zwei Phasen der Beziehung Jüngers zu Ravoux. Die erste Phase reicht vom Spätherbst 1941 bis zum Ende von Jüngers Heimaturlaub in Kirchhorst am 19. Februar 1943 und beginnt dann unter anderem Vorzeichen nach der großen Eskalation im Frühjahr 1943 und geht bis zu Jüngers Abzug aus Paris im August 1944. Als Schlüsselszenen können hier zwei Notate herangezogen werden, die später in der Druckfassung gestrichen wurden. Zunächst der Moment, an dem die Beziehung auf eine sexuelle Ebene gehoben wird und auf die die Forschung schon öfters hingewiesen hat:174 Paris, 6. Dezember 1941. Besuch bei Madame R. Besuchte die Doctoresse, von der ich zum Abendessen eingeladen war. Wir tranken dazu ein Glas eine Flasche Pommard um an deren Hals ein buntes Kränzchen prangte, dann Pommery X. Auf das Etikett schrieb ich die Prophezeiung: »Chére amie, vous aurez une cuite«, die sich bewahrheitete. und Ssaßen dann im Traumstuhl, als ich dann um 11 Uhr die letzte Métro erreichen wollte, ging setzte draußen gleich einem Theatereffekt ein Wolkenbruch ein, der mich zu bleiben zwang. in dem die Zeit im Flug entschwand. Inmitten eines Wolkenbruchs erreichte ich die letzte Bahn. Paris, 12. Dez. 1941.
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Als ich in der Nacht erwachte, fühlte ich Sophie Charmille mit ganz zarten, schlanken Fingerspitzen mich abtasten. Sie zog zuerst die Hände nach, jeden Finger einzeln, besonders dort, wo die Nägel ansetzen. Dann nahm sie Teile des Gesichtes auf, die Augenlieder, die Augenwinkel, die Jochbögen. Das war sehr angenehm, bezeichnend für dieses Frau Wesen und ihr seine Geistigkeit. Sie übte eine feinste Meßkunst an mir aus; fast schien es, als ob sie mich verändern wollte, denn sie bewegte die Finger wie über einer Paste, einem feinen Teig. Dann legte sie mir die Hand auf die meine Stirn und flüsterte mir ins Ohr: »Mein Armer Freund, mit der Freiheit ist es vorbei.«175 173 174 175
Kiesel, Ernst Jünger, S. 506. Vgl. etwa Kiesel, Ernst Jünger, S. 508. DLA, A: Ernst Jünger. Prosa (Einzeltitel). Strahlungen. Journal 1941, S. 78f. – Kursiv markierte Zeichen stehen für nachträglich hinzugefügte, ein großes ›X‹ für ein unleserliches Element und eine Streichung wird eben durch den durchgestrichenen Effekt markiert.
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Eine Darlegung dieses Notats scheint mir trotz der Bekanntheit lohnenswert, da man hier vor allem durch das direkte Zitieren aus Jüngers Notizheft alle Verschleierungsund Fiktionalisierungsstrategien auf einen Blick erfassen kann. An dem Auszug kann man das Verfahren der Chiffrierung (etwa ›Sophie‹ zu ›Charmille‹, der Streichung bzw. Ersetzung (im Hinblick auf das Erreichen der Metro, ebenso auf das ganze Notat, dass nicht in die Druckfassung aufgenommen wurde), der Umdatierung (auch wenn sie wieder zurückgenommen wird) und die Verallgemeinerung (›Frau‹ zu ›Wesen‹) beobachten. Später finden wir auch die Verschiebung in die Traumsphäre, wenn es am 8. Dezember 1941 in der ›Sämtliche Werke‹-Fassung heißt: »Im Traume fühlte ich [Ernst Jünger], wie Dorothea, aus alten Kinderzeiten wiederkehrend, mich anflog, und mit ganz zarten schlanken Fingerspitzen abtastete. […]«.176 Das zweite wesentliche Notat, dass erstmals eine ernsthafte Krise in der Beziehung anzeigt, ist jenes vom 2. April 1943: Ich lerne in diesen Tagen eine große Zahl von Menschen kennen, gleich einem, der in besondere Aspekte tritt. Zu den Ursachen, die hier wirken, rechne ich auch, daß eine Art von Leere in mir zurückgeblieben ist, seitdem ich die Wurzeln, die Camilla in mir geschlagen hatte, mir aus dem Inneren zog. In diese Leere strömt eine Flut von Gegenständen ein.177
Doch auch in Gretha Jüngers Korrespondenz lassen sich Hinweise auf eine derartige Krise entdecken. Bezeichnend ist hier ihr Brief vom 4. April 1943 an den Maler und Vertrauten Rudolf Schlichter, in der sie von einer schwerwiegenden Prüfung der beiden Eheleute spricht, die jedoch ein glückliches Ende genommen habe.178 Die Entscheidung für Gretha Jünger schien Anfang März gefallen. Am 6. März 1943 schreibt Jünger: »Unter uns Männern. Zwischen zwei Frauen kann unsere Lage der des Richters beim salomonischen Urteil ähneln – doch sind wir das Kind zugleich. Wir müssen uns der zusprechen, die uns nicht teilen will«.179 Oberflächlich betrachtet verändert sich danach das Verhalten Jüngers gegenüber Ravoux nicht, eine absolute Trennung bleibt aus. Es gibt weiterhin gemeinsame Unternehmungen bis zum Abschied am 13. August 1944.180 Aber trotz all dieser eben genannten Hinweise wird es auch weiterhin unmöglich sein, die Liebesaffäre detailgenau nachzuzeichnen. Es wird immer ein Rest bleiben, der höchstens als Spekulation und damit unwissenschaftlich zu erschließen ist. Auch Wimbauers Annahme, dass die Beziehung im Mai 1944 ein zweites Mal sich offenbarte, gehört zu diesem Bereich: »Das zweite Mal flog die Affaire Jünger-Ravoux 176 177 178
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Jünger, Das erste Pariser Tagebuch, S. 282 (8. Dezember 1941). Zit. nach Kiesel, Ernst Jünger, S. 509. Vgl. Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Mit 44 Abbildungen auf Tafeln, München 2007, S. 387 f. Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch, S. 18 (6. März 1943). Vgl. Kiesel, Ernst Jünger, S. 507. – Es ist aber bezeichnend für die Schwäche der Wimbauer’schen Argumente, dass Kiesel hier seine Ansichten nicht aufnimmt.
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mit großer Wahrscheinlichkeit im Mai 1944 auf«.181 Wimbauer ist vorzuwerfen, dass er sich am Spiel der Spekulation bewusst beteiligt. Ausgehend von der nicht erhärteten These eines zweiten ›Bekannt-Werdens‹ rätselt der Autor beispielsweise über die Möglichkeit einer Zuträgerschaft Banines. Jedoch »gibt es keine weiteren Indizien« neben dem Fehlen der ›Burgunderszene‹ in der von Banine redigierten, französischen Ausgabe der ›Strahlungen‹ und deren angeblichen Vorliebe für Intrigen.182 In diesem Fall sollte man lieber darüber schweigen, statt zu spekulieren. Wimbauer ist aber im folgenden der Ansicht, dass er dieser Sphäre der Spekulation durch ein ›hartes‹ Argument entkommen kann. Ausgehend von einem Brief Gretha Jüngers an die Kinderärztin vom 9. September 1948 steht für den Interpreten fest, dass Gretha Jünger mehrmals Kenntnisse über die (›neu aufgelebten‹) Affären ihres Mannes hatte.183 Dabei tritt nur folgendes Problem auf: Während sich das erste Mal die Enttarnung und die damit verbundene Krise, wie oben gesehen, gut belegen lässt, fehlen solche Belege für den angeblich zweiten Vorfall. Dieser Umstand soll durch das Aufzeigen einer Parallelität zwischen den Aufzeichnungen Gretha Jüngers und der ›Burgunderszene‹ aufgehoben werden. Wimbauer will beweisen, dass die entsprechenden Notate eng zusammengerückt werden müssen. Dementsprechend sei der spezifische Kontext einer »Problematik einer Ehe in der Krise«, der bei Gretha Jünger identifiziert werden kann, auch auf die entsprechende Szene bei Jünger zu übertragen. Als weitere Stütze soll dann die Fiktionalität des Tagebucheintrages dazu dienen, auf die verschleiernde Funktion hinzuweisen. In ihrem Notat diskutiert Gretha Jünger das Wesen der Liebe. Sie »gleicht dem Spiel« mit Verlierern und Gewinnern in einem »Duell«. Der Verlierer konstituiert sich durch seine stärkere Gebundenheit, er sei in diesem Kampf der Liebenden »nicht auf Deckung bedacht und zeige offen die Stellen seiner Verwundbarkeit«.184 Wieder ignoriert Wimbauer nun die graphisch markierte Trennung (diesmal durch einen Querstrich) und verbindet diesen Abschnitt mit dem darauf folgenden. Dabei gehört auch die formale Gestaltung zu den Signifikationssystemen eines literarischen Textes und darf nicht einfach übergangen werden.185 In diesem zweiten Abschnitt wird dem Leser via Zitation von Chateubriand eine Situation präsentiert, in der ein fiktiver Romancier einer Frau etwas aus seinem neuesten Roman vorträgt. Dabei handelt es sich um eine verlassene Geliebte, die einen Fisch fängt. Die entnervte Zuhörerin verfehlt vollkommen das Thema, wenn sie als einzige Reaktion sich über die Gattung des Fisches brüskiert.186 Der Diskurs der verlassenen Geliebten, auf den 181 182 183 184 185
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Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 28. (Herv. P. P.) Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 28. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 26 f. von Jeinsen 1949, 91 (31. Mai 1944). Dabei zitiert Jünger die Passage so, dass es keinen Hinweis auf diese Trennung gibt und die beiden Teile als zusammengehörig erscheinen. Damit zitiert er aber falsch (vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 17 f.). Vgl. Jeinsen, Gretha von, Die Palette. Tagebuchblätter und Briefe, Hamburg 1949, S. 91 (31. Mai 1944).
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Wimbauer Gretha Jüngers Liebes-Problematisierung gerne beziehen möchte, ist also zwei Mal fiktiv gebrochen: erstens als Zitat aus einem Roman Chateaubriands, die dazu auch noch komisch aufgeladen ist, und zweitens auf der homodiegetischen Ebene durch ein erneutes Verlagern in die fiktive Sphäre. Diese dreifache Trennung (grafisch und die zweifache Fiktionalität) lässt meines Erachtens auch die Korrelation mit der eingangs angesprochenen Liebesthematik unwahrscheinlich bzw. sehr konstruiert wirken. Dieser nicht ausräumbare spekulative Status drückt sich auch in Wimbauers Fazit aus: »Daß Gretha Jünger hier auf die mißliche Situation Jüngers mit Sophie Ravoux anspielt, scheint deutlich zu sein«.187 Es handelt sich eben nur um eine scheinbare Deutlichkeit, die durch die konstruktive Tätigkeit des Interpreten entsteht und nicht im Text verankert ist. Das hauptsächliche (und einzige) Kriterium der Parallelität ist nun nach Wimbauer in der nicht vorhandenen Deckung zu sehen: »[N]icht auf Deckung bedacht« […] ist parallel gelagert zur bildhaften Metaphorik der Burgunderszene: Jünger steht auf dem Dach des Raphael, einem angeblichen Fliegerangriff trotzend, zum »Bruderschaftstrinken mit dem Tode« – ohne Deckung.188
Dabei wird aber ignoriert, dass es ein Unterschied ist, ob man durch seine Emotionalisierung nicht auf Deckung ›bedacht‹ ist, was den stärker gebundenen von den weniger stark gebundenen Liebenden unterscheidet und automatisch zur Niederlage im Liebes-Duell führt, oder ob man bewusst auf eine Deckung verzichtet, wie es in der ›Burgunderszene‹ der Fall ist. Denn in dem System der ›Strahlungen ist der Krieg nichts anderes als ein metaphysischer Prozess. Diesem könne man ebenso nur durch die metaphysische Praxis des Gebets begegnen, da die Apokalypse nur das Medium für eine höhere Ordnung darstellt.189 In diesem Sinne ist die historische Existenz nur ein Gefäß (der ›Körper‹ als ›Kelch‹), dessen Zerstörung billigend in Kauf genommen werden kann.190 187
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Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 19. (Herv. P. P.) – Der Brief Gretha Jüngers an Sophie Ravoux, in der sie ihr die Scheidung anbietet, würde über einen ähnlichen Stil verfügen. Doch leider enthält Wimbauer diesen Beleg dem Leser vor, der sich allein auf das Wort Wimbauers verlassen muss. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 19. »Von allen Domen bleibt nur noch jener, der durch die Kuppeln der gefalteten Hände gebildet wird. In ihm allein ist Sicherheit« (Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch, S. 206 (31. Dezember 1943)). Vgl. auch Schwilk, Ernst Jünger, S. 395 und S. 408. In Jüngers Werk Über den Schmerz (1934) war solch ein Denken schon angelegt. Der »kreatürliche[] Leib« wird auf die Verbindungsfunktion zur historischen Welt reduziert, die den Zugang zur höheren Ordnung verschließt. Der Körper muss vielmehr vergegenständlicht werden, um eine Distanz aufbauen zu können. Erst dann ist die »heroische Überwindung fleischlicher Materie« und das Erreichen der geistigen Sphäre möglich, (Claudia Öhlschläger, Mimesis an den Tod. Ernst Jüngers Kunst der schmerzlosen Zerstörung. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie, hg. von Gerhard Neumann/Rainer Warning, Freiburg 2003 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 98), S. 333–349, hier S. 338 f.).
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Der Tod stellt nur die Grenze zu diesem postmortalem, höheren Raum dar. Dies könne man aber nur erkennen, wenn man die ahistorischen, überzeitlichen Ordnungsmuster wahrnimmt.191 Jüngers Bewegung nach oben ›auf das Dach‹ korreliert mit dieser Systematik. Zum Zeitpunkt des Unterganges der alten Welt (›bei Sonnenuntergang‹) erhebt sich das Tagebuch-Ich über die materielle Welt und drückt so seinen neuen amoralischen Standpunkt (»Ich muß die Maximen ändern; mein moralisches Verhältnis zu den Menschen wird auf die Dauer zu anstregend«192) aus. Er ist nicht mehr an diese alte Ordnung gebunden und kann deswegen deren Untergang, der gleichzeitig die Geburt von etwas Neuem ist (›tödliche Befruchtung‹), mit absoluter Objektivität und im Sinne des ›stereoskopischen Blicks‹ wahrnehmen.193 Jünger kann sogar diese »Konfrontation mit dem Tod als Gefahrenmoment und existenzielle Schwellenerfahrung« als »Abkehr von jener auf Sicherheit und Langeweile gebauten bürgerlichen Ordnung« begrüßen.194 Aus diesem Grund spielt Gefahr und damit eine mögliche Deckung in der ›Burgunderszene‹ keine Rolle. Die Feststellung von Parallelität geling wiederum nur durch das Verwischen von Differenzen und wird so den beiden Texten nicht gerecht. Damit entfällt zeitgleich der ganze biographische Liebes-Kontext und Wimbauers These wird mehr als fragwürdig. Das Kriterium der empirischen Richtigkeit ist nicht gegeben und die Textinterpretation kann falsifiziert werden. Ein weiterer Beleg nach Wimbauer ist die Reaktion des jeweils anderen des Ehepaars Jüngers im Bezug auf das Wiedersehen im Frühjahr 1944.195 Doch auf der einen Seite scheint das Nicht-Erwähnen Gretha Jüngers weniger Sujet-Charakter zu haben, als Wimbauer als Ausdruck der Verstimmtheit hineinlegen möchte. Denn 191
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Vgl. Klausnitzer, Strahlungen, S. 172. – Hier ist auf die Funktion zu verweisen, die Jünger dem Autor im Vorwort der Strahlungen zuweist: »Die Fülle der Bilder ist einmal [vom Autor] zu harmonisieren und dann zu werten – das heißt: nach einem geheimen Schlüssel mit dem Licht auszustatten, das ihrem Rang entspricht. […] Das wäre dann ein metaphysischer Lehrgang zwischen Gleichnissen: die Ordnung der sichtbaren Dinge nach ihrem unsichtbaren Rang« (Jünger, Stahlungen I, S. 16). Der Autor muss also die irdischen Strahlungen (etwa aus Naturbeobachtungen) erfassen und nach der metaphysischen Ordnung in die richtige Reihenfolge bringen, um diese Ordnung dem Leser sichtbar zu machen (vgl. Felix J. Enzian, »Schauer der Ehrfurcht umwehen mich« – Ernst Jüngers Inszenierung seiner Autorschaft und die Resonanz seiner Leser. In: Ernst Jünger – eine Bilanz, hg. von Natalia Żarska/Gerald Diesener/ Wojciech Kunicki, Leipzig 2010, S. 146–157, hier S. 150 f.). – Die Darbietung einer individuellen, verschleierten Liebesaffäre würde nicht gerade in diesen Kontext passen. Dazu auch Berggötz’ Fazit: »Jünger schrieb ein hochartifizielle Prosa, die Texte der Pariser Zeit sind […] komplex und weitgehend konstruiert, nichts in den Strahlungen – ›kein intimes, sondern ein metaphysisches Tagebuch‹ – ist bloße Darstellung und auch eine bewusste Auslassung mithin fernab jeglicher Indifferenz« (Berggötz, Ernst Jünger und die Geiseln, S. 35 f.). Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch, S. 269 (26. Mai 1944). Vgl. Klausnitzer, Strahlungen, S. 170. Öhlschläger, Mimesis an den Tod, S. 333. Vgl. Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 17.
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es ist vielmehr die Regel, dass die Heimkehr des Ehemanns nicht erwähnt wird. Etwa als Jünger im Zuge seiner ›Kaukasischen Reise‹ in Kirchhorst einen Zwischenstopp einlegt,196 wird auf dieses Ereignis nicht eingegangen.197 Genauso wenig, als der Schriftsteller im Zuge der Beerdigung seines Vaters wieder in Kirchhorst erscheint.198 Auch Jünger hält sich, seinem emotionslosen Stil treubleibend, in der Regel bei derartigen Episoden zurück.199 Nun zur Fiktionalität. Das der ›Burgunderszene‹ ein fiktiver Status zugeschrieben werden kann, sollte aus der bisherigen Forschungsdarstellung klar geworden sein. Jedoch schließt dies auch die chronologische Positionierung ein, wie es der Abschnitt über den auktorialen Tagebuchschreiber Jünger verdeutlicht haben soll. In einem Brief Ernst Jüngers an seine Ehefrau vom 16. Mai 1943 heißt es: Abends kurz vor 8 Uhr – ich aß gerade oben auf meinem Zimmer im Raphael zu abend, ertönten die Sirenen und gleich darauf heftiges Feuer der Abwehrbatterien. Ich stieg aufs Dach und sah im Nordwesten bereits ungeheure Rauchwolken aufsteigen. Zwei Geschwader überflogen in geringer Höhe die Stadt, die noch in vollem Sonnenglanze lag. Ich sah Flugzeuge wie goldene Feuerkugeln langsam zu Boden schweben, andere kreiselten wie B[l]ätter herunter, und wieder an einer anderen Stelle stürzte ein einzelner Flügel herab. Das Schauspiel war schön und zugleich voll dämonischer Schrecken […].200
Hier begegnen dem Leser viele Motive der ›Burgunderszene‹ wieder, zeitlich jedoch wesentlich früher und mit einer stärkeren Betonung der ›organischen Konstruktion‹ bzw. der Naturdimension.201 Diesen Aspekt beiseite lassend wird deutlich, dass das Sujet ›Luftkrieg‹ bei Jünger eine besondere Stellung einnimmt, durch die das Endzeitliche, Metaphysische ausgedrückt werden kann,202 ähnlich wie auch das Pflanzenreich ›der‹ Ort der Metaphysik ist, indem das unsichtbare Natürliche sichtbar gemacht werden kann.203 Der Schrecken des Luftkrieges hebt den historischen Schleier, der über allen Dingen hängt. Aus diesem Grund sieht Jünger den 196 197 198 199
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Vgl. Jünger, Strahlungen I, S. 409 (24. Oktober 1942). Vgl. Jeinsen, Die Palette, S. 59 f. Vgl. Jeinsen, Die Palette, S. 61 (22. Januar 1943). Vgl. etwa Ernst Jünger, Kaukasische Aufzeichnungen. In: ders., Strahlungen I, S. 407–492, S. 409 (24. Oktober 1942). DLA, A: Ernst Jünger. – Wenig später berichtet Jünger dann: »Nach dem Feuerzauber gestern legte ich mich zu Bett und setzte noch einen Glühwein auf« (DLA, A: Ernst Jünger). Also auch ein Getränk fehlte nicht, sodass die Ähnlichkeit noch weiter verstärkt wird. Zum Begriff der ›organischen Konstruktion‹, vgl. Poncet 2000. Vgl. François Poncet, Das Vexierbild der ›organischen Konstruktion‹. Vom technischen Zugriff zum apokalyptischen Schauspiel. In: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, hg. von Friedrich Strack, Würzburg 2000, S. 195–209, hier S. 202 f. Vgl. Hagestedt, Traumreise und Feuerwelten, S. 593.
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Luftangriff als Elementarzone, in der der Mensch in die Lage versetzt wird, die elementaren Kräfte wahrzunehmen.204 Damit lässt sich auch die Verbesserung vom ›Blütenkelch‹ zum ›Kelch‹ erklären. Denn es ist eben nicht nur die Zerstörung des ›Blütenkelchs‹ Paris, sondern exemplarisch für die Vernichtung der historischen Ordnung. Dementsprechend passt hier der metaphysisch übergeordnete ›Kelch‹ im Sinne einer Verallgemeinerung besser. Doch zurück zum oben zitierten Brief. Durch die hohe Übereinstimmung und da es für den 16. Mai 1943 keinen Eintrag in den ›Strahlungen‹ gibt,205 könnte sogar eine Vertauschung des Datums vorliegen. Doch darüber könnte man im Rahmen des genannten Textmaterials nur spekulieren. Aber ich möchte betonen, dass beim hohen Grad der Fiktionalisierung der ›Strahlungen‹ biographische Argumente immer einen Unsicherheitsfaktor bilden. Dementsprechend kann der Kontext, der Wimbauer überhaupt erst ermöglicht, seine Symbolik an den Text heranzutragen, als äußerst unsicher klassifiziert werden. Auch zeichnet die vermutete Fiktionalität der ›Burgunderszene‹ dieses Textsegment nicht besonders aus, ein sujethaftes Ereignis zu verschleiern. Vielmehr hat die Durchsicht Jüngers Notizbücher aus dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach gezeigt, dass der Tagebuchschreiber absolut konsequent Spuren auf die empirische Person Sophie Ravoux in einer zweiten Revision fiktionalisiert hat. Die Verschlüsselung beginnt schon am 23. Oktober 1941: Am Abend mit Madame R. in der Doctoresse in der Cremaillére. Ärztin, von leichter, präziser Intelligenz. Gespräch, zuerst über die Angelegenheit der Coffre Fort, dann über Grammatik und über gemeinsame Bekannte wie Herkules.206
Streichungen, wie sie am 6. Dezember 1941 geschahen, sind jedoch die Ausnahme. Dabei ist die Thematik des Notats unerheblich: Sophie Charmille, bei der ich mich ausruhte. Auch nahm ich, wie ich es liebe, ihr ein weinig die Beichte a ab. Der erste Liebhaber; merkwürdig, wie oft die erste Liebe die langweiligste ist – als ob der Organismus sich X in einem Spiel, das noch ohne die tiefere Bedeutung ist.207
oder [Abends mit Sophie] Abends mit der Doctr., die mich eingeladen hatte, in der Comédie Française. Les Femmes Savantes.208
204 205 206 207 208
Vgl. Sader, »Im Bauche des Leviathan«, S. 63. Vgl. Jünger, Das zweite Pariser Tagebuch, S. 70 f. DLA, A: Ernst Jünger, Journal 1941 (23. Oktober 1941). DLA, A: Ernst Jünger, Journal (18. Februar 1942). DLA, A: Ernst Jünger, Notizbücher (9. März 1942).
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Aus diesem Automatismus der Verschleierung, der sich allein auf die Identität der Person und nicht auf die Relation zu derselben bezieht (die gemeinsamen Unternehmungen werden weiterhin dem Leser präsentiert), schließe ich, dass es sich allein um nachträgliche Rücksichtnahme Jüngers in Bezug auf seine Frau handelt. Durch die Fiktionalisierung verlieren die geschilderten Ereignisse ihre Realitätsreferenz und werden damit in ein unverfänglicheres Licht gehüllt.209 Gretha Jünger, die schon allein durch das Fremdgehen genügend gedemütigt wurde, wird davor bewahrt, dass die Öffentlichkeit von dieser brisanten Situation unterrichtet wird. Es ist eine naheliegende Handlung des reumütigen Ehemanns, der seine Frau unter keinen Umständen verlieren möchte.210 Jünger hat seine Notate nicht dazu verwendet, um seine individuellen Krisen versteckt dem Leser zu präsentieren. Auch die aus der Perspektive des verheirateten Mannes problematischen Ereignisse werden berichtet (6. Dezember 1941). Erst nachträglich wird die Referenz auf Realität durch eine Fiktionalisierung, wohl in Hinsicht auf seine Frau, abgeschwächt, wobei der Nukleus nicht angetastet wird (es wird weiterhin von der Doctoresse berichtet, anstatt die Stellen komplett zu streichen). Die Chiffrierung in dieser Auslegung als banaler Akt des besorgten Ehemans widerspricht damit der Annahme einer globalen Verschleierungsfunktion der Notate, die in der großen ›Nebelkerze‹ der ›Burgunderszene‹ kulminiert. Es kann nicht per se von einer symbolischen Tiefendimension ausgegangen werden. Aus diesem Grund ist Wimbauers Lektüre in ihren Wurzeln zur Produktion schiefer Ergebnisse verurteilt.
5. Die Transgression wissenschaftlicher Grenzen zur Hypothesen-Bestätigung Meine Darlegung soll gezeigt haben, wie Tobias Wimbauer durch sein vordergründiges Gebrauchen des literarischen Textes in ein spekulatives und beliebiges Vorgehen abdriftet. Das Ziel einer Rehabilitation der Person Ernst Jünger thront über allem. Um dies zu verdeutlichen, habe ich eine dem Gegenstand angepasste Heuristik entwickelt. Dadurch konnten Kriterien der Bewertung benannt und argumentative Schlüsselstellen herausgefiltert werden. Im Anwendungsteil wurde deutlich, dass alle Stützsäulen der Schlussregel des Interpreten aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu falsifizieren sind. Vor allem der Bruch des Kriteriums der Ungezwungenheit wiegt hier schwer. Der Interpret suspendiert den begrenzenden Rahmen der ›intentio operis‹ überall dort, wo es seiner Hypothese dienlich ist. Die sprachlichen Zeichen werden aus ihrem semantischen Syntagma gerissen, um sie auf eine allge209 210
Vgl. Brandes, Der ›Neue Stil‹ in Ernst Jüngers ›Strahlungen‹, S. 92 f. Vgl. Heimo Schwilk, In Frauengewittern. Ernst Jünger am Rande des Nervenzusammenbruchs, http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article126101007/Ernst-Juenger-amRande-des-Nervenzusammenbruchs.html (03.07.2014), S. 1–5, hier S. 6.
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meinere Ebene heben zu können, in der die vom Text aufgebauten semantischen Relationen marginalisiert und die Belege in das vorab angenommene System integriert werden können. Ohne die Oberfläche zu betrachten, wird jedes Wort zu einem Symbol erhoben, das entschlüsselt werden will. Dadurch wird der Blick für eine ›ökonomischere‹ Interpretation verstellt. Doch auch auf der biographischen Ebene, die überhaupt erst den Kontext der symbolischen Deutung schafft und so essentiell für die Lesart ist, müssen schwere Vorwürfe erhoben werden. Es wird versucht, das Fehlen handfester Belege durch spekulative Deutungsansätze auszugleichen, die sich jedoch dekonstruieren lassen. Nichtsdestotrotz wird auch hier sofort der symbolische Modus bedient, wobei naheliegendere Ansätze für die Deutungshypothese ignoriert werden. Wimbauer konstruiert mit seiner biographischen Erläuterung einen werkfremden Kontext, der dann ohne textuelle Legitimation demselben einfach übergestülpt wird. So wird es möglich gemacht, auf Basis einer subjektiven Selektion die willkürlich zu Symbolen deklarierten Textelemente in ein Interpretationssystem zu integrieren, das zwar mit dem Text nicht mehr viel gemein hat, dafür aber hilft, das übergeordnete Interpretationsziel zu erreichen. Verschärft wird dieser Umstand dadurch, dass sich in der Interpretation verschiedene Strategien zur Verschleierung der brüchigen Argumente vorfinden lassen. Dies reicht von einer suggestiven Sprache über eine nicht legitime Selektion der Textdaten bis hin zum bewussten Offenlassen der interpretativen Schlüsse. Es werden auf allen Ebenen der Argumentation die herausgearbeiteten Kriterien gebrochen, beispielsweise das Kriterium der legitimierten Selektion, der bündigen Verknüpfung oder der Konkretisierung und Spezifizierung, um nur einige zu nennen. Abschließend kann ich bei solch einem Vorgehen nur auf Wimbauers eigenes Fazit deuten: »Die Burgunderszene erweist sich als vielgegenwärtige Referenz – für alles Mögliche«.211 Die spekulativ-beliebige Textinterpretation.
211
Wimbauer, Körper sind Kelche, S. 74.
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6. Anhang Es folgen die schematischen Darstellungen der angewandten Heuristik und der Argumentationsstruktur von Wimbauers Analyse. 6.1 Schematische Darstellung der hier verwendeten Heuristik der Interpretationskritik Umgang mit dem literarischen Werk
Der Gebrauch des Textes (nach der ›intentio lectoris‹) - Subjektive Beliebigkeit, Text als Werkzeug Die Interpretation des Textes (abzielend auf die ›intentio operis‹)
abduktive Freiheit subjektiver Interpretative bei der Rezeption
begrenzender Rahmen der empirischen Textstruktur
Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens - Intersubjektive Verständlichkeit - Widerspruchsfreiheit
- Verifikationszwang - Legitimationszwang
Literaturwissenschaftliche Textinterpretation, ausgerichtet an Ökonomiekriterien: Interpretationshypothese
- Semantische Isotopienetz - Zeitgenössisches, enzyklopä. Wissen
Daten (Sprechakt der Textbeschreibung) - Kriterium der legitimierten Selektion - Kriterium der empirischen Richtigkeit
deshalb Modaloperator; Konklusion (Sprechakt der Deutung) - Kriterium der (globalen) Vollständigkeit - Kriterium der Ungezwungenheit - Kriterium der Konkretisierung/Spezifizierung
Schlussregel (Sprechakt der Auslegung) - Kriterium der historischen Richtigkeit - Kriterium der Plausibilität - Kriterium der logischen Widerspruchsfreiheit - Kriterium der bündigen Verknüpfung - Kriterium der (ebenenspezifischen) Vollständigkeit Stützung (Hinzunahme weiterer Daten) (Sprechakt der Textbeschreibung) (Sprechakt der Deutung) (Sprechakt der Auslegung)
- textinterner Kontext - Position im Textsyntagma
Ausnahmebedingungen
- Argumente-Typologie, Hierarchisierung/Akzeptanz je nach impliziter Literaturtheorie und Spezifik des Gegenstands literarisches Tagebuch: Fokus auf werkspezifische Poetologie
Die Visualisierung soll noch einmal deutlich machen, welche zwei fundamental unterschiedlichen Weisen es beim Umgang mit literarischen Texten gibt. Dabei ist der Gebrauch von subjektiven Intentionen determiniert und kann deswegen systematisch nicht weiter erfasst werden. Dagegen ist die Interpretation zwar von einer Dialektik zwischen Offenheit und Begrenzung geprägt, doch lassen sich hier Falsifikationskriterien angeben wie oben gezeigt wurde. Dabei soll die doppelte
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Umrahmung darstellen, dass das Fundament dieser Kriterien das allgemein wissenschaftliche Arbeiten und die logische Richtigkeit bildet, welches dann für den interpretatorischen, argumentativen Sprechakt nochmals differenziert werden kann. In Anlehnung an Toulmins Argumentationsstruktur und Strubes Klassifikation der Subsprechakte gibt es bei der Textanalyse verschiedene Positionen, die über je unterschiedliche Kriterien verfügen, wobei die gesamte Beweisführung nie das IsotopieNetzwerk des literarischen Produkts verlassen darf. Die von Strube herausgearbeiteten ›Sub-Sprechakte‹ der Interpretation wurden dabei idealtypisch den Positionen der Argumentation zugeordnet. Die Interpretationshypothese ist im Zentrum der Struktur und steht in einer Wechselwirkung mit der Argumentation, ausgedrückt durch einen Doppelpfeil. Dieser soll symbolisieren, dass die Interpretationshypothese nicht aus dem luftleeren Raum heraus entstehen darf und immer aus dem Kontext des Textes entstehen muss. Gleichzeitig ist aber auch die Argumentation im Sinne der ›opportunistischen Konstruktion‹, begrenzt durch den Rahmen der Interpretationskriterien, an der Hypothese ausgerichtet. Die argumentative Wertigkeit von Elementen innerhalb dieser Struktur wird dabei von der angewandten Literaturtheorie und der Spezifik des Gegenstands bestimmt, die als Hintergrundfolien immer mitzudenken sind. Dieser Aspekt ist durch die gestrichelten Linien des entsprechenden Blocks angedeutet. Da die Stützung als eine Argumentation in der Argumentation angesehen werden kann, um die angenommene Schlussregel zu belegen, vereint sie nochmals alle Sprechakte mit den entsprechenden Kriterien in sich. Weil die angenommenen Bausteine für dieses Schema weder disjunkt noch vollständig sind, müssen diese Merkmale auch für das Gesamtsystem angenommen werden. Weil aber an dieser Stelle in erster Linie eine Heuristik für eine Einzelfallanalyse entwickelt werden soll und kein allumfassendes System, was wohl auch der Variabilität literaturwissenschaftlicher Textinterpretationen nicht gerecht werden würde, sollten diese Annahmen ausreichend sein. Die Heuristik erfüllt in erster Linie die Aufgabe, dass, genauso wie die literaturwissenschaftliche Interpretation vor Beliebigkeit geschützt werden muss, auch die Kritik einer Interpretation nicht aus dem Nichts kommen darf. Deshalb sollte durch das obige Schema dem Leser die Verankerung der Kritik noch einmal verdeutlicht werden.
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6.2 Schematische Darstellung der ›Interpretation‹ Tobias Wimbauers Weil die ›Burgunderszene‹ in einer Traition von Prätexten steht, von denen Begriffe, Symbole, Gesten entlehnt wurden und fortgesetzt werden. 1. Proust, ›Die wiedergefundene Zeit‹ 2. Oscar Wilde, ›Das Bildnis des Dorian Gray‹ 3. Zosimos von Panopolis, zitiert nach C. G. Jung: ›Die Visionen des Zosimos‹ 4. ›Offenbarung des Johannes‹, Apokalypse 5. Eigenes Erleben: Vier Beispiele von Schilderungen Jüngers von Luftangriffen aus seinen Tagebüchern
Reduktion des Skandalons der ›Burgunderszene‹ durch die Aufhebung des singukären Charakters
Die ›Burgunderszene‹ kann anders gelesen werden, als es die Interpretationsgemeinschaft bisher getan hat.
›Burgunderszene‹/Notat vom 27. Mai 1944 aus den ›Strahlungen‹
als »metaphorisiert-verschleierte Schilderung einer eskalierten Liebes-Affaire Jüngers«
Unter der textuellen Oberflächenebene befindet sich eine biographische Tiefenstruktur 1. Biographische Dimension Wegen der Fiktionalität Wegen des Zeitpunktes des des dargestellten Notats = Zur Zeit, als die Luftangriffes, die als Indiz Affaire des empirischen auf eine Verschleierung Autors Jünger ein zweites hinweist. Mal auffliegt.
2. Ästhetische Dimension Weil die Symbolik des Notats auf einen Liebes-Diskurs verweist.
- Parallelität der ›Burgunderszene‹ mit dem Tagebuchnotats Gretha Jüngers vom 31. Mai 1944, dass auf einen entspechenden Kontext verweist - Zeitliche Nähe der Notate - Parallelität mit entsprechendem Kontext - Keine Erwähnung eines zweien Fliegerangriffes zum Sonnenuntergang in den ›einschlägigen‹ Quellen - Nach der Logik des Textes - es kann sich nur um ein sicheres Dach bei gleichzeitiger Fiktionalität des Angriffes handeln
1. Sexuell-erotische Aufladung von ›Kelch‹, ›Blüte‹, ›Becher‹ und ›Wein‹ sowie ›Freundin als Stadt‹ 2. Erdbeeren als Sexualsymbol 3. Notat vom 26. Mai 1944 als Rezeptionsanweisung der ›Burgunderszene‹
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Literatur Primärliteratur Wimbauer, Tobias: Kelche sind Körper. Der Hintergrund der »Erdbeeren in Burgunder«Szene. In: Ernst Jünger in Paris. Ernst Jünger, Sophie Ravoux, die Burgunderszene und eine Hinrichtung. Mit Beiträgen von Felix Johannes Enzian, Henning Ritter, Alexander Rubel, Jörg Sader und Tobias Wimbauer, Norderstedt 2011 (Bibliotope 6), S. 9–75.
Lexika Broich, Ulrich: Intertextualität. In: RLW³, Band 2, Berlin/New York 2000, S. 175–179. Heinemann, Wolfgang: Isotopie. In: RLW³, Band 2, Berlin/New York 2000, S. 191–192. Kaiser, Christine: Isotopie. In: MLL³, Stuttgart 2007, S. 361. Köppe, Tilmann: Rezeptionsästhetik. In: MLL³, Stuttgart 2007, S. 650. Martinez, Matias: Intertextualität. In: MLL³, Stuttgart 2007, S. 357–358. Pfeiffer, Helmut: Rezeptionsästhetik. In: RLW³, Band 3, Berlin/New York 2003, 285–288. Schönborn, Sibylle: Tagebuch. In RLW³, Band 3, Berlin/New York 2003, S. 574–577. Zabka, Thomas: Interpretation. In: MLL³, Stuttgart 2007, S. 356–357.
Sekundärliteratur Albrecht, Andrea/Krämer, Olav: Interpretationstheorie nach dem »practice turn«. Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Tagung am Freiburger Institute for Advanced Studies (FRIAS), 13.–16.09.2011. http://www.jltonline.de/index.php/conferences/ article/view/429/1127 (30.07.2014), S. 1–8. Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe. Aus dem Französischen von HansHorst Henschen, Frankfurt/M. 1988. Berggötz, Sven Olaf: Ernst Jünger und die Geiseln. In: Ernst Jünger. Zur Geiselfrage. Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen, hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2011, S. 17–42. Bluhm, Lothar: Ernst Jünger als Tagebuchautor und die ›Innere Emigration‹. (Gärten und Straßen 1942 und Strahlungen 1949). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller u. Harro Segeberg, München 1995, S. 125–153. Brandes, Wolfgang: Der ›Neue Stil‹ in Ernst Jüngers ›Strahlungen‹. Genese, Funktion und Realitätsproduktion des literarischen Ich in seinen Tagebüchern, Bonn 1990 (Abhandlung zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 389). Brenner, Peter J.: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 1998 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft). Bühler, Axel: Die Vielfalt des Interpretierens. In: Analyse & Kritik 1999, H. 21, S. 117–137. Collini, Stefan: Einführung: Die begrenzte und die unbegrenzte Interpretation. In: Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, 2. Auflage, München 2004, S. 7–28. Eco¹, Umberto: Die Grenzen der Interpretation. Aus dem Italienischen von Günter Memmert, 3. Auflage, München 2004. Eco², Umberto: Erwiderung. In: Eco: Umberto: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Entwürfen von Richard Rorty, Johanthan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, 2. Auflage, München 2004, S. 150–162.
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Über Tobias Wimbauers Lesart der ›Burgunderszene‹ Ernst Jüngers
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Petra Porto
Geplantes Glück, geglückter Plan Individuum und Kollektiv in Ernst Jüngers Heliopolis Das Verhältnis von individueller Selbstbestimmung und gesellschaftlich vorgegebenen Strukturen, zwischen Entsagung und höherem Plan, ›Augenblick des Glücks‹ und Gesetz, Anarchie und Ordnung, sowie die wechselseitige Dependenz von Kollektiv und Individuum sind virulente Themen in Jüngers Heliopolis.1 Die Figuren im Roman werden durch ihre Herkunft und/oder ihr Geschlecht determiniert. So hat jedes Volk seine ihm angemessene ›Aufgabe‹, die seinen – anscheinend inhärenten – Fähigkeiten entspricht: Die Männer des Burgenlandes zum Beispiel, Angehörige eines (wenn auch ästhetisch begabten) Kriegervolkes, schließen sich »seit alten Zeiten« den »Jägern« an – einer Truppe, die als »durchaus zuverlässig« gilt, weshalb ihre Mitglieder nicht nur dazu qualifiziert sind, »Kuriere zur Übermittlung der geheimen Meldungen und Handschreiben« zu stellen, sondern gar »Mitwisser bedeutender Geheimnisse« werden und »bei jedem hohem Stabe«2 als Ratgeber vertreten sind. Sie sind der legitim handelnden Macht treu ergeben, pflichteifrig und unbeugsam. »Neue[] Ideen« dringen nur »schattenhaft« in ihre Heimat, wo noch immer die »gute[]« (nämlich althergebrachte) »Ordnung« (H 81) herrscht und die Traditionen hochgehalten werden, wo Ehre und Verpflichtung dem Kollektiv gegenüber mehr gelten als individuelles Glück. Die »zweiten und dritten Söhne« der im Schatten der Burgen angesiedelten Familien werden – anscheinend ausnahmslos – Seefahrer, Soldaten, Laienbrüder im Kloster oder warten höhergestellten Burgenländlern als emsige Diener auf (vgl. H 16). Vor allem in Letzteren zeigt sich die im Burgenland vorherrschende Disziplin, die dem dort Aufgewachsenen offenbar angeboren wird, in unbewussten Gesten, »als höherer Instinkt« (H 17). Die Parsen indessen ragen »in den Handwerken« hervor, sind aber auch in den Wissenschaften aktiv und leisten »vor allem in der Philologie Bedeutendes« – eine »kultivierte Rasse [...], die freilich« – ganz im Gegensatz zum Volk des Burgenlandes – »vom Vorwurf der Verweichlichung nicht freizusprechen« ist (H 66). Die Parsen sind »durch ihren Reichtum und dann durch ihre Andersartigkeit prädestiniert« dazu, verfolgt zu werden (H 67, Hervorhebung P. P.) und haben damit die »Erbschaft« der Juden angetreten (H 67), die ihnen (anscheinend naturgemäß) zugefallen ist. 1
2
Es wird nach der überarbeiteten und gekürzten Fassung des Romans, nicht nach dessen Erstausgabe zitiert. Ernst Jünger, Heliopolis. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 16: Heliopolis, Stuttgart 1980, S. 16. – Im Weiteren: H.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-017
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Petra Porto
Es herrscht wenig individueller Spielraum in der Wahl des Lebensweges: Melitta beispielsweise, eine der Frauen, die Lucius kennenlernt und die sich später, da offenbar seiner gesellschaftlichen Stellung nicht adäquat (denn auch Liebesbeziehungen sind durch Volk, Rasse und Stand geregelt), mit dem Chauffeur Mario verbindet, wird in die Gruppe der »Töchter von Winzern und Inselbauern, von Fischern und Gondelführern« eingeordnet (H 70). Lucius kann aus den Proportionen ihres Gesichts und aus ihrer Physiognomie ihren Typus und somit die bereits fixierte Zukunft herauslesen: Die gerade Nase, der aufgeworfene Mund, das zarte Kinn sprechen für Melittas Naturhaftigkeit, für ihre »Frühlings- und Jugendkraft« (H 70), und im Alter wird sie entweder »rüstig die Wirtschaft« führen oder als Bedienung in einer Taverne arbeiten, denn sie gehört zu den »guten Frauen«, den »starken Mütter[n]«, die sich im Haushalt, aber auch beim »Aufruhr« beweisen (H 71). Sie sind instinktsicher, aber – gerade deshalb – erdgebunden, kindlich und sich ihrer selbst kaum bewusst, sie sind ohne Verständnis oder Geist, schnell zu beeinflussen und leicht zu Gewalttaten anzustiften. Die Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen sind schicksalhaft beschränkt, und Auflehnung ist vergebens: »Man mußte den Becher leeren, wie die Zeit ihn bot« (H 72), wie Lucius de Geer, der Protagonist, ohne Bitterkeit feststellt. Die Romanwirklichkeit ist somit primär von einer seltsamen Statik bestimmt, da ein normsprengendes Ereignis von vornherein ausgeschlossen erscheint. Die Einwohner von Heliopolis sind untereinander durch sogenannte Phonophore, mobiltelefonartige Kommunikationsinstrumente, vernetzt, die – ebenso wie die anonymisierende Freizeitkleidung (vgl. H 154) – das Aufgehen des Einzelnen in der Gruppe zur Folge haben, wie auch der Philosoph Serner in einer seiner Abhandlungen feststellt: »Die Freiheit [war] dahingeschwunden; sie hatte sich in Gleichheit aufgelöst. Die Menschen glichen sich wie Moleküle, die nur durch Grade der Bewegung unterschieden sind.« (H 280) Das Wesen eines Moleküls wird durch die Atome festgelegt, aus denen es aufgebaut ist, deren Anordnung ist durch chemische Bindungen fixiert, an seinem Verhalten ist nichts zufällig, alles ist durch Naturgesetze bestimmt. In Serners Modell hat ebenfalls jeder Mensch nur einen begrenzten Bewegungsspielraum. Die Stadt Heliopolis mitsamt ihren Bewohnern ist von jeglichen materiellen Sorgen befreit, die Versorgung mit Energie ist gewährleistet, jedermann hat Zugang zu allen relevanten Informationen. Sie wird allerdings durch zwei Machtpole kontrolliert, zwischen denen ein aufmerksam behütetes, jedoch extrem fragiles Equilibrium herrscht: Auf der einen Seite das Zentralamt, ein von der »vollen Häßlichkeit uranischer Epochen« zeugendes Gebäude, das sich »fünfstrahlig wie ein Seestern« an einen Höhenrücken »klammert[]« und, »um den Wirbeln nicht Widerstand zu bieten, flach an den Felsen an[drängt]«, sich also an unwirtlicher Stelle, den Elementen trotzend, der Natur aufzwingt. Das Bauwerk liegt in der Neustadt, die auf den zunächst verstrahlten Trümmern der durch die sogenannten »Feuerzeiten« (H 61) zerstörten Gebäude errichtet
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wurde, hat selbst die Verheerung der Stadt jedoch unbeschadet überstanden und dient dem Volk folglich auch als furchtbares Mahnmal an den »Geist des Schreckens« (H 62). Im Inneren des Gebäudes »eng[e] und dumpfig[e]«, »fahle[]« »Stahlglasgänge«, in denen es »nach Öl und Eisen und den Maschinen« riecht, »die die Luft erneuerten« (H 229) – ein bedrückender Ort, der die Menschen, die in ihm arbeiten, prägt. In den Tiefen der chaotischen Konstruktion haust der Landvogt, ein als »fett gewordene[r] Jaguar« bezeichneter (H 231), schwitzender, sich dem Konsum von Konfekt und Frauen hingebender Tyrann. Ein »Kaliban[]« (H 234), dessen Anspruch auf Herrschaft nicht, wie der Text durch die Fokalisierungsfigur Lucius indigniert feststellen lässt, auf »ererbte[m]« (also gültigem) »Anspruch« beruht (ein Anrecht, dem das Volk übermäßig kritisch gegenüber stehe), sondern darauf, dass der Diktator das »Animalische[]« inkarniere – »Luxus«, »Laster«, »Schwelgerei« (H 234). Seine Macht basiert auf dem Wohlwollen des unreflektiert handelnden Demos,3 den er mit seiner Stimme zu kontrollieren vermag (vgl. H 230), aber auch auf offener Gewalt und – vor allem – der Furcht und dem »schreckliche[n] Gerücht« (H 53), das sich unter anderem auf die Machenschaften des Orgien feiernden Polizeichefs Messer Grande stützt und auf die Menschenversuche, die im Toxikologischen Institut des Doktor Mertens angestellt werden. Wissenschaftliche Unterstützung erhält der demagogische Landvogt vom sogenannten »Institut«, das ganz in den Dienst des Fortschritts gestellt ist,4 in dem grau gekleidete »Techniker« »brauchbar[e]« – was heißen soll: von der Obrigkeit erwünschte – »Resultate« erzielen: Wissen als »Mosaik [...], das man ad hoc zusammensetzt« (H 32), Forschung als Regierungsdienst, Theorie als Waffe: »Wer stark ist, lebt in der Gegenwart und formt aus ihr die Zukunft und die Vergangenheit.« (H 33) Entsprechungen für all diese Personen und Institutionen finden sich auch auf der anderen Seite, der des Prokonsuls, der die Herrschaft des Landvogts quasi spiegelbildlich ergänzt: Der Prokonsul, ein feingeistiger Freund der Künste und der Gärten, herrscht vom hoch über der Altstadt gelegenen Palast aus, der »sich Teilen der alten Stadtburg an[lehnt]«, also Halt sucht, ihn nicht erzwingt. Das Gebäude ist weitläufig und luftig, licht, »einheitlich und imponierend« (H 62) durchaus heterogene Bauweisen stilvoll miteinander verbindend. Die Autorität des Prokonsuls ist durch sein »gutes Blut« verbürgt (H 231), er verständigt sich entweder gänzlich schweigend oder doch in »knappe[n] Andeutung[en]« (H 230) mit seinen – ebenfalls mehrheitlich aristokratischen und damit elitär-einfühlsamen – Gefolgsleuten. 3
4
Die Masse erscheint in Heliopolis durchgängig negativ besetzt – sobald der Einzelne nicht mehr namentlich von anderen unterscheidbar ist, werden Gruppen potenziell bedrohlich (vgl. die Beschreibung des Hafenviertels [H 61]). Vgl. Hans Krah, Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers »Heliopolis« (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 225–251, hier S. 231.
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Die Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit seines Habitus wird vom Volk, das die Schwelgerei liebt und dem die Möglichkeiten zur Erkenntnis legitimer Macht fehlen, nicht erfasst – den Prokonsul unterstützen jedoch die (ebenfalls hierarchisch aufgebaute) Kirche und das Heer. Seine Offiziere und Beamte werden »in einer Sphäre klarer, legaler, sichtbarer Macht« »erzogen« (H 55), wie es heißt – der Patriarch garantiert durch sein »Vorbild, als Träger der gerechten und zur Herrschaft berufenen Tugenden« (H 151), den ideellen Charakter ihrer Ausbildungsinhalte. Die dem Prokonsul zugehörige »Akademie« darf sich denn auch der freien Forschung widmen, unabhängig Einzelbeobachtungen machen und sie in das Weltganze einordnen: »Vom Ganzen kommt jede Wissenschaft und muß dem Ganzen zuführen.« (H 32) Die beiden konträren Positionen werden deutlich als solche markiert, obgleich die eigentlichen Ziele der beiden Parteien nie ganz klar werden,5 und sie werden innerhalb des Textes häufig implizit, aber auch einmal explizit durch Lucius’ Vorgesetzten einander gegenübergestellt: Die Gruppe des Landvogts stütze sich »auf Trümmer und Hypothesen der alten Volksparteien und plan[e] die Herrschaft einer absoluten Bürokratie« (eine Art pervertierte Demokratie, eine Ochlokratie), die des Prokonsuls dagegen »gründe[] sich auf die Reste der alten Aristokratie und des Senates«. Der Landvogt stehe für ein »geschichtsloses Kollektiv«, das auf »Atomisierung und Gleichmachung des menschlichen Bestandes« basiere, der Prokonsul strebe »eine historische Ordnung« an, die den Menschen vervollkommnen solle (H 150). Aus diesem Grund suche der Landvogt nach – als »verkümmert« wahrgenommenen – »Spezialisten«, der Prokonsul jedoch nach »ganzen Menschen«, die sich durch »Taten« oder »Wissen« auszeichneten und aus denen er eine »neue[] Elite« formen wolle (H 151).6 An anderer Stelle wird bereits angedeutet, dass die Spielräume des Prokonsuls im Schwinden begriffen sind. Gleichzeitig basiert dessen Herrschaftsidee jedoch auf der Gewissheit, dass er – als durch Geburt und Status Auserwählter – das System durchschauen und somit sein eigenes Geschick und das aller anderen lenken könne: »Die Ziele des Prokonsuls sind umfassender. Er würde sie gefährden durch Anteilnahme an Operationen, die nicht das Ganze in Rechnung ziehen.« (H 87) Aufgrund der Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf Totalität und der erkennbaren Auflösung jedweder Ordnung erscheint das Regierungsmodell des Prokonsuls nicht zukunftsfähig. Lucius selbst ist es, der zugibt, dass nur noch punktuell Ordnung geschaffen werden kann, während sie »im großen [...] immer mehr entschwand«: 5
6
»The substance of their enmity remains in the dark, except that each strives for power over the other in the governance of the land« (Karlheinz Hasselbach, Aestheticized Politics, or the Long Shadow of Ernst Jünger’s »Old Testament?« In: Orbis Litterarum, 55, 2000, S. 33–57, hier S. 45). Vgl. Gregor Streim, Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin/New York 2008 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 49 [283]), S. 154.
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Entsprechend fühlten seine [des Prokonsuls] Offiziere sich nur in ihren begrenzten Räumen wohl [...] – sie lebten dort unter sich. Im Grunde harrten sie auf den Krieg, von dem sie hofften, er werde die Demagogen in ihre Hand bringen. Der Landvogt seinerseits trieb auch dem Kriege zu, von dem er Steigerung der Unordnung und weitere Atomisierung erwartete. (H 56)
Beide Fraktionen bauen also darauf, dass ein bevorstehender Krieg zu einer Art Gottesurteil führen wird – derjenige, der sich als der Stärkere erweist, vermag Heliopolis weiterhin seinen Stempel aufzudrücken. In beiden Fällen ist für individuelle Entwicklung bemerkenswert wenig Platz. Man sollte vermuten, dass die Partei des Landvogts – sofern sie auf der Auslese von Spezialisten und der Fragmentierung der Gesellschaft beruht – auf den Einzelnen fokussieren müsste. Doch paradoxerweise unterfüttert die Atomisierung offenbar tatsächlich lediglich die absolute Bürokratisierung – ebenso, wie das Wissen als Mosaik immer wieder (je nach Bedarf ) neu zusammengesetzt werden kann, so komplettiert sich auch die Struktur im Gefolge des Landvogts. Bricht ein Stück, eine Figur heraus (wie Messer Grande, der einem Attentat zum Opfer fällt), übernimmt eine andere Figur ihre Position und Aufgabe. Möglich macht dies die Normierung ihres Daseins, ihre Reduktion auf die bloße Funktion. Befreit das ahistorische Kollektiv den Einzelnen von der Bürde seiner Herkunft, so schneidet es ihn auch von allen Bindungen ab, so dass er außerhalb des geschlossenen Systems keine Bestimmung, keinen Platz mehr hat. Die Beamten des Landvogts wirken auf Lucius sogar kaum menschlich, so als besäßen sie kein »höheres, reflektierendes Bewußtsein« (H 39). Eine solche Form der Existenz – Gehorsam ohne Nachdenken, der Verzicht auf die Möglichkeit der Wahl, ja sogar auf deren bloße Erkenntnis –, so wird im Roman durch die ausdrücklich positiv bewertete Figur des Pater Foelix deutlich gemacht, ist jedoch animalisch und allenfalls Insekten angemessen. Da – so sein Beispiel – Bienen »einen Körper [bilden], den eine Kraft belebt und formt« (H 209), sind »Königinnenmord, Königinnenzweikampf, die Drohnenschlacht« (H 210) als innerkörperliche7 und naturhafte Ereignisse legitimiert, durch ihr eigenes Gesetz erzwungen und somit im göttlichen Plan aufgehoben, der letztlich über allem steht. Dem Menschen jedoch ist »Erkenntnis und damit Schuld« verliehen, weshalb er zu grausamen Taten neigt, die zwar (aufgrund der göttlichen Allmächtigkeit und Allwissenheit) innerhalb des Plans liegen, jedoch »außer dem Gesetz« (H 210) situiert sind. Selbst wenn eine menschliche Tat »naturhaft notwendig« sei, könne sie dennoch »schuldhaft vor dem Gesetz« sein (H 210) – in diesem Fall müsse sie durch ein »Opfer«, durch »Sühne und Buße« oder den Verzicht auf einen Teil des gottgegebenen »Naturanspruch[s]« (H 211), ausgeglichen werden. Ebenso wenig Entfaltungsspielraum bietet dem Einzelnen die Lebenswelt des Prokonsuls – hier könnte man meinen, dass die ganzheitliche Erziehung des Menschen und die Auslese der Wissenden und Leistenden der Freiheit des Individuums entgegenkommt. Dies wird durch den Text auch ausdrücklich propagiert, während 7
»Sie bilden eine große Familie oder eher noch einen Leib.« (H 209)
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die deutlichen Einschränkungen zwar referiert, jedoch nicht explizit negativ bzw. nicht als immanenter Systemfehler bewertet werden. Der Mensch ist in der »historischen Ordnung« zweifach eingeschränkt: Zum einen durch seine Herkunft, die zweifellos sein Fortkommen hemmen kann (die Auslese des Prokonsuls entspricht ja implizit qua Bindung an bestimmte Personengruppen in der Regel immer noch einer aristokratischen Elite), zum anderen – und hier wird Jünger nicht recht deutlich – durch die Aushöhlung seines Idealismus. Es ist deutlich geworden, dass zwischen dem Anspruch des Prokonsuls, jedwede Auswirkung einer Entscheidung ermessen zu können, und seinen tatsächlichen Möglichkeiten eine deutliche Diskrepanz besteht. Daneben behindert der Versuch, alle Verästelungen einer möglichen Tat absehen zu müssen, seine Fähigkeit, überhaupt zu handeln – und überfordert seine Mitstreiter. Dass der Prokonsul mit seiner Sorge, das Heer verwandele sich »in eine Art von Mameluckentruppe oder im besten Falle in ein nur ihm persönlich ergebenes Instrument« (H 148), nicht ganz fehl geht, beweisen nicht nur die Reaktionen der Kriegsschüler auf die moraltheologische Aufgabe, die ihnen mithilfe der Erzählung vom »Steg von Masirah« gestellt wird, sondern auch die Haltung des »Chefs« gegenüber dieser Art von ›Überzüchtung‹ (vgl. H 148). Absicht der Übung ist, Lucius zufolge, »die Festigung der inneren Sicherheit und Freiheit, auf die der Einzelne in der Entscheidung angewiesen ist. Der Fürst beteiligt Sie an seiner Souveränität.« (H 199) Dennoch zielen die Antworten der jungen Kadetten mehrheitlich darauf ab, wie man die entgegenkommende Karawane auf dem schmalen Felsensteg vertreiben und das Wegerecht der eigenen Gruppe verteidigen könnte, was schwerlich den Idealen des Prokonsuls entsprechen dürfte. Der Essay von Winterfelds sticht zwar heraus, indem er eine friedliche und letztlich beide auf dem Steg befindlichen Parteien befriedigende Lösung des Problems offeriert, was sowohl vom Leiter des Kursus als auch von Lucius positiv aufgenommen wird, doch auch er sieht lediglich einen Menschen in der Pflicht, nämlich den Führer der eigenen Karawane, Abd-alSalam, der als »der königliche Mensch« (H 196) betitelt wird.8 Der Verband um den Prokonsul ist also keineswegs durch eine Ordnung bestimmt, in der Autonomie vorherrscht, im Gegenteil, durch das Elitedenken ist offenbar eine starre Hierarchie entstanden, in der der Einzelne ebenfalls nur noch durch seine Funktion charakterisiert wird9 und Entscheidung, ja Entscheidungs8
9
Vgl. dazu den Aufsatz von Helmuth Kiesel, Denken auf Leben und Tod. Literarische Reflexionen einer ethisch-politischen Problemkonstellation in der Zeit des Totalitarismus (Brecht, Jünger, Bergengruen). In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 181–191. Dies zeigt sich m. E. auch darin, dass offenbar jede ›Planstelle‹ im System nur mit einer Person besetzt wird – der Bergrat, der Maler, der Philosoph, der Schriftsteller, der Germanist etc. (vgl. auch Krah, Die Apokalypse als literarische Technik, S. 237). – Nebenbei weist auch das Staatenprogramm des Bergrates solche deutlich oligarischen Züge auf – die Autoritäten sollten durch ein »Machtprogramm« das Glück des Kollektivs und dadurch das Glück des Einzelnen geradezu erzwingen. Die Bevölkerung soll auf ein auszurechnendes Maß reduziert, dem Einzelnen ein bestimmter Platz in der Gesellschaft zugewiesen werden, was Konkurrenzdenken und Aggression mindern soll (H 186 f.).
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fähigkeit nach oben delegiert.10 Die Übernahme von Verantwortung, die freie und willige, die freiwillige Unterordnung, die Sicherheit, dass der Vorgesetzte recht, nämlich dem Recht entsprechend handeln wird, was der Protagonist noch betont, weil er dies als Willen des Prokonsuls versteht (H 198 f.), soll – wenn es nach Lucius’ Vorgesetztem geht (der bezeichnenderweise über den Großteil des Textes nur als »Chef« bezeichnet wird), den Kriegsschülern abtrainiert werden: »Das geniale Individuum wirkt eher schädlich in der Armee. [...] Im Staate fällt dem Soldaten die Rolle des Dieners, nicht die des Herren zu.« (H 200) Auch die eigene Entscheidungsfähigkeit beschränkt der »Chef«, indem er sich nicht mehr – wie es sein ebenfalls mit einem sprechenden Namen belegter Vorgänger Nieschlag getan hatte –, die Hintergründe einer zu treffenden Anordung erklären, sondern nur noch die Quintessenz der Berichte vorlegen lässt (H 79). Zwar weist der »Chef« »seine Leute auf eigene Entscheidung hin« (H 80 f.), diese jedoch sollen vor allem möglichst rasch, nicht unbedingt überlegt handeln: »Ich decke eher einen Fehlgriff, als daß ich ein Ausweichen entschuldige« (H 80), ist sein Wahlspruch. Es zeigt sich also, dass dort, wo die Vision auf die Praxis trifft, der Idealismus pervertiert und zu verkrusteten Strukturen erstarrt ist, die vom Verfall bedroht sind:11 Hinter den taktischen Manövern in der Auseinandersetzung mit dem Landvogt ist der Einzelne verschwunden, der sich einem angeblich höheren Ziel unterordnen muss.12 Entscheidungen in Krisensituationen, bei denen der Moralkodex keine Rolle spielen darf, um das erhoffte Endergebnis nicht zu gefährden, führen zu einem Verlust des eigenen Edelsinns, auf dem die Ordnung des Prokonsuls jedoch beruht.13 Das Ideal wird durch die ständigen Kompromisse abgewertet.14 Der »Chef« erkennt diese Tatsache und die darin enthaltene Gefahr durchaus an, wenn er später Lucius vom Dienst befreit, als dieser einen Auftrag gefährdet, um den Vater der Geliebten, Antonio Peri, zu retten. »Wie könnte ich je ein Todesurteil unterschreiben ohne das Bewußtsein, daß unsere Sache so hell wie Wasser ist?« (H 322), hält er Lucius vor, um dessen auf persönlichen Motiven basierende Störung der Mission zu geißeln. Seine Formulierung – Wasser ist nicht nur hell, sondern vor 10
11
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14
Vgl. Hans-Peter Schwarz, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i. Br. 1962 (Freiburger Studien zu Politik und Soziologie), S. 181: »Das Dilemma bleibt immer dasselbe: zeitlicher Erfolg auf Kosten des Heils oder politisches Scheitern.« Vgl. M. B. Peppard, Ernst Jünger’s »Heliopolis«. In: Symposium, 7, 1953, H. 2, S. 250–261, hier S. 256. Vgl. Hasselbach, Aestheticized Politics, S. 45. Ähnliches findet sich im Übrigen bereits zu Beginn des Romans – dort wird der Idealismus des Akademikers mit Schwäche verbunden (H 28). »Die nihilistische Epoche ist so beschaffen, daß ihre Grundstruktur jeden, der über das politische Mittelmaß hinausstrebt, zur ›amoralischen Technizität‹ führt. Eine durchrationalisierte Welt und ein atomisiertes Volk wollen von Nihilisten beherrscht sein. Die konservative Haltung schlägt nicht mehr durch.« (Schwarz, Der konservative Anarchist, S. 181)
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allem durchsichtig – jedoch zeigt, wie sehr er sich von der ganzheitlichen Philosophie des Prokonsuls entfernt hat. Die Entwicklung des Protagonisten vollzieht sich nun innerhalb dieses skizzierten Spannungsfelds. Einerseits Träger einer spartanischen, deutlich männlichkriegerisch besetzten Ethik, wird Lucius de Geer auf der anderen Seite auch eine »Neigung zum abgeschlossenen und träumerischen Wesen« zugeschrieben, die ihm jedoch »nicht schädlich« ist, sondern ihm – als »Schimmer von Melancholie« – sogar als Auszeichnung angerechnet wird (H 14).15 De Geer vertritt im Text zunächst »keine eindeutige Position«16, sondern wird als Suchender dargestellt: Während viele der Figuren, so Lucius treffend, »Kurs« halten, also sich auf einer Geraden bewegen und nicht abweichen, fehlt ihm selbst »die Entschiedenheit, mit der man Partei ergreift und die im Leben doch wichtig ist«: »Sie kannten nicht die verschiedenartigen Impulse, die sich in ihm, Lucius, trafen und widerstrebend vereinigten. [...] Wahrscheinlich überschätzte er den Einfluß der geistigen Elemente auf den Lauf der Welt.« (H 202) Wie sich im Verlaufe des Textes herausstellen wird, ist genau dies jedoch nicht der Fall. Lucius, so heißt es, »lebte in einer anderen Wirklichkeit, die die Parteiung nicht völlig aufteilte. Immer blieb noch ein Drittes außer Freund und Feind.« (H 152) Sein Denken zielt auf die Vereinigung des Widersprüchlichen ab – dies zeigt sich nicht nur in seiner Ansprache an die Kriegsschüler, in der er zu suggerieren scheint, dass zwischen Freiheit und Gehorsam kein Widerspruch bestehen müsse und dass souveräne Entscheidung mit absicherndem Blick auf das große Ganze selbst dem Einzelnen möglich sei, sondern zum Beispiel auch in seinem Wunsch, eine Frau zu finden, die die Attribute der vormals still verehrten Astrid – bei der er »die Macht ursprünglicher Trennungen« respektierte (H 95) – mit den Attributen Ingrids, deren Leib er entdecken durfte (vgl. H 96), miteinander vereint: Geist und Körperlichkeit, Hohes und Niedriges, Ferne und Nähe. Eine Synthese, die – laut Nigromontan, dem ersten Lehrer Lucius’ – nur »jenseits unserer Sphäre« möglich ist »und nur in der Verehrung zu erahnen sei« (H 97). Während des Symposions bei Maler Halder charakterisiert der Protagonist seine Vorstellung vom Glück, die er selbst für illusionär hält: Daß man beginnen könnte, ganz neu beginnen: das ist ein köstliches Gefühl. Dazu gehört auch das Bewußtsein des Unerkannten, des Verborgenen, des Heimlichen. Das Glück ist Kinderzeit und Rückkehr der Kinderzeit. Wir treten in das Gefecht des Lebens ein und haben noch alle Reserven in der Hand. Dann löst die Niederlage den Traum vom Siege ab. (H 108) 15
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De Geers Wappen spiegelt diese Ambivalenzen wider: »Ganz ähnlich ist es mit der Lanzenspitze, die erst allmählich die Lilienform gewonnen hat, die Sie hier sehen. Sie ist zum Ornament geworden«. Das ursprünglich kriegerische Symbol, das auf den sächsischen Ursprung Lucius’ hinweist, wird durch die Zeit und den fränkischen Einfluss (der bezeichnenderweise »fränkischen Müttern« zugeschrieben, also als Effemination wahrgenommen wird [H 77]) abgeschliffen. Krah, Die Apokalypse als literarische Technik, S. 238.
