Gangsterwelten: Faszination und Funktion des Gangsters im französischen Nachkriegskino 9783839436332

The fascination and function of French gangster worlds - from the US role models to the films of the 1950s and 1970s to

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German Pages 278 Year 2017

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Gangsterwelten. Faszination und Funktion des Gangsters im französischen Nachkriegskino
Vom Patron zum Samourai. Zur Vereinsamung des Gangsters in der abstrakten Gesellschaft
Die Paten des film noir. Der amerikanische Gangsterfilm als Vorläufer
Handwerk und Netzwerke. Der heist-Film und die Technisierung der Lebenswelt in Jules Dassins Du rififi chez les hommes
Der Gangster als Spieler. Handwerk und Hasardspiel in Melvilles Bob le flambeur
Zwischenräume. Topographien des Verbrechers im französischen Gangsterfilm
Gangster am Pool. Abstrakte Gesellschaft und flüssige Moderne
Zwischen den Fronten. Der ›flic‹ als Einzelgänger in Police von Maurice Pialat
Von Ex-Bullen, Rechercheuren und Reanimateuren. Wirklichkeitsbehauptung und Lust am Genre – Aspekte des französischen Gangsterfilms der 2000er und 2010er Jahre
Hinweise und Nachweise
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Gangsterwelten: Faszination und Funktion des Gangsters im französischen Nachkriegskino
 9783839436332

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Hermann Doetsch, Andreas Mahler (Hg.) Gangsterwelten



machina | Band 10

Editorial Das lateinische Wort »machina« bedeutet – wie seine romanischen Entsprechungen – nicht nur Maschine, sondern auch List, bezeichnet zugleich den menschlichen Kunstgriff und das technische Artefakt. Die mit diesem Wort überschriebene Reihe versammelt Studien zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft in technik- und kulturanthropologischer Perspektive. Die darin erscheinenden Monographien, Sammelbände und Editionen lassen sich von der Annahme leiten, dass literarische, theatralische, filmische oder andere mediale Produktionen nur mit gleichzeitiger Rücksicht auf ihre materielle Gestalt und ihren kulturellen Gebrauch angemessen zu beschreiben sind. Die Reihe wird herausgegeben von Irene Albers, Sabine Friedrich, Jochen Mecke und Wolfram Nitsch.

Hermann Doetsch, Andreas Mahler (Hg.)

Gangsterwelten Faszination und Funktion des Gangsters im französischen Nachkriegskino

Gedruckt mit Unterstützung aus Mitteln des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin sowie des Romanischen Seminars der Universität zu Köln.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Du rififi chez les hommes«, un film de Jules Dassin. © 1955 GAUMONT. Collection Musée Gaumont. Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3633-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3633-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Gangsterwelten. Faszination und Funktion des Gangsters im französischen Nachkriegskino

Hermann Doetsch / Andreas Mahler | 7 Vom Patron zum Samourai. Zur Vereinsamung des Gangsters in der abstrakten Gesellschaft

Andreas Mahler | 41 Die Paten des film noir. Der amerikanische Gangsterfilm als Vorläufer

Susanne Dürr | 71 Handwerk und Netzwerke. Der heist-Film und die Technisierung der Lebenswelt in Jules Dassins Du rififi chez les hommes

Hermann Doetsch | 97 Der Gangster als Spieler. Handwerk und Hasardspiel in Melvilles Bob le flambeur

Wolfram Nitsch | 153 Zwischenräume. Topographien des Verbrechers im französischen Gangsterfilm

Maria Imhof | 171 Gangster am Pool. Abstrakte Gesellschaft und flüssige Moderne

Jörg Dünne | 193

Zwischen den Fronten. Der ›flic‹ als Einzelgänger in Police von Maurice Pialat

Wolfgang Lasinger | 209 Von Ex-Bullen, Rechercheuren und Reanimateuren. Wirklichkeitsbehauptung und Lust am Genre – Aspekte des französischen Gangsterfilms der 2000er und 2010er Jahre

Dunja Bialas | 223

Hinweise und Nachweise | 249

Gangsterwelten Faszination und Funktion des Gangsters im französischen Nachkriegskino H ERMANN D OETSCH / A NDREAS M AHLER

Das Titelbild zeigt eine Nachtclubszene. Sie entstammt Jules Dassins Gangsterfilmklassiker Du rififi chez les hommes (1955). Das Bild ist dreigeteilt; es besteht aus zwei Vorführungen und einem Publikum. Im Vordergrund steht eine attraktive schmucktragende junge Frau im eleganten halb schulterfreien Kleid und singt im geschlossenen dunklen Raum einer mondänen Bar hingebungsvoll ein eher trauriges Chanson; im Hintergrund tanzt ein agiler junger Mann im Gangsteranzug und mit Borsalinohut auf einer deutlich abgesetzten Bühne als Schattenriss im projizierten Außenraum einer als Nicht-Ort kenntlichen anonymen nächtlichen Straße einen selbstgenügsamen Pistolentanz; von der Seite bestaunt ein Champagner wie anderen Luxus genießendes anonymes Großstadtpublikum fasziniert die Attraktion beider Spektakel. Interieur wie Kleidung deuten auf eine zeitgemäße Nachkriegsszenerie: die unmittelbaren Schrecken des Krieges scheinen überwunden; der erste neue Wohlstand ist erreicht; man sucht Zerstreuung in der latent verruchten Halbwelt amerikanisierter Clubs und Bars und will sich etwas gönnen. Das Bild zeigt eine Gangsterwelt. So fiktiv der Gangster in der doppelten Abgrenzung durch Bühne und durch Projektion allerdings auch scheint, so leicht lässt sich sein gewaltsamer Einbruch als mitspielender Akteur ins zwielichtige Milieu des flirrenden Nachtclubs mitdenken. Die Szene steht

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mithin im Zeichen deutlich sichtbarer Ambivalenz: fiktiv und zugleich potentiell real, im Innenraum und zugleich potentiell im Außen, in konsumseligem Luxus und zugleich potentiell auch in beständiger Gefahr, situiert sie sich an den entscheidenden Verhandlungsachsen der modernen Nachkriegsgesellschaft zwischen der Sehnsucht nach versichernder Gemeinschaft und der unabweisbaren Anonymität einer zunehmend abstrakter werdenden Gesellschaft, zwischen der vermeintlichen Verbindlichkeit des Rechts und den dazu oftmals querstehenden Gesetzen des Markts, zwischen den herbeigewünschten Annehmlichkeiten des Konsums und ihrem stets zu befürchtenden drohenden Verlust. Auf diesen Achsen tanzt der Gangster seinen Tanz. Als scheinbar letzter, der sich nicht bestimmen lässt, wirkt er wie ein archaisches Emblem illusionärer Freiheit, das in der Schattenwelt der Projektion unbegrenzt zu bestaunen ist, wie es in weiterer Rahmung des Stills vom Kinopublikum im Gangsterfilm – trotz Verfolgung, Gefängnis, Tod – gleichermaßen bestaunt werden kann. In ihm versinnbildlicht sich des Gangsters wie des Gangsterfilms nachdrückliches Faszinosum.

1. F ASZINATION DER AMBIVALENZ Der Gangster ist aus der Filmgeschichte nicht wegzudenken. Seit Beginn der 1910er Jahre, mit Griffiths Musketeers of Pig Alley (1912) und Feuillades Fantômas (1913), ist die Faszination für Verbrechen, Gangster und Milieu samt der gegenläufigen Bemühungen der Polizeibehörden weitgehend konstant geblieben. In der Genrepolitik des amerikanischen Kinos nimmt der Gangsterfilm gleich nach dem Western den zweiten Rang ein. Nach wie vor gehört er zu den typischen Genres des Kinofilms, und viele Kinematographien wie etwa das Hongkong-Kino und nicht zuletzt das Kino Frankreichs verdanken ihre internationale Aufmerksamkeit vor allem ihren Geschichten über Gangster.1 Was macht den Gangster und seine Welt zu einem der wesentlichen Sujets der Kinogeschichte; worin genau besteht die Faszination für die Welt des Verbrechens? Der Gangsterfilm stellt die ideale Ergänzung zum Western dar. Während der Western sich im steten Umspielen der Grenze zwi-

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Zum Genresystem siehe Neale 2000; zur Stellung des Gangsterfilms vgl. Ritzer 2012, 20.

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schen Natur und Kultur, Barbarei und Zivilisation, Rechtlosigkeit und Gesetz dem ›Nomos der Erde‹ verschrieben hat und von gemeinschaftsbegründenden Anfängen wie der Geburt einer Nation erzählt, spielt der Gangsterfilm im gesellschaftlichen Alltag der Großstädte und zeigt Welten, die mitten in die Lebenswelt des Kinopublikums hineinragen; er gibt sich nicht mit Begründungsmythen zufrieden, sondern arbeitet sich ab an den Ambivalenzen der ›Moderne‹.2 Nicht umsonst wurde Fantômas als Meister der wechselnden Identitäten, der schnellen Bewegung und der Beherrschung moderner Technik zur ersten emblematischen Figur des französischen Films.3 So neu die Lebenswelten des Gangsters sind, er selbst ist eine alte Figur, die Eric Hobsbawm als Symptom einer Krise von Lebenswelten ausgemacht hat. Der Bandit tritt ihm zufolge auf, wenn tribale Gesellschaftsformen auf Formen kapitalistischer Wirtschaft und moderner staatlicher Organisation treffen; dabei führt eine klare Linie von legendären Volkshelden wie Robin Hood über die Räuber des 18. Jahrhunderts bis hin zur Mafia.4 Was jedoch für den Historiker Hobsbawm ein Dilemma darstellt, ist Kern des Phänomens: erst als Symptom der Krise wird der Gesetzesbrecher zum mythischen Rebellen, und erst als Objekt fiktionaler Gestaltung wird der Bandit zum Faszinosum ›Gangster‹. Als Fiktionen operationalisieren Gangstererzählungen ›Wirklichkeit‹ und stellen so ein wesentliches Wahrnehmungsmuster für die Krisen ihrer Ordnung dar.5 Beim Gangster geht es folgerecht weniger um das Gesetz als um die Welt selbst. Kaum etwas zeigt dies deutlicher als Tony Carmontes (alias Al Capones) Lebensmotto ›The World is Yours‹ in Howard Hawks’ Scarface. Gangsterwelten sind mithin immer schon krisenhafte Welten an der Grenze zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft.6 Entsprechend setzt der

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Zum Begriff des Nomos siehe Schmitt 1997, 11-51; zum nomologischen Charakter des Westerns vgl. Deleuze 1983, 202-209; zur Komplementarität von Western und Gangsterfilm vgl. Böhringer 1998. Zu den die Moderne konstituierenden Ambivalenzen vgl. Bauman 1991; zum Gangsterfilm als Paradigma der Ambivalenzen der ›Moderne‹ siehe Gledhill 1985 und Mason 2002, 13 f. Vgl. hierzu Abel 2012 und Brandlmeier 2007. Hobsbawm 2000, 31; zur Mafia vgl. Seeßlen 1980, 41-65. Zu einer solchen Interpretation der Figur des Gangsters siehe Shadoian 2003. Vgl. hierzu und im Folgenden Boltanski 2012, insbes. S. 19-70; zu der für eine totalisierende Gesellschaft charakterischen Sehnsucht nach Gemeinschaft als grundlegender Struktur des Gangsterfilms siehe, insbesondere am Beispiel von Asphalt Jungle, Munby 1999, 134-142.

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Gangsterfilm zu einer Zeit ein, da die Diskussion um die ›Grenzen der Gemeinschaft‹ einen ersten Höhepunkt erreicht.7 Im Moment, da sich traditionell das Zusammenleben garantierende Institutionen nach und nach auflösen und von anonymen Instanzen wie ›Staat‹ und ›Markt‹ abgelöst werden, artikuliert sich in der Idee der ›Gemeinschaft‹ eine Sehnsucht nach vermeintlich unvermittelten Formen des Sozialen, getragen von Bluts- und Familienbanden, gemeinschaftlicher Arbeit, dem Ethos von Liebe und Vertrauen wie vor allem auch der Ehre und geschart um eine charismatische Persönlichkeit. Dabei verklärt die Nostalgie nach Gemeinschaft diese oftmals dergestalt, dass sie deren Modi von Macht- und Gewaltausübung willentlich übersieht.8 In der Figur des Gangsters aber ist ihr latentes Gewaltpotential nie vollständig gelöscht, sondern immer schon Teil seines Handelns. Selbst in einem Film, dessen Feier der Gemeinschaft nahezu utopische Züge aufweist wie Touchez pas au grisbi (1954), bricht sich dies Bahn etwa in der Folterszene, ganz zu schweigen vom anderen französischen Klassiker derselben Ära, Du rififi chez les hommes, in dem vom Missbrauch der Ex-Geliebten bis hin zur kalten Exekution eines Verräters neben den beschworenen Werten ›Freundschaft‹ und ›Ehre‹ vor allem ›Gewalt‹ als wesentliches Bindemittel der Gang erscheint. Das Faszinosum der Figur des Gangsters erschließt sich also vor dem Hintergrund solcher Ambivalenzen. Der Gangster steht am Kreuzpunkt zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, Familienclan und Staat, Subsistenzwirtschaft und kapitalistischer Ökonomie, zwischen Arbeit und Kapital, Begehren und Gesetz, zwischen spektakulärer Aktion und verborgener Organisation.9 Entsprechend vermittelt der Gangsterfilm zwischen die-

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So der Titel einer Schrift Plessners aus dem Jahre 1924 als kritische Auseinandersetzung mit der nach Tönnies entstandenen Nostalgie nach gemeinschaftlichen Sozialformen (Plessner 2003); dass Plessner ausgerechnet das Konzept der Ehre vernachlässigt, erklärt sich aus seinen ideologischen Prämissen. Zur zentralen Funktion der Ehre in traditionellen Gemeinschaften vgl. Tönnies 1979, 132134, Bourdieu 2000, 19-60, und insbesondere Vogt 1995 sowie Vogt / Zingerle 1994. Zur spannungsvollen Beziehung, in der ›Staat‹ und ›Markt‹ die moderne Gesellschaft stets sowohl gemeinsam als auch gegeneinander konstituieren, vgl. Vogl 2015. Vgl. Plessner 2003, 79-81, 113-133; zu den Verdrängungsprozessen S. 14-27. Am Beispiel der Mafia hat Seeßlen 1980 nachgewiesen, dass ihr Vorgehen keine Reaktion gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform darstellt, sondern vielmehr zwischen volkstümlich-gemeinschaftlichen und kapitalistischen Wirtschaftsformen vermittelt und auf diese Weise die Widersprüche und

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sen widerstrebenden Tendenzen, bringt latente Widersprüche und Konflikte zum Ausdruck und konfrontiert seine Zuschauer mit den Ambivalenzen des Übergangs: der Befreiung des einzelnen von den strikten Regeln und Sanktionen gemeinschaftlich organisierter Sozietät, zugleich aber auch seiner Entfremdung, Isolation und Ohnmacht angesichts einer sich an deren Stelle setzenden kapitalistischen Wirtschaft und anonymen Gesellschaft.

2. AMBIVALENZ DER ›M ODERNE ‹ Das Aufkommen des klassischen Gangsterfilms um 1930 und der Triumph des französischen Gangsterfilms in den 1950er Jahren markieren zwei Daten, an denen die Krise überkommener Vorstellungen gesellschaftlicher Organisation durch Vorkommnisse wie Weltwirtschaftskrise, Weltkrieg und Völkermord anschaulich geworden ist. Dies ist die Krise einer auf dem Konzept souveräner Territorialität beruhenden und hierüber die Interessen von Gemeinschaft und Staat mühevoll zu vermitteln suchenden Idee von Staatlichkeit. Schon im 19. Jahrhundert beginnen sich mit Formen der Disziplinierung und Prozessen der Steuerung und Kontrolle neue ›biopolitische‹ Strukturen staatlicher Regulierung zu entwickeln, die sich durch eine komplexe Verflechtung administrativer und wirtschaftlicher Prozeduren auszeichnen und auf die Steigerung individueller Effektivität und Leistungsfähigkeit abzielen. Hierin liegt ein spannungsvolles In- und Gegeneinander zweier Regimes wirklichkeitsbestimmender ›véridiction‹: Moderner Staat und kapitalistische Wirtschaft bedingen sich von Anfang an gegenseitig, so dass die moderne Idee von Souveränität nicht zu trennen ist von der Vorstellung der Zirkulation von Waren und Geld.10 Staatliche Regulierungen eröffnen einerseits einen Möglichkeitsraum für die Zirkulation und Akkumulation von Kapital; andererseits begrenzt das Recht auch die Zirkulation, gilt es nicht zuletzt, Eigentum als wesentliches positives Gut zu Antagonismen der Moderne in sich trägt; genau diese Widersprüche machen einen großen Teil der Faszination des Gangsters aus. 10 Zur Biopolitik siehe Foucault 1997, 2004, 2004a; zum Einfluss von biopolitischen Maßnahmen auf Inszenierungen im frühen Gangsterfilm vgl. Grieveson 2005. Während Foucault eher von einer Aufeinanderfolge beider Regimes ausgeht, lassen die historischen Rekonstruktionen von Joseph Vogl erkennen, wie juristische und ökonomische Prinzipien ineinandergreifen; vgl. Foucault 2004a; Vogl 2015.

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sichern. Auch die Position des Subjekts bleibt dabei auf seltsame Weise ambivalent. Denn einerseits geht der einzelne in den modernen Praktiken der Disziplinierung, Steuerung und Kontrolle scheinbar jeglicher Selbstbestimmung verlustig; andererseits jedoch erscheint das souveräne moderne Subjekt tatsächlich erst als ein durch staatliche und wirtschaftliche Institutionen adressiertes Produkt dieser Prozesse, das dadurch eine Art Autonomie gewinnt, die es in der gemeinschaftlichen Vergesellschaftungsform immer schon an die Identität der Gruppe abgegeben hat. Die Globalisierung macht diese Konkurrenz zwischen Souveränität und Zirkulation, zwischen Territorium und Fluxus noch einmal deutlicher erfahrbar.11 Inhärent ist dieser Erfahrung eine seltsame Unentschiedenheit zwischen Autonomie und Heteronomie. Einerseits lösen die kapitalistischen Ströme traditionelle Abhängigkeiten auf und vermitteln ein ungeahntes Gefühl der Freiheit; andererseits führen sie, gelenkt von automatisierten Prozessen, zu Erfahrungen der Entfremdung und der Unterwerfung unter neue Regulierungen.12 Hierin verdeutlicht sich, dass ›moderne‹ Souveränität immer schon eine andere Seite hat: dass sie auf einem ihr von Grund auf eingeschriebenen Ausnahmezustand gründet und so die eigene Zerstörung immer schon in sich trägt. Kennzeichen der neuen Form der Steuerung ist, dass sie administrative und ökonomische Praktiken unauflösbar verbindet und aus einer Zone der Unbestimmtheit agiert, in der staatliche und ökonomische Verhaltensregulierung unmerklich ineinander übergehen. Der Gangsterfilm situiert sich in dieser Unbestimmtheitszone an der Schnittstelle nicht nur zwischen gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Organisation, sondern auch zwischen juristischem und ökonomischem Aussageregime, die beide auf ihre Weise in die scheinbar noch geschlossene Autonomie der Gemeinschaft eingreifen. Entsprechend artikuliert er die moderne Entfremdungserfahrung entweder als Erfahrung einer hemmungslosen technisierten Ökonomie oder als Erfahrung der Willkür staatlicher Eingriffe – oder auch kombiniert als Erfahrung eines sich zum willfährigen Handlanger ökonomischer Interessen machenden Staates. Auf der einen Seite steht also das legalistische Prinzip von Souveränität und Disziplinierung, das versucht, die Interessen von Staat und Subjekt auszuhandeln, indem es dem Subjekt einen festen Platz in der Ordnung der Wirklichkeit

11 Siehe hierzu Boltanski 2012, 47. 12 Vgl. Deleuze / Guattari 1972; siehe auch Mason 2002, 87-94.

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zuweist13; es instituiert einen Modus des Politischen, der sich im Ausnahmezustand bewähren muss und vornehmlich auf der Unterscheidung von Freund und Feind beruht. Hierin liegt eine wesentliche Struktur der Sujets, wie sie für den klassischen Western konstitutiv sind. Aber auch der klassische amerikanische Gangsterfilm beruht noch auf diesem Modell, das im eigentlichen Sinne ein Modell territorialer Landnahme samt individueller Bewährung darstellt – ein Sujet von Aufstieg und Fall.14 Auf der anderen Seite setzt sich jedoch in immer stärkerem Maße ein ökonomisches Modell durch, das dem Prinzip der Effizienz und Kontrolle gehorcht. Hier geht es nicht um die Behauptung eines Territoriums, das Setzen und Überschreiten von Grenzen, sondern um Rationalisierungsmaßnahmen zur Steuerung von Prozessen der Produktion und Konsumtion. Dies betrifft nicht mehr nur ökonomische, sondern immer auch soziale, kommunikative und biologische Prozesse. Im Vordergrund steht also nicht mehr das Ergebnis einer Produktionstätigkeit, sondern Produktion und Konsumtion als sich selbst regulierende Prozesse. In diesem Sinne etabliert sich die Konsumgesellschaft als eine Gesellschaft weniger der Hervorbringung von Objekten und Symbolen denn von Zeichen und Begehren.15 Die neue Ordnung beruht mithin auf der Steuerung und Kontrolle eines Begehrens, das nicht mehr als Verbindung eines Subjekts zu einem Objekt zu sehen ist, sondern – wie moderne Massenkommunikation – als ein sich selbst regulierender maschinenhafter Prozess. Anstelle von Entitäten herrschen Relationen. Die neue Gesellschaft ist ›abstrakt‹.16

13 Vgl. hierzu die klassische Studie von Foucault 1975. 14 Zum Begriff des Politischen und dessen Konzept der Souveränität siehe Schmitt 1996, 1993; zur Affinität von Schmitts Begriff des Politischen mit dem ›Aktionsbild‹ (Deleuze) als privilegiertes Darstellungsmodell des klassischen amerikanischen Kinos vgl. Balke 1996, 261-315; zur Sujetstruktur des klassischen Gangsterfilms siehe Warshow 2001. 15 Vgl. hierzu Baudrillard 1986 und Bauman 2009. 16 Der Begriff der ›abstrakten Gesellschaft‹ wurde maßgeblich geprägt von Zijderveld 1972; zu einer literaturwissenschaftlichen Nutzung siehe Zapf 1988 sowie den Beitrag von Andreas Mahler in diesem Band.

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3. D ER G ANGSTERFILM

ALS

V ERHANDLUNGSRAUM

3.1. Amerikanische Gangsterwelten Das Kino ist sichtbarer Teil der biopolitisch-ökonomischen Maschinerie der Begehrensproduktion. Um 1930 wird es zum dominierenden Massenmedium: zum Leitmedium debattierender Umgestaltung der Vorstellungen von Staatlichkeit und Gesellschaft. Klassische Gangsterfilme wie Underworld (1927), Little Caesar (1931), The Public Enemy (1931) oder Scarface (1932) konstituieren sich im Kontext der die amerikanische Gesellschaft bereits ab den 1920er Jahren erfassenden Modernisierung, deren wesentliche Tendenzen sich nahezu exemplarisch an der Figur des Gangsters kristallisieren. Das sind zum einen Probleme nationaler Ordnung und durch verschiedene Immigrationswellen ausgelöste ethnische Konflikte.17 Entscheidender aber ist die durch halbautomatische Waffen, schnellere Autos und neue Kommunikationstechnologien bezeugte Technisierung der Lebenswelt, deren Verbund etwa in Hawks’ Scarface Tony Carmontes Triumph gegen seine noch territorial denkenden Gegner verbürgt. Es geht also einerseits um die Beschleunigung der Handlungsfähigkeit, zum anderen aber auch um deren Steigerung durch geschickte Organisation. Der Gangster im amerikanischen Film ist ein Meister kapitalistischen Unternehmertums, seine Gang nicht weniger komplex als ein Wirtschaftsunternehmen. Gerade zu jener Zeit bilden sich neue Verfahren der Organisation, Steuerung und Kontrolle, die sodann bald auch auf staatliche und zivilgesellschaftliche Formen übertragen werden. Entsprechend deutlich ist der Part, der der Ökonomisierung in den Filmen eingeräumt wird. Dies zeigt sich auch im immer deutlicher werdenden Einbezug der Konsumgesellschaft. Tonys immer größer werdende Macht ist nicht zuletzt an seinem demonstrativen Konsum abzulesen, speziell an aufwändigen Inneneinrichtungen und gepflegter Kleidung.18 17 Zu den Modernisierungsschüben in der amerikanischen Gesellschaft siehe David E. Ruth 1996; für eine Analyse des klassischen Gangsterfilms in diesem Kontext vgl. die Studie von Susanne Dürr in diesem Band. Eine auf eindrucksvolle Weise vollständige Aufzählung der formativen Elemente des Gangsterfilms findet sich bei Kaminsky 1985, 21-42; zur Einwanderungsproblematik vgl. Munby 1999. 18 Zu den Phasen der Ökonomisierung siehe die klassischen Studien von Chandler 2002 und Beniger 2009; zu Technisierung, Kreation eines urbanen Milieus und

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Damit trägt der Gangsterfilm einen Konflikt aus, der sich, wie schon angedeutet, nicht mehr nur auf der Grenze zwischen ›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ befindet, sondern darüber hinaus eine wesentliche Umgestaltung staatlicher Prinzipien betrifft. Dies betrifft den Wandel vom Primat des ›Rechts‹ zum Primat des ›Markts‹: von einer auf den Staat zentrierten Ordnung mit einer patriarchal strukturierten Familie als deren Keimzelle zu einer als ›funktionalistisch‹ beschreibbaren Ordnung, deren dynamisches Prinzip das effiziente Funktionieren des einzelnen in einer größeren Einheit bildet. Im Vordergrund steht nicht mehr das durch seine Position hierarchisch bestimmte Individuum; das neue Modell folgt vielmehr dem Prinzip eines Systems, in dem Erfolg als Ertrag richtigen Funktionierens quantitativ messbar wird und Handlungsmacht sich nicht mehr aus den Verpflichtungen einer sich biologisch oder arbeitstechnisch definierenden Gemeinschaft ergibt, sondern auf Eigeninitiative, Unternehmertum und Konkurrenz baut.19 Neben dem unmittelbaren Ertrag der kriminellen Handlungen kristallisiert sich dies unter anderem im Wandel der Geschlechterverhältnisse von einer um die Autorität des Vaters aufgebauten homosozialen Geschlechtertrennung zu einer auf die Frau als symbolischem Maßstab und Repräsentantin des Erfolges gerichteten Perspektivierung.20 Dabei zeigt sich die ambivalente Überblendung von ›Recht‹ und ›Markt‹ erneut bereits in der Figur Tony Carmontes, der das Funktionieren seiner auf dem Konsum von Alkohol und Waffen aufbauenden Verbrechensmaschinerie dadurch unterminiert, dass er seinen Partner wegen dessen Beziehung zu seiner Schwester verfemt und damit die Insistenz des legalistischen Modells in dem der Konsumtionsmaschine bezeugt. Die weitere Geschichte des amerikanischen Gangsterfilms erscheint wie eine immer neue Kombination dieser grundlegenden Spannung. Die Filme lösen sie zwar oftmals politisch, indem sie aus moralischen Überlegungen das funktionalistische Modell sich gegen das faszinierendere Souveränitätsmodell durchsetzen lassen, doch stellt sich die Frage, warum ein immer stärkerer Fokus auf die systemischen

zum vestimentären self-fashioning als wesentliche Charakteristika des Genres vgl. McArthur 1972 und 2000. 19 Zu ersterem, mit ›Blut‹ und ›Sache‹ als grundlegenden Strukturelementen des Gemeinschaftlichen, siehe Plessner 2003, 42-57; zum zweiten vgl. Foucault 2004a. 20 Zum homosozialen Element in der Geschlechterordnung des Gangsterfilms, in der nicht zuletzt auch der Mann als Objekt des Begehrens figuriert, siehe Studlar 2005; zum Begriff der Homosozialität allgemein vgl. Kosofsky Sedgwick 1985.

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Momente des Gangstermodells gelegt wird. Schließlich ließen sich moralische Positionen auch anders einbringen, wie etwa in Manhattan Melodrama (1934), wo der Sieg über das Verbrechen legalistisch in der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht erlangt wird, indem der Gangster ›Blackie‹ Gallagher die über ihn verhängte Todesstrafe auch gegen die Bitten seines inzwischen zum Gouverneur gewordenen Jugendfreundes akzeptiert, oder auch in G-Men (1935), wo James Cagney, nun zum herausragenden FBIMitglied gewandelt, den Triumph funktionalistischer Verbrechensbekämpfung gegen die Faszination des souveränen Ausnahmezustands sichert. Der Konflikt zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, Selbstbehauptung und Systembestimmtheit, Individualitätsgläubigkeit und Funktionalismus bleibt stabil, die Positionen hingegen sind flexibel. Nach den Kefauver-Anhörungen in den 1950er Jahren rückt das Verbrechen in die Rolle des organisierten Syndikats, das die Gesellschaft nicht mehr nur unterwandert, sondern seinerseits selbst darstellt.21 In den Glanzzeiten des film noir kommt es dementsprechend immer wieder zu Konflikten des einzelnen mit einer weitgehend anonymen und funktionalistisch ausgerichteten Verbrecherorganisation. Das Gesetz hat sich selbst der ökonomischen ›Veridiktion‹ überschrieben. Am deutlichsten wird dies in Force of Evil (1948), wo der Anwalt Joe Morse die monopolistischen Interessen des Verbrechersyndikats gegen das familiäre kleinkriminelle Wettbüro seines eigenen Bruders Leo durchsetzt, nach dessen Tod aber doch wieder ins legalistische Modell zurückkehren möchte, ohne dass dies noch im Film konkretisiert wird. Dies ist ein Sujet, wie es auch der französische Gangsterfilm immer wieder inszenieren wird. Noch totaler erscheint die abstrakte Gesellschaft schließlich in den heist-Filmen der 1950er Jahre. In John Hustons Asphalt Jungle (1950) gibt es, abgesehen von Erinnerungen und Tagträumen, kein Außen mehr zu ihr. Filme wie Armored Car Robbery (1950), Plunder Road (1955) oder Stanley Kubricks The Killing (1956) zeigen nur noch, wie Gangster als Fachleute auf ihrem Terrain – und damit selbst Produkte einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft – die technologisch-medialen Netzwerke funk-

21 Siehe hierzu Munby 1999, 126-133; vgl. vor allem Wilson 2005, der zeigt, wie dies in den USA Filme hervorbringt, die technologisch-szientifische Aspekte der Verbrechensbekämpfung und legalistische Narrative miteinander verbinden. Die von Senator Estes Kefauver 1950-51 durchgeführten Anhörungen stellten die ersten weitreichenden Untersuchungen über den Einfluss des organisierten Verbrechens in den USA dar.

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tionaler Organisationen mit deren eigenen Mitteln zu überlisten suchen.22 Die Freund-Feind-Unterscheidung operiert also nurmehr auf der Basis technischer Netzwerke. Dass sich dabei in den meisten Fällen der Sieg der abstrakten Gesellschaft scheinbar nur durch bloßen Zufall ergibt, ist ein weiteres Indiz dafür, dass sie total geworden ist. Sowohl die Vorstellung eines ›eigenen‹ Territoriums als auch die Utopie eines ›wahren‹ Lebens sind in der neokapitalistisch-postindustriellen Wirklichkeit nicht mehr möglich. 3.2. Französische Gangsterwelten Innerhalb dieser Tendenzen kommt es im Frankreich der 1950er Jahre zu einer besonderen Konstellation, die eine neue Tradition des Gangsterfilms herausbildet.23 Grundlegende wirtschaftliche Veränderungen erbringen einen Wirtschaftsboom mit weitreichenden Investitionen in Großindustrie, Wohnungsbau und Infrastruktur. Der zunehmende Wohlstand vor allem in den Großstädten lässt eine moderne Konsumkultur entstehen. Dabei ändern sich die wirtschaftlichen Strukturen langsamer als in vergleichbaren Ländern, gleichwohl sind sie gravierend. Die Zahl der Beschäftigten in Landwirtschaft und Großproduktion nimmt stetig ab; der tertiäre Sektor bekommt immer mehr Bedeutung. Kleinere familiäre Betriebe in Landwirtschaft und Handwerk werden durch massenhafte Nachfrage dem Konkurrenzdruck von Großunternehmen und multinationalen Konzernen ausgesetzt, an den Rand gedrängt und verlieren ihre Existenz. Zudem werden auch in französischen Unternehmen immer stärker technisierte und funktionale Steuerungs- und Organisationsformen implementiert. Gemeinschaftliche Produktionsformen weichen einer tayloristisch geprägten industriellen Fertigung. Dies ist verbunden mit einer verstärkten Tendenz zur Bürokratisierung, die neben der negativ erlebten Entfremdung des einzelnen von den Organen der Produktion und Administration zugleich insbesondere dem

22 Siehe hierzu Mason 2002, 97-119, sowie den Beitrag von Hermann Doetsch in diesem Band. 23 Vgl. hierzu und im Folgenden Kelly / Jones / Forbes 1995; die folgende Skizze der wirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs beruht im Wesentlichen auf der Darstellung in Gœtschel / Touchebœuf 2011, 345-404, und Asselain 2011, 109124.

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weiblichen Geschlecht positiv einen neuen Bereich der Teilhabe an der Arbeitswelt und individueller Freiheit eröffnet.24 Der Prozess der Technisierung betrifft nicht nur die Welt der ökonomischen Produktion, sondern erobert Lebenswelt und Alltag. Haushaltsgeräte und neue Transportmittel wie das Auto machen die Dialektik von Technisierung und Freiheit für jeden erfahrbar. Dabei trifft die Diffusion amerikanischer Management-Praktiken auf eine lange Tradition der ›planification‹. Entgegen deutschen Bemühungen, die Wirtschaft nach ordoliberalen Grundsätzen zu gestalten, erscheint im Nachkriegsfrankreich vor allem der Staat als wichtigste wirtschaftliche Handlungsmacht.25 Hinzu kommt, dass die Eroberung des französischen Marktes durch amerikanische Unternehmen zuerst und am deutlichsten im Kino stattfindet. Durch das BlumByrnes-Abkommen vom Mai 1946, das amerikanischen Filmen mit einem Schlag einen Marktanteil von 40 bis 50% beschert, wird das französische Kino zu einem Minderheitenphänomen. Der Eindruck einer »rénonciation nationale [...] au profit des intérêts germano-américains« wird zudem in den Filmen ausagiert.26 Die amerikanische Mittelstandsgesellschaft mit ihren ›fast cars‹ und ›clean bodies‹, ihren den Alltag beherrschenden technischen Geräten und einer von Nachtclubs und Jazzmusik geprägten Konsumindustrie wird zum kulturellen Vorbild, dem eine ganze Generation nacheifert. Zugleich herrscht das latente Gefühl, ein weiteres Mal okkupiert oder gar kolonisiert worden zu sein – dies umso mehr, als sich mit den Kriegen in Indochina und Algerien die eigene koloniale Machtposition dem Ende zuneigt.27 Die Konsumgüter – die Autos, die Rhythmen des Jazz, die Architektur der Nachtclubs und Tänze der Showgirls – prägen den Gangsterfilm bis heute.28 Das gepflegte Äußere, feiner Anzug, Borsalino wie Trenchcoat bilden nachgerade die ikonographische Signatur des Gangsters. Dabei

24 Zu diesen Entwicklungen siehe Ross 1995. 25 Vgl. Foucault 2004a, 198-213, und Asselain 2011, 109-124. 26 Zum Blum-Byrnes-Abkommen siehe Gœtschel / Touchebœuf 2011, 259 f.; das von Jacques Chirac stammende Zitat zit. n. Rousso 1990, 200. Vgl. auch die grundlegende Studie von Vernet 2007 und die entsprechenden Kapitel in Pillard 2014, insbes. S. 93-110. 27 Siehe hierzu Ross 1995; zur ambivalenten Einstellung hinsichtlich des American Way of Life, der immer auch innerfranzösische Konflikte zwischen Modernisierung und Traditionalismus impliziert, vgl. Rolls / Walker 2009, insbes. S. 115131. 28 Siehe hierzu Vernet 2007.

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scheinen die Feedback-Schleifen zwischen Film und Milieu so dicht, dass sich selbst ›echte‹ Gangster offenbar nur als solche fühlen können, wenn sie die aus den amerikanischen Klassikern überkommene ›Uniform‹ tragen. Zugleich aber wird das Nachkriegsfrankreich von einer tiefgreifenden Krise der Staatlichkeit heimgesucht. Das ›Vichy-Syndrom‹ lähmt lange Zeit die politische Willensbildung.29 Das Trauma der Okkupation und näherhin die Erfahrung des Verlusts nationaler Souveränität bestimmen nicht nur das Verhältnis zu Deutschland, sondern auch den Blick auf die wirtschaftliche, militärische wie politische Hegemonie der USA. Hinzu kommt die Schuld der Kollaboration, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung die deutsche Besatzung wenn nicht aktiv unterstützte, so doch zumindest widerstandslos hinnahm. Dies gilt vor allem für die Verwaltungsbehörden und die Exekutive des Vichy-Staates, aber auch generell für all diejenigen, die der deutschen Besatzung aktiv zuarbeiteten. Auch wenn dies lange brauchte, um zur Sprache gebracht zu werden, so lässt sich der traumatische Charakter bis heute am anhaltenden Misstrauen gegenüber staatlichen Organisationen, vor allem den Polizeibehörden, ablesen. Hier verbindet sich die unmittelbare historische Erfahrung mit einer längerfristigen liberalstaatlichen Skepsis zu einer wahren ›phobie d’État‹.30 Deshalb spielt die Polizei im französischen Gangsterfilm lange Zeit nur eine marginale Rolle und taugt auch kaum zum Gegenspieler. Und wenn doch, wie bei Melville, sind Polizei und Gangster äußerlich wie in ihren Verhaltensweisen und Methoden kaum zu unterscheiden. Spiegelbildlich zu dieser Schuld bildet sich zeitgleich ein Mythos der Résistance. Er artikuliert sich mithilfe eines kommunitären Ideals, das bereits in Zeiten der Volksfront im Kino seinen Niederschlag gefunden hat. Prägend für die Entwicklung ist vor allem der Film Pépé le Moko (1937) mit seiner archetypischen Koppelung der Figur des edlen Gauners mit dem Ideal einer auf Ehre, Sorge und Vertrauen gründenden Gemeinschaft. So führt ein direkter Weg von der Widerstandsgemeinschaft zum französischen Gangsterfilm, vom ›Bauern-

29 Siehe Rousso 1990. 30 Zu den Problemen der Kollaboration vgl. Vincendeau 2007, 37 f.; zur »phobie d’État« der liberalen Politik als Ausdruck einer Krise der Gouvernementalität siehe Foucault 2004a, 78.

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Widerstand‹ in Beckers Goupi mains rouges (1943) zu Touchez pas au grisbi (1954).31 In filmgeschichtlicher Hinsicht kommt es in den 1940er und 50er Jahren zu neuen Darstellungsmustern und Filmstilen. Filmtheoretiker wie André Bazin und Gilles Deleuze machen diese Entwicklung vor allen Dingen am italienischen Neorealismus fest, der eine traditionelle, auf analytischer Montage basierte Handlungsordnung überschreitet hin zu einer ›phänomenologischen‹ Darstellung von Wirklichkeit als Feld von Möglichkeitsbedingungen.32 Hierbei wendet sich die Aufmerksamkeit weg von der geordneten Verkettung von Wahrnehmung, Affekt und Aktion – weg also vom handelnden Subjekt und dessen weltverändernder Handlung – hin zum Filmbild als Möglichkeitsraum, in dem Handlungswelt und Subjekt nicht schon gegeben sind, sondern sich erst konstituieren müssen. Während jedoch der klassische Gangsterfilm diesen Prozess noch im Sinne einer legalistisch gedachten ›großen Form‹ als über ein Duell zur Entscheidung gebrachte gelingende Subjekt- und Ordnungsfindung erzählt, führt der film noir keinen zwischen Freund und Feind, Recht und Unrecht, Gut und Böse verbindlich trennenden Entscheidungsprozess mehr herbei und stellt als dominant maschinelles Modell der Handlungs- und Einstellungsverknüpfung das dar, was Deleuze als ›kleine Form‹ bezeichnet hat.33 Die Filme der Zeit handeln demnach vom Verlust oder Scheitern dieser Welt. ›Noir‹ sind sie nicht nur, weil sie im Dunkeln spielen, sondern weil sie keinen eigentlichen Handlungsraum mehr haben und sich in den dunklen Winkeln der Welt einrichten müssen. Am nachdrücklichsten setzt dies

31 Siehe Gerhold 1989, 80; hierzu gehört auch René Cléments in vielerlei Hinsicht an Rossellinis frühe Filme erinnernde La Bataille du rail (1946) als einer der ersten noch vor dem Blum-Byrnes-Abkommen ins Kino gelangenden französischen heist-Filme, in dem sich Widerstand nicht über plumpe Zerstörung, sondern über gemeinsame ingeniöse Störung des funktionalen Netzwerks der Bahn auf allen ihren Ebenen – Signalen, Gleisen, Elektrizität und Kommunikation – entfaltet. 32 Siehe hierzu Bazin 1985, 63-80 u. 257-285, sowie Deleuze 1983, 266-290, und 1985, 7-37; dies findet seinen Widerhall in der zeitgenössischen Philosophie etwa bei Merleau-Ponty, für den das Medium Film die sichtbare Überwindung der bewusstseinsphilosophischen Trennung von Subjekt und Objekt darstellt (Merleau-Ponty 1996). 33 Zur Unterscheidung von ›großer‹ und ›kleiner Form‹ siehe Deleuze 1983, 196242; zur Auflösung der linearen Erzählstruktur im film noir siehe Polan 1986, 193-249.

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Melville in Szene, wenn er Bob le flambeur (1956) zwar im Vergnügungsviertel Pigalle beginnen lässt, doch Bobs Welt sogleich als vergangene präsentiert, als eine Welt im Dazwischen: zwischen grellen nächtlichen Neonreklamen und der Dämmerung des Morgenlichts, dunklen Geschäften und saubermachendem Reinigungsfahrzeug, Widerstand und Anpassung.34 Dabei bildet die ›kleine Form‹ einen Raum, der sich nicht mehr zu einem Ganzen fügt. Vielmehr beginnt sich das ›Milieu‹ Montmartre in Fragmente aufzulösen, die den menschlichen Körper wie vor allem auch den Lebensraum der Stadt zerlegen: Mauerreste, Fenster, Schaufenster oder Spiegel bilden bloße Oberflächen, die zeigen, dass ›Wirklichkeit‹ nie vorgängig ist, sondern immer erst über Blicke, Handlungen und Emotionen hergestellt wird. In ständiger Veränderung bildet sie einen bloßen Vektorraum als Möglichkeitsbedingung für Bewegungen oder ›Trajektorien‹ unterschiedlicher Richtung und Geschwindigkeit.35 Dies betrifft nicht nur die dargestellten Figuren, sondern vor allen Dingen auch Henri Decaës darstellende Kamera, deren Bewegung nicht mehr linear und stetig verläuft, sondern eine aus einer Serie unendlicher Differenzen zusammengesetzte ›gebrochene Linie‹ entwirft. Kamera wie Handlungswelt laufen mithin nicht mehr auf eine große Unterscheidung zu, sondern zeigen in der Welt – wie für die Welt – die Notwendigkeit eines Vorgehens Schritt für Schritt, Einstellung für Einstellung. Auf diese Weise rückt die Technik in den Vordergrund. Sie zeichnet sich aus durch zwei Tendenzen: die Aufteilung in Serien kleinster standardisierter, aber frei kombinierbarer Funktionseinheiten und deren Verbindung zu einer netzwerkartigen Struktur. Dies betrifft sowohl das einzelne technische Instrument als auch die Organisation von Wirklichkeit als technisch-ökonomisch-soziales Aggregat.36 Entsprechend entstehen ›Subjekte‹

34 Dies modelliert auch in anderer Hinsicht eine bei Melville bewusst jede positive Identifikation mit dem Gangstertum konterkarierende verlorene Welt, da sich in Gestalt der ›Gestapistes‹ der Rue Lauriston auch das Gangstertum durch eigennützige Kollaboration mit der deutschen Besatzung kompromittiert hat, was außerdem auch für den Darsteller des Bob, den Schauspieler Roger Duchesne, gilt; siehe hierzu Nogueira 1996, 74, sowie zu Duchesnes Biographie Pillard 2014, 291-297. 35 Siehe hierzu Deleuze 1983, 220-242. 36 Zu diesen Tendenzen siehe Simondon 2014, bes. S. 295-313; Simondons Technikphilosophie öffnet sich hierbei auf eine Gesellschaftstheorie, wie sie Bruno Latour mit der Akteur-Netzwerk-Theorie vorgeschlagen hat, in der Wirklichkeit als Aggregat aus sozialen, technischen und semiotischen Prozessen erscheint,

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oder Subjekteffekte durch konstruktive Positionierungsprozesse in netzwerkbasierten Aggregaten. Gerade in den 1950er und 60er Jahren, als die Erkenntnisse der Kybernetik zunehmend in die Öffentlichkeit geraten, inszeniert der Film immer wieder Narrative, die Konstruktionen des Wirklichen explizit aushandeln. Dabei beschreibt seine ›kleine‹ Form zudem genau die mediale Grundkonstitution des Filmbilds, das als ›ligne brisée‹ getrennte Einzelelemente zu einer kontinuierlichen Bewegung verschaltet, welche ihrerseits Teilräume und Bewegungen zum Netzwerk eines filmischen Chronotopos verknüpft – wie darüber hinaus im Film generell durch die Arbeit vieler ein Produkt entsteht, das auf Seiten der Rezipienten in Filmtheatern auch wiederum an die Menge verteilt wird. Im Gangsterfilm artikuliert sich demnach immer auch ein filmisches Selbstverständnis.37 Dafür steht insbesondere das Werk Jean-Pierre Melvilles, der wie kein anderer industrieller Massenproduktion wie elitärer Künstlerästhetik ein Ethos des Handwerklichen entgegengesetzt hat. Dabei trägt er in den Verlust nicht wie noch Becker die Utopie einer besseren Welt ein, sondern bezieht das Abstrakte auf sich selbst. Indem er die Filmbilder zu abstrakten Bildern macht, lässt er die Strukturen des Wirklichen ansichtig werden und bringt die gesellschaftlichen, technischen und semiotischen Praktiken zum Vorschein, die unsere Wirklichkeit erst zu unserer Wirklichkeit machen.38 Indem er so den Film zu sich selbst kommen lässt, bereitet er zugleich das Feld für die Nouvelle Vague und eine neue Art des Filmens: Regisseure wie Malle, Chabrol, Truffaut, Godard und späterhin Pialat und Audiard inszenieren den Verlust von Welt angesichts von Verbrechen, die nicht die Welt verändern, sondern verdeutlichen, dass die Bindung zwischen Welt und Ich generell verloren ist. Dies treibt die im film noir angelegte Virtualisierung der fiktiven Welt wie auch die des nicht mehr einsinnig lesbaren Filmbilds auf die Spitze.39

welche lokal gültige Sachverhalte konstruieren, explorieren, distribuieren und neu zusammensetzen (siehe Latour 2007). 37 Zu einer an der Geschichte des heist-Movie festgemachten Veranschaulichung der Art und Weise, wie der Konflikt zwischen Massenverträglichkeit und Kunstanspruch der Filme immer wieder zum Austrag gebracht wird, vgl. Lee 2014. 38 Zur Abstraktion siehe, mit Blick auf Rossellini, Bazin 1985, 356; zu Melvilles Abstraktionen siehe Vincendeau 2003, 145-147. 39 Zum film noir siehe Polan 1986, insbes. S. 222-232; eine solche ›puissance du faux‹ stellt für Deleuze eine essentielle Charakteristik des Zeit-Bildes dar, die er

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4. P ROBLEMACHSEN DES FRANZÖSISCHEN G ANGSTERFILMS Ein Genre wie der Gangsterfilm lässt sich weder in seiner singulären Realisierung noch als Menge von Merkmalskategorien beschreiben.40 Vielmehr bildet ein Genre einen Möglichkeitsraum für Formen raumzeitlicher und handlungsbezogener Gestaltung. Hierin liegt seine ›chronotopische‹ Dimension.41 Dabei wird soziale Wirklichkeit nicht abgebildet, sondern als genrespezifische Konfiguration konstruiert; sie wird nicht als vorgegebene Ordnung verstanden, sondern als Konstrukt, das verschiedene Möglichkeiten der Ausdifferenzierung von Selbst und Welt wie auch der Interaktion zwischen den Einzelelementen zur Verfügung stellt. In diesem Sinne lässt sich der ›Chronotopos‹ fassen als dynamisches Konzept, das erlaubt, Strukturen herauszuarbeiten, die nicht als feste Ordnungen, sondern vor allem als handlungseröffnende Virtualitäten begriffen werden können. Das Interesse verschiebt sich also von Subjekten, Objekten und Handlungen zu Parametern des ›Wirklichen‹. Genrekonstitutiv ist dementsprechend ein ›Problem‹. Nach Deleuze ist es zentrale Möglichkeitsbedingung filmischer Strukturen und artikuliert sich über die Modulation filmischer Verfahren wie etwa die Plansequenz.42 Bereits Melville zeigt jedoch den Weg zu einer dynamischeren Konfiguration von Oberfläche, Affekt, Abstraktion und Zitation. Der französische Gangsterfilm stellt sich wie ein Musterbeispiel problemzentrierter Entwicklung einer generischen Struktur dar; sie verbürgt zum einen Kontinuität im jeweiligen Antwortcharakter des Einzelfilms auf das Problem, zum anderen Offenheit hinsichtlich der Vielzahl möglicher Konfigurationen.

nicht zufällig erstmals der Série noire abgelesen hat (vgl. Deleuze 2002, 117, und Deleuze 1985, 165-202). 40 Nicht zu Unrecht wurde immer wieder beklagt, dass die Beschreibungskategorien des klassischen amerikanischen Gangsterfilms im Wesentlichen durch die Beschränkung auf drei Filme gewonnen wurden; siehe etwa Mason 2002, 1-8. 41 Zum Begriff des ›Chronotopos‹ als raumzeitliche Organisation von Handlungsmustern siehe Bachtin 2008. 42 Deleuze erprobt seine These nicht umsonst an Filmen der Nachkriegszeit und ihrer zunehmend beobachtbaren Überführung der rigiden Darstellungsmuster des amerikanischen Kinos in offene Strukturen; insofern scheint die Zentralstellung der Plansequenz noch seiner Orientierung an Bazin geschuldet (siehe Deleuze 1985, 225-233, zur Plansequenz S. 229; vgl. auch Bazin 1985, 63-80).

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4.1. ›Gemeinschaft‹ / ›Gesellschaft‹ In diesem Sinne bildet der französische Gangsterfilm eine Konfigurationsreihe entlang von Achsen mit problemrelevanten Parametern. Zuvörderst modelliert er eine von der Durchsetzung postindustrieller ökonomischer Modelle und steigender funktionaler Differenzierung gekennzeichnete Gesellschaft. Daraus entsteht das erwähnte Spannungsverhältnis zwischen einer über Blutsbande, gemeinsames Arbeiten und patriarchale Verhaltensprinzipien wie ›Ehre‹ und ›Sorge‹ zusammengehaltenen Gemeinschaft und der ›abstrakten Gesellschaft‹. Dies zeigt sich in der Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz, der Ausdifferenzierung anonymer ›Nicht-Orte‹ gegenüber einem Bereich des Privaten43, der Ablöse von Ehre und Sorge durch Interventionsformen biopolitischer Kontrolle wie auch im Wandel von affektorientert intimen Kommunikationsformen zu statistisch wertorientierten. In diese Situation schreiben sich die historischen Spannungen der Geschlechterrollen ein. Der zentrale Fokus der Gangsterfilme liegt auf der nach dem Zweiten Weltkrieg zutage tretenden Krise männlicher Handlungsmacht, deren Sozialisation immer weniger als Widerstände beseitigende, einen ›Platz‹ im Leben erobernde Heldengeschichte erzählt werden kann, da individuelle Handlungsmacht zunehmend der abstrakten Definitionsmacht moderner Institutionen weichen muss.44 Entsprechend wird Männlichkeit, wie schon erwähnt, als über Äußerlichkeiten wie Kleidung und Gesten laufende prekäre Inszenierung ausgestellt wie in der Spiegelszene aus der Anfangssequenz von Bob le flambeur, wo sie als Effekt einer ständig von ihrer eigenen Auflösung bedrohten Uniformierung erscheint. Gabins Max als Patriarch in Touchez pas au grisbi; Jos Rolle als moderner Familienvater oder Pierre Grutters erbarmungslose Gangstereffizienz in Rififi; Delons Vitalität in Mélodie en sous-sol (1963) oder Montands Alkoholismus in Le cercle rouge (1970); Depardieus kontrolllose Devianz in Le choix des armes (1981) oder Tahar Rahims pícarohafte Situationsgestaltung in Un prophète (2009) – sie alle bilden ein breites Spektrum männlicher

43 Siehe hierzu Augé 1992. 44 In diesem Sinne muss der französische Nachkriegsgangsterfilm im Kontext der Problematisierungen maskuliner Handlungsinitiative und -ohnmacht im film noir gesehen werden; zur Problematisierung männlicher Rollenmuster im film noir vgl. Krutnik 1991, zur problematischen Männlichkeit im französischen Gangsterfilm vgl. Vincendeau 2001.

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Rollenmuster, die, mit Ausnahme von Rahims Malik, gleichwohl allesamt scheitern. Während die Filme der 1950er Jahre noch versuchen, mit dem homosozialen Modell einer männlichen Schicksalsgemeinschaft zu operieren, beginnt ab Le samouraï (1967) sich ein Modell durchzusetzen, in dem der einzelne der abstrakten Macht der Behörden hilflos ausgeliefert scheint und Souveränität nurmehr in der Inszenierung der eigenen Vernichtung zu haben ist. Melville inszeniert das Scheitern der reinen Männerwelt als Nachspiel noch einmal in Le cercle rouge (1970), wo die Gruppe von Beginn an keine organische Einheit, sondern nur noch ein Konglomerat divergierender Interessen darstellt. Die Inszenierung von großen Verschwörungen verstärkt diese Strukturen und zeigt entweder das System als völlig korrupt wie in Yves Boissets Le juge Fayard dit le Sheriff (1977) oder den einzelnen als vollkommen außer Kontrolle geraten wie in Un condé (1970).45 Diese schizoide Dimension bestimmt in der Folge die modellierten Welten und bringt eine Reihe von völlig opaken Chronotopoi hervor, in denen sich weder so recht eine Polizei- noch eine Gangsterwelt fixieren lässt. Nach den Institutionen gemeinschaftlicher Sozialität unterliegen nunmehr auch die Institutionen der abstrakten Gesellschaft einer Krise. Die den Filmen eingeschriebenen Konflikte können nicht mehr sinnvoll aufgelöst werden, wie etwa in Alain Corneaus Police Python 357 (1976), wo das Geschehen selbst zum Problem wird, da die Ermittlungsmaschinerie der Polizei eigenständig Wahrheiten produziert, die letzten Endes den Platz der Wirklichkeit einnehmen und die beteiligten Personen, gerechte wie korrupte, ausnahmslos zerstören. Dies rückt die Polizei als Institution des Wahrheitsregimes in den Fokus, während die Gangsterwelten in den Hintergrund treten wie in Pialats Police (1985), wo eine ganze Flut an Verhören keine eindeutige Wahrheit mehr zu produzieren vermag. Erst Filme der jüngeren Jahre, insbesondere diejenigen Olivier Marchals wie 36 quai des Orfèvres (2004), markieren wieder ethische Fragestellungen und implizieren damit die Wiederkehr der Möglichkeit einer spezifisch männlichen Handlungsethik.46

45 Zu solchen paranoiden Strukturen siehe Gerhold 1989, 186-207; vgl. auch Keutzer 2012. 46 Zu Pialats Police siehe den Beitrag von Wolfgang Lasinger, zur Folgeentwicklung denjenigen von Dunja Bialas in diesem Band.

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Die Homosozialität der filmischen Handlungswelten ist in vielerlei Hinsicht derart bestimmend, dass Frauen nur in äußerst reduzierter und stereotyper Funktion darin vorkommen. Am häufigsten figurieren sie als fetischhafte Objekte des männlichen Blicks und Begehrens. Frauen im Gangsterfilm sind Gegenstände des Genusses oder auch nur vorzeigbare Trophäen des Erfolgs. Wofern ihnen überhaupt Handlungsfähigkeit zugestanden wird, beschränkt sich diese in der Regel auf Männern zugeordnete Unterstützer- oder Vermittlertätigkeiten. Ihre einzig aktive Rolle liegt im Verrat. Und selbst dort dürfen sie in den wenigsten Fällen Souveränität und Kalkül zeigen. Eine echte femme fatale gibt es im französischen Gangsterfilm nicht; sie ist ersetzt durch harm- und machtlosere Figuren wie die mégère, die ingénue oder die garce idiote.47 Oftmals geschieht der Verrat ganz ohne ihr Zutun wie in Rififi, wenn die von Cesare aus der Beute beschenkte Tänzerin den Wert des ihr vermachten Rings unterschätzt, oder in Bob le flambeur, wo die Figur der Anne naiv zu viel Vertrauen in den wirklichen Verräter Mario setzt. Dies ändert sich erst, wenn das klassische Gangstermilieu zusammenbricht wie in Robert Enricos Les caïds (1972), wo der von Handwerkern und Schaustellern geplante Einbruch von Grund auf scheitert, woraufhin die Tochter eines der Gangster als neue Akteurin die Handlungsmacht mitübernimmt – bis zur spektakulären Inszenierung ihres eigenen Untergangs. Dabei markiert die Überführung des typischen Gangsterchronotopos des Überfalls in einen Chronotopos der Flucht das epistemologische Ende der Gangsterwelten. Erst ab dem Kino der 1980er Jahre treten vermehrt rätselhafte weibliche Figuren auf, die wie Noria in Pialats Police oder Violetta in Niermans Poussière d’ange (1987) ihre Faszination sodann nicht mehr in der Gangsterwelt, sondern vor allem als Gegenspielerinnen von Polizisten entfalten. 4.2. ›Recht‹ / ›Markt‹ Eine andere wesentliche Problemachse des Gangsterfilms bildet die Spannung zwischen legalistischem und ökonomischem Erklärungsmuster, die den territorialen Unterscheidungen von ›Freund‹ und ›Feind‹, ›wahrhaftig‹ und ›falsch‹, ›ehrenhaft‹ und ›unehrenhaft‹ funktionale Schemata wie ›ef-

47 Siehe hierzu Rolls / Walker 2009, 132-148, sowie Pillard 2014, 221-226, von dem auch die letztgenannte Kategorie stammt.

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fektiv‹ / ›uneffektiv‹ oder ›erfolgreich‹ / ›erfolglos‹ entgegensetzt. Ein Film wie Touchez pas au grisbi inszeniert diesen Konflikt zwischen einer die Bande um Max kennzeichnenden gemeinschaftlichen Ökonomie und einer profitorientierten Gesellschaft brutaler Gangster um Angelo.48 Dem fügt ein Film wie Rififi mit der Wirtschaftsform des privaten Haushalts samt ihren Konsumstrategien und ihrer Basis im Vertragsrecht ein drittes Element hinzu. In Razzia sur la chnouf (1955) bekämpft ein auf traditionellen Werten basierendes Recht und dessen Exekutive das korrupte System moderner Drogenökonomie, während in Pialats Police das Ökonomische lediglich als Prämie innerhalb des Konflikts zwischen dem ›alten‹ Rechtsprinzip von Ehre und Schweigen und einem von Disziplinar- und Kontrollmächten regulierten ›neuen‹ Rechts- und Wahrheitsregime fungiert. Demgegenüber führt Olivier Marchals 36 quai des Orfèvres vor, wie die maschinelle Logik des modernen Rechtsregimes in einem Kreislauf von Gewalt eskaliert. Wie die Spannung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft wird auch die Spannung zwischen Recht und Markt am Subjekt selbst ausgetragen. Vielsagend ist in dieser Hinsicht die komplexe Identität Jef Costellos in Le samouraï, die beständig zwischen der legalistischen Zuschreibung als delinquentes Subjekt und der eigenbestimmt funktionalistischen Rolle als Auftragsmörder oszilliert – eine Spannung, die wie schon in Melvilles Bob le flambeur vor allem durch das Motiv des Spielers in Vermittlung gebracht wird.49 Hierüber wird zudem deutlich, dass das Feld von ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinschaft‹, von ›Recht‹ und ›Ökonomie‹ eine weitere Achse durchzieht: diejenige von ›Askese und ›Genießen‹. 4.3. Weitere Achsen Die Lizenz zum Genießen ist ein zentraler Faktor in der Faszination des Gangsters. Sie macht ihn zum ökonomischen Subjekt schlechthin, das sich – keinem Ethos mehr verpflichtet – völlig seiner Funktion hingeben kann.50 Ein Schauspieler wie James Cagney spielt dies etwa in White Heat (1959) zum äußersten aus, wo sogar die Negation des Selbst noch als Genuss fungiert: ›Made it, Ma! Top of the world!‹ Dies bringt die Strukturen

48 Siehe Forbes 1991. 49 Vgl. hierzu den Beitrag von Wolfram Nitsch in diesem Band. 50 Zum Gangster als Figur des Begehrens und Genießens siehe Mason 2002, 15 f., sowie S. 26-30.

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der abstrakten Gesellschaft zudem in Zusammenhang mit Abhängigkeiten wie der Drogensucht. Das gilt für das Syndikat in Razzia sur la chnouf gleichermaßen wie für die Brüder Grutter in Rififi, von denen der eine gutes Geld mit Drogen verdient, während der andere durch sie zerstört wird.51 Eigentlich eignet dem Gangster, wie an der Figur des Jansen in Le Cercle rouge durchexerziert wird, die Askese. Doch schon ein Blick auf Touchez pas au grisbi verdeutlicht, dass solche einfachen Zuordnungen nicht aufgehen. Immer wieder gibt es Gangsterfiguren wie Bob, Max oder Malik, die Askese und Konsum verbinden, oder andere wie Cesare oder Jef, die entweder zu radikale Askese oder Genusssucht geradewegs ins Verderben führt. Zwischen ›Ökonomie‹ und ›Genießen‹ und ›Recht‹ und ›Askese‹ besteht zudem keine simple Verrechenbarkeit, da, wie etwa in Deux hommes dans la ville (1973) oder Un condé, sich die strenge Askese des Rechts immer auch zu dessen Desavouierung eingesetzt findet. Darüber hinaus zieht dies die weitere Achse zwischen ›Gesundheit‹ und ›Krankheit‹ ins Spiel. Allein in Rififi entfaltet sich ein weites Spektrum von Tonys Lungenkrankheit und der Drogensucht des jungen Grutter über die potenten jungen Körper Jos und Marios hin zu den jungen Tänzerinnen, das deutlich macht, wie stark der Gangsterfilm in biopolitische Regime und deren körperregulierende Maßnahmen involviert ist. Eine letzte Achse eröffnet schließlich eine politische Dimension. Sie betrifft die Spannung von ›Herrschaft‹ und ›Widerstand‹. Oftmals geriert sich Gangstertum als Widerstand gegen eine entfremdete politische Macht und schreibt sich so in die komplexe Situation von Okkupationstrauma, Kollaborationsschuld und Résistancemythos ein.52 Zudem wird die Situation mit neuen Erfahrungen wie der Dominanz der USA, dem Verlust der Kolonien und den Problemen der Globalisierung angereichert. Entsprechend prägen den Gangsterfilm der 1950er Jahre eine vom Ideal der francité bestimmte Selbstbehauptungsstrategie wie zugleich dekoloniale Gegenbewegungen, wie in Razzia sur la chnouf, wo das Phantasma des Anderen eindringlich über die Verbindung des Verbrechens mit

51 Zu solchen Zusammenhängen zwischen Moderne, Technologie und Drogen siehe, am Beispiel von Heidegger und Flaubert, Ronell 2004. 52 In diesem Sinne legt Jameson in seiner dialektischen Analyse von Francis Ford Coppolas Godfather-Trilogie Nachdruck auf die subversive Dimension des Gangsterfilms, in der Verdinglichung der Massenkultur einen Ort gefunden zu haben, der – trotz aller die Idee der Gemeinschaft kennzeichnenden patriarchalen Ideologie – die Utopie eben einer anderen, nicht entfremdeten Gesellschaft artikuliert (siehe Jameson 1992, 40-46).

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der Präsenz des Afrikanischen und Orientalischen in Paris wie auch mit dem Mythos vom amerikanischen Gangsterboss bedient wird.53

5. G ANGSTERFILMCHRONOTOPOI

UND

AFFEKTPOLITIK

5.1. Zeit- und Raumregime Die Problemachsen bestimmen die jeweilige chronotopische Organisation. Hierbei ist es zunächst die Achse der Zeit, die eine besondere Spannung aufbaut. An Filmen wie Du rififi chez les hommes oder Le choix des armes lässt sich die komplexe Verflechtung mehrerer Zeitregime paradigmatisch ablesen. Einer sich von verbrecherischem Ruhm zu gesundheitsgefährdendem Risiko spannenden Vergangenheit steht die zumeist illusionäre Hoffnung auf eine durch Söhne, Mündel, Patenkinder oder Protégés verkörperte sorgenfreie Zukunft entgegen.54 Im Zentrum steht jedoch eine im Konflikt des Alten mit dem Neuen aus den Fugen geratene Gegenwart, die sich bei Figuren wie Rémy Grutter in Rififi oder Mickey in Le choix des armes in spontanen Ausbrüchen einer von brutaler Aggression bis hin zu überwältigender Zärtlichkeit reichenden Affektivität artikuliert.55 Einer solchen Fokussierung auf den Moment der Gegenwart, wo die Schuld der Vergangenheit oder die Gewalt des Augenblicks die Kontinuität des Lebensprozesses zerreißt, steht in den klassischen Filmen noch eine ›phänomenologische‹ Zeiterfahrung entgegen, in der jede Geste Teil eines sorgsam choreographierten Zeitregimes darstellt, durch das die minutiöse Planung der Vergangenheit in der perfekten Ausübung des Überfalls ihre Erfüllung findet. Doch scheint eine solche Rückgewinnung nurmehr möglich über eine absolute Verausgabung an die abstrakte Zeit. Dies findet sich kaum besser inszeniert als in der Einbruchsequenz von Rififi, die einschließlich des Zu-

53 Zur Komplexität problematischer Vergangenheit in den klassischen Gangsterfilmen siehe Pillard 2014, 268-298; zur Selbstbehauptung einer ›francité‹ gegen konsumistischen, amerikanischen Lebensstil und ethnische Konflikte vgl. ibid., 299-318. 54 Zur Einschreibung der Vergangenheit in den Raum des Nachkriegsfilms vgl. Dimendberg 2004, 161. 55 Zu einer solchen – mit einem Zitat von Deleuze belegten – »Auslöschung der Einheit des Menschen mit der Welt zugunsten des Bruchs« siehe Grob 2012, 122.

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schauers alle Akteure in eine persönliche Zeiterfahrung zieht, nicht ohne zugleich in steten Zwischenschnitten auf zeitmessende Uhren an den gnadenlosen Ablauf der abstrakten Zeit zu erinnern.56 Schon Melvilles Bob le flambeur zeigt jedoch, wie illusorisch die Erfahrung einer erfüllten Zeit ist, denn der Coup gelingt nurmehr in der Vorstellung, während der tatsächliche Überfall scheitert. Darüber hinaus verdeutlicht Le choix des armes, wie eine diskontinuierliche Zeit des Augenblicks auch noch nach Jahren Kontinuitäten aufzulösen vermag, so dass die Gangsterkarriere nicht spektakulär im oder kurz nach dem Coup scheitern muss, sondern sich – »[w]ie ein Leben, das schon verloren ist, für einen Moment wieder gewonnen wird – und danach für immer verloren geht«57 – erst sehr viel später in einem krisenhaften Moment verzehrt. Eine weitgehend parallele Ausrichtung nimmt das Raumregime ein.58 Im Gangsterfilm überlagern sich mehrere Raumstrukturen. Vordergründig geht es um die Erweiterung des eigenen Territoriums, das verbunden ist mit der Raumsemantik von Oben und Unten des klassischen Sujets von Aufstieg und Fall. Solche Territorien sind im amerikanischen Gangsterfilm häufig Ausdruck ethnischer Grenzen, während dies den französischen Gangsterfilm nur unterschwellig prägt als Abgrenzung entweder der französischen von anderen Hegemonialbestrebungen – der amerikanischen in Razzia sur la chnouf, einer ›deutschen‹ in Rififi – oder von Gegenbewegungen im mediterranen Raum – etwa italienisch-korsischen Ansprüchen von Touchez pas au grisbi bis Un prophète oder maghrebinischen in Police. Dabei ist die territoriale Logik stets verwiesen auf die infrastrukturelle Organisation des Raums durch Transport- und Kommunikationsmedien, denen insofern eine entscheidende Rolle zukommt, als die Filme nicht nur Räume verknüpfen und Bewegung im Raum koordinieren, sondern in der Verkoppelung von Kommunikation, Technik, Autos, Luxusgütern und Geld

56 Zur konstitutiven Rolle der Präzision in Bezug auf die abstrakte Zeit siehe Dimendberg 2004, 200: »Temporal exactitude is to the caper film what scientific management is to the assembly line, optimal productivity organized around the time segmentation of human movement.« 57 Grob 2012, 129. 58 Das Raum- und Zeitregime des Gangsterfilms lässt sich dementsprechend sehen als komplexe Artikulation des Verlusts eines ›home‹ in der Welt der Nicht-Orte mit einer leeren, repetitiven, intensiven ›lounge time‹; zum Chronotopos des film noir vgl. Sobchack 1998.

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diese wiederum eigentlich erst herstellen.59 Dementsprechend liegt es weniger an den Defiziten traditioneller Moralvorstellung als in der Logik von Deterritorialisierungsbewegungen, dass der vermeintlich auf Erhalt von Gemeinschaft bedachte Gangsterfilm scheitern muss und sich vornehmlich auf Fluchtlinien öffnet, die sich lediglich vorübergehend in neue kontingente territoriale Ordnungen fügen.60 Anschaulich wird dies am desillusionierten Ende von Les caïds, wo die Flucht des couple on the run von einer hochgerüsteten Polizeiarmee gestoppt wird. Dies markiert das Ende der um Rückgewinnung eines gemeinschaftlichen Raums kreisenden klassischen Gangstererzählungen. Die Figuren in Les caïds – wie auch diejenigen in Melvilles Le cercle rouge – haben einen solchen festen Raum für immer verloren. Sie sind Nomaden, von den Strömen der kapitalistischen Moderne auf die Flucht getrieben, und zugleich sind sie Objekte staatlicher Regulierungsbehörden, die ihnen einen festen Platz im Gefüge der modernen Gesellschaft zuzuweisen suchen (und sei es das Gefängnis) – oder sie für immer eliminieren. Dabei treten zunehmend beliebige Räume in den Vordergrund wie entromantisierte terrains vagues oder die anonymisierte Banlieue, heruntergekommene Spielhallen und billige Boardinghouses: weniger konkrete Aufenthaltsorte denn momentane Verweilstellen, wie sie sich zeigen bei Mickeys ziellosen Bewegungen in Le choix des armes oder auch beim vagabundierenden Paar in Jacques Audiards Regarde les hommes tomber (1994).61 Hierzu gehört auch der moderne Interventionsraum automatischer Waffen samt ihrer Reichweite, der zudem in besonderer Weise dem Wahrnehmungsdispositiv des Kinos entspricht, da er nicht mehr in den räumlichen Relationen der Dinge besteht, sondern nurmehr in der durch Schuss-Gegenschuss konstituierten Logik der Bilder.62

59 Zu den Transport- und Kommunikationsmedien siehe Dimendberg 2004, 178, und Frahm 2010, 293-306; zur logistischen Wende des Gangsterfilms im heist siehe auch Thompson 2007, 43-48. 60 Zur deterritorialisierenden und rekodierenden Funktion der kapitalistischen Moderne siehe Deleuze / Guattari 1972, 263-324; zu den staatlichen »appareils de capture« Deleuze / Guattari 1980, 528-591. 61 Entsprechend ist auch kein Zufall, dass der einzige Weg für Mickey aus der Banlieue ins unbeschwerte Leben am Meer direkt zu den Bunkern der Organisation Todt als den Symbolen militärischer Deterritorialisierung führt (vgl. Virilio 2008); zum terrain vague siehe Nitsch 2013. 62 Zur Genese des artilleristischen Raums und seiner Rolle bei der Konstitution der ›Moderne‹ vgl. Schäffner 1997, 72-75; zur Geschichte dieser nicht mehr auf

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5.2. Affekte und Intensitäten Die Fokussierung auf den Augenblick und die Anonymisierung des Raums eröffnen filmische Inszenierungsmöglichkeiten von Affekt und Intensität. Basis hierfür bildet die Konstruktion von Milieu und Atmosphäre.63 Dies ist vor allem das Milieu der ›Halbwelt‹ – einer Welt des Zwischenraums, die sich eingelöst findet an übermodernen Nicht-Orten oder deren oftmals beliebigem Überschuss wie eben dem terrain vague, dem Nachtclub, Spielkasino oder Swimmingpool.64 Dies prägt, etwa in einem Film wie Rififi, zudem die Alltagsräume und zeigt auf, wie Affekte aufscheinen, sich ›verkörpern‹ und in Handlungen ihren unmittelbaren Ausdruck finden. Wesentliche Träger dieser Affekte sind über den Raum hinaus Ton und Musik – vom Swing, Hot, Cool Jazz der klassischen Filme bis hin zu den Elektrobeats bei Olivier Marchal – sowie die seit jeher klassisches Lichtregime mit Phasen expressiven Noir-Lightings durchsetzende Beleuchtung. Die Welt des Gangsters erscheint so als eine dem Tageslicht entgegengesetzte Welt intensiver affektiver Ereignisse, synkopischer Rhythmen und flackernden Lichts. Dabei ist sein Milieu stets bedroht durch die territorialisierende Macht von Polizei und Konsumindustrie wie zugleich durch die unaufhaltsame Deterritorialisierungsbewegung der endlosen Flucht. Paradigmatisch hierfür ist ein weiteres Mal Le choix des armes, da es die Auflösung sozialer Ordnungsstrukturen an zwei Polen der modernen Alltagswelt inszeniert: der gutsituierten Bürgerlichkeit des Ehepaars Durieux und der in sich schon defizitären Lebenswelt von Mickeys Banlieue-Prekariat, dessen Turbulenz die Vernichtung der bürgerlichen Welt herbeiführen wird. Dies bildet den heimlichen Horizont der Gangsterfilme. Stets geht es um den Verlust der Bindung an die Welt, wie ihn die Schlusssequenz von Rififi in die Bildstruktur einschreibt, wenn die finale Autofahrt die einstweilige Rettung des kleinen Tonio bringt, während sich die Bilder im Flackern des durch die

dem Territorium, sondern auf dem dromoskopischen Blick beruhenden, spezifisch ›modernen‹ Raumform vgl. Virilio 1984. 63 Siehe hierzu Deleuze / Guattari 1980, 381-433; zu Rückgewinnungsversuchen eines phänomenologischen Raums im film noir siehe Dimendberg 2004, 135. 64 Hierüber trägt sich sich die Spannung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ein als Spannung zwischen konkretem und abstraktem Raum (siehe hierzu mit Bezug auf die Terminologie Henri Lefebvres Dimenberg 2004, bes. S. 106); zu den Zwischenräumen und Beliebigkeitsorten des Gangsterfilms siehe die Beiträge von Maria Imhof und Jörg Dünne in diesem Band.

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Bäume brechenden Lichts einer im 90o-Winkel nach oben gerichteten Kamera verlieren. Die ›eigentliche‹ Lebenswelt des Gangsters verdichtet sich allenfalls augenblickshaft, etwa in der Sequenz des Coups, wo die akribisch choreographierten und souverän ausgeführten Gesten die Subjekte für einen intensiven Moment im Raum zu integrieren scheinen – wie nicht zuletzt in Jansens Meisterschuss im Cercle rouge. Hauptparadigmen der Inszenierung von Affekten sind der Schauspielerkörper, seine Gesten wie Mimik, die von ihm verwendete Sprache, aber auch das ihn umgebende Schweigen. Affekte können in vertraut routinierten oder auch ingeniös variierten Körperhaltungen ›Welt‹ stabilisieren, sie in Haltungen des Begehrens und der Konsumtion wie Drogensucht, Krankheit oder Sexualität aber auch ebenso zerstören.65 Vor allem den Gesten kommt eine entscheidende Rolle zu. Roland Barthes hat schon in den 1950er Jahren in drei dem Zusammenhang von Kino, Affekt und neoliberaler Wirtschaftsordnung gewidmeten Mythologies mit Blick auf Touchez pas au grisbi von einer »économie où la seule valeur d’échange est le geste«66 gesprochen und dabei Dinge wie das Ziehen der Waffe, Schießen, ein Kopfnicken als Todesurteil und nicht zuletzt reduzierte Sprache im Sinn gehabt. Im Zwischenraum der Geste verdichtet sich die Welt. Als Gegenseite des Tragischen ist sie reine Effizienz, als Dementi des Kausalen reines Ereignis. Niemand hat dies deutlicher inszeniert als Melville am Ende des Samouraï. Auch schablonenhafte Sprache stellt nichts dar, sondern ist reine Performativität. Jeder Argotausdruck wirft in sich schon eine Handlung, einen Affekt, eine ganze Situation auf: ›Knete organisieren‹, ›hopsgehen‹, ›Schiss haben‹, ›verpfeifen‹, ›eingebuchtet werden‹ sind allesamt sprachlich heraufbeschworene existentielle Situationen.67 Einen Extrempol affek-

65 Dabei ist gegenüber dem weiblichen Körper und seinen Fetischen als begehrte Oberflächen der männliche, insbesondere der bekleidete männliche Körper der problematischere; denn gerade in einer Zeit, da er kulturell entsinnlicht und uniformiert wird (vgl. Vinken 2013), unterzieht ihn der Gangsterfilm einem selffashioning, das von Gabins modischer Selbstinszenierung von Pépé le Moko über Touchez pas au grisbi bis hin zu Delons scheinbar gegenläufiger Uniformierung in Le samouraï reicht; zu dieser Dialektik im Gangsterfilm vgl. Bruzzi 1997, 67-94. 66 Barthes 1970, 73. 67 Zwar ist der Anteil an Argotausdrücken gegenüber den literarischen Vorlagen eines Le Breton, Simonin oder Giovanni erheblich zurückgenommen (siehe hierzu das Glossar in Le Breton 1992, 271-283), doch bleibt die Sprache im Gangsterfilm in vielerlei Hinsicht eine Geheimsprache, voller rätselhafter Signi-

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tiver Sprache bildet das Schweigen, wie etwa am Beginn des Samouraï, wo es sich als Differenz in das Hintergrundrauschen der Straßengeräusche einträgt und seine Entsprechung im Gezwitscher des Dompfaffs findet, das überdies – wie sich später herausstellt – als Grundform des Zeichens Anund Abwesenheit kodiert. Den anderen Pol bilden die entleerten Formeln der Konsumgesellschaft, wie sie Godard in Pierrot le fou (1965) als Reminiszenz ans französische Gangstertum inszeniert, oder auch das Geständnis als verzweifelt Wirklichkeit an die Verantwortung des Subjekts rückzubinden suchende juridische Form wie in der Flut ergebnislos bleibender Verhöre in Pialats Police.68 Hierher gehört auch die Inszenierung von ›Atmosphäre‹.69 Oft gibt es lange Einstellungen oder Sequenzen, wo nichts passiert außer der Zirkulation von Intensitäten, wie bei den Rauchschwaden zu Beginn des Samouraï oder im über 20-minütigen Bruch in Rififi, in dem jedes Geräusch und jede minimale Situationsveränderung potentielle Aufmerksamkeit erheischt. Hier wird das Filmbild zu einem intensiven Möglichkeitsfeld, wo sich jederzeit etwas zu Ereignishaftem verdichten kann. Der Fokus auf den Augenblick betrifft dabei nicht mehr nur die Körper, sondern auch die Dinge. Dassins soignierte Praxis des Framing konzentriert das Filmbild immer wieder auf das Kleinste und macht über Close-Ups, Rahmensetzungen und Rekadrierung die Dinge selbst zum Ereignis.70

fikanten wie eben ›grisbi‹ oder ›rififi‹; zum Argot als französisches Äquivalent des hard-boiled style vgl. Forbes 1991, 94 f., zum Versuch einer hierüber betriebenen Sicherung des nationalen Charakters siehe Pillard 2014, 221-226. 68 Vgl. hierzu Foucault 1994. 69 Siehe hierzu Ritzer 2012, 18, und Mauer 2012. 70 Die angesichts des Verlusts von Welt einsetzende Entbindung von Affekten zeigt sich zudem nicht zuletzt auch in der Komisierung. Selbst ein so brutaler Film wie Scarface weist komische Elemente auf wie etwa Angelos running gaghaftes Scheitern an der richtigen Verwendung moderner Kommunikationsmedien. Mit Schauspielern wie Fernandel und Eddie Constantine entstehen in Frankreich zunehmend Filme, die die Probleme von Modernisierung, Amerikanisierung und Globalisierung in Parodien klassischer Agenten- und Gangstergenres ausagieren (siehe hierzu die detaillierten Ausführungen in Pillard 2014, 111-210; zur konstitutiven Funktion der Parodie in der Série noire vgl. Deleuze 2002, 119). Dies führt zu Übernahmen in Cinéma de qualité wie Nouvelle Vague und mündet erneut in einem Reflexivierungsschub auf das eigene Medium.

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6. F ASZINATION UND F UNKTION DES G ANGSTERS FRANZÖSISCHEN N ACHKRIEGSKINO

IM

Mit dem Gangsterfilm hat sich ein Medium gefunden, das wie kaum ein zweites die Ambivalenzen der Moderne inszeniert, reflektiert und als problematische Konstellation lesbar macht. Das Bewusstsein, dass die Gangsterwelt eine einprägsame Reflexionsfigur für die widerstrebenden Tendenzen der Modernisierungsprozesse darstellt, findet in der eingangs aufgerufenen Nachtclubszene von Jules Dassins Rififi mit seinen klarsten Ausdruck. Das dort beschriebene Titelbild zeigt den Gangsterfilm als mediale Konfiguration, in der die Tendenzen der abstrakten Gesellschaft zum Gegenstand werden von Prozessen bildlicher Abstraktion zwischen dem großstädtisch gepflasterten Asphaltdschungel der Moderne und den Räumen von Begehren, Konsumtion und Genuss. Hierin konstruiert sich ›Wirklichkeit‹ als eine den Strömen von Kapital, Waren und Dienstleistungen abgetrotzte Lebenswelt zwischen den technischen Apparaten der kapitalistischen Maschine und dem Realen des leiblichen Körpers. Dieser Raum ist immer schon ein virtueller Raum, aber zugleich auch ein Raum intensiver ›echter‹ Affekte: eines konfliktreichen ›rififi‹ – des Urstreits unterhalb der modernen Gangsterwelt, der sich im wahrsten Sinn ›signifikant‹ Bahn bricht auf der Ebene des Lauts, im Zischen der von halbautomatischen Waffen abgefeuerten Projektile. Das Still veranschaulicht die Auflösung der Lebenswelt in intensive Ereignisse wie auch die Abstraktion des Handlungsschemas auf einzelne Gesten und zeigt auf diese Weise, wie Affekt und Abstraktion sich verbinden zum Sinnbild einer historischen Konfiguration.