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Der Wunsch ist also erneut folgewidrig: Neubeginn mit Kenntnis des Vergangenen – Kinderzeit und Rückkehr der Kinderzeit. Lucius spricht von Autorität, ohne dem Einsatz von Willen und ohne Aktion seinerseits, von ungeteiltem Besitz, über den allerdings nicht verfügt wird. Interessanterweise wird Glück auch in einem nächsten Schritt mit »Herrschaft« und »Macht« (H 109) verbunden, als Lucius von seinen Erfahrungen als Agent berichtet: Durch Anonymität von seinen Pflichten kurzfristig befreit, konnte er zuweilen Tage verbringen, die »jenseits der Gesetze« lagen (H 110). In einem Gasthaus sitzend, erkannte er z. B. seine Macht über den Kellner, dem er »ihm unbekannte[] Wünsche und Träume« hätte offenbaren können: »Doch mehre ich, indem ich schweige und mich enthalte, meine Macht.« (H 109) Diese Aussage korrespondiert mit den Leitsätzen christlicher und stoischer Ethik, die Lucius im Verlauf des Romans zitiert: »Entsage, um zu gewinnen«, wie es Pater Foelix, bzw. »Verliere, um zu besitzen«, wie es Nigromontan ausdrückt (H 157). Zwischen beiden Axiomen besteht jedoch ein geringer Unterschied: Geht es in einem Fall um bewussten Verzicht, um einen nicht-kalkulierbaren Nutzen zu erringen (gemeint ist also ein ungesicherter Gnadenakt), ist im anderen Fall von unwillkürlicher Einbuße, um über absehbaren Besitz zu verfügen, also von einem geradezu garantierten Gegenwert, die Rede. Maler Halder sieht Glück nur »in der Illusion [...], und die Erfüllung ist sein Tod« (H 109) – ähnlich wie Lucius glaubt er also, dass es nicht durch eigenen Willen zu erreichen ist: Im Augenblick des Glücks ist alles überwirklich, gleichzeitig »durchdringt« den Glücklichen »die Ahnung des Besitzes«: »Das sind zwei Reiche, die sich auf Erden nie vereinen, wenn nicht durch einen Funken, der zeitlos überspringt.« (H 110) Philosoph Serner betont ebenfalls das Momenthafte des Glücks – erst wenn auf Wünsche verzichtet wird, der Mensch sich in Geduld übt und das Warten aufgibt (»das Leben darf sich nicht beschleunigen; es muß sich verlangsamen nach Art der Ströme, die dem Meere zufließen«) wird ihm Glückseligkeit zuteil (H 111). Für den Schriftsteller Ortner dagegen liegt das Glück in der »Harmonie«, darin, das Innere mit dem Äußeren in Übereinstimmung zu bringen. Dabei spielt erneut die Genügsamkeit eine Rolle – einfache Menschen sind »leichter auch glücklich« (H 112). Die Glücklichen teilen die gefundene Harmonie mit anderen und beweisen, »daß das Glück, die Freude, das Eigentum nicht im Vereinzelten bestehen und daß ihr Wesen der Gemeinsamkeit, der Mitteilung bedarf. Es liegt im Geben, im Verteilen des Empfangenen. Allein der Gebende ist reich.« (H 112) Lucius ist sich also nach dem Symposion einer Reihe von Glückskonzepten bewusst, die allerdings alle einen gemeinsamen Tenor haben: Glück kann nicht erzwungen werden, es handelt sich um eine temporäre Gabe, die von so vielen Parametern abhängt, dass sie quasi-imaginativ ist. Derjenige jedoch, der keine Ansprüche erhebt, sondern sie im Gegenteil aufgibt, und der nicht an sich nimmt, was er begehrt, erfüllt zumindest eine der Vorbedingungen.
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Lucius’ eigenes Modell basiert darüber hinaus auf dem Postulat eines Idealzustands, der alle Anpassungen der Praxis durchlaufen, sich dadurch allerdings letztlich wieder in das ursprünglich vorausgegangene, jedoch durch Verwirklichung nicht geminderte, sondern sogar höherwertige Ideal zurückverwandelt hat. Eine ähnliche Entwicklung durchläuft auch der Protagonist – wenngleich auf niederer Stufe. Wird er zu Beginn als männlich-integrer Charakter mit einem Hang zur Grübelei gesetzt, so führt ihn seine Suche nach Erkenntnis der Ordnung hinter der augenfälligen Ordnung nicht nur zur Anpassung seines Lebens an die christliche Ethik, deren Kenntnisse ihm Pater Foelix vermittelt, sondern bedingt auch seinen – vom Text so bezeichneten – »Sturz« (H 317), der freilich Voraussetzung für seine abschließende ›Himmelfahrt‹ darstellt. De Geer ›stürzt‹, weil er seine (männliche) Standhaftigkeit und Sicherheit aufgibt,17 indem er erneut Zweifel an und in einer Mission zulässt, und indem er sich der Parsin Budur Peri öffnet. Das – im Übrigen keinesfalls sexualisierte18 – Beisammensein mit ihr, der Androgynen, die männliche Geistigkeit und weibliche Einfühlung miteinander zu verbinden vermag, bricht Lucius’ »Panzer« auf: Der Schnitt war schmerzhaft, doch befreite er ihn von der Überlieferung und ihren Ketten, von einem Dasein, das im Grunde unhaltbar geworden war. Der Panzer war gebrochen und damit die Unantastbarkeit verloren [...]. Die Niederlage war unbestreitbar; das kühne Gewölbe war eingestürzt. Die beiden Pfeiler, Macht und Ehre, trugen es nicht mehr. Die Sicherheit war von ihm gleich einer Rüstung abgefallen, und Budur war das Medium, durch das der Schmerz ihn erreicht hatte. (H 325)
Die ererbte und anerzogene Stetigkeit und Rückwärtsgewandtheit des Burgenlandes sowie das Festhalten an überkommenen Strukturen und Traditionen reichen nicht aus, um den Protagonisten aufrecht zu halten und zu schützen.19 17
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Im Christentum gilt der Mensch, der seiner selbst zu sicher ist, auch als der gefährdete Mensch, der dazu neigt, vom Glauben abzufallen, weil er den Eindruck gewinnt, selbst Garant seines Heils sein zu können. Erst wenn er (wieder) erkennt, dass er in allem von Gottes Gnade abhängt, ist er der Rettung nah. Vgl. Krah, Die Apokalypse als literarische Technik, S. 245. Ein Anklang von Warnung, dass zu viel Tradition, zu viel Beharren auf dem Vergangenen schädliche Auswirkungen haben kann, findet sich schon zu Beginn von Heliopolis – so führt der Totenkult in Lucius’ Heimat dazu, dass die dortigen »Felsen [...] wie Bienenwaben von Gräbern ausgehöhlt« wurden, sodass er befürchten muss, dass »die Toten« das Burgenland »verzehren« (H 81). – Ähnliches sagt Luca Crescenzi über den Mythos: »In diesem Sinne kommt dem Mythos eine charakteristische Zweideutigkeit zu. Als Produkt der Phantasie und des Verstandes ist er zukunftsorientiert und verändert die Welt. Als Produkt der Erinnerung blickt er aber nach rückwärts, sucht Konstanten und stiftet Stabilität. Auch dies macht ihn unersetzlich in Zeiten von Sinn- und Orientierungsverlust. Doch seine Zweideutigkeit macht ihn auch gefährlich.« (Luca Crescenzi, Formen mythischen Erzählens in Ernst Jüngers Romanen. In: Mythen, hg. von Günter Figal/Georg Knapp, Tübingen 2007 (Jünger Studien 3), S. 244–255, hier S. 249)
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Aufgrund von Budurs bloßer Anwesenheit wird Lucius aus den ihn bestimmenden Strukturen, die er immer skeptisch betrachtet hatte, befreit: Er ist weiterhin nicht handlungsmächtig,20 er kann seinen Zustand nicht selbständig ändern – diese Statusänderung ›geschieht ihm‹ durch die Ankunft Phares’ –, doch er beginnt, seine Umgebung (und nicht mehr sich selbst) zu befragen, und dem »Einfluß der geistigen Elemente auf den Lauf der Welt« (H 202) dessen tatsächliche Bedeutung zuzumessen. Das Zusammensein mit Budur wird von Lucius als »Glück« (H 328) verstanden – unterlegt man die von ihm selbst gegebene Definition, so handelt es sich um einen radikalen Neubeginn im Wissen um die erlebte Niederlage und die erlittenen Verluste. Diese ›Wiedergeburt‹ wird in dem fruchtbaren, sonnenbeschienenen Garten Ortners, einem locus amoenus, situiert: »Alles war Süße, saftvolle Reife und höchste Wollust an diesem Ort. Er zeugte für den Meister, der hier Fülle spendete.« (H 330) Doch endet Lucius zweiter Entwicklungsgang nicht in diesem Paradies – denn durch seine Verletzung, durch seinen Niedergang, durch seinen Verlust hat er die Aufmerksamkeit des Regenten auf sich gezogen. Der Regent stellt die dritte Herrschaftsposition innerhalb der erzählten Welt dar: In der Schlacht bei den Syrten – die der im Roman vorgestellten Zeit um einige Jahre zuvor liegt – zwar siegreich gewesen, hat er sich hernach zum »Exodus« entschlossen, um die Menschheit mit den Worten: »Auch euch zu züchtigen, ist sinnlos« (H 162) zurückzulassen. Er residiert im Weltraum, von wo aus er das Schicksal der Menschen zwar augenscheinlich interessiert beobachtet und zuweilen seinen Boten – bezeichnenderweise Phares (rückwärts als Anagram von Seraph21 lesbar) genannt – aussendet, um sich Informationen zu beschaffen, verzichtet jedoch auf einen Eingriff trotz der teilweise bürgerkriegsähnlichen Zustände. Der Regent, so heißt es, könnte ohne Mühe eine neue Ordnung herstellen (vgl. H 335 f.), doch »lockt ihn kein Regiment, das seiner Idee der Freiheit widerspricht« (H 336). Der Regent will und kann keinen allgemeinen Weg vorgeben,22 sondern nur den Einzelnen auffangen, wenn dieser gescheitert ist und durch seine Niederlage geläutert wurde. Lucius wurde die Unantastbarkeit und Sicherheit genommen und die Demut gelehrt: »Im Schmerz liegt größere Hoffnung als im geschenkten Glück.« (H 337)23 Nur wenn »das Spiel [...] jede Möglichkeit erschöpft« hat 20
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Vgl. dagegen Walter Delabar, der von einem »handlungsmächtigen Einzelhelden« spricht (Walter Delabar, Sonnenstadt und Waldgang – Ernst Jünger. In: Schuld und Sühne. Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945–1961), Internationale Konferenz vom 01.–04.09.1999 in Berlin, hg. von Ursula Heukenkamp, Amsterdam 2001 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 50.1), S. 309–319, hier S. 312). Vgl. Peppard, Ernst Jünger’s »Heliopolis«, S. 253. Vgl. dazu Ernst Jünger, Siebzig verweht III. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 20: Tagebücher VII, Strahlungen V, Stuttgart 2000, S. 299. Vgl. Philippe Wellnitz, ›Heliopolis‹, eine Utopie? In: Images d’Ernst Juenger. Actes du Colloque (30 et 31 mars 1995), Bern u. a. 1996, S. 23–34, hier S. 33. Für den Bergrat ist auch Ästhetik immer die Folge einer Verletzung – »im Absoluten gib es die Schönheit nicht« (H 18).
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(H 338), das Gute durch »Erfahrung« (H 339) als richtig erkannt wurde, ist der Einzelne vorbereitet, in den Dienst des Regenten zu treten. Der Text löst somit das Problem, dass Lucius durch seine Aktion das zweigeteilte Werte- und Ordnungssystem der Stadt – und damit des Romans – verletzt hat, indem er – so Hans Krah – »eine Dualität auf höherer Ebene ein[]führt [...], eben die zwischen dem Regenten (und der Theologie) und dem irdischen Konflikt zwischen Landvogt und Prokonsul«.24 Der Regent löst all das ein, was Lucius in seiner Einlassung in der Kriegsschule skizziert hatte: Er herrscht nicht durch Zwang, sondern aufgrund einer freiwilligen Entscheidung der Beherrschten, die seine Gottähnlichkeit anerkennen.25 Unter seiner Ägide gelingt es, freien Willen und Gehorsamkeit in eins zu setzen.26 Das Leben kann somit mit Heiterkeit und einem Gefühl der Leichtigkeit angegangen werden, da ein gewisses Aufgehobensein in einem quasi-göttlichen Plan garantiert ist. So zeigt sich auch, dass Lucius’ »Neigung zum abgeschlossenen und träumerischen Wesen« (H 14), das zu Beginn des Romans erwähnt wurde, wie dort angedeutet tatsächlich eine Auszeichnung und zudem Zeichen seiner Auserwähltheit ist, denn die Vorbereitung auf die Reise zum Regenten zielt auf die »Verwirklichung des Traumes durch Erhöhung der Imagination und ihrer Herrschergewalt« (H 342, Hervorhebung P. P.).27 Am Ende des Romans steht die potenzielle Wiedergeburt der Menschheit durch eine Elite, die zumindest die Möglichkeiten hat, ihr persönliches Glück zu finden – indem sie es aufgibt.
Literatur Crescenzi, Luca: Formen mythischen Erzählens in Ernst Jüngers Romanen. In: Mythen, hg. von Günter Figal/Georg Knapp, Tübingen 2007 (Jünger Studien 3), S. 244–255. Delabar, Walter: Sonnenstadt und Waldgang – Ernst Jünger. In: Schuld und Sühne. Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945–1961), Internationale Konferenz vom 01.–04.09.1999 in Berlin, hg. von Ursula Heukenkamp, Amsterdam 2001 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 50.1), S. 309–319. Hasselbach, Karlheinz: Aestheticized Politics, or the Long Shadow of Ernst Jünger’s »Old Testament?« In: Orbis Litterarum, 55, 2000, S. 33–57. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Stuttgart 1978–2004. Helmuth Kiesel, Denken auf Leben und Tod. Literarische Reflexionen einer ethisch-politischen Problemkonstellation in der Zeit des Totalitarismus (Brecht, Jünger, Bergengruen). In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/ New York 2004, S. 181–191. 24 25 26
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Krah, Die Apokalypse als literarische Technik, S. 239. Krah, Die Apokalypse als literarische Technik, S. 235. »Die Entsagenden« haben dabei »das letzte Wort« im Roman: »Wer aufrichtig bestrebt ist, sein Menschentum zu vervollkommnen, muß aus dem politischen Spiel ausscheiden.« (Schwarz, Der konservative Anarchist, S. 175) Wellnitz, ›Heliopolis‹, eine Utopie?, S. 30 f.
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Krah, Hans: Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers »Heliopolis« (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 225–251. Peppard, M. B.: Ernst Jünger’s »Heliopolis«. In: Symposium, 7, 1953, H. 2, S. 250–261. Schwarz, Hans-Peter: Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i. Br. 1962 (Freiburger Studien zu Politik und Soziologie). Streim, Gregor: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin/New York 2008 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 49 [283]). Wellnitz, Philippe: ›Heliopolis‹, eine Utopie? In: Images d’Ernst Juenger. Actes du Colloque (30 et 31 mars 1995), Bern u. a. 1996, S. 23–34.
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Tiefe Blicke Ernst Jüngers Chronistik Im dritten, 1993 erschienenen Band von Siebzig verweht ist Ernst Jünger am 18. November 1985 auf sein Interesse an Geschichte eingegangen. Anlass war Carl Schmitts Beitrag Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West, den dieser zur Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag von 1955 verfasst hatte. Schmitt bezog sich dabei auf Jüngers Buch Der gordische Knoten, in dem das Thema zwei Jahre zuvor behandelt worden war. Jünger nahm die erneute Lektüre zum Anlass, einen Unterschied zwischen ihm und seinem langjährigen Korrespondenzpartner hervorzuheben. Schmitt, so Jünger, beschäftigten »vor allem die politisch-rechtlichen Hintergründe von Ereignissen und Personen«, ihm selbst ginge es »um den mythischen Kern der Geschichte, der bis in die Gegenwart« fortwirke.1 Diese Unterscheidung zwischen einer erklärenden und einer gegenwartsbezogenen Erläuterung historischer Phänomene betrifft nicht nur die Geschichtsauffassungen, sondern auch die Darstellungsformen beider Autoren. Während Schmitt seine Überlegungen trotz aphoristischer Zuspitzungen argumentativ vorträgt, präferiert Jünger den Einfall, der ein historisches Ereignis auf seine anthropologischen Voraussetzungen zurückzuführen versucht. Das Verfahren prägt nicht nur die essayistischen Schriften wie den Gordischen Knoten, sondern auch Jüngers Tagebücher, die das Zentrum des Spätwerks bilden. Subjektive Eindrücke treten hier zugunsten der zeitübergreifenden Deutung von Ereignissen in den Hintergrund, sodass die von Jünger verwendete Gattungsbezeichnung fragwürdig ist. In der Tat orientieren sich seine Aufzeichnungen nicht an der Diaristik des bürgerlichen Zeitalters, sondern an der Tradition der Chronistik, die im 18. Jahrhundert untergegangen war. Während Schmitt der Geschichtsschreibung des Historismus verpflichtet blieb, entwickelte Jünger eine neue Form der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, die den Subjektivismus des empfindsamen Tagebuches ebenso hinter sich lässt wie das Kausalitätsprinzip des Historismus. Im Mittelpunkt steht der Verfasser, der über Auswahl und Deutung der Ereignisse entscheidet.
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Ernst Jünger, Strahlungen V. Siebzig verweht III. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 20: Tagebücher VII, Stuttgart 1980, S. 568.
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Photographie und Sinnlichkeit Obwohl Jünger seit Beginn des Ersten Weltkriegs Tagebuch führte, hat er die bruchstückhafte Form literarisch zunächst nicht umgesetzt, sondern seine Aufzeichnungen seit Beginn der zwanziger Jahre zu autobiographischen Erzählungen verarbeitet.2 Erst bei den Tagebüchern seit Beginn des Zweiten Weltkriegs, deren Publikation 1942 mit Gärten und Straßen einsetzte, übernahm er die Form auch im Druck. Damit begann eine neue Phase in seinem Werk, doch hat sie ihren Ursprung in den späten zwanziger Jahren, in denen Jünger Ideen der Chronistik zu reflektieren begann. Ausgangspunkt war seine Auseinandersetzung mit der Photographie, die die Sachprosa seit Mitte der zwanziger Jahre durch die Ausbreitung technisch erzeugter Bilder zu verdrängen begann, sodass der Photograph zum Chronisten der Moderne wurde.3 Neben Jünger haben auch andere ästhetisch versierte Schriftsteller wie Walter Benjamin und Siegfried Kracauer auf diese Entwicklung reagiert, sich allerdings mit den Eigenheiten photographischer Bilder und ihrem Einfluss auf die Erfahrungsbildung beschäftigt. Jünger ging es dagegen um die literarische Praxis. In der »Vorrede« der 1934 erschienenen Essay-Sammlung Blätter und Steine, die für Jüngers ästhetische Neuorientierung von großer Bedeutung war, konstatiert dieser eine Verschlechterung der »Reisebeschreibung seit Humboldts Tagen« bei gleichzeitiger Verbesserung der photographischen Darstellungsweisen. »Zu erstreben ist«, so heißt es deshalb, »daß der Gegenstand durch die Feder wie durch einen Pinsel getroffen wird«.4 Jünger bezieht sich hier auf seine Reiseskizze »Dalmatinischer Aufenthalt«, die er an den Anfang von Blätter und Steine stellte. Sie wird als »Übung im Sehen« charakterisiert, ist tatsächlich aber eine Übung in der sprachlichen Darstellung sinnlicher Wahrnehmungen: »Von Steinen umgeben, spürt man den Atem der längeren Kreisläufe«.5 Schon Jüngers autobiographische Kriegsromane, die ihn zum Chronisten einer ganzen Generation von Frontsoldaten gemacht haben, zeugen von einem ambivalenten Verhältnis gegenüber der Photographie. Während die 1920 im Selbstverlag erschienene Ausgabe von In Stahlgewittern – neben einem Porträt des Verfassers – fünf photographische Aufnahmen von Kriegsschauplätzen enthält, werden diese seit der zweiten Ausgabe von 1922 nicht mehr abgedruckt. Stattdessen fingiert Jünger im Vorwort zur fünften, stark veränderten Fassung von 1924 eine sinnliche 2 3
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Vgl. Ernst Jünger, Kriegstagebuch 1914–1918, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010. Vgl. Neues Sehen in Berlin. Fotografie der zwanziger Jahre. Katalog zur Ausstellung, Kunstbibliothek, Museum für Fotografie, Staatliche Museen zu Berlin, 16. September bis 20. November 2005, hg. von Christine Kühn, Berlin 2005. Ernst Jünger, Vorwort zu »Blätter und Steine«. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 14: Essays VIII: Ad Hoc, Stuttgart 1980, S. 159–164, hier S. 160. Ernst Jünger, Dalmatinischer Aufenthalt. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 6: Tagebücher VI: Reisetagebücher, Stuttgart 1980, S. 9–35, hier S. 20.
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Präsenz der Vergangenheit, bei der die Feder tatsächlich zum Pinsel geworden ist: »Es war eine seltsame Beschäftigung, im bequemen Sessel das Gekritzel dieser Hefte zu entziffern, an deren Deckeln noch der vertrocknete Schlamm der Gräben klebte, und dunkle Flecken, von denen ich nicht mehr wußte, war es Blut oder Wein« (PP 42).6 Jünger hat das Vorwort später gestrichen, die anschauliche Schilderung des Krieges in Das Wäldchen 125 und Feuer und Blut aber fortgesetzt. Das gilt auch für die Schrift Der Kampf als inneres Erlebnis (1926), in der er den Weg von der Beschreibung der äußeren Realität zur Darstellung von Bewusstseinsvorgängen zu gehen versucht. Durchgeführt hat er die Konzeption allerdings erst in der ersten, 1929 erschienenen Fassung des Abenteuerlichen Herzen. Hier findet sich auch eine Kritik am Zeugnischarakter der Photographie: »Daher werden mir auch alle Lichtbilder aus dem Kriege immer mehr verhaßt, wie denn überhaupt die Photographie einen der unangenehmsten Versuche darstellt, dem Zeitlichen eine unziemliche Gültigkeit zu verleihen«.7 Die Distanzierung bleibt zunächst isoliert, wie sieben großformatige Bände zeigen, für die Jünger in vier Fällen als Herausgeber und in drei als Verfasser einer Einleitung verantwortlich war. Sie sind zwischen 1928 und 1933 erschienen und dokumentieren in Artikeln und Fotos den Krieg und seine Folgen sowie die Beziehungen zwischen Mensch und Technik, also Themen der Gegenwart.8 In der Einleitung des ersten, 1930 erschienenen Teils von Das Antlitz des Krieges betont der Herausgeber unter der Überschrift »Krieg und Lichtbild« den Zeugniswert der Photographie, von dem er sich ein Jahr zuvor distanziert hatte: »Zu den Dokumenten von besonderer Genauigkeit, wie sie dem menschlichen Verstande erst seit kurzer Zeit zur Verfügung stehen, gehören Lichtbilder, von denen sich im Kriege ein großer Vorrat angesammelt hat« (PP, 593). Man darf die Feststellung nicht überbewerten, da Jünger durch die Mitarbeit an den Bildbänden in erster Linie Geld verdienen wollte, nachdem er 1927 mit seiner Familie nach Berlin gezogen war, um hier als freier Autor zu arbeiten. Diese Auffassung hat auch Sven Olaf Berggötz vertreten, der die Einleitungstexte in den Band Politische Publizistik aufnahm und dadurch erst wieder zugänglich machte. Jünger selbst verwendete die Einleitungen in späteren Werkausgaben nicht, sodass sie in 6
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Wieder in Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg. kommentiert u. mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001. – Im Weiteren: PP. Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III: Das Abenteuerliche Herz, Stuttgart 1980, S. 31–176, hier S. 118. Von Jünger herausgegeben wurden die bebilderte Aufsatzsammlung zur Flugtechnik Luftfahrt ist not! (1928), eine Porträtgalerie gefallener deutscher Schriftsteller, genannt Die Unvergessenen (1928), ein Band zur Weimarer Republik mit dem Titel Der Kampf um das Reich (1929) und der Band Das Antlitz des Weltkrieges – Fronterlebnisse deutscher Soldaten (1930). Einleitungen hat er für die folgenden Bände verfasst: Das Antlitz des Weltkriegs – Hier spricht der Feind (1931), Der gefährliche Augenblick (1931) und Die veränderte Welt (1933).
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Vergessenheit geraten waren. Dennoch spiegeln sie den Übergang von den frühen Kriegsbüchern bis zum Beginn des Spätwerks in Blätter und Steine.9 Die Photographie bleibt hier zunächst Vorbild, wie die »Einleitung« des Bandes Der gefährliche Augenblick zeigt: »Schon heute gibt es kaum einen Vorgang, der Menschen von Bedeutung scheint, auf den nicht das künstliche Auge der Zivilisation, die photographische Linse gerichtet ist« (PP, 626). Im Arbeiter plädiert Jünger 1932 sogar für einen »mathematischen Tatsachenstil« im Zeitungswesen, der auf »ein Höchstmaß von deskriptiver Genauigkeit« zielen soll.10 Der Journalist wird damit zum Vertreter einer neuen Chronistik: »Ein Stapellauf, ein Grubenunglück, ein Motorrennen, eine Diplomatenkonferenz, ein Kinderfest, [...] – dies alles wird eingefangen und gespiegelt durch ein Medium von unerbittlicher Präzision«.11
Physiognomik, Stereoskopie und Synästhesie Das nüchterne Registrieren gehört zu jenen Darstellungsweisen der Neuen Sachlichkeit, die Helmut Lethen in seinem gleichnamigen Buch von 1994 zu den »Verhaltenslehren der Kälte« gerechnet hat, so dass Jüngers Ideen Ausdruck einer Zeittendenz sind. Dies ist jedoch nur eine Ebene seiner ästhetischen Neuorientierung. Die andere zielt auf die Imagination. Schon in der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzen spricht Jünger von einem »Mann vom Monde«, den er schätze, seitdem er der »Empfindungsfähigkeit des Zeitgenossen« nachspüre.12 Im Sizilianischen Brief an den Mann im Mond, den Jünger – nach der ersten Veröffentlichung in einer Anthologie von 1930 – unter dem leicht veränderten Titel Sizilischer Brief in Blätter und Steine aufnahm, wird der Außerirdische zur Personifikation jener Verbindung von Wirklichkeit und Phantasie, die ihn seit Ende der zwanziger Jahre beschäftigt hat: »Nein, das Wirkliche ist ebenso zauberhaft, wie das Zauberhafte wirklich ist«.13 9
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Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus, Der gefährliche Augenblick. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 2/1, Berlin 2004, S. 54–77; Karl Prümm, Gefährliche Augenblicke. Ernst Jünger als Medientheoretiker. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin u. a. 2004, S. 349–370; Michael Neumann, Eine Literaturgeschichte der Photographie, Dresden 2006 (Kulturstudien 4), S. 221–254; Bernd Stiegler, Ernst Jünger: Photographie und Bildpolitik. In: ders.: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik, München 2009, S. 153–175. Ernst Jünger, Der Arbeiter. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Essays II: Der Arbeiter, Stuttgart 1980, S. 9–317, hier S. 280. Jünger, Der Arbeiter, S. 284. Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung, S. 90. Ernst Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III: Das Abenteuerliche Herz, Stuttgart 1980, S. 9–22, hier S. 22.
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Nicht die sinnliche Wahrnehmung, sondern die Erinnerung bekommt nun eine zentrale Rolle als Medium der Imagination: »O Erinnerung, Schlüssel zur innersten Gestalt, die Menschen und Erlebnisse bewohnt!«14 Solche Anrufungen der Phantasie gibt es nicht nur in den Romanen der Frühromantiker, deren Sprache Jünger im Sizilischen Brief persifliert, sondern auch in den Texten der französischen Surrealisten, die er in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre kennengelernt haben dürfte. Doch lässt sich Jüngers Darstellungsweise weder auf die romantische Favorisierung der Phantasie noch auf deren surrealistische Wiederbelebung festlegen. Vielmehr suchte er nach eigenen Wegen, um die Darstellung der äußeren Wirklichkeit mit der von Träumen und Wunschbildern zu verbinden.15 Auch die Photographie nimmt hier einen Platz ein, wie der Essay Über den Schmerz zeigt, den Jünger ebenfalls in Blätter und Steine aufgenommen hat. Er verweist dort nicht nur auf den »Urkundencharakter« photographischer Bilder, sondern auch auf die Möglichkeit, mit deren Hilfe »Räume freizulegen, die dem menschlichen Auge verschlossen« blieben: »Das künstliche Auge durchdringt die Nebelbänke, den atmosphärischen Dunst und die Finsternis, ja den Widerstand der Materie selbst [...]. Die Aufnahme steht außerhalb der Zone der Empfindsamkeit. Es haftet ihr ein teleskopischer Charakter an«.16 Die Überlegungen überschneiden sich mit einer These Walter Benjamins, dass das Kameraauge durch Vergrößerungen oder Zeitlupen Sichtweisen auf Gegenstände ermögliche, die dem natürlichen Auge nicht zugänglich seien. Er verwendet dafür in der 1930 publizierten Artikelfolge Kleine Geschichte der Photographie den Begriff des »Optisch-Unbewußten« und erläutert das Phänomen durch Bezug auf die surrealistische Kategorie des Wachtraums sowie die Physiognomik, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Vorläufer der Psychologie geworden war. Die »Photographie«, so Benjamin, eröffne »die physiognomischen Aspekte, Bildungswelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verborgen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben.«17 Der Hinweis auf die Physiognomik ist von Bedeutung, weil deren Ideen durch die Ausbreitung der Photographie seit Beginn des 20. Jahrhunderts neues Interesse hervorgerufen haben. Während die ältere Schule von Gesichtszügen auf Charaktereigenschaften schließen wollte, bezog sich die neuere auf Artefakte, die als 14 15
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Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond, S. 16. Vgl. Thomas Kierlinger, Der schlafende Logiker. Ernst Jünger und der europäische Surrealismus (1975). In: Über Ernst Jünger, hg. von Hubert Arbogast, Stuttgart 1995, S. 137–163; Karl Heinz Bohrer, Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978; Gregor Streim, Wunder und Verzauberung. Surrealismus im »Dritten Reich«? In: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Frederike Reents, Berlin/New York 2009 (Spectrum Literaturwissenschaft 21), S. 101–119. Ernst Jünger, Über den Schmerz. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I: Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 182. Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie. In: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Herrmann Schweppenhäuser, 7 Bde., Bd. II, Frankfurt/M. 1980 (werkausgabe edition suhrkamp), S. 368–385, hier S. 371.
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Ausdruck von Denk- und Empfindungsweisen gedeutet wurden.18 Das Spektrum reicht von Ludwig Klages’ Schriften zur Graphologie über Georg Simmels Beiträge zu Gebrauchsgegenständen bis hin zu Siegfried Kracauers Filmkritiken, Ernst Cassirers Theorie der Symbolik und Aby Warburgs Überlegungen zur Gestik in Werken der bildenden Kunst. Zwar fehlt hier die anthropologische Spekulation der Schule Lavaters, doch bleibt das Interesse an unsichtbaren Tiefenstrukturen bestehen. In seinem Aufsatz über Simmel hat Kracauer das physiognomische Verfahren 1920 prägnant beschrieben: Simmel ist der geborene Mittler zwischen der Erscheinung und den Ideen. Von der Oberfläche dringt er allenthalben mit Hilfe eines Netzes von Beziehungen der Analogie und der Wesenszusammengehörigkeit zu ihren geistigen Untergründen vor und zeigt, daß jene Oberfläche Symbolcharakter besitzt, daß sie die Sichtbarwerdung und Auswirkung dieser geistigen Kräfte und Wesenheit ist. Das geringfügigste Ereignis weist hinab in die Schächte der Seele, jedem Geschehen kann von irgendeinem Standpunkt aus ein bedeutender Sinn abgewonnen werden.19
Auch Jünger hatte eine Vorliebe für physiognomische Erkenntnisformen. Veranschaulicht hat er sie an der Stereoskopie, die die Photographie seit Mitte des 19. Jahrhunderts begleitete, durch die Ausbreitung des Films seit den zwanziger Jahren aber in den Hintergrund gedrängt wurde. Es handelt sich um ein optisches Gerät, das durch die Verbindung von zwei leicht variierenden photographischen Aufnahmen, die gleichzeitig durch zwei Linsen betrachtet werden, die Illusion einer räumlichen Wahrnehmung der abgebildeten Gegenstände erzeugt. Im Sizilischen Brief schreibt Jünger: »Das war das Wunderbare, das uns an den doppelten Bildern entzückte, die wir als Kinder durch das Stereoskop betrachteten: Im gleichen Augenblick, in dem sie in ein einziges Bild zusammenschmolzen, brach auch die neue Dimension der Tiefe in ihnen auf«.20 Das Stereoskop spielte auch in der physiologischen Forschung zur sinnlichen Wahrnehmung im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle.21 Dass Jünger davon Kenntnis hatte, ist nicht auszuschließen, da er während seines Studiums der Zoologie in Leipzig und Neapel zwischen 1923 und 1925 mit entsprechenden Theorien in Berührung gekommen sein könnte. In der ersten Ausgabe des Abenteuerlichen Herzen hat er die stereoskopische Erfahrung als synästhetisches Phänomen beschrieben: »Stereoskopisch wahrnehmen heißt also, ein und demselben Gegenstande gleichzeitig zwei Sinnesqualitäten abgewinnen, und zwar – dies ist das Wesentliche – 18
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Vgl. Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, hg. von Claudia Schmölders, Berlin 1996; Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, hg. von Claudia Schmöders/Sander L. Gilman, Köln 2000. Siegfried Kracauer, Georg Simmel (1920). In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M. 1977 (suhrkamp taschenbuch 371), S. 209–248, hier S. 242. Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond, S. 22. Vgl. Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie, München 2006 (Bild und Text), S. 60–85.
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durch ein einziges Sinnesorgan«. Jünger spricht vom »Tastwert der Farbe« oder vom »Salzgeruch des Meeres«. Wesentlich sei, »daß die Farbe gehört, nicht etwa gesehen wird, so wie das Meersalz wirklich gerochen und nicht etwa geschmeckt werden« müsse.22 In der späteren, 1938 veröffentlichten Neufassung des Abenteuerlichen Herzen sind Definition und Erläuterung nur leicht variiert, sodass die Deutung des stereoskopischen Sehens als synästhetische Erfahrung bekräftigt wird.23 Wie bei der Auseinandersetzung mit der Photographie ging es Jünger auch hier nicht um Wahrnehmungstheorie, sondern ihre literarische Umsetzung. »Die wahre Sprache, die Sprache des Dichters«, so heißt es in beiden Fassungen des Abenteuerlichen Herzen, »zeichnet sich durch Worte und Bilder aus, [...] Worte, die uns seltsam aufhorchen lassen und denen ein wunderbarer Glanz, eine farbige Musik zu entströmen scheint«.24 Die synästhetische Dimension der Sprache hat Jünger in seinem Essay Lob der Vokale, den er ebenfalls in Blätter und Steine aufnahm, erörtert25 und damit eine Tradition weitergeführt, die auf Herder und die Romantiker zurückgeht.26
Neue Chronistik Das »Vorwort« zur ersten Ausgabe der Strahlungen knüpft hier an, so dass sich die Formulierungen überschneiden: »Strahlungen – der Autor fängt ein Licht ein, das auf den Leser reflektiert. In diesem Sinne leistet er Vorarbeit. [...] Licht heißt hier Klang, heißt Leben, das in den Worten verborgen ist«.27 Jünger übernahm das »Vorwort« in die Ausgabe der Strahlungen von 1963, die alle Tagebücher zum Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen verbindet: angefangen von Gärten und Straßen über die ursprüngliche Ausgabe der Strahlungen mit den Teilen »Pariser Tagebücher«, 22
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Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung, S. 83 f. – Bei Interpreten steht die optische Ebene im Vordergrund. Vgl. Jürgen Rausch, Ernst Jüngers Optik, Stuttgart 1950. Wieder in: Über Ernst Jünger, hg. von Hubert Arbogast, Stuttgart 1995, S. 49–72; Gottfried Boehm, Fundamentale Optik. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, hg. von Günter Figal/Heimo Schwilk, Stuttgart 1995, S. 9–24; Rainer Zuch, Kunstwerk, Traumbild und stereoskopischer Blick. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 477–493. Vgl. Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III: Das Abenteuerliche Herz, Stuttgart 1980, S. 177–330, hier S. 197. Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung, S. 86, sowie in der Zweiten Fassung, S. 198. Ernst Jünger, Lob der Vokale. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 12: Essays VI: Fassungen I, Stuttgart 1979, S. 11–46. Vgl. Heinz Paetzold, Synästhesie. In: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, hg. von Karlheinz Barck u. a. 6 Bde, Stuttgart/Weimar 2000–2005, S. 841–868. Ernst Jünger, Strahlungen I. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II: Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 16.
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»Kaukasische Aufzeichnungen« und »Kirchhorster Blätter« bis hin zu Jahre der Okkupation, die 1958 erschienen sind und die Zeit von 1945 bis 1948 behandeln. Während Jünger in den fünfziger und sechziger Jahren nur Reisetagebücher veröffentlichte, publizierte er seine Aufzeichnungen aus den Jahren von 1965 bis 1996 unter dem Titel Siebzig verweht in fünf Bänden zwischen 1980 und 1997 wiederum in chronologischer Form.28 Die Kritik der Photographie hat hier Kontinuität. Fehlende Sinnlichkeit bleibt das Argument. So heißt es in einer Eintragung der Strahlungen vom 17. Juni 1941: »Die tote Linse faßt das Eigentliche und Wunderbare nicht«.29 Selbst in den Essays zu den beiden Photo-Büchern Der Baum (1962) und Steine (1966), die in Zusammenarbeit mit Albert Renger-Patzsch entstanden sind und als späte Referenz an Blätter und Steine aufgefasst werden können, ist Jünger nicht auf die Bilder eingegangen,30 obwohl er den Photographen, der die Neue Sachlichkeit repräsentiert, seit den späten zwanziger Jahren schätzte und sich von ihm porträtieren ließ.31 Dagegen reklamierte Jünger das stereoskopische Verfahren auch für die Tagebücher, wie eine Eintragung in den Strahlungen vom 16. September 1942 zeigt. Zwar ist sie in späteren Ausgaben wieder gestrichen worden, für die Gesamteinschätzung des Werkes aber dennoch von Bedeutung. Jünger spricht von der »unstereoskopischen Bahn« des Realismus und bezieht sich wörtlich auf Formulierungen aus der »Vorrede« von Blätter und Steine: »Den ›Sizilianischen Brief an den Mann im Mond‹ sehe ich als bedeutenden Vorgriff an. Hier wurde mir deutlich, daß die Erkenntnis nicht abzuwerfen, sondern wieder einzuschmelzen ist [...]. Doch soll die Feder immer zugleich auch Pinsel sein.«32 Was aber bedeutet »stereoskopisch« für historische Ereignisse? Ich möchte von einem Beispiel ausgehen, das am 9. Mai 1939 zu Beginn von Gärten und Straßen zu finden ist: Bei immer noch kühlem und feuchten Wetter Kohl und Sellerie gepflanzt. Die Feuchtigkeit als Lebenselement. Andrang der Säfte bei gesteigertem Genuß: das Wasser, das uns vor guten Bissen im Mund zusammenläuft, die Wallung des Blutes und die Sekrete beim Liebesspiel. Wir stehen im Saft. Auch Schweiß und Tränen bedeuten, daß das Leben in tieferen Regionen der Gesundheit tätig ist. Schlimm stehts um den, der nicht mehr schwitzen und nicht mehr weinen kann.33 28
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Vgl. Jan Robert Weber, Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher, Berlin 2011 (Blaue Reihe Wissenschaft 13). Jünger, Strahlungen I, S. 255. Ernst Jünger, Der Baum. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 12: Essays VI: Fassungen I, Stuttgart 1979, S. 289–303; Ernst Jünger, Steine. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 12: Essays VI, Stuttgart 1979, S. 307–328. Vgl. Ernst Jünger/Albert Renger-Patzsch, Briefwechsel und weitere Dokumente, hg. von Matthias Schöning u. a., München 2010 (Photogramme). Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 166. Jünger, Strahlungen I, S. 46 f.
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Aus der unspektakulären Feststellung des ersten Satzes leitet Jünger also ein Grundmuster des Lebens ab, das mehrere Sinne und Triebe einschließt. Hier geht es nicht um Synästhesie allein, sondern um eine vitale Energie, die Lebensvorgänge prägt. Man könnte von einem »mythischen Kern der Geschichte« sprechen, wie Jünger sein Erkenntnisinteresse in der Notiz zu Carl Schmitt bezeichnet hatte. Es gibt für eine solche Darstellungsweise in der Tagebuch-Literatur seit dem 18. Jahrhundert keine Vorbilder. Jünger orientiert sich vielmehr an der Tradition der Chronistik, die – mit Herodot als Vorläufer – in der römischen Antike als analistisches Prinzip entstanden war, im späten Mittelalter erneuert wurde und im 16. Jahrhundert ihre Blüte hatte, bis sie mit dem Historismus im 19. Jahrhundert verschwand. Kennzeichnend ist ein serielles Verfahren der Aufzeichnung von Ereignissen, deren Deutung seit dem späten Mittelalter vom Vertrauen auf einen göttlichen Heilsplan geprägt war.34 Da die Verfasser seit der Renaissance auch persönliche Erfahrungen und Auffassungen mitgeteilt haben, kam es zur Mischform der Chronik-Tagebücher, von denen Jünger Anregungen bezogen haben könnte.35 Schon dem 1925 erschienenen Wäldchen 125 gab er den Untertitel »Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918«.36 Eine der ersten Eintragungen in Gärten und Straßen beginnt mit einer Notiz, die entsprechende Lektüren voraussetzt: »Traum. Ich hörte im Chronikstil erzählen oder hatte das Gefühl, daß vor mir das Titelblatt einer alten Chronik aufgeschlagen würde«.37 1989 hat der fast 95-Jährige ein Geleitwort für die Dorfchronik seines Wohnorts Wilflingen verfasst, in dem er sein gegenwartsbezogenes Interesse an chronistischen Darstellungen betont: »Für den Nachdenklichen bilden Geschichtsbücher und Chroniken auch Beispielsammlungen. Denn wenn sich in der Geschichte auch nichts wiederholt, so ereignet sich doch immer wieder Ähnliches, so daß man für die eigene Situation manches lernen kann«.38 Fünfzig Jahre zuvor hatte Jünger die Idee in der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzen unter der Überschrift »Historia in nuce« bereits skizziert: »Wo die Annalen, wie etwa bei Tacitus, den hohen Rang erreichen, der sie zum Vorbild für Zeiten und Völker erhebt, verbirgt sich hinter der Aufzeichnung ein besonderer geistiger Akt. Es geht hier der Schilderung aufeinander folgender Ereignisse die 34
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Vgl. Encyclopedia of the Medieval Chronic, 2 Bde, hg. von Graeme Dunhy, Leiden 2010. Vgl. Gustav René Hocke, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten, Frankfurt/M. 1991 (Fischer Taschenbücher 10883), S. 45–64. – Die erste Ausgabe des Buches erschien 1963. Jünger kannte Hocke. Seit 1940 standen sie in brieflicher Verbindung, 1968 trafen sie sich in Rom. Vgl. Im Haus der Briefe. Autoren schreiben Ernst Jünger 1945–1991, hg. von Detlev Schöttker/Anja Hübner, Göttingen 2010 (Marbacher Schriften NF 8), S. 121 f. Ernst Jünger, Das Wäldchen 125. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 1: Tagebücher I: Der Erste Weltkrieg, Stuttgart 1978, S. 301–438. Jünger, Strahlungen I, S. 35. Ernst Jünger, Strahlungen V. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 22: Späte Arbeiten, Verstreutes, Aus dem Nachlass, Stuttgart 2003, S. 9–214, hier S. 414.
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Ermittlung ihrer außerhalb der Zeit gelegenen Bedeutung voraus. Auf diese Weise wird die Geschichte durchsichtig«.39 In Gärten und Straßen verwendet Jünger für diese überzeitliche Konzeption den Begriff »Urgeschichte«, der der Formel vom »mythischen Kern der Geschichte« entspricht: »Das ist der Sinn der ›Urgeschichte‹ überhaupt: das Leben in seiner zeitlosen Bedeutung darzustellen, während es durch die Geschichte im zeitlichen Ablauf geschildert wird. Urgeschichte ist daher immer die Geschichte, die uns am nächsten liegt, Geschichte des Menschen an sich«.40 Dass Jünger hier einen Grundgedanken der Chronistik aufnimmt, zeigen Überlegungen Walter Benjamins, die in der modernen Theorie der Geschichtsschreibung ebenfalls eine Ausnahme bilden.41 In einer 1929 verfassten, aber nicht veröffentlichten Arbeit über Johann Peter Hebel unterscheidet Benjamin zwischen dem »Historiker«, der sich an der »Weltgeschichte« orientiere, und dem »Chronisten«, dem es um den »Weltlauf« gehe. »Der echte Chronist«, so Benjamin, »schreibt mit seiner Chronik zugleich dem Weltlauf ein Gleichnis nieder.«42 In dem Aufsatz Der Erzähler (1936) wird die Idee wie folgt ausgeführt: »Der Historiker ist gehalten, die Vorfälle, mit denen er es zu tun hat, auf die eine oder andere Art zu erklären; er kann sich unter keinen Umständen damit begnügen, sie als Musterstücke des Weltlaufs herzuzeigen. Genau das aber tut der Chronist.«43 Die Chronistik steht damit im Gegensatz zur Geschichtsschreibung des Historismus, die auf die Erklärung einmaliger Erscheinungen in ihrem zeitlichen Zusammenhang zielt.44 Siegfried Kracauer hat in seinem Aufsatz Die Photographie (1927) auf die Verwandtschaft zwischen Photographie und Historismus hingewiesen (»Dem Historismus geht es um die Photographie der Zeit«) und daraus die Forderung nach einer physiognomisch orientierten Geschichtsdarstellung abgeleitet: »Damit die Geschichte sich darstelle, muß der bloße Oberflächenzusammenhang zerstört werden, den die Photographie bietet.«45 An welche Vorbilder Kracauer gedacht hat, bleibt nicht nur hier, sondern auch in seinem letzten, unvollendet gebliebenen Buch History offen, das 1969 aus dem Nachlass erschienen ist und die Überlegungen des frühen Photographie-Aufsatzes weiterführt.46 39 40 41
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Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung, S. 324 f. Jünger, Strahlungen I, S. 94. Vgl. Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, hg. von Fritz Stern/Jürgen Osterhammel, München 2011. Walter Benjamin, Johann Peter Hebel. In: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Herrmann Schweppenhäuser, 7 Bde., Bd. II, Frankfurt/M. 1980 (werkausgabe edition suhrkamp), S. 635–640, hier S. 637 f. Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Herrmann Schweppenhäuser, 7 Bde., Bd. II, Frankfurt/M. 1980 (werkausgabe edition suhrkamp), S. 438–465, hier S. 451. Vgl. Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus, München 1992. Siegfried Kracauer, Die Photographie (1927). Wieder in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M. 1977 (suhrkamp taschenbuch 371), S. 21–39, hier S. 27. Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, In: ders.: Werke in neun Bänden, Bd. 4, hg. von Ingrid Belke, Frankfurt/M. 2009.
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Der Chronist als zweifelhafter Zeuge In seinem Buch Die Autorität des Zeugen hat Peter Trawny die Bedeutung von Jüngers Tagebüchern auf dessen Vertrautheit mit den geschilderten Ereignissen zurückgeführt: »Der Autor bezeugt seinen Text mit seiner Existenz. Dadurch realisiert sich die Autorität als eine gewisse Verantwortung für das, was sie repräsentiert.«47 Für die Strahlungen gilt das freilich nur bedingt. Zwar ist hier vieles festgehalten, was andere allenfalls gehört oder gesehen haben. Doch zeigen Analysen einzelner Stellen, dass Jünger häufiger Fakten weggelassen, Namen verändert oder Vorgänge metaphorisiert hat, um Betroffene zu schonen oder Deutungen zu forcieren.48 Dies gilt nicht nur für kriegsbedingte Vorgänge wie die Beobachtung einer angeblichen Bombardierung der Stadt am 27. Mai 1944 vom Balkon eines Hotels, der sogenannten Burgunderszene,49 sondern auch für seinen Alltag in Paris, der nicht nur aus den geschilderten Vergnügungen wie Bücherkäufen, Damenbekanntschaften und Restaurantbesuchen, sondern auch aus der aktiven Mitwirkung an der Okkupation eines Landes bestand.50 Jünger selbst hat die Kritik an den Aufzeichnungen durchaus kalkuliert, wie das Vorwort zu den Strahlungen zeigt: »Von einer Reihe von Stellen weiß ich, da ich die Kritik von heute kenne, daß ihr Stoff zu Angriffen gegeben wird. Das gilt besonders für das Fürchterliche; und die Versuchung, durch Retuschen den Text zu mildern, lag auf der Hand. Doch sah ich davon ab, da ich dem Leser eine Idee des Ganzen vermitteln will«.51 Was mit »Idee des Ganzen« gemeint ist, bleibt unklar, da eine detaillierte Chronik nicht geplant war. Dies zeigt auch ein Vorgang, den Jünger in den Strahlungen erwähnt und in seiner Schrift Zur Geiselfrage dokumentiert hat. Während das Original offenbar 1944 beim Rückzug der deutschen Wehrmacht aus Frankreich vernichtet wurde oder verloren ging, fand sich eine Durchschrift in Jüngers Archiv, die Sven Olaf Berggötz 2003 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte ediert und später in erweiterter Form als Buch veröffentlicht hat.52 Geschildert wird hier die Geschichte von Anschlägen der Résistance, bei denen deutsche Soldaten getötet wurden, und die Reaktionen Hitlers, der jeweils die Hinrichtung inhaftierter Widerstandskämpfer forderte. Die Exekutionen sind in mehreren Fällen durchgeführt worden, stießen aber auf Widerspruch hoher deutscher 47
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Peter Trawny, Die Autorität des Zeugen. Ernst Jüngers politisches Werk, Berlin 2009 (Blaue Reihe Wissenschaft 7), S. 20 f. Vgl. Ernst Jünger in Paris, hg. von Tobias Wimbauer, Hagen-Berchum 2011 (Bibliotope 6); Detlev Schöttker, »Gefährlich leben!«. Zum Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger. In: Sinn und Form, 63, 2001, H. 4, S. 437–447, hier S. 441 ff. Jünger, Strahlungen II, S. 271. Vgl. Allan Mitchell, The Devil’s Captain. Ernst Jünger in Nazi Paris 1941–1944, New York/Oxford 2011. Jünger, Strahlungen I, S. 22. Ernst Jünger, Zur Geiselfrage. Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen, hg. von Sven Olaf Berggötz, mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff, Stuttgart 2011.
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Offiziere in Paris, wie Jünger am 23. Februar 1942 in den Strahlungen mitteilt.53 Zu ihnen gehörte auch der Militärbefehlshaber Otto von Stülpnagel, der Jünger den Auftrag zur Abfassung der Schrift erteilte, bevor er im Februar 1942 um seine Abberufung aus Frankreich bat und sein Vetter Carl-Heinrich von Stülpnagel zum Nachfolger ernannt wurde. Ein Sonderfall, über den Jünger ebenfalls berichtete, war die Exekution von 48 Widerstandskämpfern am 22. Oktober 1941 in Nantes. Es handelt sich um die Reaktion auf einen Anschlag der Résistance, bei dem zwei Tage zuvor ein Soldat der deutschen Wehrmacht erschossen worden war. Im Unterschied zu den vorausgehenden Hinrichtungen hat Jünger in diesem Fall die Abschiedsbriefe der erschossenen Geiseln übersetzt und seiner Darstellung als Anhang hinzugefügt, sodass menschliche Schicksale hinter den Zahlen erkennbar werden. Mit der Übersetzung begann er offenbar, bevor ihm der Auftrag für die GeiselSchrift erteilt wurde. Am 8. Dezember 1941, also sechs Wochen nach der Hinrichtung, heißt es in den Strahlungen zu den »Abschiedsbriefen der Geiseln, die in Nantes erschossen worden sind«, ohne weitere Angaben: »Sie fielen mir mit den Akten in die Hände, und ich will sie sichern, da sie sonst vielleicht verloren gehen. Die Lektüre kräftigte mich. Der Mensch scheint in dem Augenblick, in dem man ihm den Tod verkündet, aus dem blinden Willen herauszutreten und zu erkennen, daß der innerste aller Zusammenhänge die Liebe ist. Außer ihr ist vielleicht der Tod der einzige Wohltäter auf dieser Welt«.54 Die Aufzeichnung irritiert. Denn Jünger interessierte sich nur für die zeitübergreifende Bedeutung der Briefe, wie eine weitere Aufzeichnung zwei Tage später bestätigt.55 Über Details gibt er keine Auskunft, sodass die Abläufe nicht nachvollziehbar sind. Da er im Stab des Militärbefehlshabers für die Briefzensur zuständig war,56 dürften ihm die Briefe bald nach den Hinrichtungen zugegangen sein. Bekannt ist aber weder die ursprüngliche Anzahl der Briefe, von denen Jünger 36 überliefert hat, noch, ob die Adressaten, also Ehefrauen, Verwandte, Freunde und Bekannte, diese bekommen haben.57 Und unklar ist schließlich, welche Eingriffe Jünger bei der Übersetzung vorgenommen hat. Denn die Briefe spiegeln nicht nur die menschliche Größe der Verfasser wider, sondern haben eine poetische Qualität, die im Gegensatz zur literarisch wenig ambitionierten Darstellung der Sachverhalte steht. Eine Gelegenheit zur Ergänzung hätte Jünger gehabt. Denn am 24. September 1945, also wenige Monate nach Ende des Krieges, ist er in den Strahlungen nochmals auf die Briefe aus Nantes eingegangen. Wieder hebt er nur die überzeitliche 53 54 55 56 57
Jünger, Strahlungen I, S. 308 f. Jünger, Strahlungen I, S. 282. Jünger, Strahlungen I, S. 283. Vgl. Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 497 ff. Erhalten blieb offenbar nur das Schreiben von Guy Môquet, der in Frankreich zum Nationalhelden wurde. Es ist in der Edition (Anm. 52) als Faksimile abgebildet.
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Bedeutung hervor. Anlass war eine Anfrage des Auftraggebers Otto von Stülpnagel, sodass Jünger die Briefe erneut las: Die Lektüre ergriff mich aus einem besonderen Grund. Ich hatte meiner Schilderung die Übersetzung der Briefe angehängt, in denen die Opfer von Nantes unmittelbar vor dem Tod ihren Nächsten Lebewohl sagten. Sie spiegeln die Größe, die der Mensch gewinnt, wenn er den Willen verabschiedet, die Hoffnung aufgegeben hat. Da steigen andere Signale auf. Nun verlieren sich Furcht und Haß; das ungetrübte Bild des Menschen tritt hervor. Die Welt der Mörder, der grimmigen Rächer, der blinden Massen und Landpfleger versinkt im Dunkel; ein großes Licht wirft seinen Schein voraus.58
Veröffentlicht hat Jünger die Aufzeichnung 1958 im letzten Teil der Strahlungen. Das Vorwort schwächt den chronistischen Anspruch ab und gesteht »Lücken« und »Streichungen« ein.59 Das gilt zweifellos auch für die Hinrichtungen in Nantes, wie Volker Schlöndorffs Film Das Meer am Morgen deutlich werden lässt, der im Februar 2012 Premiere hatte. Er erzählt die Geschichte der Massenexekution und stützt sich auf Jüngers Schrift Zur Geiselfrage sowie Hinweise in den Strahlungen. Als Person wird Jünger (gespielt von Ulrich Matthes) zum Bestandteil der Filmhandlung, weil das Drehbuch den Auftrag zur Abfassung der Schrift in die Zeit der Auseinandersetzung um die Vorgänge in Nantes verlegte, also zeitlich vorzog. Wichtiger als die Diskussionen über die Geiselerschießungen im Pariser Generalstab sind jene Teile des Films, in denen vergegenwärtigt wird, was Jünger verschwiegen hat, aber natürlich kannte, wenn man an das Protokoll zur Erschießung eines Deserteurs am 29. Mai 1941 in den Strahlungen denkt:60 die Wehleidigkeit der Offiziere, die menschenverachtende Befehle missbilligen, von Untergebenen aber ausführen lassen; die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht und Kollaborateuren in der französischen Verwaltung, die zwar Vorbehalte gegen die Erschießung äußern, sich den Anweisungen aber widerstandslos beugen; und schließlich die straffe Organisation der Massenexekution durch Soldaten, die als Tötungsmaschinen fungieren. Durch die eindringliche Darstellung dieser Vorgänge lässt der Film nicht zuletzt deutlich werden, dass die Forschung davon abrücken muss, sich mit Marginalien wie der Burgunderszene zu beschäftigen, wenn sie Jüngers Tätigkeit während der Besatzungszeit in Paris darstellen und seinen Status als Chronist angemessen beurteilen will. Den Stärken der tiefen Blicke, so lässt sich nach Schlöndorffs Film sagen, stehen erhebliche chronistische Mängel gegenüber.
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Ernst Jünger, Strahlungen II. Die Hütte im Weinberg. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd.3: Tagebücher III: Strahlungen III, Stuttgart 1979, S. 554. Ernst Jünger, Vorwort zu ›Jahre der Okkupation‹. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 22: Späte Arbeiten, Verstreutes, Aus dem Nachlass, Stuttgart 2003, S. 383–385, hier S. 385. Vgl. Jünger, Strahlungen I, S. 244 ff.
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Literatur Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Herrmann Schweppenhäuser, 7 Bde., Bd. II, Frankfurt/M. 1980 (werkausgabe edition suhrkamp). Boehm, Gottfried: Fundamentale Optik. In: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, hg. von Günter Figal/Heimo Schwilk, Stuttgart 1995, S. 9–24. Bohrer, Karl Heinz: Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978. Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, hg. von Claudia Schmölders, Berlin 1996. Encyclopedia of the Medieval Chronic, 2 Bde, hg. von Graeme Dunhy, Leiden 2010. Ernst Jünger in Paris, hg. von Tobias Wimbauer, Hagen-Berchum 2011 (Bibliotope 6). Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, hg. von Claudia Schmöders/Sander L. Gilman, Köln 2000. Hocke, Gustav René: Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten, Frankfurt/M. 1991 (Fischer Taschenbücher 10883). Im Haus der Briefe. Autoren schreiben Ernst Jünger 1945–1991, hg. von Detlev Schöttker/ Anja Hübner, Göttingen 2010 (Marbacher Schriften NF 8). Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus, München 1992. Jünger, Ernst/Renger-Patzsch, Albert: Briefwechsel und weitere Dokumente, hg. von Matthias Schöning u. a., München 2010 (Photogramme). Jünger, Ernst: Kriegstagebuch 1914–1918, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010. Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg. kommentiert u. mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Stuttgart 1978–2004. Jünger, Ernst: Zur Geiselfrage. Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen, hg. von Sven Olaf Berggötz, mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff, Stuttgart 2011. Kierlinger, Thomas: Der schlafende Logiker. Ernst Jünger und der europäische Surrealismus (1975). In: Über Ernst Jünger, hg. von Hubert Arbogast, Stuttgart 1995, S. 137–163. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007. Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M. 1977 (suhrkamp taschenbuch 371). Kracauer, Siegfried: Geschichte – Vor den letzten Dingen. In: ders.: Werke in neun Bänden, Bd. 4, hg. von Ingrid Belke, Frankfurt/M. 2009. Meyer-Kalkus, Reinhart: Der gefährliche Augenblick. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 2/1, Berlin 2004, S. 54–77, Mitchell, Allan: The Devil’s Captain. Ernst Jünger in Nazi Paris 1941–1944, New York/ Oxford 2011. Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, hg. von Fritz Stern/ Jürgen Osterhammel, München 2011. Neues Sehen in Berlin. Fotografie der zwanziger Jahre, Katalog zur Ausstellung »Neues Sehen in Berlin – Fotografie der Zwanziger Jahre«, Kunstbibliothek, Museum für Fotografie, Staatliche Museen zu Berlin, 16. September bis 20. November 2005, hg. von Christine Kühn, Berlin 2005. Neumann, Michael: Eine Literaturgeschichte der Photographie, Dresden 2006 (Kulturstudien 4), S. 221–254. Paetzold, Heinz: Synästhesie. In: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u. a. 6 Bde, Stuttgart/Weimar 2000–2005, Bd. 5, S. 841–868. Prümm, Karl: Gefährliche Augenblicke. Ernst Jünger als Medientheoretiker. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 349–370.
Tiefe Blicke – Ernst Jüngers Chronistik
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Michael Titzmann
Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen (1939) Interpretation vs. Applikation Diesen seltsamen – wenn auch durchaus spannenden – Text1 heute zu lesen, ist wie eine Begegnung mit einem Dokument einer fremden, seit langem verschollenen Kultur, mit der uns kaum noch etwas verbindet. Man mag kaum glauben, dass der Text erst etwa 80 Jahre alt ist und sich in der Nachkriegszeit noch lange erstaunlich vieler Auflagen erfreute. Unübersehbar beanspruchte er, ein außerzeitliches Weltmodell zu liefern; stattdessen ist er historisch geworden. Sein Erfolg in der alten BRD bis tief in die Nachkriegszeit hinein2 verdankt sich wohl unzweideutig einem Selbstrechtfertigungsbedürfnis derer, die das sogenannte ›Dritte Reich‹ erlebt hatten und sich von jeder Mitschuld absolviert wissen wollten: zu welchem Behufe man sich das Schlagwort von der ›inneren Emigration‹ erfunden hatte, das unser Text hervorragend zu bedienen schien.3 Denn es war schließlich nicht zu übersehen, dass Auf den Marmorklippen in der Tat als antinationalsozialistisch gelesen werden konnte und durfte. Den Wunsch der Selbstexkulpierung hat Jünger dann nach Kriegsende, stellvertretend für alle, offenbar auch theoretisch – in Der Gordische Knoten4 1953 – befriedigt, wo er anscheinend, wie viele andere, den ›kalten Krieg‹ zur Uminterpretation der deutschen Vergangenheit funktionalisiert, indem er eine Opposition »westliche Zivilisation« vs. »östliche/ asiatische Barbarei«, angeführt von »den Russen«, mit rassistischen Implikationen 1
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Wenn nicht anders angemerkt, zitiere ich ihn nach der ersten Auflage 1939/1941 (Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen, Hamburg 1939/1941). Zumindest was die von mir zitierten Stellen anlangt, habe ich keine wesentlichen Differenzen dieser Auflage zu denen von 1949 und 1960 [textgleich mit der Taschenbuchausgabe von 1992: Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen, Frankfurt/M./Berlin 1992 (Ullstein Taschenbuch 22947)] feststellen können. Was die Literatur zu den Marmorklippen betrifft, kenne ich nur die Forschungsberichte von Helmuth Kiesel, Ernst Jüngers ›Marmorklippen‹. Renommier- und Problembuch der 12 Jahre, IASL online Archiv (23. 5. 2000) und von Steffen Martus, Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 333). Ich werde somit voraussichtlich einiges wiederholen, was schon gesagt wurde; da es mir aber auf die Korrelationen der textinternen Größen ankommt, wäre ich solcher Wiederholung von schon Bekanntem ohnedies nicht entgangen. 1992 erscheint eine Taschenbuch-Ausgabe bei Ullstein, textgleich mit der Ausgabe des Klett Verlags von 1960 und als 12. Auflage benannt. Allein bis 1960 scheint der Text schon eine Auflage von 85.000 erreicht zu haben (Martus, Ernst Jünger, S. 174). »Schien«: denn Jünger selbst hat sich davon deutlich distanziert – dazu später. Dazu Kai Köhler, Nach der Niederlage. Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und Der gordische Knoten. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 205–224; ich kenne diesen Text Jüngers nicht.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-019
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aufmacht und dem Einfluss des »Ostens« alle Gräueltaten zuschreibt;5 auch das ist letztlich nur eine Transformation älterer, durchaus bürgerlich-konservativer Modelle, wie man sie z. B. Thomas Mann »verdankt«6 (der nun freilich wirklich eine Wandlung durchgemacht hat). Ein solche Enthistorisierung der Nazi-Zeit, die deren spezifische Bedingungen und Besonderheiten verleugnet und im Konstrukt einer Opposition überzeitlicher Mächte verschwinden lässt, ist freilich keine Spezialität eines rechtsgerichteten Autors wie Jünger; ein damals als »links« geltender Autor wie Heinrich Böll hat noch 1959 in Billard um halbzehn die nun schon unerträglich alberne transhistorische Opposition von »Sakrament des Büffels« vs. solches »des Lammes« als Erklärungsmodell der unerfreulichen Vergangenheit erfunden. Was die frühe BRD nach Kriegsende anlangt, wird man davon ausgehen müssen, dass, was in der Zwischenkriegszeit positive intellektuelle und literarische Moderne war, sei es durch Exil, sei es durch Ausrottung, das ›Dritte Reich‹ nicht überstanden hat, während ein gemeinsamer Durchschnitt nationalkonservativer bzw. reaktionärer bzw. »rechtsrevolutionärer« Denkmodelle unbeschadet bis in die BRD fortlebte. Ein Autor wie Rolf Hochhuth, der sich immerhin 1963 in Der Stellvertreter mit der katholischen Kirche, in der Adenauerzeit noch mächtiger als heute, angelegt hat, was deren (zumindest!) ambivalentes Verhältnis zum Nazireich betraf, soll sogar von Jünger als »der Repräsentant der deutschen Gegenwartsliteratur« gesprochen haben,7 was man dann doch überraschend finden darf.8 Doch nun zu unserem Roman. Die von ihm dargestellte Welt wurde offenbar schon im ›Dritten Reich‹, explizit dann in nicht wenigen Interpretationen der neuen BRD als – wenn auch notgedrungen transformierende und »verfremdende« – zeichenhafte Abbildung von Strukturen und Praktiken eben dieses »Dritten Reichs« gelesen. Den interpretatorisch rekonstruierbaren Bedeutungen des Textes (den nachweisbaren Signifikaten) wurden also textexterne Entsprechungen in der biographischen Realität des Autors und in der politikgeschichtlichen Realität seiner Zeit (also Referenten der Signifikate) zugeordnet. Das ist, wenn die interpretatorischen Bedingungen dafür erfüllt sind (dazu später), eine durchaus legitime 5
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Aus diesem Geschichtsverständnis resultierte 1986 der sogenannte »Historiker-Streit«. Vgl. dazu Ulrich Herbert, München 2003. Vgl. Thomas Manns Beitrag zum ersten Weltkrieg, Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) und noch Der Zauberberg (1924). Zum Zauberberg vgl. Marianne Wünsch: Okkultismus im Kontext von Thomas Manns ›Der Zauberberg‹. In: Thomas Mann Jahrbuch 24, 2011, S. 85–104. So auf dem Einband der Ullstein-Taschenbuch-Ausgabe der Marmorklippen 1992; leider wird die Äußerung nicht datiert. Wann immer er das geäußert haben mag: es wäre in jedem Falle erstaunlich. Denn schon in den 50er Jahren hätte die deutschsprachige Literatur immerhin Autoren wie Max Frisch und Arno Schmidt aufzuweisen: Autoren, die man heute noch lesen kann. Zu Jüngers späterer Hochschätzung und Umstrittenheit in der BRD anlässlich des Goethe-Preises vgl. Lutz Hagestedt, Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises (1982). In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 167–179.
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Operation: Die erste dieser Bedingungen ist aber, dass zunächst die Bedeutungen des Textes, unabhängig von allen Annahmen über extratextuelle Kontexte und referentielle Entsprechungen, rekonstruiert werden: Erst danach kann sinnvoll über Referenten der Signifikate gesprochen werden.
1. Skizze einer Interpretation Gegeben ist in der Terminologie Stanzels eine Ich-Erzählsituation, in der Terminologie Genettes eine homodiegetische. Die namenlos bleibende Erzählinstanz hat einen Bruder namens Otho, mit dem sie ein fast symbiotisches Zusammenleben führt: Die Erzählinstanz bedient sich folglich im Regelfalle, für beide sprechend, eines »Wir«, in das zudem, von Fall zu Fall, auch alle inkludiert sind, die sich mit den Einstellungen der Brüder zu identifizieren bereit sind; »ich« sagt die Erzählinstanz nur in den wenigen Fällen, wo von Erlebnissen die Rede ist, an denen der Bruder nicht beteiligt war. Schon im ersten Satz adressiert sie sich an eine Gruppe von Rezipienten (S. 5: »Ihr alle kennt…«), die durch die Anrede als vertraute/ befreundete Personen ausgewiesen, aber nur noch einmal angesprochen werden (S. 11: »Wißt Ihr…«). Postuliert wird also ein gemeinsames Wissen: eine Menge von Einstellungen, die man teilt: nicht für jedermann wird hier erzählt, sondern für ein seligiertes, latent elitäres Publikum. Die fiktive Erzählsituation ist die mündlicher Erzählung: der privaten, vertraulichen Rede, wo man unter seinesgleichen ist; und wer den Text liest, hat die Wahl, sich in diese Gruppe integrieren zu lassen, sich mit ihr zu identifizieren. Nun spielt freilich dieses fiktive Publikum in der Folge keine Rolle mehr, nicht einmal am Textende, wo sich eine die Rede abschließende Bezugnahme auf die Adressaten anböte; auch wird nie eine Reaktion der Adressaten berichtet. Sie sind nur willfährige Hörer, die, ohne Recht auf Fragen oder Einsprüche, passiv die Mitteilungen der Erzählinstanz zur Kenntnis zu nehmen haben. Angestrebt ist Verkündigung, nicht Verständigung. Erzählt wird nun von einem »Damals« (S. 6), also einer (objektiv oder subjektiv) fernen Zeit; zwischen dem erzählten Zeitraum und dem Erzählzeitpunkt liegt also eine temporale Nullposition unbestimmten Umfangs, eine Phase, über die wir ebenso wenig Informationen erhalten wie über Zeitpunkt und Ort des Erzählens. Dieses unbestimmte »Hier und Jetzt« des Sprechens impliziert zugleich eine nicht an Ort und Zeit gebundene Aktualität und Relevanz dessen, was erzählt wird. Bezogen auf den Sprechzeitpunkt gibt es logischerweise auch eine kommende Zukunft, auf die aber keine einzige Bemerkung des Erzählers Bezug nimmt: erzählt wird nur Abgeschlossenes, und die Zukunft bleibt ebenfalls Nullposition, d. h. gänzlich offen und unbestimmt, findet aber eben wohl im Milieu Gleichgesinnter statt. Die erinnerte Vergangenheit ist die Erzählung einer Geschichte von Verlusten; so setzt unser Text ein:
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Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift. […]. Auch treten im Nachglanz die Bilder lockender hervor; wir denken an sie wie an den Körper einer toten Geliebten zurück, der tief in der Erde ruht, und der uns nun gleich einer Wüsten-Spiegelung in einer höheren und geistigeren Pracht erschauern läßt. […]. Dann will uns scheinen, als hätten wir das Maß des Lebens und der Liebe nicht bis zum Rande gefüllt gehabt, doch keine Reue bringt das Versäumte zurück. (S. 5)
Hier wie auch sonst im Text ist die »Lebensideologie« der Frühen Moderne, der für sie charakteristische Wert des »erfüllten«, des »emphatischen Lebens«, präsent9 – nur eben als die Trauer über den Verlust eines solchen Wertes bzw. die Trauer, dieses »Leben« nicht genug gelebt zu haben.10 Verlorenes und nicht »ausgelebtes« »emphatisches Leben« wird hier nun als der Körper einer toten und begrabenen Geliebten metaphorisiert, und es darf einen schaudern lassen, dass dieser dann »in einer höheren und geistigeren Pracht erschauern läßt«.11 Dem »Körper« wird also hier hierarchisch Höherrangiges, »Geistigeres«, konfrontiert: und diese Opposition zwischen einer wahrnehmbaren, materiellen Realität und einer nicht wahrnehmbaren, »geistigen« wird im Text auch weiterhin relevant werden. Die Stelle macht übrigens deutlich, dass das angesprochene Publikum offenkundig ein rein männliches ist; denn es ist in diesem »Wir« inkludiert, das die Vergangenheit als tote Geliebte erlebt wird. Wie – nicht erstaunlich! – in Jüngers Kriegsberichten, In Stahlgewittern (1920), Der Kampf als inneres Erlebnis (1922), Das Wäldchen 125 (1925), wie auch in Der Arbeiter (1932) ist in den Marmorklippen – und hier sehr wohl erstaunlich! – die dargestellte Welt eine fast ausschließlich männliche; einer Vielzahl männlicher Figuren stehen kaum weibliche gegenüber (dazu später). Aber sehen wir uns zunächst die topographische Organisation der Welt jenes »Damals« an, von der erzählt wird. Zu jener Zeit wohnen das Ich und sein Bruder in der »Rautenklause«, die auf den »Marmorklippen« liegt. Die Rautenklause ist selbst vertikal strukturiert: unten gibt es einen in den Felsen gehauenen, kellerartigen Wirtschaftsraum, in dem sich offenbar Küche, Lebensmittel, Wein befinden und dem Lampusa, eine hexenartige Alte, Wirtschafterin des Brüderpaars und zugleich Großmutter von Erio, dem Sohne des Ichs, zugeordnet ist. Im Hause befindet sich in einem Stockwerk die Bibliothek, Aufenthaltsort des Bruders Otho, ein Stockwerk darüber das »Herbarium«, Aufenthaltsort des Ich. In diesen drei Teilwelten 9
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Dazu Marianne Wünsch, Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition – Denkgeschichtlicher Kontext – Strukturen, München 1991, und Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart/ Weimar 1994. Ich weiß nicht, wann das Lexem »(etwas) ausleben«, es also »erschöpfend«, in allen seinen Möglichkeiten, »erlebt« zu haben, das erste Mal auftritt, vermutlich tatsächlich erst in der Frühen Moderne; signifikant frühe Belege finden sich jedenfalls in Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie (1908). »Nur eine tote Geliebte ist eine gute Geliebte«?