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Vom Patron zum Samourai Die Vereinsamung des Gangsters in der abstrakten Gesellschaft A NDREAS M AHLER

1. ›J E

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Im Verlauf des 20. Jahrhunderts werden die westeuropäischen Gesellschaften zusehends funktional. Es ist dies der endgültige Vollzug des Prozesses westlicher ›Modernisierung‹.1 Das Individuum löst sich zunehmend aus

1

Der (nicht unumstrittene) Prozess der Modernisierung lässt sich fassen als ein Prozess der longue durée. Er umfasst die lange, allmähliche und keineswegs linear einheitliche Entwicklung der westeuropäischen Gesellschaften vom Mittelalter bis zur Jetztzeit von einer über die Position des einzelnen definierten zu einer genau diese Position erst definierenden Gesellschaftsstruktur. Dies ist der Umbau von einer struktural-funktionalen zu einer funktional-strukturalen Gesellschaft, wie er sich etwa beschrieben findet bei Luhmann 1974, v.a. S. 31 ff. und 113 ff. Er ist verbunden mit der zwischen Mittelalter und Jetztzeit lokalisierbaren Großepoche der ›Moderne‹, der Epoche einer vor allem aufklärerisch bestimmten Säkularisierung, Technologisierung, Pluralisierung, Demokratisierung etc.; vgl. hierzu in aller Knappheit die Lexikoneinträge von Müller 2001 und Seeber 2001. Zu den nicht zu unterschlagenden negativen Folgen der Modernisierung wie Entfremdung, Ohnmacht, Frustration des einzelnen, siehe auch die gewichtige Analyse in Berger / Berger / Kellner 1981. – In Frankreich zeigt sich dieser Prozess an einem seiner Anfänge sinnfällig im 17. Jahrhundert im absolutistischen Versuch der Entmachtung des Schwertadels und der Zusammenziehung eines bezeichnend so genannten Funktionsadels am Hof, wie sich dies klassisch beschrieben findet bei Auerbach 1951; vgl. in diesem Zusammen-

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konkret definierbaren sozialen Bezügen und sieht sich mehr und mehr bestimmt über anonym von außen herangetragene Anfordernisse der ›Gesellschaft‹. Weniger bestimmt es sich selbst, denn es wird fremdbestimmt durch vermeintlich präexistente ›soziale‹ Gegebenheiten. Verloren geht die Illusion subjektiver Handlungsmacht; in postindustriellen Gesellschaften zählt vorderhand allein das Funktionieren. Solches avisiert in seiner Endphase der Begriff der ›abstrakten Gesellschaft‹.2 Konzeptuell findet sich diese bereits skizziert bei Karl Popper als Extremform und Kehrseite der von ihm bekanntermaßen propagierten ›offenen‹ Gesellschaft: »As a consequence of its loss of organic character, an open society may become, by degrees, what I should like to term an ›abstract society‹. It may, to a considerable extent, lose the character of a concrete or real group of men, or of a system of such real groups.«3 Irrealisierung, Entindividualisierung, Anonymisierung sind demnach ihre Kennzeichen. Einer solchen Gesellschaft eignet entsprechend die Auflösung konkreter gesellschaftlicher Beziehungen unter ihren einzelnen Mitgliedern zugunsten ihres bloßen Funktionierens. Dies führt zu Sinnverlust und Desorientierung. Die abstrakte Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Ersetzbarkeit und der Kontingenz.4

2

3

4

hang den prägnanten Wandel von einem aristokratisch eigenbestimmten ›je veux‹ zum gehorsam höfisch fremdbestimmten ›il faut‹ etwa im Misanthrope I.1 (siehe Molière 1666/1985). Dieser Funktionalisierungsprozess ist in Frankreich insbesondere gebunden an die Entstehung einer ›Moralistik‹ genannten, misstrauensgeprägten ›negativen Anthropologie‹, derzufolge der jeweils ›andere‹ aufgrund möglicher Verstellungen, funktionaler Erfordernisse, anderweitiger Unergründlichkeiten nie wirklich zuverlässig gedeutet werden kann (siehe hierzu v.a. Stierle 1985). Siehe hierzu und im folgenden vor allem Zapf 1988, der das Konzept der abstrakten Gesellschaft fruchtbar gemacht hat für die Literaturanalyse, näherhin des englischen Theaters nach 1956; zu einer einlässigen Differenzierung des Ansatzes mit Blick auf ein einzelnes Autorenœuvre, näherhin dasjenige Tom Stoppards, siehe Mader 2000, v.a. S. 11-24. Siehe Popper 1971, 174; Popper verbindet dies sodann zudem abschließend ausdrücklich mit den Prozessen der Modernisierung: »[O]ur example, I hope, will have made plain what is meant by a more abstract society in contradistinction to a more concrete or real social group; and it will have made it clear that our modern open societies function largely by way of abstract relations, such as exchange or co-operation.« (S. 175) Mit Blick auf die epistemisch-historischen Überlegungen des Philosophen Hans Blumenberg ließe sich hier sprechen von einem spätneuzeitlichen Übergang von einer über ergebnisorientierte zeitliche Prozesse imaginierten Sinnhaftigkeit von

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Aus soziologischer Sicht findet sich dieser Gedanke zu Beginn der 1970er Jahre wiederaufgenommen und näherhin theoretisiert beim Niederländer Anton C. Zijderveld.5 Er bestimmt das die Spätmoderne in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts weithin prägende Entfremdungsgefühl des Individuums aus dem Gegensatz zwischen der auf Kontakt, Bekanntschaft und Anerkennung angewiesenen ›konkreten‹ sozialen Natur des Menschen und den überbordenden anonymen Funktionsanforderungen der ›modernen‹ Gesellschaft, welche das Verhältnis des einzelnen zu seiner Umwelt entsprechend zunehmend ›abstrakt‹ erscheinen lassen. Eine solche Analyse befindet sich in Einvernehmen sowohl etwa mit Jürgen Habermas’ Diagnose einer deutlich beobachtbaren ›Entkoppelung von System und Lebenswelt‹ im Rahmen seiner ›Kritik der funktionalistischen Vernunft‹6 als auch mit Niklas Luhmanns genereller Theoretisierung westlich ›moderner‹ Gesellschaftsentwicklung als einem allmählichen, lang andauernden und je Kultur ganz unterschiedlich verlaufenden Übergang von einer ›stratifikatorischen‹ zu einer ›funktionalen‹ Gesellschaftsdifferenzierung, also weitgehend von einem über die Zugehörigkeit zu Adel, Bürgertum, Arbeiterschaft substantiell bestimmten Klassenbewusstsein hin zur fluktuierend ›freien‹ Besetzung von Funktionsslots wie etwa demjenigen des Staatsdieners, Unternehmers, Handwerkers oder auch des derzeit omnipräsenten Popstars als Warholschem five-minute hero.7 Genau hierin liegt der von Luhmann diagnostizierte wesentliche Paradigmenwandel von einer strukturalfunktionalen zu einer funktional-strukturalen Sicht, die Vorordnung der Funktion vor die Identitäten.8

5

6 7

8

›Wirklichkeit‹ als dem ›Resultat einer Realisierung‹, wie sie sich etwa heute noch wider etliche Anzeichen konzeptualisiert findet in den Phantasmen des ›Fortschritts‹ oder des ›Wachstums‹, hin zu einem widerständigen, solche Art von ›Sinn‹ grundsätzlich verweigernden, mithin im Zeichen der Kontingenz stehenden Konzept von ›Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige‹; siehe Blumenberg 2001, die Zitate insbes. S. 52 und 53 (Herv. H.B.). Vgl. Zijderveld 1972; Zijderveld bezieht sich nicht direkt auf Popper. Zur Problemstellung, Diskussionslage und zu den weiteren Bezügen siehe insbes. auch Zapf 1988, 15-24. Siehe hierzu Habermas 1987, II.171-293, näherhin S. 229 ff. Siehe hierzu insbes. Luhmann 1993, I.9-71; dort findet sich auch die dritte, ›archaische‹ Kategorie der ›segmentären‹ Differenzierung etwa in Jäger, Sammler, Krieger. Vgl. oben Anm. 1. Eine Fortführung funktionalistischer Gesellschaftsanalyse unter eher neutraler, wofern nicht gar optimistischer Perspektive bietet in jüngerer Zeit die ›Akteur-Netzwerk-Theorie‹ als subjektabbauende Soziologie einer

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Entsprechend bestimmt sich die abstrakte Gesellschaft über vorderhand identitätsofferierende wie identitätsbildende Institutionen. Es sind dies vornehmlich diejenigen der Bildung und der Kommunikation. Sie verteilen die Menschen und dienen der Herstellung differenzierter sozialer Funktionserfüllung. Daneben existieren allerdings zugleich notwendig immer schon auch abstandgewinnende, distanznehmende Institutionen. Eine solche stellt unter anderem das menschliche Vermögen, wo nicht gar Bedürfnis, zur alternativensetzenden Fiktion in ihrer historisch-medialen Ausprägung beispielsweise als Literatur oder als Film.9 In solcher Form lässt sich mit Hubert Zapf etwa das Neue Englische Drama lesen als eine sich thematisch, strukturell wie intertextuell niederschlagende funktionale – oder in ihrer gegenstrebigen Widerständigkeit eben gerade dysfunktionale – Antwort auf die ›Defizite‹ gesellschaftlichen Konkretheitsverlusts: auf die Auflösung von überschaubaren Personenverbänden, von versichernden sozialen Beziehungen, gegenseitigen Verpflichtungen, von Bindungen überhaupt, mithin als ›Aufdeckung‹ der Verlustsumme kapitalistisch-funktionalen Fortschritts.10 Das englische Theater nach 1956 erscheint auf diese Weise als Modernisierungskritik am Gegensatz zwischen den anonymen, von außen kommenden Anforderungen der ausgehenden Industriegesellschaft und den

Interrelation von Akteuren, die von Haus aus nicht eigenmächtig handeln, sondern sich jeweils als Mittler beständig gegenseitig dazu bringen, etwas zu tun (›faire faire‹), und damit in gewissem Sinn die Abstraktheit positivieren; siehe Latour 2010, zum ›Dazubringen‹ insbes. S. 374. 9 Zur Fiktion als einer »Schule der Distanznahme« siehe die pragmasemiotisch argumentierenden Bemerkungen bei Warning 1983, das Zitat S. 204; die hierfür relevanten ›Institutionen‹ wären nach Warning entsprechend die literarischen Gattungen bzw. die ›Filmgenres‹. Vom dort formulierten Gedanken von der Fiktion als eines ›inszenierten‹ Diskurses ist es sodann nur ein kleiner Schritt zur Rede von einer – im Gegensatz zur funktionalen Eingebunden- bzw. ›Eingebettetheit‹ diskursiver Rede – nunmehr dysfunktional vorzeigenden, ›ausbettenden‹ ›Konterdiskursivität‹ bzw. ›A-Diskursivität‹; vgl. hierzu Warning 1999 und, im Anschluss hieran, Mahler 2010. 10 Siehe Zapf 1988, 249 ff.; zum von Zapf hier noch nicht näher angeführten, aber gleichwohl zumindest implizit mit in Anspruch genommenen funktionsgeschichtlichen Modell von Literatur bzw. von Fiktionen als dem einer ›Bilanzierung‹ lebensweltlicher ›Defizite‹ entweder im Sinne ihrer problembewussten ›Aufdeckung‹ oder aber auch im Sinne ihrer reharmonisierenden ›Abdichtung‹ siehe vor allem auch Iser 1976, 87-143. Zu einer späteren expliziten Auseinandersetzung Zapfs mit dem Iserschen Funktionsmodell im Rahmen eines eben genau auf solche ›Bilanzierung‹ abzielenden Ökologiegedankens siehe näherhin Zapf 2002, insbes. die Eingangsüberlegungen S. 3-68.

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älteren biologisch-anthropologischen inneren Bedürfnissen des Individuums.11 Dies suche ich im folgenden zu übertragen auf den französischen Nachkriegsfilm. Denn dieser scheint mir aus funktionsgeschichtlicher Sicht seinerseits für die französische Nachkriegsgesellschaft – und unter deren spezifischen Bedingungen – genau dieselbe Stelle einer fiktiv bilanzierenden Modernisierungskritik zu erfüllen wie zeitweilig das Neue Englische Drama für die britische Nachkriegsgesellschaft; und er tut dies institutionell näherhin vornehmlich im Filmgenre des Gangsterfilms, wo sich der kulturspezifische Gegensatz zwischen einer substantiellen Sehnsucht nach individueller Anerkennung und dem abstrakten Gebot gesellschaftlichen Funktionierens im überschaubaren Rahmen der ›Gegengesellschaft‹ des Gangstermilieus mit am einlässigsten profilieren lässt.12

2. ›O CCUPATION ‹ / › GLOIRE ‹ Die französische Nachkriegsgesellschaft steht bekanntlich im Spannungsfeld zwischen einem akuten Okkupationstrauma und einem überkommenen Phantasma nationaler gloire. Die Zeit der Occupation selbst erscheint hierbei als empfindlich demütigende Störung des Mythos von der Grande Nation.13 Eine solche Störung des Selbstverständnisses nationaler Ordnung versichtbart vor allem die unerwartete funktionale Manipulierbarkeit der Ordnungsinstanzen, insbesondere die der Polizei und näherhin der eigens geschaffenen Miliz, deren Inanspruchnahme durch die deutschen Besatzer

11 Vgl. hierzu, bereits mit aller Defizit-Rhetorik, nochmals Popper 1971, 175: »For although society has become abstract, the biological make-up of man has not changed much; men have social needs which they cannot satisfy in an abstract society.« 12 Zu den Filmgenres des ›Gangsterfilms‹ bzw. des ›Kriminalfilms‹ wie des ›Film noir‹ als gängigen fiktiven Verhandlungsinstitutionen siehe etwa die einschlägigen Sammelbände von Hickethier 2005 und Grob 2008. 13 Zu den historischen Fakten siehe überblicksmäßig die Kapitel von Stefan Martens in Hinrichs 1994, v.a. S. 397-437; zur Occupation wie zur Bearbeitung ihrer Mythen wie desjenigen der Grande Nation oder auch desjenigen der Résistance siehe Dürr 2001, insbes. S. 13-22. In ganz ähnlicher Weise ließe sich ein Phänomen wie die Astérix-Comics von Albert Goscinny und Uderzo begreifen als eine ›bilanzierende‹ Antwort auf den Kontrollverlust nationaler Eigenmächtigkeit in der Zeit der Occupation.

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im Vichy-Régime nicht lediglich allgemein als ungeliebtes, verachtungswürdiges ›Funktionieren‹, sondern im speziellen zudem auch als in sich substanzlose, fremdbestimmt angepasste, Eigenverrat betreibende Kollaboration erscheint. Dementsprechend basiert die näherhin die unmittelbare Nachkriegszeit bestimmende fiktionale Aufarbeitungsdebatte in Frankreich vor allen Dingen auf der Setzung zweier semantischer Felder, welche in dem einen Feld all die mit dem ›Staat‹ verbundenen korrumpierbaren und korrumpierten Funktionalisten lokalisiert, die aus Schwäche und Eigennutz dem Okkupationsrégime zudiensten waren, während sie das andere Feld vornehmlich nutzt als imaginär restituierende Projektionsfläche für die alten substantiellen Werte einer vermeintlichen ›douce France‹ als einer Gesellschaft bzw. gar ›Gemeinschaft‹ individueller / ständischer / gruppenbezogener ›Ehre‹ und zugleich individueller, persönlicher ›Sorge‹.14 Genau dieses Spannungsverhältnis zwischen missbrauchbarer Funktionalität und vermeintlich authentisch-unverwechselbarer Eigenheit modelliert eine ganze Reihe französischer Nachkriegsfiktionen. Dabei steht insbesondere das Kino im Zeichen einer sich am Trauma des zeitweiligen Identitätsverlusts abarbeitenden ›nationalen Vergangenheitsbewältigung‹; sein positives Hauptphantasma ist das des ›Widerstands‹.15 Alsbald jedoch sieht sich diese Bewältigungsstrategie mit dem Problem konfrontiert, dass sie ihr Heil in der kontrafaktischen Rückkehr in ein bereits in Verabschiedung begriffenes Gesellschaftsmodell zu sehen scheint, während sie den sich abzeichnenden ›modernisierenden‹ Funktionalisierungsschub als vermeintlich disqualifizierten ablehnt.16 Hieraus resultiert eine für das Film-

14 Zur Beschreibung von Kulturen über semantische Grenzziehungen siehe, unter dem Begriff der ›Semiosphäre‹, Lotman 2010, insbes. S. 174 ff., zu deren fiktiver Modellierung in literarischen Texten wie im Film vgl., unter dem Begriff des ›Sujet‹, Lotman 1972, 300 ff. Zum ›archaischen‹ Begriff der ›Ehre‹ als einem entsprechend ›ständischen‹, wenn nicht womöglich sogar noch vornehmlich ›segmentär‹ organisierten Gesellschaftstypus zuzuschreibenden Konzept siehe Vogt / Zingerle 1994, insbes. die Einleitung der beiden Herausgeber S. 934, zum Aspekt des ›Ständischen‹ v.a. S. 19 ff. 15 Dies ist die Grundthese von Dürr 2001, vgl. insbes. die Zusammenfassung S. 173 ff. 16 Zur positiven Verklärung des Vergangenen als einer insbesondere mit dem Kino Jean-Pierre Melvilles verbindbaren »nostalgic identification with a macho image, dating from the Resistance and celebrating the existential, but also adolescent virtues of the lone wolf, fiercely loyal above all to ego-ideals of honour

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genre charakteristische Paradoxie semantischer Besetzungen: das Gangstertum wird aufgrund seiner Konkretheit, Widerständigkeit und seines inneren Normenhorizonts gegenseitiger Verpflichtung – und nicht zuletzt auch seiner Besetzung durch beliebte Schauspielerpersönlichkeiten – potentiell positiv gesehen, während die Gesellschaft als zunehmend ›abstrakte‹ deutlich negative Züge trägt. Auf diese Weise wird der Gangster zum Zeichen alter substantieller ›gloire‹, die Polizei hingegen zum Zeichen rezenter funktionaler Schande. Dies wird in den Einzelfilmen entsprechend durchgespielt: zunächst als kontrafaktische Beschwörung einer substanz- und normenbewussten Gemeinschaft zwischen Oberwelt und Unterwelt, mithin als Komplizität von Patron und Kommissar; sodann als Antagonismus zwischen ›gutem‹ und ›bösem‹ Gangster, zwischen sorgetragendem Patron und regelverletzendem, funktional ›ehrlosem‹ Falschspieler; schließlich als Verlust der ›Gang‹ und konsequente Vereinsamung des seine ›Ehre‹ nurmehr allein verkörpernden Patrons zum Einzelkämpfer, zum ›Samourai‹, mit der Folge absoluter funktionaler Austauschbarkeit der Positionen von Gangster und Kommissar, wie sich dies nicht zuletzt nochmalig in den Schauspielerbesetzungen niederschlägt.17

3. ›R ESTITUTION ‹ / › RÉSISTANCE ( S )‹ Intertextuell speist sich der französische Nachkriegsgangsterfilm aus den Strukturen und Bildern des amerikanischen Gangsterfilms aus der Zeit des frühen Tonfilms nach der Großen Depression.18 Seine Sujets basieren

and valour« vgl. auch die Bemerkungen Elsaessers mit Blick auf die späteren Filme Rainer Werner Fassbinders in Elsaesser 1996, 48. 17 Am einlässigsten ist dies beobachtbar in der zunehmenden Austauschbarkeit von Gangster- und Kommissarsrolle etwa beim Schauspielerduo Jean Gabin / Alain Delon. 18 Siehe hierzu den Kleidung (Hut, Mantel, Hausanzug etc.), Technik (Telefon, Automobil, Maschinengewehr), raum-zeitlichen Décor (Hinterhof, Seitenstraße, Nachtclub, Penthouse, Nebel, Nacht) sowie das Figurenarsenal (Gangsterboss, Kommissar, treuer Freund, untreue Geliebte) umfassenden Katalog ikonographischer Attribute bei McArthur 1972; vgl. auch den Beitrag von Susanne Dürr in diesem Band. Zur Geschichte des französischen Nachkriegskinos siehe den knappen Überblick in Jeancolas 1995, insbes. S. 60-74. – Elemente einer möglichen Poetik des Gangsterfilms wären etwa auf der Ebene der histoire neben den

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räumlich auf der die beiden Felder versichtbarenden Grundopposition einer vor allem mit sichtbaren Außen- und Obenräumen in Verbindung gebrachten funktionalen, ›modernen‹ Gesellschaft und einer weithin mit verborgenen Unten- und Innenräumen wie etwa der Bar, dem Keller, der Werkstatt, dem Hinterzimmer, der ›Gangsterhöhle‹ – oder zuweilen auch dem aus der ›Zivilisation‹ ausgegrenzten, unzugänglichen ›terrain vague‹, der Müllkippe, dem Schrottplatz – verknüpften, patriarchalisch-substantiell organisierten ›archaischen‹ Gesellschaft (s. Abb. 1).19 Hieraus resultiert auf der Ebene der Figuren ein grundständiges Spiel von Individuum und Gruppe als Inszenierung von Einsamkeit und restituierter Gemeinschaft, wie sich dies – etwa zu Beginn von Jean-Pierre Melvilles Le Doulos (1962) oder auch Henri Verneuils Mélodie en sous-sol (1963) – beispielhaft zeigt in einer sinnfälligen Nutzung von Entlassungsszenen für die Gestaltung des Filmanfangs wie auch zum Aufbau des Sujets. Inszeniert wird dort insbesondere eine gegen die Unüberschaubarkeit der abstrakten Gesellschaft – in Mélodie en sous-sol etwa einlässig verbildlicht in der Orientierungslosigkeit des in die zwischenzeitlich aus dem Boden gestampfte Trabantenstadt Sarcelles heimkehrenden Häftlings20 –

entsprechenden Milieufiguren und den angedeuteten raum-zeitlichen Koordinaten eine Wiedersehensszene, eine Planungsszene, der Bruch, eine Variétészene, die Verfolgungsjagd, der Showdown sowie entsprechend auf der Ebene der Vermittlung auf dem Sprechtrakt spärliche Kommunikation, zumeist umgangssprachlich oder Argot in Originalton, auf dem Tontrakt Alltagsklänge sowie zumeist Jazzmusik, die in der Variétészene diegetisch eingebaut wird (wenn nicht gar lediglich minimale Klänge), und auf dem Bildtrakt in der mise-enscène eher triste, graue, abgelegene Orte (mit Ausnahme der Variété-Show), zumeist im Dunkeln bzw. nachts, und im Kameraverhalten z.T. sehr bewegliche Einstellungen, mobile Kamera, rapider Wechsel, Spiegelungen und extreme und überraschende Schnitttechniken. 19 Diese Trennung verdeutlicht sehr schön bereits die Eingangsszene in Jacques Beckers Touchez pas au grisbi (1953), wo im Milieurestaurant ein ahnungslos hereinkommendes gutbürgerliches Publikum auf eine andere Lokalität verwiesen wird, bevor die Wirtin unter sichtlicher Zustimmung der Stammgäste sicherheitshalber die Rolläden schließt, um weitere ungebetene Zwischenfälle dieser Art zu vermeiden, und zugleich erlaubt, dass ein zur Gruppe gehörendes ›Mitglied‹ noch durchschlüpft (TG 00:03:15 ff.). 20 Bezeichnenderweise schlägt sich dies nieder in den Straßennamen: der gealterte Gangster Charles (Jean Gabin) fragt auf der Suche nach seinem ›romantisch‹ substantiellen Zuhause stets nach der »rue Théophile Gautier«, welche sich im Zuge der Neugestaltung des gesamten Vororts jedoch zeitgemäß verwandelt hat in eine technizistisch-funktionale »rue Henri Bergson«.

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(Abb. 1)

richtete Rückholung ins patriarchale System: die Reintegration des Gangsters in das milieu der (Gegen-)Gemeinschaft mit einer quasi ›rituellen‹ Reinstitution des geltenden Verhaltenskodex von ›Sorge‹ und ›Ehre‹ als Ratifikation der Gruppenprinzipien. Dabei erscheint in einer ersten Phase der Kommissar noch programmatisch gesetzt als potentieller Teil und restitutiver Garant dieser Gemeinschaft. 3.1. ›Restitution‹ als ›résistance‹ Noch vor dem eigentlichen Beginn des französischen Nachkriegsgangsterfilms zeigt dies etwa Henri Georges Clouzots Quai des Orfèvres (1947).21 Der Film sucht eine Wiederherstellung alter Ordnung über das Einvernehmen des einzelnen mit dem Ordnungshüter; ihm geht es vornehmlich um die Rehabilitation der okkupationsgeschädigten Ordnungsmacht. Der Titel setzt den Fokus programmatisch auf das Polizeipräsidium, und bereits das Filmplakat zeigt den Vorkriegssympathieträger Louis Jouvet in der Rolle

21 Zitierter Film: Henri Georges Clouzot, dir. (1947/2008), Quai des Orfèvres, DVD, StudioCanal, F; hinfort: Q. Siehe auch Buss 1994, 197 f.

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des Inspecteur Antoine als wohlwollend-logisch aus der Vogelschau beobachtenden Wächter, der die Figuren sorgsam geometrisch in den Blick nimmt, damit es zur gerechten ›Lösung‹ kommt. Potentielle Kriminelle – von ›Gangstern‹ im eigentlichen Sinn kann hier im unmittelbaren Nachkriegs-Paris noch keine Rede sein – und Polizei sind offenkundig Teil desselben Spiels: es geht um die Inszenierung von Komplizität und Sorge. Der Film nimmt sich zu Beginn sehr viel Zeit für die Ausfaltung eines ›Falls‹. Er modelliert weithin bereits normalisiertes Nachkriegsleben. Die beliebte Music-Hall-Sängerin Jenny, verheiratet mit dem zur Eifersucht neigenden Pianisten und Komponisten Maurice und bewundert von der lesbisch fühlenden Photographin Dora, besucht in der leichtsinnigen Hoffnung auf ein aussichtsreiches Engagement in dessen Wohnung den schmierigen alten Impresario Brignon, einen ›vieillard vicieux‹, gegen dessen Zudringlichkeiten sie sich so heftig zur Wehr setzt, dass sie, als dieser noch in derselben Nacht tot aufgefunden wird, sogleich unter Verdacht steht, ihn ermordet zu haben; und der Verdacht erstreckt sich in der Folge sodann auch auf den eifersüchtigen Gatten wie die sie zu schützen suchende Photographin. Dies ist die Exposition; sie dauert mit allen retardierenden Milieuinszenierungen und Musikeinlagen knapp vierzig Minuten. Erst dann erscheint der Kommissar (Q 00:37:22). Die Kamera zeigt ihn als erstes nicht im Dienst, sondern als Normalbürger im Schlafanzug bei sich zuhause, wie er gerade versucht, ein – vom Plakat bereits aufgerufenes – geometrisches Dreiecksproblem anzugehen, ohne die rechte Lösung zu finden, da sich diese, wie sich später herausstellen wird, außerhalb des Dreiecks befindet (s. Abb. 2). Binnenfiktional ist dies eine schulische Hausaufgabe seines schlafenden, dunkelhäutigen Pflegesohns, um den er sich alleinerziehend und, wie das wärmende Zudecken mit einem Mantel zeigen soll, liebevoll sorgt; strukturell verweist es auf seine funktionale Aufgabe als von außen aufmerksam sorgender Wächter der Gesellschaft. Denn im Film geht es um die Befreiung aller vom Verdacht: um die Wiederherstellung der ›Ehre‹ Jennys, des ihr angetrauten Maurice, selbst derjenigen Doras – wie nicht zuletzt auch der des Kommissars. Schritt für Schritt löst sich das Gewirr der Täuschungen, Lügen, Fehlannahmen und Schutzbehauptungen, bis die Wahrheit in für die Nachkriegszeit typischer Form ans Licht kommt. Auf diese Weise inszeniert Quai des Orfèvres die Notwendigkeit und Nützlichkeit des Polizisten. Erst wenn alle wieder zusammenhalten – »Je respecte la police« (Q 01:16:43), äußert in heiligem

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(Abb. 2)

Ernst vor etwas ungläubig blickenden Gendarmen ein Wirt, bevor er einen wichtigen weiterführenden Hinweis gibt – erhält sich die soziale Ordnung. Und erst wenn alle Fäden am rechten Ort zusammenlaufen, löst der Inspektor nach selbstkritisch eingestandenen Irrungen – »Tout le monde peut se tromper; moi, il y a un mois que je me goure« (Q 01:40:27) – im Interesse aller den die Gemeinschaft bedrohenden Fall. Dann aber verkündet er: »Je crois que je connais le vrai coupable« (Q 01:38:11), und überführt wenig später kurzerhand im zielstrebigen Verhör den Kleinkriminellen Paulo der versehentlichen Tötung Brignons aus »frousse«, aus bloßer Angst vor der Entdeckung (Q 01:40:10 ff.). Sein Fazit ist verständnisvoll und abgeklärt: »C’est une histoire sordide: [...] on s’excite, on s’emballe [...] et ça finit comme d’habitude ... en pipi de chat.« (Q 01:40:30) Die Schlussszene entlässt ihn zurück in konkrete Beziehungen. Nach der Erfüllung seiner abstrakten Funktion – »Ne me remerciez pas, c’est mon boulot« (Q 01:38:13) – inszeniert sie die Rückkehr des Kommissars ins konkrete Normalleben. Sein letztes Klingeln bei Jenny und Maurice dient – nach deren erster ›Rettung‹ vom Tatort durch Dora – der abermaligen Restitution von Jennys Fuchsstola nunmehr als sichtbares Zeichen nurmehr rein persönlicher Sorge, und die letzte Aktion ist seine eigene

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Reintegration in die Gesellschaft und deren ganz konkrete Relationen: Mit Jenny und Maurice beobachtet die Kamera aus erhöhtem Fensterblick, wie das aus der Überlegenheit funktionaler Überschau in die geometrische Fläche zurückgeholte Mastermind ›Opfer‹ eines Schneeballs seines Pflegesohns wird und von da an, solchermaßen gleichberechtigt in die ›Gemeinschaft‹ wieder eingegliedert, diesem ganz gehört fürs anstehende Weihnachtsfest. Der Kommissar ist also den Figuren funktional Helfer im ›Widerstand‹ gegen das Unrecht, und nach der Restitution ihrer – und zeitgeschichtlich damit auch seiner – ›Ehre‹ entschwindet er in der Gemeinschaft. Auf diese Weise erscheint Quai des Orfèvres wie ein bereits ein wenig anachronistisch beschwörender Abgesang auf das alte Gesellschaftsmodell einer auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden Solidarität. Alsbald jedoch beginnt sich diese tentativ gleichschaltende Neuverknüpfung von ›restitution‹ und ›résistance‹ wieder voneinander zu lösen. Der Auftakt zu Jean-Pierre Melvilles Bob le flambeur (1955)22 inszeniert – in ähnlich langer Exposition, zwischen Nacht und Tag, dem ›Himmel‹ Montmartre und der ›Hölle‹ Pigalle – minutiös und detailgenau das Milieu um die place Pigalle als den angestammten Aufenthaltsort des Spielers im großen Stil, des titelgebenden ›flambeur‹ Robert Montagnier, »figure déjà légendaire d’un passé récent« (BF 00:02:07), auf dem Weg nach durchspielter Nacht in sein Zuhause mit der für den sich am Rand der Gesellschaft Bewegenden, wie er später selber sagt, leicht merkbaren Hausnummer 36, »36, comme le quai [...] des Orfèvres« (BF 00:22:25). Im Quartier überall bekannt, bindet den etwa Fünfzigjährigen ein auffälliges Netz konkreter Beziehungen: zur Wirtin seiner Stammkneipe mit dem bezeichnenden Namen »Pile ou Face«, die ihm ihre Existenz verdankt; zu Paulo, der zu ihm mehr als zu einem Vater aufblickt; zum Besitzer des Zeitungskiosks, der genau weiß, welche Zeitungen er liest; zur Concierge, die ihm den Haushalt führt und die Hemden bügelt. Nicht nur ist Bob vollkommen ins Stadtviertel integriert; er ist dort auch ein weithin respektiertes, autoritatives, ordnungssicherndes patriarchales Zentrum: nachsichtig umsorgt er den jugendlich hitzköpfigen Paulo, dessen mit Bob befreundeter Vater bei einem missglückten Coup verstarb; fürsorglich beschützend kümmert er

22 Zitierter Film: Jean-Pierre Melville, dir. (1955/2006), Bob le flambeur, DVD, StudioCanal, F; hinfort: BF. Siehe auch Jansen / Schütte 1982, 131-39; Vincendeau 2009, 99-116; im Interview mit Melville vgl. Nogueira 1996, 67-79.

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(Abb. 3)

sich um die junge, hübsche und deshalb im Milieu gefährdete Herumtreiberin Anne; verständnisvoll und solidarisch einfühlsam begegnet er Yvonne, der Wirtin seiner Stammkneipe. Grundprinzip des Zusammenlebens in Bob le flambeur ist mithin gegenseitiger Respekt; dessen Verletzung ein Verstoß gegen den verhaltensregelnden Kodex gruppenspezifischer ›Ehre‹. Deutlich in Szene gesetzt ist dies gleich zu Beginn in Bobs Auseinandersetzung mit Marc, einem Zuhälter und späterhin aufgrund seiner darin begründeten Erpressbarkeit angeheuerten Polizeispitzel (BF 00:11:10 ff.). Dieser klingelt Sturm und bittet Bob um finanzielle Hilfe bei der Flucht vor der Polizei aufs Land; doch als sich herausstellt, dass er nur deswegen fliehen will, weil er auf unverantwortliche Weise eins seiner Mädchen übel zugerichtet hat, schickt ihn Bob umgehend zum Teufel: »J’aime bien aider les mecs qui se mouillent pour les bons, mais des mecs comme toi, jamais. [...] Casse-toi!« (BF 00:11:47) Dies teilt die Welt in bereits auf spätere Gangsterfilme vorgreifender Weise in ›gute‹ und ›schlechte‹ Kriminelle. Aus Bobs Sicht, der nach dieser Szene in der Küche symbolisch seine frisch gewaschenen weißen Hemden zurechtrückt (s. Abb. 3), gehört Marc durch sein Verhalten als Zuhälter nicht

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mehr ›dazu‹; seine ›Ehre‹ ist verwirkt, und der alternde Bob selbst gilt noch als mögliche autoritative Instanz, genau über solches zu befinden. Damit rückt der Grandseigneur und Gentlemangangster funktional in die Nähe des Kommissars. Ebenfalls ganz am Anfang des Films nimmt dieser ihn fürsorglich ein kurzes Stück im Polizeiauto mit und erklärt sodann den nachfragenden Kollegen, Bob sei ein »vieux copain« (BF 00:06:41), der ihm vor Jahren als unbewaffnetem Polizisten durch die Abwehr eines Schusses bei einer Verhaftung das Leben gerettet habe, wodurch sie Freunde geworden seien: »C’est de ce jour-là, Bob et moi, on est devenu amis.« (BF 00:07:00) Gewiss sei dieser noch ›truand‹, »mais il s’est assagi avec l’âge« (BF 00:07:05). Beider Rollen sind mithin analog. Was Bob intern für das Milieu, ist der Kommissar extern für die Gemeinschaft. Entsprechend sorgt er sich um Bob. Als er vom geplanten ›letzten‹ großen Coup – einem besagte ›Altersweisheit‹ vergessenden Versuch, den Tresor im Kasino von Deauville zu knacken – erfährt, sucht er ihn mit allen Mitteln davon abzuhalten. Erst noch bloß ahnend, lädt er ihn zum Essen ein, redet ihm ins Gewissen – »Je voudrais t’empêcher de faire des conneries, s’il est encore temps« (BF 01:15:13) – und entgegnet auf Bobs Verweis, dass er schließlich seit zwanzig Jahren straffrei sei, mit dem ehrlichen Wunsch: »Je voudrais que tu le restes« (BF 01:15:56); schon wissend, sucht er den ›ami‹ – das Wort fällt mehrfach – im Milieu und bittet Yvonne, die ihrerseits bereits Bob Geld angeboten hat, weil sie befürchtet, dass er zu alt fürs Gefängnis sein würde (BF 01:01:45 ff.), alles zu tun, um Bob zurückzuhalten (BF 01:19:00 ff.); ein wenig resignierend, folgt er zum Schluss – unter bewusster Umgehung der dem Innenministerium unterstellten anonymfunktionalistischen »Sûreté nationale« (BF 01:33:10) – der Gruppe nach Deauville. Dort kommt es zum Showdown. Genau zum vereinbarten Zeitpunkt für den Beginn des Coup, »cinq heures précises« (BF 01:33:53), trifft die Pariser Polizei ein; sie eröffnet das Feuer auf die Gangster, trifft Paulo tödlich und verhaftet alle Beteiligten einschließlich des hinzueilenden Bob, der ironischerweise über Nacht in einer Glückssträhne genau die Summe im ›ehrlichen‹ Spiel gewonnen hat, die die Bande gemeinsam aus dem Tresor hätte rauben wollen. Auf diese Weise stellt sich Bob le flambeur dar als eine Studie scheiternder Sorge. Bob kann Paulo nicht retten, der folgerecht als einziger sterben muss, weil er den Spitzel Marc eigenmächtig rechtend und damit gewissermaßen ›ehrlos‹ erschossen hat; und der Kommissar kann Bob nicht

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retten, weil dieser seinem Glück blind vertraut und, wenn es sich nicht fügt, es in offenkundigem Selbstbetrug erzwingt: seine Glücksmünze ist »à double face« (BF 01:35:32), beidseitig ›pile‹. »Alors, connard,« schnauzt der Kommissar den Freund traurig an, »t’es content maintenant? T’as gagné« (BF 01:35:42). Der Spielergangster hat sich durchgesetzt; der Kommissar hat verloren. Ihm ist nicht gelungen, den Freund dazu zu bringen, der Versuchung zu widerstehen; beider Komplizität ist gestört, und die Restitution ist aufgeschoben zumindest bis zu Bobs Entlassung. Gleichwohl signalisiert am Schluss des Films ein gemeinsamer Scherz im Polizeiauto beim Abtransport der Gangster – wie des rechtmäßig gewonnenen Geldes – schon wieder künftige Gemeinschaft. 3.2. ›Restitution‹ vs. ›résistance‹ In den jüngeren Figuren Paulo und Marc und den mit ihnen verknüpften Motiven ehrlosen Handelns und überstürzten Schusswaffengebrauchs liegt ein Verweis auf die rezentere Entwicklung. In den Gangsterfilmen der fünfziger Jahre kommt es zunehmend zur Trennung von Gangster und Gemeinschaft. Es ist dies ein Prozess der Umkodierung: die Spreizung einer noch ersehnten Komplizität zur unversöhnlichen Opposition. Dabei betrifft die Spreizung vornehmlich das Gangstermilieu selbst. Die Polizei wird einerseits ›professionalisiert‹ und, solchermaßen zurückgenommen, nurmehr funktional, während sich die Gang andererseits zugleich entkorporalisiert und in den Vordergrund rückt: die patriarchal sorgetragende Instanz des Patrons dankt ab und wird ersetzt durch das schießwütige Recht des Stärkeren; das Prinzip der ›Ehre‹ weicht einem Einbruch unkodierter Gewalt; es kommt zu einem allfälligen Bruch der überkommenen, gemeinschaftsbindenden ›Spielregeln‹. Auf diese Weise wird der Vorkriegsehrenkodex zerstört. Der interne Bruch zwischen ›redlichem‹ Gangstertum und rücksichtslos verräterischem Egoismus des einzelnen führt geradewegs zum Verlust der Prinzipien von ›Sorge‹ und ›Ehre‹ und damit auch zum Verlust der Institution des ›Patron‹ selbst. Die abstrakte Gesellschaft erfasst nunmehr auch den kriminellen Raum. Dies zeigt sich in der Häufung von Schießszenen wie in der Inszenierung von Gewalt als sinnloser Zerstörung. Sinnfällig wird diese Entwicklung in der Ergänzung des externen Plots – wie demjenigen des Tresorraubs als eines Zeichens einer gegen die Gesellschaft gerichteten résistance – durch einen soldaritätsaufkündigenden

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gangsterinternen Plot etwa eines Kidnappings mit Lösegeldforderung. War in Bob le flambeur das Knacken des Tresors noch das alleinige Ziel der Gang und dessen versehentlicher Verrat über das Dreieck Paulo – Anne – Marc kontingentes Beiwerk, so ist die Beute aus dem Tresor in Jacques Beckers Touchez pas au grisbi (1953) oder auch in Jules Dassins Du rififi chez les hommes (1955) bereits im Visier einer rivalisierenden Gang, die auf unlautere Weise und ohne großes eigenes Können versucht, von der Expertise und dem handwerklichen Geschick der Einbrecherbande zu profitieren und ihr den durch respektable, zumindest in der Gangsterlogik ›ehrliche‹ Arbeit erbeuteten Lohn abstreitig zu machen. Damit steht die ›Ganovenehre‹ auf dem Spiel: Unschuldige werden in den Konflikt einbezogen; im Zentrum steht nicht mehr der gemeinschaftlich perfektionierte Akt des Raubs, sondern der brutal-funktionale Einsatz rücksichtsloser Gewalt. Beide Filmtitel verweisen auf den sich abzeichnenden Verhaltenswandel im Milieu. Der Imperativ von Touchez pas au grisbi beinhaltet eine Warnung, dass das Geld (›grisbi‹) – gemeint ist vornehmlich die Beute – des anderen ›heilig‹ ist und, wo dies nicht respektiert wird, unkontrollierte Streitigkeit und Chaos entsteht; genau solch sinnlose Streitigkeit – die Aufkündigung gemeinschaftlich-solidarisch anerkennenden gegenseitigen Respekts – meint die mahnende Voraussage von ›du rififi‹. Jacques Beckers Moritat beginnt ganz ähnlich wie das etwas spätere Portrait von Bob le flambeur mit einem ausgedehnten Schwenk über Paris hin zur place Pigalle und bedient sich ebenso einer langen Exposition, um erst einmal in atmosphärischen Bildern und frivolen Showeinlagen das Milieu zu etablieren.23 Dabei bleibt, wie die bereits erwähnte Eingangssequenz im Restaurant der Madame Bouche verdeutlicht (TG 00:03:16 ff.), der Fokus ganz auf dem Milieu; selbst die Polizei erscheint nur sehr partiell am Rand und völlig ohne Text: das erste Mal im Mannschaftswagen nach dem Versuch der Entführung des vom gealterten Jean Gabin verkörperten Max, längst nach der Flucht der Entführer und ohne so recht zu wissen, worum es geht (TG 00:24:40); ein zweites Mal nach dem geglückten Kidnapping von Max’ Freund und Komplizen Riton, wo die Revuetänzerin Josy einen

23 Zitierter Film; Jacques Becker, dir. (1953/2004), Touchez pas au grisbi, DVD, StudioCanal, F; hinfort: TG. Siehe auch den Eintrag von Karlheinz Oplustil in Grob 2008, 201-206 sowie Buss 1994, 40-43.

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nichtsahnenden Streifenpolizisten auf dem Trottoir umrennt, um sich vor dem Drogenboss Angelo in Sicherheit zu bringen (TG 00:49:04). Das Sujet von Touchez pas au grisbi ist zentriert um das alternde, unzertrennliche Freundespaar Max und Riton (»ça fait vingt ans qu’ils ne se quittent pas«; TG 00:13:16), welche als Gentlemangauner in einem wiederum ›letzten‹ Coup am Flughafen von Orly unerkannt acht Goldbarren im Wert von 50 Millionen alter Francs in ihren Besitz gebracht haben, die ihnen einen unbesorgten Lebensabend sichern sollen, dessen Stil die Eingangsbilder demonstrieren. Durch eine Unvorsichtigkeit Josys, der kokainabhängigen, labilen jungen Geliebten Ritons, bekommt Angelo, dem sie sich mittlerweile aus naheliegendem Interesse ebenfalls zugewandt hat, davon Wind und nimmt das Freundespaar ins Visier. Bereits die erste Begegnung im Büro des Revuebetreibers Pierrot verdeutlicht den Gegensatz zwischen den heimischen Gangstern alter Schule und dem zukunftsweisend technokratisch-kaufmännisch agierenden ›Fremden‹ Angelo. Noch während der allem Anschein nach italienstämmige Angelo (mit dem allerdings eher amerikanisch klingenden Nachnamen ›Fraiser‹) Max – im Streit mit Pierrot um die Nutzung der Bar für seine Drogengeschäfte durch seinen Schützling Ramón – scheinbar als Schlichter bemüht und mit großen Worten dessen Fähigkeit zur Freundschaft rühmt (»il me plaît, ce Max, c’est un ami«; TG 00:12:44), fädelt er mitten im Gespräch mit einem Wurf der Autoschlüssel aus dem Fenster just dessen Entführung durch den sich als Sanitäter verkleidenden Ramón samt Komplizen in einem falschen Krankenwagen ein. Den konkreten Beziehungen der Gentlemangangster stehen also rein funktional expansive Nutz- und Geschäftsbeziehungen auf seiten Angelos gegenüber. Im Kontext des sentimentalen alten Vorkriegspigalle ist Angelo ein Falschspieler: jeder Zweck heiligt ihm die Mittel; auf sichtbare Weise fallen bei ihm Reden und Handeln ehrlos auseinander. Mithin regiert der Eigennutz, und das Verbrechen selbst wird unsentimental und abstrakt. Genau dies ist der Konflikt. Der Film konfrontiert die ›guten‹ und die ›bösen‹ Gangster. Nach ihrem Scheitern beim gewiefteren Max gelingt Angelos ›Sanitätern‹ die Entführung des naiveren Riton. Ein Anruf Angelos bestimmt die acht Goldbarren zum Lösegeld: »D’abord, je dois te dire que je n’ai rien contre Riton ni contre toi. Ce que je veux, c’est le grisbi.« (TG 01:07:58) Doch wie bei der Versicherung zu Beginn steckt hierin erneut eine fundamentale Unaufrichtigkeit. Denn Angelos Plan gilt nicht allein dem Geld, sondern auch und vor allem der Elimination der Konkurren-

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ten. Entsprechend verläuft das nächtliche Treffen auf einsamer Landstraße in zwei Phasen: einer etwa sechs Minuten ausfüllenden ersten Sequenz des erwartbaren Austauschs ›Geisel‹ gegen ›Lösegeld‹ (TG 01:12:29–01:18:19) und einer sogar noch etwas längeren zweiten eines von Beginn an mitgeplanten überraschenden Sprengstoffangriffs durch eine weitere Gruppe von Angelo auf die ›alten‹ Gangster um Max samt deren Gegenwehr mit Maschinenpistolen (TG 01:18:20–01:24:55). Die Auseinandersetzung hinterlässt wiederum unkontrolliertes Chaos: Max’ Schützling und potentieller Nachfolger Marco (der nachträglich noch ins Milieurestaurant Eingelassene) stirbt durch den Sprengstoff; die zweite Angelo-Gruppe kommt beim für sie überraschenden Gegenangriff um; Riton wird bei der anschließenden Verfolgungsjagd getroffen; Angelos Auto kommt aufgrund zerschossener Reifen von der Fahrbahn ab und überschlägt sich; Angelo selbst wird getötet, wie er gerade weiteren Sprengstoff auf die Verfolger werfen will; und dieser explodiert und steckt das Fahrzeug mit den Goldbarren in Brand, welche sich nicht retten lassen, weil fatalerweise gerade jemand kommt und die Verkehrspolizei informiert. Der Schluss inszeniert eine scheinbare Wiederaufnahme des Beginns bei Madame Bouche. Doch das Geld ist futsch; Riton erliegt seiner Schussverletzung; mit Riton und Marco sind Max sowohl der beste Freund als auch der Schützling – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – genommen; trotz Begleitung durch eine neue bewunderte Freundin ist der ›Patron‹ allein; und auch wenn mit Angelo der Gangsterboss neuen Stils, der »›caïd‹ de Montmartre«, wie die Zeitung titelt (TG 01:26:40), verstorben ist, scheint ein neuer nicht unwahrscheinlich bereits am Horizont. Weder gibt es eine Gemeinschaft gegengesellschaftlicher résistance noch ernsthafte Hoffnung auf eine konkretisierende Wiederherstellung der ›alten‹ Ordnung. Das Modell der ›Sorge‹ und der ›Ehre‹ zieht nicht mehr. Die Restitution ist nurmehr funktional: kontingenter Ruhepunkt zwischen zwei Phasen der Unordnung. Solches inszeniert auch Du rififi chez les hommes.24 Das Sujet ist demjenigen von Touchez pas au grisbi ganz ähnlich. Die Eingangsszene zeigt den soeben aus der Haft entlassenen Gangster Tony ›le Stéphanois‹ beim Kartenspiel. Aber die Verhaltensweisen ›draußen‹ haben sich gewan-

24 Zitierter Film: Jules Dassin, dir. (1955/2007), Du rififi chez les hommes, DVD, Universum, F; hinfort: R. Siehe auch Buss 1994, 197 f.

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(Abb. 4)

delt. Er hat keinen Kredit. Als ihm das Geld ausgeht, wird er in kleinlicher Unerbittlichkeit sofort vom Spiel ausgeschlossen; und als ihm sein Freund und Schützling Jo, den Tony aus Rücksicht auf seine Jugend als Komplizen seines letzten Bruchs nicht verraten hat, loyal neues bringt und dabei das Verhalten der Spielerrunde kritisiert, sieht man aus diesem relativ unbedeutenden Anlass (»T’es pas poli«; R 00:05:05) bereits ansatzweise die erste Pistole (s. Abb. 4). Die gezeigte Gesellschaft baut nicht so sehr auf Respekt und Ehre als auf Geld und Gewalt: »Tu vois, la confiance règne« (R 00:04:44), begrüßt Tony sarkastisch den hereinkommenden Jo, während die Spieler präzisieren: »Tony ou pas, on s’en fout. Une seule chose compte ... le poignon.« (R 00:04:50) Dies ist der Hintergrund für das weitere Geschehen. Es organisiert den Film in zwei große Sequenzen: den im Zeichen ›alten‹ Gangstertums gemeinschaftlich durchgeführten nächtlichen Einbruch in ein Juweliergeschäft der place Vendôme sowie die sich anschließende solidaritätsaufkündigende Auseinandersetzung zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Gangstern um die Beute. Dabei spielt ähnlich wie in Touchez pas au grisbi die Polizei im Film kaum eine Rolle: vor dem Bruch wird sie lediglich in ihren Verhaltensweisen um den Einbruchsort ausspioniert; danach wird sie – auch wenn

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zwei Gendarmen auf dem Fahrrad unmittelbar vor dem Abtransport der Beute in einer Art zäsurgebendem Interludium das gestohlene Fluchtauto entdecken dürfen (R 01:04:32 ff.) – mit einem simplen Schlag auf den Hinterkopf ausgeschaltet; im L’âge d’or wird ein sich nach dem Einbruch in das Juweliergeschäft erkundigender Kommissar auf der Eingangstreppe lediglich kurz abschlägig abgefertigt (R 01:14:27); derselbe Kommissar beobachtet nach einem Tip durch Tony immer noch ahnungslos die begleitungslos bleibende Beerdigung der ersten Opfer (R 01:28:30 ff.). Der Bruch ist ein klassischer Coup alten Stils. Tonys Grundbedingung ist der Verzicht auf Waffen: »sans ça«, bestimmt er, während er eindringlich verdeutlichend Jo den Revolver aus dem Revers zieht (R 00:17:34). Die benötigten Bandenmitglieder sind sorgsam nach Expertise ausgewählt; sie begegnen einander mit Anerkennung und Respekt; sie arbeiten gemeinschaftlich und kooperativ; nach außenhin sind sie in festen und konkreten Bindungen: Gleich zu Beginn zeigt eine Szene den jungen Jo ›le Suédois‹ als geduldigen Familienvater im Spiel mit seinem begeistert juchzenden fünfjährigen Sohn; der Italiener Mario hat eine von ihm verehrte, heiß geliebte Freundin; sein aus Mailand herbeigeholter Kumpel Cesare ist stets in Geldnot nicht nur wegen seiner Schwäche für die Frauen, sondern auch aufgrund der vier zu umsorgenden Schwestern (»quattro sorelle«; R 01:11:13); und auch der vermeintliche Einzelgänger Tony sieht sich noch immer verbunden mit ›seiner‹ einstigen Geliebten Mado. Insbesondere in der notorisch gewordenen spektakulären, gut über zwanzig Minuten lang ohne Sprache auskommenden Einbruchsequenz (R 00:41:48–01:08:20) signalisieren stete Blicke und Gesten der vier Männer zueinander deutliches Einvernehmen und Vertrauen. Demgegenüber steht die rivalisierende Gruppe um den Barbesitzer und Drogenboss Pierre im Zeichen von Hierarchie und Misstrauen, Angst und Gewalt: eine frühe Szene im L’âge d’or zeigt Pierre im Streit mit seinem mit gezücktem Klappmesser herumfuchtelnden drogensüchtigen jüngeren Bruder Rémy (R 00:21:03 ff.), dem er später voller Verachtung den Schlüssel zur Schublade mit dem ersehnten Stoff geben wird (R 01:16:44); und Pierre selbst, der sich noch im Besitz Mados wähnt, wird von ihr bezeichnenderweise verlassen (»tu pourras pas me retenir ... tu pourras pas«; R 01:15:50), ohne dass dies allerdings heißt, dass sie zu Tony zurückkehrt. Der Konflikt zwischen den beiden Gruppen, altem und neuem Prinzip, entzündet sich an einem Diamantring. Er verrät die Urheber des Bruchs.

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Verliebt in die Barsängerin Viviana, deren titelgebendes Chanson das Geschehen in gedrängter Form kommentierend vorwegnimmt (R 00:22:25– 00:25:37), lässt Cesare – »on dit que dans le monde il n’y a pas un coffre qui puisse résister à César, ni aucune femme à qui César puisse résister« (R 00:18:26) – unvorsichtigerweise über den gemeinsam erbeuteten Tresorinhalt von 240 Millionen (alter) Francs hinaus einen Ring mitgehen, um ihn der von ihm angebeteten Chansonnière zu vermachen. Als Viviana den teuren Ring stolz im L’âge d’or am Finger trägt, kommt die Gruppe um Pierre Grutter auf die Verantwortlichen für den Coup (R 01:17:48). Noch im Nachtklub selbst bringen sie Cesare in ihre Gewalt, lauern im Anschluss daran Mario und seiner Freundin in deren Wohnung auf, um Tony in eine Falle zu locken; töten beide, als dies misslingt; und entführen schließlich ohne Skrupel Jos Sohn Tonio – der Name doppelt nicht umsonst den des patriarchalen Bandenchefs –, um die inzwischen über einen vertrauten Londoner Mittelsmann zu Geld gemachte Beute als Lösegeld zu fordern (R 01:30:06). Zweifach wird die Entführung des unschuldigen Kindes explizit als Verstoß gegen die im Milieu geltenden Regeln kommentiert: einmal von Frédo, dem Wirt der Kneipe aus der Eingangsszene, der Tony – wie sodann auch die wiederum dialoglose Folgesequenz verdeutlicht – der Solidarität des ganzen Viertels versichert: »les salauds, c’est bien la première fois qu’on voit ça ici« (R 01:34:18); das zweite Mal von Mado, die aus freien Stücken auf Tony zukommt und ihm trotz aller Vorkommnisse ihre Hilfe anbietet: »Frédo m’a dit pour le gosse, c’est ignoble.« (R 01:37:07) Über sie erfährt Tony vom möglichen Aufenthaltsort des Jungen in einem Rohbau vor der Stadt. Unbemerkt lässt er sich durch einen von Mado unter einem Vorwand gedungenen Mittelsmann dorthin führen; er findet das Kind in den Händen des vor sich hin dämmernden Drogenkranken Rémy, befreit es, tötet Rémy, erfährt auf der Rückfahrt, dass Jo gegen die getroffene Absprache mit dem Lösegeld zum Haus unterwegs ist, kehrt dorthin zurück und eliminiert die Grutter-Bande, allerdings selbst angeschossen und ohne Jo retten zu können. Die Schlusssequenz zeigt – abermals wortlos und in zunehmend rauschhafter Fahrt zurück nach Paris – die Restitution des Jungen, der in kindlicher Naivität die Fahrt genießt und mit seiner Spielzeugpistole freudig in der Luft herumfuchtelt, während sein stark blutender älterer Namenspate sich nurmehr mit Mühe am Steuer hält, bis er am Ziel erschöpft

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zusammenbricht. Zwei auf dem Fahrrad herbeigeeilte Gendarmen übergeben das Kind und sichern ahnungslos den Koffer mit dem Geld. Der Coup ist misslungen; die résistance gegen die Staatsgewalt hat sich von selbst annulliert; die Restitution betrifft allein das Kind. Die geltenden Normen und Regeln – »mais tu connais la règle«, sagt Tony noch zum schuldbewusst nickenden Cesare, bevor er ihn mit dessen Einsicht nach Gangsterlogik erschießen muss (R 01:27:26) – scheinen aufgehoben. Allein regiert das Recht des Stärkeren, die Gewalt der Waffen. 3.3. Weder ›restitution‹ noch ›résistance‹ Du rififi endet in Skepsis und Pessimismus. Die Gemeinschaften sind aufgelöst; es herrscht nur noch das Faustrecht. Die Zeit romantisierten Gangstertums ist vorbei; die ›negative Anthropologie‹ einer funktionalen Moralistik25 erfasst die Unterwelt. Weder gibt es ›Ehre‹ noch ›Respekt‹; mit beidem schwindet zudem die Institution eines normenverkörpernden, situationsmächtigen ›Patron‹. Tony ist tot, ein möglicher Nachfolger nicht in Sicht. Genau dies führt hin zur endgültigen Vereinsamung. Der Gangster der abstrakten Gesellschaft ist allein. Die Gruppenstruktur der Gang mit ihrer inneren Hierarchie und Stratifikatorik löst sich auf; die konkreten Bindungen schwinden; das Grundprinzip der ›Sorge‹ wankt. Dies ist das Ende der projizierten Soziabilität im Gegenraum. Filmisch umgesetzt findet sich dies in aller Konsequenz ein Jahrzehnt später in Jean-Pierre Melvilles Le Samouraï (1967).26 Das individuelle Gangstertum erscheint nurmehr als Schwundstufe des patriarchalen Systems: als Sphäre unausweichlicher Bindungslosigkeit und Einsamkeit, bestimmt durch Einzelkämpfertum und Selbstopfer. Der von Alain Delon eindringlich verkörperte – und im Verlauf des Films über die Körpersprache spürbar stets mehr von Traurigkeit gezeichnete – Killer Jef Costello ist eine ›Ein-Mann-Gang‹. Statt einer gruppenbindenden »règle« eignet ihm nurmehr die jeweils selbstauferlegte individuelle »habitude« (S 01:17:50). Bereits die Eingangssequenz verbildlicht die Entwicklung. Noch unter dem

25 Vgl. hierzu nochmals Anm. 1. 26 Zitierter Film: Jean-Pierre Melville, dir. (1967/2001), Le Samouraï, DVD, Filmel, F; hinfort: S. Siehe auch den Eintrag von Jochen Förster in Hickethier 2005, 207-10; Jansen / Schütte 1982, 181-90; Vincendeau 2009, 175-88; im Interview mit Melville vgl. Nogueira 1996, 149-62.

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Vorspann entfaltet sich das Bild eines kargen Raums, in dem der nach außen hin rein auf die Funktion beschränkte Auftragsmörder auf seinen nächsten Einsatz wartet. Der lange ungeschnittene Auftakt (S 00:00:27– 00:02:39) wirkt in der mise-en-scène wie das bewusste Negativ zu Touchez pas au grisbi: statt des Milieurestaurants spärlichstes Mobiliar mit dem Protagonisten regungslos wie aufgebahrt auf seinem Bett; statt Champagner und Luxusessen nur eine Flasche Wasser und der Rauch von Zigaretten; statt Jukebox und »Je vais me jouer mon air« (TG 00:02:57) das monotone Pfeifen eines im Käfig eingesperrten Dompfaffweibchens27; statt Gesellschaft – Einsamkeit, Stille und lediglich ein versichernder Kontrollblick in den Spiegel. Die gezeigte Geschichte ist die eines von einem weitgehend anonym bleibenden Syndikat vergebenen Auftragsmords am Besitzer einer Pianobar namens Martey zu deren Übernahme. Hinter den Kulissen geht es also um einen bereits aus dem frühen amerikanischen Gangsterfilm bekannten territorialen Bandenkrieg. Der Samourai – nach dem aus dem japanischen Buschido von Melville angeblich ›zitierten‹ Anfangsmotto ein einsam in der Stadt umherstreifender »tigre dans la jungle« (S 00:01:47) oder, in den Worten eines der Barangestellten, ein abstrakter »loup solitaire« (S 00:47:51) – erfüllt maschinengleich anonym den funktionalen ›Job‹; mit immergleichem Krempenhut, Trenchcoat, Bund mit Nachschlüsseln, eigens für den jeweiligen Auftrag entwendeter Citroën DS und klinisch-weißen ›Arbeitshandschuhen‹ funktioniert er mechanisch wie nach einem Code. Allerdings in diesem Fall nicht ganz. Ihm unterläuft ein Fehler: trotz aller abstrakter Sorgfalt und Genauigkeit wird er von der Barpianistin gesehen und damit potentiell ›entdeckt‹ und auch ›konkret‹. Trotz eines perfekten Alibis ist er umgehend verdächtig und in derselben Nacht noch auf dem Kommissariat.28 Das macht ihn zur Gefahr. Aus dem ›loup solitaire‹ wird ein »loup blessé« (S 00:47:53). Statt ihm vertragsgemäß den Rest der Auftragsumme von zwei Millionen alter Francs zuzubilligen, sucht ihn das Syndikat zu eliminieren; statt Solidarität und ›Sorge‹ ereilt ihn das Urteil der Liquidation.

27 Zum Dompfaff bzw. Gimpel siehe Nogueira 1996, 160; Melville ging es offensichtlich weniger ums Geschlecht als um die (graue) Farbgebung. 28 Bzw. in deutlicher Zitation nochmals am Quai des Orfèvres, wie die bewusste bildliche Inszenierung der Hausnummer 36 bei der Entlassungsszene verdeutlicht (S 00:38:10).

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Hierauf baut noch einmal der Gegensatz von ›ehrbarem‹ und ›rücksichtslosem‹ Gangstertum. Während Costello sich vor der Tat deutlich als Killer zu erkennen gibt und aus Fairnessgründen – sowohl beim Mord an Martey (S 00:14:36) als auch bei der aus Selbstschutz rächenden Tötung des falschspielenden Syndikatsbosses (S 01:34:48) – stets lediglich als zweiter seine Waffe zieht, schießt der Syndikatsvertreter bereits auf dem Eisenbahnübergang bei der vermeintlichen Geldübergabe (»Parfait. Chose promise«; S 00:44:14 ff.) heimtückisch und ohne Vorwarnung sofort. Gejagt von Polizei und Syndikat, gerät der ›aufrechte‹ Spieler zunehmend in die Enge. Einzig ›Sorge‹ tragender Komplize ist – neben der weitgehend im Außen verbleibenden Freundin Jane – der Dompfaff, der sowohl die von der Polizei eingebaute ›Wanze‹ als auch die Anwesenheit des ›Blonden‹ in Jefs Zimmer verrät. Nachdem dieser sich ein zweites Mal gegen Jef nicht durchsetzen kann, beauftragt er ihn stattdessen, nur scheinbar reintegrierend, im Namen des Syndikats mit einem neuen Mord. Dies führt Jef noch einmal in die Bar. Sein neues Auftragsopfer ist die Pianistin, Freundin des Syndikatsbosses und Zeugin des ersten Mords. Melville inszeniert dies westerngleich als letzten Gang. Schon bei der Beschaffung neuer Nummernschilder und der Tatwaffe heißt es: »Je te préviens, Jef. C’est la dernière fois«, und dieser weiß: »D’accord.« (S 01:31:13) Bei einem letzten Besuch bei Jane verspricht er: »Ne te fais pas de bile. Je vais tout arranger.« (S 01:33:29) Beim Halten vor der Bar macht er, im Gegensatz zum ersten Mal, den Motor aus, weil er den Wagen nicht mehr braucht. An der Garderobe lässt er seinen Hut ohne Billett. An der Bar streift er mit traurig-furchtvollem Gesicht die weißen Handschuhe an und verkleidet sich ein letztes Mal zum Killer. Er tritt an die Hammondorgel. »Ne reste pas là« (S 01:37:31), warnt ihn die Pianistin voller Sorge. Als er die Waffe zückt, fragt sie, ihn konkret persönlich adressierend, »Pourquoi, Jef?«, und er entgegnet, wie auf ihre erste diesbezügliche Frage, als er sie nach Haus begleitet hat, scheinbar abstrakt professionell: »On m’a payé pour ça.« (S 01:37:50; vgl. 01:01:31) Der ›anonyme‹ Auftragsmörder ist in der Falle eines double-bind. Aus Sicht der abstrakten Gesellschaft darf er nicht nicht funktionieren; aus Sicht seines selbstauferlegten ›Ehrenkodex‹ darf er aber zugleich der sich konkret sorgenden Pianistin nicht schaden; er kann den funktionalen Auftrag nicht ausschlagen und darf ihn substantiell nicht durchführen; er muss töten, und er will es nicht. Aus dieser Zwickmühle gibt es nur einen logischen Aus-

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(Abb. 5)

weg: das ›ehrenvolle‹ Selbstopfer. Jefs samouraihaftes ›Harakiri‹ beruht auf der vorgängigen Entleerung der Revolvertrommel. Indem er die beobachtende Polizei im Glauben lässt, dass er ernsthaft schießen wird, bringt er sie zur überstürzten Tat. »Vous l’avez échappé belle. Sans nous, c’est vous qui seriez morte«, sagen die ausführenden Polizisten als stolze Retter zur Pianistin, und im Verweis auf die ins Bild gezeigte leere Trommel (s. Abb. 5) konstatiert der Kommissar resignativ dagegen: »Non.« (S 01:38:45) Noch im Tod sichert sich Jef autonome Handlungsmacht: »Je ne perds jamais«, sagt er bereits früh im Film, »jamais vraiment« (S 00:11:32). Mit ihm stirbt der letzte ›Patron‹ als nurmehr Patron seiner selbst: die résistance ist eine leere heroische Geste; die Restitution bleibt gänzlich aus. Die Ordnung scheint zwar wiederhergestellt, doch ist der Akt dazu bloßes Versehen, und die gewaltsame Übernahme der Pianobar bleibt unbefragt bestehen.

4. C ODA: › FLIC ‹ / › TRUAND ‹ Die abstrakte Gesellschaft hat die gesamte Welt erfasst. Sie holt sie ein und füllt sie aus. Der ehrenvolle Gangster ist nicht mehr. Statt komplizenhafter Sorge umgibt Gangster wie Polizist nurmehr das funktionale Rollenspiel,

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gegenseitiges ›faire faire‹.29 In der Einsamkeit des Funktionalismus wirken die Positionen austauschbar wie bloße Slots. Solche Ununterscheidbarkeit von Gangster und Polizist, ›flic‹ und ›truand‹, inszeniert Melvilles letzter Film, sein fünf Jahre später entstandener Un flic (1972).30 Alain Delon alias Kommissar Coleman ist diesmal vermeintlich auf der anderen Seite. Doch erinnert ziemlich am Anfang bereits ein Grafitti an sein alter ego. An der Wand über dem Telefon in einem Hotelzimmer, wo gerade ein Mord geschehen ist, steht in ironischem Verweis, wie jederzeit als Täter anrufbar, »Jef Costello EUR 05.66« (F 00:17:35; s. Abb. 6). Die Geschichte zeigt zwei Coups und deren Aufklärung. Der erste Coup ist ein Banküberfall in einem winterlich einsamen, sturmumtosten Atlantikbadeort kurz vor Schalterschluss, der zweite ein dreist die bereits übergebene Ware zur nochmaligen Verwendung rückaneignender Drogenraub im Nachtzug Paris–Lissabon. Die Ausführenden sind Komplizen des Barbesitzers Simon. Der Film inszeniert ihn und den Kommissar als regelrechte Doppelgänger: amerikanischer Luxusschlitten; endlose Bewegung im Raum; Vorliebe für Bars und Drinks; Eitelkeit und amour propre; Verhältnis mit derselben (von Catherine Deneuve verkörperten) Frau. Was der eine minutiös professionell plant, wird vom anderen ebenso minutiös professionell durchschaut. Simon und Coleman sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Aber sie sind es nicht mehr gemeinschaftlich ›sorgend‹ wie – ›pile ou face‹ – der Kommissar und Bob ›le flambeur‹ in einer wie immer auch konkret bewundernden Männerfreundschaft; vielmehr sind sie es – im Sinne des (wiederum erfundenen) Vidocq-Zitats von »ambiguïte« und »déri-

29 Vgl. oben Anm. 8. 30 Zitierter Film: Jean-Pierre Melville, dir. (1972/2006), Un flic, DVD, StudioCanal, F; hinfort: F. Siehe auch den Eintrag von Michael Zabel in Grob 2008, 251-55; Jansen / Schütte 1982, 209-16; Vincendeau 2009, 200-16. – Die völlige Austauschbarkeit der funktionalen Rollen von ›flic‹ und ›truand‹ zeigt schon Melvilles Le cercle rouge (1970) in der bewussten Überkreuzsetzung der Handlungsmotivationen: der von Alain Delon verkörperte Häftling Corey (›truand‹) wird gegen seinen anfänglichen Willen von einem Wärter (›flic‹) auf einen Rififi-ähnlichen Coup gebracht; der gegen seinen der Polizei im Zug entwischten Zufallskomplizen Vogel (Gian Maria Volontè) ermittelnde Kommissar Mattei (Bourvil; ›flic‹) muss sich als Hehler (›truand‹) ausgeben, um die drei Einbrecher zu überführen; und der Bruch selbst gelingt nur durch die Komplizität (›truand‹) des als ausgezeichneter Schütze bekannten ausgebooteten Expolizisten (›flic‹) Jansen (Yves Montand).

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(Abb. 6)

sion« als Gefühlen des ›flic‹ vor dem ›truand‹ (F 00:00:18) – leicht verächtlich abstrakt in einer bloßen Konstellation. Gegenseitig voneinander abhängig, sind sie einander in Kauf genommene Berechtigung und Funktion: zwei Seiten ein und desselben Spiels. Und auch wenn der Kommissar im – in der Unbewaffnetheit des Gangsters (»Pas d’arme«; F 01:30:49) den Schluss des Samouraï gleichwohl schon wieder relativierend zitierenden – Showdown kontingent gewinnt, hat sich an der Gesellschaft nichts geändert. Sie bleibt gefühllos und abstrakt, und die Welt geht – wie die Fahrten des scheinbar in seinem Wagen in den Straßen von Paris wohnenden Kommissars und dessen monoton repetitives »Oui? ... Où ça? ... On y va. ... Je vous appelle après« (F 00:03:29, und rahmend: 01:31:42) – einfach weiter.

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Die Paten des film noir Der amerikanische Gangsterfilm als Vorläufer S USANNE D ÜRR

1. G RÜNDUNGSMYTHEN UND I DENTITÄTSBEFRAGUNG Wie der französische Gangsterfilm, so lässt sich auch sein amerikanischer Vorläufer, der mit seinen ersten Produktionen bis in die Stummfilmzeit hineinreicht, als ›Bilanzierung‹ von ›Defiziten‹ verstehen, die das Selbstverständnis seiner Gesellschaft infrage stellen. In beiden Fällen geht es dabei um soziale Modernisierungsprozesse: Während die französische Nachkriegsgesellschaft den Prozess der Modernisierung hin zu einer durchgängig ›abstrakten‹ Gesellschaft ›bilanziert‹1, die aus selbstbestimmten Individuen ersetzbare und anonymisierte Funktionsträger macht, deren ›Funktionieren‹ sich am erschreckendsten im Phänomen der Kollaboration während der Besatzungszeit erweist2, begleitet der amerikanische Gangsterfilm seit seinen Anfängen in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts den Übergang von einer agrarisch geprägten Gesellschaft zu einer überwiegend urbanindustriellen, womit ein fundamentaler Wertewandel innerhalb der amerikanischen Bevölkerung einhergeht. Wenngleich er sich auf grundlegend

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Zu einer der wichtigsten Funktionen des Fiktiven, der ›Bilanzierung‹ des ›Sinnsystems‹ einer Epoche, die sich als affirmative ›Abdichtung‹ des Systems gegen Infragestellungen bzw. als destabilisierende ›Aufdeckung‹ von systemimmanenten Defiziten konkretisieren kann, vgl. Iser 1990, 114-143. Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Mahler in diesem Band.

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andere pragmatische Prämissen bezieht, so lässt sich der amerikanische Gangsterfilm der frühen Tonfilmära dennoch als intertextuelles Vorbild seines französischen Nachfahren verstehen, gibt er doch auf der Ebene der histoire in Figureninventar und -konzeption, Handlung und topologischen Räumen, ebenso wie auf der Ebene der Vermittlung in Kameraführung, Schnitt oder Filmmusik Versatzstücke vor, die bis heute zu den Topoi des Gangsterfilms gehören. In seinem grundlegenden Aufsatz zu Konzeptionen von Wirklichkeit3, die sich im Laufe der abendländischen Geschichte ablösen, beschreibt Hans Blumenberg den Realitätsbegriff, der sich im Laufe der Frühen Neuzeit als Reaktion auf Pluralisierungstendenzen etwa im religiösen oder wissenschaftlichen Diskurs einstellt und eine mittelalterliche Vorstellung von Wirklichkeit als einer gottgemachten ablöst. Diese Konzeption von Wirklichkeit definiert er als ›Resultat einer Realisierung‹, die das Individuum als den Schöpfer von Realität, als ›Macher‹ schlechthin, an die Stelle Gottes treten lässt. Dieses zutiefst fortschritts- und zukunftsoptimistische Konzept erreicht seinen Höhepunkt im 18. und 19. Jahrhundert, als die gesellschaftlichen Schranken der europäischen Feudalordnungen ins Wanken geraten und nicht mehr Geburt, sondern individuelle Willens- und Schaffenskraft über die soziale Position des Einzelnen neu zu bestimmen scheinen. Der Glaube an die Veränderbarkeit von Realität konkretisiert sich im 19. Jahrhundert neben der Verschiebung von Klassengrenzen auch in Bewegungen an der Achse von ›Wildnis‹ und ›Zivilisation‹; diese, die immer schon gekoppelt sind an solche auf der ethnischen Achse (race), kreisen um

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Die Vorstellung von ›Realität‹, die sich Kulturen machen, ist historischem Wandel unterworfen. Dieser ›Realitätsbegriff‹ ist Teil des Denksystems (mit Iser ›Sinnsystem‹) einer Kultur; zur terminologischen Klärung der Begriffe vgl. grundlegend Titzmann 1989. Blumenberg abstrahiert nun diesen ›Realitätsbegriff‹ in seinem Aufsatz hin auf vier chronologisch sich ablösende Konzepte von ›Wirklichkeit‹ (Blumenberg 1964): ein antikes, das, an Platons Ideenlehre ausgerichtet, Wirklichkeit als eine plötzlich aufscheinende, epiphanieartige ›Evidenz‹ begreift, die sich in privilegierten Augenblicken dem Menschen enthüllt, ein mittelalterliches, in dem jegliches innerweltliche Phänomen dem Menschen durch den christlichen Schöpfergott ›garantiert‹ (und daher unveränderbar) ist, ein neuzeitliches, das Wirklichkeit begreift als das ›Resultat einer Realisierung‹, also den Zustand, der über den linearen Prozess einer vom menschlichen Individuum in Gang gesetzten Veränderung erreicht wird, und schließlich das darauf folgende, in dem Wirklichkeit nur mehr ex negativo beschrieben werden kann als das, was dem Menschen nicht mehr gefügig ist, was sich ihm entzieht.

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die kontinuierliche Versetzung territorialer Grenzen (frontiers) durch den weißen Mann (nicht die Frau) und die Zurückdrängung des farbigen ›Wilden‹. In dem Glauben an die unbegrenzte Möglichkeit, Fakten zu schaffen, liegt der Gründungsmythos der Vereinigten Staaten von Amerika: der des ›Vorankommens‹, der permanenten Verschiebung von Grenzen sowohl von unten nach oben, als auch von Ost nach West, von ›Zivilisation‹ und ›Wildnis‹. Damit einher geht allerdings unaufhörlich der Kampf des Individuums gegen die widerständige Grenze4, der den amerikanischen Helden in eine Traditionslinie mit den Helden der Romantik stellt und ihn damit zur letztlich tragischen Figur macht:5 Das Scheitern des Helden ist ein Scheitern an der Gesellschaft. Grundsätzlich bedeutet dies, dass – ebenso wie der Western – der Gangsterfilm sich nicht in der glücklichen Eliminierung des public enemy, der moralisierenden Restitution einer eigentlich gut funktionierenden Gesellschaft erschöpft, sondern dass in ihm immer schon die

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Anhand der (amerikanischen) Filmgenres des Westerns, des Verbrecherfilms und des Science Fiction zeichnet der Philosoph Josef Früchtl eine Heldengeschichte der Moderne nach. Er zeigt dabei, dass für das Selbstkonzept der USamerikanischen Nation der Mythos der Grenze entscheidend ist, den insbesondere der Western zelebriert: »[D]ie Konflikte, die sich zwischen diesen typisierten Figuren abspielen, sind typische Konflikte der amerikanischen und (mittlerweile weltweit) amerikanisch geprägten Kultur. Und ihr allgemein bekanntes, aber verschlüsselt funktionierendes Codewort, ihre leitende Metapher heißt frontier, als Imperativ formuliert: ›Go West!‹, was im Grunde immer nur bedeutet: ›Go ahead!‹« (Früchtl 2004, 37). Früchtl weist darauf hin, dass sowohl in der Figur des Westerners wie auch des Gangsters das Scheitern immer schon angelegt ist (2004, 286 ff.): »Durch sein eigenes Handeln setzt der Held des Western der wilden, libertären Vorgeschichte des Westens ein Ende, deren Teil er doch ist, und setzt damit sich selber ein Ende. Die Zivilisation, die er durchsetzt, erklärt ihn, nachdem er seine Tat vollbracht hat, für überflüssig. [...] Tragisch ist der Widerspruch, der dem zugrunde liegt, der unauflösliche negative Zusammenhang zwischen Individualität und Gemeinschaft, Freiheit [...] und Ordnung. Tragisch ist die Durchsetzung von Recht und Ordnung mit Gewalt, mit Hilfe eines Handelns, das Recht und Ordnung gerade ausmerzen wollen.« Dieses Dilemma der Gewalt, in dem der Westerner steht, dreht sich in der Figur des großstädtischen Gangsters zu der Kehrseite des American Dream: »Der Gangster erinnert die optimistische Kultur an ihre Kehrseite. Er ist der ›tragische Held‹ der Moderne, der sich unter deren bürgerlichen, kapitalistischen und rechtsstaatlichen Bedingungen als Individuum zu behaupten sucht, und dies, indem er einzelne dieser Bedingungen verabsolutiert, Erfolg, Glück, Rastlosigkeit, und so in getreuer Erfüllung ihrer eigenen Logik ihre Unverträglichkeit mit den anderen aufzeigt« (S. 289).

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Prämissen der amerikanischen Gesellschaft in ihrer Fragwürdigkeit bloßgestellt werden. Wenngleich in den ersten beiden Jahrhunderten der Besiedelung der USA, begonnen bei den Pilgervätern, die ab 1620 in Massachusetts ihre ersten Niederlassungen gründeten, Immigranten aus England, Nordirland, Holland und Deutschland das Land in Besitz nehmen, zeigen sich diese Ethnien in einem wesentlichen Punkt als homogen: fast ausschließlich sind es Protestanten bzw. aus dem Protestantismus hervorgehende Konfessionsangehörige wie Quäker, Calvinisten und Puritaner, die in Amerika das neue Gelobte Land sehen. Zentraler gemeinsamer Wert ist die Arbeit, zum einen im ökonomischen Sinn, zum anderen im politisch-religiösen: es geht um die Errichtung eines Gemeinwesens zur irdischen Erfüllung des göttlichen Willens; jeder einzelne Bürger ist aufgerufen, an diesem Gemeinwesen teilzuhaben. Zwischen 1820 und 1930 erleben die USA nun einen Zustrom von mehr als 32 Millionen Immigranten, von denen ein großer Teil aus Süd- und Osteuropa stammt und katholischer bzw. jüdischer Abstammung ist.6 Verknüpft ist diese immense Zahl an Zuwanderern mit der im 19. Jahrhundert beginnenden Industrialisierung, die insbesondere die rasche Urbanisierung, vor allem im manufactoring belt des Nordostens, zur Folge hat. Damit ergibt sich die folgenreiche Verschiebung von einer agrarischkleinstädtisch geprägten hin zu einer industriell-urbanen Gesellschaft, die im Wesentlichen bis heute der Vorstellung von ›moderner‹ Identität zugrundeliegt. Dieses Potential von Zuwanderern ist aus Sicht der Einwohner nicht mehr ohne weiteres in das von protestantischer Ethik geprägte Gemeinwesen integrierbar; die Hoffnung auf eine Besserung der Lebensumstände durch ihrer Hände Arbeit zerschellt zudem an den katastrophalen Bedingungen, denen die Immigranten in den Fabriken und Ghettos von New York, Boston oder Chicago ausgeliefert sind. In den Großstädten kommt es demnach bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht allein zur

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Neben Italienern, Iren und osteuropäischen Juden, die vor der wachsenden Zahl von Progromen flohen, stellten die Chinesen einen großen Teil der Immigranten; ihr Zustrom wurde mit dem Chinese Exclusion Act von 1882 als erster unterbunden – es liegt nahe, dass hier eine maximale ›Fremdheit‹ dieser Einwanderergruppe im Verhältnis zu den WASPs ausschlaggebend war. Zum historischen Zusammenhang von ethnischer Abstammung und sozialer Klassenbildung in den Vereinigten Staaten vgl. insbesondere Steinberg 1989, mit Blick auf die Arbeiterklasse Barrett 1992 und Gerstle 1989.

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Bildung von politischen Interessenvertretungen der Ethnien wie etwa der Unione Siciliana in New York, sondern auch zur Gründung krimineller Vereinigungen, die sich im wesentlichen auf Einbruchdiebstahl, Prostitution und Erpressung, seit der Prohibition auch auf Alkoholschmuggel konzentrieren.

2. S TRATEGIEN DER B EWÄLTIGUNG : ÖFFENTLICHER D ISKURS UND POLITISCHE K ONSEQUENZEN Der öffentliche Diskurs, der die Entwicklung der Großstadtkriminalität begleitet, wird im Wesentlichen in zwei Medien ausgetragen: der Zeitung und der wissenschaftlichen Publikation. Der Gangster wird zur Projektionsfigur der amerikanischen Gesellschaft, er ist Ausgangspunkt der Reflexion über das, was als amerikanische ›Identität‹ zur Debatte steht. Im Wesentlichen stehen sich dabei zwei Fraktionen gegenüber: Die Vertreter der ›eugenischen‹ These plädieren vehement dafür, dass zwischen Kriminellen und Nicht-Kriminellen keinerlei Gemeinsamkeit bestehe. Kriminelle seien von der – selbstverständlich weißen, alteingesessenen – Mittelklasse aufgrund von Erbkrankheiten, Geisteskrankheit, unterdurchschnittlicher Intelligenz, schlechtem Zahnbestand, Promiskuität, etc. – grundsätzlich unterschieden. Das wiederum heißt, dass die Gesellschaft als ein System von – als natürlich begründeten – sozialen Schichten und ihre Mitglieder als kategorisierbar nach ethnischen und rassischen Gesichtspunkten wahrgenommen wurden, was wiederum bedeutete, dass Mittelklassebürger aufgrund ihrer eugenischen Disposition keinerlei Affinität zur Kriminalität und damit auch keinerlei Verantwortung für die gesellschaftlichen Zustände zu übernehmen hätten.7

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Vgl. hierzu insbesondere Ruth 1996, 11-36. Die Angst vor der befürchteten baldigen demoskopischen Übermacht der Unterschicht spiegelt sich in den Pressestimmen der Zwanziger Jahre; es kommt zu einer Stereotypenbildung, die Art des Verbrechens und Ethnizität verquickt (ibid., S. 15). Zur Maßnahme gegen die unkontrollierte Vermehrung der letztlich als ›unwert‹ angesehenen Bevölkerungsgruppen wird daher die strikte Zuwanderungskontrolle sowie die ebenso strikte Kontrolle der bereits Eingewanderten. Nicht in Frage kommt in diesem Argumentationsschema etwa die Verbesserung der Lebensumstände der Unterschicht (»The assertion that a lower deviant class inevitably produced its own

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Die These von der Determiniertheit krimineller Handlungen allerdings führt bei einer wachsenden Anzahl von Wissenschaftlern, darunter insbesondere dem Historiker Harry Elmer Barnes, zu der Frage nach der Willensfreiheit des Menschen, die an die Grundfesten amerikanischer IchKonzeption rührt, und damit zu der Verbindung von Kriminalität und zunehmend komplexer werdender Gesellschaft. Mit der Verbindung von sozialer Umgebung und Persönlichkeit beschäftigt sich zudem die Chicago School of Sociology, die in Analogie zur Biologie die Ghettos der Großstadt als ein Ökosystem darwinistischer Prägung beschreibt, das seine Bewohner einem unerbittlichen Selektionsprozess unterwerfe.8 Dem entgegnet insbesondere in der Presse eine weitaus größere Anzahl von Autoren mit Empörung: sie plädieren nach wie vor für die unbedingte Willensfreiheit des Bürgers und sehen in der wachsenden Kriminalität eine Abnahme der Arbeitsethik und der religiösen Grundlagen allgemein, auch bedingt durch den steigenden Lebensstandard in der Gesellschaft, wobei das Verbrechen eine bequeme Strategie der Arbeitsvermeidung sei. Verantwortlich hierfür seien eine allzu libertäre Sexualmoral, der Niedergang der Familie als Ort der geistig-moralischen Erziehung sowie das Streben in höhere soziale Schichten.9

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environment cast any attempt at social amelioration as a misguided effort in futility: the lower orders lived as they were born to live«; ibid.). So vor allem Park / Burgess 1967 und Zorbaugh 1976. Zur wissenschaftlichen Beschreibung des Gangsters im frühen 20. Jahrhundert vgl. Maltby 2005. Die logische Konsequenz des einmal erkannten Zusammenhangs von Kriminalität und sozialem Umfeld wäre ein regulierendes Eingreifen des Staates mit grundlegenden Sozialreformen und einer Sozialgesetzgebung. Medial gestützt wird die Partei der Sozialreformer etwa durch die Arbeiten des Fotojournalisten Jacob Riis, der in dem Bildband How the Other Half Lives (1890 und 1901) Dokumentarfotografien der Slums von New York veröffentlicht. Wenngleich Riis’ einflussreiche Dokumentationen der Mittelklasse die katastrophalen Lebensbedingungen der Unterschicht vor Augen führen sollen, weist Jonathan Munby zu Recht darauf hin, dass trotz des sozialreformerischen Impetus auch wohlkalkulierte Schauereffekte gehascht werden sollten, etwa indem männliche Ghettobewohner mit das Gesicht beschattenden Hüten und Stöcken in möglichst bedrohlich wirkender Pose arrangiert wurden (Munby 1999, 21-24). Als Hauptrepräsentant sei hier stellvertretend der Jurist und Diplomat Richard Washburn Child genannt, der als Herausgeber für die Collier’s Weekly und später die Saturday Evening Post schrieb und den konservativen Präsidentschaftskandidaten Warren G. Harding im Wahlkampf propagandistisch unterstützte. Seine abgrundtiefe Abneigung gegen die wissenschaftliche Aufarbeitung der Kriminalität dominierte denn auch die National Crime Commission, die er 1925

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Dieses Erklärungsmuster, wenngleich es die Gesellschaft entlastet und die alleinige moralische Schuld dem Individuum zuschlägt, bedeutet allerdings auch, dass der Kriminelle zunächst aus dem gleichen Holz geschnitzt ist wie der Normalbürger: weder durch körperliche noch geistige Krankheit, weder durch seine Physiognomik noch seinen Körperbau ist er unterscheidbar, seine Handlungen sind mindestens ebenso rational und intelligent wie die jedes unbescholtenen Bürgers. Die vor allem über die Zeitungen ausgetragene öffentliche Debatte wird flankiert von politischen Entscheidungen. Nach dem 1882 in Kraft getretenen Chinese Exclusion Act wird 1921 die Zureise jeglicher Immigranten im Emergency Quota Act auf höchstens drei Prozent der bereits angesiedelten Landsleute beschränkt. Diese Regelung wird 1924 durch den Immigration Act auf zwei Prozent verschärft; die Zuwanderung aus asiatischen Ländern wird nahezu ganz unterbunden, die aus süd- und osteuropäischen Ländern stark eingeschränkt.10 Da von puritanischen Politikern immer wieder der Zusammenhang von Verbrechen und Alkohol postuliert wurde, wird Ende 1919 der Volstead Act ratifiziert, der die erst in den Dreißiger Jahren beendete Prohibition einläutet. Eben dieses Verbot des Alkoholhandels und -ausschanks allerdings führt zu einem rasanten Anstieg der Bandenkriminalität, deren berühmtester und erfolgreichster Vertreter Al Capone ist.11 Ebenfalls 1919 wird die Chicago Crime Commission gegründet, die als Gegengewicht zu den inzwischen hochorganisierten und ökonomisch arbeitenden Verbrechersyndikaten eine stärkere Effizienz und Vernetzung von Justiz und Politik erreicht, ebenso aber auch den öffentlichen Diskurs durchsetzen will. Dies gelingt besonders wirkungsstark im April 1930 durch die Veröffentlichung einer Liste von sogenannten Public Enemies, angeführt von Al Capone.12

mitbegründete; mit den Vertretern der eugenischen These teilt er allerdings wie die Mehrzahl der ›Moralisten‹ massiv xenophobe Ansichten. (Ruth, ibid.) 10 Die Befürworter des Immigration Act teilen sich in Rassehygieniker wie etwa den Juristen und Eugeniker Madison Grant, der von der ›Minderwertigkeit‹ aller Rassen mit Ausnahme der weißen, nordeuropäischen ausging, und Politiker, die die einheimische Bevölkerung vor der Konkurrenz zuströmender Arbeiter ›schützen‹ wollten. 11 Zur Prohibition als Symptom des schwindenden Einflusses puritanischer Ethik vgl. Clark 1976. 12 Zur Systemkrise der amerikanischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. u.a. Heideking / Mauch 2008, 248-263.