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der Rautenklause ist also die Unterwelt des Höhlenraums der Ort der elementaren Lebensbedürfnisse und zugleich – dank der Hexenhaftigkeit Lampusas – der Ort einer mythisch-magischen »Naturverbundenheit«; oben befinden sich die Räume der intellektuellen Kultur: zunächst das Stockwerk des Wissens über Kulturen – Otho erscheint denn auch als Spezialist für Mythen, Riten, Religionen; darüber das Stockwerk für kulturelle Naturbewältigung, wo man Pflanzen sammelt und klassifiziert. Vor dem Haus liegt eine Art Garten, in dem sowohl die Brüder nach eher wissenschaftlichen Prinzipien Gewächse anpflanzen und – Stifters Nachsommer (1857) lässt grüßen – botanisch mit Namensschildern klassifizieren als auch Lampusa völlig unsystematisch Samen verstreut und dennoch bessere Ernten erzielt: Was das Verhältnis zu elementarer »Natur« und botanischer Fruchtbarkeit anlangt, ist also die archaisch-vorkulturelle Hexe dem »wissenschaftlich«-kulturellen Männern überlegen. In irgendwelchen »Klüften« dieses Gartens hausen zudem Schlangen, die »Lanzenottern«, offenbar tödlich gefährliche Viecher, dominiert von einer Superschlange, der »Greifin«, die, »wie wir aus den Sagen der Wingertsbauern schlossen, seit alten Zeiten in den Klüften saß« (S. 16). Schon hier also erhält die dargestellte Welt eine mythische Dimension, verstärkt dadurch, dass zuerst Lampusa, dann der kleine Erio diesen Schlangen regelmäßig eine »Spende« bringen, indem sie sie füttern, und Erio, »kaum daß e[r] laufen konnte« (S. 14), mit ihnen in intimen körperlichen Umgang lebt. Schon hier also macht der Text klar, dass es ihm nicht – nicht nur oder nicht primär – um die »mimetische« Abbildung einer kulturell als möglich geltenden Welt geht. Die Marmorklippen scheinen der höchstgelegene Ort der dargestellten Welt, von dem aus man sowohl die im Süden als auch die im Norden gelegenen Räume überschauen kann, und sie sind zugleich die Grenze zwischen diesen beiden Teilwelten. »Auf den Marmorklippen« zu hausen, bedeutet also ein Leben auf der Grenze, mit Überblick über beide Welten, und, wie sich in der Folge zeigt, mit Kontakten in beide Welten. Die Brüder gehören folgerichtig auch keiner der beiden Teilwelten an: Ihr »Vaterhaus« steht »hoch im Norden«, jenseits der dargestellten Welt; sie sind demnach von außen in diese gekommen und in ihr Fremde. Südlich der Klippen und unter ihnen liegt zunächst die »große Marina«, ein fruchtbares Küstenland mit Landwirtschaft und Weinbau und Handel (es gibt Häfen), mit Dörfern und Städten, eine alte Kulturlandschaft: Bis dahin hatte sie [= die »alte Ordnung«] fast seit Carolus Zeiten unversehrt gewaltet, denn ob fremde Herren kamen oder gingen, immer blieb das Volk, das dort die Reben zieht, bei Sitte und Gesetz. (S. 34) Tief unten säumte die Marina ein Kranz von kleinen Städten mit Mauern und Mauertürmen aus Römer-Zeiten, hoch von altersgrauen Domen und Merowinger-Schlössern überragt. (S. 38)
Die Landschaft hat also eine Geschichte von der Antike an: kontinuierlich, was Ökonomie und moralisch-juristische Normensysteme anlangt, diskontinuierlich
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nur, was die Herrschaftsverhältnisse betrifft. Das heißt zunächst, dass Wechsel der politischen Herrschaft in diesem Raum zwar stattfand, aber keinen Ereignischarakter hatte: Er änderte die Strukturen nicht. Die Marina erscheint als alte Hochkultur, in der es denn auch Dichter und Philosophen gibt, was für keinen anderen der Teilräume in der dargestellten Welt gilt. In der Campagna gibt es freilich eine Art »Naturpoesie«, da die Hirten beim abendlichen gemeinschaftlichen Trunk gelegentlich ihre Blutrachetaten besingen. Im Raum der Marina herrscht auch eine Synchronie historisch diachroner Religionssysteme. Die Brüder verkehren dort mit einem Pater Lampros, auch er, wie die Brüder, Botanik-Spezialist, der im Kloster der »Maria Lunaris«12 haust und bei den Christen in hohem Ansehn stand […]. Doch liebten ihn auch solche, die an den Zwölf Göttern hingen, oder die aus dem Norden stammten, wo man die Asen in weiten Hallen und umzäunten Hainen ehrt. (S. 73)
In der Marina koexistieren also christliche, antike, germanische Mythologien, mit einer Dominanz des Christentums, dem freilich die Brüder offenkundig nicht angehören. Jenseits und südlich des Meeres liegt das Gebirgsland von »Alta Plana«, ein mit Fruchtbarkeit und Reichtum der Marina verglichen eher kargen Land, bewohnt und beherrscht von freien Bauern, die einem Germanentum, wie es sich das 19. Jahrhundert vorstellte, angenähert werden: Da liegt ein »Hof im altem Eichenhain« (S. 156), da findet sich am »breiten Giebel der Pferdekopf« (S. 157). Nördlich der Marmorklippen liegt zunächst die »Campagna«, offenbar ein steppenartiges Weideland, besiedelt von partiell sesshaften, partiell nomadischen Hirten, organisiert in patriarchalisch geleiteten Clans (»Sippen«): eine eher archaische Kultur, in der es keine staatlichen Strukturen und keine übergreifenden Institutionen gibt und in der statt eines Gesetzes die Normen von »Ehre« und »Blutrache« gelten: »ein rohes Gefühl für Recht und Billigkeit, das ganz auf die Vergeltung zugeschnitten war« (S. 41). Auch verehrt man archaische Hirten- und Gartengötter. Die Campagna scheint in einer – freilich lockeren – Abhängigkeit von der Marina zu stehen. Diese drei Teilräume repräsentieren jedenfalls zugleich »Kulturstufen«: »Campagna ≈ Hirtenkultur ≈ Wildheit« < »Alta Plana ≈ Bauernkultur ≈ Freiheit« < »Marina ≈ Stadtkultur ≈ Rechtsstaat (≈ Freiheitsbegrenzung)«, womit zugleich unterschiedliche Religionsformen und unterschiedliche Rechtssysteme korreliert sind. Während Campagna und Alta Plana als historisch invariant erscheinen, hat die Marina eine (Kultur-)Geschichte. Für Jünger ganz wichtig – für ihn schließ12
Im Text (S. 67) wird sie auch als »Falcifera« benannt, also als »sicheltragende«; laut Text steht sie zwar auf einer Mondsichel, aber ohne eine Sichel zu tragen. Mit der goldenen Sichel wird in Besuch auf Godenholm (1952) die Mistel aus der Eiche geschnitten (vgl. Ernst Jünger, Besuch auf Godenholm. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 15: Erzählende Schriften I: Erzählungen, Stuttgart 1978, S. 363–420, hier S. 415). Wir kennen das Motiv aus dem zweiten (bzw. fünften) Band der »Asterix«-Reihe (vgl. René Goscinny und Albert Uderzo, La Serpe d’or, Paris 1962).
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lich ein Dauerthema – sind natürlich auch die unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Gewalt und Kampf: Wie die Männer von Alta Plana interne Konflikte regeln, bleibt offen, aber sie sind imstande, in einem Krieg erfolgreich ihre Freiheit zu verteidigen; die Hirten der Campagna tragen ihre Konflikte mit privater Gewalt aus, können aber mangels politischer Organisation Aggressionen von außen nicht widerstehen; in der Marina gilt ein rechtstaatliches Gewaltmonopol, es gibt eine – nicht präzisierte, aber wohl eindeutig nicht demokratische – politische Organisation, aber die Verteidigung gegen äußere Feinde hat man einem Söldnerheer übertragen, das die Marina bei der Aggression von außen verrät; dass die Marina ein Söldnerheer unterhält, statt sich selbst zu verteidigen, darf in der Logik des Textes wohl als Anzeichen einer latenten Dekadenz gelten. Als überlebensfähig erweist sich am Ende nur Alta Plana, während Campagna und Marina unter dem feindlichen Ansturm zusammenbrechen. Nördlich der Campagna liegt aber noch ein weiterer Raum: ein Sumpfland, an das sich ein Hochwald anschließt – ein Territorium, in dem »blutige Tyrannis« (S. 40) herrscht: das absolutistische Regime des »Oberförsters«. Dessen Herrschaftsraum aus Sumpf und Wald hat nun seltsam paradoxe Merkmale. Was seine Population anlangt, besteht der Raum zum einen aus »Förstern« und »Jägern«, innerhalb derer zwei Klassen unterscheiden werden: die »weidgerechten« Jäger, solche also, die sich, was die Art der gejagten Tiere und die Art des Jagens anlangt, offenbar an traditionelle Normen von »Jägertum« halten, und die »niederen Jäger«, die gegen solche Regeln verstoßen und u. a. sinnlos Tiere quälen und töten. Einerseits ist dieser Raum also der einer noch älteren Kulturstufe als der der Hirten, nämlich einer Kultur der Jäger; und vom Oberförster wird gesagt, er hasse Ackerbau, Viehzucht und jede Form von gehobener Zivilisation und intellektueller Kultur (S. 55 f.). Andererseits aber ist er eben Oberförster und Chef von Förstern, somit eben nicht Mitglied einer primitiven Jägerkultur in einem urwüchsigen Naturraum, sondern im Gegenteil Mitglied einer Kultur, die sich »Natur« zu unterwerfen und sie zu »kultivieren« sucht. Einerseits lebt er im Naturraum »Wald«, wenn auch in einem »Schloss«, andererseits besitzt er ein »Stadthaus« und daneben »kleine Häuser vor den Toren« (S. 60), also das, was im französischen »ancien régime« vor der Revolution von 1789 »petites maisons« hieß und außersozialen, nicht zuletzt erotischen Treffen diente. Einerseits ist er »Oberförster«, andererseits ungeheuer reich. Und einerseits verkehrt er in der Gesellschaft des elitären Clubs der »Mauretanier«, von denen er sich andererseits als fremdartig deutlich abhebt: Im Opposition zu diesen gehört er zu den »Autochthonen« (S. 33) – den ErdgeborenErdverbundenen, den Ureinwohnern, den »alten Kennern der Macht« (S. 33). Und während er im städtischen Milieu mit anderen auf gleicher Ebene verkehrt, herrscht er in seinen Wäldern tyrannisch-uneingeschränkt, und alle Bewohner seines Herrschaftsgebiets sind »dem Alten leibeigen« (S. 59), also letztlich seine Sklaven. Zum anderen aber ist der Herrschaftsraum des Oberförsters von sozial devianten Personen unterschiedlichster Art bevölkert. Er ist – und das offenbar seit ewigen
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Zeiten – ein Zufluchtsraum aller aus irgendeiner Kultur Ausgestoßenen (folglich derer, die in Wald und Sumpf Nicht-»Autochthone« sind), die hatten fliehen müssen und vom Oberförster geduldet werden: Mitglieder fremder Ethnien (»Hunnen, Tataren, Zigeuner«), unterdrückter Glaubenssysteme (»Albigenser und ketzerische Sekten aller Art«), Verbrecher (u. a. »Räuberbanden«) und Huren, Okkultisten (»die Magier und Hexenmeister«, »Eingeweihte, Venediger und Alchimisten«) (S. 57), aber auch »die zierlichen Betrüger […], die man selbst an Fürstenhöfen trifft« (S. 58), und auch der mit dem Gesetz in Konflikt geratenen Dichter »Meister [François] Villon« [1431 – nach 1463],13 schließlich sogar »der Pfeifer von Hameln« (S. 58). Und aus diesem Raum kehren sie auch wieder in die »normalen« Gesellschaften zurück, um in dieser ihre verwerflichen Praktiken auszuüben: Was immer aus der Welt in ihnen untertauchte, das gaben diese Wälder mit Zins und Zinseszins aus ihrem Schoß zurück. (S. 58).
Halten wir zunächst fest, dass hier alle Klassen von Abweichungen – ethnische, religiöse, okkultistische, kriminelle – als äquivalent gesetzt und negativ gewertet werden: Sie alle sind demnach gleichermaßen »Fremdkörper« in und Bedrohungen von »normalen« Gesellschaften. Wenngleich jetzt also der Oberförster diesen Raum beherrscht, hat er doch immer schon als Zufluchtsort und Brutstätte von »Asozialen« existiert. Und in diesem Raum gibt es nicht nur Herrschaft, sondern auch eine soziale Organisation: unser Text spricht von »den schlimmen Zünften« (S. 58), also einer dem traditionellen Handwerk ähnlichen Struktur mit einer hierarchischen Ordnung; auch unterwerfen sie sich dem Oberförster. Auch das »Asoziale« ist nicht »außersozial«; selbst die scheinbare Anarchie ist organisiert: Sie ist also eigentlich eine »Gegengesellschaft«. Das wiederum bedeutet, dass der Text diesem Raum keinen »Naturzustand« (im Sinne von Thomas Hobbes’ Leviathan, 1651), keinen Zustand außerhalb von Macht und hierarchischer Ordnung zuschreibt: Immer und überall gibt es hier schon Herrschaft. Das Territorium des Oberförsters besteht nun eben nicht nur aus dem Wald, sondern auch aus dem Sumpf. Spätestens seit Goethes Faust. Der Tragödie zweiter Teil (1831) (V. 11559 ff.) ist »Sumpf« nun semantisiert: »Sumpf« ist hier bekanntlich ein Naturraum, der durch Trockenlegung der Kultur als Lebensraum für Menschen zu erobern ist. Aber »Sumpf« hat noch mindestens eine zweite wichtige Semantisierung durch Bachofens 13
Vgl. Villons bedeutende Dichtungen: Œuvres (1962). Mir ist nicht bekannt, ob Jünger Villon im Original oder nur z. B. in den Nachdichtungen Paul Zechs (1931) gekannt hat. Der Autor tritt bei Jünger als Typus, als »Vagabund« (vgl. Ernst Jünger, Gärten und Straßen. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II, Strahlungen I, Stuttgart 1980, S. 25–221, hier S. 130) oder »Vagant« (vgl. Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1999, S. 58) auf, weniger mit seinem Werk. In den Kontext Villons gehören auch jene »Coquillards«, die als Teilgruppe der Asozialen erwähnt werden (S. 38): es handelt sich um kriminelle französische Banden des 15. Jahrhunderts (vgl. dazu Wikipedia, die Artikel »Villon« und »Coquillards«; eingesehen am 28. 10. 2011).
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Mutterrecht (1861) erfahren:14 Er ist der Ort anarchischer, weiblich-selbstbestimmter, normfreier Sexualität, wovor es dem 19. Jahrhundert (und – vermutlich – auch unserem Autor) gar fürchterlich graut.15 In den Wäldern des Oberförsters seien nun bisweilen »Weiber von erlesener Schönheit« (S. 59) aufgewachsen, seine »Odalisken« (S. 60), also quasi Haremshuren, die er gelegentlich Vertrauten nackt vorführt und die er auch als »Lockvögel« zur Verführung vergeistigter Männchen aus dem Mauretanierkreise eingesetzt habe, die dadurch untergegangen seien: Wer sich den trügerischen Blüten, die dem Sumpf [sic!] entsprossen waren, nahte, verfiel dem Banne, der die Niederung regiert […] – denn in solchen Ränken verfängt am ersten sich der hohe Sinn. (S. 60)
Auch sonst pflegt der Oberförster offenbar, was man einst »sexuelle Ausschweifung« nannte; so gibt es an seinem Hofe etwa auch »Spintrier« (S. 54).16 In diesem – ideologischen – »Sumpf« transformiert sich auch die (in diesem Falle antike) Religion: …so die Diana, die in den Sümpfen zu wilder Fruchtbarkeit entartet [sic!] war und dort mit traubenförmigen Behängen von goldenen Brüsten prunkte, und so die Schreckensbilder, die mit Klauen, Hörnern und Zähnen Furcht erregen und Opfer fordern, wie sie der Menschen nicht würdig sind. (S. 61)17 Aufgrund seiner paradoxen Struktur – der Kombination scheinbar unvereinbarer Merkmale, was die Person des Oberförsters und die Populationen betrifft – fügt sich der Raum des Oberförsters dem vom Text entworfenen Modell der Kulturstufen (Hirtenkultur < Bauernkultur < Stadtkultur) scheinbar nicht ein: Denn einerseits repräsentiert er einen Zustand, der kulturtypologisch noch vor der Hirtenkultur läge (Jägerkultur), andererseits einen Zustand, der typologisch einer Hochkultur zuzurechnen wäre (Förster, Luxus und Ausschweifungen des Oberförsters, Kriminelle jeder Art usw.) – zugleich »Regression« in »Primitivität« als auch »Degeneration« von »Kultur«, einerseits primitivste 14
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Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt, Stuttgart 1861. Auswahl hg. von Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt/M. 1975 (Suhrkamp Theorie Wissenschaft 135). »Die aphroditisch-hetärische Geschlechtsverbindung kennt nur eine Mutter. Sie gründet die Gynaikokratie auf die gänzliche Beseitigung des Vaters und auf die tiefste Erniedrigung des der Regellosigkeit des Sumpflebens hingegebenen Weibes.« (Bachofen, Das Mutterrecht, S. 256). Man hört förmlich die mindestens ebenso sexuelle wie moralische Erregung des Autors… Diese Gruppe kennt man aus Suetonius’ Leben der Caesaren (Kap. »Tiberius«, 43): »In diesem [Raum] mußten Scharen von überallher zusammengesuchten Mädchen und Lustknaben und Erfinder allerart widernatürlicher Unzucht, die er »Spintriae« nannte, in Dreiergruppen mit einander Geschlechtsverkehr treiben.« (Gaius) Suetonius (Tranquillus), Leben der Caesaren, übersetzt und hg. von André Lambert, Reinbek 1960 (Rowohlts Klassiker 76–78), S. 137. Solche Phantasien von »Sümpfen«, die die ideologische Integrität des »deutschen Mannes« bedrohen, finden sich offenbar auch in jener Literatur, die Klaus Theweleit (ders., Männerphantasien. 2 Bde, Frankfurt/M. 1977/78) analysiert hat.
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Gewalt, andererseits raffinierteste Subversion. Dieser Raum vertritt alles, was in der Kulturentwicklung früher überwunden bzw. später ausgeschieden worden ist. Soweit die Teilräume der dargestellten Welt. Alle dargestellten Räume sind nun offenbar semantische Räume:18 topographische Räume, die semantisiert werden, indem ihnen zusätzlich nicht-räumliche Merkmale zugeordnet werden. Eine Überschreitung der Grenzen zwischen diesen Räumen durch eine Figur hat folglich Ereignischarakter: dazu später. Doch über diese Räume hinaus wird eine große Menge weiterer Räume genannt, aus denen erwähnte Objekte oder Figuren stammen oder in denen sich Figuren aufgehalten haben; zu solchen nicht dargestellten Außenräumen gehören etwa Britannien, Burgund (das angeblich an die Marina angrenzt), die Provence (vgl. den »Provenzalenritter Deodat«), Spanien (»die iberischen Provinzen«), Griechenland (Olympia, Rhodos), die Türkei (Smyrna, Tauros-Gebirge), Schweden (Uppsala), Arabien, Indien, der Ferne Orient, Japan (= »Zipangu«), eine »ferne [wohl asiatische] Wüste«, das Kuba der »Conquistadores«. Der wichtigste aller Außenräume, der zudem überhaupt nicht geographisch festgelegt wird,19 ist freilich der Raum der Vorgeschichte, in dem sich das Leben des Ich und seines Bruders vor ihrer Ansiedlung in der Marina abgespielt hat: Er kann mit keinem der dargestellten Teilräume identisch sein. Protagonisten der erzählten Geschichte sind das Ich und sein Bruder Otho. Sie stammen, wie gesagt, aus einem Raum außerhalb der dargestellten Welt »hoch im Norden«. Über ihre Vergangenheit erfährt man nur weniges. Eine Zeit lang gehörten sie einem Bund der »Mauretanier« an, einem sich offenkundig elitär gerierenden Club, dessen Status unklar bleibt (Militär? Orden? Geheimbund?) und aus dem sie freiwillig ausgetreten sind; wann, wird nicht spezifiziert. Vor sieben [!] Jahren fand ein Krieg ihres Heimatraums (≠ Marina) gegen die »freien Völker« von »Alta Plana« statt, an dem sie aus »Lehnspflicht« teilnahmen und der laut Text zu Recht verloren wurde:20 Zwar hatten auch wir beide daran teilgenommen […], doch nur um unsere Lehnspflicht zu leisten, und in diesem Stande lag es uns ob, zu schlagen, nicht aber nachzugrübeln, wo Recht und Unrecht war. Doch wie man seinem Arme leichter als dem Herzen gebieten kann, so lebte unser Sinn bei jenen Völkern, die ihre angestammte Freiheit so wacker gegen jede Übermacht verteidigten, und wir erblickten in ihrem Siege mehr als Waffenglück. (S. 61) 18
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Zum Begriff: Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 1972 (UTB 103), Kap. 8. Er scheint nördlich des Herrschaftsbereichs des Oberförsters zu liegen: Denn in der Vorgeschichte ist das Ich auf der Suche nach dem verschollenen Fortunio von Norden in dessen Wälder eingedrungen, während man beim Endkampf von Marina und Campagna aus von Süden in diese Wälder eindringt. Wenn man eine Übersetzung der Signifikate in Referenten bzw. eine Applikation des Textes auf eine konkrete historisch-politische Situation anstrebt, müsste man daraus folgern, dass Jünger im Nachhinein die Niederlage des »Deutschen Reiches« im ersten Weltkrieg als berechtigt empfindet.
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»Lehnspflicht« impliziert also, dass im Heimatraum der Brüder ein monarchisches bzw. feudalistisches System existieren muss, das Gehorsam fordert, ohne dass die Rechtmäßigkeit der Befehle in Frage gestellt werden darf: Auflehnung gegen die pseudolegitime Herrschaft ist nicht vorgesehen und wird auch von den Brüdern nicht ausgeübt. Die Macht des Oberförsters außerhalb seines Raums wird denn auch als »subversiv« und »revolutionär« beschrieben: Sie wob und wirkte, wo Knechte dem angestammten Hause die Gefolgschaft weigerten, wo man auf Schiffen im Sturm meuterte, wo man den Schlachten-König im Stiche ließ. (S. 59)
Die Stelle hat sehr unerfreuliche ideologische Implikationen. Sie setzt, dass es durch Tradition (»angestammt«) legitimierte, immer autoritäre Herrschaftsverhältnisse gibt: Und die jeweils Unterworfenen haben nicht das Recht, sie infrage zu stellen; jede Revolution ist folglich illegitim,21 und Demokratie nicht vorgesehen: und ebenso wenig ein Widerstandsrecht. Hierarchische Gliederung und bedingungslose Unterordnung unter Herrschaft charakterisiert somit auch solche politisch-sozialen Strukturen, die der Text als positiv klassifizieren würde. Womit sich folglich die Frage stellt, worin sich dieses reaktionäre Modell denn von der Herrschaft des Oberförsters unterscheidet: dazu später. Im Verlauf jenes Krieges kamen die Brüder jedenfalls zum ersten Mal in die Marina, wo sie sich nach Kriegsende angesiedelt und inzwischen mehrere Jahre verbracht haben; in der Marina sind sie vollständig integriert, in der Campagna gehen sie botanisieren und sind mit einem Clan-Häuptling, Belovar, befreundet. Otho hat kein eigene Geschichte, wohl aber das Ich: Im Verlauf des Krieges ging es in der Campagna eine erotische Beziehung mit Silvia, der Tochter Lampusas, ein, aus der Erio resultiert, den das Ich nach seiner Rückkehr aus dem Krieg bei Lampusa vorfindet; Silvia ist inzwischen mit einem anderen Manne durchgegangen; Otho sorgt dafür, dass Lampusa und Erio in die Rautenklause aufgenommen werden. In der Folge hat das Ich eine weitere erotische Beziehung – diesmal auf der anderen Seite der Grenze – mit Lauretta in der Marina; wie und warum diese Beziehung endet, bleibt Nullposition. Beide Beziehungen sind selbstverständlich nicht-ehelich. Junge Frauen sind nur temporäre Erotikpartnerinnen und verschwinden wieder, ausgenommen Milina, die junge Frau des alten Belovar: »ein Weibchen von sechzehn Jahren, das er trefflich in Ordnung hielt [!] und wohl auch prügelte, wenn er betrunken war« (S. 64 f.). Neben den jungen Frauen als Lustobjekten gibt es noch die alten Quasi-Hexen mit magischen Kräften: eben Lampusa, die »Altmutter«, und die ca. 100jährige Mutter Belovars, die »Bestemutter«. Während die junge Frau nur der Lust oder der Vermehrung dient, scheint ihr im Alter nach der Vermehrung eine naturhaft-magische Qualität zuzuwachsen,22 jedenfalls, wenn sie der Campagna entstammt; diese Macht kann offenbar (biologisch oder sozial) »vererbt« werden, da eine solche auch Erio schon in frü21 22
Also – beiläufig angemerkt – auch die deutsche von 1918! Vgl. dazu Hermann Brochs Exilroman: Die Verzauberung (Ms. 1935).
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hester Kindheit zugeschrieben wird. Sehr viel mehr lässt sich zur Rolle von Frauen in der dargestellten Welt nicht sagen. Die dargestellte Welt ist extrem männlich dominiert, und die meisten der männlichen Figuren haben weder erotische Beziehungen noch Familie; selbst eine Herkunftsfamilie wird nur bei Belovar, Ansgar, Erio/Silvia erwähnt und ist im Regelfalle unvollständig; ein Elternteil fehlt. »Familie« ist in der dargestellten Welt allenfalls in der Campagna und in Alta Plana ein Wert. Die einzige absolut privilegierte Relation, die das Ich unterhält, ist die zum – ausnahmslos so benannten – »Bruder Otho«; diese Rekurrenz des Prädikats »Bruder« belegt, dass es sich hier nicht nur um eine Verwandtschaftsbezeichnung handelt, sondern um einen sozialen Ehrentitel: »Bruder« bezeichnet hier jemanden, mit dem man selbstverständlichen Konsens hat und nichts diskutieren und aushandeln muss. Nicht Verwandtschaft im biologischen Sinne, sondern nur eine metaphorische der ideologischen Übereinstimmung ist in der dargestellten Welt relevant. Aussprüche des Bruders gelten denn auch im Text unbefragt als wahr: Otho und Ich beanspruchen eine Deutungshoheit über die Welt, die sich auch in den unzähligen verallgemeinernden Kommentaren und Gesetzmäßigkeitspostulaten des Ich (so ja schon im Einleitungssatz) manifestiert. Auch wenn man am Ende unterliegt: man beansprucht eine elitäre Kompetenz der Weltinterpretation. (Jünger ist eben in der Tat »Fachmann für die Interpretation verlorener Kriege«,23 denen er immer noch eine scheinbare Sinngebung nachzuschieben weiß,24 selbst wenn sie in sinnlose Leerformeln mündet.25) Aber zu diskutieren bleibt noch der Raum der Vorgeschichte, der namenlos bleibt. Vom Leben der Brüder in ihm erfahren wir nur, dass sie in der Zeit vor dem Krieg gegen Alta Plana dem Bunde der »Mauretanier« angehörten, einem offenbar elitären Club, der eine Gegengesellschaft innerhalb der Gesellschaft bildet, wie umgekehrt die Untergebenen in Wald und Sumpf des Oberförsters eine Gegengesellschaft außerhalb der Gesellschaft bilden, während der Oberförster selbst, wenn auch als partiell atypisches Mitglied (siehe oben), auch den Mauretaniern angehört. Der Club ist offenkundig überregional und aus einer (groß)städtischen Kultur hervorgegangen. Die normale Gesellschaft scheint sich in einer Krise26 befunden zu haben, jedenfalls in der Wahrnehmung der Protagonisten:
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Martus, Ernst Jünger, S. 164. Siehe auch Steffen Martus, Scheitern als Chance. Ernst Jüngers Kunst der Niederlage. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S 253–270. Z. B. in Marianne Wünsch, Ernst Jüngers ›Der Arbeiter‹. Grundpositionen und Probleme. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/ New York 2004; zu Der Arbeiter bzw. in diesem Bande zu Der Kampf als inneres Erlebnis (S. 465–480). Das kann man als »metaphysischen Heroismus« oder als »Realitätsverweigerung« benennen, was auf dasselbe hinausläuft. »Krise« ist bekanntlich ein zentrales Konzept der »Lebensideologie der Frühen Moderne« (vgl. Lindner, Leben in der Krise).
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Es gibt Epochen des Niedergangs, in denen sich die Form verwischt, die innerst dem Leben vorgezeichnet ist. […]. Wir spürten Sehnsucht nach Präsenz, nach Wirklichkeit […]. Wie immer, wo der Zweifel sich mit Fülle paart, bekehrten wir uns zur Gewalt – und ist nicht sie das ewige Pendel, das die Zeiger vorwärtstreibt, sei es bei Tage, sei es in der Nacht? Also begannen wir von Macht und Übermacht zu träumen und von den Formen, die sich kühn geordnet im tödlichen Gefecht des Lebens aufeinander zubewegen, sei es zum Untergange, sei es zum Triumph. (S. 30)
Niedergang ist also äquivalent mit einer »Verwischung« von »Form«; Form steht in Opposition zum Ungestaltet-Amorphen und impliziert Unterscheidbarkeit und Abgegrenztheit – Formlosigkeit gehört auch zu den zeitgenössischen Merkmalen von »Sumpf«; »Verwischung von Form« ist also einem Akte von Entgrenzung bzw. Grenztilgung27 äquivalent. (Eine durch Grenzziehungen charakterisierte Welt erscheint im folgenden Text als eine Ordnung: Und »Ordnung« ist eines der zentralen Lexeme des Textes). Wenn dem Leben eine Form »vorgezeichnet« ist, bedeutet »Formlosigkeit« zugleich Verlust von (positivem) Leben; Nullposition bleibt, wer oder was dem »Leben« solche »Form« vorgegeben hat: Wie sich auch in der Folge zeigen wird, wird im Text immer wieder postulativ eine metaphysische Dimension der Realität gesetzt, die freilich extrem unbestimmt bleibt. Der Verlust von »Form« erscheint wiederum als äquivalent mit Nicht-»Präsenz« und Nicht-»Wirklichkeit«. Aus diesen Erfahrungen resultiert dann – mit scheinbar zwingender Gesetzmäßigkeit (»wie immer, wo…«; »also«) – das Verhalten der Protagonisten angesichts dieser Krise. Der »Zweifel«, der ihnen zugeschrieben wird, muss sich als Folge des »Ordnungsverlustes« erklären; die »Fülle« kann sich nur auf (positive) Merkmale der Protagonisten beziehen. Aus der Kombination beider folgt dann scheinbar notwendig (die Bereitschaft zu) »Gewalt«. Gewalt wiederum wird als selbstverständlicher Antrieb historischer Prozesse akzeptiert. Und wenn den beiden »der Capitano, der den großen Aufstand in den iberischen Provinzen erledigt [sic] hatte« (S. 31)28, erzählt, wie köstlich der Sekt schmeckte, bevor seine »Maschinen« »Sagunt29 zu Asche brannten« (S. 32), eine nicht eben 27
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Vgl. Michael Titzmann, »Grenzziehung« vs. »Grenztilgung«. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme »Realismus« und »Frühe Moderne«. In: Hans Krah/ Claus-Michael Ort, Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen, Kiel 2002, S. 181–209. ([Jetzt auch in Michael Titzmann, Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche, hg. von Lutz Hagestedt, München 2009, S. 275–307). Für eine historische Applikation käme hier natürlich der Eingriff der Kriegsflieger des Nazi-Reiches (»Legion Condor« ab 1936) in den spanischen Bürgerkrieg 1936–1939 in Betracht: Nur hat man hier die rechtmäßige Republik bekämpft und den »Aufstand« – den Militärputsch des Faschisten Franco – unterstützt. Solche Identifikationen von Textstrukturen mit historischen Ereignissen führen, wie man sieht, nicht unbedingt zu sympathischen Ergebnissen. Spanische Stadt: in der Antike 219 v. u. Z. von Hannibal im zweiten punischen Kriege erobert, später von den Römern zurückgewonnen. Als realer Referent wurde die Zerstörung von Guernica durch die »Legion Condor« 1937 genannt.
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menschenfreundliche Operation, bei der immerhin eine Zivilbevölkerung ausgerottet wird, heißt es: Und wir dachten: Lieber mit diesem stürzen, als mit jenen leben, die die Furcht im Staub zu kriechen zwingt (S. 32)
Die Phantasien von (Über-)Macht implizieren denn auch kriegerische Auseinandersetzung: den Kampf von »Formen«. Macht und Form sind somit positiv korreliert; wo es (positive)30 »Macht« gibt, gibt es »Form«. Die Opposition von »Untergang (≈ Tod)« vs. »Triumph (≈ Leben)« wird hingegen neutralisiert: biologisches Leben wird zugunsten eines (todesbereiten) emphatischen Lebens abgewertet. Hier wird noch einmal die militaristische Ideologie der Kriegsschriften Jüngers abgerufen. Die Gruppe der Mauretanier (in die übrigens eben dieser »Capitano« die Brüder eingeführt hat) kennzeichnet nun »unberührte Stille im Zentrum des Zyklons« (S. 32) – man nimmt hier keinen Anteil an den »Katastrophen« (S. 32), die die Menschen rundum betreffen – und ein »Geist, den nichts mehr bindet« (S. 32 f.), was nur bedeuten kann, dass sich das Denken dieser Gruppe durch keinerlei Normen einschränkt; es ist denn auch die Rede von »der Luft der Mauretania, die von Grund auf böse war« (S. 32). Solcher »Geist« darf im übrigen nicht mit »rationalem Intellekt« verwechselt werden, zu dem er – typisch für die konservativen bzw. rechtsgerichteten Autoren der Frühen Moderne31 – in Opposition steht, wie sich gleich zeigen wird. Die Brüder sind nach dem Krieg – es »erfaßte uns der Sinn nach einem Leben, das von Gewalt gereinigt war« – aus diesem Verein ausgetreten; denn es war »die Gabe uns versagt geblieben, auf das Leiden der Schwachen und Namenlosen herabzusehen« (S. 62). Aus der Gruppe der Mauretanier werden neben dem Capitano, neben dem für den Club atypischen Oberförster, nur zwei Mitglieder individualisiert: Biedenhorn, der im erzählten Zeitraum als Söldnerchef in der Marina fungiert und mehr oder weniger mit dem Oberförster sympathisiert, und Braquemart, der in der Endphase, die den Untergang der Marina einleitet, zusammen mit einem Fürsten Sunmyra, einen scheiternden Angriff auf den Oberförster unternimmt, bei dem beide ums Leben kommen, Sunmyra offenbar nach Folter, der sich Braquemart durch Suizid entzieht. Im Vergleich Oberförster – Biedenhorn – Braquemart vollzieht der Text nun erstaunliche Wertungen. Biedenhorn, als Söldnerführer der Marina eigentlich zur Erhaltung von deren politisch-juristischer Ordnung angestellt, greift nicht ein, als die subversiven Gewaltakte der Anhänger des Oberförsters über die Campagna hinaus in der Marina einsetzen und sich steigern; er greift nicht ein, als sich in Mord und Brand der Untergang der Marina vollzieht; erst nach deren Zerstörung 30
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Diese Einschränkung ist nötig, da die Macht des Oberförsters als eine beschrieben wird, die Anarchie anstrebt; diese müsste im System des Textes logischerweise mit Formlosigkeit korreliert sein, was sich in der Folge bestätigt. Siehe dazu wiederum schon Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918): »Geist« ist »deutsch« und wilhelministisch-reaktionär, der böse »Intellekt« hingegen ist den westlichen Demokratien zugeordnet (und dem »linken« Bruder Heinrich).
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lässt er seine Truppen aufmarschieren und übernimmt im Namen des Oberförsters (S. 152) die Kontrolle: Ganz unverhohlen lebte in ihm das Ergötzen, daß es den Schreibern; Versemachern und Philosophen der Marina nun ans Leder ging. Auch war ihm, wie der alte Bildungsduft, der Wein und seine Geistigkeit verhaßt. […]. So war er ein wilder Stößer und Zecher und glaubte felsenfest, daß jeder Zweifel auf dieser Erde durch rechtes Einhaun zu entscheiden sei. Auf diese Weise besaß er Ähnlichkeit mit Braquemart – doch war er insofern viel gesünder, als er die Theorie verachtete. Wir schätzten ihn ob seiner Unbefangenheit und seines guten Appetites, denn wenn er auch an der Marina fehl am Platze war, so darf man doch den Bock nicht tadeln, den man zum Gärtner macht. (S. 153)
»Schätzenswert« ist er also, weil er gern frisst (und säuft) und obwohl er die kulturellen Werte verachtet, als deren Repräsentanten die Brüder sich gerieren. Dass er seine Verpflichtungen gegenüber der Marina bricht, wird entschuldigt, obwohl das Ich und Otho sich beim vorangegangenen Krieg auf »Lehnspflichten« beriefen; seine Normverletzung wird denen angelastet, die ihn angestellt haben. Biedenhorn, der mit dem Oberförster kollaboriert, wird also Braquemart, der den Oberförster bekämpfen will, vorgezogen, was durch die Opposition »Gesund ≈ Theorieverachtung« vs. »Krank ≈ Theorieneigung« begründet wird. Und im Vergleich zwischen Braquemart und dem Oberförster kommt es noch ärger. Braquemart werden eine Reihe – untereinander als äquivalent gesetzter – Merkmale zugeordnet: »Theoretiker ≈ Utopist ≈ Ethiker ≈ Techniker« (S. 106–108):32 Gemeinsam ist diesen Merkmalen offenbar die Absicht einer »Rationalität« und »Rationalisierung« des »Lebens«, was der Text als »kalte, wurzellose Intelligenz« klassifiziert und einem »ausgeformten Nihilismus« gleichsetzt (S. 106). Der Text identifiziert sich also mit Wertungen, die in der Frühen Moderne eindeutig konservativen bis rechtsradikalen Positionen entsprechen: dem Abscheu gegen rationale Intellektualität. Diese wäre durch »Dürre« ≈ Mangel an »eigentlicher Lebenskraft« (S. 107) charakterisiert. In Opposition dazu wird dem Oberförster implizit »das köstliche Ingredienz des Überflusses«, die »Grandezza«, die »angeborene Désinvolture« attestiert (S. 107), der denn auch im Gegensatz zu Braquemart als »Praktiker« erscheint, somit als Nicht-Theoretiker, Nicht-Utopist, Nicht-Ethiker, als Nicht-Nihilist, Nicht-Intellektueller, Nicht-Rationalist. Dem »Nihilismus« Braquemarts, der eine »Wüste « als »Boden für Sklaven und Sklaven-Heere« schaffen wolle, wird die »wilde Anarchie« des Oberförsters konfrontiert, der einen »Urwald«, bevölkert »mit wilden Bestien«, anstrebe (S. 106). Im ersten Falle soll also ein totalitäres System der Versklavung, im zweiten Falle ein vorkultureller Zustand der Herrschaft von Raubtieren hergestellt werden; für die Opfer wäre vermutlich der zweite Zustand der noch schlimmere. Und wo die Gewalt im ersten Falle immerhin noch Mittel für einen ideologischen Zweck ist, ist sie im zweiten Selbstzweck. Aber da dem »Nihilismus« der frühmo32
Warum »Ethiker« verwerflich sind und warum jemand, der die Menschheit in ein Sklavenheer verwandeln will, ein »Ethiker« ist, wird nicht begründet; beides scheint mir schwer nachvollziehbar.
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derne Wert »Leben« abgesprochen wird, der der »Anarchie« zugesprochen wird, schätzt der Text unzweideutig die Ideologie des Oberförsters höher als die Braquemarts, obwohl jener der gemeinsame Feind ist. Etwas überraschend wird implizit zwar Braquemart, nicht aber dem Oberförster, eine Abhängigkeit von Nietzsche zugeschrieben (S. 106),33 obwohl sich beide Seiten mit demselben Recht bzw. Unrecht auf Nietzsche berufen könnten.34 Noch einmal müssen wir einen Blick auf das Personal der dargestellten Welt werfen. Zu unterscheiden ist zum einen zwischen (männlichen) Figuren, die einen Eigennamen erhalten, und solchen, für die das nicht gilt. Von den direkt handlungsrelevanten Figuren bleibt, neben dem Ich, nur der Oberförster namenlos. Während die Namenlosigkeit des Ich motiviert ist, da seine Rede sich an Vertraute – Bekannte oder Freunde – richtet, ist es die des Oberförsters scheinbar nicht: faktisch aber sehr wohl. Denn die Vermeidung eines Namens ist offenkundig korreliert mit einem Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit, den der Text erhebt, wie auch die vielen generalisierenden, quasi gesetzesartigen Aussagen der Brüder belegen. Der Oberförster wäre somit als austauschbare Figur, stellvertretend für jede außermoralische, gewalttätige, unrechtmäßige »Machtergreifung« gemeint. (Natürlich ist es ein wenig lächerlich, wenn einer solchen, hier durchaus dämonisierten Gestalt der Status eines »Oberförsters« zugeschrieben wird. Mit viel gutem Willen könnte man aber vielleicht unterstellen, dass das gewollt ist.) Alle anderen – handlungsrelevanten oder nicht handlungsrelevanten – Figuren erhalten Eigennamen sprachlich unterschiedlicher Provenienz: lateinisch (Deodat, Silvia), griechisch (Phyllobios = Lampros), italienisch (Fortunio, Lauretta,), germanisch (Otho, Ansgar), deutsch (Biedenhorn), französisch (Braquemart), slawisch (Belovar, Sombor) usw. – die Räume erhalten romanische (lat.-ital.) Namen (Marina, Campagna, Alta Plana). Die dargestellte Welt ist also, abgesehen von den nur erwähnten Außenräumen, eine im wesentlichen west- und mitteleuropäische, eine germanisch-romanische (Marina), eine germanische (Alta Plana), schließlich die Hirtenwelt der Campagna, die slawisch besiedelt scheint. Da sich zur Benennung von Figurengruppen im Umkreis des Oberförsters französische Namen häufen, wird hier, was französisch ist, eher negativ konnotiert (vgl. auch Braquemont!).35 33
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Die Rede ist vom »tiefen Ausspruch seines Meisters«: »Die Wüste wächst – weh dem der Wüsten birgt«. Siehe das Gedicht gleichen Titels in Also sprach Zarathustra (1883–1884). In: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 4: Also sprach Zarathustra I–IV, München 1988, S. 380–385. Aber auch wenn Nietzsche hier nur mit Braquemart korreliert wird und damit zugleich die Erzählinstanz sich von Nietzsche bzw. einer bestimmten Nietzsche-Interpretation distanziert, scheint mir – was ich nicht ausführen werde – eine (wenn auch uneingestandene) Nietzsche-Rezeption im Text massiv präsent. Ebenso wenig wie die Beziehungen des Textes zu Nietzsche diskutiere ich hier die zu Oswald Spenglers seltsamen Untergang des Abendlands (1918) und die zu den Schriften Carl Schmitts. So z. B. »Coquillards«, »Muscadins«, »die von La Picousière«: und diese singen dann auch noch ein ordinäres französisches Liedlein (S. 124). Es ist kein Einwand dagegen, dass der Autor selbst, scheint es, ein wenig frankophil war.
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Zum zweiten wäre festzuhalten, dass keine einzige Figur aus der politischen Hierarchie der Marina individualisiert wird; sie bleiben ein anonymes Kollektiv – umso auffälliger, als der offenbar wie die Protagonisten von außen stammende Söldnerführer Biedenhorn als einziger namentlich genannt wird und als Figur auftritt. Auch in der Campagna und in Alta Plana werden, was die Männer anlangt, nur Belovar (und sein Sohn) wie Ansgar namentlich individualisiert. Namentlich benannte Individuen werden also (mit Ausnahme von Lampros) nur die Figuren, denen zugleich jeweils eine kriegerische Rolle zugeschrieben wird und die mehr oder weniger autoritär herrschen; die Repräsentanten ziviler (politischer, administrativer, juristischer) Institutionen erscheinen als irrelevant; sie existieren praktisch nicht. Zum dritten gilt, dass außer Belovar und dem Pater Lampros, die die Brüder erst kennen, seit sie sich in der Marina niedergelassen haben, alle handlungsrelevanten männlichen, namentlich identifizierten Figuren den Protagonisten schon aus der Vorgeschichte bekannt sind: so Oberförster, Biedenhorn, Braquemart aus den Vorkriegszeiten, als die Brüder noch den Mauretaniern angehörten; so Ansgar aus der Zeit, als sie an dem Kriege teilnahmen. Man ist also mit den Machteliten bestens vertraut und darf sich zumindest zu ihrem Umkreis rechnen. Ein durchaus raffiniertes Textmerkmal sei hervorgehoben: Während die Protagonisten in der Vorgeschichte persönlichen Kontakt mit dem Oberförster hatten, tritt dieser im Zeitraum von Krise und Zusammenbruch der Marina nicht mehr persönlich in Erscheinung: Er manifestiert sich nurmehr durch Aktionen der Seinen, für die ihm die Verantwortung zugeschrieben wird. Er ist das gefährliche, unsichtbar gewordene, verborgene Machtzentrum. Seine Operationen gelten der Campagna und der Marina, innerhalb derer die Brüder natürlich eine gänzlich unbedeutende und ungefährliche Kleinstgruppe sind. Signifikant für ihren Anspruch, selbst relevant zu sein, ist freilich, dass die Erzählinstanz beansprucht, das Auffinden des Orts Köppels-Bleek sei eine persönliche Warnung des Oberförsters an die Brüder gewesen: »da wir nicht weichen wollten, hatte der Alte sie [= »die üble Küche«] uns ein wenig deutlicher gezeigt« (S. 96). Man fühlt sich lieber persönlich verfolgt und überwacht als unbedeutend. Zum vierten werden nicht wenige Figuren genannt, die entweder Zeiten vor der Existenz der Brüder (Peregrinus, Lukian, »Meister Villon«, »Meister Linnaeus«, »Rabbi Nilüfer«, Nigromontanus) oder ihrer Vorgeschichte vor der Marina (Ehrhardt, Deodat, van Kerkhoven, Fortunio) angehören. Es lohnt sich, einen Blick auf einige Vertreter dieser Gruppe zu werfen. Fortunio war ein »Adept«, also ein Anhänger irgendeiner »Geheimlehre« bzw. ein »Eingeweihter« irgendeines »Mysterienkultes«, der, im Besitz einer geheimen Karte des Waldes des Oberförsters, in dessen Territorium eingedrungen und verschollen ist und in der Vorgeschichte vom Ich dort vergeblich gesucht wurde. Fortunio wiederum verdankte seine Kenntnis des Waldes einem »Manuskript«, »das von dem Rabbi Nilüfer stammte, der, aus Smyrna [in der Türkei] vertrieben, auf seinen Wanderungen auch in den Wäldern zu Gast gewesen war« (S. 57) und diesen Raum als eine Art negativer Kehrseite der
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»Weltgeschichte« beschrieben hatte, was bestätigt, das der Wald-Raum eine außerhistorische Konstanz hat und Verwerfliches in ihn ein- und aus ihm ausgeht. Das gemeinsame Merkmal von Fortunio und Nilüfer ist nun, dass sie beide – mit einer dem Text fremden Klassifikation – »Okkultisten« sind: Okkultismus wiederum gehört zu den relevanten Phänomenen der Denkgeschichte der Frühen Moderne.36 Wenn aber das Ich Fortunio immerhin so nahe steht, dass es den Verschollenen suchen geht, ist ihm selbst Okkultismus nicht fremd, was sich anhand der Figur des Nigromontanus37 bestätigt. Von diesem besitzen die Brüder, »aus dem Nachlaß meines alten Lehrers« (S. 81), einen Spiegel: …seine Eigenschaft war die, daß sich die Sonnenstrahlen durch ihn zu einem Feuer von hoher Kraft verdichteten. Die Dinge, die man an solcher Glut entzündete, gingen ins Unvergängliche auf eine Weise, von der Nigromontanus meinte, daß sie am besten dem reinen Destillat vergleichbar sei. Er hatte diese Kunst in Klöstern des Fernen Orients erlernt, wo man den Toten ihre Schätze zu ewigem Geleit verbrennt. Ganz ähnlich meinte er, daß alles, was man mit Hilfe dieses Spiegels entflammen würde, im Unsichtbaren weit sicherer als hinter Panzertüren aufgehoben sei. Es würde durch eine Flamme, die weder Rauch noch niedere Röte zeige, in Reiche, die jenseits der Zerstörung liegen, überführt. Nigromontanus nannte das die Sicherheit im Nichts […]. (S. 82)
Nigromontanus ist also eine der vielen Magiergestalten, die sich etwa in der fantastischen Literatur der Frühen Moderne herumtreiben;38 typisch ist auch die Korrelation mit »Klöstern des fernen Orients«, in denen die Theoretiker dieses Okkultismus geheimes, magisches Wissen vermuten. Mit Hilfe dieses magischen Spiegels kann also einerseits eine irdische Realität vernichtet werden, die dadurch andererseits im »Nichts« für immer aufbewahrt wird (freilich damit Menschen schwer zugänglich sein dürfte…). Nigromontanus hat diesem Spiegel in »Sonnen-Runen« noch eine Inschrift – »seiner Kühnheit würdig« (S. 82) – hinzugefügt: Und sollte die Erde wie ein Geschoß zerspringen, Ist unsere Wandlung Feuer und weiße Glut. (S. 82)
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Vgl. etwa Wünsch, Die fantastische Literatur der Frühen Moderne; Michael Titzmann, Das »Unsichtbare« und die Phantasie der »Macht«. Verknüpfungen von Okkultismus und Naturwissenschaft in der Frühen Moderne. In: recherches germaniques. Hors série No 1, 2002, S. 173–202. [Jetzt auch in: Michael Titzmann, Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche, hg. von Lutz Hagestedt, München 2009, S. 540–574]. Die eine größere Bedeutung im Werke Jüngers zu haben scheint: Sie tritt offenbar ebenso in Das abenteuerliche Herz (Martus, Ernst Jünger, S. 125) wie in Heliopolis (ebd., S. 205) auf, wo es auch die Mauretanier gibt (Hans Krah, Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers ›Heliopolis‹ (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/ New York 2004, S. 225–251, hier S. 233). Dazu: Wünsch, Die fantastische Literatur der Frühen Moderne.
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Ist es sehr unfair, wenn ich mir erlaube, derlei für albernes Geschwätz zu halten? Aber noch immer ist der Unfug nicht zu Ende. Denn auf der Rückseite des Spiegels finden sich in Pali-Schrift die Namen dreier Witwen von Königen geritzt, die singend beim Totenprunke den Scheiterhaufen bestiegen hatten, nachdem er von Brahmanen-Hand mit Hilfe dieses Spiegels entzündet war. (S. 82 f.) Selbstverständlich sind es nicht irgendwelche armen indischen Witwen, die hier verbrannt worden sind: es müssen schon solche von Königen sein. Und natürlich finden Witwen indischer Könige nichts toller, als beim Tode des Gemahls von der Priesterkaste der Brahmanen lebend verbrannt zu werden. Gebildet, wie wir nun einmal sind, lassen wir die arme Plebs auch wissen, dass es sich um eine Pali-Inschrift39 handelt. Und weil das alles nun gar so schön ist, gehört zur magischen Hinterlassenschaft des Nigromontanus auch noch eine Lampe, »aus Bergkristall geschnitten und mit dem Zeichen der Vesta40 versehen« (S. 83): Mit dieser Lampe, und nicht mit Fackeln, wurde auch der Scheiterhaufen bei Olympia entzündet, als Peregrinus Proteus, der sich dann Phoenix nannte, im Angesichte einer ungeheuren Menschenmenge ins offene Feuer sprang, um sich dem Äther zu vereinigen. Die Welt kennt diesen Mann und seine hohe Tat nur durch das lügenhafte Zerrbild Lukians. (S. 83)
In der Tat berichtet Lukianos (ca. 120 – ca. 180 u. Z.) von der öffentlichen Selbstverbrennung (165 u. Z.) des Peregrinus,41 welcher es, nachdem er sich u. a. als Christ und als Philosoph versucht hatte, für gut befand, sich medienwirksam zu vertilgen; von Jüngers Lampe weiß Lukian natürlich nichts. Warum das eine »hohe Tat« gewesen sein soll, wird wohl auf immer Jüngers Geheimnis bleiben, zumal er wissen musste, dass sich mit dem Äther, also einer von Aristoteles eingeführten »quinta essentia« – die die Physik spätestens mit Einstein abgeschafft hatte – zu vereinigen, denn doch ein wenig schwierig ist… Wenn zudem Lukians Bericht der einzige ist:42 woher weiß unser Autor denn dann, dass er »lügenhaft« sei? Auf der Hand liegt hingegen, warum Peregrinus hier überhaupt eingeführt wird. Zusammen mit den indischen Witwen bildet er ein Paradigma (im semiotischen Sinne): in beiden Fällen geht es um die angeblich freiwillige Überführung von Menschen in jenes »Nichts«, in dem sie unzerstörbar bewahrt würden. 39
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Schriftreihe bzw. Literatursprache; aus dem vedischen Sanskrit hervorgegangene Variante des mittelindischen Prakrit. Vgl. Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden. Sechzehnter Band. Nos–Per. Mannheim 1991, S. 452 (Stichwort »Pali«). Altrömische »keusche« Göttin des Feuers. Vgl. Benjamin Hederich (1770), Gründliches mythologisches Lexicon […]. Reprint Darmstadt 1996, Sp. 2451 ff. Siehe Lukian, Der Tod des Peregrinos, hg. und übersetzt von Peter Pilhofer u.a., Darmstadt 2005 (= SAPERE Bd. IX). Christoph Martin Wieland hat bekanntlich Peregrinus zum Protagonisten eines Romans gemacht: Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus (1791).
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Die beiden magischen Objekte, Spiegel und Lampe, werden gegen Textende tatsächlich zum Einsatz kommen. In der Nacht, in der die Horden des Oberförsters in Mord und Brand die Campagna und die Marina vernichten, entzünden die Brüder mit Hilfe dieser Objekte die Rautenklause, nachdem Otho Bücher und Schriften säuberlich geordnet und die Wohnung geschmückt hat (S. 149) – diese Operation macht natürlich nur Sinn, wenn durch die Objekte aus dem Erbe des Nigromontanus alles, was die Brüder zurücklassen müssen, in einen anderen nicht-irdischen Raum transferiert und dort bewahrt wird. Während überall aus den Gebäuden Flammen rot emporschlagen, leuchtet der Brand der Rautenklause in Opposition dazu »tief dunkelblau« (S. 150). »Rot« ist im Text korreliert mit jeder Form gesteigerter vitaler Aktivität, sei sie sexuell, sei sie destruktiv. Wenn das Ich seine sexuelle Begegnung mit Lauretta hat, trägt es eine »feuerrote Maske« (S. 12); im Krieg waren die Brüder – o nein: nicht einfach bei einer grauen Infanterie, sondern – bei den »Purpur-Reitern« (S. 21); der Tod des alten Belovar im Kampf gegen das WaldGesindel habe, heißt es, stattgefunden »im vollen Trubel der Lebensjagd, wo rote Jäger rotes Wildpret durch Wälder hetzen« (S. 139).43 »Blau« hingegen repräsentiert eine Transformation von Irdischem ins Außerirdische. Wenn das Ich nach der Niederlage der Hirten Belovars vor der »roten Meute« der Bluthunde44 und der Horden des Oberförsters in die Rautenklause flieht, findet noch ein zweites okkultes Ereignis statt: Sein Sohn Erio rettet ihn, indem er durch eine magische Operation die »Lanzenottern« unter Anführung der »Greifin« in den Kampf schickt und diese alle Verfolger töten. Das Kind erscheint also als ein »Erlöser« mit übernatürlicher Kraft, der den Vater rettet; auffälligerweise lassen Ich und Otho, wenn sie die Rautenklause danach niederbrennen, diesen Sohn bei Lampusa zurück. Das magisch-erlösende Kind gehört offenbar in den Grenzraum der Marmorklippen und der Rautenklause, nicht aber in die Räume, in denen die Regeln des kulturell »normalen« Realitätsbegriffs gelten. Wenn ein literarischer Text, der sonst eine kulturell als möglich geltende Welt entwirft, d. h. eine Welt, deren Strukturen und Ereignisse nicht in Widerspruch zu den Annahmen des kulturellen Realitätsbegriffs stehen, in diese Welt Elemente des Magischen bzw. Okkulten, also fantastische Elemente, einführt, also Elemente, die mit diesem Realitätsbegriff unvereinbar sind, dann bedarf das normalerweise einer Rechtfertigung durch eine – wie auch immer rudimentäre und lückenhafte – explanative Quasi-Theorie, etwa eine Privatmythologie, die eine Erklärung der abweichenden Phänomene zumindest andeutet;45 unser Text verweigert jede solche Erklärung dieser Elemente. Er setzt einfach, dass es einen Raum außerhalb und jenseits der kulturell als normal geltenden Realität gibt: etwas »Höheres« als die reale Welt. 43
44 45
Zu »Jagd« bei Jünger vgl. auch Claus-Michael Ort, Gullin Bursti und der Traum vom Mythos. Zum Verhältnis von Mythologisierung und Bedeutungstilgung in Ernst Jüngers Erzählung »Die Eberjagd« (1952/1960). In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 321–338. Deren Anführer denn auch den Namen »Chiffon rouge« trägt. Wünsch, Die fantastische Literatur der Frühen Moderne.
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Über diesen Raum erfahren wir nichts, was seine Existenz (zumindest innerhalb der Fiktion) plausibel machen würde, nichts, was dessen Merkmale anlangt, außer dass dort aufbewahrt werden kann, was hienieden entschwindet. Dieser Raum ist wirklich ein »Nichts«: ein semantisch leeres Postulat. Wer metaphysisch-religiöse Anwandlungen hat, kann hier hinein projizieren, was immer er will. So ist denn auch von vielen und heterogenen religiösen Kulten im Text die Rede (für die Otho Spezialist ist): Aber keinem davon hängen die Brüder selbst an. Seit ihrer Übersiedelung in die Marina beschäftigen sich die beiden Protagonisten mit Botanik; sie beziehen sich dabei auf den »hohen Meister Linnaeus«46 (S. 19) und kooperieren mit dem Pater Lampros. Diese Tätigkeit ist zunächst eine des Sammelns (wie man sie etwa aus Literatur und Wissenschaft des 19. Jahrhunderts kennt), woraus Herbarien entstehen. Sie ist dann aber zudem eine der Benennung und der botanischen Klassifikation. Sie ist damit eine in der Textwelt zeichenhafte Tätigkeit: einer empirischen »Wirklichkeit« wird mittels der »Sprache« eine »Ordnung« unterlegt. Und »Bruder Otho« meint gar, »daß d i e s der Sinn des Lebens sei – die Schöpfung im Vergänglichen zu wiederholen« (S. 77 f.), womit ein Thema »Religion« eingeführt wird. Denn eine »Schöpfung« präsupponiert an sich einen »Schöpfer«, wenngleich ein solcher von den Brüdern nicht gedacht wird und also im Text absent ist. Das Botanisieren der Brüder ist also mit vier für den Text zentralen semantischen Komplexen – eben »Sprache«, »Ordnung«, »Wirklichkeit«, »Religion« – korreliert, die wiederum untereinander korreliert sind. Ordnung – auch lexikalisch rekurrent – findet sich also in der Natur und ist in der Kultur erwünscht. Im kulturellen Bereich benennt das Lexem einen Komplex invarianter politischer, juristischer, sozialer, aber auch künstlerischer Strukturen und Regularitäten.47 Eine solche Ordnung ist – wie im Idealfall der früheren Marina – vorzugsweise eine »alte« (S. 34) und eine »feste« (S. 42), somit eine konservative, charakterisiert durch »Sitte und Gesetz« (S. 34), ohne dass die beiden Terme semantisch aufgefüllt würden. Der »edle Geist«, hier der Fürst Sunmyra, kennt die 46
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Carl (von) Linné (1707–1778): erste brauchbare taxonomische Klassifikation der damals bekannten Pflanzen und Tiere. Die ursprüngliche Fassung des Systema Naturae, sive regna tria naturae systematice proposita per classes, ordines, genera, & species 1735 (Carl (von) Linné, Systema Naturae, sive regna tria naturae systematice proposita per classes, ordines, genera, & species, Lugduni Batavorum [= Leiden] 1735) schwillt im Laufe der sukzessiven Auflagen gewaltig an. Schon in der ersten Auflage stellt Linné seine Klassifikation in einen theologischen Kontext; in der vierten der »Observationes in Regna III. Naturae« heißt es: »Quum nullae dantur novae species, cum simile semper parit sui simile, cum unitas in omni specie ordinem ducit, necesse est, ut unitatem illam progeneratricem, Enti cuidam Omnipotenti & Omniscio attribuamus, Deo nempe […].« Das mag auch die unausgesprochene Begründung dafür sein, warum ausgerechnet ein Pater im Text sich mit Botanik beschäftigt. Übrigens ist schon in dieser Auflage der Mensch neben den Affen (»simia«) in die Klasse der »Anthropomorpha« eingeordnet. Dabei findet sich auch die Formulierung »Recht und Ordnung« (S. 53): jene Mentalität, die die amerikanische Formulierung »law and order« benennt, war zweifellos auch sehr lange in der Nachkriegs-BRD ein ideologisches Leitkonzept.
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»gerechte Ordnung« (S. 112) bzw. hat »Kenntnis der großen Ordnung« (S. 136): Wiederum bleibt unspezifiziert, welches die Norm ist, die eine »gerechte« oder »große Ordnung« erfüllen muss. Als die Brüder die Katastrophe der Marina nahe sehen, ordnen sie Schriften und Herbarien und legen »vieles schon brandgerecht« (S. 99); selbst vor dem – und für den – Untergang wird aufgeräumt. Von der wünschenswerten »Ordnung« lässt sich erschließen, dass sie politisch nicht demokratisch, zudem sozial strikt hierarchisiert ist. So lobt der Text z.B., dass Belovar sein junges Weib so »trefflich in Ordnung« hält, was extrem konservative Geschlechterrollen impliziert. Und wenn Braquemart und Sunmyra vor ihrem Versuch, den Oberförster zu bekämpfen, die Brüder aufsuchen, heißt es: Ich hatte wohl erwartet, daß in der letzten Phase des Ringens um die Marina der Adel in Erscheinung treten würde – denn in den edlen Herzen brennt das Leiden des Volkes am heißesten. Wenn das Gefühl für Recht und Sitte schwindet, und wenn der Schrecken die Sinne trübt, dann sind die Kräfte der Eintags-Menschen gar bald versiegt. Doch in den alten Stämmen lebt die Kenntnis des wahren und legitimen Maßes, und aus ihnen brechen die neuen Sprossen der Gerechtigkeit hervor. Aus diesem Grunde wird bei allen Völkern dem edlen Blute der Vorrang eingeräumt. (S. 104)
Nicht nur gibt es also einen Adel: sondern von ihm wird das Heil erwartet, weil er der nicht-adligen Bevölkerung überlegen sei, auf die man in Krisen nicht bauen könne; hier wird all das rückgängig gemacht, was die nicht-adligen Schichten sich seit dem 18. Jahrhundert an Emanzipation und Gleichberechtigung erkämpft haben. Das soziale Prädikat »adlig« wird umstandslos mit dem moralischen Prädikat »edel« gleichgesetzt (was nun von der Historie, wie Jünger wissen musste, nicht eben gut bestätigt ist): Folglich wird diese soziale Gruppe denn auch mit »wahrem und legitimen Maß« und »Gerechtigkeit« korreliert, wobei – typisch für unseren Text – wiederum unpräzisiert bleibt, worin genau diese Werte bestehen. Dass der Adel das Beste für das »Volk« will, ist dem historischen Blick auch durchaus überraschend. Wahrhaft erstaunlich ist die abschließende Behauptung, alle Kulturen würden dem »Adel« freiwillig Vorherrschaft einräumen; zudem wird die soziale Schicht zu einer biologischen Klasse uminterpretiert (»edles Blut«). Sunmyra selbst stellt sich nun zwar als frühvergreister »Jüngling« heraus, was im Text bedeutet, der Niedergang, die »Dekadenz«48 sei so weit fortgeschritten, dass sie sogar den Adel erreicht habe. Obwohl – im Gegensatz zu Braquemart – bei Sunmyra unklar bleibt, für welchen politisch-sozialen Zustand er eigentlich kämpfen will (denn er bleibt beim Vierergespräch teilnahmslos), huldigt ihm bei der Verabschiedung »Bruder Otho« (S. 110); und wenn das Ich im Kampfe die Häupter von Braquemart und Sunmyra aufgespießt findet, nimmt es den Kopf Sunmyras mit, mit dem die Brüder einige kultische Zeremonien veranstalten; später wird er »den Christen« zur Bestattung übergeben werden. Den Kopf des Toten findet das Ich im übrigen noch »edler« als den des Lebenden »und von jener höchsten, 48
Eine Denkkategorie des späten 19. Jahrhunderts, die noch der Frühen Moderne geläufig ist.