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3. D IE F IKTIONALISIERUNG DES G ANGSTERS

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Der öffentliche Diskurs über die wachsende Kriminalität in den Großstädten wird begleitet von der Fiktionalisierung des Gangsters auf der Leinwand: seit den ersten Stummfilmen, die organisierte Kriminalität in New York zeigen, erlebt der Gangsterfilm eine Erfolgsgeschichte, die zeigt, wie sehr die Figur des Gangsters zur Projektionsfigur in der sich wandelnden amerikanischen Gesellschaft wird. Seit der Stummfilmära steht er dabei allerdings immer auch unter scharfer Beobachtung; die Darstellung von explizit gezeigtem crime, häufig in Kombination mit (allerdings eher implizitem) sex ruft die – zunächst protestantisch dominierten – Befürworter einer Zensurregelung für Hollywood auf den Plan. Zu Beginn der Dreißiger Jahre konkretisiert sich die Zensur in der Gründung der Motion Picture Production Code Administration (PCA), einer – katholisch dominierten – hollywoodinternen Behörde, die sich auf die Einhaltung moralischer Normen verpflichtet. Wenngleich die Einführung des Production Code auch keine scharfe Trennung von Nicht-Zensur vor 1930 vs. Zensur nach 1930 bedeutet, da das Hollywoodkino immer schon aus Gründen des ökonomischen Erfolgs auf die Zustimmung eines breiten Massenpublikums angelegt war und die PCA aus eigenem Interesse besonders erfolgsversprechenden Filmen nicht den Riegel vorschieben wollte, kommt es doch 1935 unter dem Leiter der Zensurbehörde Will Hays zu einem Produktionsverbot für den Gangsterfilm: der spektakuläre Erfolg der drei populärsten Produktionen der frühen Dreißiger, Mervyn Leroys Little Caesar (1930), William A. Wellmans Public enemy (1931) und Howard Hawks Scarface (1932) ließ befürchten, dass das Identifikationsangebot der Filme zu einer Aufwertung des Gangsters in der Gesellschaft führen werde.13 Da allerdings war es schon zu spät: der amerikanische Gangsterfilm hatte sich längst zu einem wirkmächtigen Prototyp entwickelt, der auf der Ebene der Geschichte wie der Vermittlung Strukturen und Versatzstücke bereitstellte, die in Nachfolgefilmen bis heute ernst oder parodistisch aufgegriffen werden. Unabhängig von seiner Beziehung zur außerfilmischen Wirklichkeit liefert er ein poetologisches Repertoire, auf das auch die Regisseure seiner französischen ›Patenkinder‹ zurückgreifen.

13 Zur Zensur des Gangsterfilms vgl. Munby 1999, 5-7 und 19-20. Zur Geschichte Hollywoods in den 1930ern u.a. Balio 1995.

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3.1. Stumme Gangster, vielsagende mise-en-scène In der Zeit des amerikanischen Stummfilms gewinnt der amerikanische Gangster Kontur: in der fiktionalen Gestalt auf der Leinwand materialisiert sich der öffentliche Diskurs.14 Die Filme modellieren auf der Ebene der histoire eine Welt, die in Gut und Böse, Rechtschaffenheit und Verbrechen getrennt ist. Topologisch ist diese Dichotomie an die Opposition von Oben vs. Unten gebunden15; der Ort der Rechtschaffenen ist das (klein-)bürgerliche Heim, Orte des Verbrechens sind die Straße, das italienische Ghetto (so in The Black Hand), die Kanalisation (The Silver Wedding, Water Rats), Vergnügungslokale (The Musketeers of Pig Alley). Diese Orte sind den Fotografien nachgebildet, mit denen sozialreformerische Fotografen wie Jacob Riis16 die Zustände in den Slums dokumentierten, oder den Argumenten, womit konservative, eugenisch argumentierende Journalisten und Autoren den ›Untergrund‹ der Städte als Lebensraum des Gangsters beschreiben.17 Als Handlung inszenieren die Filme Grenzüberschreitungen, die eine bis dahin heile Welt des bürgerlichen Mittelstandes bedrohen. In The Black Hand18 (der Vorspann verspricht eine »True Story of a Recent Occurrence in the Italian Quarter of New York«; BH 00:00:01) wird in knapp elf Minu-

14 Die erste, die Gattungsbezeichnung ›Gangsterfilm‹ verdienende Produktion ist Wallace McCutcheons The Black Hand (1906), die eine Reihe von Filmen nach sich zieht, die die Gang der »Black Hand Society« ins Zentrum setzen. Weitere Kriminalgeschichten, nicht mit Einzeltätern, sondern Verbrecherbanden sind etwa der F.A. Dobson zugeschriebene The Silver Wedding, Raoul Walshs Regeneration (1910), Oscar Eagles Water Rats (1912), George Loane Tuckers Traffic in Souls (1913), James Kirkwoods The Gangsters of New York (1914), Maurice Tourneurs Alias Jimmy Valentine (1915), der 1920 und 1928 neu verfilmt wurde, David W. Griffiths The Musketeers of Pig Alley (1912), Charles Brabins While New York Sleeps (1920), Irving Cummings‘ Environment (1922), Allan Dwans Big Brother (1923), Josef von Sternbergs, Underworld (1927). 15 Zum fiktionalen Text als »endliches Modell der unendlichen Welt«, zur räumlichen Modellierung von Textwelten in disjunkte, durch eine prinzipiell unüberschreitbare Grenze geteilte Teilräume und zum Begriff des ›Sujets‹ sowie des ›Ereignisses‹ vgl. Lotman 1986. 16 Vgl. Fußnote 8. 17 Vgl. dazu insbesondere Munby 1999, 21-25, sowie anhand einer größeren Zahl von Stummfilmen Grieveson 2005. 18 Zitierter Film: Wallace McCutcheon, dir. (1906), The Black Hand, Biograph Company, USA (in der Folge BH), aufgerufen in: silent-hall-of-fame.org (24.8.2014).

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ten die Erpressung eines Fleischers durch die Black Hand Society, die Entführung der Tochter, die Festnahme der Erpresser und die Befreiung des Mädchens aus der Gewalt der Entführer gezeigt. Schauplätze sind die Metzgerei als Arbeitsumfeld der rechtschaffenen Familie, die verkommene Wohnung der Entführer als Ort des gesellschaftlichen Unten und die Straße, wo die Entführung stattfindet. Inszeniert wird das Eindringen der Gangster in den heilen Raum der Familie, den ehrliche Arbeit, eheliche Liebe und elterliche Zuwendung bestimmen. Der Raum der Gangster ist bestimmt durch Alkohol und Trunkenheit, körperliche Gewalt und Unbildung, die die italienischstämmigen Gangster beim Schreiben des Erpresserbriefes offenbaren (»Bewar!! We are desperut!«; BH 00:00:46). Der Drohung der Gangster, Arbeitsplatz und Familie zu zerstören, begegnet der beherzte Familienvater aber mit dem Einschalten der New Yorker Polizei, die die Erpresser beim Versuch, das Lösegeld zu kassieren, kurzerhand festnimmt. Mit der Befreiung des Mädchens ist die Welt wieder hergestellt19; als die Eltern ihr Kind in die Arme schließen, während die Polizei die Gangster ruhigstellt, bestätigt sich die Ordnung der Welt: die Verbrecher liegen am Boden, über ihnen die Gesetzeshüter und die rechtschaffene Familie. Der Film ist damit zu Recht als die fiktionale Parallele zum eugenischen Diskurs über Rassenhygiene und Immigration gesehen worden.20 Anders als in den Filmen der Dreißiger liegt der Fokus von The Black Hand aber nicht durchgängig auf den Gangstern, die namenlos und kaum individualisiert, eher noch komisiert sind durch ihre eklatanten Schwierigkeiten mit der englischen Sprache oder den schwankenden Gang aufgrund des Alkoholgenusses; mindestens soviel Zeit wie der Black Hand Society widmet der Film der Opferfamilie. Wiewohl auf den ersten Blick wenig an diesem Stummfilm an die Tonfilme der frühen Dreißiger und ihre modellbildende Ikonographie erinnert, lassen sich bereits einige Muster erkennen, die gattungsbildend werden: das sind etwa die Planungsszene, als zwei der Gangmitglieder am Tisch sitzend und Alkohol trinkend den Erpresserbrief schreiben und sich miteinander gestikulierend beraten (BH 00:00:08– 00:00:52), das ist die Inszenierung der Mietdroschke (BH 00:04:14– 00:05:12), die später durch das Auto ersetzt wird, das zu Entführungen,

19 Zur Modellierung sogenannter ›Restitutionssujets‹, in denen eine Ordnungsstörung inszeniert wird, um anhand ihrer Rückgängigmachung die Ordnung der Welt zu bestätigen, vgl. Mahler 1998. 20 Grieveson 2005, 19-20.

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Ermordungen, Geldübergaben, Verfolgungsjagden und insgesamt der Beschleunigung der Handlung dient. Ebenfalls hier schon angelegt ist die Inszenierung des Geldes, das der Erpresser abholen will, das dem Ladeninhaber vermeintlich aus Versehen aus der Hand fällt und sich auf dem Boden verstreut – dies ist gleichzeitig der Augenblick der Überführung des Gangsters (BH 00:07:59–00:08:35). Auch Griffiths The Musketeers of Pig Alley21 signalisiert die Verankerung in der Wirklichkeit des zeitgenössischen Zuschauers: auf »New York’s other side«, so verkündet der erste Zwischentitel, situiere sich die Handlung. Gezeigt wird ebenfalls eine Restitution: Snapper Kid, »the chief of the musketeers«22 hat es sowohl auf die Freundin (»the little lady«) eines armen (namenlos bleibenden), aber ehrlich sein Geld verdienenden Musikers abgesehen als auch auf dessen Geldbörse, die nach Erledigung eines Auftrags gut gefüllt ist. Letztere Aneignung gelingt, die der »little lady« wird von einem anderen Gangster durchkreuzt. Zum Showdown treffen sich die Rivalen mit einigen sie unterstützenden Begleitern in einem Hinterhof, im Handgemenge gelingt es dem Musiker, seine Geldbörse zurückzuerobern. Als die Polizei Snapper Kid stellt, erhält er von dem Paar ein falsches Alibi, der Gendarm signalisiert aber, dass er das Bündnis durchschaue. Der im Vergleich zu dem zehn Jahre älteren Stummfilm The Black Hand wesentlich komplexere Film weist in den dargestellten Außenräumen deutliche Ähnlichkeiten zu den Aufnahmen Riis’ aus den New Yorker Slums auf; modellbildend für den Gangsterfilm ist hier vor allem die Inszenierung des ›Milieus‹ in den Straßenszenen (bes. MPA 00:03:32–04.00), wo Prostituierte auf der Straße mit Kunden schäkern, Kinder im Straßenschmutz sitzen, ein bärtiger Mann (ein Jude?) in einem Buch (dem Talmud?) liest und etliche düstere Männergestalten herumlungern (s. Abb. 1: MPA 00:02:09). Hier findet sich bereits das wesentliche Attribut des Gangsters: der Revolver in der ausgebeulten Jackentasche, der in gefährlichen Situationen zwar nicht herausgeholt, aber in der Tasche auf den potentiellen Gegner gerichtet wird. Zudem ist der Gangster nie allein: Snapper Kid wird

21 David W. Griffith, dir. (1912/1992), The Musketeers of Pig Alley, DVD, KinoVideo, USA (in der Folge: MPA). ›Pig Alley‹ mag eine Verballhornung des Pariser Rotlichtviertels Pigalle sein, semantisch eindeutig ist aber der Vergleich der Bewohner mit im Schmutz lebendem Getier. 22 Die Rolle des Snapper Kid spielt im übrigen tatsächlich ein Kleinkrimineller (vgl. Munby 1999, 41, Fn. 4).

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stets begleitet von einem über seine Mimik und die abgerissene Kleidung wenig vertrauenserweckenden Kumpan, der die Funktion eines Bodyguard innezuhaben scheint; auch sein Rivale erscheint auf der Straße und in der Kneipe in Begleitung von Unterstützern. Nicht zuletzt löst das weibliche Geschlecht den Untergang der Gangster aus23; Eifersucht führt zu der Schießerei der beiden Rivalen und die Polizei hat leichtes Spiel: mit Ausnahme von Snapper Kid, der nun dem Paar zu Dank verpflichtet ist und womöglich sogar den Weg ins anständige Leben einschlagen könnte, werden die übrigen festgenommen. 3.2. Stimmenvielfalt: der Gangster im frühen Tonfilm Die Anfänge des Tonfilms markieren für den Gangsterfilm eine deutliche Wende: die Tatsache, dass die Figuren sich nun artikulieren, dass sie reflektieren, argumentieren, verbal sich positionieren und überzeugen können, dass sie nun grundsätzlich auch Gehör finden, bedeutet ideologisch das Ende der kontrollierenden Oberhoheit der Moral. In den drei wichtigsten Filmen der frühen Tonfilmära, Little Caesar, Public Enemy und Scarface24, finden die Gangsterhelden am Ende den Tod, doch bis dahin bleibt ihnen Zeit, den Zuschauern ein Identifikationsangebot zu machen, das diese nicht ausschlagen können. In Rico Bandello, Tom Powers und Tony Camonte werden die drängenden Fragen einer Gesellschaft im Umbruch Fleisch: der Niedergang der angelsächsisch-puritanischen Moral, der Zusammenbruch des protestantisch-kapitalistischen Wirtschaftssystems mit der Great Depression, die Entwicklung hin zu einer urbanen Massengesellschaft, die Frage, wer sich legitimerweise amerikanischer Bürger nennen kann.25 Und letztendlich lassen die Helden der Leinwand sich als Rebellen begreifen, die aber mit den Mitteln und Werten, die ihnen die amerikanische Gesellschaft liefert, die Fragwürdigkeit, wenn nicht das Scheitern des amerikanischen Mythos von der unbegrenzten Möglichkeit des Individuums, durch Aktion die Welt zu verändern, vorführen.

23 Die Rolle der Frau (als Gefahr für den Helden) hat im französischen Gangsterfilm deutlichen Widerhall gefunden. 24 Interpretationen zu diesen Filmen finden sich u.a. in Munby 1999, 39-65; Shadoian 1977, 15-57. 25 Zur Bedeutung des Tonfilms für die Modellierung des Gangsters vgl. Munby 1999, 39-43.

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(Abb. 1)

Das Identifikationsangebot der Filme eröffnet sich zunächst durch die Wahl der Hauptdarsteller: Edward G. Robinson (Little Caesar), James Cagney (Public Enemy) und Paul Muni (Scarface) sind alle drei eines nicht: Anglo-Saxon Protestants. Während Cagney irischstämmiger Katholik ist, sind Muni (Friedrich Muni Meyer Weisenfreund) und Robinson (eigentlich Emmanuel Goldenberg) jüdischer Herkunft. Alle drei waren in der Lower East Side aufgewachsen, die italienisch-, chinesisch- und jüdischstämmige Einwanderer dominierten. Muni und Robinson sahen sich gezwungen, ihre Namen zu anglifizieren, um als Schauspieler Fuß fassen zu können. Das Problem der Identität, mit dem Rico, Tom und Tony kämpfen, musste somit nicht gespielt werden: die Schauspieler brachten es bereits mit ihrem Körper vor die Kamera. Der Tonfilm schenkte einen weiteren Wiedererkennungseffekt: gerade auch weil sie nie eine Schauspielschule besucht hatten, brachten sie dialektale Färbung und Unterschichtensprache des Ghettos mit.26 Diese wurde zum Markenzeichen des Gangsterfilms: für den Zuschauer waren slang bzw. argot illusionsbildend, sie trugen erheblich zur Authentifizierung des Films bei. 26 Vgl. Munby 1999, 39-41.

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Das Sujet der post-crash/pre-code-Filme unterscheidet sich grundsätzlich von dem der stummen Vorläufer. Während diese die dargestellte Welt in einen Obenraum unbescholtener Bürger und einen Untenraum verkommener Gangster teilen27, gilt zwar weiterhin die topologische Trennung von Unten vs. Oben, diese allerdings wird nicht mehr semantisch mit ›anständig‹, ›weiße eingesessene Mittelklasse‹, ›arbeitsam‹ vs. ›kriminell‹, ›süd-/osteuropäische Herkunft‹, ›nicht arbeitend‹ belegt. Die dominante Perspektive der Filme liegt auf dem Gangster-Helden und für den gilt nicht eine Trennung der Welt in ›ethisch gut‹ vs. ›schlecht‹, sondern in ›arm‹, ›unbedeutend‹ vs. ›reich‹, ›angesehen‹. »Diamond Pete Montana don’t have to waste his time on cheap gas stations. He’s somebody«, verkündet Rico Bandello seinem Freund Joe, als sie in einer Kleinstadt eine Tankstelle überfallen haben und in der Zeitung lesen, wie ein Gangsterboss gefeiert wird: »Underworld pays respect to Diamond Pete Montana« (LC 00:01.53–00:02.14).28 »He’s in the big town doing things in a big way. And both of us – just a couple of nobodies, nothing.« Von einem nobody zu einem somebody aufzusteigen ist Ricos Ziel29; der Weg dorthin ist der Weg in die Großstadt, das Verfahren die skrupellose Durchsetzung des Eigeninteresses: »I could do all the things that fella does and more. Only I never got my chance. And what’s that to be afraid of? When I get in a tight spot I shoot my way out of it. Shoot first and argue afterwards. You know, this game ain’t for guys that’s soft. [...] This was our last stand in this burg. We’re pulling out.« (LC 00:02:28–00:04:00)

27 Neben dem anhand von The Black Hand und The Musketeers of Pig Alley illustrierten Sujet des Eindringens des Gangsters in den Obenraum wird u.a. die (unfreiwillige) Versetzung einer ehrenhaften Figur in den Untenraum inszeniert – etwa bei Traffic in Souls die Entführung junger Mädchen und ihre Zwangsprostitution). Da – der eugenischen Theorie entsprechend – einfach aufgrund ihrer biologischen Anlagen die junge Heldin schwedischer (!) Herkunft keinerlei Disposition für das Laster hat, kommt es selbstverständlich zur Restitution. Andere Filme zeigen anhand von Läuterungsgeschichten die ›Bekehrung‹ eines Gangsters: beispielhaft dafür ist der erste Alias Jimmy Valentine, in dem der Held den ›gangsteraffinen‹ Teil seiner Identität (nächtliches Panzerknacken) abstreift und zum respektablen Bürger wird. 28 Mervyn Leroy, dir. (1930/2005), Little Caesar, DVD, Turner Entertainment/Warner Bros. Entertainment, USA (in der Folge LC). 29 Die Aufstiegssemantik – das Erobern und zu erwartender Reichtum – ist Rico (Caesar Enrico) schon im Namen eingeschrieben; das Gleiche gilt für Tom Powers, dessen Nachname Durchsetzungskraft verspricht, ebenso für Tony Camonte – Gipfel (der Macht).

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Der Anspruch des Kleinkriminellen Rico ist deckungsgleich mit dem amerikanischen Traum vom Aufstieg (›from rags to riches‹). »Doing things in a big way« ist die amerikanische Erfolgsformel im kapitalistischen System, Zauderer und Zweifler sind nicht gefragt. Wenig Verständnis hat Rico dementsprechend für Joe, der sich vom Traum vom großen Geld anstecken lässt, jedoch nur, um umso schneller seinen eigentlichen Lebenstraum, Tänzer zu werden, zu verwirklichen. In Chicago arbeitet sich Rico in der Bande von Sam Vettori nach oben, während Joe eine Liebesbeziehung mit der Tänzerin Olga eingeht und ein Auskommen als ihr Tanzpartner im Nachtclub von Arnie Storch findet. Widerstrebend lässt er sich von Rico überreden, bei einem Überfall der Vettori-Gang auf Lorchs Club zu assistieren, bei dem ein hochrangiger crime commissioner von Rico getötet wird. Rico erweist sich gegenüber Sam Vettori als der Durchsetzungsfähigere und löst ihn an der Spitze der Gang ab. Dieser Zwischenerfolg wird gekrönt mit einem Festmahl, das die Medien mit der Schlagzeile: »Little Caesar Bandello given testimonial by followers« kommentieren (LC 00:35:24–00:41:14). Nicht erschienen ist Joe, der sich von Rico loszusagen versucht.30 Die affichierte Freundschaft der Gang (das Bankett des ›Palermo Club‹ steht unter dem Motto von ›Friendship‹ und ›Loyalty‹) allerdings wiegt die echte Freundschaft Joes nicht auf, selbst die Uhr, die Rico überreicht wird, stammt aus einem Einbruch. Der Versuch Arnies, Rico ermorden zu lassen, misslingt; Arnie verlässt Chicago aus Angst vor Rico, der nun von ›Big Boy‹, dem obersten Boss der Gangstersyndikate, die gesamte North Side31 zugesprochen bekommt. Flaherty, der Kommissar, der Ricos Aufstieg nicht ohne anerkennendes Interesse beobachtet, ohne

30 Ricos homoerotisches Begehren gegenüber dem attraktiven Freund durchzieht den Film; erstmals gewinnt es Gestalt in Ricos entsetztem und gleichzeitig angewidertem Blick, als Joe nach dem Tankstellenüberfall von seinen Plänen, Tänzer zu werden und Frauen zu erobern, spricht; es wird ihm letztlich zum Fallstrick, als er alles daran setzt, Joe von Olga zu trennen und an seinen Verbrechen zu beteiligen. Nicht zufällig ist Rico dann auch unfähig, Rache zu üben und den Freund zu töten; er verhindert zudem, dass er von seinem Helfershelfer Otero getötet wird. 31 Während der Prohibitionszeit war Chicago territorial geteilt in North Side und South Side; erstere wurde von der irischstämmigen North Side Gang dominiert, deren Gegner das italienisch dominierte Chicago Outfit unter Al Capone war, der die South Side kontrollierte. Die Rivalität der beiden Gangs fand ihren Höhepunkt im blutigen Saint Valentines’s Day Massacre am 14. Februar 1929, bei dem die North Side Gang Al Capone unterlag.

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ihn allerdings fassen zu können, kommentiert den Höhepunkt von Ricos Aufstieg: »Now you’re famous«; das be somebody ist erfüllt, der Fall ist schnell und endgültig: als Rico Big Boy eliminieren und sich selbst zum Schirmherrn der Gangs machen will, ersucht er Joe um Unterstützung. Als dieser sich weigert, droht Rico, ihn und Olga zu töten, woraufhin Olga Flaherty informiert. Mithilfe der Informationen von Joe zerschlägt dieser Ricos Gang, provoziert ihn, indem er ihn öffentlich feige nennt und lockt ihn aus seinem Versteck. Unter dem riesigen Werbeplakat, das eine Aufführung von Joe und Olga ankündigt (»Laughing – Singing – Dancing – Success«) wird Rico von Flaherty angeschossen und stirbt. Das Aufsteigersujet von Little Caesar liegt ebenso den beiden berühmten Nachfolgern zugrunde. Auch Tom Powers, der Public Enemy, will den Aufstieg um jeden Preis: mit seinem Freund Matt Doyle zieht er nach Chicago und arbeitet sich in der Hierarchie der Gangs im Alkoholschmuggel nach oben. Während Matt mit der Heirat seiner Freundin Mamie allerdings zu einem bürgerlichen Leben tendiert, gelingt Tom weder die Beziehung zu Mamies Freundin Kitty, die er terrorisiert – berühmt wurde die Szene, in der Tom der klagenden Kitty eine Grapefruit ins Gesicht drückt – noch zu der ihm eigentlich ebenbürtigen Gwen – in einer späten Rolle Jean Harlow – (»You’re a spoiled boy, Tommy. You want things and you’re not content until you get them. Well, maybe I’m spoiled, too«), bei der aber seine Männlichkeit versagt.32 In einem Bandenkrieg auf dem Höhepunkt seiner Macht wird Matt erschossen, Tom verwundet, im Krankenhaus von der Gang von Schemer Burns entführt und die Leiche an seine Herkunftsfamilie, den stets rechtschaffenen, als Soldat im Ersten Weltkrieg seinem Land dienenden Bruder und die Mutter geschickt. Tony Carmonte, genannt ›Scarface‹, ist ebenso am Aufstieg interessiert. Als Killer steht er zunächst im Dienste des Chicagoer Mafiabosses ›Big Louis‹ Costello, der sich in der Eingangssequenz im Zenit seiner Macht angekommen sieht: »Everybody will say: Ah, Big Louis«, so bemerkt er selbstzufrieden, »he sit on top of the world« (S 00:03:42–00:03:45).33 Diese Machtposition ist allerdings mit weiser Selbstbescheidung verknüpft: »Let

32 Zur Destabilisierung männlicher sexueller Identität in Little Caesar (latente Homoerotik), Public Enemy (Impotenz) und Scarface (Inzestwunsch) vgl. Munby 1999, 54; zur Neudefinition der Frauenrolle im Gangsterfilm Sonnet 2005. 33 Howard Hawks, dir. (1932/2005), Scarface, DVD, United Artists / Universal Pictures, USA (in der Folge S).

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other boys get theirs, too. I’ve got all I want.« (S 00:03:03) Solche Beschränkung, die auch die Interessen der Mitkonkurrenten im illegalen Biergeschäft der Chicagoer Southside berücksichtigt, ist dem Mafioso Johnny Lovo fremd: er heuert Tony an, Costello umzubringen, übernimmt damit die Kontrolle über die gesamte Southside und überträgt Tony die brutale Disziplinierung unwilliger Schankwirte und Konkurrenten. Im Geschäft der Prohibition tritt damit eine neue Generation von Gangstern auf, wie der Chefredakteur des Daily Herald hellsichtig erkennt: »This town is up for the grabs. Get me? Costillo was the last of the old fashioned gang leaders. There’s a new crew coming out and every boy that’s got money to buy a gun is gonna try to step in this place. You see? They’ll be shooting each other like rabbits.« (S 00:05:42–00:06:25) Tonys Ambitionen auf Ausweitung des Territoriums in die von dem irischen Mafiaboss O’Hara kontrollierte Northside erteilt Lovo eine Absage (»O’Hara’s too big a guy. [...] I say we stay out of the North Side«; S 00:14:41–00:14:52), der Tony allerdings nicht folgt: »This business is just waiting for some guy to run it right. [...] Who is Lovo? This guy is soft, I could see it in his face. Some day I’m gonna run the whole works.« Dem Einwand seines Freundes Guino Rinaldo, die monkeys der Northside seien von anderem Kaliber, begegnet er mit dem zentralen Credo des amerikanischen Kapitalismus: »In this business there’s only one law you have to follow to keep out of trouble: Do it first. Do it yourself. And keep on doing it.« (S 00:16:35–00:17:15) Damit radikalisiert der Film schrittweise den Typus des Aufsteigers: Tony, der grundsätzlich keine Beschränkung seines Aufstiegswillens akzeptiert (»Who’s stopping me?«; S 00:43:44), löst mit der Ermordung O’Haras einen gang war aus, dessen Autojagden und Schießereien in der Erbeutung des gegnerischen Waffenlagers und dem einer Hinrichtung gleichenden Niedermetzeln der widerständigen NorthsideGangster am Valentine’s Day kulminieren (S 00:46:20–00:46:52). Metaphorisch sichtbar wird Tonys American Dream in der Leuchtreklame der Reiseveranstalters Cook’s Tours, die er von seinem Appartment aus sehen kann: The World is Yours. (Abb. 2: S 00:35:35) Dieses Versprechen löst sich für Tony nicht ein; signifikanterweise allerdings scheitert er nicht im business, sondern in familiärer Funktion. Während Tony radikaler als alle Mitkonkurrenten mit der Ermordung Costellos und schließlich auch Lovos seinen Aufstieg zum Monopolisten im Alkoholgeschäft Chicagos durchsetzt, gelingt ihm die Anpassung an die li-

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beralen gender-Normen der amerikanischen Gesellschaft nicht, wo seine Schwester Francesca mit der Wahl des Liebespartners auf der gleichen Freiheit individueller Lebensplanung besteht: »He can’t make me do anything I don’t want to. I’ll gonna live my life. I can take care of myself«, erklärt sie ihrer Mutter (S 00:19:36–00:19:39), die ihren Sohn aufgrund seiner kriminellen Karriere verstößt: »He no longer belong to me no more« (S 00:19:48). Damit werden Tonys Wurzeln gekappt; in der amerikanischen Gesellschaft gelingt ihm Anpassung nur im business. Die Eifersucht auf potentielle Liebhaber der Schwester bringt ihn zunehmend in den Verdacht eines latenten Inzestwunsches und gipfelt in der (voreiligen) Ermordung seines engsten Vertrauten Guino Rinaldo, der – hier ganz konservativ katholisch-italienisch – seine Frau Cesca geehelicht hat, bevor er in ihre Wohnung zog. Durch diesen Mord aus Eifersucht und verletzter Familienehre wird der Polizei endlich der Erfolg beschert, Tony Camonte zur Strekke zu bringen. Bedingung dafür ist die Isolierung des Gangsters: erst als Tony seinen engsten Vertrauten Guino Rinaldo als vermeintlichen Liebhaber der Schwester ermordet hat, etliche seiner Bandenmitglieder im Kampf um die Northside ihr Leben gelassen haben und sein ›Sekretär‹ Angelo (durchgehend komisch als Analphabet und am Medium Telefon scheiternde Nebenfigur) sowie die Schwester durch die Schüsse der Polizei getötet wurden, können auch die eigens eingebauten stählernen Fensterläden ihn nicht mehr schützen. Dennoch bietet der Held genug Projektionsfläche und Identifikationsangebot für sein Publikum: Tony ist nicht allein attraktiv und von einer smarten Lässigkeit, die die auf ihn angesetzten Polizisten des öfteren schlecht aussehen lässt, sein Begehren erstreckt sich in einer witzigen Sequenz (S 00:12:27–00:16:17) von Lovos Hausmantel (»That’s pretty hot. Silk. Expensive, huh?«) über seine Zigarren (»That’s pretty nice. Expensive, huh?)« auch auf Lovos Mätresse Poppy (»She’s a very busy girl. Expensive, huh?«), die er Lovos Warnung (»She don’t love anybody but me«) zum Trotz mit einigem Charme erbeuten wird. Mit seidenem Hausmantel, exquisiten Zigarren, Appartment, Auto und Geliebter fallen dem Gangster die Statussymbole des arrivierten self-made man zu; eine gelegentliche Reminiszenz an seine italienischen Wurzeln wie die Liebe zum Knoblauch (S 00:26:19) trägt gar zur sympathischen Komisierung bei.

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(Abb. 2)

Dem Überangebot an Identifikation begegnet der Film zu Beginn mit einem auktorialen Vorspann, der für die richtige Lesart beim Publikum sorgen soll: »This picture is an indictment of gang rule in America and of the callous indifference of the government to this constantly increasing menace to our safety and our liberty. Every incident in this picture is the reproduction of an actual occurrence and the purpose of this picture is to demand the government: What are you going to do about it?«34 Innerhalb der histoire wird die Anklage einer ineffizienten Staatsgewalt in einer nachträglich eingefügten Sequenz35 (S 00:50:00–00:51:48) ausgeführt, in der besorgte Bürger dem Verleger des Evening Record ihre Besorgnis mitteilen, die Presse schenke dem Bandenkrieg zu viel Aufmerksamkeit (»You’re 34 Vgl. ebenso das Motto von Little Caesar aus dem Matthäus-Evangelium: »[...] for all they that take the sword shall perish with the sword«. 35 Nachträglich ersetzt wurde auch der ursprüngliche Untertitel (A menace) durch The Shame of a Nation, der suggeriert, dass die eigentliche Schuld weniger in der von außen kommenden ›Bedrohung‹, sondern in der Unfähigkeit der Amerikaner liege, sich gegen diese zur Wehr zu setzen, ebenso wurde ein alternatives Ende gedreht, bei dem es zur schmählichen Festnahme Camontes, zum anschließenden Prozess und zur Vollstreckung der Todesstrafe durch Erhängen kommt. (Vgl. »Bonusmaterial: Alternatives Ende« der oben zitierten DVD)

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glorifying the gangster by giving him all this publicity«), ein Vorwurf, dem er mit einer flammenden Rede zur effizienten Bekämpfung des Gangsters begegnet: »Run him out of the country. [...] Put teeth in the Deportation Act. These gangsters don’t belong here. Half of them aren’t even citizens«). Der Gangster als auszurottender Parasit der amerikanischen Gesellschaft36, so die Position auch des chief inspector in der vorhergehenden (ebenfalls nachträglich eingebauten) Sequenz, der der sensationsgierigen Öffentlichkeit Mitschuld am ungehinderten Treiben des allzu ›colourful‹ gemalten Kriminellen zuweist: »What colour is a crawling louse? That’s the attitude of too many morons in this country. They think these big hoodlums are some sort of demigods. What do they do about a guy like Camonte? Sentimentalise. Romance. Make jokes about him. [...] When I think what goes on in the minds of these lice, I wanna vomit« (S 00:48:50–00:49:40) – eine Philippika, die sich nicht zuletzt auch an den allzu eingenommenen Zuschauer richtet. Dennoch sind solche Geschichten Provokation und Skandal; Rico, Tom und Tony teilen mit den Zuschauern den Kampf um Anerkennung und Aufstieg in einer letztlich abweisenden Gesellschaft, als urbane businessmen arbeiten sie in hochkomplexen Organisationen, die nach dem einzigen Kriterium der Effizienz und des Erfolges strukturiert sind. Dies sind Organisationen, die firmengleich hierarchisch und autoritär geführt werden und deren Chefs weit engeren Kontakt zu Anwälten, Politikern und Bankern pflegen als zu den niedrigen Chargen, die sich die Hände schmutzig machen.37 Zudem wird im Gangster das neue – kapitalistisch durchaus gewollte – Modell des urbanen Konsumenten gezeigt, der sich jenseits von race und class über den Erwerb von Luxusartikeln definiert sowie die kostspieligen Freizeitangebote von Restaurant, Theater und Cabaret gern wahrnimmt.38 Damit gehen die Filme nicht mehr in einer monologischen, auf staatstragende Ideologie sich reduzierenden Perspektive auf, vielmehr befragen sie zentrale amerikanische Diskurse – den kapitalistischen, den soziopoliti-

36 Die Frage, was man für sein Land geleistet haben müsse, um ›dazuzugehören‹, wird ironisiert in Tonys unglaubwürdiger Antwort auf Poppys Frage, woher seine Narbe stamme: »That’s an old business. [...] I got it in the war.« (S 00:13:4200:13:44) 37 Zur Nähe des Gangsters und des businessman vgl. Ruth 1996, 37-63. 38 Zu Konsum und Gangster: Ruth 1996, 63-86.

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schen des melting pot – auf ihre Tragfähigkeit für einen Staat, der den individuellen pursuit of happiness zur Richtschnur des Handelns gemacht hat. Nicht zuletzt etablieren die Gangsterfilm der frühen Dreißiger Jahre auf der Ebene der mise-en-scène genrekonstituierende Topoi. In Scarface ist dies insbesondere die Inszenierung des Maschinellen, das sich in Gestalt des Automobils sowie einer neuen, im Ersten Weltkrieg erstmals eingesetzten Waffengattung, des Maschinengewehrs (in Scarface der Thompson Submachine Gun), präsentiert. »If I had them, I could run the works«, bemerkt Tony begehrlich, als er von einem von O’Haras getöteten Männern ein Maschinengewehr erbeutet: »You carry it like a baby« (S 00:42:04– 00:43:20). Demzufolge setzt er alles daran, die in Obstkisten eingeschmuggelten Waffen O’Haras in seine Gewalt zu bringen. Das von der Polizei vorhergesehene Massaker tritt ein: in einer rasanten Sequenz, die durch die Großaufnahme einer unablässig aus einem Autofenster feuernden Maschinenpistole eröffnet wird (S 00:45:16–00:46:51), rasen Automobile durch das nächtliche Chicago, im Kugelhagel brechen O’Haras Bandenmitglieder zusammen, zerschellen die Autos an Laternenpfosten und parkenden Lastwagen. Die letzte Einstellung dieser Sequenz wird überblendet von einem schwarzen X-förmigen Kreuz39, das zunächst das gesamte Bild ausfüllt, bis es als eines von sechs Kreuzen erkennbar ist, die als dunkle Holzkonstruktion vor einer hellen Ziegelmauer den oberen Rand einer Garagenöffnung bilden. Von dort schwenkt die Kamera nach unten, um sieben Schatten von Männern im Profil in den Blick zu nehmen. (Abb. 3: S 00:46:25) Aus dem Off ist Tonys Stimme zu hören, der die Männer verhöhnt und sie die Arme heben lässt, bis eine Maschinengewehrsalve ertönt und die Schatten niedersinken. Daraufhin schwenkt die Kamera wiederum nach oben zu der Reihe schwarzer Kreuze. Waffe und Automobil als Ausrüstungfetische, Nicht-Orte wie Garagen, Werkstätten, aufgelassene Fabrikgebäude gehören von nun an zum Reper-

39 Das Motiv des schwarzen X des Filmbeginns wird hier aufgenommen: die weißen Buchstaben des Vorspanns heben sich vor grauem Hintergrund ab, auf den ein schwarzes X grob mit dickem Pinselstrich aufgetragen wurde. Zunächst nimmt es die kreuzförmige Narbe im Gesicht des Helden auf, als rekurrentes Zeichen der Negierung, des Auslöschens mag es sich natürlich ebenfalls auf die ca. dreißig Morde des Films beziehen, nicht zuletzt verweist es aber auch auf die Zensur, der Scarface wie alle Hollywoodfilme nach dem Production Code von 1930 unterliegt.

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toire des Gangsterfilms, der wirkungsvolle Einsatz von Licht- und Schatteneffekten wird zehn Jahre später begriffsbildend für den film noir.

4. G ANGSTER -V ORBILDER Im Bezug auf seine französischen Nachfahren lassen sich nun folgende Beobachtungen zum Gangsterfilm der frühen Dreißiger Jahre festhalten: Während im Nachkriegsfrankreich die Gangsterwelt nostalgisch eine Welt beschwört, die im Zeichen von ›Ehre‹, ›Fürsorge‹ und ›Gemeinschaft‹ steht, in der Kommissar und Patron auf die gleichen Werte verpflichtet sind40, lässt sich im amerikanischen Gangsterfilm von vornherein die Gemeinschaft als Wert nicht erkennen: grundsätzlich werden hier Geschichten durchgespielt, die sich als Radikalisierung des amerikanischen Traums vom Aufstieg, von der Veränderung der Welt durch Akte des Individuums verstehen lassen. Fragen von Ehre oder Moral werden hier nicht gestellt. »Do it first, do it yourself, and keep on doing it« ist Tony Camontes Gesetz. Im Kampf mit dem Gegner geht es nicht um eine ›faire‹ Begegnung Auge in Auge, die dem Westernhelden Pflicht ist, der Gangster darf heimtückisch, technologisch hochgerüstet und vor allem mit äußerster Brutalität töten. Die emotionale Einsamkeit ist der Preis dafür, die ständige Angst vor dem Getötet-Werden und die permanente Begleitung durch die Leibgarde ist es auch – wenn der Gangster allein ist, wird er angegriffen.41 Der amerikanische Film inszeniert – als Reaktion auf einen ohnmächtigen Staat, der gegenüber seinen Bürgern das Recht auf Handeln aufgibt – in der Figur des Gangsters starke Individuen, die nur auf sich vertrauen können, denen aber letztendlich das Scheitern eingeschrieben ist. Denn während der französische Gangsterfilm ein feudal-patriarchales System gegenseitiger Solidarität vorführt – gern geleisteter Dienst gegenüber dem Gangster-Oberhaupt und Sorge des Patron für seine Untertanen –, zeigt sein amerikanischer Pate im Gangster die Potenzierung des kapitalistischen Entrepreneurs, der aber inmitten seiner Gang stets allein ist. Vertrauen kann er niemandem mehr: der

40 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Mahler in diesem Band. 41 Vgl. Früchtl 2004, 287-291. Auf die Relation von Vereinzelung und Tod verweist Warshow 1948.

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(Abb. 3)

alte Gangsterboss ist nicht Patron, sondern Hindernis, das beiseite geräumt werden muss, der Jüngere immer schon gefährlicher Konkurrent. Wenn dieses Modell für Frankreich auch nicht in ideologischer Hinsicht taugt, so etabliert der amerikanische Gangsterfilm dauerhaft Verfahren der mise-en-scène, des Schnittes und der Montage, die Regisseure wie Melville aufgreifen: die Inszenierung der Waffe, das Automobil, die Orte des Gangsters von Hinterzimmer bis Cabaretbühne und Garage42, sowie Handlungssequenzen wie Showdown, Verfolgungsjagd, Schusswechsel sind obligatorischer Bestandteil des Gangsterfilms bis heute.

L ITERATUR Balio, Tino (Hg.) (1995), The Grand Design. Hollywood as a Modern Business Enterprise, 1930-1939, Berkeley / Los Angeles.