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sublimen Schönheit, die nur das Leid erzeugt« (S. 136) – ein Ideologem christlichen Ursprungs, das in der Literatur des 19. Jahrhunderts eine unangenehme Verbreitung hat. Die gewünschte soziale Ordnung ist jedenfalls eine ständische unter Dominanz des Adels, also ein reaktionäres Sozialmodell (das zu überwinden die Mehrheit der westeuropäischen Populationen vom 19. bis ins 20 Jahrhundert bemüht war, wie Jünger natürlich auch weiß). Der »elitäre« Charakter des Sozialmodells bestätigt sich in der Struktur des Figureninventars des Textes: Namentlich benannt werden, von den wenigen Frauen abgesehen, nur Figuren, die – tatsächliche oder nur beanspruchte, materielle oder »geistige« – »Macht« haben: »Führer«49 eben… Selbst Pater Lampros stammt natürlich aus »altburgundischem« Adel (während es bei Sunmyra nur zum »neuburgundischen« reicht). Grundsätzlich wird hier in Rangunterschieden gedacht. Der räumlichen Opposition »oben vs. unten« ist die evaluative Opposition »hoch vs. nieder« äquivalent, und beide Lexeme sind ungemein rekurrent im Text. Hier nur einige wenige Zufallsbelege aus dem Kapitel 14, wo Begegnungen mit Lampros beschrieben werden. Eine Abbildung stellt Maria, »die hohe Frau«, dar; laut Otho vereinigen sich in ihr Fortuna und Vesta »in höherer Gestalt«. Pater Lampros steht »in hohem Ansehen«, stammt aus einem der »hohen Häuser«, ist von »hoher Feinheit«, besitzt »hohe Grade der Erkenntnis«, vermittelt »Augenblicke hohen Rangs«, bestätigt Gesprächspartner »in einem höheren Sinne«, ist laut Otho »geschaffen« »in die hohen Grade des Feuers einzutreten«. Wie andere Stellen belegen, gibt es die Opposition »hoch« vs. »nieder« sogar zwischen Waffen. Die »niederen Jäger« haben nicht nur »niedere Herzen«, sie bedienen sich auch »minderer Waffen« (S. 54). Und umgekehrt erfahren wir vom Ich, dass sein »guter Degen« aus der Kriegszeit nicht verfügbar ist, als es in den Kampf geht. Aber das Ich erinnert sich: 49
Den Terminus »Führerbefehl« verwendet Jünger bereits 1927, freilich noch ohne Hitler-Konnotation (vgl. Die Blindgänger des großen Krieges. In: Sven Olaf Berggötz, Ernst Jünger. Politische Publizistik 1919–1933, Stuttgart 2002, S. 380) Mitte der zwanziger Jahre taucht dann bei ihm erstmals der »Führergedanke« auf: »Verwirklicht werden kann der Machtgedanke nur durch die Erfüllung des Führergedankens. Der große Führer ist noch nicht aufgetreten.« (Wesen des Frontsoldatentums. 1925. In: Politische Publizistik, S. 70) Auch die »revolutionären Führer« und »Arbeiterführer« kommen ihm in seiner Politischen Publizistik in den Blick (vgl. Der jungdeutsche Kritikaster. 1926. In: Politische Publizistik, S. 258. Sowie Unsere Kampfstellung. 1927. Ebd. S. 332). Auch der Terminus »Führerbefehl« tritt bereits 1927 bei Jünger auf, noch ohne Hitler-Konnotation (vgl. Die Blindgänger des großen Krieges. In: Politische Publizistik, S. 380). Am 15. September 1933 heißt es dann in einem Geleitwort für das »Nachrichtenblatt für die Ritter des Ordens ›Pour le Mérite‹«: »Der neue Staat, der sich von der Novemberrepublik auch darin unterscheidet, daß er sich auf die Taten und Leistungen im großen Kriege beruft, fordert die Mitarbeit jeder wertvollen Kraft. Sein Aufbau ist der eines Führerstaates; der geborene Führer wird ihm daher willkommen sein.« (In: Politische Publizistik, S. 660).
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Da gab es manchen Hieb, der auf das Stichblatt fränkischer Rappiere und auf den Bügel schottischer Säbel fiel – doch manchen auch, bei dem das Handgelenk den weichen Widerstand der Blöße fühlte, an der die Klinge ins Leben schnitt. Doch alle diese, und selbst die freien Söhne der Barbaren-Stämme, waren edle Männer, die ihre Brust fürs Vaterland dem Eisen boten; und gegen jeden hätten wir beim Gelage das Glas erheben können, wie man es Brüdern tut. Die Tapferen dieser Erde machen im Streite die Grenzen der Freiheit aus; und Waffen, die man gegen solche zückte, die führt man gegen Schinder und Schinder-Knechte nicht. (S. 115 f.)
Natürlich haben wir hier noch einmal Jüngers – reichlich realitätsfremde – Ideologie des »ritterlichen Krieges«, bei dem man mit dem Gegner, nach abgetaner Schlächterei, friedlich trinken kann; das kennt man aus seinen früheren Kriegsschriften. Er schreckt nicht einmal vor dem Anachronismus zurück, dass man – statt mit Kanonen und Panzern – mit dem Degen gekämpft habe. Technik aus der Gegenwart ist auch sonst weitestgehend vermieden; aus der Capitano-Anekdote müssen wir auf die Existenz von Flugzeugen schließen, und Braquemart und Sunmyra kommen offenkundig mit einem Auto zu den Brüdern. Wenn hingegen am Textende die Brüder nach Alta Plana übersetzen, werden sie auf einem Schiffe befördert, das gerudert wird. Interessant ist aber, dass hier die Fiktion durchbrochen – und damit indirekt zu einer Applikation auf die historische Realität eingeladen – wird: Gegen Franzosen und Schotten hat man zwar im Ersten Weltkrieg gekämpft, nicht aber im Krieg gegen Alta Plana. Doch zurück zum eigentlichen Thema. Aufgebaut wird eine Hierarchie der Waffenarten und ihrer Verwendungsweisen: »edle« Waffen gegen »edle« Gegner, »unedle« Waffen gegen »unedle« Gegner:50 ein seltsam arrogantes Überlegenheitsgefühl gegenüber den »Schindern«, denen man am Ende unterliegen wird. Es versteht sich von selbst, dass, wer so munter wertet, damit für sich eine Kompetenz zu solcher Beurteilung in Anspruch nimmt, also selbst in die Klasse des »Hohen« gehören muss. Zu einer »Ordnung« gehört im Text immer auch ein religiöser Kult, wobei unterschiedlichen Kulturstufen unterschiedliche Religionen angemessen sind; den »angemessenen Religionen« gegenüber bleibt der Text neutral und bewertet ihre Wahrheitsansprüche nicht. So heißt es etwa nach dem Tode Belovars: »Die große Mutter, deren wilde, blutfrohe Feste er gefeiert hatte, ist solcher Söhne stolz« (S. 139). Der Kult der »großen Mutter« wird als der Hirtenkultur angemessen ohne jede Kritik akzeptiert, während der Marina offenbar die antiken, germanischen, christlichen Götter entsprechen (und der Kulturstufe der Brüder die religiöse Enthaltung: Otho ist sozusagen Sammler von Religionen, so wie die Brüder Pflanzen sammeln). Der Verfall einer Ordnung wird aber durch die Regression auf Kulte markiert, die der bis dahin erreichten Kulturstufe nicht mehr angemessen sind, also etwa auf primitive oder blutige Kulte. Generell spielen die dogmatischen Annahmen der verschiedenen Religionen im Text kaum eine Rolle; präsent sind Religionen hier v.a. als Vollzug kultischer Handlungen: als »Formen«, die soziales Leben 50
So wird dann auch die Hirtenschar des Belovar mit eher archaischen Waffen (die hier freilich als spezifisch für die Kulturstufe gemeint sind) gegen die Horden des Oberförsters antreten.
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strukturieren. Nicht ein bestimmter Glaube ist wichtig, sondern dass es eine rituelle Ordnung des Lebens gibt. Zu solchen »Formen« gehört hier auch die Literatur. Denn zur wünschenswerten »Ordnung« gehört auch eine bestimmte Art von Literaturbetrieb. In der Marina gibt es seit alters den »hoch berühmten« »Stand der Dichter« (S. 47); »Dichter« ist hier somit nicht ein »Beruf«, sondern ein ehrenvoller »Stand«, und das heißt, eine abgegrenzte soziale Klasse, der selbst die Armen durch freiwillige Gaben huldigen. Literatur ist hier Teil einer sozialen Ritualisierung des Jahreszeitenzyklus wie der Lebensphasen: es »war kein Festtag möglich ohne das Gedicht« (S. 48). Das impliziert natürlich, dass die Literatur einer festen Ordnung nach Gattungen unterworfen ist, was am Beispiel des Totenkultes illustriert wird. Der Dichter hat dabei gar das »Amt des [»göttergleichen«!] Totenrichters« (S. 48). Dichtung wird also sakralisiert,51 wobei es zwei literarische Gattungen der Totenhuldigung gibt: für die normalen Menschen das »Elegeion«, für die »Mehrer oder Optimaten« das »Eburnum«: Selbst im Tod wird das ständische System bestätigt. Im Gefolge der Unterwanderung der Marina verkommt auch dieses System. Die feindlichen Gruppen bekämpfen sich nicht nur physisch, sondern auch verbal, wobei auch im Sprachgebrauch ein Verfall eintritt: … ihre Sprache durchsetzte sich mit Wörtern, die sonst dem Ungeziefer galten, das ausgerottet, vertilgt und ausgeräuchert werden soll. (S. 50)52
Jetzt wird das »Eburnum« auch für solche zelebriert, die alles andere als »Optimaten« sind: Aber »keiner der großen Sänger« fand »zu solcher Schändung sich bereit« (S. 50).53 Die sich bereit finden, denen gelingt es nicht: »Nun weiß man aber, daß das Metron ganz unbestechlich ist« (S. 50) – hier wird postuliert, dass es eine dichtungsinhärente »Ordnung« gibt, die sich dem Missbrauch verweigert (vorsichtig ausgedrückt: wieder ein sehr starkes Theorem…). Literaturtheoretische Erörterungen in einem literarischen Text sind natürlich immer auch ein Metatext zu diesem Text; mit anderen Worten: diese Ausführungen in den Marmorklippen drücken zugleich deren literarisches Selbstverständnis aus. Bezogen auf die historische Situation, in der der Text erschienen ist, bedeutet das, da der Text ja nun eindeutig anti-nationalsozialistische Implikationen hat, zugleich eine Verurteilung regimebestätigender Literatur als auch die Behauptung, selbst den für Literatur gesetzten Normen treu geblieben zu sein. Gegen Textende wird uns eine »Dichtung« mitgeteilt: Wenn die Marina zerstört ist, hören die Brüder aus einer christlichen Kapelle einen Gesang der Gemeinde 51 52
53
Vergleichbare Kunstkonzeptionen kennt man natürlich aus dem George-Kreis. Hier bietet sich nun natürlich wieder die historische Applikation an: Jünger weiß, dass er hier etwas beschreibt, was nicht zuletzt verbale Praxis der Nazis in der 20er und 30er Jahren war. Im Text gilt das Merkmal aber für alle Gruppen, die sich im Konflikt befinden. Auf der Ebene der Applikation trifft das natürlich insoweit zu, als man fast alle bedeutenden Autoren ermordet oder ins Exil vertrieben hat; ansonsten ist es eine äußerst kühne Stilisierung der »wahren Dichter«, als hätten diese in der Geschichte nicht oft genug der jeweiligen Macht gehuldigt.
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(S. 154). Allein schon metrisch sind diese Verse so lausig schlecht, dass man wohl schließen muss, solche »niedere« Qualität sei vom Text gewollt: Ausdruck eines hilflosen Stammelns des überforderten »Volkes« – zugleich würde eine latente Opposition von »Dichtung« vs. »Religion« gesetzt. Sehen wir uns, bevor wir uns den zentralen semantischen Komplexen »Sprache« und »Wirklichkeit« zuwenden, nun aber zunächst den Prozess der allmählichen »Machtergreifung« des Oberförsters an: das also, um dessentwillen der Text berühmt wurde. Im Rückblick des Ich beginnen die Probleme mit dem »Krieg vor Alta Plana«, »den man führte, wie man gegen Türken kämpft« (S. 34). Gegen »Türken« – und das betrachtet der Text als selbstverständlich – kämpft man demnach anders als gegen Nicht-Türken, also wohl Europäer. Das muss implizieren, dass man sich gegen Türken Praktiken erlaubt, die man sich vor diesem Krieg gegen Europäer nicht erlaubt hätte: einerseits also eine Kritik an dieser Kriegführung, andererseits Ausdruck einer Abwertung einer ethnisch bzw. kulturell anderen Gruppe – somit eine der vielen für diesen Text typischen moralischen Ambivalenzen. Jedenfalls nimmt das Ich nach dem Kriege in der Marina den »Hauch versteckter Müdigkeit und Anarchie« wahr (S. 34) – eine latente Krise der Ordnung, die erst den Angriff des Oberförsters auf diese Ordnung möglich macht: »Er konnte erst wirken, wenn die Dinge aus sich selbst heraus ins Wanken kamen« (S. 35). Ohne ihre interne Krise wäre die »Ordnung« somit nicht anfällig gewesen. Halten wir fest, dass mit dieser internen Krise zugleich »die Wirklichkeit entschwand« (S. 34 f.) – dazu später. Wie jeder Terrorismus lebt auch der des Oberförsters von einer »Wolke von Furcht« (S. 35), die er erzeugt und die ihm vorausgeht. Ersten Gerüchten von normverletzenden Gewalttaten folgen Fälle offener Gewaltanwendung zunächst in der Campagna: Die Regeln der Blutrache werden verletzt; »Schutzgeld«-Erpressungen nehmen überhand, Überfälle und Plünderungen von Gehöften, deren Bewohner gefoltert und ermordet werden; von den Tätern, den »Feuer-Würmern«, »hörte man […] das Niederste und Unterste, des [sic] Menschen fähig sind« (S. 44). Es kommt zu »Fememorden« an angeblichen »Verrätern« (S. 43).54 Die Campagna ist »in offenem Aufruhr«, das Recht so geschwächt, dass die Verbrechen »kaum noch Sühne fanden – ja, es kam so, daß man von ihnen nicht mehr laut zu sprechen wagte« (S. 44). Die Unterwanderung der Marina setzt ein: Die Blutrachefehden greifen auf die Marina über, man bedient sich »niederer Waffen«, es kommt zu »Menschenjagden« (S. 50). Die allmähliche Zerstörung der Ordnung manifestiert sich auch religiös im Rückfall in primitive Kulte, sprachlich in der Klassifikation von Gegnern als »Ungeziefer«, literarisch im Missbrauch des »Eburnums«. Während die »niederen Agenten« Terror ausüben, dessen »Ziel die Lähmung des Widerstands war«, »drangen die Eingeweihten in die Ämter und Magistrate, ja selbst in Klöster ein«, wo sie sich als Ordnungsmacht ausgeben. Die »niederen Agenten« streben 54
Bekanntlich ja eine in der Weimarer Republik belegte Praxis von Rechtsradikalen.
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bei den Höfen und Häusern zu spionieren, ob in ihnen noch ein Rest von Freiheit lebendig war. Dann wiederholten sich die Banditenstreiche, die man schon aus der Campagna kannte, und die Bewohner wurden bei Nacht und Nebel abgeführt. Von dort kam keiner wieder […]. (S. 54 f.)55
Ihren Höhepunkt findet die Darstellung des organisierten Terrorismus natürlich, als die Brüder beim Botanisieren in den Wald eindringen und dort auf die Lichtung von Köppels-Bleek stoßen (Kapitel 19), wo sie sich »wie im Zentrum eines Wirbelsturms« (S. 93) fühlen, was die Szene eindeutig mit ihren Erfahrungen bei den Mauretaniern verbindet (»im Zentrum des Zyklons« = S. 32); das gemeinsame Merkmal beider Orte ist die Indifferenz gegenüber menschlichem Leiden, bei den Mauretaniern als theoretisierte, in Köppels-Bleek als praktizierte. »Die Stätte der Unterdrückung in ihrer vollen Schmach« (S. 93) besteht aus einer Scheune, an deren Giebel ein menschlicher Schädel und Hände angenagelt sind; auch an den umgebenden Bäumen hängen Totenköpfe. Im offenen Tor der Scheune erkennt man »eine Schinderbank mit aufgespannter Haut«, dahinter »schwammige Massen« (S. 95), umgeben von Schmeißfliegen. Menschliche Leichen werden hier gehäutet und die Häute weiter verarbeitet. Aus der Scheune zieht ein »schwerer und süßer Hauch der Verwesung« (S. 96). Sich ein Liedchen pfeifend geht ein graues Männlein »in lemurenhafter Heiterkeit« (S. 95) seinem Schinder-Handwerk nach. »Lemuren« und »Larven« (die im selben Kapitel belegt sind) sind nun aber in der römischen Mythologie bösartige Totengeister (im Gegensatz zu den guten »Laren«, tote Ahnen, die als gute Hausgeister fungieren: ihnen haben die Brüder in der Rautenklause kultische Verehrung gewidmet).56 Wenn den Schindern des Oberförsters der Status von »Lemuren« bzw. »Larven« zugeschrieben wird, werden sie somit mit den Merkmalen »unheimlich-bedrohlich«, »nicht-menschlich«, »nicht-lebend« ausgestattet, wobei »nicht-menschlich« und »nicht-lebend« offenkundig nicht nur die wörtlich-biologische Bedeutung, sondern auch die emphatisch-metaphorische impliziert (»unmenschlich« + ohne »Leben« im emphatischen Sinne). Hier in Köppels-Bleek wird das Ich denn auch später die aufgespießten Häupter Braquemarts und Sunmyras finden. Das Ich kommentiert den Ort: So sind die Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannis sich erheben, und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich kräuseln sieht – Stinkhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt. (S. 96)
Die moralische Wertung solcher Implikationen der Gewaltherrschaft im Namen von Menschenwürde und Freiheit ist unzweideutig und muss bei einem Text, der im Nazi-Reich bei Kriegsbeginn erschienen ist, als sehr mutig anerkannt werden; schließlich liegt auf der Hand und war dem Autor bewusst, dass solche Äußerungen 55 56
Natürlich weiß Jünger, dass er hier Praktiken des Nazi-Reichs abbildet. Vgl. Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon, Sp. 1450 f.
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von kritischen Zeitgenossen als anti-nationalsozialistisch gelesen werden konnten; schon wegen wesentlich geringerer Kritik konnte man, wie unser Text formuliert, »bei Nacht und Nebel abgeführt« werden, ohne je zurückzukommen. Aber Jünger wäre nicht Jünger, würde diesem Passus nicht sofort – nun, sagen wir: – Seltsames folgen. Wenn ein solcher Zustand der Verletzung elementarer Werte und Rechte eingetreten sei, dann gelte: Da sieht man die Schwachen schon weichen, wenn kaum die ersten Nebel brauen, doch selbst die Krieger-Kaste beginnt zu zagen, wenn sie das Larven-Gelichter aus den Niederungen auf die Bastionen emporgestiegen sieht. So kommt es, daß Kriegesmut auf dieser Welt im zweiten Treffen steht; und nur die Höchsten, die mit uns leben, dringen bis in den Sitz des Schreckens ein. Sie wissen, daß alle diese Bilder ja nur in unserem Herzen leben, und schreiten als durch vorgestellte Spiegelungen durch sie in stolze Siegestore ein. So werden sie durch die Larven gar herrlich in ihrer Wirklichkeit erhöht. (S. 96 f.)
Wir haben also die Opposition »gespenstische, nicht-menschliche Untote« vs. »Menschen« und innerhalb letzterer die hierarchisierte dreigliedrige Opposition »Schwache (≈ Nicht-Krieger)« < »Krieger (≈ Nicht-Schwache)« < »die Höchsten« (diese in der doppelten Opposition zu den »Niederen« und zu den »Hohen«). Dem Angriff der Larven von »unten« auf die als Festung gedachte und von den Kriegern repräsentierte Ordnung entspricht umgekehrt das Eindringen der »Höchsten« »in den Sitz des Schreckens«, was eine Art Gegenangriff darzustellen scheint. Aber dieser Angriff ist nicht ein militärischer wie der der Larven und führt auch nicht zu deren Ausrottung: Ein effizienter und notfalls gewaltsamer Widerstand ist nicht vorgesehen (wie sich in der Folge noch bestätigen wird). Die Larven werden einfach für »unwirklich«, zu bloßen »Bildern« und »Spiegelungen« erklärt, die den »Höchsten« folglich nichts anhaben können; diese werden sogar – was immer das heißen mag – durch die Larven »in ihrer Wirklichkeit erhöht«: Den »Höchsten« wird jedenfalls eine »gesteigerte Wirklichkeit« zugeschrieben. Wenn nun die Larven nur als »Bilder« im »Herzen« der Menschen existieren: soll das dann bedeuten, dass ihnen die Realität abzusprechen, sie also faktisch zu ignorieren, ein Quasi-Sieg über sie sei? Ist das dann die ideale »innere Emigration«, die Existenz des menschenverachtenden Feindes zu leugnen? Und durch welche »Siegestore« schreitet man dann wohin? Wieder haben wir die (nicht nur für diesen Text Jüngers) charakteristischen semantischen Nullpositionen genau da, wo es um die im Text ranghöchsten ideologischen Konzepte geht. »Sprache« ist nun nicht nur das semiotische System, dessen sich der Text bedient: Sie wird selbst immer wieder zum Thema. Sprache ist hier zunächst eine Macht, die Ordnung schafft: Das Wort ist König [!] und Zauberer [!] zugleich. Wir gingen vom hohen [!] Beispiel des Linnaeus aus, der mit dem Marschallstab [!] des Wortes in das Chaos der Tier- und Pflanzenwelt getreten war. Und wunderbarer als alle Reiche, die das Schwert erstritt, währt seine Herrschaft [!] über Blüten-Wiesen und die namenlosen Legionen [!] des Gewürms. So trieb auch uns die Ahnung, daß in den Elementen Ordnung waltet, an. (S. 27)
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Mit solchem Sprachgebrauch ist also einerseits Herrschaft korreliert – Sprache erobert und unterwirft die Realität – und anderseits Magie – Sprache verwandelt die Realität: Vor allem setzten wir unsere Arbeit an der Sprache fort, denn wir erkannten im Wort die Zauberklinge [!], vor deren Strahle die Tyrannen-Macht erblaßt. Dreieinig sind das Wort, die Freiheit und der Geist. (S. 76)
Es ist also nur konsequent, wenn, wie oben erwähnt, die Furcht dazu führt, über Verbrechen nicht mehr zu reden und wenn die zunehmende Tyrannei zu Veränderungen der alltäglichen wie der literarischen Sprache führt. Um die adäquate Sprache muss man sich bemühen: Das Ich meint, eine Veränderung der Gegenstände wahrzunehmen, und die Veränderung nahm ich zunächst als Mangel wahr, insofern als die Sprache mich nicht mehr befriedigte. […]. Im gleichen Augenblick fühlte ich, fast schmerzhaft, wie das Wort von den Erscheinungen sich löste […]. Ich hatte nie zuvor geahnt, daß S p r e c h e n solche Qual bereiten kann, und dennoch sehnte ich mich nach dem unbefangeneren Leben nicht zurück. (S. 25 f.)
Eine Sprachkrise ist also eingetreten: Und da in deren Folge das Ich sich bemüht, »Wörter« zu »ergründen« (S. 26), also ihren »Grund« herauszufinden, kann die Ablösung des »Wortes« von den »Erscheinungen« nur bedeuten, dass es um die Arbitrarität der Relation von Signifikanten zu Signifikaten (bzw. Referenten), also um die Unmotiviertheit bestimmter Lautfolgen zur Bezeichnung irgendwelcher Realien, geht. Diese »Ergründung« scheint zu gelingen; worin sie besteht, wird nicht ausgeführt. Was Ich und Otho, nachdem sie die Bedrohung der Ordnung durch die Horden des Oberförsters wahrgenommen haben, »oft viele Stunden in Moor und Ried« treiben, ist aber außersprachlich: Wenn ich die Einzelheiten dieses Werkes nicht beschreibe, so liegt das daran, daß wir Dinge trieben, die außerhalb der Sprache liegen, und sich daher dem Banne, den Worte üben, entziehen. […]. In Solchem findet unsere beste Arbeit statt, und so schien es auch uns, daß uns im Kampfe selbst die Sprache noch nicht genüge, sondern daß wir bis in die Traumes-Tiefen dringen müßten, um die Bedrohung zu bestehen. (S. 88 f.)
Es gibt also einen Raum des Nicht-Sprachlichen und nicht-sprachliche Praktiken, die zwar als »Werk« und »Arbeit« benannt, aber nicht sprachlich artikuliert werden können, was ihren Inhalt betrifft. Was die Brüder treiben, bleibt also unausgesprochen: Nullposition. In dem »Kampfe«, in dem sie sich befinden, erscheint Sprache trotz ihrer »Ordnung« schaffenden »Macht« keine ausreichende »Waffe«. Über diese – nicht-spezifizierten – nicht-sprachlichen Praktiken hinaus muss man aber sogar »bis in die Traumes-Tiefen dringen«, sich also in irgendeiner Weise mit dem Raum des »Unbewussten« – das Konzept gehört ja dank Freud und den Seinen 1939 seit einigen Jahrzehnten zum kulturellen Wissen – beschäftigen.
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Eine adäquate Sprache steht also als Ordnungsmacht in Opposition zur anarchischen Tyrannei: Nun erfahren wir aber nicht, dass die Brüder sich dieser »Waffe« gegen den Oberförster öffentlich bedienen würden, was allein wirksam sein könnte; sie tun es allenfalls im privaten Raum untereinander. Auch ihre außersprachlichen Praktiken und ihr Eindringen in »Traumes-Tiefe« verbleiben in diesem außersozialen Privatraum. Wohl erwägen sie, mit ihrem – dazu sofort bereiten – Verbündeten Belovar, gewaltsamen Widerstand: den Ausweg der Gewalt. Noch hielten die Mächte an der Marina sich so die Waage, daß geringe Kräfte den Ausschlag gegeben konnten […]. Wenn wir indessen im Herbarium oder in der Bibliothek die Lage gründlicher besprachen, entschlossen wir uns immer fester, allein durch reine Geistesmacht zu widerstehn. (S. 75)
Solchen Widerstand »allein durch reine Geistesmacht« lobt sich wohl jeder Despot… Da also ihr verbales und non-verbales Verhalten folglich der schleichend-sukzessiven »Machtergreifung« des Oberförsters nicht im geringsten Einhalt gebieten kann: inwiefern können sie dann so »die Bedrohung bestehen«? Da die Bedrohung der politisch-sozialen Systeme der Marina damit nicht verhindert werden kann, wie der Text ja selbst vorführt, muss es einzig und allein um die Bedrohung des Selbst der Brüder gehen. Der »Widerstand«, den sie leisten, ist also einer, der nur sie bewahrt. Wovor er sie bewahrt, kann somit nur die Gefahr sein, der Versuchung durch den Oberförster zu erliegen. Das wiederum heißt: in sich – und nur in sich – selbst bekämpfen sie das ideologische System des Oberförsters, das also in ihnen als Potential angelegt sein muss. Nicht die Gesellschaft vor dem Oberförster zu retten, gilt es hier: sondern die eigene Psyche. »Widerstand« bedeutet nur, sich selbst von Zustimmung zur Tyrannei freizuhalten: »innere Emigration« eben. Gleichwohl findet nun natürlich die Vernichtung jener »Ordnung« statt, die man für wünschenswert erklärt hat. Dagegen aber hilft die reichlich seltsame Metaphysik des Textes, der wir schon mehrfach begegnet sind: Und freudig erfaßte uns das Wissen, daß die Vernichtung in den Elementen nicht Heimstatt findet, und daß ihr Trug sich auf der Oberfläche gleich Nebelbildern kräuselt, die der Sonne nicht widerstehn. Und wir erahnten: wenn wir in jenen Zellen lebten, die unzerstörbar sind, dann würden wir aus jeder Phase der Vernichtung wie durch offene Tore aus einem Festgemach in immer strahlendere gehn. (S. 77)
So endet der Text denn auch, als die Brüder nach Alta Plana zu Ansgar Vater und Sohn entkommen sind: »Da schritten wir durch die weit offenen Tore wie in den Frieden des Vaterhauses ein« (S. 157). In diesen Kontext gehört nun auch die Gestalt des Paters Lampros. Diesem wird nicht nur eine »geistige« Überlegenheit zugeschrieben, sondern er, der das Vertrauen aller religiösen Gruppen genießt, erscheint zudem über alle Machenschaften in Campagna und Marina bestens informiert. Aber an keiner Stelle versucht er, in das Geschehen einzugreifen, und er meint:
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Die Stunde der Vernichtung aber müsse die Stunde des Lebens sein. So konnte ein Priester sprechen, der sich vom Tode angezogen fühlte wie von fernen Katarakten, in deren Wirbelfahnen die Sonnenbogen stehen. Wir aber waren in der Lebensfülle und fühlten uns der Zeichen sehr bedürftig, die auch das körperliche Auge erkennen kann. So glänzt uns Sterblichen erst in der Mannigfaltigkeit der Farben, das eine und unsichtbare Licht. (S. 83 f.)
Ich lasse den seltsamen Vergleich mit den »Katarakten« und das ebenso seltsame »eine und unsichtbare Licht« unkommentiert stehen. Dass er »geschaffen« sei, »in die hohen Grade des Feuers einzutreten«, wie Otho verkündete, bestätigt Lampros beim Untergang der Marina, wo er, in einem Fenster seiner brennenden Klosterkirche stehend, den Brüdern noch eine sakrale Geste – »wie bei der Consecratio« (S. 151) – zukommen lässt, bevor die Kirche mit ihm zusammenbricht. Auch Lampros, der als Priester denn doch eine soziale Verantwortung hätte, reicht es offenkundig, ein außerirdisches »Heil« zu erstreben. Es bleibt unklar, ob und inwieweit der Text diese Position akzeptiert. Denn an anderer Stelle wird gegen die Bedrohung eine neue Theologie verlangt: … und daher taten Ordner not und neue Theologen, denen das Übel bis in die feinsten Wurzeln deutlich war; dann erst der Hieb des konsekrierten Schwertes der wie ein Blitz die Finsternis durchdringt. Aus diesem Grunde mußten die einzelnen auch klarer und stärker in der Bindung leben als je zuvor – als Sammler an einem neuen Schatz von Legitimität (S. 109)
Da der Text selbst keine erkennbare (bzw. keine bekannte) religiöse Position bezieht,57 erklärt sich das Verlangen nach einer »neuen Theologie« wohl daraus, dass religiöse Kulte hier unabdingbar zum Konzept von »Ordnung« gehören. Die »Ordnung« bedarf offenkundig einer ideologischen Legitimation, die von den Gesellschaftsmitgliedern akzeptiert wird – »Bindung« umspielt nicht zufällig die etymologische Bedeutung des lateinischen »religio«. Wie alles in diesem Text kann man hier auch »Legitimität« sammeln, und »Legitimität« bedeutet offenbar, dass es eine Rechtsordnung gibt, deren Konsequenzen man akzeptiert. Wie auch sonst an entscheidenden Stellen bleibt die »neue Theologie« inhaltsleere Nullposition: Nicht wichtig ist, um welche ideologische Ordnung es sich handelt; wichtig ist nur, dass es eine ideologische Ordnung gibt. Verlangt ist aber, dass sie den Status des – als solches anerkannten – »Heiligen« hat. Doch noch einmal zurück. Sprache ist nun nicht nur Thema im Text, sondern auch Problem des Textes. Wie die Thematisierung von Literatur in literarischen Äußerungen immer auch Selbstthematisierung und Selbstreflektion der Textstrukturen ist, so ist es auch die Thematisierung von Sprache in einem sprachlichen Text. Was nun die Sprache des Textes selbst anlangt, so finden sich erstens immer wieder seltsame (Pseudo-)Archaismen: so z. B. »Meintat und Neidingswerk« (S. 58), 57
Jünger selbst scheint später – 1996 – seltsamerweise zum Katholizismus konvertiert zu sein (Thomas Amos, Ernst Jünger, Reinbek 2011 [rowohlts monographien 50715], S. 114); vielleicht erklärt sich das ja aus einem Bedürfnis nach sozialen Ritualisierungen?
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der Spruch auf dem Siegelring des Lampros (»meyn geduld hat ursach58«: S. 71) oder der auf dem Wappen von Biedenhorn (»De Willekumm / geiht um«: S. 53); usw. Auffällig ist zweitens die Vorliebe für das, was »kostbar«, »erlesen« und »erhaben« scheint: So wohnt man nicht einfach auf Klippen: sie müssen schon aus »Marmor« sein; so ist man nicht bei der Kavallerie: sondern bei den »Purpurreitern«; so spricht man nicht einfach vom großen Biologen Linné: sondern vom »hohen Meister Linnaeus«; nicht einfach von »Runen« bzw. Schrift« ist die Rede: sondern von »Sonnen-Runen« und »Pali-Schrift«; usw. Wenn schließlich das Ich mit Belovar und den Seinen in den Kampf zieht, dann ist es selbstverständlich »berufen von hoher Geistesmacht« (S. 121) – billiger macht man’s nicht. Selbst die Syntax wird nicht verschont: So ist z. B. »die große Mutter« »solcher Söhne stolz« oder man hört von den Schurken »das Niederste und Unterste, des Menschen fähig sind«. Drittens schließlich neigt der Text zu Manierismen. Nur ein Beispiel: »Weiber, die keine Arbeit leisten, als mit der Hand, darauf man sitzt« (S. 57; Hervorhebung von mir) – eine seltsame Periphrase für »Hinterhand«, die ihrerseits wiederum ein Euphemismus für »Hintern« ist; bei dem Syntagma insgesamt handelt es sich ebenfalls um eine Periphrase: »Frauen, die als Huren arbeiten«. Neben den Komponenten des Preziösen, Prätenziösen, Manierierten ist viertens – und vor allem – der Wille intensiv belegt, »tiefe Bedeutungen« zu vermitteln: das, was Nietzsche zu Recht als »deutsche Tiefe« verhöhnt hat. So kommt es denn immer wieder zu Passus, die sich als extrem »bedeutungsschwanger« präsentieren, nur dass solche Bedeutungsschwangerschaften gern in Fehl- oder Missgeburten enden. Die bisherigen Zitate belegen, denke ich, diese Tendenz des Textes hinreichend: Immer wenn sich der Text ins Quasi-Metaphysische steigert, verschwimmt die Semantik im Unbestimmten; einer Signifikantenfolge lässt sich kein präzisierbares Signifikat mehr zuordnen. Für diese semantischen Nullpositionen hat sich der Text nun aber in seiner oben skizzierten »Sprachtheorie« selbst ein Alibi geschaffen, indem er einen Bereich jenseits der Sprache setzt und für relevant erklärt.59 Gerade die ideologisch ranghöchsten Größen entziehen sich, postuliert der Text, rationaler Rekonstruktion, womit er sich selbst die Lizenz zur »Dunkelheit« erteilt hat. Eine halb-okkultistische Metaphysik wird postuliert, bleibt aber semantisch leer. Eröffnet wird ein Konnotationsraum, den Leser(innen) nach Belieben auffüllen können, sofern ihre Assoziationen die Bedingung erfüllen, dass eine Welt jenseits aller sinnlichen Wahrnehmbarkeit angenommen wird, die sich taxonomischer Klassifizierbarkeit durch Sprache entzieht. Evident ist der Wille, »Kunst« im emphatischen Sinne zu produzieren. Das sichtlich »Angestrengte« und »Gesuchte« solcher »Kunst«-Produktion legitimiert sich textintern dadurch, dass eine Sprache zu finden sei, die als »Waffe« dienen könne (wenn auch nicht zur Besiegung der Despotie, so doch zum Schutz der Brüder vor sich selbst). 58
59
Welche wir übrigens nie erfahren. Der Spruch wird, wenn ich recht sehe, nicht funktionalisiert. Es wird einfach nur suggeriert, dass etwas »Bedeutungsvolles« vorliege. Ein »Unsagbares«, das mir freilich eher »unsäglich« scheint.
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Ein letztes – ebenfalls zentrales – Konzept des Textes soll noch diskutiert werden: das, was im Text »Wirklichkeit« heißt. Wenn die »Schwächung« der »Ordnung« in der Marina einsetzt, heißt es, dass »die Wirklichkeit entschwand« (S. 35). Da »Ordnung« aber mit »Form(en)«, also mit Grenzziehungen, und ihre Störung mit »Verwischen« der »Form« korreliert ist, bedeutet eine Reduktion von »Wirklichkeit« eine Tilgung von Grenzen, äquivalent mit einer Nicht-Unterscheidbarkeit von Bereichen. Das Zeichen für den Verlust an Unterscheidbarkeit ist in diesem Text der »Nebel«, der schon früh, noch ganz beiläufig, als Vergleich auftritt: So wie im Bergland ein dichter Nebel die Wetter kündet, ging dem Oberförster eine Wolke von Furcht voraus. Die Furcht verhüllte ihn […]. (S. 35)
Köppels-Bleek aber ist »die üble Küche, aus der die Nebel über die Marina zogen« (S. 96): Was zunächst nur ein reales meteorologisches Phänomen scheint, erweist sich somit als Zeichen der vom Oberförster ausgelösten Veränderungen. »Nebel« verhüllt und steht in Opposition zu Licht, Klarheit, Erkennbarkeit. So sind es denn auch die »Nebeltage«, an denen es den Brüdern scheint, als ob zugleich das Land sich in der Form verändere – als ob sich seine Wirklichkeit vermindere. (S. 84)
An einem solchen Tag wird ihr Weg die Brüder nach Köppels-Bleek, dem Ursprung der Nebel, führen: Gleich hinter seiner Grenze [der des Besitzes von Belovar] setzte ein tolles Nebeltreiben ein, das alle Formen verwischte und uns bald Weg und Steg verlieren ließ. So irrten wir im Kreis auf Moor und Heide […]. (S. 90) Die Nebel wallten in den Büschen, und das Röhricht zischelte im Wind. Ja, selbst der Boden, auf dem wir schritten, kam uns fremder und unbekannter vor. Vor allem aber war es bedenklich, daß sich die Erinnerung verlor. Dann wurde das Land ganz trügerisch und schwankend und den Gefilden ähnlich, die man in Träumen sieht. So gab es immer Orte, die wir mit Sicherheit erkannten, doch gleich daneben wuchsen wie Inseln, die aus dem Meer tauchen, neue und rätselhafte Streifen an. Um hier die rechte und wahre Topographie zu schaffen, bedurfte es unserer ganzen Kraft. (S. 88)
Es gilt also: »Nebel« ≈ »Verlust/Veränderung der Form« ≈ »Verminderung von Wirklichkeit« ≈ »Verlust von Orientierung« ≈ »Nicht-Wiedererkennbarkeit des Bekannten« ≈ »Tilgung von Unterscheidbarkeit/Grenzziehungen«. Wirklichkeit ist hier folglich äquivalent mit der Existenz unterscheidbarer »Formen«, also mit Grenzen zwischen disjunkten Größen, mit (Wieder-)Erkennbarkeit einer »Ordnung«, mit Orientierung im räumlichen wie im ideologischen Sinne; sie ist somit nicht ein selbstverständlich Gegebenes, sondern etwas, was verloren gehen bzw. hergestellt werden kann. Wenn die Brüder im Nebel die »rechte und wahre Topographie« nicht wiederfinden bzw. rekonstruieren können, sondern »schaffen« müssen, dann ist »Wirklichkeit« das Produkt eines Aktes der Konstruktion. »Wirklichkeit« ist hier
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ganz etymologisch-wörtlich das Produkt eines »Wirkens«, weshalb denn auch der Oberförster die Wirklichkeit ihrer Wahrnehmbarkeit berauben kann. Und wenn Otho vom Pater Lampros sagt, »er, der gleich einem Träumer hinter Klostermauern lebe, sei von uns allen vielleicht allein in voller Wirklichkeit« (S. 74), dann muss das wohl heißen, Lampros verfüge über eine die Welt disjunkt strukturierende Ideologie. Dass »Wirklichkeit« abnehmen kann, heißt also umgekehrt, dass die Kraft, sie durch »Wirken« in unterscheidbaren »Formen« zu strukturieren, Gesellschaften bzw. Individuen verlorengehen kann. Wenn aber »Wirklichkeit« in diesem Sinne ein Konstrukt ist, dann besteht dessen »Legitimität« (S. 109) in der Akzeptabilität eines solchen Konstrukts für eine Gruppe, die nur durch einen ideologischen »Überbau« (etwa der »Ordner und neuen Theologen«) gesichert werden kann, sobald eine »alte Ordnung« die sich eben qua »Alter« »legitimiert« und »Wirklichkeit« hat, weil sie »wirkt«, verlorengegangen ist. Die einzige zwingende Bedingung für eine akzeptable »Wirklichkeit« scheint aber die Nicht-Verletzung der »Menschenwürde«, wenngleich eine ständisch geschichtete Gesellschaft und eine Unterwerfung unter gegebene Herrschaftsverhältnisse selbstverständlich zu sein scheinen. Ein letzter Punkt sei nur am Rande erwähnt. Der Untergang der Marina im Brand erscheint dem Ich nicht nur als eine Katastrophe, sondern zugleich als ein ästhetisches Schauspiel (S. 142 f.): »So flammen ferne Welten zur Lust der Augen in der Schönheit des Unterganges auf« (S. 143); Ästhetizismus und Ethik kollidieren hier offenkundig: In dieser »Schönheit des Untergangs« verrecken Menschen. Der Text entwirft ein zyklisches Modell der Kulturgeschichte; so wird anlässlich des Wirkens der Mauretanier in aller Gelassenheit konstatiert: Wie aber, wenn die Schwachen das Gesetz verkennen, und so in der Verblendung mit eigener Hand die Riegel öffnen, die zu ihrem Schutze geschlossen sind? So konnten wir auch die Mauretanier nicht durchaus tadeln, denn tief war Recht und Unrecht nun vermischt; die Festen wankten, und die Zeit war für die Fürchterlichen reif. Die MenschenOrdnung gleicht dem Kosmos darin, daß sie von Zeit zu Zeiten, um sich von neuem zu gebären, ins Feuer tauchen muß. (S. 62)
Rangniedere Menschen (»die Schwachen«) haben also ihnen autoritär auferlegte Begrenzungen ihrer Freiheit im eigenen Interesse hinzunehmen – Demokratie ist wahrlich Jüngers Ding nicht. »Das Gesetz« bleibt wieder einmal eine nichtspezifizierte Größe; es kann aber eigentlich nur jene Rangordnung sein, die den »Schwachen« ihren Platz in der Gesellschaft anweist. Zwar nimmt man Anteil an den »Schwachen«: solange sie nicht ihren Platz in der »Ordnung« verkennen und mehr sein wollen, als ihnen »zusteht«. Und gewaltsame Untergänge einer Kultur werden als von Zeit zu Zeit quasi naturnotwendig akzeptiert. Solche »Neugeburt« durch Feuer wurde ja auch anhand der drei Witwen indischer Könige und von Peregrinus zelebriert; vielleicht gehört auch das Ende von Lampros in diese Gruppe von Phänomenen.
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2. Probleme der Applikation Als Applikation sei eine bestimmte – von Rezipienten zu Recht oder Unrecht angenommene oder hergestellte – Relation zwischen einer semiotischen Äußerung (also einem »Text« im weitesten Sinne) und einer – sei es: vergangenen, sei es: zeitgenössischen – »Realität« außerhalb dieses »Textes« benannt, bei der (mindestens eine Teilmenge der) Signifikate des »Textes« mit extratextuellen Referenten, seien es Räume, Ereignisse, Personen usw., identifiziert werden; die Applikation nimmt also eine Abbildungsrelation (im logisch-mathematischen Sinne) zwischen einer (Menge von) Größe(n) der vom Text dargestellten Welt und einer (Menge von) Größe(n) an, deren extratextuelle reale Existenz das kulturelle Wissen60 (mindestens einer Teilgruppe) der Rezipienten unterstellt. Doch sind die Bedingungen für Applikation damit noch nicht zureichend spezifiziert. Bekanntlich entwirft jeder »Text« ein Modell der Welt,61 das mit der im kulturellen Wissen als »real« geltenden Welt verglichen werden kann und mit ihr in variablem Ausmaß »übereinstimmen« mag, wie dies schon das aristotelische Postulat einer »Mimesis«, einer »Nachahmung der Realität«, verlangte. Nun muss aber zunächst der Begriff der »Mimesis« präzisiert (folglich umformuliert) werden: Vernünftigerweise kann Mimesis nur heißen, dass die vom »Text« dargestellte Welt im Rahmen des jeweiligen kulturellen Wissens als möglich gilt (weil sie keine der Annahmen des kulturellen Realitätsbegriffes verletzt), nicht aber, dass sie tatsächlich existieren bzw. existiert haben müsste, auch wenn dies der Fall sein kann. Denn es gibt ja z.B. historische Dramen und Romane, die identifizierbare Geschehnisse, Personen usw. darstellen, deren – wenn auch vergangene – tatsächliche Existenz das kulturelle Wissen annimmt. In – zum Beispiel – Schillers Jungfrau von Orléans (1802) oder Dahns Ein Kampf um Rom (1876) wird ein solches kulturelles Wissen als Bedingung einer adäquaten Interpretation vorausgesetzt: Dass sich die Größen der dargestellten Welt mit diesen oder jenen Größen der historischen Realität identifizieren lassen (und hier schon aufgrund der den Figuren zugewiesenen Eigennamen, wie viele Abweichungen von der »historischen Realität« die Texte sonst auch aufweisen mögen), ist selbst Teil der interpretatorisch zu rekonstruierenden Textbedeutung, nicht erst das Produkt einer Operation der Applikation. Solche Texte mögen über ihre Interpretation hinaus zusätzlich eine Applikation erlauben, wenn die Strukturen der dargestellten Welt zudem solchen einer anderen historischen Realität entsprechen: Was anhand einer historischen Situation Si dargestellt ist, träfe dann auch auf eine andere historische Situation Sj zu und kann also von Rezipienten in dem Sinne »angewandt« werden, dass man in Si Sj wiedererkennt. Wenn nun eine beliebige »Text«-Größe GT, also etwa ein Geschehen oder eine (Menge von) Figur(en) der »Text«-Welt, nicht wie bei Schiller oder Dahn explizit – z.B. durch Namen usw. – mit einer Größe GR der 60
61
Zum Begriff: Michael Titzmann, Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977 (UTB 582). So Lotman, Die Struktur literarischer Texte.
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kulturell für real gehaltenen Welt identifiziert wird: was sind dann die Bedingungen einer vom »Text« legitimierten, weil in ihm angelegten Applikation der »Text«-Welt auf die »reale« Welt? Es muss eine »Übersetzbarkeit« derart geben, dass z.B. (mindestens) ein Ereignis ET einem Ereignis ER bzw. eine Figur FT einer Person PR »entspricht« (also ET ≈ ER bzw. FT ≈ PR). Will man die Applizierbarkeit einer »Text«-Welt auf eine »reale« Welt annehmen, sollten jedenfalls einige Bedingungen erfüllt sein:62 1) Wissen über die »reale« Größe GR muss Teil des kulturellen Wissens mindestens einer (sozial relevanten!) Gruppe sein. Wenn ein Autor/Filmer usw. in einer Figur z.B. seine Geliebte portraitiert, die außer den beiderseitigen Familien und Freunden niemand kennt, wird kein sonstiger Rezipient darauf verfallen, Aussagen des »Textes« als Aussagen über die »Realität« aufzufassen und also auf die Lebenswirklichkeit dieser Geliebten anzuwenden und daraus Folgerungen zu ziehen. Als 2003 Maxim Billers Roman Esra erschien, klagten dessen Ex-Geliebte und deren Mutter, die sich darin abgebildet fühlten, gegen den Roman.63 Beider Existenz und ihre Merkmale gehörten nicht eben zum kulturellen Wissen, d.h. kaum jemand hätte sie erkannt und Folgerungen über sie ziehen können. Erst dank der Klage ist der Text zumindest partiell zum (freilich verbotenen) »Schlüsselroman« geworden. 2) Jede solche beliebige Größe GT wird vom »Text«, jede beliebige Größe GR kann vom kulturellen Wissen mit einer Menge von Merkmalen ausgestattet werden. Damit beide legitim als äquivalent gesetzt werden können, muss offenkundig der Durchschnitt der beiden Merkmalsmengen [M1(GT) M2(GR)] relevant und spezifisch sein, d.h. hinreichend umfänglich und hinreichend individualisierend, um eine Identifikation zu erlauben. Der Merkmalsdurchschnitt ist umso relevanter, je mehr Merkmale der beiden Mengen er umfasst; er ist umso spezifischer, je kleiner die Gruppe realer Personen ist, auf die die Merkmale zutreffen – es gibt erfreulich viele »Frauen« in Deutschland, eine »Bundeskanzlerin« bisher nur einmal. Auch wenn jedes einzelne Merkmal nicht spezifisch für eine reale Person ist, kann es die Kombination mehrerer Merkmale durchaus sein: Wenn eine FT etwa durch die Merkmale »1879 geboren«, »Urheber einer physikalisch revolutionären Theorie«, »später in den USA lebend« charakterisiert würde, wäre die Wahrscheinlichkeit wohl hoch, dass FT nur als Albert Einstein identifiziert werden kann, sofern man nach einer realen Entsprechung PR sucht. Natürlich erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Applizierbarkeit umso mehr, je mehr Größen GT relevante und spezifische Merkmalsdurchschnitte mit Größen GR aufweisen. 62 63
Im gegebenen Kontext kann ich diese Bedingungen nicht ausreichend präzisieren. Sie erzielten das Verbot des Romans durch das Landgericht München 2003 und durch das Bundesverfassungsgericht 2007 (dort allerdings nur mit knapper Mehrheit: 5:3).
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3) Die ideale Legitimation einer Applikation liegt vor, wenn nicht nur mehrere Größen GT – Räume, Ereignisse, Figuren usw. – aufgrund ihrer Merkmale mit entsprechenden Größen GR identifiziert werden können, sondern zudem die Relationen zwischen GT1, GT2, …, GTn denen zwischen GR1, GR2, …, GRn entsprechen: wenn somit eine Homologie der Strukturen des »Textes« und denen der »Realität« vorliegt, sich also im »Text« eine Größe GTi zu einer Größe GTj verhält, wie in der »Realität« GRi zu GRj. In diesem Falle haben die Merkmale einer Relation RT im Text ebenfalls einen relevanten und spezifischen Durchschnitt mit den Merkmalen einer Relation RR in der »Realität«. Mithin kann es Grade einer solchen Applizierbarkeit geben: je nach dem, für wie viele »Text«-Größen Entsprechungen in der »Realität« sich finden lassen, wie viele Relationen zwischen »Text«-Größen solchen in der »Realität« entsprechen, wie signifikant der jeweilige gemeinsame Durchschnitt zwischen den Merkmalen der Größen bzw. denen der Relationen ist. Um ein Auf den Marmorklippen zeitlich nahes Beispiel zu verwenden: In Lion Feuchtwangers bedeutendem Roman Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz (1930) hat man Figuren aufgrund der Merkmale und der Relationen als Abbildungen der Literaten Brecht, Ganghofer, Thoma, und natürlich des Autors selbst, des Komikers Valentin, der Politiker Hitler, Heym, von Kahr, Ludendorff, Roth identifiziert und Geschehnisse als solche der bayerischen Politik bis inklusive zu Hitlers berüchtigtem, peinlich gescheitertem »Marsch auf die Feldherrnhalle«; andere Figuren und Geschehnisse hingegen haben kein Korrelat in der historisch-politischen »Realität«. Hier hätten wir also einen relativ hohen Grad an Applizierbarkeit. Sehen wir uns nun unter diesem Aspekt die Marmorklippen an. Die wissenschaftliche wie die nicht-wissenschaftliche Rezeption des Textes scheint hier lange arg gesündigt zu haben. Schließen wir zuerst solche Applikationen aus, die rein biographistischer Natur sind. So scheint man etwa die Marina mit der BodenseeLandschaft, in der Jünger wohnte, Alta Plana mit der Schweiz identifiziert zu haben. Wahrnehmungen dieser Landschaften mögen in Jüngers Produktionsprozess eine Rolle gespielt haben; für die Textsemantik sind solche Identifikationen gänzlich unerheblich. Auch lassen sie sich nicht konsequent durchführen, da das Raumsystem des Textes eine bewusst fiktive Topographie aufbaut, die solche simplen Zuordnungen verhindert: Seit wann grenzt der Bodensee-Raum an Burgund, und womit möchte man den nördlich gelegenen »Wald und Sumpf« identifizieren?64 Der dargestellte Weltausschnitt erscheint hier, was die Marina betrifft, eher als ein mediterraner Raum, der sich keiner realen Geographie zuordnen lässt. Evident ist hingegen erstens, dass der Text den Zerfall einer – zwar konservativen, wo nicht reaktionären, aber rechtstaatlichen – »Ordnung« darstellt; sie befindet sich in einer latenten Krise nach einem verlorenen Kriege, und diese Krise ermöglicht die zunächst allmähliche und schleichende Unterwanderung, dann gewalttätige Machtergreifung durch den Oberförster, dessen Ziel ein »Freiheit und 64
Und natürlich hat das »Deutsche Reich« auch nicht Krieg gegen die Schweiz geführt. Usw., usw.
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Menschenwürde« missachtendes System ist, das keinerlei rechtsstaatliche Normen kennt und vom Text unmissverständlich radikal negativ bewertet wird. Und evident ist zweitens, dass dieser Text 1939 inmitten des Nazi-Reiches entstanden und erschienen ist. Zwischen dem im Text dargestellten historisch-politischen Prozess vom Krieg vor Alta Plana bis zu Machtergreifung des Oberförsters und der deutschen Geschichte vom verlorenen Weltkrieg bis zu Hitlers Machtergreifung und der Nazi-Herrschaft gibt es deutliche Homologien, die ich hier wohl nicht aufzählen muss und die für nicht- oder anti-nationalsozialistische Leser offenkundig gewesen sein dürften, während für nationalsozialistische Leser, die ihren Staat ja nun schwerlich als Unrechtsregime interpretiert haben werden, eine Negativwertung ihrer Herrschaft durch den Text erst aus ihrem Wissen darüber, wie ihre Gegner ihren Staat sahen, folgt: Insoweit ist die Applikation des Textes auf das ›Dritte Reich‹ eindeutig legitim. Aber nicht nur die fiktive Topographie der dargestellten Welt und nicht nur die mit dem kulturellen Realitätsbegriff inkompatiblen – quasi fantastischen – magisch-okkultistischen Elemente verhindern, dass man den Text als »Schlüsselroman« lesen kann, wenn »Schlüsselroman« denn die Übersetzbarkeit der fiktiven Figuren in reale Personen bedeutet. Aus solchen Identifizierungsversuchen65 seien hier nur einige wenige genannt: »Oberförster« = Göring oder Hitler oder Goebbels oder Stalin…, Braquemart = Goebbels usw.; und Jünger selbst hat offenbar notiert, schon während des Nazi-Reiches hätten Leser das Wortspiel »Köppels-Bleek« ≈ »Goebbeles-Bleek« gemacht.66 Den Oberförster mit Stalin zu identifizieren, ist wohl erst in der Nachkriegszeit, im ›kalten Krieg‹, denkbar gewesen; während des Nazi-Reichs sind die wahrnehmbaren Homologien zwischen der Geschichte der »Marina« und der des »Deutschen Reiches« viel zu dominant, als dass, wenn man denn Identifikationen versucht, andere als solche mit Nazi-Häuptlingen in Betracht kämen. Wenn nun der Oberförster entweder Göring oder Hitler sein soll, dann kommt offenkundig eine Identifizierung von Braquemart mit Goebbels nicht in Betracht. Hier würden die Relationen zwischen den Figuren nicht denen zwischen den historischen Personen äquivalent sein: Goebbels hat nun wirklich nie gegen das NS-System geputscht. Die beiden »Widerständler« Braquemart und Sunmyra repräsentieren zwar ideologisch unterschiedliche Widerstandsgruppen mit quasi-nationalsozialistischen oder vor-nationalsozialistischen Wert- bzw. Normensystemen, lassen sich aber schwerlich als konkrete historische Personen identifizieren; sie repräsentieren Positionen, nicht Personen. Oberflächlich am naheliegendsten konnte die Identifizierung des »Oberförsters« mit dem »Reichsjägermeister« und »Reichsforstmeister« Göring scheinen, doch weist der Oberförster Merkmale eines dämonisch-charismatischen »Führers« auf, als der mit Sicherheit eher Hitler – dem gegenüber Jünger eine tiefe 65
66
Ich entnehme sie den Forschungsberichten von Kiesel, Ernst Jüngers ›Marmorklippen‹; Martus, Ernst Jünger; Amos, Ernst Jünger. So Martus, Ernst Jünger, S. 129 und Amos, Ernst Jünger, S. 102. Es ist im Übrigen ein nun schon absurder Witz der Geschichte, dass Jünger ab 1950 in Wilflingen ausgerechnet in der ehemaligen »Oberförsterei« wohnte (Amos, Ernst Jünger, S. 118).
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Aversion gehabt zu haben scheint – als Göring wahrgenommen worden ist; auch wäre nicht leicht zu erklären, warum Jünger eher den zweitrangigen Göring als den erstrangigen Hitler als Modell gewählt haben sollte. Und mit wem sollen (von anderen Figuren ganz zu schweigen) die Mauretanier, mit wem soll der Söldnerführer Biedenhorn – auch nur mit dem Anschein einer Wahrscheinlichkeit – identifiziert werden? Die Applikation der erzählten Geschichte auf die deutsche Geschichte ist ebenso offenkundig legitim, wie es die Applikation von Textfiguren auf historische Personen nicht ist: Jünger mag sich bei der Gestaltung der Figuren wohl durch Merkmale von NS-Häuptlingen inspiriert haben, aber er hat diese nicht als identifizierbare Figuren abgebildet.67 Aber lassen wir noch einmal Jünger selbst zu Wort kommen: 1972 hat er die Adnoten zu »Auf den Marmorklippen« veröffentlicht.68 Die Äußerung ist wieder einmal merkwürdig ambivalent. Auf der einen Seite scheint Jünger – und ja durchaus zu Recht – stolz zu sein, dass sein Text diese politisch-historische Applizierbarkeit hatte und er als Autor damit durchaus ein erhebliches Risiko eingegangen ist; auf der anderen Seite spielt er genau diese Applizierbarkeit herunter: Ein Begleitumstand, nämlich die Gefahr des Unternehmens, ist viel beredet worden – mich hat er nur am Rande beschäftigt, weil er am Kern der Sache vorüberging und in den politischen Vordergrund abzweigte. Daß der Text auch in diesem Sinn herausforderte, war mir und meinem Bruder […] bewußt […].69
Explizit wird also die konkrete Applizierbarkeit als sekundär abgetan; der eigene Text wird zum allgemeineren Modell uminterpretiert: Es wurde früh begriffen, selbst im besetzten Frankreich, daß »dieser Schuh auf verschiedene Füße paßt«,70
was impliziert, dass das Nazi-Reich zwar mit-, aber nicht allein, gemeint war: Das Dargestellte sei »zeitlich wie räumlich über den Rahmen des Aktuellen und Episodischen hinaus«71 gegangen: So viel zum Politischen. Wenn ich das, wie meine Freunde mir vorwerfen, eher bagatellisiert habe, so hatte ich meine Gründe dazu.
Nun hat in den späten 60er und frühen 70er Jahren in der BRD ein relevanter Mentalitätswandel eingesetzt: ein Modernisierungsprozess (von dem die »Studentenbewegung« um 1968 nur ein Symptom war); zu diesem Prozess gehörte nun, neben den folgenreichen Bestrebungen einer Demokratisierung, einer Transformation der 67
68
69 70 71
Und wäre der Text als ein solcher »Schlüsselroman« geschrieben worden, wären Text und Autor auch wohl kaum der Verfolgung entgangen. Ich zitiere sie nach ihrem Abdruck in der Taschenbuch-Ausgabe Jünger, Auf den Marmorklippen (1992), S. 139–141. Jünger, Auf den Marmorklippen (1992), S. 140. Jünger, Auf den Marmorklippen (1992), S. 141. Jünger, Auf den Marmorklippen (1992), S. 141.
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Michael Titzmann
Relation von »Staat« und »Bürgern«, einer Infragestellung traditioneller Wert- und Normensysteme (nicht zuletzt der tradierten Sexualnormen), einer beginnenden Bewegung der Frauenemanzipation, auch ein Verlangen nach Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, nicht zuletzt auch der der eigenen Familien. Und die BRD schickt sich an, sich als moralisch gewandelte zu präsentieren, indem zumindest von Teilgruppen der Widerstand gegen das NS-Reich aufgewertet wird. Während man wohl vermuten kann, dass alle diese Tendenzen Jünger nicht sympathisch waren, hätte er von der letztgenannten profitieren können: als jemand, der schon mitten im Nazi-Reich (Teile von) dessen Ideologie bzw. Praxis explizit verurteilt hat. Genau das verweigert er nun: Wachsende Allergie gegen das Wort »Widerstand« kam hinzu. Ein Mann kann mit den Mächten der Zeit harmonieren, er kann zu ihnen in Kontrast stehen. Das ist sekundär. Er kann an jeder Stelle zeigen, wie er gewachsen ist. Damit erweist er seine Freiheit – physisch, geistig, moralisch, vor allem in der Gefahr. Wie er sich treu bleibt: das ist sein Problem.72
Die Stelle ist bewusst provokant: Die – ideologische und moralische – Opposition »Nazi-Anhänger« vs. »Nazi-Gegner« wird neutralisiert, die Wahl zwischen beiden somit entwertet. Stattdessen wird hier ein Wertsystem »Mannsein«, wie es die deutsche Literatur des Realismus im 19. Jahrhundert entwickelt hatte, vertreten, beschnitten freilich um dessen Komponente einer Einhaltung eines mehr oder minder »humanen« Normensystems zugunsten einer moralischen Indifferenz – womit Jünger zugleich die moralische Position seines eigenen Romans verleugnet: Seine Aversion gegen die neue Mentalität der damaligen BRD muss enorm gewesen sein. So mutig und insofern bewundernswert Jüngers explizite Opposition gegen das Nazi-Reich in Auf den Marmorklippen war: Man wird von ihm – und mindestens auch von Teilen derer, die sich im Gegensatz zu ihm in den aktiven Widerstand begaben und diesen oft genug mit dem Leben bezahlten – sagen müssen, dass – so schätzenswert diese Kritik am bzw. dieser Widerstand gegen das ›Dritte Reich‹ war – sie aus einer ideologischen Position, einer Konzeption von Staat und Gesellschaft, folgten, von der man froh sein muss, dass sie nicht realisiert wurde. Für die, die Jüngers Roman während des Nazi-Reiches lasen, war sicher seine Verurteilung von dessen Praktiken wichtiger als sein Modell der wünschenswerten Gesellschaft, die in jedem Falle vorzuziehen war: Für die, die Jüngers Roman nach dem Kriege, also in einer (wenn auch lange noch autoritär-konservativen) Demokratie, lasen, hätte sich die Frage stellen müssen, ob man dieses Modell der wünschenswerten Gesellschaft tatsächlich goutiert. Freilich waren die 50er und frühen 60er Jahre wohl kaum ein Höhepunkt intellektueller Kultur in der BRD.
72
Jünger, Auf den Marmorklippen (1992), S. 141.
Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen (1939) – Interpretation vs. Applikation
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Literatur [Literarische Texte, die, ohne dass aus ihnen zitiert würde, erwähnt wurden, sind nicht aufgenommen] Amos, Thomas: Ernst Jünger, Reinbek 2011 (rowohlts monographien 50715). Bachofen, Johann Jakob: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur [1861]. Eine Auswahl hg. von Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt/M. 1975 (stw 135). Berggötz, Sven Olaf: Ernst Jünger. Politische Publizistik 1919–1933, Stuttgart 2002. Hagestedt, Lutz: Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises (1982), In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 167–179. Hederich, Benjamin (1770): Gründliches mythologisches Lexicon […]. Reprint Darmstadt 1996. Herbert, Ulrich: Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte. In: Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, hg. von Martin Sabrow, Ralph Jessen und Klaus Große Kracht, München 2003, S. 94–114. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Stuttgart 1978–2004. Jünger, Ernst: Auf den Marmorklippen, Hamburg 1939/1941. Jünger, Ernst: Auf den Marmorklippen, Tübingen 1949. Jünger, Ernst: Auf den Marmorklippen, Frankfurt/M./Berlin 121992 (Ullstein Taschenbuch 22947) [Textgleich mit der Ausgabe Stuttgart: Klett 1960]. Kiesel, Helmuth: Ernst Jüngers ›Marmorklippen‹. Renommier- und Problembuch der 12 Jahre. IASL online Archiv (23. 5. 2000). Köhler, Kai: Nach der Niederlage. Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und ›Der gordische Knoten‹. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 205–224. Krah, Hans: Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers ›Heliopolis‹ (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 225–251. Lindner, Martin: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart/Weimar 1994 (Metzler Studienausgabe). Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 1972 (UTB 103). Linné, Carl (von): Systema Naturae, sive regna tria naturae systematice proposita per classes, ordines, genera, & species. Lugduni Batavorum [= Leiden] 1735. Lukian: Der Tod des Peregrinos, hg. und übersetzt von Peter Pilhofer u.a., Darmstadt 2005 (SAPERE Bd. IX). Martus, Steffen: Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 333). Martus, Steffen: Scheitern als Chance. Ernst Jüngers Kunst der Niederlage. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 253–270. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, München 1988 (Nietzsche: kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. IV). Ort, Claus-Michael: Gullin Bursti und der Traum vom Mythos. Zum Verhältnis von Mythologisierung und Bedeutungstilgung in Ernst Jüngers Erzählung ›Die Eberjagd‹ (1952/1960). In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 321–338. (Gaius) Suetonius (Tranquillus): Leben der Caesaren, übersetzt u. hg. von André Lambert, Reinbek 1960 (Rowohlts Klassiker 76–78).
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Michael Titzmann
Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt/M. 1977/78. Titzmann, Michael: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977 (UTB 582). Titzmann, Michael: »Grenzziehung« vs. »Grenztilgung«. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme »Realismus« und »Frühe Moderne«. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen, hg. von Hans Krah/Claus-Michael Ort, Kiel 2002, S. 181–209. [Jetzt auch in Michael Titzmann, Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche, hg. von Lutz Hagestedt, München 2009, S. 275–307]. Titzmann, Michael: Das »Unsichtbare« und die Phantasie der »Macht«. Verknüpfungen von Okkultismus und Naturwissenschaft in der Frühen Moderne. In: recherches germaniques. Hors série, 2002, H.1, S. 173–202. [Jetzt auch in Michael Titzmann, Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche, hg. von Lutz Hagestedt, München 2009, S. 540–574]. Wünsch, Marianne: Ernst Jüngers ›Der Arbeiter‹. Grundpositionen und Probleme. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 459–475. Wünsch, Marianne: Das Modell der »Wiedergeburt« zu »neuem Leben« in erzählender Literatur 1890–1930. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, hg. von Karl Richter/Jörg Schönert, Stuttgart 1983, S. 379–408. Wünsch, Marianne: Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition – Denkgeschichtlicher Kontext – Strukturen, München 1991. Wünsch, Marianne: Okkultismus im Kontext von Thomas Manns ›Der Zauberberg‹. In: Thomas Mann Jahrbuch 24, 2011, S. 85–104.
Ricardo Ulbricht
Der Mensch in der Landschaft Anthropogeographische Konzepte in Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen »Ein Stil in der Geschichte entspricht einer Gattung in der Natur«.1 »Zu den Gedanken, die mich hin und wieder beschäftigen, gehört auch der, daß eine im Wechsel der Epochen unveränderliche Landschaft besteht, in der die geistigen Verhältnisse sichtbar sind.«2
Die Marmorklippen: Nicht-symbolische Landschaften Sowohl Wolfgang Kaempfer als auch Helmuth Kiesel haben Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen (1939) als ethisches und ästhetisches Problembuch bezeichnet. Diesem ›Roman‹3 gegenüber »eine entschiedene und haltbare Einstellung zu finden«, ist Kiesel zufolge kaum möglich, vielleicht sogar unmöglich: »Zu schillernd ist das Buch selbst, und zu irritierend sind die im Laufe der Zeit angesammelten und mitzubedenkenden Urteile, Verwerfungen und ›Rettungen‹ mit ihren einander paralysierenden Begründungen.«4 Fasst man ethische und ästhetische Aspekte zusammen, die das Bild des »Deutschen in der Landschaft« (Borchardt) prägen, so scheint die Möglichkeit einer »Rettung« des Textes (im Sinne Lessings) auf, die von der politischen Referenzialisierung als eines Schlüssel- oder gar Widerstandsromans der NS-Zeit absieht.5 Die Analogien 1
2
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Ernst Jünger, Zahlen und Götter, In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 13: Essays VII, Fassungen II, Stuttgart 1981, S. 247–333, hier S. 302. Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz, Zweite Fassung. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III, Das Abenteuerliche Herz, Stuttgart 1979, S. 177–330, hier S. 258. Jünger verzichtet auf eine Gattungszuweisung. Wenn daher im Folgenden alterntiv von Roman, Erzählung oder Prosa usw. gesprochen wird, so in der Überzeugung, dass alle diese Texttypen Narrationen darstellen, die mit Jüngers Sujet harmonieren und als Gattungsbestimmung ihre Berechtigung hätten. Helmuth Kiesel, Ernst Jüngers Marmor-Klippen. »Renommier«- und Problembuch der 12 Jahre. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 14, 1989, H. 1, S. 126–164, hier S. 131. Sung-Hyun Jang beschäftigt sich mit der Problematik der ethischen Deutungsmöglichkeiten, wenn er sich mit der Frage auseinandersetzt, ob es sich bei den Marmorklippen um ein »Werk der inneren Emigration oder ein faschistisches Buch« handelt. Seine Untersuchung stützt sich denn aber zu großen Teilen auf ästhetische Komponenten des Textes. Beispielsweise forme die »archaisierende und ästhetisierende Darstellung von Köppelsbleek […] zur Enthüllungskraft der Szene ein Gegengewicht […], indem sie das Terrorbild entwirklicht.« Vgl. Sung-Hyun Jang, Ernst Jüngers Roman ›Auf den Marmorklippen‹. Ein Werk der inneren Emigration oder ein faschistisches Buch? In: New German Review, 9, 1993, S. 30–44, hier S. 36.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-020
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zur politischen Situation Deutschlands sind dabei in den Marmorklippen viel weniger deutlich, als die zeitgenössische Rezeption in Deutschland vermuten lässt. Nicht zuletzt wird, wie Inge Reinmüller feststellt, die »Auseinandersetzung mit der literarischen Qualität« der Texte Jüngers erschwert durch die »Kritik an seiner Person und Haltung vor allem während der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus«.6 Helmut J. Gutmann hebt folgerichtig die »systematische Mehrdeutigkeit« hervor, auf die der Roman angelegt sei: »über das Politisch-Zeitgeschichtliche hinaus erweitert sich sein Bezugsrahmen in mehrere Richtungen: einerseits ins Historisch-Typische und Kosmisch-Mythische und andererseits ins Psychisch-Archetypische.«7 Erst in der gemeinsamen Betrachtung dieser vier Bezugsebenen realisiere sich, so Gutmann, die ›Bedeutung‹ des Romans. Mindestens dieser vier, müsste man wohl hinzufügen, denn Gregor Streim ergänzt überzeugend um eine weitere: In seiner Auseinandersetzung mit der Strategie der Erzählung, »Geschichte auf Naturgeschichte und mythische Bilder zurückzuführen«, kennzeichnet er eine physikalisch-naturphilosophische Betrachtungsweise als den ausschlaggebenden Standpunkt.8 Allen diesen Lesarten ist gemein, dass sie sich – mit unterschiedlich starker Betonung – auf die erzählerische Darstellung von Landschaftsmerkmalen bzw. deren Komposition, Struktur oder eben die potenzielle Referenzialisierung berufen. Diese Tatsache ist ein Anzeichen für die konstitutive Rolle der Landschaftsdarstellung in der Erzählung und ihre Funktion als Bindeglied zwischen den Konzepten aus Naturphilosophie, -wissenschaft und -geschichte, Psychologie, Mythos und Anthropologie. Ein entsprechendes semantisches Feld eröffnet schon der Titel: So ist der Begriff »Marmorklippen« nicht nur Name einer Region der Erzählwelt, sondern zugleich eine Landschaftsbezeichnung, die eine erste Charakterisierung ihrer Beschaffenheit enthält (die Nähe zum Meer schwingt ebenso mit wie die typischen optischen Merkmale des namengebenden Gesteins). Schließlich gibt der Titel einen ganz bestimmten Standort vor – »auf den«. Wenn auch die Bedeutung dieses Schauplatzes zunächst unklar bleibt, wird damit doch bereits eine topologische Sicht als Prinzip der Erzählung eingeführt. Äußerungen zur Funktion der Landschaft in den Marmorklippen sind in der Forschung dementsprechend zahlreich. Dabei geht es nunmehr verhältnismäßig selten um den Realitätsbezug, der sich als merkwürdiges Spiel mit bekannten geographischen Namen (Britannien, Niederlande, Polen, Niederrhein, Schottland, Burgund etc.) zeigt; die mit der Realität inkommensurable Anordnung innerhalb der erzählten Topographie kennzeichnet einen funktionalisierten, zeichenhaften Gebrauch dieser 6
7
8
Inge Reinmüller, Dichtung und Käferkunde. Geschichte als Naturgeschichte bei Goethe und Ernst Jünger. In: Begegnungen mit Goethe, hg. von Gerhard Fieguth in Verbindung mit der Goethe-Kommission St. Petersburg, Rußland, Landau 2003 (Landauer Schriften zur Kommunikations- und Kulturwissenschaft 1), S. 63–78, hier S. 77. Helmut J. Gutmann, Politische Parabel und mythisches Modell. Ernst Jüngers »Auf den Marmorklippen«. In: Colloquia Germanica, 20, 1987, S. 53–72, hier S. 54. Gregor Streim, Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin/New York 2008 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 49 [283]), S. 131.
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Ortsbezeichnungen und Ortsbeziehungen.9 Weit häufiger wird denn auch auf den modellhaften Aufbau der Topographie und die symbolhaften Züge der Landschaften hingewiesen. Jede Region und ihre charakteristische Landschaft stünden für eine menschliche Kulturstufe, eine Station der Geschichte (so z. B. Hans Esselborn, Gregor Streim)10 oder, nach Gutmann, für die Manifestation einer bestimmten Prägung menschlicher Psyche: »Die modellhafte Landschaft erscheint dann als eine Art psychisches Diagramm, als verräumlichtes Modell der menschlichen Psyche, das in seiner polaren Organisation der von Freud und Jung entwickelten Struktur der Psyche entspricht.«11 9
10
11
Vgl. dazu auch Michael Titzmann in diesem Band, S. 351–392, hier S. 387: Titzmann hebt hervor, dass derartige Identifikationen für die Textsemantik nicht relevant sind. Treffend beschreibt dies auch Titus T. Suck: »Geographical knowledge is ›jokingly‹ – most seriously – deformed or, as it were, rewritten. [Jünger’s technique of mapping] transforms historic, social signifiers into trans-historic, esthetic signifiers of the romantic space, it presents the real not as a discursive reality«. Titus T. Suck, Bodily Spaces. The locus of politics in Ernst Jünger’s »Auf den Marmorklippen«. In: DVjs, 66, 1992, S. 466–490, hier S. 479. Dass etwa »Geschichte in den Marmor-Klippen naturgeschichtlich aufgefasst wird«, so Gregor Streim, sei Ergebnis der »kulturanthropologischen und morphologischen Elemente in der Beschreibung der kulturellen und sozialen Topographie der fiktiven Welt« (Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 131). Streim beschreibt die von Jünger gewählte Erzählform als einerseits typisierend, da »einzelne Phänomene, wie die besondere Form des Ahnenkultes, nach dem Muster der vergleichenden Völkerkunde oder der Kulturmorphologie als Charakteristika bestimmter Kulturzustände behandelt werden«, und andererseits enthistorisierend, »da in geschichtlicher Abfolge entstandene Kulturstufen gleichzeitig bzw. nebeneinander betrachtet werden.« (Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 132). Hans Esselborn betont in ähnlicher Art, Jünger wolle aus »historischen Vorgängen ein zeitloses Modell der Machtkonstellationen konstruieren, das den Gesetzen der Naturgeschichte entspricht.« (Hans Esselborn, Die Verwandlung von Politik in Naturgeschichte der Macht. Der Bürgerkrieg in Ernst Jüngers »Marmorklippen« und »Heliopolis«. In: Wirkendes Wort, 1997, H. 3, S. 45-61, hier S. 56). Schließlich überzeugt vor allem Helmut J. Gutmanns Analyse der parabolischen Erzählform sowie der modellhaften Landschaftsgestaltung des Textes. Bevor Gutmann noch auf die psychologische Implikationen zu sprechen kommt, beschreibt er die Erzählung als »raumzeitliches Modell des natürlichen und menschlichen Kosmos« (Gutmann, Politische Parabel und Mythisches Modell, S. 54 f.). Gutmann, Politische Parabel und mythisches Modell, S. 59. – Ein repräsentatives Beispiel für Gutmanns Auslegung der Raumsemantik sei hier erwähnt: »Der Wald ist archetypisches Symbol des Unbewußten, der Oberförster seine drohende, daher männliche Verkörperung. Das Waldgesindel des Oberförsters, auf der historischen Bezugsebene das immer wieder aus der menschlichen Gemeinschaft verbannte chaotisch-anarchische Element, wäre psychologisch zu verstehen als die im Unbewußten liegenden oder ins Unterbewußte verdrängten Triebe und Instinkte.« (Ebd.) – Indem Gutmann jedoch das Verhalten der verschiedenen Einwohner lediglich in eine psychologische Terminologie überträgt, im Sinne eines abstrakten psychologischen Symbols und einer bestimmten Funktionsweise im Gesamtgefüge des Modells »Marmorklippen«, lässt er die hier von Jünger viel stärker akzentuierten Beziehungssysteme innerhalb der Erzählung zwischen Wald (Weide, etc.) und Bewohnern außer Acht und vernachlässigt somit die ganz expliziten kausalen, handlungserzeugenden, kulturmorphologischen (und durchaus auch psychologischen) Effekte zwischen Landschaft (als solcher) und darin agierenden Figuren.
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Wenn diese Lesarten auch weitgehend evident sind, weist die Gesamtkonzeption landschaftlicher Strukturen des Textes darüber hinaus einen Aspekt auf, der m. E. bisher kaum Beachtung gefunden hat: Die Synthese aus Kultur und Natur, die innerhalb der einzelnen Gebiete hergestellt bzw. angestrebt wird, ist nicht nur Symbol, sie lässt sich auch als Entwurf einer »anthropogeographischen« Ordnung bzw. Weltsicht kennzeichnen. Es sind vornehmlich natürlich-geographische Voraussetzungen, auf die sich die Dispositionen aller Figuren des Textes zurückführen lassen. In der Welt der Marmorklippen sind Landschaften die kulturmorphologische Basis, sie prägen soziale, religiöse und nicht zuletzt ideologische Grundeinstellungen und Neigungen der Bewohner, liefern die dafür notwendigen Bedingungen12 und veranlassen nicht zuletzt ihnen gemäße Handlungen. Martin Lindner hat ähnliche Mechanismen in den Texten verschiedener Autoren der Frühen Moderne im Kontext der Lebensideologien festgestellt und beschrieben. Seine Bilanz: die lebensideologischen Aussagen über die Zusammenhänge solcher als Sozialgeographien gestalteter Räume bleiben vage, enthalten aber dennoch eine Reihe immer wieder in Erscheinung tretender Vorstellungen: Biologistische und vitalistisch-metaphysische Annahmen gehen hier ineinander über, oft ergänzt durch das »psychologische« Theorem, daß die Gestalt einer Landschaft die menschliche Seele präge. Daneben existiert auch eine eher kulturell begründete Konzeption, die von einer Prägung des Menschen durch die irgendwie in der Landschaft aufbewahrte Geschichte der Region ausgeht. Das alles wird üblicherweise kombiniert mit der verbreiteten Semantisierung der europäischen Geographie nach Himmelsrichtungen, wobei stärker die Ost-West-Achse oder die Nord-Süd-Achse betont werden kann. In jedem Fall geht man von einer verschwommenen Einheit von Einflüssen der Topographie, des Klimas, der Vegetation, der historisch gewachsenen Kultur und der »Rasse« aus (mit unterschiedlicher Betonung der einzelnen Faktoren).13
Es ist bemerkenswert, dass Lindners Aufzählung die meisten der Elemente und Diskurse enthält, auf die die oben angeführten Lesarten der Marmorklippen abheben. Jünger scheint zu einem gewissen Grad alle diese anthropogeographischen Theoreme ernst zu nehmen, zumindest innerhalb des Weltmodells, das er in seinem Text entwirft. Die für die Marmorklippen spezifische »Prägung des Menschen« durch landschaftliche Merkmale gilt es im Folgenden herauszuarbeiten und Jüngers Betonung einzelner Komponenten zu explizieren. Meines Erachtens hat bisher allein Titus T. Suck diesen Aspekt des räumlichen Einflusses auf die Individuen und Völker der Marmorklippen (indirekt) hervorge12
13
Hierbei entscheidend sind sowohl die historische Perspektive (das Alter der Kultur und des Landes finden immer wieder Erwähnung) als auch die Funktion bzw. die Güte des Bodens als natürliche Ressource, besonders im Sinne der landwirtschaftlichen Nutzung. Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart/Weimar 1994, S. 74. – Zum gesamten Komplex der lebensideologischen Geopolitik und Geographie vgl. besonders S. 73–80 sowie S. 129–148.
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hoben.14 Wenn er auch darauf abzielt, den Ästhetizismus Jüngers als einen politisch grundierten auszulegen, basiert sein Ansatz doch auf der Untersuchung der Relationen zwischen Positionen innerhalb des Raummodells und den in ihnen manifesten bodies (u. a. verstanden als Akteure einschließlich der durch sie verkörperten Praktiken etc.). Dabei gelingt ihm die prägnante Feststellung, dass diesen Akteuren bestimmte Raumprinzipien eingeschrieben sind und Veränderungen ihres typischen Verhaltens Aktualisierungen dieser Prinzipien darstellen. Der Verlauf der unterschiedlichen in den Räumen gültigen Gesetzmäßigkeiten beschreibt so gesehen auf die Akteure übertragen eine Raumkurve des ›politisch Unbewussten‹. Die Verteilung der Akteure im erzählerischen Modell sei damit nichts anderes als »an enactment of ideology in space« (ein Vollzug, ein Inkrafttreten bzw. auch eine Inszenierung von Ideologie im Raum). Insofern versteht Suck die Landschaften ebenfalls lediglich als Bühnen, auf denen sich bestimmte ideologische Konzepte abspielen. Er betrachtet die Raumgestaltung als politischen Ästhetizismus, als (möglicherweise unbewusstes) darstellerisches Mittel zum Zweck. Gleichwohl enthält dieser Deutungsansatz implizit den (entgegengesetzten) Gedanken einer naturphilosophischen Rückführung politischen Handelns auf Raum- bzw. Landschaftsideologien – ein Gedanke, der sich in der Erzählung augenfällig in Form eben jenes anthropogeographischen Prägungskonzepts äußert.
Jüngers Landschaftsbegriff und seine naturphilosophische Anschauung Zuletzt hat Sandro Gorgone den Landschaftsbegriff Ernst Jüngers zu bestimmen versucht, indem er vor allem das essayistische Werk des Autors auf den Ethos der Landschaft »als Wohnfähigkeit«15 hin untersucht hat. Das erzählerische Werk Jüngers hingegen behandelt Gorgone nicht; die Parallelen – insbesondere in Bezug auf die Marmorklippen – sind gleichwohl unübersehbar. Jünger verstehe unter »Landschaft« 14
15
Vgl.: Suck, Bodily Spaces. – Auch Danièle Beltran-Vidal hat sich offenbar mit den Landschaftsmodellen in einigen Texten Jüngers beschäftigt: Vgl.: Daniéle Beltran-Vidal, Images du paysage méditerranéen dans les récits d’Ernst Jünger ›Sur les falaises de marbre‹, ›Heliopolis‹, ›Eumeswil‹. In: Images d'Ernst Jünger. Actes du colloque organisé par le Centre de Recherche sur l'Identité Allemande de l'Université de Savoie, Chambéry (30 et 31 mars 1995), Bern u. a. 1996, S. 105–129. – Leider hindert mich die Sprachbarriere daran, den Text in meine Betrachtungen einbeziehen zu können. Es scheint aber auch hier um den symbolischen Gehalt zu gehen, denn Streim erwähnt den Text unter diesem Vorzeichen (»Zur symbolischen Landschaftsdarstellung«, Vgl.: Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 132, Anm. 61). Sandro Gorgone, Die Ethik der Landschaft bei Ernst Jünger. In: Les Carnets Ernst Jünger. Revue du Centre de Recherche et de Documentation Ernst Jünger. Werke und Korrespondenzen. Ernst Jünger im Dialog, hg. von Danièle Beltran-Vidal/Lutz Hagestedt, München 2011, S. 119–140, hier S. 120.
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nicht eine bloße Ansicht, sondern eine Sinneinheit, einen physiognomischen und kulturellen Ausdruck; die Landschaft ist also nicht der rein physikalisch, sondern kulturell und sinnbildlich gemeinte Lebensort einer Gemeinschaft einschließlich ihrer Geschichte und Sitte. Sie ist das Zeichen des Vollzuges der Gemeinsamkeit zwischen Kultur und Natur eines Raumes, d. h. einerseits Architektur, Bauwerke, technische und wirtschaftliche Gebietsformen, und anderseits die physische, geologische Ordnung und der Bestand der Pflanzen und Tiere der Umwelt. In diesen geophilosophischen Begriff von Landschaft muss auch der geistige Besitz einer Kultur und eines Volkes eingeschlossen werden: Traditionen, Wissen, Rituale, Sinnbilder, Religionen […].16
Insofern ist die Summe der landschaftlichen Merkmale innerhalb eines begrenzten Raumes Gradmesser der zivilisatorischen Entwicklungsstufe der darin beheimateten Gruppen. Unter Anwendung genau dieses Sachverhaltes hat die Forschung einen modellhaften Charakter bzw. eine modellbildende Funktion der Landschaftsgestaltung in Auf den Marmorklippen überzeugend darlegen können. Die Implikationen des Jünger’schen Landschaftsbegriffs, wie ihn Gorgone beschreibt, reichen indes offenbar noch über diese zeichenhafte Funktion, Kulturstufen sichtbar zu machen, hinaus. Naturgeschichtlicher und zivilisatorischer Prozess17 werden dabei insofern als untrennbar gekennzeichnet, als beide den gleichen Naturgesetzen unterworfen sind. In Auf den Marmorklippen heißt es beispielsweise entsprechend: »Die Menschenordnung gleicht dem Kosmos darin, daß sie von Zeit zu Zeiten, um sich von neuem zu gebären, ins Feuer tauchen muß«.18 Es scheint ein Anliegen der Erzählung, unter Verwendung einer derartigen Landschaftsauffassung, die wirksamen Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur zu entschlüsseln. Implizit zeigt sich dies auch in zahlreichen Aussagen des Erzählers, wenn das besondere botanische Interesse der Brüder zur Sprache kommt: »Von jeher hatte ich das Pflanzenreich verehrt und seinen Wundern in vielen Wanderjahren nachgespürt. Und wohl war mir der Augenblick vertraut, in dem der Herzschlag stockt, wenn wir in der Entfaltung die Geheimnisse erahnen, die jedes Samenkorn in sich verbirgt.« (AdM, 258) Der Erzähler schildert auch in weiteren Ausführungen die Pflanzenkunde als Mysterium. Seine Erläuterungen treffen einen Ton, der die Verehrung auch formal ausdrückt, gleichzeitig jedoch konkrete Aussagen über die Vermutungen schuldig bleibt: Wir waren mit dem Plan gekommen, uns von Grund auf mit den Pflanzen zu beschäftigen […]. Wie alle Dinge dieser Erde wollen auch die Pflanzen zu uns sprechen, doch bedarf es des klaren Sinnes, um ihre Sprache zu verstehen. Wenngleich in ihrem Keimen, 16 17
18
Gorgone, Ethik der Landschaft, S. 119. Im konkreten Fall der Marmorklippen ist dies ein Prozess der Regression »auf eine überwundene Entwicklungsstufe« (Gutmann, Politische Parabel und mythisches Modell, 61 f; vgl. dazu auch: Esselborn, Die Verwandlung von Politik in Naturgeschichte der Macht, S. 51). Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 15: Erzählende Schriften I, Stuttgart 1978, S. 247–351, hier S. 288. – Im Weiteren: AdM.
Anthropogeographische Konzepte in Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen
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Blühen und Vergehen ein Trug sich birgt, dem kein Erschaffener entrinnt, ist doch sehr wohl zu ahnen, was unveränderlich im Schreine der Erscheinung eingeschlossen ist.« (AdM, 262)
Weder hier noch an anderer Stelle wird expliziert, was dieses ›erahnte Eingeschlossene‹ tatsächlich ist. Später wird immerhin der Gültigkeitsbereich bzw. der naturphilosophische Erkenntnishorizont der Forschungsergebnisse erheblich erweitert: Auch liebten wir, Gebilde zu erzeugen, die wir Modelle nannten […]. In ihnen galt es, einen Splitter vom Mosaik der Welt zu fassen, so wie man Steine in Metalle faßt. Auch bei den Modellen waren wir von den Pflanzen ausgegangen und setzten immer weiter daran an. Auf diese Weise beschrieben wir die Dinge und die Verwandlungen, vom Samenkorn bis zur Marmorklippe und von der flüchtigen Sekunde bis zur Jahreszeit. (AdM, 263)19
Dass diese naturphilosophische Technik ein durch und durch Jünger’sches Anliegen ist, zeigen zahlreiche Kommentare, die sich auf die naturwissenschaftlichen Aktivitäten des Autors beziehen und diese als wichtigsten Knotenpunkt seines Œuvres charakterisieren. Ganz in diesem Sinne schreibt auch Dieter Zissler: »Kein Werk eines deutschsprachigen Schriftstellers zeugt von einer derart umfassenden Beschäftigung mit der Natur wie das Ernst Jüngers.«20 Der Autor stelle »der Erkenntnis die Offenbarung zur Seite, um mit Hilfe beider Pflanze und Tier, Mensch und Kosmos zu verstehen.«21 Auch Hans-Ulrich Treichel hebt die Funktion der archivarischen »Liebe zur belebten und unbelebten Natur«, die nicht zuletzt durch die Käfersammlung Jüngers belegt wird, als in vieler Hinsicht konstitutiv hervor: »denn die entomologische Leidenschaft des Naturliebhabers Jünger ist zugleich auch eine ästhetische, genuin künstlerische Leidenschaft, die zudem eng mit den Vorlieben und Interessen des Autors für Räusche und Katastrophen, für Krieg und Gewalt verwoben ist.«22 19
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Streim hebt zudem hervor, dass das »Elementarische« in diesen Zusammenhängen keineswegs nur mythisch aufgefasst wird: »Vielmehr kommt an entscheidenden Stellen des Textes eine andere Form physikalischer Naturphilosophie ins Spiel, der offenkundig ein höherer Rang eingeräumt wird. Denn sie bildet den zunächst verborgenen, schließlich offen zu Tage tretenden Zielpunkt der geistigen und experimentellen Tätigkeit beider Brüder. […] Bald stellt sich aber heraus, dass sich ihr Interesse nicht auf das Klassifizieren von Pflanzen beschränkt, sondern auf die Erkenntnis des Schöpfungsvorgangs selbst gerichtet ist. […] Im Unterschied zur Gestaltschau, die auf Erkenntnis eines Urbildes nach dem Modell von Goethes Urpflanze zielt, geht es hier um eine Verwandlung der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die unsichtbare, die materielle und geistige Welt bestimmende Ordnung der ›Elemente‹« (Streim, Das Ende des Anthropozentrismus, S. 135 f.). Dieter Zissler, In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen. Über Natur und Naturwissenschaft im Werk Ernst Jüngers. In: Text+Kritik, 1990, H. 105/106 Ernst Jünger, S. 125–140, hier S. 125. Zissler, In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, S. 126. Hans-Ulrich Treichel, Forscher der menschlichen Natur. Nachruf auf Ernst Jünger. In: ders.: Über die Schrift hinaus. Essays zur Literatur. Erste Auflage, Frankfurt/M. 2000 (edition suhrkamp 2144), S. 81–87, hier S. 86.
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Gemeint ist etwa Jüngers Erhöhung der Käfersuche zur Jagd;23 es ist eine für ihn typische Erhebung verschiedenster Beobachtungstechniken, aber auch der Naturphänomene selbst in das Sinnbildliche, bei gleichzeitiger Annahme eines gänzlich unvermittelten Einflusses auf den menschlichen Erfahrungshorizont. Es ist, so Treichel, »ein kompensatorischer Blick [in die verborgenen Reiche der Natur], der der individuellen Erfahrung neue Dimensionen eröffnen soll.«24 Für Jünger ist demzufolge Anthropologie gebunden an Naturwissenschaft und -geschichte. Der Modellaufbau der Landschaft in Auf den Marmorklippen versetzt ihn unter anderem in die Lage, anthropologische Dichotomien im Spektrum von Natur und Kultur abbilden zu können. Ebenso, wie die Vegetation in den Räumen differiert, sind die kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Praktiken verschiedene. Es handelt sich dabei nicht allein um Reaktionen der einzelnen Gruppen auf verschiedene kulturelle, religiöse bzw. gesellschaftliche Provenienzen und historische Gegebenheiten, sondern ebenso um ein direktes Ansprechen auf unterschiedliches Terrain, auf spezifische Landschaften.
Das Modell: Kulturelle Regression Die Bedeutung der topographischen Ordnung für die Erzählung und ihre Funktionalisierung als Modell – das im Folgenden kurz als solches erläutert werden soll – wird früh im Text kenntlich gemacht. Der Erzähler beschreibt die Eindrücke der Aussicht von den Marmorklippen folgendermaßen: Wenn wir vom hohen Sitze auf die Stätten schauten, wie sie der Mensch zum Schutz, zur Lust, zur Nahrung und Verehrung sich errichtet, dann schmolzen die Zeiten vor unserm Auge innig ineinander ein. (AdM, 271)
Die Protagonisten beobachten hier eine Art Landschafts- und Epochen-Mosaik, dessen Einzelteile jedoch durch die Weite der Perspektive nicht mehr als solche wahrgenommen werden können. Ähnliches entnimmt Gutmann diesem Passus und leitet daraus einen spezifischen Erzählgestus ab: »Die Zeit wird verräumlicht und der Raum perspektivisch so zusammengezogen, daß er von der Höhe der Marmorklippen mit einem Blick zu übersehen ist.«25 23
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»Die Suche nach den Käfern ist in ihrem innersten Wesen immer auch Jagd. Und der durch Feld und Flur streifende Sammler ist immer auch Jäger und damit, Jünger weist mit Nachdruck darauf hin, ein Bruder des Kriegers. So wird hier, in der Idylle des eigenen Gartens und der schwäbischen Wahlheimat, der Autor am Ende noch einmal zum Täter, der in die unteren Regionen des Lebens und der Naturgeschichte hinabsteigt, um dort den ›Urtext‹ der Natur zu entziffern, und dem sich, wie es in den Subtilen Jagden heißt, ›der Feldrain zur Heerstraße‹ und ›der Sandhügel zum Himalaya‹ wandelt.« Treichel, Forscher der menschlichen Natur, S. 86 f. Treichel, Forscher der menschlichen Natur, S. 87. Gutmann, Politische Parabel und Mythisches Modell, S. 55.
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Nicht allein von den Marmorklippen aus wird die vorgebliche historische Distanz der einzelnen Gesellschaftsentwürfe entkräftet und die räumliche Ausdehnung geradezu paradox reduziert: die Reise von der Rautenklause, dem Wohn- und Arbeitssitz des Erzählers, bis in den tiefsten Wald des Oberförsters ist offenbar innerhalb eines Tages möglich – und doch werden diese ›Mikrokulturen‹ als Heimat verschiedener historisch gewachsener, theologischer, gesellschaftlicher und rechtlicher Autarkien vorgestellt. Im Wesentlichen sind dies, neben zahlreichen Regionen, die nur kurze Erwähnung finden, drei Territorien: Marina, Campagna und Hochwald, die jeweils in verschiedenem Sinne als mehr oder weniger fortschrittlich gekennzeichnet sind. Gleichzeitig sind diese Orte Träger verschiedener, deutlich voneinander abgrenzbarer Landschaftskonfigurationen, die je nach Vegetation und Nutzungspotenzial als mehr oder weniger »wild« dargestellt werden. Als die am höchsten entwickelte Gegend gilt das Küstengebiet der Marina, einer Kulturlandschaft, die, so deutet der Text an, eine lange Geschichte konstanter, geordneter Verhältnisse vorweisen kann. Sie ist Domäne einer bürgerlichen, rationalisierten Lebenshaltung und Wahlheimat der Protagonisten. Hier können Erzähler und Bruder Otho in ländlich-klerikaler Zurückgezogenheit ihrer Forschung nachgehen und gelegentlich am Treiben kleinstädtischer Festtage teilnehmen. Der hier ansässige christliche Mönch Pater Lampros dient ihnen als Verbündeter (bzw. als »Beistand«, AdM, 290), gleichgesinnter Konversationspartner und geistiger Führer. Die von der Marina durch die Marmorklippen getrennte Steppen- bzw. Weidelandschaft der Campagna dagegen ist Sitz eines alten Hirtenvolkes. Innerhalb des Weltmodells wird diese Region durch den Erzähler gegenüber der Marina herabgestuft. Davon zeugen etwa die Beschreibung der Einwohner als »wild und ungezähmt« (AdM, 273) oder die angedeutete wiederholte Verstrickung der in Sippengemeinschaften organisierten Einwohner in »Blutrachefehden« (AdM, 279), schließlich auch das Pflegen heidnischer Sitten und Glaubensrichtungen. Die Protagonisten sind dennoch aufgeschlossen, betrachten den Hirtenführer Belovar als Verbündeten, erfahren durch ihn im direkten Konflikt mit den Truppen des Oberförsters vor allem physische Unterstützung im Kampf. In der Campagna regiert ein »rohes Gefühl von Recht und Billigkeit«, das sich durch die Nähe des Sumpfes und des Hochwaldes und der wachsenden Macht dieser Regionen immer weiter auflöst. Es zeigt sich damit die entscheidende Rolle für den Prozess der kulturellen, moralischen und auch rechtlichen Regression: wellenförmig breitet sich das vom Oberförster initiierte Prinzip (Chaos und Anarchie, Blutrachekämpfe und Opferrituale) vom Hochwald in die Marina aus und erreicht dabei zunächst die Campagna – nicht allein aufgrund topographischer Gegebenheiten, sondern auch, weil der Oberförster einen »schleichenden« Prozess nur einleiten kann, wenn gewisse kulturelle (und landschaftliche) Gemeinsamkeiten existieren.26 26
Es ist dies der Tenor zahlreicher Deutungen des Textes; Gutmann formuliert es zutreffend wie folgt: »In seinen kollektiven Aspekten stellt sich der Vorgang, bedingt durch den Modellcharakter der Landschaft, als ein Unterwanderungsprozeß dar, der von den Wäldern ausgeht, zunächst die Campagna ergreift und sich dann auf die Marina aus-
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Der wilde Hochwald schließlich liegt am Rande der Campagna, von ihr getrennt durch eine Sumpflandschaft. Es ist das Hoheitsgebiet der Mauretanier und des Oberförsters und der Ausgangspunkt des Unterwanderungssprozesses, der das Ziel hat, Campagna und Marina in einen »Urwald« umzuformen, eine »wilde[] Anarchie« (AdM, 317) einzuführen und mit dem Gefolge des Oberförsters »das Gebiet [zu] besiedeln« (AdM, 286). Wesentlich differenzierter stellt sich hier die Verortung der Region im Spektrum der kulturellen Entwicklung dar, denn der Oberförster kann sich durchaus als kulturell entwickelt geben. Zudem organisiert er seine Macht zielgerichtet und rational und führt sein Volk mittels einer strengen Hierarchie, einer militärisch-polizeilich anmutenden Rangordnung.27 Dennoch: die Bevölkerung wird als wild und gewaltbereit dargestellt, und letztlich werden die hier vornehmlich anzutreffenden landschaftlichen Merkmale durch den Erzähler ausschließlich pejorativ beurteilt. Der Wald ist damit von den genannten Gebieten am wenigsten kultiviert, doch stellt er keineswegs die unterste Entwicklungsstufe im gesamten Weltmodell dar: das von den Marmorklippen aus ebenfalls sichtbare Bergland wird als karg und barbarisch beschrieben.28 Eine wichtige Rolle spielt Alta Plana als Fluchtort der Protagonisten erst am Ende der Erzählung. Dieses Gebiet scheint, obwohl es nur auf dem Seeweg erreichbar ist, in nur geringer Entfernung gelegen zu sein. Dennoch zeichnet es sich wiederum durch völlig unterschiedliche kulturelle und natürliche Eigenschaften aus. Jüngers Strategie der Aufhebung und Engführung historischer und topographischer Distanzen ermöglicht es ihm also, die Kernmerkmale (s)eines anthropogeographischen Weltbildes innerhalb einer einzelnen Erzählung zu vermitteln.
Ein Landschaftsquerschnitt: Marina, Campagna und Hochwald Der Erzähler verzeichnet nun für jedes der drei Gebiete akribisch jene Eigenschaften und Elemente, die Gorgone als konstitutiv für Jüngers Landschaftsbegriff erfasst hat: »Architektur, Bauwerke, technische und wirtschaftliche Gebietsformen, […] die physische, geologische Ordnung, […] der Bestand der Pflanzen und Tiere
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dehnt.« (Gutmann, Politische Parabel und Mythisches Modell, S. 61) »Als Ganzes bilden die Marmorklippen ein kompaktes Modell eines historischen Umbruchs, des Untergangs einer humanen Ordnung in Barbarei und Tyrannei, gesehen in seinen politischen, kulturellen, geschichts- und naturphilosophischen sowie psychischen Aspekten.« (Gutmann, Politische Parabel und Mythisches Modell, S. 64 f.) Genannt werden an unterster Position Jäger, gefolgt von den Waldkapitänen, denen ganze Kontingente zur unterstehen scheinen (vgl. AdM, 281); schließlich die höhergestellten Förster (vgl. AdM, 282). Den höchsten (ungenannten) Rang, neben dem des Oberförsters selbst, bekleidet offenbar der Söldnerführer Biedenhorn (AdM, 281). Auch ist von »Vertrauten aller Art« und »Hausbeamten« (AdM, 285) die Rede; es scheint also auch eine Art bürokratischen Apparat zu geben. »Wir sahen auch seine Grenzen: die Gebirge, in denen hohe Freiheit, doch ohne Fülle, bei Barbarenvölkern wohnte«. (AdM, 272)
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der Umwelt« sowie »Traditionen, Wissen, Rituale, Sinnbilder, Religionen«.29 Augenfällig ist, dass in Auf den Marmorklippen jeweils kausale Beziehungen zwischen diesen Gegebenheiten hergestellt werden. Dies zeigt sich besonders häufig als Relation zwischen einer bestimmten Neigung bzw. einer als typisch gekennzeichneten Handlungsweise und einem vorhandenen, konstanten Potenzial der jeweiligen Region, etwa den natürlichen Ressourcen und ihren spezifischen Eigenschaften. Beispielsweise werden für die Bevölkerung der Marina typische Gemütszustände erläutert (man könnte auch sagen, eine charakteristische Mentalität). Dabei stellt der Erzähler einen direkten Zusammenhang zu den ökonomischen Merkmalen und ästhetischen Vorzügen des Landes her: »Dort trafen wir immer heitere Genossen an, denn das Land ist reich und schön, so dass unbekümmerte Muße in ihm gedeiht, und Witz und Laune gelten als bare Münze in ihm.« (ADM, S. 250) Heiterkeit und Muße sind zudem nicht nur bei der ansässigen Bevölkerung Ergebnis des Lebens in der Marina, der Funke springt durchaus über: »Auch ließen Reichtum und Köstlichkeit des Bodens ein jedes Regiment sich bald zur Milde wenden, ob es auch hart begann. So wirkt die Schönheit auf die Macht.« (ADM, S. 268) Die Wahrnehmung der Landschaft ist in diesen Zusammenhängen von verschiedenen spezifischen Sinneseindrücken ganz besonders bestimmt: Zum einen die gustatorische Empfindung, bezogen auf die hier geernteten und hergestellten Erzeugnisse (der Wein wird immer wieder genannt). Zum anderen ein Zusammenspiel aus optischen Reizen und einer Anerkennung des Reichtums. Hier ist eine Kategorisierung des Genusses in natürlichen und geistigen vorweggenommen, die der Erzähler später und in anderem Zusammenhang trifft. Sowohl Körper als auch Verstand sind also von den Impressionen des Landes durchdrungen. Dass die Quantität der Erträge Garant für eine ausreichende Ernährungsgrundlage ist, scheint dabei weniger wichtig als die kulinarische Qualität des Ernteertrags. Am Ende werden die Neigungen zu bestimmten Nahrungsmitteln gar zum Politikum, wenn der Erzähler im Bezug auf den Söldnerführer Biedenhorn kommentiert: »Auch war ihm, wie der alte Bildungsduft, der Wein und seine Geistigkeit verhaßt. Er liebte die schweren Biere, die man in Britannien und in den Niederlanden braut, und sah das Volk an der Marina als Schneckenfresser an.« (ADM, S. 349) Die geschmacklichen Vorlieben Biedenhorns prägen seinen Habitus, sind Teil der Konstitution eines Fremd-, ja eines Feindbildes.30 29 30
Gorgone, Ethik der Landschaft, S. 119. Die Analyse der Speisen bzw. Getränke mag trivial anmuten, doch ist dies durchaus ein relevanter Bereich der Soziologie, wie Eva Barlösius’ Studie Soziologie des Essens zeigt. Barlösius differenziert zwei Funktionen der stereotypisierten nationalen oder regionalen Küche: das Selbstbild zu idealisieren und das distanzierende Fremdbild zu popularisieren. Dieser zweiten Funktion unterliegt Biedenhorns Urteilen über die Marina, bei der es sich mit Barlösius »um abschätzige Etikettierungen« handelt, »die zwischenstaatliche Distanzen und Machtgefälle widerspiegeln« (Eva Barlösius, Soziologie des Essens, Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Weinheim/München 2011, S. 155).
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Die Beziehung zwischen Nahrungsmitteln und Landschaftsdiskurs tritt deutlich hervor, wenn man den Beschreibungsgestus des Erzählers betrachtet. Vorkommende Tiere und Pflanzen werden nicht nur detailliert aufgezählt und benannt, auch die Art ihrer Nutzung – und nicht zuletzt ihrer Zubereitung – findet Erwähnung: So saßen wir Abend für Abend beim fröhlichen Mahl. In diesen Wochen ziehen vermummte Wingertswächter vom Morgengrauen bis zur Nacht mit Knarren und Flinten in den Gärten umher und halten die lüsternen Vögel in Schach. Spät kehren sie mit Kränzen von Wachteln, von gesprenkelten Drosseln und Feigenfressern zurück, und bald erscheint dann ihre Beute auf Weinlaub gebettet in großen Schüsseln auf dem Tisch. Auch aßen wir gern geröstete Kastanien und junge Nüsse zum neuen Weine und vor allem die herrlichen Pilze, nach denen man dort mit Hunden in den Wäldern spürt – die weiße Trüffel, die zierliche Werpel und den roten Kaiserschwamm. (AdM, 250)
Inwiefern und mit welchen Methoden das Land bewirtschaftet und genutzt wird, ist dann auch ein Faktor des kulturellen Gefälles, das die Erzählung darstellt. Während in der Marina versucht wird, die Fülle mit allen möglichen Hilfsmitteln zu erhalten, wird die Campagna als technisch rückständig beschrieben: »Sie lebten wie in Zeiten, die weder Haus noch Pflug noch Webstuhl kannten und in denen das flüchtige Obdach aufgeschlagen wurde, wie der Zug der Herden es gebot.« (AdM, 273) Die Bewohner der Campagna richten sich folglich nach ihren Tieren, ganz im Gegensatz zu der in der Marina praktizierten vollständigen Kontrolle der Lebewesen: Entweder werden sie mithilfe verschiedener Gewehre »in Schach« gehalten oder domestiziert, um bei der Ernte bestimmter Nahrungsmittel zu helfen. Bezeichnend ist außerdem die Häufigkeit, mit der Felder und vor allem Gärten erwähnt werden. Sie dominieren das Landschaftsbild der Marina – mehr noch: Das gesamte Gebiet wird im Grunde zum Garten stilisiert, in dem alles geerntet werden kann, immer mit dem Ziel des (meist abendlichen) Genusses. Brach liegende Landschaften, ungenutzte Natur werden in den Beschreibungen des Erzählers nicht erwähnt. Selbst wenn Bewuchs durch bestimmte »wilde Kräuter« vorkommt (vgl. AdM, 254), scheint es noch ein ästhetisches Zugeständnis der Bewohner an die Umgebung, diesen zuzulassen. Dies ist das Prinzip des Kultur-Natur-Verhältnisses in der Marina: das Prinzip des Gartens. Landschaft und Garten fallen in eins, von den Siedlungen der Menschen nur teilweise abgesehen. Auch am Gestein der Rautenklause nämlich ist ein Garten angelegt, in dem Blumen zur optischen Ergötzung und zahlreiche Früchte angepflanzt werden. Die Brüder repräsentieren dabei die typische Arbeitsweise der Marina, gehen »streng nach der Regel« vor (AdM, 261). Die bei ihnen lebende Lampusa jedoch, die in diesem Land nicht beheimatet ist, »verscharrte […] die Samen flüchtig und ließ das Unkraut wuchern, wie es ihm gefiel.« (AdM, 261) Die Gegenüberstellung dieser Methoden betont noch einmal den Kontrast zwischen der kulturellen Ausdifferenzierung der Marina und den eher veralteten, geradezu chaotischen landwirtschaftlichen Sammler-Strategien anderer Völker, die eben auch von einem anderen
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Verhältnis zum Land, zur Landschaft zeugen. Die Tatsache, dass Bruder Otho und der Erzähler die Beete etikettieren und damit den Früchten des Bodens Namen zuordnen, kann Lampusa nur spöttisch belächeln (vgl. AdM, 261). Hiermit wird angedeutet, dass es sich bei der Überlegenheit der Marina um eine rein kulturelle, eher geistige handelt, die nicht immer tatsächlich praktische Vorteile sichert: Die bessere Ernte kann Lampusa »mit leichter Mühe« für sich verbuchen (AdM, 261). Die Aufgaben, die dem System der Sprache, der Künste, Dichtkunst und Musik in der Marina zugeordnet werden, spiegeln den Anspruch der kulturellen Hoheit wider. Wiederum stehen diese Bereiche in Relation zur Landschaftspflege, insofern sie eine Wahrung des Reichtums beanspruchen. Die ritualisierte Anwendung mutet indes weniger modern als vielmehr metaphysisch an: Daß die Rebe blühte und Früchte trug, daß Mensch und Vieh gediehen, die bösen Winde sich zerstreuten und heitre Eintracht in den Herzen wohnte – das alles schrieb man dem Wohllaut zu, wie er in Liedern und Gesängen lebt. Davon war selbst der kleinste Winzer überzeugt, und auch nicht minder davon, daß der Wohllaut die Heilkraft birgt. (ADM, S. 278)
Für die Marina ist der Einsatz solcher Gesänge nicht schlichte Naturdichtung, die eine vormoderne, romantische Verehrung der Landschaft anzeigt. Der »Wohllaut« wird als effektiv wirksames Mittel aufgefasst, Einfluss auf die Natur nehmen zu können. Da der Erzähler dies alles im Kontext des Volksglaubens schildert, kann die tatsächliche Funktion dieses Brauches darin beschrieben werden, die Anschauung über Trennung zwischen Natur und Kultur in der Marina in ritualisierter Form zu festigen.31 Diese sieht den Menschen und seine zivilisatorischen Errungenschaften an herrschender Position. Das beinhaltet auch die Kontrolle über die ›innere Natur‹, d. h. über die »Macht des Triebes«, die »wie ein Blitzstrahl in die Glieder« (AdM, 296) fahren kann. Ihr muss widerstanden werden, und die Integrität der so definierten Ordnung gilt es »mit Geistesmacht« (AdM, 296) zu wahren.32 31
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Dazu dient auch der Frühjahrskarneval, an dem die Protagonisten jährlich teilnehmen. Hier wird die Überlegenheit über die Natur und der hohe menschliche Entwicklungsstand zelebriert, indem die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Zivilisation und Natur vorübergehend außer Kraft gesetzt werden: Die Männer zechen und schmücken sich mit Vogelkostümen und Schnabelmasken, die Frauen vermummen sich mit »Prachtgewänder[n] vergangener Jahrhunderte« (AdM, 252). Auch ertönen » schrille Vogelrufe«, es herrscht eine ausgelassene, erotisch aufgeladene Stimmung, in der jegliche Tabus aufgehoben scheinen (AdM, 253). Im Grunde aber ermöglicht auch dieser jährliche Brauch, die außerhalb dieses Festes einzuhaltende Ordnung zu stärken. Gipfel der zivilisatorischen Errungenschaften der Marina ist die etablierte, lang erhaltene richterliche Ordnung als Regulierungsorgan des menschlichen Systems: »in Ländern, die wie die Marina von alter Rechtsgeschichte sind, verläßt man ungern den richterlichen Weg« (AdM, 275). Wenn der Erzähler die wachsende Macht des Oberförsters beschreibt, hebt er gerade den Zerfall dieser Rechtsprechung als fatal hervor: »Weitaus bedrohlicher erschien der Umstand, daß alle diese Taten […] kaum noch Sühne fanden – ja es kam so, […] daß die Schwäche ganz offensichtlich wurde, in der das Recht sich gegenüber der Anarchie befand.« (AdM, 275) Zudem wird die kulturelle Rückständigkeit der Campa-
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Die direkte, autarke Beherrschung des Bodens, der Tiere und des Gemüts ist von erheblicher Bedeutung in der Marina, besonders in ihrer Funktion als eine Art »Identitätsmythos«, der zur Abgrenzung von anderen Kulturen wie Campagna und Hochwald dient. Die Wechselbeziehung zwischen Einwohnern und Umgebung ist in der Campagna gänzlich anders ausgerichtet. So klingt die Notwendigkeit einer Einheit zwischen menschlicher Ordnung und Merkmalen der Landschaft bereits in der Bezeichnung der Ansässigen als Hirtenvolk an. Der Erzähler beschreibt die Gegend als einen »Wiesengürtel« mit »Blumenteppich« und gelegentlichen Laubinseln, die den Rinderherden Schatten spenden (ADM, S 272). Es sind ideale Bedingungen für eine Lebensweise, wie sie die Einwohner praktizieren – bzw. wie sie hier nur praktiziert werden kann. Denn die Logik der Jünger’schen Landschaftssemantik geht offenbar von einer Bestimmung der Lebensweise durch die vorgefundenen Bedingungen aus (nicht umgekehrt). Das Klima etwa ist in beiden Regionen durchaus unterschiedlich: Die Vegetation der Marina kann ganzjährig die ästhetischen Bedürfnisse des Erzählers zufriedenstellen und darüber hinaus zu jeder Jahreszeit Früchte hervorbringen,33 während es kaum möglich wäre, das ›Gärtnerprinzip‹ auf die Campagna anzuwenden, selbst wenn ein dahingehender ›kultureller Wille‹ vorhanden wäre (was nicht der Fall zu sein scheint): »Im Sommer war es hier sehr heiß und dunstig, und im Herbst, zur Zeit der Schlangenpaarung, war dieser Strich wie eine Wüstensteppe, einsam und verbrannt.« (AdM, 272) Die klimatisch bedingten Transformationen des Landschaftsbildes sind ursächlich für eine negative Haltung des Erzählers zur Campagna. Auch die Nähe zur Sumpflandschaft, die an das Waldgebiet des Oberförsters angrenzt und bereits von ihm beherrscht wird, wertet das kulturelle und gesellschaftliche Potenzial gegenüber der Marina ab. Weitere pejorative Attribute ordnet der Erzähler besonders deutlich zu, wenn er die religiösen Praktiken der Region beschreibt. Doch hier geht es ebenso um die Nutzung des Landes: In der Campagna […] sah man häufig die kleinen Hirtengötter stehen. Als Hüter der Marken waren sie ungefüge aus Steinen oder altem Eichenholz geschnitzt, und man erriet sie schon von ferne am ranzigen Geruch, den sie verbreiteten. (AdM, 276 f.)
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gna auch durch eine defizitäre Rechtsprechung begründet: »Die Nähe der Campagna, in der das Recht geringer durchgebildet war, schien manchem günstig, dessen Sache sich böse wendete.« (AdM, 274) Die dargestellten richterlichen Strukturen sind diejenige Instanz, die keine direkte Relation zum geographischen Diskurs aufweist – doch verleihen sie der Tatsache Ausdruck, dass die Bewohner der Marina ganz über sich selbst bestimmen und eben richten können. Die Praxis der Blutrache, wie sie im Hochwald und nun auch in der Campagna üblich ist, wird als irrational gewertet und als von primitivnatürlichen Trieben bestimmte ›Ordnung‹ betrachtet. Im »frühen Jahr« wie auch im Herbst stehen bestimmte Pflanzen vor der Rautenklause in voller Blüte (AdM, 254); die Inseln der Marina kennen selbst im Winter »weder Frost noch Schnee, die Feigen und Orangen reifen in freier Luft, die Rosen tragen das ganze Jahr.« (AdM, 270)
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Nicht nur sind diese Figuren im ästhetischen Sinne unzulässig für den Erzähler (»ungefüge«), auch als religiöses Sinnbild akzeptiert er sie nicht, vor allem, weil sie mit einer Praxis des Opfers und des Opferdienstes in Verbindung stehen. Die Verehrung dieser »Hirtengötter«, die er abwertend »Schmalz- und Buttergötter« nennt, ist mit dem Landschaftsdiskurs eng verknüpft, denn sie dient der Fruchtbarkeit und der Steigerung des Ertrages (sie füllen »den Kühen die Euter«, ADM, S. 277). Nichts anderes wurde zuvor als Funktion der Lieder und Gesänge in der Marina beschrieben, allein das Erzeugnis ist ein anderes: der Wein der Marina statt der Milch der Campagna – jeweils Erzeugnisse, die durch bestimmte landschaftliche Voraussetzungen und Strukturen überhaupt erst möglich sind. Zudem hat im Volksglauben der Campagna nicht der Mensch die Macht über den Boden, im Gegensatz zur Marina, in der Dichtung und Gesang direkten Einfluss auf die Naturkräfte haben sollen. Opferdienste richten sich dagegen an eine höhere, mystische Instanz, deren Gunst es zu wahren gilt. Letztlich ist es die Tatsache, dass auch in der Marina eine sich ausbreitende Verehrung dieser »niederen« Gottheiten anzutreffen ist, die den Erzähler empört. Er spricht vom »Zauber barbarischer Idole«, die selbst starke Geister zu »unterjoch[en]« begannen (AdM, 277). Somit geht der Regressionsprozess auch mit dem Verlust der erklärten Herrschaft über die Landschaft, über die Natur einher. Häufig wird dieser Eindruck durch den Einsatz einer ausgeklügelten Metaphorik noch verstärkt. Die Signifikanz bestimmter Propositionen des Natur-LandschaftKultur-Diskurses wird durch eine ganz spezifische allegorische Gestaltung besonders hervorgehoben. Die Wirkung Bruder Othos auf die Menschen etwa illustriert der Erzähler auf diese Weise: »Und wirklich sah ich alle, die ihm nahe kamen, sich entfalten wie Pflanzen, die aus dem Winterschlaf erwachen – nicht daß sie besser wurden, doch sie wurden mehr sie selbst.« (AdM, 261) Gleiches gilt für die Beschreibung der voranschreitenden Macht des Oberförsters: »Wo immer die Gebäude, wie Menschenordnung sie errichtet, brüchig wurden, schoß seine Brut wie Pilzgeflecht hervor.« (AdM, S. 285) Dieser Vergleich erhebt erneut die (zivilisatorische) »Menschenordnung« über das Naturprinzip einer wilden, unkontrollierten Überwucherung. Damit wird auch impliziert, dass die zivilisatorische Ordnung ganz bewusst den Naturgesetzen entgegenwirken muss – das Mittel der Wahl ist dabei die vom Erzähler immer wieder angeführte Geistesmacht. Erst wenn der Mensch diesen rationalen Widerstand gegen die innere Natur verloren hat, endet auch die gezielte Kultivierung der Landschaft: »So folgen Stechapfel, Mohn und Bilsenkraut den edlen Früchten, wenn die Gärten vom Feind verwüstet sind.« (AdM, 286) Der Erzähler fürchtet die Transformation der Landschaft – sie würde das Ende der dem Menschen nutzbringenden Pflanzen bedeuten und damit dessen, was die Kultur der Marina ausmacht. Die Darstellung menschlichen Verhaltens mit Naturbildern überschreitet gelegentlich die Grenzen zwischen Allegorie und der Formulierung eines Tatbestands: Bei dem Vergleich zwischen dem Hirtenführer Belovar, Sippenhäuptling in der Campagna, und Pater Lampros, der die geistige Macht der Marina verkörpert, wird ein direkter Zusammenhang zwischen Natur, Landschaft und Mensch konstatiert:
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In diesen beiden Männern, dem Hirten und dem Mönche, trat die Verschiedenheit zutage, wie sie der Boden auf die Menschen nicht minder als auf die Pflanzen übt. Im alten Bluträcher lebten die Weidegründe, in die noch nie das Eisen einer Pflugschar eingeschnitten hatte, wie in dem Priester die Weinbergskrume, die in den vielen hundert Jahren durch die Sorge der Menschenhand so fein wie Sanduhrstaub geworden war. (ADM, 290 f.)
Die wesentlichen Charakteristika der beiden Landschaftsformen, werden durch die zentralen Figuren, die darin wirken, repräsentiert. Das von Lindner beschriebene anthropogeographische Theorem, »daß die Gestalt einer Landschaft die menschliche Seele präge«,34 tritt hier in metaphysischem Sinne besonders deutlich zutage. Doch ist darüber hinaus auch eine direkte habituelle Einflussnahme des Landes vernehmlich. Der Unterschied zwischen beiden Figuren – begründet mit dem Boden auf dem sie leben – ist Ursache ihrer gegensätzlichen Reaktionen auf die Bedrohung durch den Oberförster. Darüber hinaus werden Belovar weitere Attribute zugeschrieben, die dem gleichen Muster folgen: In ihm loht und glüht »das wilde Erdfeuer« und »die Wolfsnatur«, die allerdings gezähmt zu sein scheint: Erzähler und Otho empfinden ihre Zuneigung zu ihm wie die zu einem »treuen Hund«. (AdM, 289) Die landschaftlichen Dispositionen Belovars summieren sich in der Wahrnehmung des Erzählers zu einem spezifischen Habitus, konstituieren ein immer auf das Kultur-Natur-Gefälle hin abhebendes Fremdbild. Der Hochwald des Oberförsters schließlich wird als »Zufluchtsort« und Heimat der Vaganten bezeichnet (vgl. AdM, 284) und ist wie Marina und Campagna ebenfalls durch eine symbiotische Beziehung zwischen der ansässigen Bevölkerung und der Umgebung gekennzeichnet. Die Einwohner – Flüchtlinge und Ausgestoßene »aller Art«35 – finden in der dichten Vegetation und dem von Nebel dominierten Klima zahlreiche Unterschlüpfe; es ist die für sie logische Heimat. Auch die Strategie, die Ernährung durch die Jagd zu sichern, ist aufgrund entsprechender Bedingungen nur folgerichtig. So können beispielsweise am Rande des Sumpfes Verstecke errichtet werden, »Hütten aus grobem Schilf« sowie »verdeckte Sitze wie Krähennester« in den Erlen (AdM, 272). Diese Naturvorbildern entsprechenden, rein zweckmäßigen Bauten werden vom Erzähler nicht mehr als zivilisatorische Erscheinungen akzeptiert; er nimmt sie nicht als »Zeichen der Besiedlung« (AdM, 272) wahr. Für den Wald des Oberförsters typische Naturphänomene nimmt der Erzähler immer als Signal des drohenden Unheils auf: Moos, Nebel, selbst den Ruf des Ku34 35
Lindner, Leben in der Krise, S. 74. »In diese Waldesgründe hatte sich geflüchtet, was je in Kriegen oder Zeiten, in denen der Landfriede ruhte, der Vernichtung entronnen war – so Hunnen, Tataren, Zigeuner, Albigenser und ketzerische Sekten aller Art. Zu diesen hatte sich gesellt, was immer den Profosen und der Henkershand entsprungen war, versprengte Scharen der großen Räuberbanden aus Polen und vom Niederrhein und Weiber […], die der Büttel aus dem Tore fegt. | Hier schlugen die Magier und die Hexenmeister, die dem Scheiterhaufen entronnen waren, ihre Zauberkünste auf; und bei den Eingeweihten, Venedigern und Alchimisten zählten diese unbekannten Dörfer zu den Horten der Schwarzen Kunst.« (AdM, 284)
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ckucks (vgl. z. B. AdM, 308 f.). Dabei geht es ihm nicht nur darum, dass sie gewissermaßen die Nähe der Gefahr durch die zu diesen Landschaftsmerkmalen gehörigen Einwohnern ankündigen. Er fürchtet offenbar auch um die eigene Integrität: Sehr bald, wenn wir den Weidegrund verließen, bemerkten wir, daß die Gewalt nun näher und stärker war. Die Nebel wallten in den Büschen, und das Röhricht zischelte im Wind. Ja selbst der Boden, auf dem wir schritten, kam uns fremder und unbekannter vor. Vor allem aber war es bedenklich, daß sich die Erinnerung verlor. Dann wurde das Land ganz trügerisch und schwankend und den Gefilden ähnlich, die man in Träumen sieht. Zwar gab es immer Orte, die wir mit Sicherheit erkannten, doch gleich daneben wucherten wie Inseln, die aus dem Meere tauchen, neue und rätselhafte Streifen an. Um hier die rechte und wahre Topographie zu schaffen, bedurfte es unserer ganzen Kraft. Wir taten daher wohl, die Abenteuer zu vermeiden, nach denen der alte Belovar begierig war. (AdM, 305)
Am Ende erweist sich diese bedachtsame Haltung als durchaus berechtigt: Als der Erzähler völlig auf sich allein gestellt mit der Dogge des Oberförsters direkt konfrontiert wird, versagt die Strategie des geistigen Widerstandes vollends: »Da faßte mich die Jagdgier, und der Eifer, die Lieblingsdogge des Oberförsters zu erlegen, verführte mich, ihr nachzuspringen, als ich sie wieder im Qualm verschwinden sah, der wie ein breiter Bach an mir vorüberfloß.« (AdM, 336) Die Abwesenheit der Elemente der Marina und der gefürchtete Einfluss der Umgebung des Waldes sind Faktoren, die aus dem ›Gärtner‹ immerhin für einen gewissen Zeitraum einen ›Jäger‹ machen. Schon das Vordringen in den Wald mit der Absicht, den Fürsten Sunmyra durchaus auch mithilfe von Waffengewalt zu befreien, ist ein erster Schritt in diese Richtung. Eingeleitet wird der ›Ausstieg‹ aus der bisherigen Strategie durch eine Beratung mit Belovar, »dessen irrationale Lebensform der Kampf ist«,36 anstelle des eigentlich gewünschten Gesprächs mit Lampros. Augenfällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Entscheidung, den Wald zu betreten, in einem Lager der Campagna getroffen wird, nicht in der Marina. Damit wird die These des Erzählers, dass die geistigen, inneren Barrieren standhalten müssen, um eine Transformation der kulturellen Ordnung – oder der Landschaft – zu vermeiden, insofern umgekehrt, als hier das Durchschreiten der verschiedenen Landschaften sozusagen erst den ›inneren Abstieg‹, den Zerfall der ›rechten‹ und ›wahren‹ Topographie eröffnet. Der Mauretanier-Orden, der wiederholt mit dem Hochwald in Verbindung gebracht wird und zu dem auch der Oberförster gehört, ist von einem »innere[n] Konflikt« (AdM, 317) beherrscht, der die spezifischen Ziele der Eroberung zum Gegenstand hat. Gegner dabei sind der Oberförster auf der einen und der als eine Art Großwildjäger beschriebene Braquemart auf der anderen Seite: Es mag nun wunderlich erschienen, daß Braquemart in diesem Handel dem Alten entgegentreten wollte, obgleich doch beide in ihrem Sinnen und Trachten viel Ähnliches verband. Es ist jedoch ein Fehler, […] daß wir bei Gleichheit der Methoden auch auf die 36
Gutmann, Politische Parabel und Mythisches Modell, S. 60.
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gleichen Ziele schließen und auf die Einheit des Willens, der hinter ihnen steht. Darin bestand die Verschiedenheit insofern, als der Alte die Marina mit Bestien zu bevölkern im Sinne hatte, indessen Braquemart sie als Boden für Sklaven und für Sklavenheere betrachtete. (AdM, 317)
Braquemart ist indes nicht weniger ein »Schwärmer der Macht und Übermacht« als der Oberförster selbst, mit dem Unterschied, dass er seine »wilden Träume in die Reiche der Utopie« (AdM, 315) verlegt. Die gesamte Ideologie der Expansion basiert in der Erzählung auf einem Landschaftsideal, das unscharf zwischen Allegorie und wörtlich gemeinter Betrachtung oszilliert und kulminiert in der Anmerkung des Erzählers: »Es handelt sich bei diesem Kampfe darum, ob die Menschensiedlung zur Wüste oder zum Urwald umgewandelt werden soll.« (AdM, 317) In diesen Kampf fügen sich die Landschaftsprinzipien der beiden anderen Regionen: Garten in der Marina und das Hirtenleben auf Wiesen, Weiden und Steppen in der Campagna. Diese vier Landschaftsformen prägen Lebensweisen und Lebensentwürfe, sind Antrieb für unbedingte Verteidigung oder gezielte Angriffe eines Landes. Jüngers Epochen- und Landschaftsmosaik liefert nun durch die eingangs erläuterte Strategie der Komprimierung von räumlichen und zeitlich-historischen Distanzen eine Situation, in der kulturelle und landschaftliche Unterschiede schon auf topografischer Ebene unmittelbar aufeinanderprallen müssen. In diesem Gefüge unterschiedlicher Interessen und unterschiedlich weit fortgeschrittener Strategien zur Kontrolle der ›inneren‹ Natur bzw. eines an diese Stelle tretenden primitiven Willens zur Macht, sind Konflikte mehr oder minder unvermeidlich. Hiermit führt Jünger die Merkmale der Landschaften und die sich daraus ergebenden Unterschiede als jenen Grund an, aus dem die »Menschenordnung« unweigerlich und wie einem Naturgesetz folgend »von Zeit zu Zeiten« untergehen, sich »ins Feuer tauchen muß« (AdM, 288). Es zeigt sich damit die Sichtweise einer Weltordnung, wie sie in ihrer Abhängigkeit anthropologischer Mechanismen von geographischen Verhältnissen kaum tiefer und komplexer sein könnte.
Jüngers Anthropogeographie Die hier durchgeführte Analyse der Zusammenhänge zwischen Landschaftsmerkmalen und menschlichen Strukturen zielt keineswegs darauf ab, frühere Deutungen der Erzählung Auf den Marmorklippen grundsätzlich in Frage zu stellen. Es geht Jünger unbestritten darum, wie Gutmann sagt, »in einem exemplarischen Modell die allgemeinen Gesetze und Konstellationen aufzuzeigen, die historischen und überhistorischen Konstanten, die sich in jedem vergleichbaren geschichtlichen Umbruch aktualisieren«.37 Doch darüber hinaus vermittelt der Erzähler beständig – im Rahmen der Handlung, durch Beschreibungen der Lebensverhältnisse sowie der 37
Gutmann, Politische Parabel und Mythisches Modell, S. 65.
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Ordnungsstruktur und schließlich zum Teil auch auf formaler Ebene –, dass diesem Modell anthropogeographische Prämissen zugrundeliegen. Das betrifft in Ansätzen jeden Bereich der klassischen Anthropologie, wie Kultur, Sozialverhalten, industrielle Entwicklung und Theologie. In ›Jüngers Anthropogeographie‹ ist das Verhältnis Landschaft–Mensch von folgenden Abhängigkeiten bzw. Wechselbeziehungen gekennzeichnet: • • •
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Landschaft ist Teil habitusbildender Prozesse (entscheidend zur Herausbildung einer persönlichen und nationalen Identität; bestimmte Neigungen hervorbringend, das Angestrebte bestimmend; etc.). In industrieller Hinsicht ist Landschaft Grundlage der Ernährung, bestimmt maßgeblich die ökonomischen Bedingungen und prägt wiederum entsprechende Präferenzen (die zur Konstituierung von Fremd- und Selbstbild beitragen). Landschaft ist gemütsprägend: Eine mehr oder weniger ungestörte Lebensweise, entsprechend tradierter, habitueller Vorstellungen, bestimmt den Grad der Zufriedenheit (somit zeigt sich ein Einfluss auf die ›Mentalität‹, die affektive Grundeinstellung bzw. den affektiven Gesamtcharakter der Bevölkerung). Entscheidend ist hier der ästhetische Nutzen, vor allem die Qualität der optischen Reize, die vornehmlich an Dauer und Reichtum der Pflanzenblüte gemessen wird. Landschaft beeinflusst die Kultur- bzw. Kunstproduktion, d. h. den Umgang mit und den Rang von Gesang, Dichtung, etc., denn Qualität und Funktion dieser Künste werden im Verhältnis zur heimatlichen Landschaft betrachtet und teilweise zur Steigerung der Erträge eingesetzt. Religiöse Praktiken und Anschauungen stehen teilweise ebenfalls im Dienste einer Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und sind damit eng mit den Ansichten über den Status der Landschaft und der Kultur-Natur-Beziehung in einzelnen Gesellschaften verknüpft. Landschaften – als konkrete Umgebung eines Subjekts – bestimmen den Grad der menschlichen Widerstandsfähigkeit gegen als primitiv gekennzeichnete Triebe; bestimmte Landschaften sind Katalysator unbewusster und unterdrückter Impulse. Landschaftsauffassungen sind Grundlage für Herrschafts- und Widerstandswillen, insofern sie helfen, die maßgeblichen, identitätsstiftenden Ideologien hervorzubringen (die Landschaftsideale: Garten, Urwald, Wüste); sie generieren die Voraussetzungen aller kultureller Konflikte.
Insbesondere die Häufigkeit, mit der Beziehungen zwischen Natur und Kultur hergestellt werden, zeigt, dass Jünger die Erzählung dahingehend konzipiert hat, die implementierten Konsequenzen für eine Welt, in der sämtliche anthropologische Konstellationen von geographischen, naturgesetzlichen Faktoren geprägt und abhängig sind, sichtbar machen zu können. Dem fatalistischen Charakter der Jünger’schen Geschichtsauffassung liegt in der Erzählung die Parallelität und Distanzlosigkeit unterschiedlicher Landschaftsformen und mit ihnen identifizierter
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Kulturen zugrunde. Eine derartige perspektivische Verengung von Raum und Zeit mag Jünger in Anbetracht moderner Fortbewegungsmittel, den Möglichkeiten einer schnellen Informationsvermittlung durch Telekommunikation und anderen technologischen Entwicklungen bereits als tatsächlicher Zustand erschienen sein. Unter diesem Aspekt ließe sich der Erzählung – einmal mehr – ein gewisses referenzielles Potenzial sowie ein bemerkenswerter prophetischer Gestus ablesen. Letztlich aber verbirgt sich darunter nichts weiter als die Anschauung, dass es, solange unterschiedliche Landschaftsformen, klimatische Bedingungen, etc. existieren, keine gemeinsame anthropologische Ordnung geben kann. Somit ließen sich sowohl Jüngers Reisetagebücher als auch naturkundlich geprägte Werke wie die Subtilen Jagden in anderem Licht wahrnehmen: Bestimmte Beobachtungen und Kommentare können gewissermaßen immer auch als Einschätzung des örtlichen Potenzials für Kultur und den Gütegrad der hier wahrscheinlichen Ordnung gelesen werden.38 Selbst die mit Gräsern und Blüten ausgestatteten Tagebuchseiten wirken unter diesem Gesichtspunkt wie ein Kommentar nicht primär auf die botanische Vielfalt, sondern vielmehr auf die lokalen Möglichkeiten des Menschen vor der Natur. Jünger scheint sie als Zeichen eines hier umsetzbaren Widerstandes wahrzunehmen, der durchaus äquivalent zur Strategie der Protagonisten von Auf den Marmorklippen ist: einer reinen »Geistesmacht«. Die Anwesenheit bestimmter Pflanzen proklamiert gleichsam sinnbildlich die Existenz eines bewusst eingesetzten gärtnerischen Prinzips, das sich gegen jene richtet, die ›Wüsten‹ und ›Urwald‹ im Sinn haben. Entsprechend heißt es in den Kirchhorster Blättern: »Das Leben der Pflanzen und sein Kreislauf sichern die Realität, die durch Dämonenkräfte aufgelöst zu werden droht. Die Gegenspieler des Oberförsters sind Gärtner und Botaniker.«39
38
39
Z. B. Maik Müllers Untersuchung »Jüngers physiognomischer Blick und die Reisetagebücher der fünfziger Jahre« scheint mir in dieser Hinsicht anschlussfähig: »Der Gegenpol dieser Blickführung hin zum naturkundlichen Detail bildet in Jüngers Schreibweise das Panorama, der Blick in die Weite der Topographie. Aus dieser Wechselbeziehung, dieser Oszillation der Blickführung, die bisweilen angereichert wird mit olfaktorischen und akustischen Eindrücken, entsteht jener Eindruck einer verdichteten Natur- und Landschaftserfahrung, den Jüngers Reisetexte von Beginn an vermitteln.« Mike Müller, In diesem Band, S. 233–254, hier S. 234. Ernst Jünger, Strahlungen II, Kirchhorster Blätter. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3: Tagebücher III, Stuttgart 1979, S. 295–401, hier S. 314.