42 Zu den Orten bzw. Nicht-Orten des Gangsters vgl. den Beitrag von Maria Imhof in diesem Band.

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Handwerk und Netzwerke Der heist-Film und die Technisierung der Lebenswelt in Jules Dassins Du rififi chez les hommes H ERMANN D OETSCH

1. L EBENSWELTEN

UND

T ECHNIK

(Abb. 1)

Nach einer Sequenz, die uns in das aus einer inzwischen über 25 Jahre andauernden Geschichte des Gangsterfilms gewohnte Milieu der Spieler, das

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Hinterzimmer einer Bar, führt und eine Episode von Gewinn und Verlust erzählt, wird der Zuschauer in der zweiten Sequenz von Du rififi chez les hommes (1955) von Jules Dassin unvermutet mit einer Szenerie konfrontiert, die wenig mit dem Milieu der Gangster zu tun hat (s. Abb. 1).1 Wir landen mitten im Alltagsleben einer klassischen Familie. Vater und Sohn balgen herum, während die Mutter mit der Hausarbeit beschäftigt ist. Sowohl die weibliche als auch die männliche Figur haben wenig gemeinsam mit den Ikonen des Gangstermilieus. Die Frau, Louise (Janine Darcey), ist kein naives Showgirl und schon gar keine verführerische Femme fatale, kein fetischisiertes Objekt männlichen Begehrens, sondern eine Hausfrau aus einer einigermaßen wohlsituierten bürgerlichen Schicht. Die männliche Figur, Jo (Carl Möhner), wiederum hat so gar nichts von einem klassischen Gangster. Träge liegt er auf der Couch und liest Zeitung, nicht einmal sein Sohn Tonio (Dominique Mourain) nimmt ihn ernst und neckt ihn. Jo fehlt offensichtlich jegliche Coolness, die Kleidung ist nachlässig, und während Pépé le Moko in Julien Duviviers gleichnamigem Film von 1936 noch über seine Kleidung und insbesondere seine extravaganten Schuhe charakterisiert ist2, ist er barfuß. Er tollt mit seinem Sohn herum, und am äußersten Rand des Bildausschnitts ist deutlich ein Kasperletheater zu sehen. Der Raum des Alltags ist gleichzeitig auch ein Spielfeld. Die Beziehung zwischen männlicher und weiblicher Person definiert sich nicht über das gegenseitige erotische Begehren, wie noch im klassischen Gangsterfilm, sondern über die gemeinsame Verpflichtung, den Haushalt zu organisieren. Diese Sequenz entwirft demnach das Bild von der glücklichen Kernfamilie, einer Lebensgemeinschaft, die sich behauptet jenseits der Entfremdungen einer anonymen Gesellschaft, die den einzelnen radikal auf sein Funktionieren in bestimmten Rollen zurückwirft, und einer Gemeinschaft, die verlangt, die Identität immer schon an die Ehre einer Gruppe abzutreten. Es handelt sich dabei offenbar um eine dieser Familien, die vom Wirtschaftsaufschwung der Trente glorieuses profitieren. Die üppige Ausstattung der Wohnung, die den Bildausschnitt gegenüber den klaren geraden Linien der vorhergehenden Sequenz wenig gegliedert und fast

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Zitierter Film: Jules Dassin dir. (1955/2001), Du rififi chez les hommes (Gaumont), DVD, The Criterion Collection, F; im Folgenden im Text Rififi, in Nachweisen R. Zum vestimentären Code des Gangsters im klassischen Gangsterfilm vgl. Vincendeau 1998, 41-46, und Bruzzi 1997, 67-94.

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etwas ungeordnet erscheinen lässt, verrät einen gewissen Reichtum und unterstreicht so das Eindringen der Konsumgesellschaft – jenseits der von Veblen beschriebenen, von einer Elite praktizierten ›conspicuous consumption‹3 – in die bürgerliche Mittelschicht. Sie ist Resultat eines moderaten Konsums, der zwar prestigeträchtige Objekte ansammelt, welche allerdings eine praktische Funktion im Alltagsleben erfüllen. Insbesondere gilt dies von dem Objekt, das sich hier quer in den Bildausschnitt der Einstellung schiebt und die Szenerie der Wohnung beherrscht: den Handstaubsauger. Neben Auto, Badezimmer und Fernsehgerät sind elektrische Haushaltsgeräte wie Kühlschrank, Waschmaschine und eben Staubsauger die Kennzeichen wirtschaftlichen Erfolges. Auch die etwas spartanischer ausgestattete Wohnung eines anderen Protagonisten markiert in dieser Hinsicht die bürgerliche Situiertheit des Paares: Marios (Robert Manuel) und Idas (Claude Sylvain) Wohnung verfügt über ein eigenes Badezimmer und über ein TVGerät.4 Doch diese harmlose bürgerliche Welt hat auch ihre andere Seite. Wie sich dieser scheinbar harmlose Staubsauger ins Bild, ja in das Genre selbst drängt, gibt Zeugnis ab von einer Entwicklung, in welcher die alltägliche Lebenswelt in immer stärkerem Maße von technischen und ökonomischen Faktoren bestimmt, geradezu durchdrungen ist. In diesem Sinne stellt das Bild des Staubsaugers auch keine harmlose Konstellation aus. Der Staubsauger ist sozusagen das Konsumwerkzeug schlechthin, das ausschließlich konsumiert. Indem er den Raum von Staub und Schmutz befreit, stellt er etwas her, was in der postindustriellen Gesellschaft und deren biopolitischer Orientierung immer bedeutender wird: er schafft Reinheit. Kristin Ross hat unter Bezug auf Barthes und Baudrillard aufgezeigt, wie stark der Diskurs der 1950er-Jahre-Moderne durchzogen war vom Diskurs der

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Vgl. Veblen 2007. Veblens Klassiker von 1899, der die führende kapitalistische Elite als eine fundamental von Raubtiereigenschaften geprägte Klasse beschreibt, gibt gewissermaßen die Blaupause für das Sujet des klassischen amerikanischen Gangsterfilms ab, in dem Brutalität und wirtschaftlicher Erfolg als koextensiv erscheinen. Nach Gœtschel / Touchebœuf 2011, 345-404, fungieren diese Konsumgüter als Index des Wirtschaftswachstums und können in diesem Sinne als Kennzeichen des wirtschaftlichen Erfolgs der einzelnen Haushalte gelesen werden. Nur um die ökonomische Stellung von Mario und Jo einordnen zu können: Marios Haushalt ist 1954 einer von hundert, der mit einem Fernsehgerät, und 1955 einer von den 13%, die mit einem Badezimmer ausgestattet sind (Zahlen nach Gœtschel / Touchebœuf 2011, 354-357).

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Hygiene, den Vorstellungen einer bislang unvorhergesehenen Reinheit.5 Diese Reinheit selbst wiederum erscheint nicht mehr, wie im klassischen Melodrama, als substanzielle Eigenschaft der tugendhaften Person, sondern als ein Zustand, der durch einen technischen Apparat hervorgebracht wird. So verdichtet sich in diesem Bild von einem durch den technischen Fortschritt von allem Unrat und allem Überschuss gereinigten Raum die Vorstellung vom ökonomischen Wohlstand und der Technisierung der Gesellschaft. Was das Bild noch zu lesen gibt, geht allerdings einen Schritt weiter. Die moderne Lebenswelt stellt keine Welt jenseits technischer und ökonomischer Entfremdung dar, sondern verdankt technischen Dispositiven geradezu ihre Möglichkeitsbedingung. Nicht zuletzt ruft diese Sequenz die Vorstellung einer auf Vertrag und affektiver Basis gegründeten Gemeinschaft auf, die dem Drängen der Wirklichkeit standhält und das Reale mit dem Staubsauger auf Distanz zu halten vermag, so wie sie den Forderungen der Gesellschaft in einer spielerischen Enklave Einhalt gebietet, einer Enklave, in der der Räuber und das Krokodil am Ende immer diejenigen sind, die die Schläge abbekommen. Man hat es also scheinbar mit einem Raum zu tun, der nicht weiter entfernt sein kann vom zwielichtigen Milieu des Gangstertums, doch dieses Reale sucht den Raum wieder heim. Auf den ersten Blick scheint der Raum der Familie durch den dominanten Mastershot gleich wie eine umfriedete, Sicherheit gewährende Ganzheit. Doch dieser Eindruck täuscht. Der Staubsauger weist dem Zuschauer in dieser Einstellung den Blick auf ein Objekt, das im Kino klassischerweise gesellschaftlichen und ökonomischen Erfolg signalisiert: das ›telefono bianco‹. Der Raum der Familie ist weit davon entfernt, autonom zu sein, er ist mit dem Außenraum verbunden; wie auch schon der Staubsauger sein Funktionieren dem Stromnetz verdankt, dringt das Außen nun über das Telefon in den familiären Schutzraum ein. Tony (Jean Servais) ruft an, bittet Jo darum, seine Schulden in der Spielrunde auszulösen – und der vordergründig harmlose Ehemann entpuppt sich als Gangster, der zunächst Tony aus den Klauen des Glücksspiels befreit, um ihm dann den Vorschlag zum nächsten Coup zu unterbreiten. Der bürgerliche Raum, die heile Welt der Familie, ist offensichtlich untrennbar verbunden mit einer heillosen Welt des Verbrechens und des

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Zu den politischen und philosophischen Kontexten dieses Reinheitsdiskurses vgl. Ross 1995, 71-122.

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Glücksspiels; der Wohlstand selbst, wird nun insinuiert, ist Produkt des verbrecherischen Handelns der Protagonisten. Ökonomie und Verbrechen erscheinen wie in einem Vexierbild verbunden, das einmal die eine Seite und ein anderes Mal die untergründige Kehrseite zeigt. Dassin inszeniert auch hier wie schon in The Naked City (1948) die Wirklichkeit als eine mehrdimensionale Wirklichkeit im Sinne von Laura Frahms Analyse des film noir.6 Der alltäglichen Lebenswelt, die an der

(Abb. 2)

Oberfläche und am Tag sich abspielt, ist eine dunkle, nächtliche Welt des Verbrechertums beigestellt.7 In der ersten Sequenz charakterisiert Dassin diese als eine der alltäglichen Wirklichkeit völlig entgegengesetzte Welt. Es handelt sich um eine durch Rauchschwaden verdunkelte, sich hinter mehreren Türen ohne Fenster zum Alltag verschließende Welt, die der Kinozuschauer zudem als ein durch nahe und halbnahe Kader bestimmtes, schwer integrierbares fragmentarisches Puzzle erfährt (s. Abb. 2). Nicht nur wird der Raum nicht aufgeschlossen – eine ganze Weile zeigt die Kamera auch keine Gesichter, nur Hände, und man hört lediglich Gemurmel, Satzfetzen. 6 7

Vgl. dazu Frahm 2010, 257-306. Zu dieser Grundkonstellation des film noir als Konflikt zwischen Privatem und Öffentlichem vgl. Copjec 1993.

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Es handelt sich um eine Gegenwelt des Nicht-Ganzen, der Überreste: die Neige im Glas, die Zigarettenkippen oder vielmehr um das, was von einer Welt übrig geblieben ist. Auch Tony selbst hat sicherlich bessere Tage gesehen. Der chronische Husten verrät eine Krankheit offensichtlich terminalen Stadiums. Auch seine ökonomische Situation ist der wohlsituierten aisance des ›bürgerlichen‹ Haushalts diametral entgegengesetzt. Er hat sein Geld verspielt. Im Gegensatz zu Max und Riton in Touchez pas au grisbi (1954), die vor Beginn der Handlung einen großen Coup gelandet haben, ist Tony völlig mittellos. Und obwohl er der Patenonkel des kleinen Jungen ist, hat er in der Welt der bürgerlichen Kleinfamilie keinen Platz mehr. Das Gangstermilieu erscheint als ein vergangenes, das das Individuum als soziales, ökonomisches wie auch als körperliches Wesen deklassiert. An Tony wird der Modernisierungsprozess der postindustriellen Gesellschaft in aller Deutlichkeit vorexerziert. Die traditionellen Bindungen werden so weit wie möglich gekappt, so dass das Individuum grundsätzlich als Schuldner der Welt gegenübersteht und, um diese unvorgängliche Schuld aufzuheben8, Unternehmergeist entfalten muss. Er muss den Kontakt mit der Welt aufnehmen, sich an die technischen Netze der Welt anschließen. Nichtsdestoweniger gibt es eine Verbindung, die Tony wie in einem Initiationsritus mit dem Übertritt über einige Schwellen und dem Ankoppeln am Telefonnetz herstellen kann. Es sind die Infrastrukturen der Kommunikation, welche die Verbindung zwischen beiden Ebenen herstellen; sie erfüllen damit eine ähnliche Funktion wie in The Naked City die Investigation und deren Verschaltung von Spuren, Zeugnissen und Anschauungen.9 Die ersten beiden Sequenzen des Films konturieren eine Problemlage, welche die fiktive Handlung des Films zutiefst in der zeitgenössischen Welt der 1950er Jahre situiert, in der eine neoliberale Konsumgesellschaft beginnt, die Herrschaft über die okzidentale Welt an sich zu reißen.

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Dass Schuld das grundlegende Prinzip neoliberalen Wirtschaftens darstellt, erläutert Lazzarato 2011. Bereits für Tönnies stellt der Kredit das wesentliche Strukturelement der abstrakten Gesellschaft dar; vgl. Tönnies 1979, 34-70. Zur Topologie von The Naked City vgl. Frahm 2010, 293-306.

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2. K YBERNETIK

UND

L EBENSWELT

2.1. Kybernetische Prozesse – Steuerung und Kontrolle Der klassische französische Gangsterfilm der 1950er Jahre stellt eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den sozialen, ökonomischen, politischen und technischen Prozessen dar, welche diese Gesellschaft implementieren. Er setzt aber – dies werde ich an Rififi zeigen – den Fokus anders als die klassischen amerikanischen Gangsterfilme. Er inszeniert den Gangster nicht mehr als souverän handelndes Subjekt, das versucht, sich Territorium und Macht zu nehmen10, sondern zeigt, wie er versucht, die freigesetzten Ströme von Konsumgütern und Geld anzuzapfen, und fokussiert hierfür die technische Dimension gangsterischen Unternehmertums. Der Gangsterfilm der 1950er Jahre ist zu einem kybernetischen Film geworden, welcher die Infrastrukturen der Wirklichkeit in den Blick nimmt und die Prozesse zeigt, die notwendig werden, will man den Verlauf der Unternehmung steuern und zu einem günstigen Ende bringen.11 Gegenstand der Darstellung sind deshalb auch in der ersten Einstellung von Rififi nicht mehr die handelnden Personen und ihr Milieu, sondern nur Prozesse. Zu sehen ist nicht Tony, der spielt, sondern die infrastrukturellen Bedingungen des Spiels. Die Einstellung modelliert keinen Tiefenraum, erscheint eher flach und stellt so quasi diagrammatisch die Infrastrukturen des Glücksspiels vor. Zu sehen ist kein Tisch, sondern eine bespielbare Fläche, auf der Geld und Spielchips, die abstrakten Wertformen der kapitalistischen Wirtschaft, zirkulieren können. Wert wird hierbei nicht mehr kreiert durch Produktion, durch Ware, sondern durch Zeichen bzw. durch bestimmte Konstellationen von Zeichen. Spielkarten sind in diesem Sinne reine Formen der Konsumtion, die letztlich dazu führen, Werte unbegrenzt zirkulieren zu lassen. Sie finden ihren materiellen Ausdruck in den Zigaretten und im Alkohol, pures Konsummaterial, das sich im Gebrauch selbst vernichtet und immer wieder erneuert werden muss. Gesteigert wird dies in der wiederkehrenden Thematik der Drogen, die nicht nur sich selbst, sondern auch die sie konsumierenden Körper wie Rémi Grutter (Robert Hossein) vernichten. 10 Zur Landnahme, dem Nomos der Erde, als konstitutives Element des klassischen okzidentalen Schemas von Souveränität vgl. Schmitt 1997 und Foucault 2004. 11 Vgl. hierzu Mason 2002, 97-119.

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Das bei weitem auffälligste Phänomen dieser ersten Einstellung des Films betrifft allerdings die Kadrierung. Es sind keine Personen zu sehen, die Körper sämtlicher Spieler werden oberhalb der Hände abgeschnitten. So wird zum einen die Abstrahierung auf die Spitze getrieben: die Spieler erscheinen nicht als handelnde, psychologische Subjekte eines Spiels, sondern werden zu reinen Funktionsorganen in der Zirkulation von Substanzen, Zeichen und Geld. Dassin präsentiert hier im Gegensatz zu Melvilles eher anthropologischer Perspektive auf das Spiel in Bob le flambeur (1956)12 eine reine Kybernetik des Spiels, das Glücksspiel als System, das durch Steuerungsprozesse kontrolliert werden muss. Von Beginn an zeigt er uns in einer abstrakten Einstellung, dass wir es mit einer abstrakten Gesellschaft zu tun haben, in der weniger die Interaktion von Personen im Vordergrund steht als sich per Feedback und statistischer Mechanik selbst kontrollierende und selbst steuernde Prozesse der Informationsverarbeitung.13 Zum anderen ist es aber zu kurz gegriffen, in dieser Einstellung ausschließlich eine reduktive Sicht der menschlichen Person als Servomotor eines kybernetischen Systems ausmachen zu wollen. Abgesehen davon, dass diese Einstellung die Hände quasi in einer vor-McLuhan’schen Perspektive amputiert, hebt sie sie nachdrücklich heraus und gibt damit einen wichtigen Tenor des Films vor.14 So geht es im Folgenden nicht nur um die kybernetischen Systeme und ökonomischen Netzwerke der beginnenden neoliberalen Moderne, sondern ganz emphatisch auch um das Hand-Werk: das Werk, das Hände vollbringen.15

12 Vgl. den Beitrag von Wolfram Nitsch in diesem Band. 13 So Wieners programmatische Definition des Disziplinen – und insbesondere die Grenze zwischen Künstlichkeit und Leben – übergreifenden kybernetischen Denkens als »the set of problems centering about communication, control, and statistical mechanics, whether in the machine or in living tissue. [...] We have decided to call the entire field of control and communication theory, whether in the machine or in the animal, by the name Cybernetics [...]. In choosing this term, we wish to recognize that the first significant paper on feedback mechanisms is an article on governors, which was published by Clerk Maxwell in 1868« (Wiener 2013, 11). Zur sozialwissenschaftlichen Dimension der Kybernetik siehe auch Wiener 1954. 14 Vgl. hierzu McLuhans These von den Medien als Erweiterung und Autoamputationen des Ich in McLuhan 1994. 15 Zur Theorie und Geschichte der Netzwerke vgl. Barabási 2003 und Gießmann 2006; zur Bedeutung des Handwerks im französischen Gangsterfilm vgl. Vincendeau 2003, bes. S. 113.

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Als im Lauf des Films der Einbruch vorbereitet werden soll, rücken die handwerklichen Fähigkeiten, insbesondere diejenigen Marios, in den Fokus.16 Folgerichtig führt der Film uns an einen Ort in der Topographie der Stadt, an dem das Verbrecherteam zu sich selbst als Gemeinschaft findet: die Werkstatt. Diese durch das handwerkliche Gemeinschaftsideal gebildete Lebenswelt steht im größtmöglichen Gegensatz zu der aus einem hinter dem Nachtclub befindlichen Büro organisierten Welt des von Pierre Grutter (Marcel Lupovici) geführten Verbrechersyndikats, das nach den Prinzipien des neuen Managements geführt wird, welche die Flüsse an Kapital, Waren – in Rififi sind dies Drogen – und Menschen kontrollieren und steuern.17 Während diese Flüsse in Rififi erst im letzten Abschnitt eine Rolle spielen, konstituieren sie das Sujet des im gleichen Jahr veröffentlichten Razzia sur la chnouf (1955) vollständig: Henri Ferré (Jean Gabin) wird als Experte amerikanischer Managementmethoden nach Paris importiert, um dort die Verbrecherorganisation wirtschaftlich erfolgreicher zu machen. Im ersten Gespräch mit dem Präsidenten des Verbrechersyndikats fällt das entscheidende Stichwort, das die neokapitalistische Wirtschaftsordnung prägt wie kaum ein anderes: die ›méthodes efficaces‹ (»En Amérique vous avez appris des méthodes, dirai-je, très efficaces«, RC 00:09:08–14).18 Die Handlung des Films folgt im Prinzip Henri bei seiner Inspektion der Produktionsstätten, Transportmittel, Qualitätssicherungs- und Distributionsverfahren sowie Verkaufspraktiken. Der Zuschauer kann ihn lange Zeit beobachten, wie er das Drogennetzwerk untersucht und optimiert, indem er versucht, den menschlichen Faktor, den einzelnen und seine Obsessionen, Ab-

16 Zu den Funktionsstellen im Team s.u. Kap. 2.2. 17 Zu dieser Konfliktlinie vgl. den Beitrag von Andreas Mahler in diesem Band. Zu den einzelnen Schritten und Dimensionen dieser in Burnham 1941 so genannten ›managerial revolution‹ siehe umfassend Beniger 2009. Burnhams Studie stellte diese Entwicklung als erste dar, auch wenn dieser selbst sie vor allen Dingen fälschlicherweise als Intervention des Staates ins Wirtschaftshandeln verstanden wissen wollte. Bereits 1947 ins Französische übersetzt, beeinflusste sie die Diskussion in nicht unbedeutender Weise (vgl. Gœtschel / Touchebœuf 2011, 362 f.). Wie sehr die Fragestellung ins philosophische Selbstverständnis eindrang, zeigt die Tatsache, dass Croziers erste Bestandsaufnahme der amerikanischen Managementpraktiken 1951 im philosophischen Zentralorgan Les Temps Modernes von Merleau-Ponty selbst präsentiert und kritisch diskutiert wurde (vgl. Merleau-Ponty 1997 sowie Croziers aus diesen Vorarbeiten entstandene umfassendere Studie 1971). 18 Zit. n. Henri Decoin dir. (1955/2006), Razzia sur la chnouf (Gaumont), DVD, Tobis/Universum Film, F; RC.

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hängigkeiten und Triebe weitgehend zu eliminieren. Wie sich zum Schluss herausstellt, ist er ein Polizeibeamter, der undercover arbeitet und auf diese Weise das gesamte Netzwerk von den Junkies als den Endverkäufern, den Betreibern der Bars, in denen der Stoff abgesetzt wird, über die Arbeiter als Kuriere, die ›gunmen‹, die den reibungs- und verratlosen Ablauf des Geschehens kontrollieren, die Chemiker, die den Stoff herstellen, und die Rohstoffimporteure bis hinauf zum kapitalistischen Boss der Organisation auflösen kann. Wie konventionell und bürgerlich beruhigend das Ende dieses Films auch sein mag, er führt klar vor Augen, dass moderne systemisch organisierte Wirtschafts- und Verbrechensformen nur über die Logik der Netzwerke selbst, die Praktiken, mit denen sie gesteuert und kontrolliert werden, auch außer Funktion gesetzt werden können. Es ist also nicht mit der Eliminierung eines einzelnen Bösewichts getan, modernes Wirtschaften betrifft eine multitude.19 2.2. Handwerk Während die moderne Wirtschaftsunternehmungen wie Verbrechersyndikate steuernden Hände – trotz des gegenteiligen Titels der klassischen Studie zur Praxis des Managements von Alfred D. Chandler jr – unsichtbar sind, sich hinter dezentralen Praktiken verbergen und ihren Ausdruck weniger in menschlichen Handlungen als in Operationsketten finden, die sich auf den verschiedensten Speichermedien – in den 1950er Jahren hauptsächlich auf Papier – einschreiben20, bildet im Handwerk gerade die Hand den Fokus der Aufmerksamkeit (s. Abb. 3). In der Einstellung sieht man, wie Mario den zum Eindringen in die Wohnung des Juweliers benötigten Schlüssel, von dessen Tür er zuvor einen Abdruck genommen hat, im Gussverfahren herstellt; die Hohlform ist noch am unteren Bildrand zu sehen. Genau im Zentrum des Bildausschnitts befindet sich das Produkt des Unternehmens, von dessen Herstellung der Zuschauer in allen Einzelschritten Zeuge werden durfte. Im vollen Glanz taucht quasi epiphanisch der Schlüssel auf; wo

19 Den Begriff ›multitude‹ entnehme ich Hardt / Negri 2000. 20 Zur ›visible hand‹ vgl. Chandler 2002. Zu den solche Inskriptionen produzierenden Verfahren moderner wirtschaftlicher wie auch staatlicher Praxis vgl. die grundlegenden Studien von Bruno Latour, exemplarisch Latour 2007; zum konkreten Beispiel der Stadt Paris, auf das ich noch zurückkommen werde, siehe Latour / Hersant 1998.

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vorher nichts war, ist nun etwas: ein nicht nur funktionaler, sondern auch ästhetischer Gegenstand, vollkommenes Produkt des Zusammentreffens von Form und Materie. Mit dieser Tätigkeit, einem Verfahren, das seit der Bronzezeit unverändert ausgeübt wird, situiert sich Mario im Äon der Handwerkskultur und wird zum Teil einer stabilen Ordnung.21 Während die Arbeit im Netzwerk der Verbrecherorganisation von Razzia sur la chnouf rein funktional abläuft und deshalb jeder individuelle Körper eine potentielle Störquelle darstellt, die sich durch körperliche Symptome wie etwa Schweißabsonderungen verrät und zum Funktionieren des Systems ausgeschaltet und im Extremfall eliminiert werden muss, spielt in der Handwerkswelt der Bande in Rififi der Körper eine zentrale Rolle. Schon hier ist zu sehen, wie Marios ganzer Körper, eben nicht nur die Hände, sondern auch Mund, Augen, Arm involviert sind. Mario und Schlüssel sind weniger Subjekt und Objekt, sondern bilden eine kontinuierliche Einheit: die Form des Schlüssels führt bruchlos die Form der Hand bzw. des Fingers fort.

(Abb. 3)

21 Die handwerkliche Dimension eines perfekten Überfalls arbeitet auch Melville heraus; vgl. Nogueira 1996, 145: »Après avoir vu Gu à l’œuvre, il est complètement subjugué par lui, et il serait prêt à le suivre n’importe où. Cette scène, c’est le constat du chef-d’œuvre exécuté par deux artisans du Moyen Âge.«

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Der Schlüssel ist zudem Produkt eines gemeinschaftlichen Unternehmens und kollektiven Aufgabe, die aber nicht wie die Drogenindustrie in Razzia sur la chnouf tayloristisch-fordistisch organisiert ist. Jeder wird nach seinen Fähigkeiten eingesetzt, und diese Aufgabe ist ihm von Anfang bis zum Ende übertragen. Im Hintergrund sieht man Cesare (Perlo Vita, i.e. Jules Dassin), der sich seiner Tätigkeit widmet. Während Mario für das klassische Handwerk steht, sich aber durchaus auch mit elektronischen Geräten auskennt, repräsentiert Cesare den Typ des hochspezialisierten Handwerkers, der viel mehr Künstler als Handwerker ist. Während Jo für die eher schweren körperlichen Tätigkeiten gebraucht wird, ist Tony im Wesentlichen für die Planung zuständig.

3. E INE P HILOSOPHIE DER H ÄNDE – H ANDWERK UND T ECHNIK Der Film stellt sich derart einem Konflikt, der aus der verstärkten Technisierung der Lebenswelt resultiert, und sucht nach neuen Erfahrungs- und Denkformen, die dieser Entwicklung gerecht werden.22 So hat auch die Philosophie versucht, über ihren ›modernen‹ Charakter als systematische Wissenschaft hinauszugehen und andere Formen des Bezugs auf die Wirklichkeit jenseits naturwissenschaftlicher Systematisierung und Mathematisierung zu entwickeln. Vor allem die Philosophien Husserls, Heideggers und Merleau-Pontys tragen in Abgrenzung zu analytisch oder kybernetisch ausgerichteten Unternehmungen diesen Konflikt zwischen Lebenswelt und Technisierung verstärkt aus.23 Blumenberg zufolge ist Husserls Phänomenologie insbesondere als Unternehmen zu verstehen, das die lebensweltliche Dimension der Erfahrung von Wirklichkeit jenseits der Technisierung, welche Lebenswelt, verstanden als »Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten«24, zunehmend abbaut, als philosophisches Terrain zurückgewinnen will.

22 Dies hat als zentralen Konflikt bereits Vincendeau herausgearbeitet, die ihn aber stark auf der geschlechtspolitischen Achse verortet; vgl. Vincendeau 2003, 211. 23 Vgl. hierzu Blumenberg 2010, der allerdings Merleau-Pontys bedeutenden Beitrag nicht berücksichtigt. 24 Husserl 2012, 195 (bei Blumenberg 2010, 198).

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Die Naturwissenschaft der Neuzeit hat, als Physik sich etablierend, ihre Wurzel in der konsequenten Abstraktion, in der sie an der Lebenswelt nur Körperlichkeit sehen will [...]. Die Welt reduziert sich in solcher mit universaler Konsequenz durchgeführten Abstraktion auf die abstrakt-universale Natur, das Thema der puren Naturwissenschaft. Hier allein hat zunächst die geometrische Idealisierung, dann alle weitere mathematisierende Theoretisierung ihren möglichen Sinn geschöpft. Sie beruht auf der Evidenz der »äußeren Erfahrung«, die in Wahrheit also eine abstraktive ist. Aber sie hat in der Abstraktion ihre Wesensform der Auslegung, ihre Relativitäten, ihre Weisen, Idealisierungen zu motivieren usw.25

Blumenberg arbeitet nun die Komplexität der Konstruktion Husserls heraus, die nicht als nostalgische Sehnsucht nach unmittelbarer Erkenntnis missverstanden werden sollte. Der Rückgriff auf die Lebenswelt versteht sich als Suche nach der Genese der technischen und – da Husserl sich auf die allgemeine Abstraktionstätigkeit und Mathematisierung der Wirklichkeit bezieht – ökonomischen Zurichtung des Wirklichen, um deren reduktive Selbstverständlichkeiten zu entlarven. Während geschichtliches Handeln immer wieder auf die Sachen zurückgeworfen wird, führt technisches und ökonomisches Handeln nur mehr dazu, dass Zeichen und Simulakren zirkulieren. Die wesentliche innere Disposition des Bewußtseins kraft seiner Intentionalität ist nun, ständig den Verstand eben zur Vernunft zur bringen, die Schatzanweisungen gegen die sie deckenden Sachwerte einzuwechseln. Geschichte vollstreckt, aktualisiert die Disposition, Technisierung aber durchbricht diesen Prozeß, sie vermehrt ständig die Zeichenwerte, die nominalen Repräsentationen, die ungedeckten Anweisungen; sie ist – um im Bereich der Metapher zu bleiben – Herbeiführung von Besitz, anstatt Begründung von Eigentum, oder Ausübung von Herrschaft ohne Rücksicht auf deren Legitimität.26

Klingt schon diese Überlegung wie das Szenario eines Gangsterfilms, in dem die Gangster die zirkulierenden Zeichen in Werte und Lebenswelt zurückverwandeln wollen, so lässt das folgende Beispiel im Kontext von Dassins Insistenz auf den Händen aufhorchen: Anders bei der elektrischen Klingel, die durch einen Druckknopf betätigt wird: die Verrichtung der Hand ist dem Effekt ganz unspezifisch und heteromorph zugeordnet – wir erzeugen den Effekt nicht mehr, sondern lösen ihn nur noch aus. Der gewünschte Effekt liegt apparativ sozusagen fertig für uns bereit, ja er verbirgt sich in seiner Bedingtheit und in der Kompliziertheit seines Zustandekommens sorgfältig vor uns, um sich uns als das mühelos Verfügbare zu suggerieren. Um dieser Sugges-

25 Ibid., 245 f. (bei Blumenberg 2010, 203). 26 Blumenberg 2010, 209 (alle Folgeangaben im laufenden Text).

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tion des Immer-Fertigseins willen ist die technische Welt, unabhängig von allen funktionalen Erfordernissen, eine Sphäre von Gehäusen, von Verkleidungen, unspezifischen Fassaden und Blenden. Der menschliche Funktionsanteil wird homogenisiert und reduziert auf das ideale Minimum des Druckes auf einen Knopf. Die Technisierung macht die menschlichen Handlungen unspezifisch [...]. Im Ideal des ›Druckes auf den Knopf‹ feiert der Entzug der Einsicht (im wörtlichen Sinne des Hineinsehens!) sich selbst: Befehl und Effekt, Order und Produkt, Wille und Werk sind auf die kürzeste Distanz aneinandergerückt, so mühelos gekoppelt, wie im heimlichen Ideal aller nachchristlichen Produktivität, dem göttlichen ›Es werde!‹ des Anfanges der Bibel. (S. 209 f.)

Dassin treibt diese Problemkonstellation auf die Spitze, wenn sich die enorme Drucksensitivität der Alarmanlage als eines der entscheidenden Hindernisse herausstellt, die auf dem Weg zum großen Geld überwunden werden müssen. Es geht nicht einmal mehr darum, einen Knopf zu drücken. Die menschliche Tätigkeit wird auf das Minimum der Berührung von Sensoren reduziert, auf die reine Anwesenheit eines trägen Körpers. Es ist kein Zufall, dass Blumenberg diese Problemlage zwischen der Suspension menschlicher Handlungsmacht im kybernetischen System und der konkreten Gestaltung der Wirklichkeit im formativen Prozess des Handwerks am Beispiel der Hand oder genauer am Beispiel einer Geste erläutert.27 Schon für Aristoteles versinnbildlichte die Hand als formgebendes Organ die Kontinuität von Lebenswelt und wissenschaftlicher Erfassung der Welt, die somit stets auf die ihr zugrunde liegende körperliche Erfahrung bezogen bleibt: So ist die Seele wie die Hand; denn auch die Hand ist das Organ der Organe, und so ist die Vernunft die Form der (intelligiblen) Formen, und die Wahrnehmung die Form der wahrnehmbaren (Formen). Da es aber kein Ding, wie es scheint, abgetrennt neben den sinnlich wahrnehmbaren Größen gibt, so sind in den wahrnehmbaren Formen die intelligiblen (enthalten), sowohl die sogenannten abstrakten, als auch alles, was Verhältnisse und Eigenschaften der Sinnesdinge sind (Über die Seele 9,432a)28.

Wie die Hand den Dingen Form gibt, so gibt die Vernunft dem Denken und die Wahrnehmung den Wahrnehmungen Form. Denken selbst erscheint also für Aristoteles wie eine handwerkliche Prozedur; wie dem Tonziegel im Model seine Form gegeben wird, so geben Wahrnehmung und Vernunft

27 Zur Kybernetisierung der Lebenswelt im Fahrstuhl durch die Einrichtung einer Druckknopfsteuerung vgl., unter ausdrücklichem Bezug auf Blumenberg, Bernard 2011, 167-188. 28 Aristoteles 1995, 185-187.

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den ›Percibilia‹ und ›Intelligibilia‹ Form.29 Handwerk und Denken bilden zwei Etappen in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Wirklichen. Als Heidegger gegen die technische, kybernetische Weltanschauung der Moderne30, das, was er »Ge-stell« nennt, also »das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d.h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen«31, ein Denken des Seins zurückzugewinnen sucht, rückt er seinerseits die Hand und das Hand-Werk in den Vordergrund: Vielleicht ist das Denken auch nur dergleichen wie das Bauen an einem Schrein. Es ist jedenfalls ein Hand-Werk. Mit der Hand hat es seine eigene Bewandtnis. Die Hand gehört nach der gewöhnlichen Vorstellung zum Organismus unseres Leibes. Allein das Wesen der Hand läßt sich nie als ein leibliches Greiforgan bestimmen oder von diesem her erklären. Greiforgane besitzt z. B. der Affe, aber er hat keine Hand. Die Hand ist von allen Greiforganen: Tatzen, Krallen, Fängen, unendlich, d.h. durch einen Abgrund des Wesens verschieden. Nur ein Wesen, das spricht, d.h. denkt, kann eine Hand haben und in der Handhabung Werke der Hand vollbringen. Allein das Werk der Hand ist reicher, als wir gewöhnlich meinen. Die Hand greift und fängt nicht nur, drückt und stößt nicht nur. Die Hand reicht und empfängt und zwar nicht allein Dinge, sondern sie reicht sich und empfängt sich in der anderen. Die Hand hält. Die Hand trägt. Die Hand zeichnet, vermutlich weil der Mensch ein Zeichen ist. Die Hände falten sich, wenn diese Gebärde den Menschen in die große Einfalt tragen soll. Dies alles ist die Hand und ist das eigentliche Hand-Werk. In ihm beruht jegliches, was wir gewöhnlich als Handwerk kennen und wobei wir es belassen. Aber die Gebärden der Hand gehen überall durch die Sprache hindurch und zwar gerade dann am reinsten, wenn der Mensch spricht, indem er schweigt. Doch nur insofern der Mensch spricht, denkt er; nicht umgekehrt, wie die Metaphysik es noch meint. Jede Bewegung der Hand in jedem ihrer Werke trägt sich durch das Element, gebärdet sich im Element des Denkens. Alles Werk der Hand beruht im Denken. Darum ist das Denken selbst das einfachste und deshalb schwerstes HandWerk des Menschen, wenn es zu Zeiten eigens vollbracht sein möchte [...]. Das

29 Zum technischen Prozess der Formgebung als Grundlage des hylemorphistischen Modells des aristotelischen Denkens vgl. Simondon 1995, 37-49. 30 Vgl. die oftmals zitierten Passagen aus »Die Frage nach der Technik«, Heidegger 1994, 20: »Das Entbergen, das die moderne Technik durchherrscht, hat den Charakter des Stellens im Sinne der Herausforderung. Diese geschieht dadurch, daß die in der Natur verborgene Energie aufgeschlossen, das Erschlossene umgeformt, das Umgeformte gespeichert, das Gespeicherte wieder verteilt und das Verteilte erneut umgeschaltet wird. Erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten sind Weisen des Entbergens [...]. Das Entbergen entbirgt ihm selber seine eigenen, vielfach verzahnten Bahnen dadurch, daß es sie steuert. Die Steuerung selbst wird überall gesichert. Steuerung und Sicherung werden sogar die Hauptzüge des herausfordernden Entbergens.« 31 Ibid., 24.

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Schreinerhandwerk wurde als Beispiel gewählt und dabei wurde vorausgesetzt, daß niemand auf die Meinung verfalle, durch die Wahl dieses Beispiels solle die Erwartung bekundet sein, der Zustand unseres Planeten lasse sich in absehbarer Zeit oder überhaupt je wieder in eine Dorfidylle verwandeln. [...] Aber – schon an diesem Handwerk ist, wie doch eigens vermerkt wurde, nicht das bloße Hantieren mit Werkzeugen das Tragende, sondern der Bezug zum Holz. [...] Wie ist das mit dem Hebel? Wie ist das mit dem Knopf in den Handgriffen des Arbeiters? Hebel und Knöpfe gibt es auch und seit langem an der Hobelbank einer alten Werkstatt. Doch die Hebel und Knöpfe in den Handgriffen des Industriearbeiters gehören zu einer Maschine.32

Heidegger ist entfernt von jeder Nostalgie nach einem unverstellten gemeinschaftlichen Leben. Nichtsdestoweniger erkennt er am Handwerk eine ontologische Dimension, die der maschinellen Arbeit seiner Ansicht nach abgeht, eine Erfahrung, die Wirklichkeit nicht einfach verarbeitet, manipuliert, beherrscht, sondern sich auf diese Wirklichkeit einlässt. Es ist offensichtlich das Ziel seines Denkens, auch der Moderne diese Erfahrung wieder abzugewinnen. Es handelt sich dezidiert nicht um eine unverstellte, unmittelbare Erfahrung, sondern – Derrida hat dies deutlich gemacht – eine Erfahrung, die eine bestimmte Einstellung zum Wirklichen voraussetzt.33 Hand und Zeichen sind eines, sie setzen in Beziehung. Heideggers Denken öffnet sich hier explizit auf die Geste als Form des Denkens oder des Denkens in Form der Geste. Die Geste führt überraschender Weise von Heidegger zu den Gangstern zurück. Es war Roland Barthes, der die Geste als zentrales Element des Gangsterfilms herausgearbeitet hat, eine Geste, die – wie auch die Heideggers – ihre Erfüllung erst im Schweigen findet. Diese ist aber nicht im Sinne Heideggers eine Geste des In-Beziehung-Setzens der ›Zwiefalt‹, sondern einer Geste, die mehr von den sicher vermessenen Gesten Taylors und Fords hat: Mais ce geste, pour signifier qu’il se confond avec l’acte, doit polir toute emphase, s’amincir jusqu’au seuil perceptif de son existence; il ne doit avoir que l’épaisseur d’une liaison entre la cause et l’effet; la désinvolture est ici le signe le plus astucieux de l’efficacité; chacun y retrouve l’idéalité d’un monde rendu à merci sous le pur gestuaire humain, et qui ne se ralentirait plus sous les embarras du langage: les gangsters et les dieux ne parlent pas, ils bougent la tête, et tout s’accomplit.34

32 Heidegger 1997, 50-54. 33 Siehe Derrida 1990, 173-222. 34 Barthes 1970, 73 f.

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Barthes sieht den Gangster als das kybernetische Wesen schlechthin, als perfekte Verbindung von Mensch und Technik. Die Geste des Schießens verändert, wie Blumenbergs Druck auf den Knopf, die Welt augenblicklich. Den Positionen Heideggers und Barthes ist gemein, dass sie ihre Überlegungen fokussieren auf die Geste als eine komplexe Form der Vermittlung zwischen Mensch und Technik. Beide verbinden diese Erkenntnis mit einem gehörigen Misstrauen gegenüber der Maschine, die es dem Menschen gerade nicht erlaubt, sich mit der Wirklichkeit in eine spannungsvolle Beziehung zu setzen, sondern die die Wirklichkeit einfach manipuliert, steuert und bestellt.35 Es ist diese Ambivalenz der Geste zwischen technischer Steuerung, Kontrolle und Bezug zur Materialität der Welt, die im Gangsterfilm und speziell im heist-Film ausagiert wird. Dabei scheint nun aber ein wichtiges Element etwas in den Hintergrund zu geraten: die Hand, und zwar nicht als Instrument und Proto-Werkzeug, sondern als Körper. Diese Perspektive hat mit dem Versuch, aus dem von Husserl und Heidegger verursachten Dilemma, in dem Lebenswelt und Technisierung als Gegensatz erscheinen, wieder herauszufinden, insbesondere Merleau-Ponty nachhaltig wiedereingebracht. Ihm geht es darum, einen Modus der Erfahrung wiederzuerlangen, der nach Husserl – und Heidegger – in der Orientierung moderner Wissenschaft und Technik auf das messende und abstrahierende Sehen verlorengegangen ist. Und auch er findet ihn in der Berührung der Hand: Nous trouverions peut-être la réponse dans la palpation tactile où l’interrogeant et l’interrogé sont plus proches, et dont, après tout, celle de l’œil est une variante remarquable. D’où vient que je donne à mes mains, notamment, ce degré, cette vitesse et cette direction du mouvement, qui sont capables de me faire sentir les textures du lisse et du rugueux? Il faut qu’entre l’exploration et ce qu’elle m’enseignera, entre mes mouvements et ce que je touche, existe quelque rapport de principe, quelque parenté, selon laquelle ils ne sont pas seulement, comme les pseudopodes de l’amibe,

35 Vgl. dagegen explizit, wenn auch Heideggers komplexe Position stark einseitig reduzierend, Latour 1994. Für diesen bildet die Verbindung Mensch – Waffe gerade einen für jegliche Konstitution eines sozialen Selbst grundlegenden Modus der Mediation zwischen menschlichen und nicht-menschlichen – also technischen – Elementen, der Verhalten keineswegs automatisiert; vielmehr konstituiert diese Verbindung ganz im Sinne Simondons (s.u.) eine veränderte Umwelt und vermag so alternative Möglichkeiten der Handlungsverknüpfung zu eröffnen.