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Rainer Waßner
Zweierlei Seins-Ordnungen Totalität und Singularität in Ernst Jüngers Frühwerk Im Kern der Autorschaft Ernst Jüngers steckt eine ontologische, d.h. philosophische Fragestellung: welcherart ist die Beziehung des Seins im Ganzen zum singulären, individuierten Sein in Raum und Zeit, und wie kann man sie dichterisch fassen? Das Problem ist nicht sofort, von der ersten gedruckten Zeile 1920 an präsent, etwa mittels systematisch-abstrakter Deduktion. Jünger ist niemals professioneller Theologe oder Philosoph. Das Kernproblem entfaltet sich in stetiger geistiger Bewegung an den Gegenständen der Dichtung selbst, nicht unbedingt linear, nicht in gleichbleibenden Termini und nicht in eindeutigen, abgezirkelten Lösungen. Eine geronnene Zwischensumme der literarischen Produktion enthält das Vorwort (eigentlich ein Nachwort) der Strahlungen: »Im Sichtbaren sind alle Hinweise auf den unsichtbaren Plan.«1 Wie ist im Werkablauf dieses Ergebnis genetisch zustande gekommen?2
1. Von der Sinnfrage zur Entdeckung einer Totalität Ernst Jünger ist Repräsentant einer Kulturkrise in Deutschland, die durch die Kriegs- und Nachkriegserfahrung ausgelöst wird. »Was ging am Grunde vor?«3 lautet seine durchaus konventionelle Frage nach dem sinnvollen Zusammenhang von Geschichte, die jedoch in seinen Schriften der Zwanzigerjahre an den überlieferten geistigen Autoritäten (die Wissenschaften – insonders die Geschichtswissenschaft –, die christliche Religion, die politisch-sozialen Heilslehren, darun1
2
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Ernst Jünger, Strahlungen I. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II: Strahlungen I, Stuttgart 1979, S. 19. Vgl. Rainer Waßner, Die letzte Instanz. Religion und Transzendenz in Ernst Jüngers Frühwerk, Nordhausen 2015. – Für ergänzende und korrigierende Erörterungen – besonders der politischen Dimension, die hier nur am Rande gestreift wird – verweise ich auf die Gesamtdarstellungen von Martin Meyer, Ernst Jünger, München/Wien 1990; Steffen Martus, Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 333); Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007; Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben, München 2007. Hilfreich zur Auseinandersetzung ist immer Nicolai Riedel, Ernst-Jünger-Bibliographie, Wissenschaftliche und essayistische Beiträge zu seinem Werk (1928–2002) (Personalbibliographien zur neueren deutschen Literatur 5), Stuttgart 2003, Nachtragsband 2013. Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1980, S. 11–103, hier S. 13.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-021
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ter der von Jünger kurzzeitig noch gepflegte Nationalismus) kein Genügen mehr findet. Um 1930 rundet sich sein (immer dichterisch verklausuliertes) Denken zu einem Konzept, das prinzipiell nicht mehr umgestoßen wird. Alle Bewegungen und Bestände der Welt verzahnen sich mit einer sie umfassenden anderen Ordnung. Von dieser umgreifenden Totalität heißt es einstweilen nur, sie sei »ein kosmisches Walten, das wunderbar und daher unerklärlich ist und das sich dieser Generation bedient«.4 Der Sinngehalt alles Geschehenden und Seienden verlegt sich damit von einem subjektiven, persönlichen oder existenziellen Sinn in die neuentdeckte Dimension, die alle Qualitäten eines Absoluten an sich hat. Aber keine Hinterwelt, kein Ding-an-sich, kein jenseitiger Himmel um- und ergreifen uns, vielmehr postuliert Ernst Jünger eine Einheit von Wesen und Erscheinung. In jeder bedingten Existenz wirke die bedingende kosmische Totalität. »Es gibt an dieser Tafel keine Speise, in der nicht ein Körnchen vom Gewürz der Ewigkeit enthalten ist.« (AH I, S. 199) Jüngers Erkenntnismodell richtet sich gegen das neuzeitliche Weltbild. Es beziehe im Kausalitäts- und Entwicklungsdenken alles auf den Menschen und dessen Bedürfnisse und Verwertungsinteressen. Kehre man diese Willensrichtung um, betrachte man die Welt nicht mehr vom Menschen, sondern den Menschen von der Welt her, falle neuer Glanz auf alltägliche Dinge und Verhältnisse, entdecke man deren tieferes Sein.5 Zum Mittel dieser neuen Optik erhebt Jünger Grenzerfahrungen, die das rationale Ich kleinhalten, ferner die quasi exterrestrische Entfernung zu den beobachteten Dingen. Dann öffneten sich die Tore zur Totalität und ließen neue Sinnzusammenhänge erkennen. »Wir fühlen, wie, zögernd noch, Sinn in das große Werk einzuschießen beginnt, an dem wir schaffen, das uns im Banne hält.«6
2. Die »Gestalt« des Arbeiters prägt den Äon 2.1 Omnipotenz der Totalität Seine rigideste Ausprägung, seine strikteste Anwendung findet Jüngers frühes Totalitätsdenken in der Konstituierung, Beschreibung und Synthese des Arbeiter 4
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Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz, Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III. Das Abenteuerliche Herz, Stuttgart 1978, S. 31–176, hier S. 109. (Im Folgenden AH I). Die verbale Nähe zur Programmatik der Phänomenologie (Scheler, Husserl), »Zurück zu den Sachen selbst!«, zeigt, dass Jünger kein völlig isolierter Schriftsteller ist, sondern an Zeitfragen Anteil hat. Ernst Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III: Das Abenteuerliche Herz, Stuttgart 1980, S. 9–22, hier S. 22.
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(1932).7 Keine sozialökonomische Kategorie wird hier eingebracht, sondern ein Begriff für eine metaphysische Gestalt, in deren machtvollem Griff die Moderne sich bereits tendenziell befände und die sich im unentrinnbaren Schicksal einer totalen Mobilmachung (1930)8 eines Tages vollenden wird. Das neue Sehen konzentriert sich hier auf die geschichtliche Dynamik. Aus den vorgefundenen Erscheinungen folgert es – mit kräftigen Konjekturen – ein werdendes Sein perfekter Sachbeziehungen. Die gegenwärtigen Phänomene sind Jünger die Zeichen eines Kommenden, ihr Sinn liegt in der Zukunft. Philosophisch gesprochen, streben unvollkommene Dinge danach, ihre ideale Struktur zu entfalten und zu erreichen. An die Stelle des individualistischen und rationalen 19. Jahrhunderts träte ein neues Lebensprinzip, ein neuer Weltbezug, eine andere Intentionalität auf die Dinge, nämlich Arbeit: die beschleunigte technologische Verwandlung des natürlichen Lebens in Energie zugunsten menschlicher Zukunftsprojekte im Weltmaßstab. Sie verändere den Planeten in seinen Grundfesten, nicht zuletzt durch Kriege und Bürgerkriege. »Sie trifft das Kind in der Wiege, ja im Mutterleibe ebenso sicher wie den Mönch in der Zelle oder wie den Neger, der im tropischen Urwald die Rinde des Gummibaumes ritzt. Sie ist also total«.9 Das System zerreibe alle Traditionsbestände und schalte das bürgerliche Individuum gleich. Die Naturlandschaft verwandle sich in die »Werkstättenlandschaft« des Posthistoire. Jünger betont die Allgewalt einer höheren Vernunft im Vorgang der revolutionären Verwandlung, »die sie zu den Objekten eines noch unpersonifizierten Willens macht«, wo die Einzelnen »zu wählen oder gar zu überlisten meinen«.10 Das ist die Pointe seiner Geschichtsteleologie. Die realen Wechselwirkungen und Entscheidungen, welche diesen Einbruch der Totalität vollziehen, gelten Jünger für seine Schriftstellerei als belanglos. 2.2 Sinn als Bindung an die überwältigende Totalität Wesentliches Merkmal der sich seit dem Weltkriege abzeichnenden neuen Lebensordnung sei die Rückkehr zum Gefährlichen, die in der mutigen Anwendung der ins Ungeheure gesteigerten technischen Mittel bestehe. Die Ausnahmesituation sei zur Regel geworden. Das »Unbekannte, das Außerordentliche, das Gefährliche wird nicht nur das Gewöhnliche – es wird auch das Bleibende. Nach dem Waffenstillstand […] bleibt ein Zustand zurück, in dem die Katastrophe als das a priori eines veränderten Denkens erscheint.«11 Infolgedessen wird der Kontakt zur sinn7
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Ernst Jünger, Der Arbeiter. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 8: Essays II: Der Arbeiter, Stuttgart 1980, S. 9–317. Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände. Bd. 7: Essays I: Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 119–142. Jünger, Der Arbeiter, S. 154. Jünger, Der Arbeiter, S. 82. Jünger, Der Arbeiter, S. 61.
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stiftenden Totalität nicht mehr von sporadischen Akten einzelner ›abenteuerlicher Herzen‹ hergestellt, die die Grenzen der durchrationalisierten, bürgerlichen, säkularen Gesellschaft in Jüngers sogenanntem »magischen Realismus« von 1929–31 sprengten. Dessen Mittel – Rausch, Traum, Lektüre, Liebhabereien, usw. – sinken jetzt zu halbromantischen Eskapaden herab. Das System selbst hat etwas Rauschund Traumhaftes, Extravagantes, Böses, birgt tödliche Gefahren. Sinnvolles Handeln kann nunmehr nur darin bestehen, durch die rückhaltlose, wenngleich schmerzhafte Bejahung der vorgefundenen Superstrukturen die Gestalt des Arbeiter zu repräsentieren, damit zu ihrer endgültigen Realisierung beizutragen. Technik und Ethos fallen zusammen.12 Nicht jeder (heutige) soziale Kreis wäre dieser Berührung mit den elementaren Kräften gewachsen. Bürger und Proletarier, Romantiker und Konservative, Humanisten und Christen, Nihilisten und Nationalisten sind metaphysisch defizitäre Gruppierungen, die an vergangenen Gestalten und Sinnstiftern hängen. Sie würden verkennen, dass in unserem Zeitalter »Arbeit« und die damit verbundenen Entfremdungen die Eintrittspforte zum Unsagbaren, einer divinen letzten Realität sind. Ihnen haften diesen Vorgängen »alle Kennzeichen des Rätselhaften, ja wohl des Irrsinnigen an«.13 Jünger weist den Begriff der Säkularisierung in diesem Kontext ausdrücklich zurück, da »der Arbeiter nicht einen schwächeren, sondern einen anderen Glauben hat«.14 Nämlich der Glaube an einen Sinngehalt im exakten Vollzug eines technischen Ablaufes. 2.3 Korrekturen und Konstanzen Leise, in wenig beachteten Publikationen15 entfernt sich Jünger bereits in den Dreißiger Jahren von dieser prometheischen Lebensanschauung. Er verneint, in der Geschichte einen totalen Sinn ergründen und einen genauen Blick in die Zukunft werfen zu können. »Auch die Geschichte verbirgt einen Sinn, der sich ihr weder mit Hebeln noch mit Schrauben abzwingen lässt«.16 Der Weltgeist lässt sich nicht 12
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Noch 1945 bezeichnet er das Buch als einen »Ansatz zur Sinngebung« derjenigen »Veränderungen, die sich auf dem Planeten abzeichnen«. Ernst Jünger, Strahlungen II. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 32: Tagebücher III: Strahlungen II, S. 442. Jünger, Der Arbeiter, S. 183. Jünger, Der Arbeiter, S. 219. Afrikanische Spiele (1936), (Ernst Jünger, Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 15: Erzählende Schriften I, Stuttgart 1978, S. 75–245), Lob der Vokale (1934) (Ernst Jünger, Lob der Vokale. Dem Genius der Sprache [Urfassung]. In: Corona, 4, 1934, S. 601–633, hier S. 602), Atlantische Fahrt (1936), Aus der Goldenen Muschel (1943); die letzten beiden werden erst nach dem Zweiten Weltkrieg herausgegeben (Ernst Jünger, Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 6: Tagebücher VI: Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 109–183 sowie S. 89–107). Jünger, Lob der Vokale, S. 602.
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in die Karten gucken. Man müsse sich mit punktuellen Sinnerhellungen unserer Erfahrung bescheiden. Zwar bleibt dabei der Arbeiter eine nötigende, gewaltige Bezugsgröße, aber daneben ist jederzeit eine Berührung mit anderen Gestalten (wie Sprache, Natur, Kunst) möglich und legitim, ja geradezu ein Korrektiv der nun vorwiegend destruktiv gesehenen Arbeitswelt. Die Vorstellung von Totalität erweitert sich zu einer vorläufig diffusen Pluralität von gestaltenden Urkräften. Der Sternenhimmel Jüngers beginnt sich zu drehen, dem Fixstern Arbeiter sind andere Sonnen beigesellt. Die Verschiebungen dürfen freilich nicht über wesentliche Konstanzen der dichterischen Programmatik hinwegtäuschen. 1) Die Menschen machen ihre Geschichte nicht selbst, sondern setzen außer-empirische Impulse um. 2) Der Autor Ernst Jünger sieht die Weltbestände subjekt-dezentriert an, eidetisch, nicht wissenschaftlich. 3) Sinn stellt sich aus der Bindung an letzte Realitäten her. 4) Mikround Makrokosmos bilden eine Einheit, für die Jünger sich zum ersten Mal, noch sporadisch der Begriffe von Urbild und Abbild bedient.
3. Im Endlichen das Unendliche erblicken. Das Abenteuerliche Herz, II17 3.1 Prolegomena einer »Neuen Theologie« Die Explikation eines universalen Sinnes, auf den alles bezogen wird, ist ad acta gelegt. Alle alltäglichen und außeralltäglichen Lebensvollzüge kommen jetzt zu eigenem Wert und Sinn, sogar zu mehr als einem Sinn. »Überall hängt das Unsichtbare seine geheimen Angeln nach uns aus«. (AH I, 35). Daraus erhebt Jünger die Forderung nach einer »Neuen Theologie«: »Das Leben birgt zwei Richtungen: die eine ist der Sorge zugewandt, die andere dem Überflusse [...]. Unsere Wissenschaft ist ihrer Anlage nach der Sorge zugeordnet und der Festseite abgewandt [...]. Daher müßte man die Wissenschaft vom Überfluß erfinden, wenn sie nicht seit jeher bestände – denn sie ist keine andere als die Theologie.« (AH II, 311) Sie ist es, die vom wahren Ursprung der Weltzusammenhänge Rechenschaft ablegt. Vom Anthropozentrismus des wissenschaftlichen Erkennens und praktischen Handelns würden – wie gehabt – Akte der Enthaltung und der Fernsicht erlösen. Sie erschlössen in einem Nu die Einheit von Essenz und Existenz, sinnlicher und intelligibler Welt, Diesseits und Jenseits, Geist und Materie, überhaupt von Gegensätzen und damit den Zauber des Ganzen. Eine monistische Seinslehre also. In der Folge widmen sich Jüngers Miniaturen ganz konkreten Begebenheiten und Beobachtungen – ein Gewinn für den Leser –, die erst am Ende in Verallgemeinerungen abbiegen. Jünger studiert Träume und Naturerscheinungen, beschäftigt sich mit sozialen und geschichtlichen Verhältnissen, Krieg und Tod, mit Büchern, er entwirft gar eine Farbenlehre. 17
Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz, Zweite Fassung, Figuren und Capriccios. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 9: Essays III: Das Abenteuerliche Herz, Stuttgart 1979, S. 177–330. – Im Weiteren: AH II.
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3.2 Das Sinnlich-Konkrete und sein Verhältnis zur Totalität Jüngers Generalisierungen und Entschlüsselungen der Erscheinungen sind dem Anspruch nach ein Sehen und Horchen sub species aeternitatis, ein Herausnehmen aus den Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität. Sein Vorbild ist die »Erfassung der Urpflanze« (AH II, 182) bei Goethe. Natur, Kultur und Geschichte werden entzeitlicht, jeder Entwicklungsgedanke wird abgelehnt bzw. nicht verfolgt. Urzeugung in der organischen und anorganischen Natur; sich quasi ewig repetierende Konstellationen zwischen Menschen, vom Bäcker und seiner Kundschaft bis zur Hinrichtung von Königen. Das menschliche Drama wandelt sich zur göttlichen Komödie von Statisten auf einer Bühne. (AH II, 254) Entfremdung entpuppt sich als eine Art Sehfehler. So werden selbst die vom Arbeiter weltweit verursachten Zerstörungen in dieser »doppelten Buchführung des Lebens« (AH II, 229) zu einem notwendigen Bestandteil in einem gigantischen, doch geordneten kosmischen Vorgang. In anderen Worten, die Moderne ist nicht mehr eine Epoche sui generis, sondern die Wiederholung einer historischen Grundfiguration. Was genau geschieht, bleibt freilich vorerst dunkel: »Wie Odysseus […] segeln wir zwischen Kriegen und Bürgerkriegen dahin – und kennen […] nicht einmal den Namen des Vorganges, in dessen Maschen wir gefangen sind.« (AH II, 319) Klar ist nur: das Böse und Destruktive ist integraler Part der Weltordnung.
3.3 Charakterisierung der Totalität Totalität ist die wirkende, schenkende, fesselnde und quälende, qualitativ superiore Wirklichkeit, die dem »Abenteurer« situationell in ihrer Eigenmacht und ontologischen Qualität aufleuchtet. Jünger verwendet für sie eine Reihe von Metaphern und Bildern, um ihren Stellenwert klarzumachen: Das Unaussprechliche, Unendliche, Ganze, Ein und Alles, die zeugende Kraft, der Mittelpunkt, die tragenden Bögen des Weltbaus, und anderes mehr. Religiöse Termini fehlen (noch), eher ist es die allmächtige Mutter Natur, deren Abläufe ihm Gleichnisse des Lebens überhaupt sind. Wer, anders als der reine Erkenntnistheoretiker, bei diesem ästhetischen Mysterium nicht stehen bleiben möchte und sich nach Maßstäben richtigen oder angemessenen Handelns innerhalb des umfassenden Horizontes erkundigt, – schließlich vermittelt menschliche Tätigkeit die Totalität mit der heterogenen Erscheinungsvielfalt – bleibt ratlos zurück. Die praktische Philosophie wird nur am Rande bedacht. Es komme darauf an, so Jünger, im Gewohnten wie in Extremlagen, in Erfolg wie Misserfolg, »die Weltordnung an sich und in ihrem Kerne zu bestätigen«. (AH II, 274) Von »Stempel und Prägung« im Verhältnis vom Ganzen zum Teil, wie seinerzeit im Arbeiter, ist jedenfalls nicht mehr die Rede, ein menschlicher Optionsradius denkbar und möglich.
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4. Auf den Marmorklippen 4.1 Die Parabel vom Fall der Großen Marina Das weithin als Widerstandsschrift gelesene Büchlein ist eine Transkription der »Neuen Theologie« in erzählende Literatur. Wir begegnen keinen Akteuren, die nach Lust und Laune, Willkür, zufällig die Handlung vorantreiben, auch wenn sie im Nacheinander von Raum und Zeit und in Bezug auf ihre Motive geschildert werden, und die historische Vorlage der Nachkriegszeit noch durchschimmert. Nein, ein Ensemble von Charakteren und Typen bevölkert die literarische Bühne und spielt ein Repertoire politisch-sozialer Grundkonstellationen, das einem bestimmten Abschnitt im kosmischen Zyklus zugehört. Der Ort ist kein geografischgeschichtlicher Raum, sondern ein verallgemeinertes Reich im »stereoskopischen Blick« Jüngers. »Die Kunst, sich so den Blick zu schärfen, nannte Bruder Otho ›die Zeit absaugen‹.«18 Kampf und Zwietracht stören die Ordnung nicht, »Maß und Regel [sind] in den Zufall und in die Wirren dieser Erde unvergänglich eingebettet«.19 Selbst im Angesicht der Katastrophe bleibt der Erzähler abgeklärt: »Und freudig erfaßte uns das Wissen, daß die Vernichtung in den Elementen nicht Heimstatt findet und daß ihr Trug sich auf der Oberfläche gleich Nebelbildern kräuselt, die der Sonne nicht widerstehen.«20 4.2 Ein »Christenpater« als Sinnbild der Verbindung von Totalität und Individualität In der Figur des Pater Lampros – dem Leuchtenden – verdichtet Jünger alle Merkmale, die für ihn das Ideal eines Menschen im Sinne einer re-ligio, der Bindung an eine letzte, ruhende, numinose Totalität ausmachen. Eine von den Geschehnissen der – durchschauten – Welt unabhängige und unberührte Person, sind die Quellen seiner Weisheit die Baupläne und Mysterien der Natur, der Traum, und die Sprache; natürlich Jüngers favorisierte Zugänge zur Totalität. Das heraufziehende politische Ungemach hat Lampros längst erkannt, doch trübt es seine Geistesruhe nicht. Im Finale geht er gefasst, heiter, ja enthusiastisch in den Flammentod. Mit alldem, will Jünger uns beibringen, leiste der Pater Widerstand im Geiste, ein physischer Widerstand hätte nur neue Gewalt heraufbeschworen. Des »Oberförsters« – der Protagonist des Bösen – Erstarken deutete auf tiefe Veränderungen in der Ordnung, in der Gesundheit, ja im Heile des Volkes hin. Hier galt es anzusetzen, und daher taten Ordner not und neue Theologen, denen das Übel von den Erscheinungen bis in die feinsten Wurzeln deutlich war; dann erst der Hieb des konsekrierten Schwertes, der wie ein Blitz die Finsternis durch18
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Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 15: Erzählende Schriften I, Stuttgart 1978, S. 247–351, S. 262. Jünger, Auf den Marmorklippen, S. 264. Jünger, Auf den Marmorklippen, S. 298.
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dringt. Aus diesem Grund mußten die einzelnen auch klarer und stärker in der Bindung leben als je zuvor – als Sammler an einem neuen Schatz von Legitimität.21
Bereits 1929, während seiner »nationalrevolutionären« Phase, hatte Jünger in einer Rezension den Katholizismus als die Institution gefeiert, die vorbildlich das Wesen einer solchen Bindung ausdrücke, die es allerdings neu zu begründen gelte.22 Die Bindung an die Gestalt des Arbeiter hatte dann für den Autor die Nachfolge angetreten. Nunmehr, da jene ihre positive Faszination eingebüßt hat, wird die überlieferte Religion wieder attraktiv und die Gemeinde der Christen wird in freundlichen Farben geschildert. Jüngers Tagebuch aus der Zeit der Abfassung verrät, er arbeite an den Marmorklippen, »in denen ich die Schilderung des Pater […] beendete […], wobei ich, wie ich hoffe, die katholischen Klischees vermied.«23 Der Nachsatz soll vermutlich eine Distanz zum geschichtlich vorgefundenen Katholizismus ausdrücken. Schließlich geht es ihm um eine »neue« Theologie.
5. Gärten und Straßen: Die Totalität garantiert die Vollkommenheit der empirischen Lebenswelten 5.1 Rückblick und Vorschau Das Frühwerk Ernst Jüngers entfaltet sich aus der Frage nach dem Sinn unseres Zeitalters, die sich bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges geklärt und verschoben hat. Es wird nicht mehr explizit vom Sinn gesprochen; wenn man überall nur notwendige Ordnungen entdeckt, ist die Welt selbstverständlich sinnhaft gefügt. Ihre »Fülle« speist sich aus einer umgreifenden, transzendenten Totalität, die unmittelbar mit den empirischen Erscheinungen verkoppelt ist und ihnen eine neue Dimension der Tiefe verleiht. Sie, die Totalität, zeigt sich dem aufmerksamen, absichtslosen, sich selbst zurücknehmenden oder (durch Schreck, Harmonie, Todeserlebnis usw.) überwältigten Beobachter fragmentarisch in momentanen Einblicken, die dichterisch zu verarbeiten sind. Der Entwurf inkludiert Ablehnung jeglicher Erfahrungshierarchien. Jedes Detail, das dem Autor kontingent zufällt, ist es wert, festgehalten und auf seine Verbindung mit der Totalität befragt und beschrieben zu werden. So wie es mustergültig die zweite Fassung des Abenteuerlichen Herzen vorexerzierte. 21 22
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Jünger, Auf den Marmorklippen, S. 319. Ernst Jünger: Die Heilige im Automobil. Rezension von George Bernanos, Der Abtrünnige, in: Der Tag, 14. April 1929, wieder abgedruckt in Sven Olaf Berggötz, Politische Publizistik 1919–1933, Stuttgart 2002, S. 473–479. Ernst Jünger, Gärten und Straßen. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2: Tagebücher II, Strahlungen I, Stuttgart 1980, S. 25–221, hier S. 49 (26. Mai 1939).
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In dieser Linie steht das erste der Kriegstagebücher.24 Der Arbeiter ist nicht mehr der einzige Gesichtspunkt, sondern nur ein einziger. Alles, was der Fall ist [Wittgenstein], wird zum Beleg für den Reichtum der Erde und der produktiven Ganzheit. Dabei gilt der Glaube nach wie vor nicht als echte Vermittlungsinstanz zur Totalität, er ist höchstens zu den Erfahrungen »gleich dem Sauerstoff ein Hinzutretendes«. (S I, 112, 25. Febr. 1940) Unmissverständlich wird die Ausgangsintention Jüngers beibehalten: in aller Empirie, in aller Zeitlichkeit überzeitliche archimedische Aussichtspunkte zu gewinnen, von dem aus Natur und Geschichte ihren trans-empirischen Wert zurückerhalten, den sie im Laufe der Aufklärung eingebüßt haben. Möglich wird dieses Vorgehen, weil der Mensch Bewohner beider Welten ist und durch geschulte Anschauung der physischen in die metaphysische Ebene – die Totalität – einzudringen vermag. Die Rangfolge der beiden Ordnungen ist eindeutig. Ewigkeit und Zeit sind »zwei Qualitäten, von denen die eine der anderen unendlich überlegen ist«. (S I, 107, 13. Febr. 1940) 5.2 Erschaffene Natur Jüngers scharf gestochene und zugleich liebevolle Naturporträts paaren sich mit Erstaunen und Begeisterung. An der Natur erweist sich jede moralische, utilitaristische oder ästhetische Aufteilung der Realität als verfehlt; wenn wir sie als schlecht, hässlich oder überflüssig empfinden, liege es an unserem ichbezogenen Standpunkt: »Daß manche Tiere […] uns absurd erscheinen, beruht auf perspektivischer Verzerrung und deutet die Entfernung unseres Standorts von dem des Schöpfers an.« (S I, 98, 3. Febr. 1940) Der Schöpfungsbegriff dient zum ersten Mal Jünger als Attribut der Totalität, augenscheinlich in einem platonischen Verständnis. »Wenn die Tiere der Erde […] alle ausgerottet würden, so blieben sie doch in ihrer Unversehrbarkeit bestehen. Sie ruhen im Schöpfer, und nur ihr Schein wird ausgetilgt. Jede Zerstörung nimmt nur die Schatten von den Bildern weg.« (S I, 61, 23. Juli 1939) 5.3 Zeitgeschichte: Dominanz der Totalität mit Abschattungen Bei der Anschauung, Beschreibung und Erörterung menschlicher Verhältnisse bleibt Kausalität eine sekundäre Kategorie. Es geht Jünger zur Erhellung geschichtlichen Seins nicht um die Ursachen und Wirkungen im historischen Raum, sondern – wenn ich so sagen darf ! – um die Ur-Sachen, die aus der Totalität einwirken. So tummeln sich in dem entrollten Zeitpanorama sogleich die uns vertrauten Sta24
Jünger hat in der Werkausgabe die Gärten und Straßen zu den Strahlungen geschlagen; in der ersten Ausgabe 1949 war das noch nicht der Fall. Ich folge hier ihrer Sonderung – sie erschienen zuerst 1942. Ich zitiere aber nach der Gesamtausgabe (8. Aufl.1980). Dabei werden, um die Fußnoten nicht unnötig aufzublähen, die Strahlungen im Fließtext wie folgt zitiert: Band (S I oder S II), Seite, Datum. Alle Zitate wurden mit der Erstausgabe abgeglichen; viele sind stilistisch überarbeitet worden – wie immer bei Jünger. Nur bei Abweichungen, die unser Thema substantiell betreffen, erfolgt ein Hinweis.
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tisten auf der Weltbühne, welche die Herrschaft terribler Mächte in der Gegenwart repräsentieren. »Ich spürte die Drähte des Marionettenspiels. Wir sammeln uns zuweilen zu solchen Konstellationen, um uns dann wieder zu zerstreuen wie Karten, die man nach dem Spiel beiseitelegt.« (S I, 194, 26. Juni 1940) »Die Menschen leben wie Tiere in einem trüben Wasser und kennen ihren Standort nicht. Ein Auge von stärkerer Durchdringung würde sie indessen wohlgeordnet erblicken, wie Fähnlein, die im Felde stehen.« (S I, 60, 19. Juli 1939) Nur von Zeit zu Zeit gewähren diese gewaltigen Druckkammern Atempausen oder bieten Schlupflöcher. »Doch der Weltgeist duldet die Filigranarbeit nur dort, wo er ein wenig zaudert – wie wir überhaupt die feinsten Dinge Augenblicken danken, in denen er vergeßlich war.« (S I, 38, 21. April 1939) Bei allem Determinismus beharrt Jünger auf der menschlichen Verantwortung. »Zwischen Freiheit und Schicksal ist ein Verhältnis wie zwischen Fliehkraft und Gravitation – wie die Bahn der Planeten durch das Widerspiel von zwei entgegengesetzten Kräften geordnet wird, so führt sich auch die eigentlich menschliche, das heißt die aufrechte, Haltung darauf zurück.« (S I, 69, 10. Sept. 1939) In der Person schlummern Gestaltungsspielräume: »Die Dinge werden durch unseren Zustand angezogen und ausgewählt: die Welt ist so wie wir beschaffen sind. Jeder von uns vermag also die Welt zu ändern – das ist die ungeheure Bedeutung, die den Menschen verliehen ist. Und daher ist es auch so wichtig, daß wir an uns arbeiten.« (S I, 188, 23. Juni 1940) Doch im Großen und Ganzen regiert Grenzziehung seine Gedanken zur menschlichen Freiheit. »Im höheren Rahmen mögen wir uns bewegen, wie wir wollen, dennoch verharren wir in ihm. In allem ist, wie ein Gewürz, auf wunderbare Weise zugleich die Ewigkeit« (S I, 107, 13. Febr.1940), wiederholt er einen Satz aus dem Abenteuerlichen Herzen I,25 der den Consolationes von Boethius entnommen ist. Eine weitere Gruppe von Eintragungen, welche die Verfügungsgewalt handelnder Subjekte bestreitet, verkündet ein Kontinuum von Orten und Beziehungsmustern über Generationen hinweg. Zum Beispiel sei der moderne Staat »eine historische Erscheinung, die immer wiederkehrt und die an sich bereits von sekundärem Rang ist […]. Die Menschengeschichte weicht ab, auf das Mechanische oder Dämonische zu, kehrt aber zu den Normen zurück, indem sich ein neues Gleichgewicht ausbildet.« (S I, 162, 10. Juni 1940) Solche primordialen Strukturen gingen auf andere, ursprünglichere Kräfte als die des »Arbeiters« zurück, wirken parallel, nachhaltiger, konservierend und stabilisierend. So sind auch die Passagen zu bewerten, die das wieder einsetzende Leben in den französischen Städten nach dem Friedensschluss festhalten. »man entdeckt in ihnen das Einmalige, das für alle Zeiten Bedeutende, das den Alltag durchwebt; und hinter den Schmerzen leuchtet das Leben in einer neuen, glückhaften Tiefe auf.« (S I, 200, 5. Juli 1940) Die Zeitläufe, in die wir gestellt sind, weisen also auf sehr unterschiedliche transzendente Wurzeln zurück. 25
Vgl. oben Anm. 5.
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5.4 Neue Theologie mit altem Menschen In seinem futuristischen Essay vom Arbeiter hatte Jünger den eindimensionalen Menschen als eine Art neuer Kulturbringer ausgemacht; ein Heros, bereit, sich mit Haut und Haaren, Leib und Seele die Welt botmäßig zu machen und darin, schmerzabgehärtet, zum Opfergang bereit zu sein. Ohne dieses Bild zu streichen, hebt Jünger aus dem Tatsachenmaterial des Frankreichfeldzuges dagegen überraschend oft einen leidenden, duldenden und nie perfekten Menschen heraus, einen vielschichtigen und problematischen, auf Heil angelegt, doch potentiell ebenso bösartig. In Konjunktion damit leitet Jünger seinen kategorischen Imperativ ab, die Verbindung mit der Totalität aufrechtzuerhalten. »Mit Übergriffen muß in allen Heeren gerechnet werden; das ist unbedeutend, wenn nur das Maß der Ehre nie verloren geht. Dasselbe gilt […] für uns alle: der Mensch kann fehlen, wenn nur der Keim, die Zelle des gerechten Lebens, in ihm erhalten bleibt.« (S I, 196 f., 30. Juni 1940) Erneut beweist sich Jüngers neugewonnene Auffassung von der Vielfalt der Totalität, die als Handlungsmaxime nicht nur die Forderung nach optimalen Arbeitsvollzügen hervorbringt. In der Rückschau, am 10. Juni 1945, kommentiert Jünger den Sachverhalt: »Wahrscheinlich ist die metaphysische Potenz der Arbeitswelt stärker, als wir sie heute beurteilen. […] Kunst, Architektur, Philosopheme können erst wieder glaubwürdig werden, wo ein ruhendes Zentrum bewußt wird«. (S II, 472)
6. Die Macht des Schicksals: Die Tagebücher von 1941 bis 1948 6.1 Kontinuität der Methode: Anschauung, nicht Konstruktion Das veröffentlichte Tagebuch26 verwandelt, als Literatur, Leben im Kriege und in der Nachkriegsphase in Kunst: in Paris, an der Kaukasusfront und im heimischen Kirchhorst/Hannover.27 Der spätestens seit 1938 fixierten Programmatik bleibt Jünger treu. Entsprechend der postulierten Verzahnung von Sein und Seiendem gelten die Fakten (Begegnungen und Begebenheiten, Chronologien und Kausalitäten der Ereignisse, Naturerscheinungen, Lektüre, Träume, Örtlichkeiten, Korrespondenzen, militärische Operationen, usw.) für Vertreter, Zeichen und Hinweise einer begründenden, transzendenten Totalität; die schriftstellerische Arbeit soll beide verbinden. In Jüngers Selbstverständnis bedeutet das keine Zerlegung von Wirklichkeit, die danach zu einem neuen Kompositum reorganisiert würde – mag 26
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Ernst Jünger, Strahlungen (1949), jetzt in ders., Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 2 u. 3, Stuttgart 1979. Zusätzlich zu der in Anm. 2 genannten Literatur vgl. Horst Mühleisen, Im Bauche des Leviathan. Ernst Jünger, Paris und der militärische Widerstand. In: Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime, hg. von Thomas Vogel, Hamburg/Berlin/Bonn 2000, S. 447–464.
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es dem Leser mitunter auch so vorkommen, wenn disparate Tatsachen zusammengefügt werden. Jünger will nicht Neues er-finden, sondern Reflexe von Urbildern finden. Vom Endpunkt der kopernikanischen Dichtung aus »muß jede Poesie auf einen neuen Kosmos bezogen sein, gleichviel ob die Physik ihn schon entdeckte oder nicht«. (S I, 492 f., 10. Febr. 1943) Soziale, ökonomische, politische – also auf das Subjekt bezogene – Kategorien seien unzureichend.28 6.2 Lehrmeister Natur Gelungenen botanischen oder zoologischen Beschreibungen schließt sich die Einbettung in die Totalität ein, die das Wunder der Schöpfung belegen möchte. Verallgemeinerungen, die allerdings nur den Status persönlicher Evidenzen beanspruchen dürfen, den Jüngerschen Monismus verdeutlichend. Leicht schlagen sie unterschwellig ins Normative um: »wie bei den Pflanzen noch jeder Teil den anderen erzeugen kann. […] Wir Menschen haben diese Kunst verloren […]. Doch senden wir bei steigender Gefährdung im Opfer andere und geistigere Organe, Haftwurzeln ins Unsichtbare aus – freilich auf Kosten des Lebens einzelner. Daraus wächst dann uns allen neues Gedeihen zu.« (S I, 224, 20. Febr.1941) »Im Pflanzenreich ruht ja die ganze Metaphysik; und es gibt keinen besseren Kursus der unsichtbaren Dinge, die sichtbar werden, als das Gartenjahr.«(S II, 247, 5. April 1944) Gleichzeitig repetiert er seine Ablehnung jeglicher Entwicklungstheorien. »Der Kern des Darwinismus ist Konstruktionstheorie. Ihm fehlt das Auge für das ganz und gar Unökonomische, Unrationelle der Pflanzen, den fürstlichen Aufwand, den Überfluß […] bleibt die Unterhaltung fruchtlos mit Intelligenzen, denen die Möglichkeit, sich über das Element der Zeit hinauszuheben, nicht gegeben ist«. (S II, S. 456 f., 26. Mai 1945) 6.3 Im »Malstrom« der Geschichte29 Jünger hatte sich in den beiden Fassungen des Abenteuerlichen Herzen dem Abseitigen der bürgerlichen Gesellschaft auf die Spur begeben und enthüllte in ihr, nicht ohne Koketterie, Dunkles, Gefahren, Schrecken, Angst und Aggression. Nun liegen die düsteren Aspekte offen zutage, weil »in der Welt das Fürchterliche die Stelle des Alltäglichen gewinnt« (S I, 277, 29. Nov. 1941) und somit unübergehbarer Bestandteil des phänomenalen, als Durchgangsweg zur Totalität zu erschließenden Feldes wird. Lange Abschnitte beschäftigen sich infolgedessen mit dem Erleiden 28
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Es darf bei diesen kolossalen Anmutungen – auch für den Leser – nicht übersehen werden, dass Jünger die Malerei immer über die Dichtung gestellt hat, weil sie in der Lage sei, das Ganze auf einen Blick zu geben. Auch die Strahlungen enthalten zahlreiche direkte Hinweise darauf, z.B. am 4. Jan.1944. Im übrigen solle der Dichter »malerische Genauigkeit« anstreben (2. Mai 1945). »Im Malstrom Edgar Allan Poes besitzen wir eine der großen Visionen, die unsere Katastrophe vorausschauten, und von allen die bildhafteste.« (S II, 89, 3. Juli 1943)
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von Terror und Verfolgung, Gewalt und Misshandlung (zugetragen oder beobachtet). Nirgends in der Beschreibung fällt das Wort »Feind«, denn Freund und Feind gehören in der stereoskopischen Perspektive zusammen. »Daher gehört die Diffamierung des Feindes zum Höflingskult im Reich der Finsternis.« (S II, 9, 19. Febr. 1943) Trotz des Fernblicks verschweigt der Autor nicht seine innere Beteiligung. »Nie darf ich vergessen, daß ich von Leidenden umgeben bin. Das ist weit wichtiger als aller Waffen- und Geistesruhm und der leere Beifall der Jugend, der dies und das gefällt.« (S I, 357, 28. Juli 1942) Zugleich gesteht er, in der Geschichte nicht mehr die Totalität als Ganze ergreifen zu können, es sei »unmöglich […] schon in dieser Phase die Deutung des Geschehens durch einen großen Historiker oder, besser noch, durch den Roman«. (S I, 438 f., 9. Dez. 1942)30 6.4 Freiheit und Notwendigkeit Intensiv wie nie zuvor beschäftigt sich Ernst Jünger mit dem Verhältnis historischer Prädestination zu Maß und Möglichkeit humaner Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit, um die Strittigkeit seiner Überlegungen wissend. Die »Freiheit des Willens im Metaphysischen – sie zählt zu den Problemen, die sich immer wieder stellen und die man nie lösen wird.« (S II, 162, 2. Okt. 1943) Nicht nur das Unglück und das Vergehen, gleichermaßen nachdrücklich wird die Frage der persönlichen Verantwortung für sie aufgeworfen. Die destruktiven Kräfte der Gegenwart – komprimiert im Begriff des Arbeiters – beherrschten zwar unsere Epoche, doch nie so total, als dass nicht Spielraum für individuelle Varianten und Abweichungen bliebe. Die Jünger erreichenden Gräuelmeldungen »modifizieren meine Ansicht, dass die Vernichtungstendenzen, die Erschießungs-, Ausrottungs- und Aushungerungsbestrebungen aus allgemein-nihilistischen Zeitströmungen hervorgehen. Das ist natürlich auch der Fall, doch treten hinter den Heringsschwärmen Haifische als Treiber auf. Kein Zweifel, dass es Einzelne gibt, die für das Blut von Millionen verantwortlich sind.« (S I, 302, 8. Febr.1942) Berufung auf Befehlsnotstand ist ihm nicht mehr legitim, »während die Ehre zum Teufel geht, starr am Gehorsam festhalten. Dem faulen Idealismus, der fortfährt, als ob die Dinge in Ordnung wären.« (S I, 353, 23. Juli 1942) Auch die Generalität bekommt öfter ihr Fett weg (etwa 21. Mai 1942). – »Es gibt Untaten, die die Welt im Ganzen, in ihrem sinnvollen Zusammenhang berühren; dann kann auch der musische Mensch sich nicht mehr dem Schönen, er muß sich der Freiheit weihen.« (S I, 277, 3. Dez.1941) In anderen Worten, die kausale Initiierung von Handlungsketten gewinnt für den Autor zunehmend an Wert, während umgekehrt die Konzepte der Totalität nicht mehr durchweg zur Erklärung und schon gar nicht zur Beschwichtigung von Untaten herhalten (müssen). »Naturgesetze sind die Gesetze, die wir wahrnehmen. An allen Punkten, an denen wir in die Entscheidung treten, nehmen wir sie nicht 30
Der Hinweis auf den Roman ist späterer Zusatz. Dieser Roman soll natürlich Heliopolis sein, s.u. Kap. 7.
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mehr wahr.« (S I, 365, 13. Aug. 1942) Verlöre ein Mensch seine Willensfreiheit, »so würde er zum Automaten in einer Automatenwelt.« (S I, 363, 9. Aug.1942) Schicksal und Freiheit, Totalität und Individualität durchdringen sich. Das eigene Selbst ist und bleibt das nächstliegende und der Veränderung zugänglichste Material innerhalb der Weltbestände – im Umfang seiner es bestimmenden Gestalt. Jedem ist ein zu pflegendes »Maß an Harmonie bestimmt, das uns verliehen ist.« (S I, 383, 21. Sept. 1942) »Vor allem müssen wir in unserer Brust bekämpfen, was sich dort verhärten, vererzen, versteinern will«. (S I, 335, 6. Juni 1942) Gleichwohl sind weite Partien der Freiheitsdiskussion weiterhin in massive Geschichtsspekulation eingebaut, die von der drückenden und drängenden Totalität ihren Ausgang nehmen: »es handelt sich heute darum, ob Menschen oder Automaten die Herrschaft über die Erde zukommen soll. Die Frage zieht andere Risse als jenen groben, durch die die Welt in Nationen oder Gruppen von Nationen aufgeteilt erscheint.« (S I, 335, 6. Juni 1942) Und zur Zukunft mutmaßt Jünger: Die Technik ist jetzt in solcher Tiefe realisiert, daß auch nach Brechung der Vorherrschaft des Technikers und seiner Leitgedanken mit ihrem Bestand gerechnet werden muß. Vor allem ist Fürchterliches an Opfern in sie eingebaut. [...] Die eigentliche Frage lautet, ob man die Freiheit an sie verliert. Wahrscheinlich ergibt sich daraus eine neue Form von Sklaverei. (S I, 365, 13. Aug. 1942)
»Die Freiheit kann nicht wiederhergestellt werden im Sinne des 19. Jahrhunderts, wie viele noch träumen; sie muß sich erheben zur neuen und eisigen Höhe des geschichtlichen Vorgangs und höher noch«.31 (S I, 439. 9. Dez. 1942) In seinen Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit offenbare sich, so Jünger, »der Abgrund, der zwischen dem Handelnden und dem Betrachtenden besteht. […] Das Bild bezeichnet auch meine Lage überhaupt.« (S I, 471, 31. Dez. 1942) Der fatalistischen Beruhigung: Die Katastrophe mußte kommen; sie wählte sich den Krieg als ihren besten Förderer. Doch hätte auch ohne ihn der Bürgerkrieg das Werk vollbracht, wie es in Spanien geschah, oder ganz einfach ein Komet, ein Feuer vom Himmel, eine Erderschütterung. Die Städte waren reif geworden und mürbe wie Zunder – und der Mensch war begierig auf Brandstiftung. (S II, 193, 27. Nov. 1943)
steht die Schuldzuweisung gegenüber: »gemeinsame Schuld: indem wir uns der Bindungen beraubten, entfesselten wir zugleich das Untergründige. Da dürfen wir nicht klagen, wenn das Übel uns auch als Individuen trifft.« (S II, 40, 16. April 1943) Gemeint ist natürlich die Bindung an die Totalität. Am weitesten in die Zone der kausalen Analyse wagt sich Jünger im letzten der Tagebücher, der »Hütte im Weinberg«, die mit dem Tag der Ankunft der amerikanischen Besatzungstruppen einsetzt, dem 11. April 1945, und den bezeichnenden Untertitel trägt »Jahre der Okkupation«. Hier gibt er sich ausführliche und auto31
»und höher noch«, späterer Zusatz.
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biografische Rechenschaft über die Jahre in Deutschland seit 1918, wobei der Horizont der bedingenden bzw. begründenden Totalität immer zart touchiert bleibt. Der Leser, der seine politisch-historische Beurteilung nicht oder nicht immer nachvollziehen kann, findet trotzdem reichlich Material zum eigenen Räsonnement über dreißig Jahre deutscher Geschichte. 6.5 Platonischer Optimismus Ungeachtet der bedrückenden Nachrichten und der verworrenen historisch-politischen Lagen verliert Jünger nicht seine Zuversicht. »Daß letzten Endes alles gut wird.« (S II, 16, 6. März 1943)32 »doch ist es wichtig, dass man sie mit dem Blick des Arztes betrachtet, der eine Wunde prüft. Sie sind Symptome des ungeheuren Krankheitsherdes, den es zu heilen gilt – von dem ich glaube, daß er heilbar ist.« (S I, 315, 6.3.1942) Er verfällt nicht in Misanthropie. »Die Menschen bergen doch noch viel Saatgut, das wieder grünen kann, sowie das Wetter milder wird und menschliche Temperaturen zurückgewinnt.« (S I, 251, 14. Juni 1941) Geschichtsphilosophie tritt hinzu. »In der Geschichte setzen sich die Ideen nicht geradlinig fort. Sie entwickeln aus sich heraus die Gegenkräfte«. (S I, 268, 5. Nov.1941) Schließlich verbleibt für Jünger, wie wir schon wissen, immer ein Residuum archaischer Figurationen, das aller Vernichtung widersteht, »die Überlegenheit der Nornen über die geformte Geschichte […] das Alte, Graue und Urbekannte, das uns allen gemeinsam ist.« (S I, 367, 16. Aug. 1942) Alle Tröstungen lassen sich, direkt oder indirekt, auf den doppelten Ursprung der Welt zurückführen. Die empirischen Tatsachen weisen immer über sich hinaus in überempirische Ordnungen. Deshalb schreckt Jünger der Gedanke nicht, dass historische, immanente Kräfte nicht zur Rettung ausreichen könnten. Das und der Böse kommt und geht, »weil seine Zeit gekommen ist.« (S I, 226, 22. Febr.1941)33 Entzeitlichung des zeitlichen Schreckens bleibt Jüngers dichterisches Leitbild für die geistige Bewältigung der Krisis. »Das Opus muß einen Stand erreichen, in dem es überflüssig wird – indem Ewigkeit durchleuchtet.« (S I, 318, 10. März 1942) Jüngers Terminologie für die Zweiseitigkeit jedes Weltzusammenhangs wechselt im Ablauf seines Werkes. In den Strahlungen regiert das Begriffspaar Urbild und Abbild. Was auf Erden scheinbar der Vernichtung anheim fällt – Kultur, der Mensch, die Natur – sei in Wahrheit unzerstörbar, unbesiegbar. In dieser Überzeugung zieht sich eine rudimentäre, geradezu hymnische Thanatologie – der Tod habe nicht das letzte Wort und führe in die Vollendung – und eine Philosophie des Schmerzes durch das Tagebuch.
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Ursprünglicher Eintrag: »starke Zuversicht auf eine Wendung zum Besseren.« »und geht« späterer Zusatz.
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6.6 Die »Neue Theologie« schreitet voran »Der Weg zu Gott in unserer Zeit ist ungeheuer weit, als hätte der Mensch sich in den grenzenlosen Räumen verirrt, die sein Ingenium erfand. Daher liegt auch in der bescheidensten Annäherung ein großes Verdienst. Gott muß neu konzipiert werden.« (S II, 63, 7. Mai 1943) So lautet das Motto von Jüngers »Neuer Theologie«. Die Zuwendung zum Christentum ist ein wirklich neues Moment in seinem Schrifttum, signalisiert durch mehrfache Bibellektüre über Jahre hinweg, Besuch von namentlich genannten Kirchengebäuden (gelegentlich von Gottesdiensten), und die letzte Fassung der sog. Friedensschrift.34 Doch schränkt er ein, die »Neue Theologie« sei »eine Exegese zu meinem persönlichen Gebrauch«. (S II, 342, 14. Dez.1944) So kommt es auch, daß mein Zugang zur Theologie durch die Erkenntnis führt. Ich muß mir Gott zunächst beweisen, ehe ich an ihn glauben kann. Das heißt, ich muß den gleichen Weg zurückgehen, auf dem ich ihn verließ. […] Schöner wäre gewiß die Gnade, doch entspricht sie nicht der Lage und nicht dem Stande, in dem ich bin. […] Seit langem lebt unser Glaube ja für jeden, der Kräfte sehen kann, viel stärker in der Biologie, der Chemie, der Physik, der Paläontologie, der Astronomie als in den Kirchen […]. Die theologischen und philosophischen Elemente sind herauszufällen wie Gold und Silber, die Theologie als Gold gibt dann den Wissenschaften Währung und Kurs. (S II, 101 f., 18. Juli 1943)
Für die Beziehung von Totalität und Singularität ergeben sich neue Umschreibungen, Fassungen, Metaphern, Verständnishilfen, persönliche Einsichten. (Wie: »Rettung ist jetzt nur möglich, wenn aus einer anderen Ordnung eingegriffen wird.«, II, 354, 5. Jan.1945) Sie sind getragen von einer (unbiblischen) zyklischen Geschichtsauffassung. »Im Ablauf der Zeiten wiederholt sich kaleidoskopisch, was der Seher in den Elementen schaut. Sein Blick ruht nicht auf der Historie, sondern auf der Substanz, nicht auf der Zukunft, sondern auf dem Gesetz.« (S I, 417, 15. Nov. 1942) Das bis dato abgelehnte Gebet promoviert nunmehr zu einem authentischen Weg zur Totalität, weil dadurch »ein Vakuum, eine Lücke im kausalen Tagesverlauf entsteht, die höheren Einfluß möglich macht. Daher ist der Entschluß, in unseren Tagen, sich zunächst an ein Glaubensgesetz zu halten, auch ohne innere Berufung, gar nicht so sinnlos, wie man gemeinhin denkt. Er gibt vielmehr die beste Eröffnung der metaphysischen Partie. Gott muß ja gegenziehen.« (S II, 353 f., 4. Jan. 1945) Der Betende trete »nicht zu Teilen des Getriebes, sondern zum Ganzen in Beziehung«. (S II, 302, 29. Aug. 1944) Erstmalig rückt der Stifter der Christenheit in Jüngers Blick. Die Unterscheidung des natürlichen und des supranaturalen Menschen gleicht der Entdeckung einer höheren Chemie. Christus ist der Mittler, der die Menschen der metaphysischen Verbindung fähig macht. Die Möglichkeit lag in ihnen seit Anbeginn; so werden sie durch das Opfer auch nicht neu geschaffen, sondern vielmehr ›erlöst‹, das heißt, in höhere Aktivität versetzt. Diese war immer, als Potenz der Materie. (S II, 232, 7. März 1944) 34
Dazu Rainer Waßner, Schreiben gegen die Mächte der Zeit. Annäherung an das Christentum in den Kriegsjahren 1939 bis 1945. In: Stimmen der Zeit, 134, 2009, S. 53–66.
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Im Vorwort der Strahlungen behauptet Jünger – ich meine, zu Recht –, er stünde quer zur offiziellen Theologie. »In solcher Lage richten sich die Blicke auf das Christentum. Doch sieht man dort die Geister noch nicht einmal der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts und ihren Vorstellungen gewachsen, wo es die des unseren zu formen gilt.« (S I, 20)35
7. Weltplan und Menschenplan Die Tagebücher des Ersten und des Zweiten Weltkrieges tragen sehr verschiedenes Kolorit, nicht nur, weil Jünger dort an der Front und hier im Stab und in der Etappe gedient hat. Wie zu zeigen war, liegt zwischen den Stahlgewittern und der Hütte im Weinberg ein Vierteljahrhundert Reflexionsarbeit. Inhaltlich läuft sie auf eine zunehmende Tendenz intellektueller Integration des sinnlich-unmittelbaren Erlebten in umgreifende Sinn-Strukturen hinaus – bis hin zum Eskapismus.36 Der mehrfach überarbeitete und gekürzte Roman Heliopolis schließt diesen Prozess ab.37 Die ersten fünfzig Jahre unseres Säkulums. Der Fortschritt, die Maschinenwelt, die Wissenschaft, die Technik, der Krieg als Elemente der vor- und nachheroischen, der Titanenwelt. Wie alles glühend, alles elementar gefährlich wird. Um diese Spanne, etwa im Roman zu schildern, wäre mit einer Figur zu beginnen, die sie zwar unklar, doch mit Überschwang bejaht, ein Werther des 20. Jahrhunderts, also mit Rimbaud vielleicht. Dieser dämonischen müsste eine andere Gestalt gesellt werden, mit Ordnungswissen höherer Art, als nicht lediglich konservativem, sondern gewaltig wirkendem, ein Großmeister des Babylonischen Turmes. (S II, 126, 21.Aug. 1943)
Die Erwartungen, die solche Sätze aus den Strahlungen geweckt haben, müssen enttäuscht sein. Heliopolis ist eine eher trockene Sammlung von Thesen, Weisheitssprüchen und Epigrammen, die nahezu wortwörtlich bereits in den Strahlungen auftauchen, dort noch die Lebendigkeit des Erlebten und Gedachten ausstrahlen, hier eingewebt in eine artifiziell wirkende Handlung in ferner postmoderner Zukunft. Wiederum geht es dem Autor zuerst darum, Charaktere, kollektive Stimmungen, politische Klimate und typische menschliche und historische Konstellationen zu schildern. Das Verhältnis zwischen Totalität und Singularität wird in den Schlusskapiteln geschildert als – ich vereinfache – die Konfrontation von menschlichem und göttlichem »Plan«, und wie sie am besten auszubalancieren wären. Ein idealisiertes Christentum erhebt sich als Regulativ der Lebensform des nunmehr 35
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Nach wie vor gilt Martus’ Urteil. »Eine Analyse der Jüngerschen Position in den 1940er und 1950er Jahren im theologiegeschichtlichen Kontext fehlt im übrigen bislang.« Martus, Ernst Jünger, S. 4. Dazu Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, Göttingen 2007. Ernst Jünger, Heliopolis. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 16: Heliopolis, Stuttgart 1980.
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Rainer Waßner
»von Grund auf fürchterlich[en]« (S II, 456, 23. Mai 1945) Arbeiter. In den Strahlungen hatte es prognostisch schärfer geheißen: Wenn sich, woran ich nicht zweifle, die Gestalt des Arbeiters in herrschenden und überzeugenden Figuren repräsentiert, so werden diese nicht nur, und vielleicht überhaupt nicht, aus der Ordnung der Technik aufsteigen. Gerade dadurch wird die Technik ihre Zähmung, ihre Veredlung erfahren, nicht nur im Sinne der Domestizierung, sondern auch zum musischen Thema, vielleicht zur Zauberkunst. Sie muß ihr fremde Elemente und Absichten aufnehmen. Selbst in ihrem titanischen Zeitalter, in dem wir leben, sind diese Züge vorgeformt. Die Positiva liegen aber dort, wo man sie nicht vermutet, vor allem im Schmerz. Hier speichern sich gewaltige Guthaben. (S II, 508, 14. Aug. 1945) 38
Der Balanceakt fordere den Einzelnen heraus. Die Welt, in deren Geburt wir stehen, wird nicht der Abdruck von einheitlich geformten Motiven und Prinzipien sein – sie wird, wie jede Schöpfung, im Widerstreit entstehen. Und zu den großen Abgrenzungen gehört vor allem die von Willensfreiheit und Determination: In unserm Haupt, in unserer Brust sind die Arenen, in denen sich Freiheit und Schicksal begegnen in den Verkleidungen der Zeit. (S I, 21)
Damit geht das Frühwerk in die mittlere Phase über. Autor Ernst Jünger nimmt in sie die selbstgestellte Aufgabe mit, die der Natur und Geschichte abgewandte, sie aber nachhaltig formende Seite mit sprachlichen Mitteln zu erfassen und zu gestalten. Das Thema ist die Beherrschung der dynamischen Welt. Sie kann nur vom Unbewegten, von einem Zentrum aus stattfinden […]. In dieser Suche nach dem Mittelpunkt liegt auch das Problematische, das Experimentelle unserer Literatur und unserer Lage überhaupt […]. Neu heißt hier: Wiederentdeckung des währenden, haltbaren Grundes im Zeitlichen. Erst damit schlösse das Zeitalter der Entdeckungen, des Fortschritts und seiner Werkstätten ab. Der Mensch hat sich ein neues Haus gebaut. […] Und doch weisen Anzeichen darauf hin, vor allem jenes, daß das Fehlende vermißt, empfunden wird. Das gehört zur Erbschaft des Christentums, das nachwirkende Kraft besitzt wie eine Impfung, deren Spuren untilgbar sind. (S II, 537 f., 14. Sept. 1945)
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Vgl. die Aufzeichnung in den Strahlungen vom 10. Juni 1945 (S II, S. 467 ff.). – Ein konkreter Hinweis auf Staats- und Gesellschaftsformen fehlt meist. Sie sind ja nur »Symptom«. Wenn vorhanden, lässt Jünger keinen Zweifel an seiner Sympathie für ständische, monarchische, autokratische Ordnungen. Die Herrschaft des »Demos«, meist abschätzig gebracht, gehört in jedem Fall der Epoche des Arbeiter an.
Totalität und Singularität in Ernst Jüngers Frühwerk
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Literatur Jünger, Ernst: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Stuttgart 1978–1983. Jünger, Ernst: Strahlungen. Bd.I und Bd. II, 8. Aufl. Stuttgart 1980. Jünger, Ernst: Lob der Vokale. Dem Genius der Sprache, in: Corona, 4. Bd. 1934, H. 6, S. 601–633. Berggötz, Sven Olaf: Ernst Jünger. Politische Publizistik 1919–1933, Stuttgart 2002. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007. Martus, Steffen: Ernst Jünger, Stuttgart und Weimar 2001. Meyer, Martin: Ernst Jünger, München und Wien 1990. Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, Göttingen 2007. Mühleisen, Horst: Im Bauch des Leviathan. Ernst Jünger, Paris und der militärische Widerstand, in: Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933–1945, S. 447–464. Riedel, Nicolai: Internationale Ernst-Jünger-Bibliographie, Stuttgart 2003 ff. Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben, München 2007. Waßner, Rainer: Die letzte Instanz. Religion und Transzendenz in Ernst Jüngers Frühwerk, Nordhausen 2015. Waßner, Rainer: Schreiben gegen die Mächte der Zeit. Ernst Jünger und seine Annäherung an das Christentum in den Kriegsjahren, in: Stimmen der Zeit, Bd. 227 (2009), H. 1, S. 53–66.
Jan Robert Weber
»Der Arbeiter« und seine nationalbolschewistische Implikation Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Jünger darf heute wieder als ein Autor gelten, dessen Werk zum Kanon der literarischen Moderne gehört.1 Auf die Trilogie »Die Totale Mobilmachung« (1930), »Der Arbeiter« (1932) und »Über den Schmerz« (1934) trifft diese Re-Kanonisierung nur bedingt zu, obwohl an Interpreten wahrlich kein Mangel herrscht. Nach wie vor stehen sich zwei gegensätzliche, unversöhnliche Lesarten gegenüber. Während die Essays von den einen als hellsichtige Phänomenologie der Moderne verstanden werden, scheinen sie den anderen zu beweisen, dass Jünger zu den geistigen Wegbereitern des Nationalsozialismus zu zählen ist. Die alte, seit mehr als einem halben Jahrhundert bestehende Konstellation der zwei Lager wiederholt sich in den jüngsten Beiträgen zum Thema: Peter Trawny sieht im »Arbeiter« ein primär politisches Werk, betont infolgedessen die nationalistische Intention und stellt fest, dass die von Jünger beschriebene Moderne »keine andere politische Kraft in Europa […] so effektiv einzusetzen bereit war wie der Nationalsozialismus«, der im »Arbeiter« »im Grunde sein Buch« hätte erkennen müssen.2 Michael Jaeger deutet den »Arbeiter« hingegen als »Gestalt der Moderne« und versteht den Essay damit als Beschreibungs- und Bewältigungsversuch der »technisch-industriellen zweiten Schöpfung« in der »Abenddämmerung des bürgerlichen Zeitalters«3. Kein zweites Werk Ernst Jüngers ist heute umstrittener als »Der Arbeiter«. Bevor wir uns der Rezeptionsgeschichte zuwenden, ist eine Feststellung nötig: Man kann schlechterdings nicht ein- und dieselben Texte für nationalsozialistische Pamphlete halten und gleichzeitig als avantgardistische Literatur dem Kanon der ästhetischen Moderne zuschlagen. Eine faschistische Avantgarde in Deutschland bzw. eine moderne Literatur unter nationalsozialistischen Vorzeichen hat es weder vor noch nach 1933 gegeben, auch wenn wiederholt der Versuch unternommen worden ist, den Komplex von Nationalsozialismus, völkischer Literatur und Moderne mit Paradoxa wie »autochthone Modernität« oder »reactionary modernism« auf den ambivalenten Begriff zu bringen, worunter man dann natürlich auch Jünger und seine »organische Konstruktion« »Der Arbeiter« subsumieren könnte. Hier 1
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Helmuth Kiesel, Tendenzen der publizistischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ernst Jünger und seinem Werk. In: Ernst Jünger – eine Bilanz, hg. von Natalia Zarska/Gerald Diesener/Wojciech Kunicki, Leipzig 2010, S. 512–519. Peter Trawny, Die Autorität des Zeugen. Ernst Jüngers politisches Werk, Berlin 2009 (Blaue Reihe Wissenschaft 7), S. 128. Michael Jaeger, Die Gestalt der Moderne. Ernst Jüngers ›Arbeiter‹. In: Ernst Jünger – eine Bilanz, hg. von Natalia Zarska/Gerald Diesener/Wojciech Kunicki, Leipzig 2010, Leipzig 2010, S. 46–57.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-022
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geht es vielmehr darum, eine rezeptionsgeschichtliche Kontextualisierung des Essays zu leisten, um seinen verschütteten politischen Tendenzen und ideologischen Affinitäten auf die Spur zu kommen.
*** Wie angedeutet, vertritt eine nicht geringe Zahl heutiger Jünger-Interpreten die Ansicht, es handle sich bei den Essays über die »Totale Mobilmachung« im Zeichen des »Arbeiters« um eine Art von nationalsozialistischem Manifest, zumindest aber um eine mit klammheimlicher Vorfreude geleistete »Präskription« faschistischer Herrschaft.4 Während etwa Wünsch noch vergleichsweise vorsichtig von einer »faschismusnahen« Utopie spricht, die »nicht von konservativer Restauration« handele, sondern von »revolutionärem Wandel« zu einer »neuartigen politischen Ordnung«, die »bewusst modernistische Elemente« aufnehme5, gehört die Essay-Trias Koschorke zufolge zum »Entwurf einer elaborierten faschistischen Anthropologie«.6 Ohne Umschweife spricht auch Ketelsen von einem »faschistischen Modernitätskonzept«.7 Und nach Manthey enthalte der Essay »keine über die Epoche des Faschismus hinaus gültigen Gedanken«, denn das Buch stimme mit dem überein, was »Hitler auf die Fahnen seiner Bewegung geschrieben hatte«.8 Am deutlichsten verwirft Werth jede Interpretation als apologetisch, die den Essay als Moderne-Diagnose versteht, und behauptet stattdessen, Jünger hätte kraft seiner »suggestiven Beschreibung« nicht nur Marx, Nietzsche und Spengler übertreffen wollen, sondern auch Goebbels und Hitler, um »zum geistig-intellektuellen Oberhaupt des Nationalsozialismus [zu] avancieren, also gewissermaßen zum Karl Marx des Nationalsozialismus«.9 4 5
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Steffen Martus, Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 333), S. 89. Marianne Wünsch, Ernst Jüngers ›Der Arbeiter‹. Grundpositionen und Probleme. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 461 und 468. Albrecht Koschorke, Der Traumatiker als Faschist. Ernst Jüngers Essay ›Über den Schmerz‹. In: Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenumbruch des Ersten Weltkrieges, hg. von Inka Mülder-Bach, Wien 2000 (Edition Parabasen), S. 211 ff. – Vgl. auch: Daniel Morat, Die schmerzlose Körpermaschine und das zweite Bewusstsein. Ernst Jüngers ›Über den Schmerz‹. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, 6, 2001, S. 181–233, hier S. 216 ff. – Thomas Pekar, Bushido-Diskurs und Totale Mobilmachung bei Ernst Jünger. Eine fatale interkulturelle Begegnung. In: Neue Beiträge zur Germanistik, 1, 2002, S. 243–251. Uwe-K. Ketelsen, Literatur und Drittes Reich, Vierow bei Greifswald 21994, S. 258 ff. Vgl. auch: Uwe-K. Ketelsen, »Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Voraussetzungen.« Zu Ernst Jüngers ›Die totale Mobilmachung‹ (1930) und ›Der Arbeiter‹ (1932). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 77–96. Jürgen Manthey, Ein Don Quijote der Brutalität. Ernst Jüngers ›Arbeiter‹. In: Text+Kritik, 1990, H. 105/106 Ernst Jünger. Unveränderter Nachdruck, 1995, S. 36–51, hier S. 45 f. Christoph H. Werth, Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945. Mit einem Vorwort von Karl Dietrich Bracher, Opladen 1996, S. 191. (Kursivdruck im Original.)
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Es muss an dieser Stelle betont werden, dass sich eine solche politische Verortung keineswegs nur darauf auswirkt, wie der Jünger der letzten Republikjahre literarhistorisch einzuschätzen ist – in diesem Fall müsste er als erster und einziger praeceptor tertii imperii in die Annalen der literarischen Avantgarde und ästhetischen Moderne eingehen. Vielmehr enthält eine solche politische Zuschreibung weitreichende Folgen für Jüngers Œuvre und seine literaturgeschichtliche Bedeutung insgesamt. Denn im Unterschied zu seiner politischen Publizistik der 1920er Jahre hat Jünger die »Arbeiter«-Essays nicht ausgesondert, sondern an ihnen selbst unter Inkaufnahme schwerster Anschuldigungen beharrlich festgehalten. Für Jünger ist ein Widerruf zeitlebens nicht in Frage gekommen.10 »Die Totale Mobilmachung« und »Der Arbeiter« bedeuteten ihm nichts Geringeres als sein »Altes Testament«. Sollte es sich also um genuin faschistische Literatur handeln, dann wäre Jüngers Gesamtwerk tatsächlich derart obsolet, wie es etwa Seferens nahe legt, der selbst das Spätwerk zum heimlichen Stichwortarsenal des Rechtsextremismus erklärt. Denn infolge seines Revisionsverzichts müsste Jünger als ein sich treu gebliebener Faschist gelten, der mit seiner Literatur auch nach 1945 eine im Grunde nazistische Position vertreten hätte, die er allerdings aus opportunistischen Gründen kunstvoll verschleierte.11 Gegen dieses verdächtigende Lesen spricht fast alles: Jüngers Biographie, die Entwicklung, Ästhetik und Sujets seines Gesamtwerks, aber auch die politische Wirklichkeit in Deutschland zwischen 1933 und 1945, die nur gegen alle bestehende Historiographie als Umsetzung der Agenda des »Arbeiters« angesehen werden könnte. Zuvorderst aber spricht gegen die Wegbereiter-These die Rezeptionsgeschichte des »Arbeiters« selbst. Denn die Nationalsozialisten haben sich zu keiner Zeit in Jüngers Schriften wiedererkannt.12 Mag Hitler auch Jüngers Kriegsliteratur geschätzt und ihm dadurch bei seinen Parteigängern ein gewisses Renommee verschafft haben13 – spätestens seit der Veröffentlichung von »Das Abenteuerliche Herz« 1929 galt Jünger den Nationalsozialisten als Abtrünniger.
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Stephan Schlak, Ernst Jünger im Archiv gelesen. Sechs Stereoskopien. In: Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund, Zur Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne, Marbach a.N., 7. November 2010 bis 27. März 2011, hg. von Heike Gfrereis, Marbach a.N. 2011 (Marbacher Kataloge 64), S. 10–100, hier S. 45–61. Vgl. Horst Seferens, Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945, Bodenheim 1998. Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 24), S. 101 ff. – Peter Trawny, Die Autorität des Zeugen, S. 120 ff. Michael Ansel, Der verfemte und der unbehelligte Solitär. Gottfried Benns und Ernst Jüngers literarische Karrieren vor und nach 1933. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S 1–24.
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So disqualifizierte Goebbels bereits »Das Abenteuerliche Herz« als »Tinte« und »Literatur« ohne »blutvolles Erleben«.14 Und auch der zunehmend ins Fahrwasser der NSDAP geratene Philosoph Alfred Bauemler erklärte Jünger persönlich, dass er »Das Abenteuerliche Herz« im Kern für liberale Literatur halte, weil es sich keinen Begriff vom Volk mache.15 Die nationalsozialistische Lesart stand also schon mehrere Jahre vor der Publikation des »Arbeiters« fest: Aus dem hoffnungsvollen Talent war ein verlorenes geworden, das nichts mehr für die Hitler’sche Sache beitrug. Dementsprechend ist denn auch »Der Arbeiter« 1932 im »Völkischen Beobachter« rezensiert worden. Unter der Überschrift »Das endlose dialektische Gespräch« lehnte das Zentralorgan der NSDAP Jüngers »Arbeiter« unmissverständlich ab, weil der Essay weder zur gegenwärtigen Frage von »Blut und Boden« noch zum zukünftigen »rassisch-völkischen Zeitalter« Stellung beziehe.16 Kurzum: Das Verhältnis zwischen NSDAP und Jünger war 1932 von gegenseitiger Distanzierung und Ignoranz geprägt, denn ebenso wie der »Völkische Beobachter« Jüngers Essay für belanglos und wenig hilfreich erklärte, so hielt Jünger die nationalsozialistische Bewegung unter Hitlers Führung für historisch bedeutungslos – eine Fehleinschätzung freilich, die er nur allzu bald korrigieren musste. Wenn es in den 1930er Jahren zu einer Identifikation des »Arbeiters« mit dem NS-Staat kam, so wurde sie bezeichnenderweise nicht von Nationalsozialisten geleistet, sondern von anfänglichen Sympathisanten des Regimes der »nationalen Erhebung«. Sie gelten den Vertretern der Wegbereiter-These als Kronzeugen und fehlen denn auch nie, wenn es darum geht, die nationalsozialistische Tendenz des Essays nachzuweisen. Als erstes Beispiel sei Gottfried Benns Urteil wiedergegeben, das der Dichter 1933 nach seiner Loyalitätserklärung an Hitlers Staat als kommissarischer Leiter der Sektion Dichtung der Akademie der Künste in der berühmtberüchtigten Rundfunkrede »Der neue Staat und die Intellektuellen« fällte. Benn zufolge war Jüngers Essay Ausdruck für die moderne Staatsidee, die den unfruchtbar gewordenen marxistischen Gegensatz von Arbeitnehmer und Arbeitgeber auflösen will in eine höhere Gemeinsamkeit, mag man sie wie Jünger ›Der Arbeiter‹ nennen oder nationalen Sozialismus.17
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Joseph Goebbels, Die Tagebücher. Sämtliche Fragmente, hg. von Elke Fröhlich. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte in Verbindung mit dem Bundesarchiv. Teil I: Aufzeichnungen 1924–1941, Band 1: 27.6.1924–31.12.1930, München u. a. 1987, S. 436. Alfred Baeumler an Ernst Jünger (7.1.1929). In: Ulrich Fröschle/Thomas Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger. Mit einem Anhang der überlieferten Korrespondenz und weiterem Material, Dresden 2008, S. 145–147, hier S. 146. Thilo von Trotha, Das endlose dialektische Gespräch. In: Völkischer Beobachter (22.10.1932). Bayernausgabe 296, 2. Beiblatt. Gottfried Benn, Der neue Staat und die Intellektuellen. In: Sämtliche Werke. Band IV, Prosa 2, Stuttgarter Ausgabe, in Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1989, S. 14.
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Benns Versuch, im Konflikt mit den Emigranten mit einem name dropping namhafte Bundesgenossen zu gewinnen und darüber hinaus seine eigene Positionierung mit einem anderen Nicht-Nazi, nämlich Jünger, zu stützen, ist nur allzu offensichtlich und bekannt. Ähnlich durchsichtig ist die Instrumentalisierung des »Arbeiters« für einen dem Werk letztlich fernstehenden Diskurs auch im zweiten Beispiel. In seinem großangelegten Versuch, die Welt vor dem aufrüstenden Hitler-Deutschland zu warnen, erklärte der emigrierte NS-Dissident Hermann Rauschning 1938 Jüngers »Arbeiter« kurioserweise für weitaus gefährlicher als das Hitler-Regime. Rauschning behauptete, dass es sich dabei um das Manifest einer zweiten »Revolution des Nihilismus« handele, welche die erste der vermeintlich gemäßigten Nationalsozialisten bald ablösen und ihrer ideologielosen, inhumanen Technokratie wegen übertreffen werde.18 Bemerkenswert ist, dass selbst diese abwegige Einschätzung in der gegenwärtigen Jünger-Forschung ihren Anhänger gefunden hat, nämlich in Neaman, der die Differenzen zwischen Jüngers Essay und der politischen Realität im NS-Staat folgendermaßen erklärt: »the ›fascist idea‹ was never realized; therefore it was even purer and consequently historically legitimate or intensively, even more totalitarian and ruthless than real existing National Sozialism.«19 Sieht man von diesen rezeptionsgeschichtlichen Sonderfällen ab, so beginnt das verdächtigende Lesen des »Arbeiters« als faschistische oder nationalsozialistische Schrift erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als Jünger nämlich 1946 zum »Fall« ausgerufen wurde, also eine politische Kampagne gegen ihn einsetzte, die das bereits im Spätsommer 1945 verhängte Publikationsverbot der alliierten Besatzungsbehörden mit den Mitteln der Literaturkritik legitimieren sollte.20 Der ostzonale »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« unter Johannes R. Becher hatte am ersten Jahrestag des Kriegsendes in einer Diskussionsveranstaltung die »Causa Jünger« aufgegriffen, woraufhin Wolfgang Harich wenig später zum publizistischen Frontalangriff überging, was dann auch in den Westzonen Jüngers zahlreiche Apologeten und Kritiker zu Stellungnahmen via Rundfunk und Feuilleton veranlasste. Es ging dabei um die Wandlungsfähigkeit eines ehemals 18
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Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich, Zürich/New York 1938. Elliot Y. Neaman, A dubious past. Ernst Jünger and the Politics of Literature after Nazism, Berkeley/Los Angeles u. a. 1999 (Weimar and now 19), S. 270. Vgl. zum »Fall Jünger«: Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 534–545. – Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biografie. Mit 44 Abbildungen auf Tafeln, München/Zürich 2007, S. 432–437. – Paul Noack, Ernst Jünger. Eine Biographie, Berlin 31998, S. 213–216. – Norbert Dietka, Ernst Jünger nach 1945. Das Jünger-Bild der bundesdeutschen Kritik (1945 bis 1985), Frankfurt/M. u. a. 1987 (Europäische Hochschulschriften Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 1010), S. 58–82. – Liane Dornheim, Vergleichende Rezeptionsgeschichte. Das literarische Frühwerk Ernst Jüngers in Deutschland, England und Frankreich, Frankfurt/M./Bern u. a. 1987 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 4), S. 157–187. – Eva Könnecker, Ernst Jünger und das publizistische Echo. Reaktionen zu Person und Werk nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 1976, S. 22–40.
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konservativ-revolutionären Autors sowie um die generelle Frage, ob die nach 1933 im Reich gebliebenen Schriftsteller am neu aufzubauenden Literaturleben teilnehmen sollten oder nicht. Ohne an Schärfe einzubüßen, wurde mit dem »Fall Jünger« die kurz zuvor geführte Kontroverse um die Literatur der Inneren Emigration fortgesetzt. Zugleich spielten Motive des einsetzenden Ost-West-Konflikts hinein. Die heftigen Attacken aus den Reihen des von Marxisten dominierten »Kulturbundes« zielten nämlich darauf ab, Jünger als Befürworter eines sich abzeichnenden westdeutschen Staats hinzustellen. Wie nach ihm Paul Rilla, Wolfgang Weyrauch und Kurt Hiller warf Wolfgang Harich im Ost-Berliner »Aufbau«, im West-Berliner »Kurier« sowie in der »Täglichen Rundschau« Jünger vor, dass er mit der nur illegal verbreiteten »Friedensschrift« den »westlichen Alliierten ein unverblümtes Westblock-Angebot gemacht« habe.21 Davon kann keine Rede sein: Tatsächlich hatte Jünger in seinem Traktat »Der Friede« die »Verwirklichung der neuen Ordnung« post bellum mit den »Lebensformen des Arbeiters«22 in Verbindung gebracht: »Der Friede ist dann gelungen, wenn die Kräfte, die der totalen Mobilmachung gewidmet waren, zur Schöpfung freiwerden.«23 Offensichtlich war für Jünger mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Zeitpunkt gekommen, die Revolution des »Arbeiters« abzuschließen, die sich in den vorangegangenen Jahren zu »Wirbeln des Untergangs«24 beschleunigt hatte. Und so hoffte er auf einen gleichsam geläuterten »Arbeiter«, der die »Welt« nun zur »Menschenheimat«25 gestalten könne. Offensichtlich genügte Harich das Bekenntnis zum »Arbeiter«, um Jünger als »finsteren Dilettanten und Fäulnisheroen« zu bezeichnen und »als geistige[n] Wegbereiter der schändlichsten Epoche unserer Geschichte zu brandmarken.«26 Der junge SED-Literaturkritiker forderte nichts weniger, als »daß diesem Mann das Handwerk gelegt« werde, trete doch in dessen Werk »die zum Himmel stinkende innere Verfaulung eines ins Bestialische entarteten Intellekts« zutage. Und weiter: »Das Ausglühen dieses schwärenden Ansteckungsherdes aus dem deutschen Geistesleben der Gegenwart dürfte [...] als hygienische Notwendigkeit nicht mehr bestreitbar sein.«27 Ein »Nie wieder!« war auch Paul Rillas Urteil im »Fall Jünger«, und so bezeichnete er den Autor als »Gegner des Nationalsozialismus«, »dessen Schrittmacher er war«, und folgerte daraus, Jünger böte als Identifikationsfigur die Möglichkeit, »sich vom Hitlerismus rückwärts zu distanzieren«, so dass er auch gegenwärtig wieder »zum Schrittmacher jener getarnten Reaktion« tauge, »die ihre 21
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Wolfgang Harich, Und noch einmal: Ernst Jünger. In: Tägliche Rundschau, Nr. 173, 1946. Ernst Jünger, Der Friede. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1980, S. 193–236, hier S. 221. Ernst Jünger, Der Friede, S. 222. Ernst Jünger, Der Friede, S. 232. Ernst Jünger, Der Friede, S. 211. Wolfgang Harich, Und noch einmal. Wolfgang Harich, Ernst Jünger und der Frieden. In: Der Aufbau, 1, 1946, S. 556–570, hier S. 570.
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Hitler-Gegnerschaft beteuert, um desto ungenierter im Trüben zu fischen«.28 In orthodox-marxistischer Sicht erschien Jünger offenbar geeignet, eine (Teil-)Identität von Faschismus und Liberalismus zu suggerieren, was letztlich darauf abzielte, nicht nur die Außenpolitik der USA als einen der Hitler’schen Eroberungspolitik ähnlichen Imperialismus zu verunglimpfen, sondern auch die sich bereits andeutende Westbindung der westdeutschen und West-Berliner Sektoren zu diskreditieren. Der Autor des »Arbeiters« musste sich als Streitobjekt im einsetzenden Kalten Krieg instrumentalisiert sehen, ohne dass sich die mit ihm inkriminierte Seite des Westens zu seiner Verteidigung aufgerufen gesehen hätte, hatte doch auch sie Jünger mit Nationalsozialisten wie Euringer oder Beumelburg kulturpolitisch über einen Kamm geschoren und sanktioniert. Erstaunlich ist, dass sich diese literaturkritische Indizierung aus der Nachkriegszeit zumindest in ihren Schlagwörtern bis in heutige Interpretationen erhalten hat: Die Wegbereiter-These ist in ganz andere, auch wissenschaftliche oder philologische Diskurse tradiert worden. Einer ihrer Multiplikatoren im wissenschaftlichen Diskurs war Georg Lukács; er kanonisierte Jünger zu Beginn der 1960er Jahre als präfaschistischen Lebensphilosophen und stellte ihn in eine Reihe mit Nationalsozialisten wie Bauemler, Krieck und Rosenberg. Der Autor des »Arbeiters« hätte »ganz offen« die »reaktionär historische Mission« einer »Bekämpfung des Proletariats, des Marxismus-Leninismus« unter der Fahne des Monopolkapitalismus übernommen und einem »Mythos des kriegerisch aggressiven Imperialismus« gehuldigt. Nach 1945 hätte sich der Schriftsteller, ähnlich wie Karl Jaspers, Carl Schmitt und Martin Heidegger, dem US-Imperialismus als »Waffenträger« angedient und somit erneut die Arbeiterklasse verraten.29 Die Frage zu klären, ob und inwieweit diese orthodox-marxistische Lesart des »Arbeiters« auf die Rezeption im Westen gewirkt hat, ist freilich ein Desiderat der Forschung. Dennoch spricht nichts gegen die Annahme, dass im Zuge des westdeutschen Neo-Marxismus nach 1968 die Behauptung Harichs und Lukács’, den »Arbeiter« als Dokument einer Wegbereitung Hitlers zu verstehen, nicht ohne Einfluss geblieben ist.
*** Vor diesem rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund erscheint der Ansatz, Jüngers Trias über den »Arbeiter« als Phänomenologie der Moderne zu lesen, nur allzu berechtigt. Es verwundert daher nicht, dass dieser Interpretationsansatz in der gegenwärtigen Jünger-Forschung überwiegt. Und ebenso wenig überrascht es, dass dieser Ansatz vielfältige, weitaus differenziertere Lesarten hervorgebracht hat als der des Wegbereitertums. Gemeinsam ist allen diesen Interpretationen der Ausgangspunkt, die Essays über die »Totale Mobilmachung« des »Arbeiters« als primär ästhetische Schriften zu lesen und sie in den Kontext der europäischen Geistes- und 28 29
Paul Rilla, Der Fall Jünger. In: Die Weltbühne, 3, 1946, S. 79. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. In: ders.: dass.: Werke, Bd. 9, Neuwied/ Berlin 1962, S. 462 f., 466 u. 730.
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Literaturgeschichte zu stellen, um über das prekäre Bewusstsein eines bedeutenden literarischen Autors und Intellektuellen (in) der Moderne aufzuklären. So hat schon Bohrer in seiner »Ästhetik des Schreckens« den »Arbeiter« als anti-melancholisches Rezept eines spätromantischen, mit modernistischer Diagnostik begabten Schriftstellers gedeutet30 und damit den Anstoß für Meyer gegeben, die ästhetischen und philosophischen Kontexte, Bezüglichkeiten und Anspielungen von Platon bis hin zu den Futuristen, Benjamin, Spengler und Max Weber aufzudecken.31 Diesem Grundansatz sind auch Lethen und Segeberg gefolgt, wenn sie Jüngers »Arbeiter« in den Kontext der Intellektuellendiskurse der Zwischenkriegszeit stellen bzw. als neusachliche Reflexion der umwälzenden medialen und technologischen Modernisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auslegen.32 Dass der »Arbeiter« einen bedeutenden Beitrag zum Technik-Diskurs des 20. Jahrhunderts darstellt, ist neben den Studien von Schröter und Maengel vor allem im Sammelband »Titan Technik« nachzulesen.33 Nicht zuletzt sei der philosophische Ansatz von Koslowski und Bolz genannt, die unabhängig voneinander Jüngers »Arbeiter« als Gestalt der Posthistoire verstehen.34 Als richtungsweisend müssen schließlich auch die Analysen von Brokoff und Vondung gelten, welche die quasi-religiöse Sprache einer »Prosa der Apokalypse« herausgearbeitet haben, zeigen sie doch, dass der »Arbeiter«-Essay als säkularer Offenbarungstext angelegt ist und damit eine metapolitische AppellFunktion besitzt.35 30
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Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München 1978, S. 470–493. Vgl. Martin Meyer, Ernst Jünger, München 1993 (Dtv Wissenschaft 4613), S. 163–213. Vgl. Helmut Lethen, Die elektrische Flosse Leviathans. Ernst Jüngers Elektrizität. In: Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, hg. von Wolfgang Emmerich/Carl Wege, Stuttgart/Weimar 1995, S. 15–27. – Harro Segeberg, Technikverwachsen. Zur Konstruktion des ›Arbeiter‹ bei Ernst Jünger. In: Der Deutschunterricht, 46, 1994, H. 3, S. 40–50. – Harro Segeberg, Prosa der Apokalypse im Medienzeitalter. Der Essay ›Über den Schmerz‹ (1934) und der Roman ›Auf den Marmorklippen‹ (1939). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 97–124. Manfred Maengel, Das Wissen des Kriegers oder Der magische Operateur. Krieg und Technik im Frühwerk von Ernst Jünger, Berlin 2005. – Olaf Schröter, »Es ist am Technischen viel Illusion«. Die Technik im Werk Ernst Jüngers, Berlin 1993 (Wissenschaftliche Schriftenreihe Germanistik 4). – Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, hg. von Friedrich Strack, Würzburg 2000. Vgl. Peter Koslowski, Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers, München 1991. – Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 21991. – Norbert Bolz, Ästhetik des Posthistoire. In: Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, hg. von Manfred Gangl/Gérard Raulet, Frankfurt/M./New York 1994, S. 257–270. Vgl. Jürgen Brokoff/Torsten Hitz, Zum apokalyptischen Ton bei Ernst Jünger und seinen Nachfolgern. In: Weimarer Beiträge, 40, 1994, H. 4, S. 588–600. – Klaus Vondung, Metaphysik des apokalyptischen Aktivismus. Ernst Jüngers Geschichtsdenken vor 1933. In: Études Germaniques, 51, 1996, H. 4, S. 647–656.
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Ohne die Verdienste der kontextualisierenden Lesart schmälern zu wollen, muss konstatiert werden, dass es nicht gänzlich zufrieden stellt, den »Arbeiter« als metapolitische Schrift und Modernisierungsutopie »ohne jedwede ideologische Vorgabe oder ideologiekritische Einrede von außen«36 zu klassifizieren. Denn auch der Begriff des Metapolitischen hat zu gegensätzlichen, einander ausschließenden Bewertungen geführt, wie die vor kurzem erschienene Jünger-Biographie von Kiesel sowie Morats Monographie »Von der Tat zur Gelassenheit« belegen. Obwohl sie jeweils den metapolitischen Charakter des »Arbeiters« betonen, sprechen beide von einem totalitären Konzept, freilich mit gegensätzlicher Akzentuierung. Während Morat ausgerechnet im Metapolitischen des »Arbeiters« die Voraussetzung »für den Aufbau des ›Dritten Reiches‹ und die nationalsozialistische Erziehung« erblicken will,37 beurteilt Kiesel das Werk als »grandiose literarische Reflexion der totalitären Versuchung […] um 1930«, um gleichzeitig zu betonen, dass es sich weder um eine bolschewistische noch um eine nationalsozialistische Programmschrift handle.38 Damit folgen die jüngsten Interpreten dem einzigen Zeitgenossen Jüngers, der die metapolitische These schon in den 1930er Jahren in aller Klarheit vertreten hat, nämlich Martin Heidegger.39 Der wohl intensivste Leser des Großessays schätzte den »Arbeiter« zunächst als einen überparteilichen Text, in dem die Grunderfahrung modernen Lebens erfasst sowie der gegenwärtige Weltzustand getroffen worden sei: Was Jünger in den Gedanken von Herrschaft und Gestalt des Arbeiters denkt und im Lichte dieses Gedankens sieht, ist die universale Herrschaft des Willens zur Macht innerhalb der planetarisch gesehenen Geschichte. In dieser Wirklichkeit steht heute Alles, mag es Kommunismus heißen oder Faschismus oder Weltdemokratie.40
Der Freiburger Philosoph begann schon 1932, sich mit Jüngers Essay zu beschäftigen, aber die intensive Auseinandersetzung setzte bezeichnenderweise erst gegen Ende der 1930er Jahre ein, nachdem er sich von seinem Engagement für den Nationalsozialismus zurückgezogen hatte.41 Freilich nahm Heidegger für sich in Anspruch, mit seiner Auslegung mehr über die eigene Epoche zu sagen als der Schriftsteller: Jünger vermöge zwar zu zeigen, wie die abendländische Welt ist, aber 36 37 38 39
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Harro Segeberg, Technikverwachsen, S. 46. Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, S. 104. Helmuth Kiesel, Ernst Jünger, S. 398. Vgl. Peter Trawny, Heidegger und ›Der Arbeiter‹. Zu Jüngers metaphysischer Grundeinstellung. In: Verwandtschaften, Jünger-Studien Band 2, hg. von Günter Figal/Georg Knapp, Tübingen 2003, S. 74–91. – Günter Seubold, Martin Heideggers Stellungnahme zu Jüngers ›Arbeiter‹ im Spiegel seiner Technikkritik. In: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, hg. von Friedrich Strack, Würzburg 2000, S. 119–132. Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der Universität. Das Rektorat 1933/34, Tatsachen und Gedanken, Frankfurt/M. 1983, S. 24 f. Vgl. Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, S. 143–204 u. 246–278.
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er habe sie weder hinreichend verstanden noch zeige er gangbare Wege auf, um sie zu überwinden. Heidegger würdigte einerseits die Epochendiagnose des Essays und kritisierte andererseits den visionär-prognostischen Teil der Schrift, bezeichne dieser doch den vorläufigen Endpunkt des abendländischen metaphysischen Denkens, das mit Platon begonnen habe und in der Neuzeit über Descartes, Kant, Schopenhauer und Nietzsche zur Lehre des »Willens zur Macht« geronnen sei. Demnach handele es sich beim »Arbeiter« nicht um ein Werk, das einem Neuanfang der Geschichte diene, sondern heillos in sie verstrickt sei. Jünger sei kein Überwinder von Metaphysik, sondern ihr letzter beschreibender Apologet, der das neuzeitliche Denken in seine Endstellung vorgetrieben habe.42 Dass Heidegger zumindest teilweise Jüngers Selbsteinschätzung traf, lässt nicht nur der ab 1949 einsetzende, von gegenseitiger Sympathie getragene Gedankenaustausch vermuten,43 sondern auch die zahlreichen Selbstkommentare des Schriftstellers. Noch 1980, im Rückblick nach 50 Jahren, schätzte Jünger seine bis dahin mehrmals überarbeitete Abhandlung »Die Totale Mobilmachung« als »nach wie vor gültig« ein, habe er doch »damals etwas Prinzipielles gesehen«.44 Und schon im Frühjahr 1930, zur Zeit der Erstveröffentlichung im Sammelband »Krieg und Krieger«, war er sich sicher, ein »bedeutsames Manifest«45 vorzulegen. Seinen Mitstreiter Ludwig Alwens instruierte er damals wie folgt: Ich mache Sie nicht auf mein[en] Essay ›Die Totale Mobilmachung‹ aufmerksam, sondern vielmehr auf den Gedanken, der ihm zugrunde liegt. Sie werden rasch erfassen, das [sic!] dies ein Gedanke ist, mit dem wir arbeiten und den wir in mannigfaltiger Weise auf unsere empirische Welt anwenden können, – ein Schlüssel, der hoffentlich auch benutzt werden wird.46
Was sagt dieser Gedanke aus, den Jünger als Verständnisschlüssel seiner Epoche 1930 anpries und mit dem die »optische Täuschung« behoben werden sollte, durch die die Zeitgenossen zu »Marionetten«47 der Geschichte degradiert würden?
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Vgl. Martin Heidegger, Aussprache über Ernst Jünger. In: Gesamtausgabe. Band 90: Zu Ernst Jünger, hg. von Peter Trawny, Frankfurt/M. 2004, S. 213–266. Vgl. Ernst Jünger/Martin Heidegger, Briefe 1949–1975, hg. von Günter Figal, Stuttgart 2008. Ernst Jünger, Rückblick. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1980, S. 119–142, hier S. 142. Ernst Jünger an Friedrich Hielscher (13.3.1930). In: Ernst Jünger/Friedrich Hielscher, Briefe 1927–1985, hg. von Ina Schmidt/Stefan Breuer, Stuttgart 2005, S. 123. Ernst Jünger an Ludwig Alwens (4.4.1930). In: Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 808. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930). In: Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 560.
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Ist »Die Totale Mobilmachung« als Essay eine agitatorisch vorgetragene Zeitgeschichtsdeutung, so stellt sie als Begriff eine Chiffre für Modernisierung dar, wie sie ihr Autor im Krieg, in der Revolutionszeit und der Großstadt erfahren hatte. Jünger beschreibt darin die Gegenwart mit allen Merkmalen einer Beschleunigungsgeschichte, die im Großen Krieg einen Sprung gemacht habe, der sozial die Auflösung der Stände und militärisch die Entgrenzung des Krieges zu einem totalen nach sich zog. Schon vor 1914 habe eine »wachsende Umsetzung des Lebens in Energie« stattgefunden, ein »zugunsten der Beweglichkeit flüchtiger und flüchtiger werdende[r] Gehalt aller Bindungen«.48 Der Weltkrieg habe dann das »Bild eines gigantischen Arbeitsprozesses« offenbart, eine »absolute Erfassung der potentiellen Energie, die die kriegführenden Staaten in vulkanische Schmiedewerkstätten verwandelt«.49 Die deutsche Kriegsniederlage erscheint insofern als ein zwangsläufiges Ergebnis, als das Kaiserreich den »Geist der Zeit« nicht überzeugend habe »ins Treffen bringen«50 können; es sei nur zu einer partiellen Mobilmachung fähig gewesen und daher den westlichen Demokratien unterlegen. Dementsprechend radikal formulierte Jünger seine Botschaft: Die gegenwärtige politische Aufgabe bestehe in der »Rüstung bis ins innerste Mark«.51 Die »Totale Mobilmachung« eines Staates sei nur dann möglich, wenn »das Bild des kriegerischen Vorgangs schon in die Ordnung des friedlichen Zustandes vorgezeichnet ist«.52 Den Frieden von Versailles galt es für Jünger zu revidieren und zwar zunächst mit einer scheinbar friedlichen Mobilmachung von Staat und Gesellschaft. Die Jünger’sche Mobilmachung aber ist nichts anderes als eine bedingungslose Modernisierung, denn an seine revanchistischen Ausführungen knüpfte der Autor seine Modernediagnose, die seiner Berliner Großstadterfahrung geschuldet war. So genüge es, unser Leben selbst in seiner vollen Entfesselung und in seiner unbarmherzigen Disziplin, mit seinen rauchenden und glühenden Revieren, mit der Physik und Metaphysik seines Verkehrs, seinen Motoren, Flugzeugen und Millionenstädten zu betrachten, um mit einem mit Lust gemischten Gefühl des Entsetzens zu ahnen, daß es hier kein Atom gibt, das nicht in Arbeit ist […].53
Erfahrungsräume der »Totalen Mobilmachung« sind im gleichnamigen Essay allerdings nicht nur Weltkrieg und Großstadt, sondern auch das Ausland. So stellte Jünger eine Reihe von Staaten vor, welche die »Totale Mobilmachung« in Friedenszeiten bereits vollzogen hätten, also eine »radikale Vernichtung« bürgerlicher Freiheit durchführten, weil es in ihnen nichts gebe, »was nicht als Funktion des Staates zu begreifen ist«.54 Jüngers Aufzählung mochte manchen nationalistischen Leser 48 49 50 51 52 53 54
Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 561. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 562. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 570. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 562. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 563. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 564. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 563. (Kursivdruck im Original).
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überraschen – und überrascht möglicherweise noch heute einige Interpreten. Neben dem faschistischen Italien, der kemalistischen Türkei, den Demokratien Frankreichs und der USA ist es die stalinistische Sowjetunion, die Jünger zum Leitbild, zum gelungenen Projekt der Moderne erklärt hat.55 Im Bolschewismus, Nationalismus, Faschismus, Amerikanismus, Zionismus und Anti-Kolonialismus verwirkliche sich der Fortschritt, so dass bald eine Modernisierung planetarischer Ausmaße stattfinden werde, die wiederum mit der »Abtragung der humanitären Maske«, einem »barbarischen Fetischismus der Maschine« und »naiven Kultus der Technik« einherginge.56 Jünger war diese Gewissheit ein Jahr nach der Weltwirtschaftskrise Anlass genug, seinen Anhängern den Lohn eines »tieferen Deutschland«57 in einem radikal modernisierten Staat zu versprechen. Auf politisch-ideologische Handlungsanweisungen verzichtete er allerdings; es sei lediglich notwendig, sich dem Modernisierungsprozess zu überlassen: »Die totale Mobilmachung wird weit weniger vollzogen, als sie sich selbst vollzieht. […] So kommt es, daß jedes einzelne Leben immer eindeutiger zum Leben eines Arbeiters wird.«58 Mit der Rede vom »Arbeiter« gab der Autor das Stichwort für das 1932 folgende Hauptwerk. Allerdings lieferte Jünger auch darin kaum jene klaren Hinweise, die eine parteipolitische Einordnung zulassen, obwohl die anti-bürgerliche Polemik derart extrem ausfiel, dass an seiner anhaltenden Feindschaft gegen die Weimarer Republik kein Zweifel bestehen konnte und kann. Doch verdient festgehalten zu werden, dass Jünger dem politisch-sozialen, ideologisch besetzten Begriff des Arbeiters einen neuen, gänzlich eigenwilligen Inhalt verlieh. Die Absicht ist kenntlich. Der Schriftsteller entwendet der Politik ihr Schlagwort, indem er den Begriff zur Chiffre für moderne bzw. postmoderne »Herrschaft« macht und damit die »Gestalt« zum Inbegriff des Wandels der Jetztzeit in eine heraufkommende Endzeit erklärt, des Umschlagens von Geschichte in Nachgeschichte, des Wechsels von einem Zeitalter der Beschleunigung in eine Epoche des Stillstands, die mit dem Abschluss der Modernisierungsentwicklung im globalen Maßstab gleichbedeutend ist. Über »Werkstättenlandschaften« der Gegenwart werde es in der nahen Zukunft zu »Planlandschaften« kommen und schließlich zu einer planetarischen »Weltherrschaft«, einem »totalen Raum«, in dem alle aporetischen Gegensätze der Moderne aufgehoben sein würden: »Alt und Neu, Macht und Recht, Blut und Geist, Krieg und Politik, Natur- und Geisteswissenschaft, Technik und Kunst, Wissen und Religion, organische und mechanische Welt«.59 Die Moderne verlangte für Jünger 1932 nach einem erlösenden Finale. Während er die gegenwärtige Lage als rapiden Auflösungsprozess beschrieb, beinhaltete 55 56 57 58 59
Vgl. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 563–567. Vgl. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 577 f. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 581. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung (1930), S. 564. Vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8: Essays II, Stuttgart 1980, S. 9–317, hier S. 158 f.
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seine Prognose die Stilllegung des rapiden Fortschritts durch die vollständige Modernisierung des Raums. Der erste Schritt auf dem Weg von der »Werkstättenlandschaft« in die »Arbeiter«-Welt sei die »Planlandschaft«, wie sie nur ein Nationalstaat hervorbringen könne, der wiederum die »Rolle des obersten Bauherrn«60 annehmen müsse. Die »Planlandschaft« besitze im Gegensatz zur »Werkstättenlandschaft« »festumschriebene Ziele«; an die Stelle eines in Anarchie versinkenden Gesellschaftsvertrages trete der »Arbeitsplan«.61 In ihr walte »wirkliche Herrschaft«, das Prinzip »von Ordnung und Unterordnung, von Befehl und Gehorsam«.62 Provokant lautet die Voraussage, die »neue Weltordnung« lasse sich nur »über den Arbeitsgang einer Kette von Kriegen und Bürgerkriegen« herstellen.63 In diesem Sinne sei das »Sehen der Gestalten« ein »revolutionärer Akt«,64 der in der Hoffnung geleistet werde, »daß der Aufgang des Arbeiters mit einem neuen Aufgange Deutschlands gleichbedeutend ist«.65 Aber die Nation könne nur Ausgangsbasis, niemals Endpunkt der Entwicklung sein; der imperiale Nationalstaat ist für Jünger lediglich eine Durchgangsstation, explizit eine »Übergangsform«.66 Tatsächlich lässt der Autor im Dunkeln, welcher Staat oder welches Machtgebilde sich der Weltherrschaft im Zeichen des »Arbeiters« einstmals bemächtigen werde. Gewiss sei nur, dass der »Ausweis« für Herrschaft »in der Meisterung der Dinge« bestünde, »die übermächtig geworden sind – in der Bändigung der absoluten Bewegung, die nur durch ein neues Menschentum zu leisten ist.«67 Jünger verwarf damit neben dem Liberalismus auch Sozialismus und Nationalismus als defiziente Ideologien des überlebten 19. Jahrhunderts, die allenfalls den Status des Mittels zum Zweck für sich beanspruchen durften. Damit ist der »Arbeiter« als eine rhetorisch bewusst gesetzte, politisch-ideologische Leerstelle zu verstehen, was der Essayist auch unumwunden zugibt: Wenn es uns gelungen ist, bei der Beschreibung einiger Veränderungen […], die wir für bedeutsam halten, überall dort, wo von der Gestalt die Rede ist, eine leere Stelle, ein Fenster offenzulassen, das durch die Sprache nur umrahmt werden kann und das vom Leser durch eine andere Tätigkeit als die des Lesens ausgefüllt werden muß, halten wir diesen vorbereitenden Teil unserer Aufgabe für erfüllt.68
Dementsprechend funktioniert der Essay. Von der phänomenologisch-deskriptiven Diagnose der Gegenwart als nihilistisch-chaotischer »Werkstättenlandschaft« über die präskriptive Prognose zukünftiger »Planlandschaft« und totalitärer »Arbeitsde60 61 62 63 64 65 66 67 68
Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 229. Vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 288 f. Vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 250. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 83. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 46. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 31. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 155. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 83. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 89.
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mokratie« führt die Schrift zur ahnungs- wie verheißungsvollen Vision eines globalen Imperiums: Dem Eintritt in den imperialen Raum geht eine Erprobung und Härtung der Planlandschaften voraus, von der man sich heute noch keine Vorstellung machen kann. […] Jenseits der Arbeitsdemokratie, in der der Inhalt der uns bekannten Welt umgegossen und umgearbeitet wird, deuten sich die Umrisse von Staatsordnungen an, die außerhalb der Vergleichsmöglichkeiten stehen. [...] Der eigentliche Wettkampf gilt der Entdeckung einer neuen und unbekannten Welt.69
*** Mit der bewusst gesetzten Leerstelle stand und steht Jüngers Essay verschiedensten Interpretationen offen. Politisch gegenläufige Zuschreibungen liegen in der rhetorischen Struktur der Schrift begründet. Die Missverständnisse, von denen Jünger später im Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte sprach, waren vom Autor 1932 selbst provoziert worden, wohl nicht zuletzt, um sein Werk einem breiterem Publikum zugänglich zu machen und leichter auf dem Buchmarkt zu positionieren. Umso mehr lohnt ein genauer Blick in die Rezeptionsgeschichte. Wie interpretierten die Zeitgenossen den mythisch verschleierten, eigenwillig definierten »Arbeiter« während der Jahreswende 1932/33? Die Vielstimmigkeit des zeitgenössischen Echos ist angesichts der LeerstellenRhetorik des »Arbeiters« ebenso wenig verwunderlich wie die Tatsache, dass »Der Arbeiter« der erste große Verkaufserfolg Jüngers als Essayist wurde; freilich hatte er auf einen solchen publizistischen Durchbruch fünf Jahre lang hingearbeitet. Im Oktober 1932 wurde der 300-seitige Großessay »den Buchhändlern förmlich aus den Händen gerissen«70 und brachte es innerhalb des gleichen Jahres auf drei weitere Auflagen. Die vierte Auflage von 1941 (16.–20. Tausend) lag bis Kriegsende in den Buchhandlungen. Erst 1964 wurde der Essay unverändert wieder aufgelegt, seit 1981 auch in den Sämtlichen Werken letzter Hand. Der unmittelbare Verkaufserfolg in den letzten Monaten Weimars zeigt, dass Jünger dem Lesebedürfnis nach einer umfassenden Deutung der Zeitgeschichte entgegenkam. Offensichtlich ist aber auch, dass Jüngers Essay mit dem Regierungsantritt des NS-Regimes rasch uninteressant wurde; die Würfel waren am 30. Januar 1933 in Deutschland gefallen, und zwar keinesfalls zugunsten des Autors und seines vermeintlich faschistischen »Arbeiters«. Dass die Leerstellen-Rhetorik nicht nur ein Kunstgriff war, bezeugt das Faktum, dass der Essay keine der für Jünger typischen Überarbeitungen erfahren hat. Vielmehr hat die Rhetorik der ideologisch-politischen Leerstelle ihrem Autor erlaubt, die »Gestalt« immer wieder neu zu konturieren. Zu nennen sind nicht nur die Essays »Der Friede« (1945), »An der Zeitmauer« (1959) oder »Gestaltwandel. 69 70
Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 310 f. Paul Noack, Ernst Jünger. Eine Biographie, S. 111.
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Eine Prognose auf das 21. Jahrhundert« (1993), die ausdrücklich als korrigierende Fortsetzung von »Der Arbeiter« verstanden sein wollen. Hervorzuheben ist auch der ausführliche Selbstkommentar, den Jünger seinem Essay im Jahr der fünften Auflage mit den »Adnoten zum ›Arbeiter‹« zuteilwerden ließ, wobei er noch fast zwei Jahrzehnte später in den Sämtlichen Werken einen Anhang mit Bemerkungen und Reflexionen aus der Korrespondenz mit Lesern, Verlegern, Übersetzern und Freunden anfügte.71 Wie der Revisionsverzicht zeugen die Selbstkommentare davon, dass Jünger seinen Essay als ein gültiges »Porträt des modernen Menschen ohne Retuschen«72 schätzte. Bereits 1932, unmittelbar nach der Publikation, hatte er sein parteipolitisches Desinteresse betont, als er in einem Rundfunkvortrag von seiner Intention sprach, eine revolution sans phrase beschrieben zu haben: »Nicht in Frage kommen konnte der billigste Weg, […] also die Benutzung irgendeiner Ideologie […]. Was mich […] im besonderen fesselt, das sind weniger Fragen weltanschaulicher Art als die substanzielle Veränderung.«73 Daran hielt er zeitlebens fest: Wichtig ist an der Konzeption nur der Augenblick der Sicht auf die ›Gestalt‹ als mythische Größe, die in die Geschichte eintritt […]. Natürlich haben die Zwanziger Jahre auf die Ausführung eingewirkt. Jedoch kann ich aus historischen Rücksichten nichts am Text ändern […]. Andererseits rücken jene Jahre einmal in ein anderes Licht. […] Vorgänge seit dem Erscheinen […] bestätigen jedenfalls die Konzeption.74
Neben Jüngers kontinuierlich geleistetem Wink, den Essay als Phänomenologie der Moderne zu lesen, ist das Eingeständnis der Historizität des »Arbeiters« rund dreißig Jahre nach seinem Erscheinen nicht minder interessant. Denn es enthüllt in aller Vorsicht die politische Tendenz, welche die Chiffren »Arbeiter«, »Totale Mobilmachung« oder »Werkstättenlandschaft« einst in sich trugen, bzw. die dem Essay 1932 von den Kritikern unmittelbar impliziert worden sind. Denn trotz aller Vielstimmigkeit des publizistischen Echos kann kein Zweifel bestehen: Die große Mehrheit der Rezensenten assoziierte die »Totale Mobilmachung« des »Arbeiters« mit der Sowjetunion und dem russischen Bolschewismus! So erkannte die Weimarer Rechte unisono – vom bereits zitierten »Völkischen Beobachter« bis »Die Neue Literatur«, von Max Hildebert Boehm über Richard Bie bis zu Rudolf Ibel – im »Arbeiter« »ein idealisiertes, heroisiertes Räterußland«75 und lehnte das Buch als (national-)bolschewistische Tendenzschrift scharf ab.76 71
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Vgl. Ernst Jünger, Maxima – Minima. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8: Essays II, Stuttgart 1980, S. 321–396. Ernst Jünger, Maxima – Minima, S. 321. Zitiert nach: Karl O. Paetel, Ernst Jünger in Selbstzeugnissen und Dokumenten, Hamburg 1962 (Rowohlts Monographien 72), S. 45–51, hier S. 51. Ernst Jünger, Maxima – Minima, S. 393 f. Hans Bogner, Der neue Übermensch. In: Die Neue Literatur, 33, 1932, S. 496. Vgl. Peter Trawny, Die Autorität des Zeugen, S.120–129. – Helmuth Kiesel, Ernst Jünger, S. 396 f. – Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, S. 102 f.
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Noch im Oktober 1933, ein Jahr nach der Veröffentlichung des »Arbeiters«, sah sich Vespers »Die Neue Literatur« dazu veranlasst, vor »allzustarker Hervorhebung von Nationalbolschewisten wie Niekisch und Jünger« zu warnen, wenn es um den »Aufstieg« der im Nationalsozialismus gipfelnden »nationalen Idee« seit dem Kaiserreich ging.77 Und ein weiteres Halbjahr später, im März 1934, wurde der Essay als »mechanistische Gleichmacherei des völkereinebnenden technischen Geistes (Jüngers ›Arbeiter‹!)«78 kommentiert. Auf der Weimarer Linken betonte zwar Carl von Ossietzky in einem orthodoxmarxistischen Verriss für die »Weltbühne«, bei Jüngers neuem Buch handele es sich um »liberalen Kulturschwafel«, was heißen sollte: um eine Schrift nach »fascistischem Schema« in der Nachfolge Spenglers und Sombarts.79 Aber prinzipiell wurde Jünger auf der Linken ganz ähnlich wahrgenommen wie auf der völkischen bzw. nationalsozialistischen Rechten, nämlich als einer der »Linken Leute von rechts«, wobei er dann auch skeptisch-ironisch als »Antibeglücker«80 apostrophiert wurde. Selbst Georg Lukács bildete da keine Ausnahme. Im denkbar größten Gegensatz zu seinem späteren Faschismusverdikt legte er Jüngers Schriften über den »Arbeiter« als eine »bizarre Konzeption des Sozialismus« aus.81 Dass auch seitens der Weimarer Sozialdemokratie Jüngers Affinitäten zu einem nationalen Sozialismus jenseits der NSDAP gesehen wurden, verdeutlicht die Rezeption des »Arbeiters« in den »Neuen Blättern für den Sozialismus«: Die Jungsozialisten nahmen während des Jahres 1933 mehrmals Bezug auf Jüngers »Arbeiter«, weil sie den Essay als nationalrevolutionär bzw. nationalbolschewistisch einschätzten und daraus folgernd die Hoffnung hegten, in Jünger einen Verbündeten gegen das sich etablierende NS-Regime zu finden.82 Bürgerliche Rezensenten unterstrichen zwar Jüngers Anti-Liberalismus, indem sie etwa im »Arbeiter« eine »neue Maske« des »militaristischen Nihilismus«83 erkannten oder im Abgesang auf den bürgerlichen Individualismus gerade eine geeignete Kritik des »Kosmopoliten« Jünger sahen, um diesen »zu härten und zu konkretisieren«.84 Aber auch hier kam man nicht umhin zu bemerken, dass Jünger »den Anspruch des ›Arbeiters‹ auf Herrschaft so eindeutig und unbedingt« anmelde, »wie nur ein Vorkämpfer für die Diktatur des Proletariats es tun könne«; 77 78
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Hans Bogner, Nach der Revolution. In: Die Neue Literatur, 34, 1933, H. 10, S. 579. Will Vesper, Rezension zu Richard Benz’ ›Geist und Reich‹. In: Die Neue Literatur, 35, 1934, H. 3, S. 157. Thomas Murner (Carl von Ossietzky), Der Jünger. In: Die Weltbühne, 28, 1932, Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1918–1933, Königstein/Ts. 1978, S. 577 f. Kurt Hiller, Linke Leute von rechts. In: Die Weltbühne, 31, 1932, S. 156. Vgl. Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München 2005, S. 344. Vgl. Stefan Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte (1918–1945), Bonn 2006 (Politik und Gesellschaftsgeschichte 70), S. 365 ff. Richard Behrendt, Militaristischer Nihilismus. In: Die neue Rundschau, I, 1933, S. 563. Friedrich Franz von Unruh, Verfall des Individualismus? In: Die neue Rundschau, I, 1933, S. 560 und 562.
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die »Vision von einer kommenden technischen Arbeitskultur« hinterlasse »den Wunsch, Jünger möge sich nun einmal unmittelbar mit den Wirklichkeiten des Bolschewismus als mit der schon bestehenden Form einer Arbeits- und Arbeiterwelt auseinandersetzen«.85 Eine bolschewistische Tendenz wurde im »Arbeiter« auch von katholischer Seite gesehen, vermutete doch »Der Gral« hinter der »Gestalt« des »Arbeiters« das »Antlitz Lenins«.86 Und schließlich verneinte Golo Mann 1934 in der Exilzeitschrift »Die Sammlung« die Frage, ob Jüngers »kriegerisch sozialistische Schriftstellerei« in die »Angriffskraft des Nationalsozialismus eingegangen wäre«, denn der »Arbeiter« schien ihm Hitlers Politik gerade entgegengesetzt zu sein: »Im Reich des Arbeiters soll die Bauernschaft kollektiviert werden; in Deutschland verspricht man im Gegenteil Erbhöfe, Weistümer und Bauernaristokratie […].«87
*** Dass die Mehrheit der Kritiker hinter dem »Arbeiter« den Bolschewismus der Sowjetunion vermutete, kann kaum verwundern, wenn man sich das vorherrschende Russlandbild der letzten Weimarer Jahre in Erinnerung ruft. Nach der Weltwirtschaftskrise avancierte die Sowjetunion zu einer festen Orientierungsgröße in Deutschland, die eine Vielzahl von Autoren und (Reise-)Schriftstellern teils in den Farben eines Schreckbilds, teils in denen eines Leitbilds ausmalte. Auch Ernst Jünger nahm die Literatur über Sowjetrussland als Orientierungshilfe wahr: Arthur Rundts populärer Bericht »Der Mensch wird umgebaut« (1931) floss nachweislich in Jüngers »Planlandschaften« ein,88 Franz Albert Kramers »Das rote Imperium« (1933) rezensierte Jünger für den »Widerstand«.89 Ohnedies sind die Parallelen zwischen den »Planlandschaften« des »Arbeiters« und den pro-sowjetischen Russlandbildern sozialistischer (Reise-)Autoren augenfällig – und sie standen sicherlich den Rezensenten der Jahreswende 1932/33 deutlich genug vor Augen. Wenn etwa in den Reisereportagen Alfons Goldschmidts,90 Egon Erwin Kischs91 oder Ernst Tollers92 über die Traktorenwerke und Gummifa85 86 87
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Kurt Heuser, Ein frommes Buch. In: Die neue Rundschau, I, 1933, S. 553 und 555. Vgl. Anonymus, Der ›Arbeiter‹ Ernst Jüngers. In: Der Gral, 28, 1933/34, S. 277. Golo Mann, Ernst Jünger. Ein Philosoph des neuen Deutschland. In: Die Sammlung, 1, 1934, S. 256 und 259. Vgl. Elke Suhr, Frontgeneration und Bolschewismus. Ernst Niekisch und Ernst Jünger. In: Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit, hg. von Karl Eimermacher/Astrid Volpert, München 2006 (WestÖstliche Spiegelungen, Neue Folge 2), S. 53–89, hier S. 70 ff. Vgl. Ernst Jünger, Ein neuer Bericht aus dem Lande der Planwirtschaft. In: Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 652–659. Vgl. Alfons Goldschmidt, Moskau 1920. Tagebuchblätter, Berlin 1920. Vgl. Egon Erwin Kisch, Zaren, Popen, Bolschewiken (1927). In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 4, Berlin/Weimar 1993, S. 7–211. Vgl. Ernst Toller, Russische Reisebilder. In: Quer durch. Reisebilder und Reden. Reprint. Mit einem Vorwort zur Neuherausgabe von Stephen Reinhardt, Heidelberg 1978, S. 81–187.
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briken, über den Techniker und die Partei neuen Typs, über die neue Lebensform des Sowjetmenschen berichtet wird, liegen Jüngers Vorstellungen von »Mobilmachung« und »Planlandschaft« nicht fern. Dass Sowjetrussland ein Avantgarde-Staat der Menschheit, die Oktoberrevolution ein Auftakt zur weltweiten Revolution, Stalins Industrialisierungspolitik ein Musterbeispiel funktionierender Planwirtschaft sei, diese propagandistischen Selbstbilder der III. Internationale oder der Sowjetregierung lassen sich in den Topoi der pro-russischen Sachliteratur der letzten Weimarer Jahre mühelos wiedererkennen,93 aber sie finden sich auch – eigentümlich verzerrt – in Jüngers »Arbeiter«. Wenn dort behauptet wird, dass sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ein weltweiter »Selbstvernichtungsprozeß der Demokratie« vollziehe, so ist schon in der Formulierung die Nähe zum historischen Materialismus gegeben. Und wenn im »Nationalismus« die »Voraussetzung für Aufgaben vom imperialen Rang« gesehen wird, besitzt dieser Grundsatz seine Parallele zu Stalins Programm vom »Sozialismus in einem Land«. Schließlich wird der »Sozialismus« schlichtweg zur »Voraussetzung« der »schärfsten autoritären Gliederung«94 erklärt, was dem kommunistischen Kader- eher entspricht als dem faschistischen Führerprinzip. Jünger bescheinigte dem Sowjetstaat »ein vorgeschrittenes Verhältnis zur totalen, also zur Arbeitsmobilmachung« bereits »im Jahre 1932«.95 und sprach an anderer Stelle explizit von der »Mobilmachungsarbeit« des »Sozialismus« als einer weltweit realisierbaren »Gesellschaftsutopie«96: Es gibt Länder, in denen man wegen Werkssabotage erschossen werden kann wie ein Soldat, der seinen Posten verläßt, und in denen man seit fünfzehn Jahren die Lebensmittel rationiert wie in einer belagerten Stadt – und dies sind die Länder, in denen der Sozialismus bereits am eindeutigsten verwirklicht worden ist.97
Am Beispiel von Walter Benjamins 1927 veröffentlichtem Denkbild »Moskau«98 wird noch deutlicher, dass zwischen dem Weimarer Russlandbild von links und 93
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Vgl. François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Karola Bartsch u.a., München/Zürich 1996, S. 87–137. Vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 254. Vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 304. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 262. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 264. Vgl. Sergeij Romaschko, »Daß nichts eintrifft, wie es angesetzt war.« Walter Benjamins Moskauer Abenteuer. In: Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit, hg. von Karl Eimermacher/Astrid Volpert, München 2006, S. 425–442. – Hartmut Scheible, Rot und schön ist das gleiche. Moskauer Lehrstück vom Einverständnis: Walter Benjamin entdeckte 1926 in Rußland Wirklichkeit und Wahrheit im Straßenverkehr. In: FAZ (28.10.2006), Nr. 251, S. 41. – Vgl. auch: Walter Benjamin, Moskau. In: ders.: Gesammelte Schriften IV, 1, hg. von Tillmann Roth/Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Frankfurt/M. 1972, S. 316–348. – Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch. In: ders.: Gesammelte Schriften VI, hg. von Tillmann Roth/Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1985, S. 292–409.
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Jüngers Mobilmachungslandschaften deutliche, kaum zufällige Affinitäten bestehen. Benjamin berichtet davon, dass der Sowjetstaat die bürgerlich-kapitalistische »Kommunikation von Geld und Macht« unterbunden habe und die Geltung eines russischen Bürgers nunmehr »einzig vom Verhältnis zur Partei bestimmt« sei.99 Jünger’sche »Arbeiter«-Verhältnisse klingen dann avant la lettre in den Passagen durch, in denen von der Rolle der Intelligenzija die Rede ist, wenn also Benjamin erklärt, dass es eine Opposition, »wie man sie sich im Westen denken möchte«, nun nicht mehr gäbe: Auf keinem lastet nämlich dieses neue Leben schwerer als auf dem betrachtenden Außenseiter. Als Müßiggänger dieses Dasein zu ertragen ist unmöglich, weil es in jedem mindesten Detail schön und verständlich nur durch Arbeit wird. Eigene Gedanken in ein vorgegebenes Kraftfeld einzutragen, ein wenn auch noch so virtuelles Mandat, organisierter, garantierter Kontakt mit Genossen – daran ist dieses Leben so sehr gebunden, daß, wer darauf verzichtet, oder sich das nicht verschaffen kann, geistig verkommt als säße er in jahrelanger Einzelhaft.100
Das Vokabular dieser Passage ist aufschlussreich, mit dem der Linksintellektuelle die sowjetischen Verhältnisse kennzeichnet: »Arbeit«, »vorgegebenes Kraftfeld« und »neues Leben« beschreiben den Zustand totaler Synchronisation aller Gesellschaftsbereiche, den Jünger seinen deutschen Lesern fünf Jahre später als »revolutionäres Ziel«101 ausgab. Die »erstaunliche Versuchsanordnung« des Moskauer Lebens steht auch bei Benjamin explizit für eine nationale Sache, sie sei nämlich in erster Linie »russisch«.102 Der marxistisch orientierte Intellektuelle schreibt denn auch verheißungsvoll von einer »Intensität des Daseins«103 im sowjetischen »Laboratorium«,104 in dem er als Augenzeuge mit entschiedenem Blick mehrere Jahre vor Jünger eine »totale Mobilmachung« Russlands registriert: Das Land ist Tag und Nacht mobilisiert, allen voran natürlich die Partei. Ja, was den Bolschewik, den russischen Kommunisten, von seinen westlichen Genossen unterscheidet, ist diese unbedingte Mobilbereitschaft. Seine Existenzbasis ist so schmal, daß er jahraus, jahrein zum Aufbruch fertig ist.105
*** Hinter diesen offensichtlichen Parallelen zwischen Benjamin und Jünger eine kommunistische Überzeugung Jüngers zu vermuten, wäre zweifellos ein großer Irrtum. Die heute verwirrend erscheinenden politischen Implikationen des »Arbeiters« klä99 100 101 102 103 104 105
Walter Benjamin, Moskau, S. 334. Walter Benjamin, Moskau, S. 327. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 263. Vgl. Walter Benjamin, Moskau, S. 325 f. Walter Benjamin, Moskau, S. 338. Walter Benjamin, Moskau, S. 325. Walter Benjamin, Moskau, S. 326.
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ren sich indessen als Bestandteil des »Russland-Komplexes«106 der Zwischenkriegszeit auf, wenn man Jüngers intellektuelles Umfeld des Jahres 1932 in den Blick nimmt und zugleich die Reaktionen dieses Umfelds auf den »Arbeiter« berücksichtigt. Während Weimars Ende bewegte sich Jünger in den Intellektuellenzirkeln einer radikalen Querfront,107 sei es als Mitherausgeber der bündischen Zeitschrift »Die Kommenden«, als Sympathisant der schleswig-holsteinischen Landvolkbewegung oder als ständiger Mitarbeiter in Niekischs nationalbolschewistischer Zeitschrift »Widerstand«. Vom publizistischen Engagement für den Weimarer Rechtsextremismus war in den letzten fünf Jahren der Republik nur der nationalrevolutionäre Kern übrig geblieben. Jünger teilte Alfred Bauemler, der mit dem Nationalsozialismus zunehmend sympathisierte, denn auch 1929 mit, für ihn sei die Zeit »noch längst nicht gekommen […], Stellung zu nehmen«; er befinde sich im ideologischen »Niemandslande«.108 Mit der Rede vom Niemandsland war kein Desengagement gemeint, besitzt doch der Begriff in Jüngers Wortschatz seine besondere, von der Weltkriegserfahrung geprägte Bedeutung. Vielmehr bezeichnet er eine intellektuelle Selbstpositionierung zwischen den Fronten der Weimarer Bürgerkriegsparteien, wohlgemerkt an vorderster Stelle, womit Jüngers Selbstverständnis als überparteilicher Avantgardist zum Ausdruck kommt. Zum Niekisch-Kreis war Jünger Ende 1928 zusammen mit Hugo Fischer und seinem Bruder Friedrich Georg gestoßen. Das radikal antibürgerliche, zugleich aber ideologisch diffuse Profil der »Widerstand«-Gruppe passte dem Autor, der sich um parteipolitische Autonomie bemühte und dennoch das hart umkämpfte politische Feld als »geistiger Führer« einer »erlesenen Schar« bestellen wollte. Dort, in der Gemengelage zwischen links und rechts, musste Jünger die ideologischen Angebote – Nationalsozialismus und Kommunismus – nicht zu verbindlichen ideologisch-politischen Bezugsgrößen seines Denkens werden lassen. Dort wurde ihm kein Loyalitätsbekenntnis zu einer bestimmten Partei abverlangt. Vielmehr ermöglichte ihm die lagerübergreifende Diskurskultur im republikfeindlichen Berliner Intellektuellen-Milieu eine relative Unabhängigkeit während des zur »Entscheidung« drängenden Endes der Republik. Nachdem zwischen 1918 und 1923 einerseits in den Kreisen um Moeller van den Bruck unter Berufung auf Spengler109 und Thomas Mann,110 andererseits von 106 107
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Vgl. Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Vgl. Susanne Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000, S. 144–148. Vgl. Ernst Jünger an Alfred Baeumler (23. 1. 1929). In: Ulrich Fröschle/Thomas Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger. Mit einem Anhang der überlieferten Korrespondenz und weiterem Material, Dresden 2008, S. 148. Vgl. Hans-Christof Kraus, »Untergang des Abendlandes«. Rußland im Geschichtsdenken Oswald Spenglers. In: Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924, hg. von Gerd Koenen/Lew Kopelew, München 1998, S. 277–312. Vgl. Gerd Koenen, Betrachtungen eines Unpolitischen. Thomas Mann über Rußland und Bolschewismus. In: Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924, hg. von Gerd Koenen/Lew Kopelew, München 1998, S. 313–379.
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dem aus Moskau entsandten Karl Radek die Idee einer preußisch-sozialistischen Alternative gegen die parlamentarische Demokratie bzw. einer deutsch-russischen Allianz gegen die Siegermächte der Entente gesponnen worden war, brach sich noch einmal zwischen 1929 und 1932 eine letzte nationalbolschewistische Welle in den Reihen der Konservativen Revolutionäre. Sie wurde im Wesentlichen von Niekischs »Widerstand«, dem jungkonservativen »Tat«-Kreis, Otto Strassers »Schwarzer Front«, der Landvolkbewegung um die Brüder von Salomon und den »linken Leuten von rechts« um Karl O. Paetel getragen. Die politische Zielvorstellung dieser Intellektuellen war ein autoritär geführtes, sozialistisch organisiertes Deutschland, das im Bündnis mit der Sowjetunion seine Großmachtstellung gegen die Versailler Siegermächte zurückgewinnen sollte. Innenpolitisch schien die kapitalistische wie parlamentarisch-demokratische Ordnung in den Jahren der Weltwirtschaftskrise und der Präsidialkabinette diskreditiert. Demgegenüber stellte sich den nationalbolschewistischen Intellektuellen das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Industrialisierungsprogramm von Stalins »Sozialismus in einem Land« mit Fünfjahresplan und (Zwangs-)Kollektivierung als faszinierendes Musterland dar, das nach der angeblich verpassten Revolutionschance von 1918 in einer zweiten deutschen Revolution nachgeahmt werden sollte.111 Insbesondere Niekischs Programm machte eine radikale »Blickwendung nach Osten« für »Deutschlands Wiedergeburt« zur Bedingung. Während er in den »romanischen Ländern« Frankreich, Polen und Italien den »Mutterboden« der verhassten »Ideen von 1789« erblickte, sah er im »russischen Bolschewismus« nicht nur den »radikalsten Feind der Ideen von 1789«, sondern auch den notwendigen außenpolitischen »Rückhalt« für einen Wiederaufstieg Deutschlands in den Kreis der Großmächte. Freilich wollte Niekisch das russische Modell »nicht übernehmen«; es sollte als Vorbild für die »Umkehr« Deutschlands zu einer eigenständigen »Lebensform aus sich selbst heraus« dienen.112 Berücksichtigt man diese projektive Russland-Wahrnehmung der Nationalbolschewisten als diskursiven Kontext von Jüngers »Arbeiter«, so werden die politi111
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Vgl. Elke Suhr, Frontgeneration und Bolschewismus, S. 53–90. – Gerd Koenen, Der Russland-Komplex, S. 323–347. – Louis Dupeux, Im Zeichen von Versailles. Ostideologie und Nationalbolschewismus in der Weimarer Republik. In: Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924, hg. von Gerd Koenen/Lew Kopelew, München 1998, S. 191–218. – Leonid Luks, »Eurasier« und »Konservative Revolution«. Antiwestliche Versuchung in Rußland und Deutschland. In: Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924, hg. von Gerd Koenen/Lew Kopelew, München 1998, S. 217–239. – Wolfgang D. Elfe, Weimar aus der Sicht der ›Linken Leute von rechts‹: Karl Otto Paetel. In: Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930–1933, hg. von Thomas Koebner, Frankfurt/M. 1982 (Suhrkamp Taschenbuch 2018), S. 205–222. – Jürgen Rühle, Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus, Köln/Berlin 1960, S. 192–206. Vgl. Ernst Niekisch, Die Politik des Widerstandes (1930). In: Karl Otto Paetel, Nationalbolschewismus und nationalrevolutionäre Bewegungen in Deutschland. Geschichte – Ideologie – Personen, Schnellbach 1999, S. 282–284.
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schen Konturen der mythisch verschleierten »Gestalt« deutlicher. Die Modernisierungs-Chiffren »Totale Mobilmachung«, »Arbeiter« oder »Planlandschaft« finden im nationalbolschewistischen Diskurs ihre Dechiffrier-Maschine. Mit ihr wird deutlich, dass von allen Staaten der Zwischenkriegszeit zuvorderst die Sowjetunion als Leitbild für den »Arbeiter« diente. Zwar mag Jünger die Ideologien und Staatsmodelle seiner Zeit lediglich als »unterschiedliche Annäherungsgrade an die Reinheit eines ins Planetarische ausgreifenden Arbeiter-Typus«113 verwendet haben. Doch »ein substanzielles Interesse« an den verschiedenen politischen Systemen der Zwischenkriegszeit lässt sich bei Jünger insbesondere »für die Vorgänge in der Sowjetunion«114 biographisch nachweisen. Niekischs Memoiren sprechen denn auch eine deutliche Sprache: »Ohne die russische Revolution wäre dieses Buch nie möglich gewesen«.115 Ausgerechnet Georg Lukàcs schien während der Endphase der Republik eine Zusammenarbeit mit den nationalrevolutionären Intellektuellen um Jünger lohnend zu sein. Im Auftrag der Kommunistischen Partei organisierte Lukács Zusammenkünfte und Gesprächsabende quer zu den politisch-ideologischen Bürgerkriegslagern, so im Rahmen der »Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Planwirtschaft« (Arplan) oder unter dem Dach des »Bundes geistiger Berufe«, um parteipolitisch ungebundene Intellektuelle mit prosowjetischer Orientierung für den Kommunismus zu gewinnen oder zumindest ideologisch zu beeinflussen. Wie Friedrich Georg Jünger und die intellektuellen Weggefährten Ernst Niekisch, Friedrich Hielscher, Hugo Fischer und Carl Schmitt war Ernst Jünger in beiden Organisationen aktives Mitglied. Als Gast der sowjetischen Botschaft sympathisierte er mit den dort vermittelten russischen Plankonzepten und nutzte sie als Anregung für sein eigenes, möglichst deutsches Weltherrschaftsmodell vom »Arbeiter«.116 Dass Jünger mit seinen Essays über die weltweite »Mobilmachung« durch die »Gestalt« des »Arbeiters« den Russland-Diskurs der nationalrevolutionären Intellektuellen aufgriff und literarisierte, zeigt nicht zuletzt die einhellige Zustimmung, die er mit seiner Schrift im »Widerstand«-Kreis fand. Nicht allein Friedrich Georg Jünger bescheinigte seinem Bruder, mit dem »deutenden, prognostizierenden und visionierenden« Essay einen »Zugriff auf die Machtverhältnisse« geleistet zu haben, mit der »neues Land und feste[r] Boden« gegenüber der bürgerlich-konservativen Intelligenz gewonnen worden sei. Spenglers »Analyse des Zusammenbruchs« – gemeint ist »Der Untergang des Abendlandes« – sei damit ebenso überwunden wie Jaspers »Geistige Situation der Zeit«, die eine »Schrift von so eingestandener Hilflosigkeit« darstelle.117 Ebenso beglückwünschte Hugo Fischer mit dem Ausruf: 113 114 115
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Harro Segeberg, Technikverwachsen, S. 46. – Vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 258. Vgl. Ulrich Fröschle/Thomas Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger, S. 81. Vgl. Ernst Niekisch, Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs, Band 1: Gewagtes Leben 1888–1945, Köln 1974, S. 188. Vgl. Ulrich Fröschle/Thomas Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger, S. 70–82. – Gerd Koenen, Der Russland-Komplex, S. 343 ff. Friedrich Georg Jünger an Ernst Jünger (9. 9. 1932). In: DLA, A: Ernst Jünger.
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»Feuer und Mordio // Sie haben ein gutes Buch geschrieben«, den Autor zu seinem jüngsten Werk. Wie selbstverständlich stellte er den Essay in einen sozialistischen bzw. bolschewistischen Kontext, wenn er feststellte, »dass es kühner ist als das ›kommunistische Manifest‹«: »Ihr Begriff der Freiheit und der [...] des Typus sind absolut richtig und wahr. Das sind heute Begriffe von planetarischer Gültigkeit. Lenin spricht immer wieder von dem neuen ›Typus‹ Staat, der eigentlich schon kein Staat mehr ist (Imperium).«118 Schließlich wertete Ernst Niekisch den »Arbeiter« in seiner Zeitschrift als »eine Nachricht, ein[en] Vorbericht aus einer Welt, die noch im Werden begriffen ist.«119 Keinen Zweifel ließ der federführende Kopf der deutschen Nationalbolschewisten daran, dass hinter Jüngers »Arbeiter« die sowjetrussische Diktatur des Proletariats stünde: Zwar sei Jünger »kein Bolschewist«, aber er lege »wider Willen Zeugnis« ab, »wie das bolschewistische Rußland in Übereinstimmung mit der herrschenden Welttendenz steht«.120 Jüngers Essay gab den Hoffnungen der Nationalbolschewisten auf eine (kalte) Revolution in Deutschland noch einmal Auftrieb. Die Schrift schien, Niekisch zufolge, das »Tor ins Freie« aufzustoßen, zeige sie doch auf der »Ebene des Grundsätzlichen«, wie man »den Geist der bürgerlichen Welt erledigen, ›liquidieren‹ kann«.121 Seit 1918 werde Deutschland von der »bürgerlichen Welt geknebelt«, nun schenke Jünger dem nationalrevolutionären Kampf ein geistiges Mittel, mit dem eine deutsch-sowjetische Allianz wieder spruchreif werden könne: »Wenn die Herrschaft der ›Gestalt des Arbeiters‹ auch den deutschen Bereich ergreift, erschließt sich für uns sogleich ein Gebiet, das sich von Wladivostok bis Vlissingen dehnt.«122 Mit dem »Arbeiter« sollte aus Sicht der Nationalrevolutionäre keineswegs ein Schlusspunkt gesetzt sein, sondern der Anfang eines richtungsweisenden Diskurses gemacht werden. Noch unter dem Eindruck der Lektüre schlug Hugo Fischer im Herbst 1932 ein Zeitschriftenprojekt mit dem Titel »Welttheater« vor, mit dem eine reiseliterarische Auslandsberichterstattung über die gegenwärtige politische Weltlage geleistet werden sollte. »Das Scheinwerferlicht der Publizistik soll das imperialistische Gefilde bestreichen«, um durch reine Deskription »Wunden« aufzureißen. Es stand an, die Chiffre des »Arbeiters« mit nationalrevolutionärem Inhalt zu füllen. Zunächst müsse »jede koloniale Aufstandsbewegung [...] verzeichnet werden«, sodann müssten Indien und Südamerika als »absolut präsenter Schauplatz, als Teil der Bühne« berücksichtigt werden und schließlich benötige man endlich »realistische Russlandberichte«.123 118 119
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Hugo Fischer an Ernst Jünger (11. 10. 1932). In: DLA, A: Ernst Jünger. Ernst Niekisch, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Zu Ernst Jüngers neuem Buche. In: Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik, 7, 1932, H. 10, S. 311. Ernst Niekisch, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, S. 311. Ernst Niekisch, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, S. 307 und 311. Ernst Niekisch, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, S. 307 und 311. Hugo Fischer an Ernst Jünger (2.11.1932). In: DLA, A: Ernst Jünger.
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Fischers Vorschlag kam nicht von ungefähr. Zur gleichen Zeit legte Ernst Niekisch seine »Betrachtungen zu einer Rußlandreise« im »Widerstand« vor.124 Niekisch war im Rahmen der »Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Planwirtschaft« mit den Berliner Wissenschaftlern Adolf Grabowsky, Otto Hoetzsch und Arvid Harnack 1932 in die Sowjetunion gereist, die er durch die von Jünger bereitgestellte »Arbeiter«-Optik sah, ohne dass er auf die pro-sowjetischen Topoi der zeitgenössischen Russlanddarstellung verzichten musste. So singt er ein Loblied auf die proletarische Einfachheit und Ärmlichkeit des Alltags, auf den Führer Stalin, auf die staatliche Propaganda, auf die Vernichtung der Kirche, der Bürger und Bauern, auf die Kollektivierung der Landwirtschaft, den Fünfjahresplan und die militaristische Standardisierung und Rationalisierung aller Lebensbereiche einschließlich der erotischen. Russland sei ein »Arbeiterstaat«, in dem man in Arbeit stehen müsse, »um Staatsbürgerrecht, ja Lebensrecht überhaupt zu genießen«.125 Das sowjetische Leben sei ein »Wechsel auf eine schönere Zukunft«, die entbehrungsreiche Industrialisierung einer »Mobilmachung« vergleichbar; diesem »Übergangszustand« entspräche eine »Haltung des angespannten Heroismus, wie sie sonst kein Volk der Erde mehr zeigt«.126 An der Zukunftsträchtigkeit des sowjetischen Staatsmodells zweifelte Niekisch nicht: Gewiß ist der Arbeiter als Typus eine dürftigere, verkümmertere, bescheidenere und plattere Art Mensch, als es die bisher herrschenden Menschentypen gewesen waren. Aber er wird wohl unser Schicksal sein, weil die Erde arm zu werden beginnt und weil man infolgedessen haushalten, knausern, planwirtschaften, bis zum letzten Mann an den Schraubstock treten muß.127
Niekisch hauchte seinen russischen Arbeitern, Ingenieuren und Politfunktionären den Geist des Jünger’schen »heroischen Realismus« ein und füllte die politische Leerstelle des Essays: Die stalinistische Sowjetdiktatur sei das alternativlose Modernisierungsprojekt der Gegenwart und müsse von Deutschland eigenständig adaptiert werden. Sein reiseliterarisches Plädoyer für einen totalitären Staat sowjetischer Prägung ließ er mit der Rückkehr in die verhasste Republik enden: Überschreitet man von Rußland her kommend die deutsche Grenze, dann wird vielleicht nichts schmerzlicher fühlbar als das: das [sic] Deutschland wohl zivilisierter, wohlhabender, reinlicher und gepflegter, aber doch nur ein Land ohne weltgeschichtliche Aufgabe und ohne Ethos ist.128
In Niekischs Reisebericht ist denn auch bei aller Begeisterung für die Sowjetunion der apokalyptische Ton Jüngers nicht zu überhören, in den er kurz vor der Macht124
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Vgl. Ernst Niekisch, Betrachtungen zu einer Rußlandreise. In: Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik, 7, 1932, H. 10, S. 289–298. Ernst Niekisch, Betrachtungen zu einer Rußlandreise, S. 290. Ernst Niekisch, Betrachtungen zu einer Rußlandreise, S. 295. Ernst Niekisch, Betrachtungen zu einer Rußlandreise, S. 293. Ernst Niekisch, Betrachtungen zu einer Rußlandreise, S. 298.