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de vagues et éphémères déformations de l’espace corporel, mais l’initiation et l’ouverture à un monde tactile.36

Die Erfahrung des Tastens eröffnet eine neue Beziehung zwischen Körper und Welt; Körper und Welt erfahren sich als ineinander verflochten. Entscheidend ist, dass diese Erfahrung nicht, wie im die Moderne seit Alberti und Descartes beherrschenden Blickregime, eine statische Momentaufnahme des Wirklichen darstellt, die diese in ein homogenes Ganzes, einen perfekten euklidischen Raum zusammenstellt, sondern eine dynamische, sich ständig verändernde Erfahrung bildet, die sich in Bewegungen und Differenzen konstituiert. Körper und Welt sind ein Ereignis, ineinander verflochten, ohne dass sie jedoch das Selbe sind. Dieses Wirkliche nennt MerleauPonty ›chair‹. Encore une fois, la chair dont nous parlons n’est pas la matière. Elle est l’enroulement du visible sur le corps voyant, du tangible sur le corps touchant, qui est attesté notamment quand le corps se voit, se touche en train de voir et de toucher les choses, de sorte que, simultanément, comme tangible il descend parmi elles, comme touchant il les domine toutes et tire de lui-même ce rapport, et même ce double rapport, par déhiscence ou fission de sa masse. (S. 189)

›La chair‹ ist also keineswegs chaotische Materie, die der Form bedarf, sondern die Bedingung der Möglichkeit von Form, ein virtuelles Reservoir an Formen: La chair (celle du monde ou la mienne) n’est pas contingence, chaos, mais texture qui revient en soi et convient à soi-même [...]. Milieu formateur de l’objet et du sujet, ce n’est pas l’atome d’être, l’en-soi dur qui réside en un lieu et en un moment uniques: on peut bien dire de mon corps qu’il n’est pas ailleurs, mais on ne peut pas dire qu’il soit ici ou maintenant, au sens des objets; et pourtant ma vision ne les survole pas, elle n’est pas l’être qui est tout savoir, car elle a son inertie, ses attaches. (S. 190 f.)

Es hat den Anschein, als ob die Technik, selbst als Handwerk, endgültig außen vor gelassen wäre, doch diesen Eindruck vermitteln lediglich die Notizen aus dem Jahre 1959/60. Was dabei aus dem Blick gerät, ist, dass Merleau-Ponty einen nicht unbeträchtlichen Anteil dieser neuen Sicht der Welt als virtuelles Reservoir an Formen dem Kino abgesehen hat. Schon in einem 1945 gehaltenen Vortrag begreift er das Kino als ideales Anschauungsmaterial, um die neue phänomenologische Perspektive auf die Wahr-

36 Merleau-Ponty 1999, 173 f. (alle Folgeangaben im laufenden Text).

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nehmungs- und Verhaltenspsychologie zu illustrieren.37 Großen Wert legt er dabei auf den Feldcharakter der filmischen Wahrnehmung, die durch Kadrierung, mise-en-scène der Objekte und Beleuchtung die Welt als ein Feld von Möglichkeiten organisiert und so dem Körper Situationen verschiedener Verhaltensmöglichkeiten bereitstellt. Im Kino erfährt sich der Körper zum ersten Mal mit der Welt gegenstrebig vernetzt. Ausdruck dieser Begegnung von Körper und Welt ist die Geste, in der sich nicht das Innere des Menschen ausdrückt, sondern die in der Affizierung des Körpers in der und durch die Umgebung entsteht: Colère, honte, haine, amour ne sont pas des faits psychiques cachés au plus profond de la conscience d’autrui, ce sont des types de comportement ou des styles de conduites visibles du dehors. Ils sont sur ce visage ou dans ces gestes et non pas cachés derrière eux.38 Mit den Vorlesungen am Collège de France aus dem Jahre 1953, »Le

monde sensible et le monde de l’expression«, macht Merleau-Ponty dann den Schritt von einer an Gestalt- und Verhaltenspsychologie orientierten Forschung zu einer ontologischen Phänomenologie.39 In diesen erläutert er, wie unsere Wirklichkeitswahrnehmung sozusagen aus einer technischen Geste der Gestaltung des Materials geschieht. Mehrfach zitiert er Valérys Formel vom Menschen als einer »machine à vivre«40. Er unterstreicht dabei, wie Wahrnehmung als sinnvolle Wahrnehmung und Form des Denkens immer durch die Verflechtung eines wahrnehmenden Körpers in einem dynamischen, also sich verändernden Feld entsteht. Es kann nicht überraschen, dass Merleau-Ponty seine Überlegungen in einer Diskussion des kinematographischen Dispositivs enden lassen wollte. Doch hat Merleau-Ponty diesen Schritt zur Technik nicht selbst vollzogen. Vielmehr war es Gilbert Simondon, der in den 1950er Jahren – ausgehend von André Leroi-Gourhans anthropologischen Forschungen, welche Technik als eine spezifische Umwelt verstehen, die zwischen innerer und äußerer Umwelt vermittelt41 – das Verhältnis von Mensch und Technik unter einem neuen Gesichtspunkt zu sehen begonnen hat. Technik stellt für

37 Hierzu und im Folgenden vgl. Merleau-Ponty 1996. 38 Ibid., 67. 39 Zur Situierung dieser Vorlesungen im Denkprozess Merleau-Pontys vgl. das Vorwort von Emmanuel de Saint Aubert in Merleau-Ponty 2011, 8-38. 40 Ibid., 92 u. 190. 41 Vgl. Leroi-Gourhan 2000 und 2002.

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ihn immer schon einen Prozess dar, ist Teil der psychischen und kollektiven Individuationsprozesse42, der verschiedene präindividuelle Faktoren der Umwelten in je spezifische Verhältnisse zueinandersetzt. Technik ist ein Werden, kein Machen.43 Simondon kehrt deshalb auch die bei Heidegger implizierte Hierarchie um; nicht die handwerkliche Tätigkeit, sondern die Maschine ist das Konkrete, erst sie realisiert die Möglichkeiten eines technischen Verhältnis zur Welt: »L’artisanat correspond au stade primitif de l’évolution des objets techniques, c’est-à-dire au stade abstrait; l’industrie correspond au stade concret«. (S. 24) Während gerade in der traditionellen, noch nicht entsprechend konkretisierten Technik der Mensch selbst sozusagen zum technischen Wesen werden muss, besteht die konkretisierte Maschine aus einer gegenseitigen Verflechtung von Mensch und Maschine, die nicht mehr von äußeren Faktoren her bestimmt werden kann, sondern die Prozesse selbständig zu regeln versteht: [L]’homme peut être couplé à la machine d’égal à égal comme être qui participe à sa régulation, et non pas seulement comme être qui la dirige ou l’utilise par incorporation des ensembles, ou comme être qui la sert en fournissant de la matière et des éléments. [...] Les liens économiques ou énergétiques sont trop des liens d‘extériorité pour qu’il soit possible de définir par eux ce véritable couplage. Il y a couplage interindividuel entre l’homme et la machine lorsque les mêmes fonctions autorégulatrices sont accomplies mieux et plus finement par le couple homme-machine que par l’homme seul ou la machine seule. (S. 119 f.)

Hier zeigt sich die Stärke von Simondons Ansatz, Mensch und Maschine vom Gesichtspunkt der Genese und der Erfindung zu betrachten. Das technische Objekt bezieht nicht einfach Subjekte auf Objekte, ist kein Werkzeug der Anpassung an die Umwelt, sondern schafft etwas Neues, ein ›milieu‹, einen Zwischenraum, der ohne es nicht da gewesen wäre: L’adaptation-concrétisation est un processus qui conditionne la naissance d’un milieu au lieu d’être conditionné par un milieu déjà donné; il est conditionné par un milieu qui n’existe que virtuellement avant l’invention [...]. On pourrait dire que l’invention concrétisante réalise un milieu techno-géographique (ici [bei der Guimbal-Turbine; H.D.] l’huile et l’eau en turbulence), qui est une condition de possibilité du fonctionnement de l’objet technique. L’objet technique est donc la condition de

42 Insofern stellt Simondons als erstes publiziertes Werk zur technischen Existenzweise (Simondon 1989) schon ein Kapitel seiner großangelegten Studie zu den psychischen und kollektiven Individuationsprozessen (Simondon 1989a und 1995) dar. 43 Simondon 1989, 20 (alle Folgeangaben im laufenden Text).

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lui-même comme condition d’existence de ce milieu mixte, technique et géographique à la fois. (S. 55; Herv. v. Simondon)

Simondons Theorie erlaubt es also, die Technik nicht einfach im Sinne von Manipulation und Herausforderung zu denken, sondern als Prozess der Ermöglichung. Technik dient der Virtualisierung des Aktuellen und der Aktualisierung des Virtuellen: La relation de participation qui relie les formes au fond est une relation qui enjambe le présent et diffuse une influence de l’avenir sur le présent, du virtuel sur l’actuel. Car le fond est le système des virtualités, des potentiels, des forces qui cheminent, tandis que les formes sont le système d’actualité. L’invention est une prise en charge du système de l’actualité par le système des virtualités, la création d’un système unique à partir de ces deux systèmes. Les formes sont passives dans la mesure où elles représentent l’actualité; elles deviennent actives quand elles s’organisent par rapport au fond, amenant ainsi à l’actualité les virtualités antérieures. (S. 58 f.)

Technik räumt also ein Moment der Unbestimmtheit ein, eröffnet neues Potenzial; dieses Moment des Unbestimmten, den Überschuss des Virtuellen über das Aktuelle, nennt Simondon mit und gegen kybernetische Informationstheorien ›Information‹. Die Fähigkeit von Systemen, aufeinander einzuwirken, gegenseitig Verhalten zu modulieren – diese Fähigkeit der ›Transduktion‹ stellt für ihn den entscheidenden Aspekt nicht nur jedes technischen Systems, sondern gerade auch aller lebendigen Systeme dar: Or, cette notion de transduction peut être généralisée. Présentée à l’état pur dans les transducteurs de différentes espèces, elle existe comme fonction régulatrice dans toutes les machines qui possèdent une certaine marge d’indétermination localisée dans leur fonctionnement. L’être humain, et le vivant plus généralement, sont essentiellement des transducteurs. (S. 143)

Damit ein System selbständig funktioniert und seine eigene Umwelt zu schaffen vermag, damit es Virtuelles aktualisieren und Aktuelles virtualisieren kann, benötigt es Unbestimmtheiten, welche den Raum für transduktive Prozesse öffnen. Jede Ordnung wird zur Ordnung, indem sie ihre eigene Überschreitung in sich programmiert trägt. Technischen Prozessen ist gerade diese Aufteilung in kleinere miteinander interagierende Einheiten eingeschrieben. Wesentliches Kennzeichen der modernen technischen Welt – die ›Mentalität‹ einer konkretisierten Technik – stellt also diese Unterteilung in standardisierte Einzelelemente dar, die sich beliebig zu Serien erweitern und zu Netzwerken verbinden. Technik hat einen retikulären Charakter, insofern jedes Element auf eine

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ganze Serie, ein ganzes Netzwerk an weiteren Elementen, Praktiken und Prozessen angewiesen ist. Hieraus bilden sich komplexe Gefüge technischer Einheiten und Praktiken wie zum einen »réseaux d’information«, elektronische und Netzwerke der Telekommunikation, und »réseaux de distribution d’énergie«, Stromnetze, und zum anderen »réseaux de communication et de transports« wie das Eisenbahnnetz.44 Es ist kaum nötig zu unterstreichen, welch wesentliche Rolle all diese Typen von Netzwerken in Rififi spielen. In diesem Sinne ermöglicht Simondons Theorie, die Beziehung zwischen Mensch, Welt und Technik auf komplexe Art zu erfassen, in der der Mensch nicht nur der Technik ausgeliefert und damit der Lebenswelt entfremdet ist, aber auch nicht einfach die Technik beherrscht und damit die Lebenswelt beliebig verändern kann. Stattdessen kommt es zwischen Mensch, Technik und Lebenswelt zu komplexen Interaktionen und Operationsketten, die sich ständig gegenseitig beeinflussen. Es ist offensichtlich kein Zufall, dass all diese Linien des Nachdenkens über Technik sich genau zu dieser Zeit, der Mitte der 1950er Jahre, kreuzen. Leroi-Gourhans anthropologische Untersuchungen von 1941 und 1945 sowie Wieners Schriften zur Kybernetik von 1948 und 1950, Heideggers 1951/52 gehaltene Vorlesung »Was heißt Denken?«, sein Vortrag zum Wesen der Technik aus dem Jahre 1953, Blumenbergs erstmals 1959 gehaltener Vortrag, Merleau-Pontys Vorlesungen von 1953 und seine Notizen von 1959/60 sowie Simondons Überlegungen, die 1958 erstmals erschienen sind – sie alle kreisen um das Verhältnis von Lebenswelt und deren Technisierung. Von daher kann nicht überraschen, dass auch der heist-Film diese Problematik auf komplexe Weise inszeniert.

4. E RZÄHLEN

IM

Z EITALTER DER K YBERNETIK

Für Walter Benjamin ist das klassische mündliche Erzählen, das in der unmittelbaren Erfahrung wurzelt und in dem eine Gemeinschaft sich ihrer Traditionen versichert, eng verbunden mit der mittelalterlichen Konzeption von Handwerk.45 Doch die Geschichte, die Jules Dassins Film erzählt, hat auf den ersten Blick wenig von der Konzentration und Milieu-Gesättigtheit

44 Vgl. Simondon 2014, 295-313. 45 Vgl. Benjamin 1991.

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einer klassischen Erzählung. Obwohl handwerkliche Praktiken darin eine große Rolle spielen, zerfällt sie wie eine Maschine in mehrere Teile. Im Großen und Ganzen lässt sich der Film in drei Einheiten unterteilen, deren raumzeitliche Gestaltungen derart unterschiedlich sind, dass man durchaus von drei verschiedenen Chronotopoi sprechen kann.46 Ein erster Abschnitt widmet sich dem Planen, ein zweiter dem Überfall selbst und ein dritter der Zeit der Abrechnung nach dem Überfall. Jeder dieser Abschnitte thematisiert dabei das Verhältnis von Lebenswelt und Technisierung auf spezifische Art und Weise. Allein schon die gebrochene Struktur der filmischen Handlungsführung, ihre kaleidoskopischen Raumkonstruktionen und die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschwindigkeiten machen deutlich, dass sich das Problem von Lebenswelt und Technisierung nicht nur auf der Ebene der Geschichte inszeniert findet, sondern tief in den filmischen Strukturen, den narrativen Verfahren wie auch den technischen Prozeduren der audiovisuellen Gestaltung, eingetragen hat. In seiner Darstellung der verschiedenen Modi des Bewegungsbilds hat Gilles Deleuze dieser Konstellation zwischen kybernetischen Prozessen und Filmstilen Rechnung getragen. Der film noir fungiert neben der Stummfilmburleske als herausragendes Beispiel für die Form des Bewegungsbildes, die er ›petite forme‹ nennt. Hierbei handelt es sich keineswegs um eine zufällige Konstellation. Beide Genres tragen merklich die Spuren einer Auseinandersetzung mit der modernen Maschinenwelt und deren Steuerungs- und Kontrolltechniken. Gestalten Chaplin und Keaton den komischen Agon noch als Auseinandersetzung des Einzelnen mit tayloristisch-fordistischen Praktiken, dominieren im film noir Selbststeuerungsmechanismen kybernetischer Prägung, die in den staatlichen Überwachungs- und Fahndungsapparaten ebenso ihren Ausdruck finden wie in den anonymen Syndikatstrukturen der Verbrechergesellschaft.47 Während der klassische narrative Film US-amerikanischer Prägung, die von Deleuze sogenannte ›große Form‹, einen homogenen Chronotopos in einer eindeutig polaren Struktur inszeniert, ein umfassendes Milieu, das es als biologischorganische Umwelt wie kulturelle Tradition gegen die von außen andrän-

46 An dieser Stelle bin ich Elena Lange zu Dank verpflichtet, deren Qualifikationsarbeit zum Chronotopos in Du rififi chez les hommes und Les Caïds ich einige wichtige Informationen zu deren strukturellen Besonderheiten entnehme; vgl. auch Phillips 2009, 33 f. 47 Vgl. hierzu auch die Einleitung in den vorliegenden Band.

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genden Kräfte aufzubauen und zu bewahren gilt und das dominiert ist von linearer Kontinuität und einem agonalen Charakter der Handlung, die häufig im finalen Duell ihren Höhepunkt findet, fokussiert die ›kleine Form‹ die Situation, die also solche einen unübersichtlichen und in sich selbst heterogenen Charakter aufweist.48 Die kleine Form spielt in einem Raum, der ständigen Veränderungen unterworfen ist und ganz im Gegensatz zur euklidischen Strenge der vom Master-Shot bestimmten klassischen Form des Aktionsbilds einen opaken Raum inszeniert, dessen Linien nicht mehr einsinnig gerichtet, sondern ein Kräftefeld unterschiedlicher Bewegungsvektoren bilden. Im Vordergrund der Handlung steht dabei nicht mehr die polare Opposition, sondern der minimale Unterschied. Jede Handlung ist Teil einer Serie, in der die handelnden Figuren versuchen, auch nur die kleinsten Differenzen zu etablieren, um ihre Aktion zu den gewünschten Zielen hinzusteuern. Nicht nur also, dass die filmischen Wirklichkeiten immer wieder technische Maschinen und administrative Systeme inszenieren, die Wirklichkeit selbst bekommt einen maschinellen Charakter und bildet komplexe Netzwerke aus, in denen die einzelnen Handelnden immer nur Schritt für Schritt, von einem Knoten zum nächsten, von Punkt zu Punkt sich fortbewegen können. Die kleine Form erzeugt also eine Serie an Trajektorien, ›trajectoires‹, die sich nicht mehr zu einer stetigen linearen Bewegung vereinigt, sondern eine gebrochene Linie, eine ›ligne brisée‹, darstellt, so wie eine Maschine immer wieder neue Funktionseinheiten miteinander verbindet oder verschaltet. Genau diese Struktur artikuliert sich am markantesten im heist-Film und dessen per se technischem Charakter und macht nicht zuletzt eine neue Form des Gesellschaftlichen sichtbar, die Menschliches und Technisches, Dinge und Zeichen, Lokales und Globales in eine neue Konstellation zueinander stellt und so die einfache Opposition zwischen unmittelbarer Gemeinschaft und abstrakter Gesellschaft komplex erscheinen lässt.

48 Zur ›petite forme‹ vgl. Deleuze 1983, 220-242.

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5. K YBERNETIK

UND

L EBENSWELTEN DES

HEIST

5.1. Planen – Netzwerke Während Jean-Pierre Melvilles Bob le flambeur noch weitgehend im charakteristischen Milieu des Verbrechens und Glücksspiels von Pigalle situiert ist49, präsentiert der erste Abschnitt von Rififi einen heterogenen Raum dispersiver Lokalitäten, die kaum miteinander in Verbindung erscheinen: das Pokerhinterzimmer, die gemütliche Wohnung der Familie, das Café, die bestens ausgestattete Wohnung des Paares Mario und Ida, der Nachtclub der von Grutter geführten Verbrecherorganisation, Tonys spartanisches Zimmer usw. Die Orte des ersten Teils spannen ein Netzwerk durch einen großen Teil der Stadt.50 Diese lokale Dissemination bleibt im Film nicht ohne Auswirkung auf die einzelnen Orte selbst, die zum einen relativ gut funktionierende Lebenswelten zu sein scheinen, zum anderen aber viele isolierte Fragmente einer zerstreuten urbanen Ordnung bilden. Jeder einzelne Raum hat etwas von einem Durchgangsraum, in dem die einzelnen Figuren kaum verweilen.51 Die Welt des Verbrechens ist in die bürgerliche Welt der Stadt diffundiert; seine Umwelt zerfällt in eine ganze Reihe von kleinen Atomen, die als Knoten in einem Netzwerk fungieren, also Bewegungen eher verschalten, als sie zur Ruhe zu bringen. Es ist eine der grundlegenden Funktionen des Kindes, diese Turbulenz von Anfang an die Welt der Familie und die der Gangster einzubringen. Rififi modelliert in diesem ersten Abschnitt die Wirklichkeit als Struktur eines komplexen dynamischen Netzwerks, in dem die Figuren ständig von Knotenpunkt zu Knotenpunkt

49 Zu Geschichte und Lokalisierung des Verbrechens in Paris und Frankreich wie zu dessen Globalisierung vgl. Pierrat 2003. Gleichwohl gilt es zu konstatieren, dass auch bereits in Bob le flambeur diese funktionierende, fraglose Lebenswelt des Verbrechens als vergangen und von den Infrastrukturen der technischen Welt durchzogen scheint. 50 Zu dieser Bewegung weg von der klassischen Verbrecherwelt Montmartre vgl. Pillard 2014, 240. 51 Am Beispiel des Hinterzimmers, wo das Glücksspiel stattfindet, zeigt sich, wie auch klassische Orte des gemeinschaftsstiftenden Verbrechens dazu tendieren, zu ›non-lieux‹ im Sinne Augés zu werden (vgl. Pillard 2014, 236). Im dritten Teil wird sich diese Tendenz zur Deterritorialisierung noch weiter verstärken, wenn selbst die bisher fest lokalisierte Figur Louise nach der Entführung ihres Sohnes zu einer im öffentlichen Raum verlorenen, durch die Kadrierung auf eine imposante Fluchtlinie getriebenen Figur wird (siehe R 01:33:13–19).

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unterwegs sind. Diese Trajektorien von Punkt zu Punkt machen dann auch eines der wesentlichen Strukturelemente des ersten Abschnitts aus. Doch die Bewegung von Knotenpunkt zu Knotenpunkt ist nur eine Art, mit der vernetzten Wirklichkeit fertig zu werden. Wie eingangs bemerkt, lässt Dassin von Beginn an keinen Zweifel daran, dass neben den Straßen und den Fortbewegungsmitteln ein wesentliches, die moderne Wirklichkeit zusammenhaltendes Element die elektrischen Informations- und Distributionsnetzwerke wie Telefon- und Stromnetze sind und dass gerade das ›Moderne‹ in der Vernetzung auch des privaten Rückzugsraum besteht, wie es durch die Sanitärinstallation und den Fernsehapparat in Marios Wohnung noch einmal unterstrichen wird. Dassins Raumkonstruktion steht also am Beginn der von Vilém Flusser als Durchdringung des privaten wie auch öffentlichen Raums durch Netzwerke beschriebenen Raumrevolution: Das ist oberflächlich daran erkenntlich, daß der öffentliche Raum (die Politik, die Republik) keine Funktion mehr hat und unter dem immer dichter werdenden Netz von sichtbaren und unsichtbaren Kabeln verschwindet. Die Trennung zwischen privat und publik wird immer weniger sinnvoll, wenn die sogenannten Politiker durch Kabel hindurch in der Küche uneingeladen auftauchen können. [...] [D]ann beginnt sich zu zeigen, was bei dieser Umgestaltung des Lebensraums tatsächlich im Spiel ist. So nämlich: der virtuelle Raum und der Weltraum beginnen, in den Lebensraum einzubrechen, ihn teilweise zu überdecken (overlap), und einander zu überdecken. Dadurch werden wir vom Boden (aus dem Hier und Jetzt) gerissen und gezwungen, vogelfrei zu werden.52

Einschränkend gilt es allerdings darauf hinzuweisen, dass Dassin etwas konzediert, was Flusser noch gar nicht bedenkt: nämlich dass der öffentliche Raum längst von einem politischen Raum zu einem ökonomischen Netzwerk geworden ist; dass die Unterscheidung nicht mehr zwischen Liberalen, Konservativen und Sozialisten getroffen wird, sondern – um im Bild zu bleiben – zwischen Hoover, Philips und Moulinex. Nach Simondon liegt der Netzwerkcharakter von Technik in der Koppelung standardisierter Einheiten zu systematischen Strukturen.53 Wesentlich ist der dynamische Charakter, in dem die Subeinheiten und Subsysteme stets interagieren und der die Prozesse der Modulation in Gang hält, die das technische System sich selbst regeln und auf immer neue Bedingungen ein-

52 Flusser 2006, 280. 53 S.o. Kap. 3 und Simondon 2014, insbes. S. 295-313, der diese Grundzüge einer ›mentalité technique‹ an immer wieder neuen Konstellationen erläutert.

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stellen lassen. Der folgende heist-Plot entwirft eine Möglichkeit des Handelns in einer von Netzwerken durchzogenen Lebenswelt und zeigt einen Versuch, sich eine komplex gewordene Wirklichkeit anzueignen – allerdings getragen von der ernüchterten Erkenntnis, dass es in einer vom Konsum gezeichneten Welt nichts Wirklicheres gibt als das universale abstrakte Zeichen Geld.54 Wenn ›Wirklichkeit‹ als Koppelung unabhängiger Einheiten zu Netzwerken erscheint, kann man sie nur zeigen, in dem man deren infrastrukturelle Bedingungen analysiert und bloßlegt.55 Dies ist das Anliegen der philosophischen Gesellschaftstheorie von Bruno Latour, der gemeinsam mit Emilie Hersant diesen Prozess des Werdens von Wirklichkeit als Prozess einer Verschaltung von multimedialen, semiotischen, technischen und politischen Elementen exemplarisch an Paris vorgeführt hat.56 Entre le cadre et le passant, il n’y avait aucun vide: ou bien on regardait le cadre, ou bien l’individu. Le premier plan et le second plan se jouxtaient fort exactement, sans hiatus et sans marge. C’était le Paris réel. Dans le Paris virtuel, à chaud, virtualisé et, par conséquent, rempli de possibles, il n’y a plus ni premier plan ni second plan – d’ailleurs, il n’y a plus de plan. En suivant Alice, fil à fil, on parcourrait tout Paris, à la réception, comme à l’envoi, à l’input comme à l’output, à l’importation comme à l’exportation. A suivre l’un ou l’autre des oligoptiques qui somment en partie le tout-Paris, on tracerait la même forme en étoile, à l’aller aussi bien qu’au retour. Une ville ne se compose donc pas d’un cadre général et stable à l’intérieur duquel viendrait se nicher les interactions privées, comme des colombes dans un colombier ou des urnes dans un columbarium, mais d’un entrecroisement d’étoiles dont les branches de chacune viennent servir aux autres de support, d’obstacles, d’occasion, de décor, à moins que, c’est le plus souvent, jamais elles ne se rencontrent, quand bien même chacune couvrirait la ville entière. Si nous avons pu suivre les oligoptiques, c’est grâce aux traces qu’ils laissent derrière eux, à l’aller comme à la descente, et aux locaux fermés que l’amabilité de nos interlocuteurs nous a permis de visiter et de photographier. Nous avons pu situer, localiser l’Ensemble – les petits ensembles –, dont chacun forme un peu de Paris. (S. 72)57

54 Diese Verwandlung von Realität in Zeichen ist eines der Hauptthemen des Denkens Baudrillards (vgl. z.B. Baudrillard 1986). 55 Zur Logik der Infrastrukturen vgl. Schabacher 2013 und Bowker / Leigh Star 1999. 56 Zu dieser Theorie von der Konstruktion sozialer Realitäten vgl. Latour / Hersant 1998 (alle Folgeangaben im laufenden Text). 57 Zur Definition von ›oligoptiques‹ vgl. ibid., 50: »Comme l’indique leur nom, les ›pan-optiques‹ permettent de tout voir, à condition qu’on les prenne aussi pour des ›oligoptiques‹ du grec oligo qui veut dire ›peu‹ et que l’on retrouve par exemple dans le mot oligo-éléments.«

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Die Wirklichkeit ist nichts, was uns umgibt, sondern etwas, das wir ständig in sozialen Handlungen mit technischen Medien und semiotischen Systemen selbst hervorbringen. In diesem Sinne kann die Wirklichkeit ebenso wenig wie die Gesellschaft mit einem Blick erfasst werden. Sie hat vielmehr eine oligoptische Struktur und besteht aus einer potentiell unendlichen Serie an Bildern, Zeichen, Konzepten und Dingen, welche in Ketten von Operationen, Gesten und Handlungen in immer wieder neue Beziehungen zueinander gesetzt werden. So entsteht das Wirkliche als eine Konstellation aus Fragmenten und Spuren, die in Kaskaden von großen und kleinen Anschauungen und Inskriptionen immer wieder neu relationiert werden. Disons plutôt que le visible ne réside jamais ni dans une image isolée ni dans quelque chose d’extérieur aux images, mais dans un montage d’images, une transformée d’images, un cheminement à travers des vues différentes, un parcours, une mise en forme, une mise en relation. Certes, le phénomène n’apparaît jamais sur l’image, mais il devient pourtant visible dans ce qui se transforme, se transporte, se déforme d’une image à l’autre, d’un point de vue, d’une perspective à l’autre. (S. 53)

Das Wirkliche hat dynamischen Charakter, es verändert sich ständig und entzieht sich deshalb immer von neuem. Stets aktualisiert sich virtuell Vorhandenes und wird andererseits, was aktuell ist, virtualisiert; stets erscheint etwas im Blickfeld, was vorher nicht zu sehen war, und entzieht sich dafür etwas, was zu sehen war. Das Wirkliche besteht genau in dem, was sich verändert, was nicht zu sehen ist. Um das Wirkliche zu fassen, muss man mithin die Prozesse und die technischen, sozialen und semiotischen Infrastrukturen beschreiben, auf denen es aufruht. Lange vor Bruno Latour demonstriert uns Dassin diese neue Figur des Gesellschaftlichen. Er zeigt uns, was unter den blank gesaugten Oberflächen der sichtbaren Wirklichkeit verborgen liegt: die Infrastrukturen als Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeit. Dassin zerlegt in diesem Sinne fachgerecht die dargestellte Wirklichkeit in deren infrastrukturelle Bedingungen. Der Film als Koppelung standardisierter Einheiten – Photogramme – zu größeren Zusammenhängen erweist sich dabei als das geeignete Medium, der ›neuen‹ Wirklichkeit Sichtbarkeit zu verleihen, indem es selbst die Form dieser Wirklichkeit darstellt. Immer wieder werden Einstellungen gezeigt, wo in den Bildausschnitt ein weiterer (etwa Tür- oder Fenster-)Rahmen gesetzt ist (R 00:31:07–17), was nicht nur unterstreicht, dass die Konstruktion von Wirklichkeit stets auf der Wahl eines Blickpunktes, der Perspektive einer Person, beruht, sondern dass die Wirklichkeit als

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oberflächliche Anschauung immer schon auf einer materiellen Infrastruktur aufruht, durch welche sie konstruiert ist. In diesem Sinn trägt Dassin in zahlreiche Einstellungen den Rahmen, der die Wirklichkeit als begrenzten Ausschnitt des Wirklichen zugänglich macht, in die Einstellung selbst mit ein. Das Wirkliche ist ein Produkt von Kadrierungen, die sich auf stets neue Konstellationen von Fragmenten und Kadern öffnen lassen. Die Fassaden der Geschäfte im Hintergrund bilden so weitere Kader, die sich auf Wirkliches und dessen Virtualität öffnen lassen. Der Mensch existiert nicht

(Abb. 4)

außerhalb dieser Rahmen, sondern nur in der Konstellation, in der er sich in die Wirklichkeit einzuschreiben und so die Ströme, welche das Wirkliche bilden, zu fassen, zu manipulieren und zu modulieren vermag; er exisitiert nur insoweit, als er die Multiplizität des Wirklichen in eine Konstellation zu bringen vermag, welche ihn in die Position des Akteurs manövriert: Langsam zoomt die Kamera zurück, so dass Jo in den Rahmen des Bildes selbst tritt und so in die von ihm beobachtete Wirklichkeit einbezogen ist, nur um diese auf spezifische Weise zu transformieren (s. Abb. 4).58 Jo beobachtet

58 Zu Dassins kunstvollen Kadrierungen, welche die Problematik zwischen Wirklichkeit und Individuum immer wieder in deren komplexen Verflechtungen inszenieren, vgl. Pulver 2010, 58-70.

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das Haus, in dem sich der Juwelier Mappin & Webb befindet, doch seine Tätigkeit hat eine spezifisch moderne Ausrichtung: der Plan wird durchaus streng nach Prinzipien des neuesten Managements ausgerichtet, wie sie sich im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss von Taylor und Ford etabliert haben. Vor diesem Hintergrund muss die These vom handwerklichen Charakter, der seit langem die Literatur zum französischen Gangsterfilm dominiert, deutlich modifiziert werden.59 Denn Jo beobachtet nicht einfach nur, er kontrolliert die Ströme, die Verkehrsströme, die Warenströme, also den Lieferverkehr, und nicht zuletzt die Überwachungspatrouillen. Sein Blick dient also dazu, die infrastrukturellen Bedingungen der Konstitution des Wirklichen sich so zu Nutze zu machen, dass sich die Gruppe den Sichtbarmachungsstrategien der staatlichen Ordnungs- und Kontrollbehörden ihrerseits entziehen kann. Beobachten bildet nämlich nur den ersten Schritt. Was er sieht, wird augenblicklich in ein Notizheft notiert.60 Damit produziert Jo Inskriptionen, welche die Wirklichkeit quantifizieren, und somit zum wesentlichen Moment der Gestaltung des Überfalls werden. Wirklichkeit besteht also in einer Aneinanderreihung von Operationen, die verschiedene Elemente, Anschauungen und Inskriptionen zusammenfügen. Referenz auf die Wirklichkeit impliziert demnach immer schon auch deren mediale Transformation und danach die Erstellung bestimmter Programme, welche die einzelnen Elemente operativ wieder in neuartigen Kombinationen zusammenfügt. Entscheidend hierbei ist, dass es sich um einen transduktiven Prozess handelt, eine ständige Modulation des einen durch das andere. Erst auf diese Weise ist es möglich zu handeln, in die Wirklichkeit einzugreifen. So wie Taylor die Zeit bestimmt, die eine bestimmte Tätigkeit in Anspruch nehmen darf, um Gewinn zu bringen, so bestimmen Jo und Tony die Zeit, die ihnen zum Handeln bleibt. Und auch der dritte Schritt gehorcht tayloristischen Prinzipien. Die eigenen Handlungen werden diesem chronometrischen Regime unterworfen; insistierend sind immer wieder Uhren,

59 Vgl. hierzu insbesondere Vincendeau 2003, 113, und Kline 2006. Zur Implementierung und Diskussion tayloristischer und fordistischer Produktions- und Managementsprozeduren sowie zur europäischen Tradition der Verhaltens- und Körpersteuerung vgl. das grundlegende Werk von Rabinbach 1990. 60 Zur entscheidenden Rolle des Notierens, Planens und Inszenierens im heist-Film siehe den Beitrag von Wolfram Nitsch in diesem Band.

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sogar Stoppuhren, zu sehen.61 Experimentell wird die Dauer bestimmt, die unter Echtzeitbedingungen die Fahrt mit dem Auto aus der Umgebung des Juweliers zu einem bestimmten Punkt der Stadt benötigt. Mit dieser akribischen Quantifizierung und Disziplinierung der eigenen Handlungen erarbeiten sich die Gangster ein präzises Skript für den Überfall. Die Kontrolle der Verkehrs- und Warenströme sowie der Überwachungsprozeduren stellt allerdings nur die eine Ebene des Überfalls dar. Auf einer zweiten Ebene muss die Gruppe die Netzwerke kontrollieren, welche den Tresorraum und den Tresor mit den Diamanten regulieren, um so die unmittelbare Umwelt des Reichtums selbsttätig verändern zu können. Diese Aufgabe erfordert andere Fertigkeiten als die des Beobachtens, Notierens, Messens und Experimentierens. Erst an dieser Stelle sind die handwerklichen Fähigkeiten gefragt. Einfach, da ganz traditionellen hylemorphistischen Konstruktionsprinzipien gehorchend, ist die Tür zur Wohnung über dem Büro des Juweliers zu überwinden. Die Überschreitung der Grenze – nach Lotman konstitutives Prinzip klassischen Erzählens62 – ist mit den üblichen Prinzipien des Handwerks durchführbar: es genügt, ein Simulakrum des Schlüssels anzufertigen. Doch auch hier liegt der Nachdruck spürbar auf den Infrastrukturen des Handelns; im Vergleich zur Akribie, mit der die notwenigen technischen Einzeloperationen dargestellt sind, ist die Grenzüberschreitung eher beiläufig inszeniert. Komplizierter wird allerdings der Weg aus der Wohnung in den Raum, in dem sich der Tresor befindet. Dieser ist, wie Cesare bei einem Besuch unter falschem Vorwand im Büro des Juweliers feststellen kann, von allerbester Qualität und kaum überwindbar. Als erstes erscheinen so Fabulieren und Fingieren – die Modulation der Wirklichkeit und der eigenen Person – unabdingbare Voraussetzungen zum Erfolg. Das Sicherungssystem ist geschlossen und schlägt bereits bei den allerfeinsten Erschütterungen ohrenbetäubend Alarm. Hier ist weniger die technische Fähigkeit der Herstellung einer schönen Form gefordert als ein transduktiver Prozess, der modulierend in das System eingreift. Denn das Gerät der Alarmanlage stellt ein komplexes Gefüge verschiedenster Elemente dar, die – und das scheint das Entscheidende – kunstvoll so miteinander verbunden sind, dass man keine der Verbindungen

61 Zu diesem Zeitregime, das das Raumregime des eher klassischen Gangsterfilms erheblich erweitert, vgl. den Beitrag von Maria Imhof in diesem Band. 62 Vgl. Lotman 1986 und den Beitrag von Susanne Dürr in diesem Band.

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einfach unterbrechen kann, ohne das gesamte System auszulösen. Entsprechend braucht es einen komplexen Umweg, was nach Latour einen entscheidenden Faktor des Technischen ausmacht.63 Auch hier greift das experimentelle Prinzip. Immer neue Möglichkeiten, das System zu überlisten, werden ausprobiert, doch stets schlägt es erneut Alarm. Schließlich entfaltet das Prinzip der variierenden Wiederholung, das die technische Geste dominiert und zu Rhythmen und Operationsketten formt64, doch noch sein transduktives Potenzial, als Tony unversehens die Alarmanlage mit dem Schaum des Feuerlöschers zum Verstummen bringt und so das Prinzip ›Löschen‹ aus dem Kontext ›Feuer‹ auf den Kontext ›Geräusch‹ überträgt. Tony versteht also genau, den Raum der Unbestimmtheit zu nutzen, dessen Spiel jedem technischen Objekt nach Simondon zu eigen ist. Indem er das virtuelle Potenzial des Feuerlöschers aktualisiert, gelingt es ihm, die automatische Aktualisierung des Programms ›Alarm‹ zu unterbinden. Es ist die innovative menschliche Geste, die hier zwei technische Programme, ein mechanisches und ein chemisches, so zusammenführt, dass sich eine neue Realität ergibt. Die Meisterschaft Tonys besteht nicht darin, dass er ein Meister des traditionellen Handwerks wäre, sondern darin, dass er es versteht, sich die Prozesse verschiedener Maschinen anzueignen und sie auf diese Art zu kontrollieren.65 Es geht um das Vermögen, eine konkretisierte Maschine erneut zu öffnen auf die Umwelt und dadurch eine neue Umwelt zu konfigurieren, welche die Bewegungen und Erschütterungen, die die Mitglieder der Bande erzeugen, auszuhalten vermag. Was Störung des Systems war, wird zu einem Teil seiner Funktion und das System folglich so umprogrammiert, dass der Tresorraum der Bank zu einer Umwelt für die Gruppe wird: zu einem Schutzraum, der gegen die Intervention von außen abgedichtet ist. Dassin artikuliert hier also keineswegs eine rückwärtsgewandte Nostalgie nach einer selbstverständlichen Lebenswelt, in der dem Menschen in der handwerklichen Tätigkeit die Wirklichkeit unmittelbar zugänglich und erfahrbar ist; vielmehr inszeniert er eine durchaus utopische Situation, in welcher der Mensch die entfremdeten Systeme der abstrakten Gesellschaft sich aneignen und so zumindest augenblickshaft Kontrolle über seine Umwelt erlangen kann.

63 Siehe Latour 2012, 211-235. 64 Vgl. hierzu Leroi-Gourhan 1995, bes. S. 387-412. 65 Diese Art von Handeln als bloßen »bricolage of familiar objects« zu bezeichnen (Vincendeau 2003, 195), greift meiner Ansicht nach zu kurz.