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übertragung an Hitler einstimmte. Die Hoffnung, dass aus dem »Chaos« der parlamentarischen Demokratie, die inzwischen von Präsidialkabinetten regiert wurde, eine deutsche Sowjetrepublik entstehen könne, trog. Im Spätherbst 1932 mochte die unübersichtliche Lage in Deutschland revolutionäre Naherwartungen nähren; am 30. 1. 1933 starb die überhitzte »Kopfgeburt«129 einer nationalbolschewistischen Alternative. Die legalistische Liquidierung der parlamentarischen Demokratie wenige Wochen später bedeutete auch das Ende der nationalrevolutionären Intellektuellenzirkel. Mit der NSDAP kam die am schärfsten russophobe, am radikalsten antibolschewistische Partei der Republik an die Regierung, deren Führer von Niekisch wenige Monate zuvor noch mit dem Buch »Hitler – Ein deutsches Verhängnis« gebrandmarkt worden war. Das NS-Regime setzte bald seinen Polizeiapparat gegen die Nationalbolschewisten in Gang. 1934 wurde die Zeitschrift »Widerstand« verboten, Niekisch 1937 mit einer großen Anzahl seiner Anhänger verhaftet und 1939 als »Staatsfeind« vom so genannten Volksgerichtshof zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt; aus der Haft befreiten ihn die Alliierten 1945.
*** Die nationalbolschewistischen Implikationen des »Arbeiters« während der epochalen Jahreswende 1932/33 verdeutlichen, warum Jünger im Unterschied zu Benn, Heidegger und Carl Schmitt kein Bekenntnis zu Hitler ablegen konnte, sondern ohne zu zögern die wiederholten, gut dotierten Angebote der Nationalsozialisten zur Mitarbeit ausschlug. Aus dem realpolitischen Scheitern der Nationalbolschewisten konnte Jünger nur eine alternativlose Konsequenz ziehen: Er musste aus handfesten politischen Gründen in die Opposition gehen, weil er als Autor des »Arbeiters« als einer der Köpfe des deutschen Nationalbolschewismus galt. Als »März-Gefallener« und Dichter von Hitlers Gnaden hätte er nicht nur seine Weggefährten und intellektuellen Freundschaften zugunsten einer zweifelhaften, stets angreifbaren Karriere im NS-Staat verraten und verleugnen müssen, zu denen nicht zuletzt sein Bruder Friedrich Georg Jünger gehörte, sondern auch die Werke der letzten fünf Republikjahre, darunter »Das Abenteuerliche Herz« und natürlich »Der Arbeiter«. Wie hinreichend bekannt ist, schloss sich Jünger dem politischen Widerstand der Nationalbolschewisten um Niekisch130 nicht an, sondern zog sich nun endgültig auf die Position des Solitärs zurück, der nach einer gründlichen Selbstrevision damit begann, einen »Quietismus wider die Brüche und Ungereimtheiten der Historie«131 zu pflegen. Und das hieß auch, aus dem »Arbeiter« fortan den Wi129 130
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Elke Suhr, Frontgeneration und Bolschewismus, S. 53. Vgl. Uwe Sauermann, Die Situation der nationalrevolutionären Gegner Hitlers nach der Konstituierung des NS-Regimes. In: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. Mit einem Vorwort von Wolfgang Treue, hg. von Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach, München/Zürich 1985 (Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin), S. 169–181. Martin Meyer, Ernst Jünger, S. 254.
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dersacher seiner künstlerischen Existenz zu machen. Als eine doppelte Ironie der Rezeptionsgeschichte erscheint nicht nur, dass sich Jünger rund zehn Jahre nach der Veröffentlichung in den Reihen des konservativ-militärischen Widerstands wiederfand, sondern dass ab 1945 »Der Arbeiter« zum Belegstellenfundus für eine Wegbereitung Hitlers gemacht wurde. Die nationalbolschewistischen Implikationen waren zu diesem Zeitpunkt längst vergessen – und die Leerstellen-Rhetorik des »Arbeiters« wurde zum rezeptionsgeschichtlichen Bumerang, die ihrem Urheber nun nicht mehr den Vorwurf des Bolschewismus, sondern den des Faschismus einbrachte.
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Ideologische Konzepte in Ernst Jüngers Der Kampf als inneres Erlebnis Bekanntlich hat Ernst Jünger seine Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg in unterschiedlichen Textsorten bearbeitet: In den 2010 erschienenen Kriegstagebüchern, in Erlebnisberichten wie In Stahlgewittern (1922), Feuer und Blut (1925) sowie Das Wäldchen 125 (1925), schließlich in dem seltsamen Text von 1922, Der Kampf als inneres Erlebnis.1 Was »inneres Erlebnis« in Opposition zu einem »äußeren« bedeuten soll, hat Jünger selbst expliziert: Alle Ziele sind vergänglich, nur die Bewegung ist ewig, und sie bringt unaufhörlich herrliche und unbarmherzige Schauspiele hervor. Sich in ihre erhabene Zwecklosigkeit zu versenken wie in ein Kunstwerk oder wie in den gestirnten Himmel, das ist nur wenigen vergönnt. Aber wer in diesem Krieg nur die Verneinung, nur das eigene Leiden und nicht die Bejahung, die höhere Bewegung empfand, der hat ihn als Sklave erlebt. Der hat kein inneres, sondern nur ein äußeres Erlebnis gehabt.2
Das »innere Erlebnis«, das das Ich für sich in Anspruch nimmt, ist offenkundig etwas, was einer elitären Minorität vorbehalten ist (»nur wenigen vergönnt«). In dieser angeblich elitären Wahrnehmung des Krieges erscheint dieser als »herrliches und unbarmherziges Schauspiel« von »erhabener Zwecklosigkeit«, dessen Betrachtung der »eines Kunstwerks« äquivalent ist. Das Geschehen selbst wird sprachlich zum Kunstwerk erhoben: 1
2
Vgl. dazu den vorzüglichen Forschungsbericht bei Steffen Martus, Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 333). Hervorzuheben sind vor allem auch Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986; Hans-Harald Müller, »Im Grunde erlebt jeder seinen eigenen Krieg«. Zur Bedeutung des Kriegserlebnisses im Frühwerk Ernst Jüngers. In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 13–37; Karl Prümm, Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918–1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik, 2 Bde. Kronberg/Ts. 1974 (Theorie – Kritik – Geschichte 3.1/3.2); Harro Segeberg, Regressive Modernisierung. Kriegserlebnis und Moderne-Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk. In: Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes »Arbeit« in der deutschen Literatur (1770–1930). Dokumentation einer interdisziplinären Tagung in Hamburg vom 16. bis 18. März 1988, hg. von Harro Segeberg, Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 34), S. 337–378; und Uwe-K. Ketelsen, »Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Voraussetzungen.« Zu Ernst Jüngers Die totale Mobilmachung (1930) und Der Arbeiter (1932). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/ Harro Segeberg, München 1995, S. 77–95. Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. In: ders.: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1980, S. 11–103, hier S. 103. – Im weiteren: KiE.
https://doi.org/10.1515/9783110279795-023
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Wir schreiben heute Gedichte aus Stahl und wir kämpfen um die Macht in Schlachten, bei denen das Geschehen mit der Präzision von Maschinen ineinandergreift. Es steckt eine Schönheit darin, die wir schon zu ahnen imstande sind, in diesen Schlachten zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft [...]. (KiE, 103)
Die unglaubliche Zerstörung des Graben- bzw. Stellungskriegs und der Materialschlachten wird also Objekt einer Ästhetisierung, sozusagen erlebte Lyrik. Das ist um so erschreckender, als Jünger ja nun keineswegs das Grauen dieses Krieges verleugnet hat, das er nicht nur in den Erlebnisberichten wie den Stahlgewittern, sondern eben auch in unserem Text in einer Klarheit und Radikalität dargestellt hat, die deutlich über das hinausgeht, was etwa die Kriegsromane der zwanziger Jahre zu bieten haben.3 Wer hingegen wie die im Text oft beschworene »Masse« – Zentralbegriff eines für die Frühe Moderne charakteristischen Ideologems4 – nur die tatsächliche viehische Realität des Kriegs erlebt hat, der wird verbal zum »Sklaven« erniedrigt: er hat, laut Jünger, nichts begriffen. Diese Wertung ist Teil einer komplexen ideologischen Hierarchisierung der am Krieg beteiligten Populationen. Eine erste zentrale Opposition trennt die Armee, in Jüngers Worten: das »Heer«, vom Rest der Bevölkerung, der im Grunde jedes Recht und jede Kompetenz abgesprochen wird, über den Krieg mitzureden. Innerhalb der Armee wiederum haben wir die Opposition zwischen den »Frontkämpfern« und dem Teil des Militärs, der sich in der sicheren Entfernung der »Etappe« aufhält. Doch auch damit hat es noch nicht sein Bewenden. Auch innerhalb der Frontkämpfer wird weiter hierarchisiert. Da gibt es den in Waffen gesteckten Spießbürger[], de[n] in den Volksheeren, diesem militärischen Ausdruck der Demokratie, zuletzt überwiegenden Typ. Das waren Krämer oder Handschuhmacher, mehr oder minder soldatisch überschliffen, die Krieg ausübten als staatsbürgerliche Pflicht, brave Leute, die, wenn es sein mußte, auch Helden waren. (KiE, 56) 3
4
»Alle Geheimnisse des Grabes lagen offen in einer Scheußlichkeit, vor der die tollsten Träume verblichen. Haare fielen in Büscheln von Schädeln wie fahles Laub von herbstlichen Bäumen. Manche zergingen in grünliches Fischfleisch, das nachts durch zerrissene Uniformen glänzte. Trat man auf sie, so hinterließ der Fuß phosphorische Spuren. Andere wurden zu kalkigen, langsam zerblätternden Mumien gedörrt. Anderen floß das Fleisch als rotbraune Gelatine von den Knochen. In schwülen Nächten erwachten geschwollene Kadaver zu gespenstischem Leben, wenn gespannte Gase zischend und sprudelnd den Wunden entwichen. Am furchtbarsten jedoch war das brodelnde Gewühl, das denen entströmte, die nur noch aus unzähligen Würmern bestanden. Was soll ich eure Nerven schonen? Lagen wir nicht selbst einmal vier Tage lang in einem Hohlweg zwischen Leichen? Waren wir da nicht alle, Tote und Lebendige, mit einem dichten Teppich großer, blauschwarzer Fliegen bedeckt? Gibt es noch eine Steigerung? Ja: es lag dort mancher, mit dem wir manche Nachtwache, manche Flasche Wein und manches Stück Brot geteilt hatten. Wer darf vom Kriege reden, der nicht in unserem Ringe stand?« (KiE, 22) So z. B. schon 1895 bei Gustave Le Bon, Psychologie der Massen [1895]. Mit einer Einführung von P. R. Hofstätter, 15. Aufl., Stuttgart 1982 (Kröners Taschenausgaben 99).
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Dem »Bourgeois« und der Demokratie gilt Jüngers unverhohlene Verachtung, was ihn sowohl mit der extremen Linken als auch der extremen Rechten verbindet. Diesen normalen Wehrpflichtigen wird Jüngers Ideal konfrontiert: Vollendet in diesem Sinne – vom Standpunkt der Front – erschien nur einer: der Landsknecht. [...] Es gibt nur eine Masse, die nicht lächerlich wirkt: das Heer. Der Bourgeois machte auch noch das Heer lächerlich. Es gibt nur zwei Soldaten: den Söldner und den Freiwilligen. Der Landsknecht war beides zugleich. (KiE, 55 f.)
Auch zu dieser »Elite« gibt es nochmals eine elitäre Steigerung: [...] der bewußte Kämpfer, der sich bemühte, seine Aufgabe zu durchdringen, also auch ein vollendeter Typ, dessen äußere und innere Welt in Harmonie stehen sollten. Der wurde mit dem allgemeinen Ermatten der Kampfsittlichkeit immer seltener. (KiE, 56)
Diese »Elite« der Landsknechte wird ideal repräsentiert durch eine Gruppe, der sich das Ich selbst zurechnet: »der ausgesuchte Stoßtrupp eines berühmten Sturmregiments« (KiE, 70): Das ist der neue Mensch, der Sturmpionier, die Auslese Mitteleuropas. Eine ganz neue Rasse, klug, stark und Willens voll. (KiE, 72 f.)
Der »neue Mensch«, bekanntlich eines der utopischen Konstrukte des Expressionismus, dem unser Text ja sowohl ideologisch – vgl. auch das Stichwort der »Tat« – als auch sprachlich verpflichtet ist, erscheint hier als Produkt eines sozialdarwinistischen Selektionsprozesses, und dementsprechend auch als »eine ganz neue Rasse«. Der Begriff der »Rasse« – das sei zu Jüngers Ehre angemerkt – wird hier nicht im Sinne nationalsozialistischer Rassenideologie verwendet, die diesem Text ebenso fremd ist wie jener Nationalismus und Nationalhaß, die seit dem 19. Jahrhundert die politisch-ideologische Diskussion begleiten. »Rasse« ist hier wie in der Sprache des feudalen Junkertums des 19. Jahrhunderts ein sozialer und ästhetischer Wertbegriff, wie man in diesem Jargon eben, sei es einem Pferd, sei es einer Frau, zuschreiben konnte, sie seien »rassig« bzw. sie hätten »Rasse«. Jüngers militärische Idealgruppe erscheint wiederholt lexikalisch als die der »Auserlesenen«; auch hierin bedient er sich eines in der Frühen Moderne beliebten Modells, besonders auffällig sowohl in der fantastischen Literatur wie in der Literatur des Expressionismus, wo sich immer das Konstrukt der Auserwähltheit eines Individuums oder einer Gruppe findet; und wie bei Jünger bleibt auch dort gern offen, wodurch die Auserwähltheit bedingt bzw. wer Urheber dieses Konstrukts ist. Jüngers Hierarchisierung liegt quer zur sozialen Schichtung seiner Gesellschaft; seiner »Elite« kann zum Beispiel angehören: der zähe Bauernbursche mit kantigem Schädel, der geschulte Arbeiter mit intelligentem Gesicht, der Offizier, dem der Kampf seit Jahrhunderten im Blute steckte, der Fahnenjunker, dessen schmale Hände das Gewehr kaum schwingen konnten. (KiE, 52)
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Signifikanterweise kommt in dieser Aufzählung der Gruppen, aus denen sich Jüngers Helden rekrutieren können, der Bürger nicht vor; obwohl natürlich selbst Bildungsbürger, was er nicht versäumt, durch nicht wenige Verweise auf Kunst und Literatur zu unterstreichen, grenzt er sich aus diesem Bürgertum aus, wie der Text sowohl inhaltlich als auch sprachlich massiv durch das Bedürfnis geprägt ist, anders sein zu wollen. Es geht um die Verweigerung von »Normalität«: das im statistischen Sinne »Normale«, die mehr oder minder friedliche Vorkriegsordnung, genauer: jede Ordnung, die sich als unbefragte Normalität konstituiert hat, ist das Nicht-Wünschenswerte, das Verwerfliche – das ist die tendenziell anarchische Seite unseres Textes. Gegenüber denen, denen er keine Ranggleichheit einräumt, verhält er sich mit der Arroganz des Herrenmenschentums, was er ausführlich am Beispiel des Proletariats exemplifiziert (vgl. KiE, 81 f.). Die armen Proletarier sind bedauerlicherweise dem Krieg intellektuell nicht gewachsen: Sie sind wirklich Material, Material, das die Idee, ohne daß sie es wissen, für ihre Ziele verbrennt. Das ist ihre eigentliche Bedeutung, deren Größe sie nicht zu erfassen vermögen, und das ist die Ursache ihrer Leiden. (KiE, 81) [...] Daß sie durch einen Frieden oder durch eine Revolution sich dem eigentlichen Problem nicht einen Schritt genähert haben, daß auch sie selbst die Vorbedingungen des Krieges sind, wird ihnen nie klarzumachen sein. (KiE, 82)
Laut Jünger kapieren die Armen einfach nicht, worum es geht. Doch dazu, worum es laut Jünger geht, später. Seinen »neuen Menschen, den kühneren, den kampfgewohnten« charakterisiert, daß er »rücksichtslos gegen sich selbst und andere« ist (KiE, 73). So können denn auch »diese großen Würger« wie ein Tamerlan als »sympathischer« erscheinen (KiE, 55) als alle jene, die aus Mitgefühl das Leben als »zu hart« empfinden, als jene, die rousseauistisch meinen, »der Mensch ist gut« (KiE, 55) – generell hat Jünger eine Abneigung gegen die europäische Aufklärung. Diese asiatischen Despoten waren nicht besonders nett: »mit tiefer Leidenschaft wurde geplündert, geschändet, gesengt und gesotten« (KiE, 55) – wiederholt verfällt Jünger Wagnerscher Wollust am Alliterieren. Diese »großen Würger« sind Raubtiere, an denen man »Genuß empfinden« kann. Denn: Sie waren vollendet in sich. Die Vollendung. Das ist der springende Punkt. Scharfe Durchdringung bis an die Ränder des Vermögens, Gestaltung des Gegebenen in die eigene Form. (KiE, 55)
»Vollendung« bedeutet hier offenkundig, daß jemand, seinem Wesen gemäß, sich radikal selbst verwirklicht und dieses sein Wesen der Umwelt – gegebenenfalls mit Gewalt – als Form aufzwingt. Es ist sichtlich trivial, wie sehr in diesem Text die, wenn man so will, negative Seite Nietzsches, die »blonde Bestie«, präsent ist; die positive Seite Nietzsches, seine Fähigkeit zu radikaler Ideologiekritik und zur psychologischen Reduktion von Ideologien auf – meist unerfreuliche – Bedürfnisse freilich ist gänzlich absent. Die seltsame Ideologie
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unseres Textes wird an keiner Stelle durch ideologiekritische Selbstreflexion in Frage gestellt. Jüngers Landsknecht ist durch extreme »Männlichkeit« charakterisiert, und »Männlichkeit« impliziert bei Jünger ganz selbstverständlich »Mut« und »Kriegertum«:5 Der Mannesmut ist doch das Köstlichste. In göttlichen Funken spritzt das Blut durch die Adern, wenn man zum Kampf über die Felder klirrt im Bewußtsein der eigenen Kühnheit. Unter dem Sturmschritt verwehen alle Werte der Welt wie herbstliche Blätter. Auf solchen Gipfeln der Persönlichkeit empfindet man Ehrfurcht vor sich selbst. Was könnte auch heiliger sein als der kämpfende Mensch? Ein Gott? (KiE, 48)
Die Jüngersche Abart des Nietzscheschen »Übermenschen« wird mit der ebenso Nietzscheschen »Umwertung aller Werte« korreliert (»alle Werte der Welt« »verwehen«), und über Nietzsche hinaus wird der Krieger vergöttlicht. Eine solche Sakralisierung durchzieht auch lexikalisch den Text – dazu später. Ja, der Soldat in seinem Verhältnis zum Tode, in der Aufgabe der Persönlichkeit für eine Idee, weiß wenig von den Philosophen und ihren Werten. Aber in ihm und seiner Tat äußert sich das Leben ergreifender und tiefer, als je ein Buch es vermöchte. Und immer wieder, trotz allem Widersinn und Wahnsinn des äußeren Geschehens, bleibt eine strahlende Wahrheit: der Tod für eine Überzeugung ist das höchste Vollbringen. Er ist Bekenntnis, Tat, Erfüllung, Glaube, Liebe, Hoffnung und Ziel; er ist auf dieser unvollkommenen Welt ein Vollkommenes und die Vollendung schlechthin. Dabei ist die Sache nichts und die Überzeugung alles. (KiE, 100)
Anhand der (im Expressionismus so beliebten) Tat wird hier eine wesentliche Opposition von »Leben« vs. »Buch«, also von Praxis vs. Theorie aufgebaut; es entspricht zumindest in einem Teil der Texte der Frühen Moderne der – ihnen fast allen gemeinsamen – Lebensideologie, daß das gewissermaßen unbewußte unreflektierte »Leben« höher geschätzt wird als die bewußte theoretische Reflexion.6 Den Krieger charakterisiert also Todesbereitschaft. Jene Vollendung, von der sowohl anhand der asiatischen Despoten als auch der Landsknechte die Rede war, findet ihren Höhepunkt im »Tod für eine Überzeugung«: er ist »Bekenntnis«, und er ist auch »Glaubensbekenntnis«, in dem sich inhaltlich entleerte, christliche Werte – »Glaube, Liebe, Hoffnung« – realisieren; er ist die »Tat«, von der so viele Helden 5
6
Vgl. zu diesem Komplex des soldatischen Mannes Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt/M. 1977; und Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. 2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des Weißen Terrors, Frankfurt/M. 1978. – Diesen Typus als Träger eines neuen Menschentums haben insbesondere auch Müller, »Im Grunde erlebt jeder seinen eigenen Krieg« und Segeberg, Regressive Modernisierung, herausgearbeitet. Zum Komplex der Lebensideologie vgl. Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart/Weimar 1994 (Metzler-Studienausgabe).
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expressionistischer Dramen phantasieren; er ist »Erfüllung und Ziel«, letztlich also das, was in der Literatur der Frühen Moderne in unterschiedlichsten Varianten als »emphatisches Leben« angestrebt wird. Ideologisch zentral ist der letzte Satz des Zitates. Er läuft darauf hinaus, daß es gleichgültig ist, ob das Ideologem, für das man zu sterben bereit ist, wahr ist oder nicht: wichtig ist nur, daß man daran glaubt – daß man es für wahr hält. Der Krieger stirbt also gegebenenfalls für eine Überzeugung, somit gewissermaßen als ein Gläubiger: die Position des Kommentators, des Sprechers unseres Textes, ist hingegen die der überlegenen Außenperspektive, des Ungläubigen, also gewissermaßen die eines heroischen Nihilismus, bei dem man für Werte zu sterben bereit ist, an die man nicht glaubt. Folglich gilt: Gewiß, es ist vielleicht schade um uns. Vielleicht opfern wir uns auch für etwas Unwesentliches. Aber unseren Wert kann uns keiner nehmen. Nicht wofür wir kämpfen ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen. Dem Ziel entgegen, bis wir siegen oder bleiben. (KiE, 74)
Gut zu kämpfen, wofür auch immer, wird hier zum Selbstzweck. »Kampf« ist Wert an sich, und wenn der Krieg jene »erhabene Zwecklosigkeit« (KiE, 103) hat, von der schon die Rede war, ist »Kampf« also das militaristische Äquivalent eines ästhetischen »l’art pour l’art«. Halten wir, bevor wir fortfahren, noch eine zentrale ideologische Komponente unseres Textes fest. Schon im Titel ist nicht von »Krieg«, sondern von »Kampf« die Rede, wobei logischerweise »Krieg« nur eine Teilklasse von »Kampf« ist; »Leben« wird hier im Grunde generell als »Kampf« gedacht, und »Krieg« ist nur die im rhetorischen Sinne emphatische Variante von »Kampf«. Unter Rückgriff auf Heraklit spricht Jünger von: »der Krieg, aller Dinge Vater« (KiE, 11). Demnach darf dann »Krieg« auch nicht nur Zerstörung und Verwüstung bedeuten: Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung, und so kämpft nicht einmal der umsonst, welcher für Irrtümer ficht. (KiE, 50)
Somit kann Jünger, so absurd das auch sein mag, postulieren: »Nicht einer ist umsonst gefallen« (KiE, 50). Das impliziert, daß auch der im Kampf gefallene Krieger »gezeugt« hat. Wenn der Kampf auch eine Zeugung ist, dann ist der mörderische Weltkrieg ein einziger gigantischer Sexualakt. Wenn der Kampf die »männliche Form der Zeugung« ist, dann ist logischerweise ein normaler Zeugungsakt nicht männlich. Die Mordlust des Krieges, wie sie Jünger beschreibt, ist also ein Orgasmus-Äquivalent. Eine latente Sexualmetaphorik durchzieht denn auch den Text: Hinein in die Brandung des Fleisches, tausend Gurgeln haben, dem Phallus schimmernde Tempel errichten. (KiE, 36)
An manchen Stellen des Textes müßten Freud-Jünger wahre Höhepunkte erfahren. Bei einem Granateneinschlag etwa bemerkt einer von Jüngers Helden: »Da würde der ganze Mist aber mal hochspritzen!« Und unser Autor kommentiert: »Man
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konnte ihnen die Wollust, mit der dieser Gedanke sie erfüllte, vom Gesicht lesen. Das kleine Blitzlicht gab mir zu denken.« (KiE, 43) Ei freilich: mir auch. An anderer Stelle jubelt er über die »Männlichkeit, die dahinten rief«, und »die Klinge, die aus der Scheide drängte« (KiE, 63). Es scheint, die Klinge ist nicht so gern in der Scheide. Jünger postuliert denn auch, daß der Krieg die männliche Sexualität transformiert habe, und soweit sich aus dem Text erschließen läßt, läuft die Sexualität des Kriegers, wo sie denn real stattfindet, im Regelfalle im Prostitutionsmilieu, auf schnellstmögliche, entemotionalisierte Triebabfuhr hinaus. Generell läßt sich sagen, daß Jüngers Kriegsverherrlichung, so seltsam das auf den ersten Blick auch erscheinen mag, nur eine extreme und radikale Variante jener Lebensideologie ist, die das implizite Wertsystem der Frühen Moderne prägt; dieses System kreist um das Konzept eines »erfüllten«, »emphatischen« Lebens.7 Wie bei Jünger ist solches emphatische Leben mit Erotik korreliert, zunächst in der Frühen Moderne eher mit »Liebe«, das heißt emotionalisierter Sexualität, später, zumal in der Neuen Sachlichkeit, gern auch mit entemotionalisierter Sexualität. Im Kampf als Orgasmus-Äquivalent erleben Jüngers Helden solches intensive Leben: Dann kam, nur dem Rassigsten vergönnt, der Rausch vor der eigenen Kühnheit. Es gibt nichts Tathafteres als den Sturmlauf auf Feldern, über denen des Todes Mantel flattert, den Gegner als Ziel. Das ist Leben im Katarakt. Da gibt es keine Kompromisse; es geht ums Ganze. (KiE, 51)
Das Stichwort Rausch ist in diesem Text rekurrent: »Rausch« kann der alkoholische, der sexuelle, der kriegerische sein. Im Kampf und seiner Mordlust kann dann der superlativische »Rausch über allen Räuschen« (KiE, 54) empfunden werden. »Rausch« bedeutet auch die Rückkehr in einen vorbewußten, vorindividuellen Zustand, in dem das Individuum die Selbsterfüllung in der Selbstaufgabe findet. Folgerichtig kann im Kampf die Menge der Individuen einer Armee zu einer neuen biologischen Einheit, einem »Organismus« (KiE, 85), also einem übergeordneten Individuum, werden; und im Kampf mit dem Feind können sogar beide Armeen laut Jünger zu einem »Super-Organismus« verschmelzen (KiE, 97 bzw. 99). »Leben im Katarakt« ist also der Kampf; und das heißt, daß hier, wie auch sonst gern in der Frühen Moderne, »Leben« mit »Ungestaltet-Amorphem«, mit »Wasser« und »Fließen« korreliert wird, im Katarakt eben mit gefährlichen Wasserfällen, mit »Wildem«, »Gefährlichem«, »Chaotischem«, »Unkontrolliertem«. Ganz konsequent wählt Jünger für Angriffe im Krieg dieselbe Metaphorik: da ist die Rede zum Beispiel vom »flutenden Angriffswirbel« (KiE, 51), der »Welle nach Westen« 7
Zum Modell des emphatischen Lebens vergleiche Marianne Wünsch, Das Modell der »Wiedergeburt« zu »neuem Leben« in erzählender Literatur 1890–1930. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Richter/Jörg Schönert, Stuttgart 1983, S. 379–408, und zur Lebensideologie: Lindner, Leben in der Krise.
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(KiE, 97), und »wir sind stolz, als erste Welle über die zertrommelten Gräben brausen zu dürfen« (KiE, 99). Wie auch sonst in der Frühen Moderne ist »Leben« in diesem Text in mehrfacher Weise mit »Blut« korreliert. Ein eigenes Teilkapitel heißt »Blut«; Blut fließt natürlich im Kampf, und Blut repräsentiert die Lebenskraft des Kämpfers: »Wenn das Blut durch Hirn und Adern wirbelte wie vor einer ersehnten Liebesnacht und noch viel heißer und toller« (KiE, 19). Wenn der Krieg ausbricht, heißt es, daß sich vor den Menschen »eine ungeheure Blutwelle« (KiE, 35) türmte. Das im Krieg erfahrene emphatische Leben erscheint einerseits als Regression auf Zustände der Primitivität und Animalität, wie sie etwa als frühe Kulturstufe am Beispiel der asiatischen Despoten fast schon verherrlicht werden, es erscheint andererseits als Sieg des »Geistes« über die »Materie«. Jünger redet zum Beispiel von »jene[r] einzige[n] Idee, die sich für Männer geziemt: daß die Materie nichts und der Geist alles ist« (KiE, 60). Zu den rekurrenten Formeln der Lebensideologie dieser Epoche gehört auch die Opposition »Geist« vs. »Leben«; was sich hier ideologisch ausschließt, wird in Jüngers Mythologie des Kampfes quasi identifiziert, wenn der Kampf sowohl Regression auf unbewußtes »Leben« als auch »Triumph des Geistes« ist. Daß emphatisches Leben hier nun im Krieg, der die Individuen mit Tod, also dem Ende des biologischen Lebens, bedroht, erfahren wird, ist nur die Extremisierung von etwas, was in der Lebensideologie der Frühen Modern angelegt war: Um des Wertes »emphatisches Lebens« willen mußte man im Extremfalle bereit sein, den Wert »biologisches Leben« zu opfern. Bei Jünger heißt es folglich: Es ist von tiefer Bedeutung, daß gerade das kräftigste Leben sich am willigsten opfert. Besser ist es, unterzugehen wie ein zersprühendes Meteor, als zitternd zu verlöschen. (KiE, 61) [...] dem drohenden Dunkel entgegenschreiten mit Kämpferkühnheit und wagender Lebenskraft. Sich nicht erschüttern lassen, lächeln bis zuletzt, und sei das Lächeln auch nur Maske vor sich selbst: das ist auch etwas. Mehr als überwindend sterben kann der Mensch nicht. (KiE, 72)
Der Kampf ist eine »rauschende Orgie« (KiE, 13) und im extremen Paroxysmus wird er sogar zum Fest: »Gleich beginnt das Fest, und wir sind seine Fürsten« (KiE, 73). Laut den Stahlgewittern sind dann auch die Stoßtruppführer die »Fürsten des Grabens«.8 Zu diesem seltsamen »Fest« kann denn auch ein »königliches Sterben« (KiE, 52) gehören. Aber auch »Rausch« und »Fest« im wahnsinnigen Morden erlauben eine weitere Steigerung: Ein letztes noch: die Ekstase. Dieser Zustand des Heiligen, des großen Dichters und der großen Liebe ist auch dem großen Mute vergönnt. Da reißt Begeisterung die Männlichkeit [...], daß das Blut kochend gegen die Adern springt und glühend das Herz durchschäumt. (KiE, 54) 8
Ernst Jünger, In Stahlgewittern. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Tagebücher I, Stuttgart 1978, S. 9–300, hier S. 226.
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Der Kampfzustand ist somit quasi äquivalent mit Dichtung, mit Liebe, mit einem religiösen Extremzustand. Er ist gewissermaßen Gottesdienst: Da fühlte ich, daß Dasein Rausch ist und Leben, wildes, tolles, heißes Leben ein brünstiges Gebet. (KiE, 66)
Wie Sexualität und Religion hier verknüpft werden, so kann Jünger auch Krieg und Religion verknüpfen. Zum Thema »Kampf« postuliert er: Und mit seiner mächtigsten Offenbarung, dem Kriege, ist es wie mit den Religionen. Die Menschheit betet zu vielen Göttern, in jedem Gott äußert sich die Wahrheit in einer besonderen Form. Der echte Ring ging nicht verloren, das ist ein demokratisches Geschwätz. Solange es Eigenarten gibt, wird es auch verschiedene Ringe geben müssen. (KiE, 50)
Hier äußert sich natürlich Jüngers Aversion gegen die Aufklärung, hier am Beispiel von Lessings Ringparabel. Was die religiöse Position des Textes betrifft, so ist sie offenkundig relativistisch und synkretistisch. Wie an anderen Stellen des Textes gelegentlich von »Göttern« oder von einer »Gottheit« oder von Hegels »Weltgeist« gesprochen werden kann, so wird hier im Zitat gesetzt, daß es nicht die eine wahre Religion gebe, sondern in allen Religionen etwas Wahres sei. Was dieses »Wahre« ist, bleibt unspezifiziert. Verbal wird eine Sakralisierung vorgenommen, deren ideologischer Gehalt Leerstelle bleibt. Jünger setzt: Der Kampf ist immer noch etwas Heiliges, ein Gottesurteil über zwei Ideen. (KiE, 49)
Diese Behauptung wäre dem Postulat eines Sinnes des Krieges äquivalent; denn in einem »Gottesurteil« würde ja über die Wahrheit einer Behauptung bzw. über die Rechtmäßigkeit eines Anspruchs entschieden. Nun haben wir aber schon an anderer Stelle erfahren, daß die »Idee«, für die man kämpft, falsch sein mag, weswegen denn eben »die Sache nichts und die Überzeugung alles ist« (KiE, 100). Die Sakralisierung ist eine nur verbale, und die Worte bleiben semantisch leer. Das sinnlos mörderische Geschehen wird sprachlich überhöht, ohne daß das religiöse Vokabular einen erkennbaren Sinn hätte. Ein »Sinn« wird lexikalisch postuliert, aber semantisch nicht eingelöst; so hatte sich ja auch zum Beispiel das expressionistische Drama gern und oft aus einem entleerten religiösen Vokabular bedient. Eine auffällige Formulierung sei noch hervorgehoben: Ich fühle mit unzweifelhafter Klarheit, daß irgendein fremder Sinn, eine furchtbare Bedeutung hinter allem Geschehen lauert. (KiE, 67)
Der Satz könnte so auch in all den fantastischen Erzähltexten der Frühen Moderne seit Meyrinks Der Golem stehen. Ein »Sinn« wird hier nicht erkannt, sondern gefühlt; er ist ein »fremder Sinn«, der sich dem Subjekt nicht erschließt, ein »Sinn«, den zu kennen nicht wünschenswert erscheint, da er bedrohlich ist (»eine furchtbare Bedeutung«). Ein bedrohlicher »Sinn« könnte aber nur ein solcher sein,
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der zentrale Denkkategorien oder Werte des Subjekts in Frage stellt: folglich ein »Sinn«, der kein akzeptabler »Sinn« wäre. Ein nicht akzeptabler »Sinn« ist für das Subjekt einer »Sinnlosigkeit« äquivalent. Daß das Stichwort der »Idee« sich im Text einiger Rekurrenz erfreuen darf, gehört wohl ebenso in den Prozeß semantischer Entleerungsprozesse. Im ideologischen Geschwätz der deutschen Kriegsfans gab es bekanntlich das Gerede von den »Ideen von 1914«, die man freilich schon damals nicht zu präzisieren wußte; Jüngers Text führt vor, wie Kriegsverlauf und Kriegsende solche Phrasen restlos entleert haben. Die scheinreligiösen Formeln liefern hymnisch-pathetische Bekenntnisse aus Versatzstücken einer leeren Metaphysik. Wie in den anderen Kriegstexten Jüngers bleibt auch hier der Krieg ohne jede rationale Begründung: Ursachen und Kontexte bleiben ausgespart, bleiben Nullposition. Der Krieg ist einfach da, als würde er sich selbst generieren. Er erscheint als außerzeitlich anthropologische Invariante: etwas, das es immer gegeben hat und immer geben wird. Die Frage einer Kriegsschuld gibt es somit für Jünger nicht: der Krieg entsteht quasi aus eigenem Recht. Er bedarf keiner Rechtfertigung, er ist sich selbst genug: Der Krieg ist ebensowenig eine menschliche Einrichtung wie der Geschlechtstrieb; er ist ein Naturgesetz, deshalb werden wir uns niemals seinem Banne entwinden. (KiE, 40)
Wo nationalistischer Schwachsinn seit dem 19. Jahrhundert etwa vom »französischen Erbfeind« faselt, da ist Jünger – für seine Zeit erstaunlich – offenkundig von jedem Nationalismus frei. Er kann somit Kriegsgegner auch für deren »Heldentum« achten und ehren. Deutsch-französische militärische Auseinandersetzungen erscheinen ihm sogar für beide Staaten positiv und wünschenswert: Noch eins. Was wären wir ohne diese verwegene und rücksichtslose Nachbarschaft, die uns alle fünfzig Jahre den Rost von den Klingen fegt? Europa als Flachland, grün und beweidet, soviel gutmütige Tiere darauf, als irgend fressen können: Solange germanisches und gallisches Blut durch Herzen und Hirne kreist, wird dieser Kelch an uns vorübergehen. Und gar, in den Kampf zu schreiten, diese Erkenntnis der Notwendigkeit und des Wertes des Gegners im Hintergrunde, das bedeutet einen ritterlichen Genuß besonderer Art. Doch die Hochkultur des Kampfes ist lange dahin, auch am Spiel über Leben und Tod darf sich die Masse beteiligen, und sie hat ihre Instinkte nicht zu Hause gelassen. (KiE, 62)
Eine Opposition »Deutsch« vs. »Französisch« ist ideologisch für Jünger nicht relevant; relevant ist hingegen die Opposition zwischen den »ritterlichen« Kämpfern und den demokratischen »Massen«, den Herden »gutmütiger Tiere«, wie er sie quasi nietzscheanisch nennt, also die Opposition zwischen »aristokratischer Elite« und »demokratischem Pöbel«, gleich welcher Nation.9 Die Relation zwischen dem Krieg, der gelegentlich personifiziert wird, und den Kriegern ist merkwürdig zirkulär: 9
Vgl. zu Masse vs. Elite Isabelle Rozet, L’élite dans l’œuvre d’Ernst Jünger. In: Les Carnets. Revue du Centre de Recherche et de Documentation Ernst Jünger, 1: Visions et Visages d’Ernst Jünger, 1996, S. 169–187.
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Der Krieg, aller Dinge Vater, ist auch der unsere; er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind. (KiE, 11) [...] Indes: Nicht nur unser Vater ist der Krieg, auch unser Sohn. Wir haben ihn gezeugt und er uns. Gehämmerte und Gemeißelte sind wir, aber auch solche, die den Hammer schwingen, den Meißel führen, Schmiede und sprühender Stahl zugleich, Märtyrer eigener Tat, von Trieben Getriebene. (KiE, 12)
Die Familienmetaphorik impliziert hier einen doppelten Sexualakt, bei dem der Krieg die Krieger, und die Krieger den Krieg »gezeugt« haben. Gemeint scheint eine Art Rückkoppelungsprozeß: ein unmotiviert und grundlos auftretender Krieg generiert die Krieger, die in der Folge den Krieg prägen. Auffällig und rekurrent ist die Metaphorik: der Mensch wird »gehämmert, gemeißelt und gehärtet«, er ist Objekt eines Aktes des Geschmiedetwerdens und schmiedet seinerseits: »denn wir sind in der Schmiede der Schlachten zu gleichmütigen und feuerharten Naturen geglüht« (KiE, 75) und: Dieser Krieg ist nicht das Ende, sondern der Auftakt der Gewalt. Er ist die Hammerschmiede, in der die Welt in neue Grenzen und neue Gemeinschaften zerschlagen wird. (KiE, 73)
Aus biologischen Lebewesen werden also in der Metaphorik Waffen geschmiedet; es entstehen feste und starre Strukturen, von denen gesagt wird, daß sie ihrerseits hämmern und meißeln, also wiederum Festes und Starres erzeugen. Diese Metaphorik hat eine Vorgeschichte, die spätestens mit einem Vers von Goethes Prometheus einsetzt: »Hat nicht mich zum Manne geschmiedet/Die allmächtige Zeit«.10 Als zur Allegorie ausgebaute Metapher findet sich dieses Modell, daß ein Wesen in einer Schmiede im Feuer glühend gemacht, dann zur starren Form gehämmert, schließlich abgefeilt und angebohrt wird, in einem skurrilen Text: Karl Mays Drama Babel und Bibel (1906), 1. Akt, Vers 805–851.11 Solches Gehämmert- und Geschmiedetwerden impliziert zum einen Fremdbestimmtheit, bei der der Mensch heteronomes Objekt ist. Insoweit steht es in Opposition zu jenem Anspruch auf Selbstverwirklichung im Kriegertum, den Jünger erhebt, und insofern entlarvt es auch seine eigene Selbststilisierung zum souveränen Herrenmenschen als erfolgreich verinnerlichtes Sklaventum. Diese »Fürsten des Festes« sind ja nur die Handlanger der eigentlichen Machthaber, mit denen er sich aber – auch wenn die Vorbehalte implizit bleiben – nur bedingt identifiziert. Denn es gibt eine merkwürdige Stelle in unserem Text, wo ausgeführt wird, Alexander, Cäsar, Friedrich II., Napoleon hätten, wenn eine Schlacht verlorenzugehen drohte, sich jeweils an vorderster Front gezeigt (KiE, 53). Derlei erscheint sogar als Pflicht von »Fürsten«, durch die allein die Identifikation der Krieger mit der »Idee« möglich werde. Sofern die »Fürsten« 10
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Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Bd. 1, hg. von Erich Trunz, 7. Aufl., Hamburg 1964, S. 46, V. 43 f. Zitiert nach Arno Schmidt, Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk und Wirkung Karl Mays, Frankfurt/M. 1969 (Fischer Taschenbuch Verlag 968), S. 17 f.
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diese Pflicht nicht erfüllen, »stellt sich heraus, daß Führer und Idee nicht mehr mit Notwendigkeit verbunden sind« (KiE, 53). Und natürlich ist Jünger nicht entgangen, daß Wilhelm II., Hindenburg, Ludendorff niemals in vorderster Front, im Schützengraben, erschienen sind, sondern nur in der sicheren Etappe. Dieses Gehämmert- und Geschmiedetwerden impliziert zum anderen eben, daß eine feste und starre Form entsteht: nun haben wir aber gesehen, daß emphatisches Leben metaphorisch als Flüssiges und Fließendes repräsentiert wird, »Leben« somit in Opposition zum Festen und Starren steht, was auch sonst in der Frühen Moderne gilt. So wird etwa diese Opposition des Starren und Festen, äquivalent mit »Nicht-Leben«, vs. »Leben«, äquivalent mit Nicht-Einengung, mit der Negation zwanghafter Formen, mit Beweglichkeit, in Unruhs Drama Ein Geschlecht (1917) ebenfalls aufgebaut, und es sind die »Soldatenführer«, die den Negativwert der starren Form gegen den Positivwert des Lebens eingangs vertreten. Jünger zufolge war die Vorkriegswelt denn auch tatsächlich eine solche der erstarrten Formen: Wir waren die Taglöhner einer besseren Zeit, wir haben das erstarrte Gefäß einer Welt zerschlagen, auf daß der Geist wieder flüssig werde. Wir haben das neue Gesicht der Erde gemeißelt, mögen es auch noch wenige erkennen. (KiE, 50)
Der Krieg wird also als ein ideologisch revolutionäres Ereignis gedacht, das eine Zeitenwende zu einem besseren Zustand einleitet. Erstarrtes soll wieder flüssig werden, also als Nicht-Leben Empfundenes in »Leben« transformiert werden. Diejenigen aber, die diese Verflüssigung unbewußt bewerkstelligen, werden dabei ihrerseits in der »Schmiede des Krieges« zur erstarrten Form und produzieren selbst Erstarrtes, wenn sie »das Gesicht der Erde« neu meißeln. Es scheint nicht, daß Jünger den Widerspruch zwischen den beiden letzten Sätzen des Zitats realisiert hat; es scheint auch nicht, daß er den Widerspruch zwischen dem Harten und Starren des Kriegertums und dem Wunsch nach flüssigem und fließendem Leben reflektiert hat. Was sich hier in der Metaphorik des Redens abspielt, ist eine unaufhebbare Paradoxie, ein unauflösbares Dilemma der Ideologie dieses Textes: Was der zerstörende Krieg angeblich zeugt, ist und bleibt im Text eben Zerstörung – ein neues »emphatisches Leben« zeichnet sich nirgendwo ab. Jüngers Krieger empfindet ein solches zwar im Vernichten, aber das bleibt sein privater Orgasmus, der nichts Neues außerhalb seiner hervorbringt. Wie schon in der lyrischen oder prosaischen Kriegsverherrlichung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa anhand des Krieges von 1870/71, wird auch bei Jünger sprachlich ein längst fiktives und archaisches Krieger-ideal konstruiert, das von der Realität längst überholt ist. Die ideale Form des Kampfes ist für Jünger der Kampf Mann gegen Mann, von Angesicht zu Angesicht, der sich gelegentlich noch in Stoßtruppunternehmen realisieren läßt. Der Kampf an der »Westfront« ist aber – und das wissen sowohl die Kriegsromane der Epoche als auch Jüngers Kriegstexte, inklusive des unseren – dominant eben die Materialschlacht, bei der
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man sich mit gewaltigen Geschützen beharkt, ohne je des Gegners ansichtig zu werden, und wo man aus Schützengräben blindwütig auf unsichtbare Ziele feuert. Jünger weiß das natürlich: Der Kampf der Maschinen ist so gewaltig, daß der Mensch fast ganz davor verschwindet […]. Der Kampf äußerte sich als riesenhafter, toter Mechanismus und breitete eine eisige, unpersönliche Welle der Vernichtung über das Gelände. (KiE, 102)
Und dennoch versucht er seine Fiktion des Kriegertums zu retten: »Und doch: hinter allem steckt der Mensch. Er gibt den Maschinen erst Richtung und Sinn« (KiE, 102), doch den gewünschten Kampf Mann gegen Mann kann er nicht dadurch retten, daß natürlich ein Kanonier, ein Flieger, ein Panzerfahrer die jeweiligen Maschinen bedienen. Wie in den Stahlgewittern wird auch in unserem Text die im Verlauf des Krieges zunehmende Dominanz der Maschinen sichtbar; nicht zufällig häufen sich die Aussagen zur Relevanz der Technik am Ende des Textes, wenn es gewissermaßen zum Endkampf kommt. So schwärmt er etwa davon, daß das Kampfgeschehen die »Präzision von Maschinen« habe und daß der »heiße Wille des Blutes« sich »durch die Beherrschung von technischen Wunderwerken der Macht« ausdrücke (KiE, 103). Nicht zufällig gibt es denn auch einige Stellen im Text, wo die Tätigkeit der Krieger als »Arbeit« benannt wird, was auf den im übrigen zehn Jahre späteren Text Der Arbeiter verweist.12 »Arbeiter« ist zwar semantisch bestens kompatibel mit der Bedienung von »Maschinen«, schwerlich aber mit dem Konzept eines rauschhaft-orgiastischen Kriegertums. Auch das Auftreten des Lexems »Arbeit« ist also im Grunde ein Indikator dafür, daß Jünger weiß, oder doch zumindest wissen kann, daß sein Modell des emphatischen Kriegertums längst gescheitert ist und der Vergangenheit angehört. Auch das Lexem Macht häuft sich in diesem Kontext, wobei – vgl. »der Wille zum Kampf und zur Macht« (KiE, 103) – natürlich notwendig wieder an Nietzsche und vermutlich auch an Carl Schmitt zu denken ist. Er schwadroniert denn auch über die »erhabene Sprache der Macht« (KiE, 50): »Und daß diese Sprache nur von wenigen verstanden wird, das macht sie vornehm« (KiE, 51) – und das Lexem »vornehm« verweist intertextuell zweifellos noch einmal auf Nietzsche. Die expressionistische, ungemein tropenreiche Sprache unseres Textes ist vermutlich in der Tat die einzige Sprache, in der eine solche extreme Stilisierung des Mordens zu positiv-emphatischem Leben und Selbstverwirklichung möglich war. Denn dieser – in seiner Verherrlichung von Vernichtung und Untergang nun schon psychopathische oder soziopathische – Text funktioniert so, daß er sich unterschiedlichster ideologischer und literarischer Inventare bedient. Diese sind sozusagen die Paradigmen, aus denen er Elemente auswählt: Versatzstücke, die dann in einer Rekombination neu verknüpft werden. So sind im Text Elemente präsent, 12
Vgl. zum Arbeiter Marianne Wünsch, Ernst Jüngers Der Arbeiter. Grundpositionen und Probleme. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/ New York 2004, S. 459–475.
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die aus dem von der Literatur des Realismus aufgebauten Wertsystem »Mannsein« stammen,13 bei dem das Ich als System aus starren Abgrenzungen nach außen und innen konstruiert wird. Auch theoretische Diskurse des späten 19. Jahrhunderts liefern wesentliche Elemente dieses Jüngerschen Baukastensystems: Auf den Sozialdarwinismus und, relevanter noch, auf Nietzsche, habe ich ja schon hingewiesen. Der Frühen Moderne, seiner eigenen Epoche, im allgemeinen entnimmt er alles, was mit dem Komplex »Leben« korreliert ist, dem Expressionismus im besonderen verdankt er wohl nicht zuletzt die Konzepte von »Tat« und »Opfer«, zudem das Konzept des »neuen Menschen«. Die archaische Form vom Krieger ist natürlich ebenso durch eine lange literarische und theoretische Tradition geprägt. Der religiöse Diskurs liefert Vokabeln eines sinnentleerten ideologischen Überbaus. Die Liste könnte fortgesetzt werden; für meinen Zweck reichen die angedeuteten Beispiele. Die aus unterschiedlichen ideologischen Kontexten übernommenen Elemente so zu rekombinieren, daß ihre Differenzen verschleiert werden und zumindest oberflächlich der Eindruck einer Kompatibilität erzeugt wurde, konnte, so meine These, nur geleistet werden durch die Wahl einer expressionistischen Sprache. Nur der Gebrauch unzähliger Tropen, insbesondere Metaphern, ermöglicht die Fiktion scheinbarer Verschmelzung des Heterogenen zur Einheit. Das Metaphernsystem überdeckt auch die vielen argumentativen Nullpositionen des Textes, und diese Verschleierung ist unbedingt notwendig, da diese Nullpositionen nicht aufgefüllt werden dürfen, soll nicht Jüngers System gesprengt werden. Um nur ein Beispiel zu geben: Jede rationale Diskussion der Ursache des Kriegsausbruchs würde die Fiktion des sich selbst aus eigener Macht erzeugenden Krieges und die Fiktion des Krieges als Selbstzweck radikal zerstören. Lohnend wäre zweifellos, was ich hier nicht leisten kann, eine detaillierte Analyse des Metaphernsystems und der metaphorischen Klammerung des logisch nicht Verknüpften. Meinem ersten Eindruck zufolge finden sich unter den Metaphern oder auch sonstigen Tropen des Textes nicht wenige Katachresen: sie wären ein Indiz dafür, daß hier zusammengezwungen wird, was nicht zusammengehört. Die Wahl einer expressionistischen Sprache, also einer Sprache, in der der im rhetorischen Sinne »uneigentliche Ausdruck« dominiert, ist aber nicht nur funktional für die Verschmelzung der heterogenen Versatzstücke, sondern sie bietet eben auch die Möglichkeit, ein Sinnpostulat aufzustellen, ohne es zu erfüllen: Konnotationsräume werden eröffnet, deren genauer Inhalt und vor allem deren Grenzen unbestimmt bleiben.
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Zum Modell »Mannsein« vgl. Michael Titzmann, Die Konzeption der »Germanen« in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. von Jürgen Link/Wulf Wülfing, Stuttgart 1991 (Sprache und Geschichte 16), S. 118–143.
Ideologische Konzepte in Ernst Jüngers Der Kampf als inneres Erlebnis
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Literatur Goethe, Johann Wolfgang von: Werke, Bd. 1, hg. von Erich Trunz, 7. Aufl., Hamburg 1964. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. 18 Bde. u. vier Supplementbände, Stuttgart 1978–2004. Ketelsen, Uwe-K.: »Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Voraussetzungen.« Zu Ernst Jüngers Die totale Mobilmachung (1930) und Der Arbeiter (1932). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 77–95. Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen [1895]. Mit einer Einführung von P. R. Hofstätter, 15. Aufl., Stuttgart 1982 (Kröners Taschenausgaben 99). Lindner, Martin: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart/Weimar 1994 (Metzler-Studienausgabe). Martus, Steffen: Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001 (Sammlung Metzler 333). Müller, Hans-Harald: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986. Müller, Hans-Harald: »Im Grunde erlebt jeder seinen eigenen Krieg«. Zur Bedeutung des Kriegserlebnisses im Frühwerk Ernst Jüngers. In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Harald Müller/Harro Segeberg, München 1995, S. 13–37. Prümm, Karl: Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918–1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik, 2 Bde. Kronberg/TS. 1974 (Theorie – Kritik – Geschichte 3.1/3.2). Rozet, Isabelle: L’élite dans l’œuvre d’Ernst Jünger. In: Les Carnets. Revue du Centre de Recherche et de Documentation Ernst Jünger, 1: Visions et Visages d’Ernst Jünger, 1996, S. 169–187. Schmidt, Arno: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk und Wirkung Karl Mays, Frankfurt/M. 1969 (Fischer Taschenbuch Verlag 968). Segeberg, Harro: Regressive Modernisierung. Kriegserlebnis und Moderne-Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk. In: Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes »Arbeit« in der deutschen Literatur (1770–1930). Dokumentation einer interdisziplinären Tagung in Hamburg vom 16. bis 18. März 1988, hg. von Harro Segeberg, Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 34), S. 337–378. Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt/ M. 1977. Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Bd. 2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des Weißen Terrors, Frankfurt/M. 1978. Titzmann, Michael: Die Konzeption der »Germanen« in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. von Jürgen Link/Wulf Wülfing, Stuttgart 1991 (Sprache und Geschichte 16), S. 118–143. Wünsch, Marianne: Das Modell der »Wiedergeburt« zu »neuem Leben« in erzählender Literatur 1890–1930. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Richter/Jörg Schönert, Stuttgart 1983, S. 379–408. Wünsch, Marianne: Ernst Jüngers Der Arbeiter. Grundpositionen und Probleme. In: Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin/New York 2004, S. 459–475.
Personenregister Alberti, Leon Battista 76, 80 Alexander der Große 475 Alighieri, Dante 298 Altheim, Franz 94 Alwens, Ludwig 444 Andersch, Alfred 256 Angiolieri, Cecco 298 Ansel, Michael 175 Arendt, Hannah 157 Aristoteles 153, 157f., 369 Arnim, Achim von [eigentl. Arnim, Carl Joachim Friedrich Ludwig von] 28 Austin, John Langshaw 278f. Bach, Johann Sebastian 102 Bachmann, Ingeborg 256 Bachofen, Johann Jakob 11, 21, 27, 31, 95, 358f. Bacon, Francis 170 Baeumler, Alfred 11, 27, 95, 438 Balthasar, Hans Urs von 116 Balzac, Honoré de 111 Banine [eigentl. Umm-El-Banine Assadoulaeff] 307 Barlösius, Eva 403 Barrès, Maurice 142 Barthes, Roland 290, 293–296 Baudelaire, Charles 46 Becher, Johannes R. 128, 439 Beethoven, Ludwig van 95, 102 Beltran-Vidal, Danièle 1, 397 Benedetti, Andrea 9 Benjamin, Walter 39, 206, 220, 336, 339, 344, 442, 452f. Benn, Gottfried 112, 163, 175, 438, 459 Benninghoff-Lühl, Sibylle 37 Bense, Max 177 Beretta, Stefano 57 Berger, Bruno 166 Berggötz, Sven Olaf 121, 309, 337, 345 Berija [eigentl. Beria, Lawrenti] 238 Berlin, Isaiah 78 Beste, Konrad 256 Beumelburg, Werner 441 Bie, Richard 449 Biller, Maxim 386 Blüher, Hans 112, 121, 142f. Bluhm, Lothar 39, 46
Boehm, Max Hildebert 449 Boerner, Peter 283 Boethius [eigentl. Anicius Manlius Severinus Boethius] 424 Böhme, Gernot 248 Bohrer, Karl Heinz 46, 140, 167, 173, 178, 442 Böll, Heinrich 352 Bolz, Norbert 442 Bonaparte, Napoleon 31, 475 Bonaventura [eigentl. Fidanza, Giovanni di] 27 Borchardt, Rudolf 393 Bosch, Hieronymus [eigentl. Aken, Jheronimus van] 299 Bosincu, Mario 71, 265 Bossert, Helmuth Theodor 210f. Brandes, Wolfgang 289, 301 Braun, Lily 127 Brecht, Bertolt 387 Brentano, Clemens 28 Broch, Hermann 175 Broich, Ulrich 298 Brokoff, Jürgen 442 Bronnen, Arnolt 91, 93, 95 Bühler, Axel 282 Burkert, Walter 116 Caesar [eigentl. Gaius Iulius Caesar] 475 Canetti, Elias 53 Carlyle, Thomas 265 Cassirer, Ernst 340 Chateaubriand, François-René de 27, 308 Christians, Heiko 238 Claudian [eigentl. Claudianus, Claudius] 51 Conte, Domenico 89 Cordan, Wolfgang [eigentl. Horn, Heinrich Ewald Wolfgang] 25 Crescenzi, Luca 330 Creuzer, Georg Friedrich 21 Crick, Francis 26 Croce, Benedetto 94 Dahn, Felix 385 Darwin, Charles 142 Degas, Edgar 2 Dehmel, Richard 215 De Martino, Ernesto 94 Dempewolf, Eva 47 Descartes, René 18, 77, 444
https://doi.org/10.1515/9783110279795-024
482 Dewitz, Bodo von 216f. Diderot, Denis 77 Döblin, Alfred 146 Dostojewski, Fjodor 174, 183 Ducasse, Isidore 3 Dwinger, Edwin Erich 146 Eco, Umberto 272–278, 285, 298, 300 Einstein, Albert 386 Eliade, Mircea 24, 107ff., 114f. Elias, Norbert 74 Encke, Julia 206f. Enzensberger, Hans Magnus 256 Epiktet 73 Ernst, Max 47 Eschmann, Ernst Wilhelm 25 Esselborn, Hans 395 Euringer, Richard 441 Evola, Julius 107, 111–116 Feuchtwanger, Lion 387 Fidus [auch Höppener, Hugo Reinhold Karl Johann] 216 Fischer, André 271 Fischer, Hugo 12, 19, 111, 454, 456ff. Fleischmann, August 213 Foerster, Wolfgang 210f. Foucault, Michel 72f., 260 Frank, Manfred 109 Freud, Sigmund 85, 96f., 379, 395, 470 Friedrich II. 475 Frisch, Max 352 Frobenius, Leo 89 Fuest, Leonhard 82 Gaede, Friedrich 18 Ganghofer, Ludwig 387 Genette, Gérad 290, 295 George, Stefan 264 Glaeser, Ernst 396 Gloning, Thomas 121 Gnoli, Antonio 227 Goebbels, Joseph 388, 436, 438 Goethe, Johann Wolfgang von 40, 44, 58, 80, 111, 153, 159–162, 164, 171f., 175, 237, 242, 247, 284, 358, 399, 420, 475 Goldberg, Oskar 101 Goldschmidt, Alfons 451 Gorgone, Sandro 153, 397f., 402 Göring, Hermann 388 Görres, Joseph 9, 19, 21, 27–31, 95 Grabowsky, Adolf 458 Gracián, Baltasar 186, 190 Grewendorf, Günther 281
Personenregister Griese, Friedrich 256 Grosse, Siegfried 146 Grottanelli, Cristiano 107 Gruenter, Rainer 167ff. Gschwind, Hermann 79 Guénon, René 107, 114 Guérin, Maurice de 27 Guerra, Gabriele 107 Gutmann, Helmut J. 394f., 400, 410 Gutzkow, Karl 175 Hagestedt, Lutz 118, 163 Hamann, Johann Georg 13f., 21, 51, 164, 177, 264 Hamsun, Knut 256 Hannibal 363 Harich, Wolfgang 439ff. Harnack, Arvid 458 Hassam, Andrew 283 Hebel, Johann Peter 344 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 17, 109f., 171, 230, 473 Heidegger, Martin 154f., 157, 225–231, 441ff., 459 Heraklit 470 Herder, Johann Gottfried 10, 27, 29, 177, 341 Herodot 107, 343 Hesse, Hermann 111f., 146, 181, 199–202 Heym, Georg 387 Hielscher, Friedrich 456 Hiller, Kurt 440 Hindenburg, Paul von 476 Hitler, Adolf 31, 111, 238, 345, 387f., 436, 437–441, 451, 459f. Hobbes, Thomas 18, 358 Hochhuth, Rolf 352 Hocke, Gustav René 343 Hoetzsch, Otto 458 Hoffmann, Detlef 216f. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus [eigentl. Hoffmann, Ernst Theodor Wilhelm] 57, 66, 183 Hohenzollern, Wilhelm von 213f. Hölderlin, Friedrich 9, 15, 19, 23f., 30, 231 Homer 177 Ibel, Rudolf 449 Iser, Wolfgang 272, 283 Jaeger, Michael 435 Jang, Sung-Hyun 393 Jaspers, Karl 441 Jauß, Hans Robert 272
Personenregister Jean Paul [eigentl. Richter, Johann Paul Friedrich] 171 Jung, Carl Gustav 304, 395 Jung, Edgar 112 Jünger, Friedrich Georg 11, 15, 24, 28, 95ff., 248, 454, 456, 459 Jünger, Fritz Friedrich 265 Jünger, Gretha 287, 303, 306–309, 312 Kaempfer, Wolfgang 393 Kafka, Franz 263 Kahr, Gustav von 387 Kandinsky, Wassily 47 Kant, Immanuel 444 Kéreny, Károly 25 Ketelsen, Uwe-K. 436 Kiesel, Helmuth 110, 187, 193, 256, 288, 290, 301, 305, 351, 393, 443 Kindt, Tom 284 Kisch, Egon Erwin 451 Klages, Ludwig 340 Klee, Paul 47 Kleist, Heinrich von 3, 22, 174 Klett, Ernst 25 Köhler, Kai 166 Koschorke, Albrecht 436 Koslowski, Peter 442 Kracauer, Siegfried 178, 336, 340, 344 Krah, Hans 332 Kramer, Franz Albert 451 Kranz, Gisbert 51 Krause, Friedrich 98 Krieck, Ernst 441 Krömer, Felix 305 Kubin, Alfred 94 Kubitschek, Götz 265 Kunicki, Wojciech 206 Kurz, Gerhard 285 Laak, Dirk van 117 Lang, Fritz 165 Lavater, Johann Caspar [auch Lavater, Kaspar] 237, 239, 253, 340 Le Goff, Jacques 75 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18 Lenin, Wladimir Iljitsch 451, 457 Leopardi, Giacomo 94 Lesker, Stephan 181 Lessing, Gotthold Ephraim 393, 473 Lessing, Theodor 52 Lethen, Helmut 116, 182, 185, 338, 442 Lichtenberg, Georg Christoph 171, 237
483 Lichtenstein, Alfred 214 Lindner Martin 169, 181ff., 396, 408 Linné, Carl von 243, 371, 382 Long, Jonathan J. 206 Lord Byron [eigentl. Byron, George Gordon] 27 Löwy, Michael 78 Lucilius [eigentl. Gaius Lucilius] 73 Ludendorff, Erich 387, 476 Lukács, Georg 64, 75, 79, 83, 441, 450, 456 Lukianos [auch Lukian von Samosata] 369 Maengel, Manfred 442 Magenau, Jörg 248 Manet, Édouard 2 Mann, Golo [eigentl. Mann, Angelus Gottfried Thomas] 451 Mann, Heinrich 93, 364 Mann, Thomas 89–103, 144, 175, 266, 299, 352, 364, 454 Manthey, Jürgen 436 Marcuse, Herbert 79 Martus, Steffen 38, 255, 431 Marx, Karl 75f., 171, 436 Mattenklott, Gert 242, 257 Matthes, Ulrich 347 May, Karl 475 Mergenthaler, Volker 205 Meuer, Marlene 74 Meyer, Agnes 97 Meyer, Martin 157, 442 Meyer-Kalkus, Reinhart 206f. Meyrink, Gustav 473 Mirbeau, Octave 46 Moeller van den Bruck, Arthur 121, 142f., 454 Mohler, Armin 265 Monet, Claude 2 Montaigne, Michel de 164 Morat, Daniel 443 Moretti, Giampiero 225 Müller, Hans-Harald 284 Müller, Maik M. 233 Mumford, Lewis 75 Musil, Robert 175 Nebel, Gerhard 25 Neumann, Michael 206f. Niekisch, Ernst 94, 97, 450, 454–459 Nietzsche, Friedrich 2, 6, 24–27, 30f., 71f., 94, 97f., 121, 142ff., 154f., 164, 170, 226–231, 256f., 366, 382, 436, 444, 468f., 477f. Nolte, Ernst 352
484 Novalis [eigentl. Georg Philipp Friedrich von Hardenberg] 1, 3, 9, 15, 19–23, 27, 30, 60, 63, 65, 80f., 97, 260, 262f., 304 Ocaña, Enrique 206 Öhlschläger, Claudia 47 Ossietzky, Carl von 450 Otto, Walter Friedrich 21 Patt, Walter 170f. Penke, Niels 255 Paetel, Karl Otto 455 Papen, Franz von 112 Pellegrini, Alessandro 114 Peregrinus [auch Peregrinus Proteus] 369 Petersdorff, Dirk von 110 Petrarca, Francesco 74, 77, 81 Pfaff, Patrick 271 Picasso, Pablo 47 Pickerodt, Gerhart 67 Pintor, Giaime 114 Platon 442, 444 Poe, Edgar Allan 173, 426 Pohlenz, Max 72 Porto, Petra 321 Preetorius, Emil 101 Proust, Marcel 297 Quinton, René 42 Radek, Karl 455 Rauschning, Hermann 439 Ravoux, Sophie 287, 303, 305, 308, 311 Reinmüller, Inge 394 Renger-Patzsch, Albert 342 Renoir, Pierre-Auguste 2 Riedel, Nicolai 205 Rilke, Rainer Maria 227ff., 231 Rilla, Paul 440 Rimbaud, Arthur 39, 44 Rivarol, Antoine de 164, 177 Rosenberg, Alfred 441 Rossetti, Gabriele 298 Roth, Joseph 387 Rousseau, Jean-Jacques 77f., 82, 85, 177 Rundt, Arthur 451 Runge, Philipp Otto 267, 270 Sader, Jörg 300, 303 Salomon, Ernst von 165f., 455 Sánchez Durá, Nicolás 205 Sayre, Robert 78 Schauwecker, Franz 137, 142f., 146 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 266 Schiller, Friedrich 7, 79, 385
Personenregister Schlegel, Friedrich 22f., 27, 57f., 62, 64–68, 71, 81f., 84f., 167, 169, 255, 263, 266 Schlichter, Rudolf 306 Schlöndorff, Volker 347 Schmidt, Arno 352 Schmitt, Carl 107, 111, 115, 117, 121, 142f., 230, 257, 265, 293, 335, 343, 366, 441, 456, 459, 477 Schmitz, Hermann 248 Schnitzler, Arthur 354 Scholdt, Günter 110 Schopenhauer, Arthur 24, 164, 444 Schöttker, Detlev 335 Schreber, Daniel Gottlob 53 Schröter, Olaf 442 Schultz, Edmund 90 Schweyer, Franz 31 Searle, John 278f. Seferens, Horst 437 Segeberg, Harro 442 Seneca [eigentl. Lucius Annaeus Seneca] 72–78, 85f. Shakespeare, William 175 Simmel, Georg 178, 340 Sina, Kai 255 Sombart, Nicolaus 142f. Sombart, Werner 76, 79, 81, 450 Spengler, Oswald 93, 95, 101, 121, 142ff., 160, 300, 303, 366, 436, 442, 450, 454, 456 Stalin, Josef 388, 452, 455, 458 Stanzel, Franz Karl 353 Sterne, Lawrence 44 Stiegler, Bernd 206f., 218 Stifter, Adalbert 175, 260, 355 Stöckmann, Ingo 238 Strasser, Otto 455 Streim, Gregor 394f., 399 Strube, Werner 276–282, 315 Stülpnagel, Carl-Heinrich von 346 Stülpnagel, Otto von 43, 346f. Suck, Titus T. 396f. Suetonius [eigentl. Gaius Suetonius] 359 Suhrkamp, Peter 111 Theweleit, Klaus 47, 359 Thoma, Ludwig 387 Thoreau, Henry David 260 Tieck, Ludwig 58 Titzmann, Michael 276, 351, 395
Personenregister Toller, Ernst 451 Toulmin, Stephen 281f., 315 Trakl, Georg 1 Trawny, Peter 264, 345, 435 Treichel, Hans-Ulrich 399 Trier, Jost 291 Troeltsch, Ernst 95 Ulbricht, Ricardo 393 Unruh, Fritz von 476 Valentin, Karl 387 Vesper, Will 450 Villon, François 299, 358 Volpi, Franco 227 Vondung, Klaus 442 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 80 Waggerl, Karl Heinrich 256 Warburg, Abraham Moritz [auch Warburg, Aby] 340 Waßner, Rainer 415 Watson, James 26
485 Weber, Jan Robert 233, 435 Weber, Max 101, 154, 442 Weinrich, Harald 189 Weiß, Konrad 115 Werneburg, Brigitte 206f. Werth, Christoph H. 436 Weyrauch, Wolfgang 440 Whitman, Walter [auch Whitman, Walt] 97 Wiechert, Ernst 256 Wieland, Christoph Martin 369 Wilde, Oscar 44, 297f. Wilhelm II. 476 Wimbauer, Tobias 271, 275ff., 286–316, 348 Wittgenstein, Ludwig 423 Wolff, Uwe 116 Wünsch, Marianne 465 Wuthenow, Ralph-Rainer 283 Zech, Paul 358 Zissler, Dieter 37, 399