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Die Neukonfigurierung des Systems erfordert allerdings auch eine Neukonfigurierung des Körpers. Wie in Latours unsichtbarer Stadt werden in Rififi die Strukturen der Straße sichtbar gemacht, indem man den Blick erst einmal von ihr abwendet und sich auf die Inskriptionen und Messungen konzentriert. Um zu überprüfen, inwieweit Jo sich den Handlungsraum und dessen zeitliche Dimensionen einverleibt hat, geht Tony mit ihm die Straße ab und lässt ihn die Geschäfte, deren Geschäftszweige sowie Öffnungs- und Anlieferzeiten memorieren. Dassin macht daraus ein Meisterstück des dokumentarischen Kinos, indem er in einer langen Fahrt (R 00:20:54– 00:22:13) den beiden »bei Wind und Wetter«, wie Truffaut es formuliert hat66, an vorbeihastenden Passanten folgt, bis sie, noch weiter ins Gespräch vertieft, an einer Kreuzung zum Stehen kommen. In dieser Einstellung wechselt fundamental die Geschwindigkeit; es wechseln damit Gestalt und Hintergrund bzw. – in Latours Worten – Rahmen und Geschehen.67 Hatten sich zunächst die Kamera sowie Jean Servais und Carl Möhner bewegt und so den Raum sich dynamisch entfalten lassen, stehen nun Tony und Jo wie auch die Kamera still; der Raum wird von einem topologischen relativen Raum zu einem statischen Containerraum, durch den sich die Ströme an Passanten und Fahrzeugen bewegen. Die Komplexität dieser Einstellung ist damit allerdings noch lange nicht erschöpft. Es lohnt sich, die intrikate Artikulation des Blickregimes noch weiter zu verfolgen. Wir sehen eine Fassade und können nur mühsam erahnen, was diese Oberflächen verbergen bzw. ausstellen. Wir sehen also nicht das, was wir sehen wollen; vielmehr werden wir immer wieder wie auffällige Fremdkörper von den Passanten angeblickt. Zudem drängt sich in dieser Einstellung ein Objekt in den Vordergrund, das im weiteren Verlauf des Films noch eine wichtige Rolle spielen wird. Der Regenschirm ist hier zunächst ein eher unauffälliges Utensil, da es ja in Strömen regnet. Nichtsdestoweniger entfaltet er ein erhebliches Störpotenzial, da er den freien Blick des Zuschauers zusätzlich zu den wenig klaren Lichtverhältnissen noch weiter einengt. Um zu sehen und zu wissen, was wir eigentlich sehen, sind wir sind auf Jos sprachliche Aussagen angewiesen, die für uns die Referenz auf den Inhalt der Geschäfte herstellen und uns sogar machistisch-frivol mit überflüssigen Informationen versorgen. Jo sieht aber gerade selbst nichts, sondern ist ganz auf seine

66 Truffaut 1997, 283. 67 S.o. Latour / Hersant 1998, 72.

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memorierten Aufzeichnungen angewiesen. Das ›Wirkliche‹ erscheint hier als eine ineinander verflochtene Konstellation von Anschauungen und sprachlichen Äußerungen, die ihrerseits aufruhen auf den Spuren vorangegangener Inskriptionen. Indem hier Wahrnehmung, Referenz, Körperhaltung und Kamerabewegung in eine rundweg paradoxe Konstellation gebracht werden, artikuliert der Film eines seiner wesentlichen Themen, das im Folgenden erhebliche Bedeutung gewinnen wird. Beim heist muss sich der Körper orientieren, ohne zu sehen und insbesondere ohne gesehen zu werden – außer vom Zuschauer. Im dritten Teil, dem finalen Duell, wird die Frage, wer wen – aus einer geeigneten Beobachterposition – zuerst sieht und wer nicht – weil er zum Beispiel im Drogenrausch eingeschlafen ist – dann von vitaler Bedeutung sein. Sehen und Nichtsehen, on-screen und offscreen, dynamis und stasis, cadre oder cache – das sind die zentralen Fragen der filmischen Repräsentation. Wer mag, kann es für einen Zufall halten, dass Tony und Jo ihr Gespräch ausgerechnet vor den Auslagen der Firma Kodak-Pathé führen und so den Zuschauer auf die materiellen Grundlagen der Aufzeichnung zurückverweisen; dass das, was er sieht, nur zu sehen ist, weil eine ziemlich lichtempfindliche Oberfläche auf die wenig intensiven Lichtwellen reagiert hat, die auf sie gefallen sind wie die Regentropfen auf die Oberfläche der Regenschirme. Es geht Dassin nie einfach nur um Wirklichkeit, sondern immer um die Infrastrukturen, die das erst zur Wirklichkeit machen, was uns umgibt. Ähnlich wie Bazin an Rossellini beobachtet hat, dass die radikale Insistenz auf der Materialität, dem Augenblick und der Intensität des Affekts zu einer Form der Abstraktion führt, welche unseren Kontakt zur Realität gerade nicht verhindert, sondern vielmehr eine sich nicht traditionellen Ordnungen unterordnende neue Beziehung zu ihr herstellt, so hat dies auch Doniol-Valcroze, der zweite Doyen der Cahiers du Cinéma, in seiner Filmkritik von 1955 als wesentliches ästhetisches Prinzip von Rififi herausgestellt: [L]a séquence du cambriolage d’une minutie et d’une précision inimaginables finit par toucher à l’abstraction et cette abstraction, à sa pointe (jeu de courbes et de lignes d’ombres et de lumière, équation de gestes et de regards dans le silence ouaté de l’angoisse) débouche sur la poésie comme une page de fausse histoire naturelle de Michaut, comme une affiche industrielle d’Hans Erni.68

68 Doniol-Valcroze 1955, 45.

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Ihre idealtypische Umsetzung findet diese Praxis des Filmens – darüber herrscht in der Filmanalyse Konsens – im zweiten Abschnitt des Films. 5.2. Einbrechen – Phänomene und Intensitäten Der mittlere Teil gilt als das Bravourstück: eine – rechnet man den Aufbruch der einzelnen Mitglieder der Gruppe aus ihrer Lebenswelt hinzu – fast 29-minütige Sequenz ohne Dialog (R 00:41:18–01:10:03) und ab Minute 47:05 – nach dem durch den nachgebildeten Schlüssel ermöglichten Eindringen in die über dem Juweliergeschäft liegende Wohnung – auch ohne Begleitmusik, die aus nichts weiter besteht als einem in den Worten Truffauts »wortlosen, nur von Geräuschen begleiteten Einbruch, einem ungewöhnlichen Ballett aus Gegenständen, Gesten und Blicken um einen Regenschirm, aufgespannt unter dem in die Decke eines mit Sicherheitsanlagen gespickten Juweliergeschäfts gebohrten Loch«.69 Erst als es an das Sichten der Beute geht, setzt in 01:10:03 wieder Musik und langsam, beginnend in 01:11:17 mit dem staunenden Ächzen Tonys und dem Singsang Marios, auch wieder Dialog ein. Es ist dies ein Abschnitt, der wie kaum ein anderer die von André Bazin anhand des italienischen Neorealismo dargelegten neuen Möglichkeiten der filmischen Sprache realisiert: einer Sprache, die den einzelnen Wirklichkeitsausschnitten keine vorschnelle Bedeutung verleiht und kaum analytische Montagen aufweist, die den Blick des Zuschauers lenken. Fragment de réalité brute, en lui-même multiple et équivoque, dont le »sens« se dégage seulement a posteriori grâce à d’autres »faits« entre lesquels l’esprit établit des rapports [...]. Mais la nature de »l’image-fait« n’est pas d’entretenir avec d’autres »images-faits« les rapports inventés par l’esprit [...]. Considérée en elle-même, chaque image n’étant qu’un fragment de réalité antérieur au sens, toute la surface de l’écran doit présenter une égale densité concrète [...]. L’homme lui-même n’est qu’un fait parmi d’autres auquel aucune importance privilégiée ne saurait être donnée a priori.70

Dassins Sequenz zeigt den Hold-up als gerade stattfindendes Ereignis. Der Zuschauer ist selbst in die Situation des Überfalls mit einbezogen. Ein einziger Blick ins Außen wird ihm gewährt. Ansonsten wohnt er jedem kleinen Schritt des Überfalls quasi in Echtzeit bei. Die Zeit selbst wird hier er-

69 Truffaut 1997, 285. 70 Bazin 1985, 281 f.; vgl. hierzu auch Phillips 2009, 44.

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fahren; nicht mehr die Bewegung als Maß der Zeit, sondern die Zeit als reine Zeitlichkeit. In einem ersten Schritt überführt Dassin dabei die ungerichteten Raumbewegungen und die Wiederholungen des Immergleichen aus dem ersten Abschnitt in eine einzige kontinuierliche zusammenhängende Handlung, die nicht nur die Einheit der Zeit, sondern auch die Einheit des Raumes wahrt. Doch begnügt er sich nicht mit einer Restitution der zielgerichteten Handlung, sondern führt zugleich über sie hinaus. Denn es geht hier nicht um Handlung, die kontinuierlich und lokalisiert erfahren werden soll, sondern um die Erfahrung von Raum und Zeit in der Tätigkeit selbst. Dies ist Dassins phänomenologischer Anspruch: den menschlichen Körper mit dem Raum verflochten und die Zeit nicht einfach als Maß der Bewegung, sondern als sich ereignende Zeitlichkeit zu zeigen. Dabei ist die andere, die tayloristische Zeit immer gegenwärtig; die kontinuierliche Zeiterfahrung des menschlichen Körpers im Raum bleibt, wie schon erwähnt, immer bezogen auf insistierend in die körperlichen Anstrengungen der Gangster gegengeschnittene Uhren. Die Integration des Körpers in die Umwelt ist nur eine provisorische; sie ist an einen strikten Zeitplan gebunden. Doch innerhalb des rigiden Rahmens eröffnet sich eine neue Dimension der Erfahrung, die nicht mehr die Ströme und Strukturen in den Vordergrund rückt, sondern einzelne intensive Momente und Augenblicke. In den langen Einstellungen wie durch das Fehlen markanter Unterbrechungen, wie sie etwa Dialoge mit sich bringen, entsteht fast der Eindruck, man habe es mit einer einzigen langen Plansequenz zu tun. Der Rahmen konstruiert weniger einen durch Linien strukturierten und geteilten geometrischen Raum, sondern es rückt die physische Dimension des Bildes in den Vordergrund. Das Bild wird zu einem dynamischen Feld beständiger Veränderungen, in dem verschiedene Zonen einen intensiven Raum entstehen lassen, der nicht teilbar ist, aber auch nicht eins, sondern ein komplexes – nach Deleuze – »dividuelles« Feld der Veränderungen darstellt.71 Jede Einstellung stellt eine Modulation der vorhergehenden dar, keine logische Antithese. Während des Überfalls, der – abgesehen von den beiden rahmenden Szenen direkter Konfrontation mit dem Concierge-Ehepaar und den Polizisten – kaum die für den klassischen Gangsterfilm, aber auch den film noir, typischen ereignishaften Handlungen aufweist, rückt der Körper und seine

71 Deleuze 1983, 26; zu den beiden Dimensionen des filmischen Bildes vgl. S. 24.

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Verflechtung, seine Position und seine Interaktion mit der ihn umgebenden Umwelt, in den Fokus. Hierüber instituiert Dassin eine neue, an der Phänomenologie Merleau-Pontys orientierte Form der Wahrnehmung der Welt, die zugleich auch einen neuen Modus des Denkens über die Welt impliziert. Diese Form des Denkens gipfelt in der Geste, den Körperhaltungen, wie Deleuze erläutert: Non pas que le corps pense, mais, obstiné, têtu, il force à penser, et force à penser ce qui se dérobe à la pensée, la vie. On ne fera plus comparaître la vie devant les catégories de la pensée, on jettera la pensée dans les catégories de la vie. Les catégories de la vie, ce sont précisément les attitudes du corps, ses postures.72

(Abb. 5)

Hier (s. Abb. 5) sehen wir Jean Servais, wie er genau eine solche Geste ausführt, die zuvor Gegenstand des Experimentierens war und in verschiedenen Variationen immer wieder erprobt wurde. Jetzt sitzt jeder einzelne Handgriff und manipuliert die fragile Umwelt, ohne dass der Alarm ausgelöst wird und die Interaktion zwischen technischem Gerät und menschlicher Geste scheitert. Die Einstellung zeigt die Textur dieser Umwelt in all ihrer komplexen Verflechtung. Mehrere diffuse Lichtzonen gehen fast unmerk-

72 Deleuze 1985, 246.

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lich ineinander über; das Dunkel im Hintergrund oben rechts greift über den rechten und linken Rand nach unten und rahmt die Szenerie wie mit einer dunklen Zone der Unbestimmtheit. Innerhalb des helleren Bildausschnitts, dessen Beleuchtung hauptsächlich von der Taschenlampe herrührt, die Tony zuvor mit vorsichtigen Gesten in genau diese Stellung gebracht hat, wechseln halbdunkle und relativ gut beleuchtete Abschnitte. Doch diese Zone der Sichtbarkeit, die Tony mühevoll aus der Dunkelheit herauspräpariert hat, stellt eine labile, dynamische Konstruktion dar, welche die einzelnen Objekte als Konstellationen heller und dunkler Lichteffekte erscheinen lassen: die Karteikästen mit den metallenen Schilderrahmen, den Tresor mit metallischem Rahmen und dunklem Gehäuse und insbesondere das Gebilde aus Schaum, das, im Gegensatz zu den flachen rechtwinkligen Produkten industrieller Fertigung eine unregelmäßige wulstige Form aufweist. Geometrisch stellt dieses eine Besonderheit dar; seine Farbe allerdings passt sich bestens in die vom Licht modellierten Strukturen ein. Mehr noch, auch Tonys Kleidung und Körper – mit dem dunklen Anzug, der von den Durchbrucharbeiten Flecken aufweist, der dunklen Krawatte, seinem dunklen Haar, dem weißen Hemd, der hellen Haut sowie den hellen Lichtflecken im dunklen Haar – machen ihn zu einem perfekten Teil des Raumes. Körper und Raum bilden ein internes System der Resonanz. Umso deutlicher wird dies, wenn sich die klaren Oberflächen von Tonys Körper aufzulösen beginnen. Die harte körperliche Tätigkeit und Anspannung treiben ihm immer mehr den Schweiß aus den Poren; die Falten und Schlaffheiten des Gesichts werden deutlicher wahrnehmbar. Das Gesicht wird selbst zu einer glänzenden Oberfläche und gleicht sich so zunehmend den metallischen Strukturen der Objekte an, verliert aber auch an Struktur und Konsistenz; Hautfalten und Fleischlappen treten in den Vordergrund, und in seiner Konturlosigkeit ähnelt es immer mehr dem Schaum. Was uns das Bildfeld demnach zeigt, ist ein Raum der Intensität, in dem sich aus relativ ungeschiedenen Zonen sowohl labile als auch stabile und sogar regelmäßige Formen herauskristallisieren, die allerdings im Wesentlichen Modulationen immer derselben Tendenzen sind. Der Raum wird so zu einer einzigen Modulation von Schatten, Licht, Glanz wie von rigiden und dynamischen Formen. Dies gilt insbesondere, wenn man die Tonspur miteinbezieht. Durch die Abwesenheit von Dialog schieben sich Geräusche in den Vordergrund der Wahrnehmung, die sonst aufgrund ihrer nicht bedeutungstragenden Eigen-

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schaften vom Zuschauer weitgehend herausgefiltert bzw. lediglich als atmosphärische Hintergrundgeräusche in die Raumkonstitution mit integriert werden. Hier aber löst sich die an sich bedeutungstragende Struktur in einzelne intensive Ereignisse auf. Tonys Atemgeräusche und sein Husten verflechten sich mit den Druckgeräuschen, dem Knacken und vor allem dem von seinen Gesten ausgelösten Zischen wie auch dem dumpfen Klopfen der gedämpften Alarmklingel und verbinden sich zu einem komplexen Soundscape richtungsloser gedämpfter, aber gleichwohl über Gebühr auffälliger Tonereignisse. So wie sich aus den ungerichteten Gesten des Experimentierens hier eine souveräne intentionale Geste formt, die in der Beherrschung des Raumes und durch ihre zielgerichtete Dominanz Subjekt und Objekt der Handlung erst ausbildet, so nehmen gleichzeitig im Feld der Einstellung auch einzelne Objekte wiederum Form an. Diese – um einen weiteren zentralen Begriff aus Simondons Individualisierungsphilosophie zu verwenden – ›prise-de-forme‹ stellt dabei eines der wichtigsten Themen der heistSequenz dar.73 Es geht nicht um Action; es geht um die Geste als dasjenige Element, das am Grund von Form und Bedeutsamkeit steht, ohne selbst schon eine geformte bedeutsame Einheit darzustellen. Oder um genauer zu sein: um die Verkettung einer ganzen Serie an Gesten, wie hier den Gesten Tonys, die sowohl der Verhinderung als auch der Auslösung des Alarms dienen, selbst also eine paradoxe Orientierung aufweisen. Es handelt sich also um Gesten, welche einerseits die Umwelt kontrollieren, sie andererseits aber auch an sich heranlassen. Dassin erarbeitet sich in diesem Abschnitt des Films eine Kulturgeschichte der Geste, um daraus eine wahre Poetik der Geste zu entwickeln. Giorgio Agamben hat gerade im Kino eine Möglichkeit gesehen, sich die durch biopolitische und tayloristische Beschreibungen und Normierungen verlorengegangene »sfera della gestualità« wieder anzueignen.74 Das Kino erscheint ihm hierfür das ideale Medium, da es aufgrund seiner Entstehung aus biopolitischen Analysen des menschlichen Körpers zum einen die Geste im Rahmen des Einzelbildes einfriert, zum anderen aber deren ›dynamis‹, ihr virtuelles Potenzial bewahrt. Vor allem vermag es, die Geste als

73 Zur Individualisierung als Prozess einer ›prise-de-forme‹ und nicht hylemorphistischer Prägung vgl. Simondon 1995, 21-95. 74 Siehe hierzu Agamben 1996, 45-53; vgl. als Ergänzung zu den aphoristischen Ideen Agambens auch die Rekonstruktion des biomechanischen und biopolitischen Diskurses bei Rabinbach 1990.

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Ereignis reiner Medialität zu zeigen, die der Sprachtheorie Varros zufolge weder handelt noch etwas macht, sondern als bloßer Moment des Entstehens vor aller Verfestigung zu Handlungsschemata oder Bedeutungszuschreibungen zu sehen ist. Tonys Gesten sind für diesen rein medialen Charakter umweltsuspendierender wie zugleich -instituierender Gesten ein nahezu perfektes Beispiel. Emblematischer noch ist allerdings ein anderer Fall, der nicht allein die Geschichte des heist, sondern zudem die Geschichte der Poesie in einer Geste verdichtet. Um das Fallen der aus der Zimmerdecke geschlagenen Mauerelemente auf den Boden des Tresorraums und damit das Auslösen der enorm empfindlichen Alarmanlage zu verhindern, spannen die Eindringlinge unter dem Loch einen Regenschirm auf. Faktisch orientieren sich Dassin und Le Breton dabei an einem Verfahren, das 1899 bei einem Einbruch in das Geschäft des Juweliers David Lévy in Marseille eingesetzt wurde.75 Doch ein Regenschirm, der sich an einem Ort befindet, an dem er eigentlich nichts zu suchen hat, erinnert zugleich an Lautréamonts berühmte Formulierung aus dem ersten Abschnitt des sechsten Gesangs der Chants de Maldoror, die – nicht zuletzt für die Surrealisten – exemplarisch für die Neukonzeption des Ästhetischen in der Moderne steht: »Il est beau [...] et surtout, comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie.«76 Wenn man weiterhin bedenkt, dass an signifikanten Stellen des Films immer wieder Anleihen bei der surrealistischen Ästhetik gemacht werden – man erinnere sich nur an die überdimensionierten Theatermasken, hinter denen Cesare auf dem Speicher des Grutter-Gebäudes gefangengehalten und schließlich von Tony exekutiert wird, oder die zahlreichen Kombinationen von nicht zusammengehörigen Dingen wie den aufblasbaren Clown und das Geld aus der Beute in Jos Schlafzimmer –, dann verdeutlicht sich, dass das Zusammentreffen des Inkohärenten, die Modulation verschiedener Systeme, offenbar immer wieder genau den Punkt trifft, an dem durch Transduktion und Mediation etwas Neues entsteht. Dies ist die Poetik des heist in der reinen Form, die Bezüge auf Heidegger und Simondon zulässt. Das technische Prinzip erscheint hier als das Poetische, die technische Geste, als der Au-

75 Siehe hierzu Pierrat 2003, 42, sowie Pillard 2014, 310, der darin allerdings lediglich eine »technique [...] artisanale« sieht und damit meiner Ansicht nach die Pointe des Regenschirmeinsatzes im Film verkennt. 76 Ducasse 1973, 233 f.

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genblick, in dem aus den virtuellen Tendenzen eines Feldes etwas Neues emergieren kann.

(Abb. 6)

Die Entwicklung dieser Sequenz konzentriert sich dann auch in der Szene, wo es darum geht, den Tresor zu öffnen (s. Abb. 6). Der gesamte Raum, das Lichtregime, die Körperposituren und die Blicke aller Figuren versammeln sich in einer Zone des Bildes: dem komplizierten Bohrersystem. In dem technischen Objekt sind sämtliche virtuellen Tendenzen, die durch das Licht, die Körper und die Objekte des Raums alle bisherigen Anstrengungen und Handlungen gewissermaßen investieren und in den souveränen Gesten des Handwerkers, Technikers und Künstlers Cesare ihren Ausdruck finden, fokussiert, so dass die über zwanzig Minuten aufgebaute Spannung ihren maximalen Punkt und letztendlich auch ihre Auflösung findet. Es ist dies der höchste Moment der Konzentration, in dem mit Deleuze in der Geste, die noch reiner Affekt ist, die Spannung zwischen Wahrnehmung und Aktion suspendiert ist.77 Es ist die Einstellung, die in ihrem Rahmen das phänomenologische Feld am klarsten gewissermaßen als ›chair‹ im Sinne Merleau-Pontys erscheinen lässt, wo Objekte, Körper, Phänomene mitein77 Vgl. Deleuze 1983, 96; zum Affektbild vgl. ibid., 125-144.

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ander untrennbar verflochten sind. Es ist der Moment, in dem der Film zu sich selbst kommt, und die Arbeit der Gangster sich auf die Arbeit des Filmteams abbildet.78 Cesare wird, wie erwähnt, unter dem Pseudonym Perlo Vita von Jules Dassin selbst verkörpert. Gewiss verleiht die Parallele zwischen der Teamarbeit des heist und dem Team einer Filmproduktion den heist-Filmen immer schon reflexives Potenzial; gewiss weist das Gefüge zwischen technischer und menschlicher Geste, die Dialektik zwischen Hell und Dunkel, Gesehenem und Verborgenem, das Ineinander von Materialmanipulation und Zeichensimulation oder die Interdependenz von Netzwerken und subversiven Strategien genuine Elemente der filmischen Darstellung im Zeitalter von neokapitalistischen Großkonzernen und Kontrollgesellschaften aus, doch kaum je wird dies deutlicher als an dieser Stelle von Dassins Du rififi chez les hommes. 5.3. Abrechnen – Fluchtlinien Wenige Momente danach allerdings beginnt sich der konzentrierte Augenblick aufzulösen, und das Feld virtueller Möglichkeiten öffnet sich wieder auf Netzwerke und beschleunigt die Bewegung hin auf Fluchtlinien.79 Kurz nachdem es Cesare gelungen ist, eine Öffnung in den Tresor zu schlagen, und der runde Kreis im Tresor all die Verheißungen einer besseren Welt für den Kreis der ihn umgebenden Männer ausdrückt, schneidet der Film nach außen. Es ist dies einer der wenigen Momente im Film, wo die staatliche Kontrollmacht eine Rolle spielt: Zwei Polizisten fällt zufällig der in der Seitenstraße geparkte Wagen auf; sie überprüfen die Nummer, und der perfekte Kreis des Verbrechens beginnt zu brechen. In den Kreis der Gemeinschaft dringen nun die Netzwerke ein. Das Notizheft der Polizisten enthält die Autonummer des gestohlenen Fahrzeugs und stört so das perfekte Timing des Überfalls, das seinerseits nur ermöglicht war durch Jos akribische Notate. Das phänomenologische Ereignis des heist wird zu einer Auseinandersetzung verschiedener Datenverarbeitungssysteme, die intensive körperliche und ingeniöse Höchstleistung zu einer Konkurrenz von Schriftsystemen. Einer der Polizisten geht zum Telefonieren in das nächstgelegene

78 Zum allegorischen Charakter des heist siehe Rolls / Walker 2009, 154, und Lee 2014. 79 Zum Konzept der Fluchtlinien im Zusammenhang mit kapitalistischen Netzwerke und Maschinen vgl. Deleuze / Guattari 1972.

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Geschäft. Und wie schon zu Beginn übernimmt das Telefon die Aufgabe, die netzwerkartige Organisation der postindustriellen Gesellschaft zu verkörpern. Neben dem Telefon als Medium der Transmission rückt dann das Auto als Medium der Translation in den Vordergrund. Es ist nicht mehr einfach ein weiteres Werkzeug, das im Verbund mit den menschlichen Körpern den Raum schließt, sondern ein Projektil, das beschleunigt und Fluchtlinien etabliert, wie in dieser Einstellung, einer der ersten von einigen weiteren, die die fundamentale Änderung der Raumstruktur von einem Feld der offenen Möglichkeiten zu einem von Fluchtlinien durchzogenen Raum verdeutlichen. Die Netzwerke, die sich im ersten Abschnitt noch öffneten auf Knoten von Sozialität wie die Gemeinschaft der Spieler, die Gemeinschaft der Gangster, Vertragsgemeinschaften wie Ehe und Familie wie auch die labile, aber, wie sich noch zeigen wird, immer noch auf Solidarität aufgebaute Beziehung zwischen Tony und Mado (Marie Sabouret), treten nun als reine Verknüpfungsmaschinen auf. Anstelle der Knoten herrschen die Kanten vor, und diese brechen die schützenden Räume der Knoten in Form der Privatwohnungen auf. Marios Wohnung wird verwüstet, Mario und Ida werden gefoltert und brutal getötet. Das ökonomische System dringt in Gestalt des Geldkoffers bis in Jos Schlafzimmer vor und stellt gewissermaßen die Wahrheit über die Welt der bürgerlichen Dinge aus: sie sind Produkte eines unlauteren ökonomischen Systems. Die beherrschenden Netzwerke sind hier im Unterschied zu den zeitgenössischen amerikanischen heist-Filmen nicht die Kontrollnetzwerke der Polizei, sondern ökonomische.80 Nach der Zeit des Überfalls ist nun die Zeit des Abrechnens gekommen, in seiner doppelten Bedeutung. Jo muss den Schutzraum verlassen, um in London die Diamanten zu Geld zu machen und dieses Geld nach Paris zu schaffen. Vor allem aber beherrschen die Netzwerke des Verbrechensunternehmens der Brüder Grutter den dritten Abschnitt des Films. Durch Cesares Geschenk des heimlich erbeuteten Rings an die Tänzerin Viviane aufmerksam gemacht, setzen sie alle Hebel in Bewegung, um sich der Beute bzw. des aus ihr erwirtschafteten Geldes zu bemächtigen. Erstmals etabliert sich in Rififi eine klassische Sujetstruktur: ein Duell zwischen den guten Gangs-

80 Vgl. Frahm 2010, 257-306, und Dimendberg 2004, 178. Diese Struktur wird Melville dann in Le samouraï (1967) übernehmen; vgl. in Parallele zu meinen Ausführungen die Überlegungen in Dünne 2009, denen ich einige Anregungen verdanke.

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tern, die sich auf kunstvollen Gelderwerb beschränken, und den bösen Verbrechern, die ein richtiges Unternehmen des Verbrechens führen, das neben den klassischen Geschäftszweigen Unterhaltungsindustrie und Drogenhandel auch Folter, Mord, Entführung und Erpressung beinhaltet.81 Von nun an sind es das Geld und seine Kreisläufe, die die retikulare Struktur konstituieren, die Figuren ihrer Handlungsinitiative berauben und auf immer weniger von ihnen kontrollierte Irrwege und Trajektorien durch die Stadt und über die Stadt hinaus schicken. Die Materialität der technischen Geräte tritt in den Hintergrund vor dem abstrakten Repräsentationsmedium Geld, das erneut im Kontrast etwa zu Armored Car Robbery (1950), Plunder Road (1955) oder auch den späteren Filmen The Killing (1956) und Mélodie en sous-sol (1963) seine Materialität – und sei es nur als fliegendes oder schwimmendes Objekt – nicht mehr wieder gewinnt.82 Es bleibt abstraktes Medium im Koffer und bildet im Film eine signifikante Leerstelle, die nicht gefüllt werden kann, da die Körper, die es legitimieren soll, immer wieder getilgt werden: Cesare, Mario, Ida, Jo und letztendlich auch Tony. Der einzige Körper, der zwar aus seiner Position im gesellschaftlichen Raum der Familie entzogen wird, um für das Geld getauscht zu werden, aber letztendlich nicht zerstört wird, ist der Tonios, der von Tony gemeinsam mit dem Geld fast bis zu seinem angestammten Platz in der sozialen Welt wieder zurückgebracht wird. Abschließend stellt Dassin hier noch einmal wie in einem Brennglas die komplexe, lockere Bezüglichkeit zwischen (totem und lebendigem) Körper, Zeichen und medialen Infrastrukturen aus, welche die moderne Wirklichkeit konstituiert. Die inszenierten Netzwerke ruhen zudem auf zwei weiteren Medien auf. Eins davon, das die Verbindung zwischen den zahlreichen isolierten Räumen aufrechterhält, ist das Telefon. Immer wieder müssen Tony und Jo zum Telefon greifen, um sich zu verständigen. Diese Einstellung zeigt fast idealtypisch, wie Telefon- und andere Netzwerke ineinandergreifen, um Wirklichkeit zu konstituieren; wie Wirklichkeit anschaulich in kleine Elemente, lauter kleine Kader, unterteilt und doch miteinander verbunden ist (s. Abb. 7). Während Tony telefoniert, betritt Mado das Geschäft, das als

81 Zu dieser Sujetstruktur vgl. Kline 2006, 73 f. 82 Zu diesen fluiden Prozessen vgl. den Beitrag von Jörg Dünne im vorliegenden Band.

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(Abb. 7)

Umschlagpunkt für das Netzwerk der Drogenkuriere fungiert und erfährt so Rémi Grutters Aufenthaltsort bestätigt. Die Netze scheinen sich zu schließen, doch ist die Pointe des Films brutaler: Verständigung funktioniert nicht mehr, Jo kommt zu spät oder Tony zu früh oder seinerseits zu spät. Denn Tony hat Tonio schon befreit, als Jo kommt, und Jo ist schon von Pierre Grutter erschossen, als Tony zurückkommt. Netzwerke schließen sich nicht zu Kreisen; sie eröffnen Fluchtlinien, denen beide, Tony und Jo, zum Opfer fallen. Neben den Informationsmedien zweiter zentraler Typ in diesem dritten Teil sind die Kommunikationsmedien Auto und öffentlicher Transport. Dass hier nicht mehr das handelnde Subjekt, sondern die es transportierenden abstrakten Netzwerke im Vordergrund stehen, wird deutlich, als Tony kurz nach dem eben erwähnten Telefongespräch die Métrostation Port Royal betritt und dabei räumlich gewissermaßen in deren abstrakte Stahlkonstruktion ebenso integriert wird, wie die Aufnahme selbst ingeniös in die abstrakten Ströme des Pariser Personennahverkehrs eingebunden ist.83 Die Transportmittel fungieren also, wie oben dargestellt, weniger als Mittel, die Körper von einem Punkt zum anderen zu transportieren, sondern dazu, Flucht, Ausführung des Verbrechens und Verfolgung ef83 Vgl. hierzu Truffauts Schilderung der Dreharbeiten in Dixon 1993, 133 f.

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fizient zu beschleunigen. Deutlich markiert Dassin dies in der Entführungsszene, deren entscheidende Momente – der eine aus einem Bus gefilmt, der andere zeigt die neben dem Auto her rennende Mutter aus dessen Inneren heraus – die Relativität der zwei Geschwindigkeiten klar herausarbeiten (R 01:31:42–01:33:16). Ein drittes Objekt – wenn man so will ein weiteres Medium – beherrscht den dritten Abschnitt des Films allerdings in ungeahnter Weise. Im Gegensatz zum waffenlosen Einbruch wird hier nunmehr fast jede Handlung mit der Waffe durchgeführt oder ist zumindest von der ihr eingeschriebenen Logik der Bedrohung geprägt. Der Film öffnet also die Topographie der Stadt- auf die Topographie der Kriegslandschaft. Jeder Ort verliert gewissermaßen seine Ordnung und wird im Sinne Kurt Lewins zu einem »Gefechtsgebilde«: entscheidend ist lediglich seine topologische Gerichtetheit hinsichtlich der Position der kriegführenden Parteien.84 In der klaren Logik, die Dassins Filme generell kennzeichnet, führen die Fluchtlinien dann auch zu einem Ort, der weder sozial und emotional ein bedeutsamer Ort ist wie die Familienwohnung noch Nicht-Ort wie die Metrostationen oder der Nachtclub, sondern ein virtueller Raum, eine Räumlichkeit im Entstehen: zum Rohbau von Grutters Anwesen außerhalb von Paris, in dem es zur entscheidenden Auseinandersetzung zwischen Pierre Grutter und Tony kommt. Die Fluchtlinien des Films führen also zu einem Ort, dessen Mauern und Böden weniger einen Raum umgrenzen als vielmehr Deckung bieten vor Schüssen und Örtlichkeiten, die ein freies Schussfeld ermöglichen. Die Verbindung von Beschleunigung und Kriegslandschaft schreibt Rififi in eine historische Entwicklung ein, von der bereits der klassische Gangsterfilm der 1930er Jahre eine Ausprägung ist, die aber nach dem Zweiten Weltkrieg noch weit deutlicher ins Bewusstsein gedrungen ist. Paul Virilio hat dieser Entwicklung der Moderne eine Reihe an Studien gewidmet, in denen er an zahlreichen Beispielen erläutert, wie die Kultur der Moderne eine Kultur der Beschleunigung darstellt, die zutiefst geprägt ist von der militärischen Praxis. In diesem Sinne stellt das Fahrzeug als Mittel der Beschleunigung bereits ein Projektil dar, das der Sicherung der Macht und des Territoriums dienen soll. Dabei hat sich allerdings auch der Begriff des Territoriums geändert, dessen Räumlichkeit im Wesentlichen geprägt ist durch die Reichweite der raumsichernden beschleunigten Waf-

84 Vgl. hierzu Lewin 2006, das Zitat S. 135.

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(Abb. 8) 85

fen. Der im Gangsterfilm immer wieder inszenierte Raum ist der von der Reichweite und der Geschwindigkeit der modernen automatischen Waffen in die Umwelt eingeschriebene Raum. Es ist dieses Problem der Reichweite, die Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Topographie in eine Topologie des Gefechts, die Dassin im Auge hat, wenn er das finale Duell als Gefecht in der Ruine des Rohbaus inszeniert: als ein Duell der Sichtbarkeit (s. Abb. 8). Es geht nicht nur um Beschleunigung und Reichweite, sondern vielmehr um die Sichtbarkeit des Feindes, das Sichtbarmachen des Ziels. In diesem ›modernen‹ Prozess ist der Feind nicht mehr ebenbürtiger Gegner, sondern er wird zum Zielobjekt, das sichtbar gemacht und dann vernichtet werden soll. Pierre Grutter findet sich hier in der günstigen Position, dass er das Feld der Reichweite seiner direkt auf das Zielobjekt gerichteten Waffe überblickt und damit seinen Gegner sichtbar zu machen vermag oder zumindest dessen Strategien, unsichtbar zu bleiben, parieren kann. Der Still fängt den Augenblick ein, in dem Tony den Blicken und der Waffe des Gegners maximal ausgesetzt ist, den Moment, wo er getroffen wird. Dassin führt mit dieser Einstellung das Kino auf seine technikgeschichtliche Herkunft zu85 Vgl. insbesondere Virilio 2006, zu einer präzisen historischen Ableitung vgl. Schäffner 1997.

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rück.86 Wie Virilio an anderer Stelle ausführlich erläutert, kann die Entwicklung der Filmkamera als optischer Apparat nicht getrennt gesehen werden von der Entwicklung der modernen Kriegstechnik und deren Verbindung von Sichtbarkeit und Vernichtung.87 Indem die optische Apparatur etwas sichtbar zu machen vermag, was etwa einem weit entfernten Schützen verborgen gewesen wäre, setzt sie dies angesichts der ultramodernen beschleunigten Waffen augenblicklich auch der Vernichtung aus. Der Gegner des klassischen Zweikampfs wird nunmehr zum Ziel. Den Gegner in einem Rahmen sichtbar zu machen, bedeutet ihn zu töten. Der Schuss mit der Kamera ist also zugleich ein Schuss der Waffe. Dass das bekannteste Verfahren der klassischen narrativen Filmsyntax im Deutschen ausgerechnet ›Schuss – Gegenschuss‹ heißt, macht in aller Klarheit deutlich, dass die räumliche und zeitliche Kohärenz die in diesem Modus der Verknüpfung konstruiert wird88, gewissermaßen erkauft ist mit einer Annihilation der Wirklichkeit. Waffe und Kino werden zu reinen Konsummaschinen, die Wirklichkeit verbrauchen und vernichten. Es ist nur folgerichtig, dass diese Einstellungsverknüpfung, die Schuss und Ergebnis – oder allgemeiner: Handlung und Folgen – miteinander verbindet, den dritten Abschnitt von Rififi dominiert und so dem dort entfesselten Automatismus der Gewalt, in dem jeder Blick einen Akt der Gewalt impliziert und die reine, kommunikationslose Geste des Schießens im Sinne Barthes dominiert, Ausdruck verleiht.89 Wie schon zuvor in diesem Abschnitt, wenn er darauf verzichtet, direkte Reaktion zu zeigen, variiert Dassin hier das Schema äußerst ingeniös und legt so die gewaltsame Logik der filmischen Narration bloß. Indem er Schuss und Gegenschuss etwa bei Tonys Zucken

86 Wie Vincendeau 2003, 214, Anm. 86, im Anschluss an Olivier Bohler erläutert, hat Melville in Form des Namens eines der Protagonisten von Le cercle rouge die Ableitung der Filmkamera aus waffentypischen Verfahren eingeschrieben; vgl. eben Janssens ›astronomischen Revolver‹ oder auch Mareys ›photographische Waffe‹. 87 Vgl. Virilio 1991. 88 Bezeichnet wird damit die Konstruktion eines filmischen Raums, der die jeweiligen Wahrnehmungsfragmente, welche die einzelnen, in kontingente Rahmen gepressten Wirklichkeitsausschnitte des Filmbildes sind, miteinander verbindet, und so – insbesondere im Dialog – eine gewisse Kohärenz des Raumes wie der zeitlichen Logik der Handlung herstellt und das Partikulare gewissermaßen zu einem Ganzen ›zusammennäht‹; zu diesem Verfahren der ›suture‹ als Grundprinzip klassischer Narration siehe Heath 1981. 89 Zum Automatismus von Gewalt und Vergeltung in Rififi vgl. Siclier 1986, 35.

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in einer Einstellung, gleichwohl aber in zwei Kadern zeigt, stellt er dieses grundlegende Verfahren klassischer Narration aus. Mehr noch, er zeigt die paradoxe Dynamik zwischen Rahmen und Inhalt – wie sie auch Latour definiert hat –, wo jedes Moment der Sichtbarkeit erkauft ist mit einem Moment der Unsichtbarkeit, wo jeder in der Position des Akteurs ist und in der Position des Objekts und wo jedes aktuelle Bild geöffnet ist auf ein virtuelles Außen und jedes Bild zugleich seine eigene Vernichtung in sich trägt. Diese Einstellung demonstriert wie keine zweite die fatale Kehrseite der kinematographischen Kohärenz und ruft das Außen des Kaders wieder mit in ihn herein. Was aufscheint, ist die Einsicht, dass die Kader des Kinos keine sicheren Räume abgrenzen, wo sich das wirkliche Leben und das amerikanische Glücksversprechen realisieren lässt, sondern dass das Kino eine Maschine ist und Vernichtungsapparat zugleich, der Körper sichtbar macht, um sie zu annullieren. Gnadenlos vertilgt die einmal entfesselte Gewaltmaschine in einem nicht mehr zu stoppenden Automatismus einen Körper nach dem anderen: Rémi Grutter, Jo, Pierre Grutter und zuletzt Tony. Die Einheit der Narration, der folgerichtige Ablauf der Geschichte ist erkauft durch die Zerstörung der narrativen Welt. Konsum und Vernichtung gehen Hand in Hand. Was bleibt, ist das Auto, der Koffer mit substanzlosen Zeichen und das Kind. In dieser letzten Sequenz verdichtet Dassin noch einmal eine am Anfang stark präsente, im Verlauf des Films aber mit einigen Ausnahmen – dem Gummiclown, dem Luftballon – in den Hintergrund geratene Ebene des Films: die des Spiels. Neben dem Glücksspiel und dessen Strukturen bildet insbesondere das Kinderspiel in all seinen Facetten einen zentralen Fokus des Films.90 Es fügt in die gnadenlose Logik der Vernichtungsmaschine, in der Waffe und Filmkamera eins werden, einen doppelten Boden ein und öffnet die zwangsläufige Teleologie der Selbstzerstörung auf die Virtualität des Erzählens. Gilles Deleuze hat in einem frühen Artikel zur Série noire bereits deren parodistischen Gestus herausgearbeitet, dessen »puissance du faux« die Geschlossenheit der filmischen Welt aufbricht und

90 Schon im Griechischen bilden Spiel, ›paidiá‹, und Kinderei, ›paidía‹, die beiden Seiten einer Medaille, vgl. Huizinga 2013, 39. Darüber hinaus weist das Treiben des Kindes am Ende des Films Elemente zumindest drei der von Caillois bestimmten Grundformen des Spiels auf: ›mimikry‹ – die Cowboy-Verkleidung, ›agon‹ – die Waffe als wesentliches Utensil des Duellcharakters des Spiels und zum Schluss ›ilinx‹ – der Schwindel der Autofahrt; vgl. Caillois 1991.

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sie auf die ihr inhärenten virtuellen Tendenzen öffnet.91 Nicht nur dass Dassin damit die todernsten Konflikte der Gangsterwelt auf die Ebene des kindlichen Cowboy- und Indianerspiels bringt; er entbirgt aus dem klassischen Filmbild zudem eine andere Weise, Wirklichkeit erfahrbar zu machen. Als Tony mit Tonio im Auto zurückfährt, führt Dassin zugleich auch vor, dass das Kino mehr ist als eine Vernichtungsmaschine. Er setzt der zielgerichteten Bewegung des Autos – einer Maschine, die sogar von einem fast Toten gesteuert werden kann – die turbulenten Gesten des Kindes entgegen. Der automatisierte Gestus der Maschinensteuerung wird geöffnet auf das virtuelle Potenzial einer Geste voller Richtungswechsel und Neuanfänge.92 Und in diese Neuanfänge, in die Virtualität des kindlichen Blicks, der noch nicht auf Objekte, sondern auf Potenzialitäten des Wirklichen gerichtet ist, stimmt auch die Kamera mit ein. Dem Blick Tonios nach oben folgend, schwenkt die Kamera um 90o und zeigt das Flackern des Lichtes, wie es durch das Laub der Bäume aus dem vorbeifahrenden Auto erscheint. Das Kino wird mit einem Mal wiederum zu einem Medium der Intensität, der Erfahrung jenseits der Netzwerke von Ökonomie, Beschleunigung und Vernichtung. Dassin erreicht dies mit seiner abstraktesten Einstellung, die nicht von ungefähr an Praktiken der Avantgarde erinnert; einer Einstellung, die uns die ursprüngliche Funktion des Films und seine materielle Basis in aller Reinheit zu sehen gibt, Effekte von Licht und Schatten in Bewegung aufzuzeichnen. Letztendlich wird damit die Gangsterwelt zurückgeführt auf das Entstehen von Welt überhaupt, zu dem Moment, bevor das, was wir sehen, zu Objekten, Subjekten, zu einer Welt wird.

6. T ECHNISIERUNG

UND

L EBENSWELT

Jules Dassins Du rififi chez les hommes verankert nicht nur die Welt der Gangster markant in der zeitgenössischen Welt der 1950er Jahre und ihren sich deutlich abzeichnenden sozio-ökonomischen Veränderungen als Grundsteine unserer aktuellen Welt, sondern stellt auch ein profundes Nachdenken dar über deren Genese, Infrastrukturen und ethisch-moralische 91 Siehe Deleuze 2002; zur ›puissance du faux‹ als Modus des Zeit-Bildes vgl. insbes. Deleuze 1985, 165-202. 92 Eine indogermanische Wurzel verbindet das Spielen – etwa im Sanskrit – mit dem »Begriff einer schnellen Bewegung«; vgl. Huizinga 2013, 41.

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Dimension. Auf diese Weise schreibt er sich ein in Überlegungen der phänomenologisch ausgerichteten zeitgenössischen Philosophie zur Technisierung und Ökonomisierung der Lebenswelt. Doch Dassin beschränkt sich nicht hierauf, sondern schließt die gesellschaftspolitisch-philosophische Dimension kurz mit einer Meditation über das gewählte Medium und seine Möglichkeiten, Wirklichkeit kritisch zu erfassen.93 Die ›lockere‹ narrative Struktur, die den Film in drei scheinbar wenig homogene Einheiten auflöst, erweist sich dabei als Experimentalschema, in dem auf drei verschiedene Weisen die Technisierung der Lebenswelt einerseits wie Verortung und Handlungsinitiative des Subjekts in Knoten und Kanten von Netzwerken andererseits thematisiert und ausagiert werden. Weit davon entfernt, die Kybernetisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat einfach zu denunzieren und eine heile vergangene Welt nostalgisch zu evozieren, inszeniert Dassin Ereignisse, die immer wieder Handlungsinitiativen in einer von automatischen Prozessen gesteuerten und kontrollierten Welt abwägen und Momente der Aneignung von Handlungsmacht profilieren. Zentraler Fokus von Dassins Überlegungen ist dabei die Geste als Moment des Zögerns, des Entstehens von Handlungspotenzial. Er legt also den Nachdruck nicht auf der Abbildung von Welt und Handlung, sondern auf das Potenzial von Handlung und das virtuelle Feld, in dem ›Welt‹ sich als Konstellation von Subjekten und Objekten ereignen kann. Jeder Abschnitt des Films ist durch einen bestimmten Gestus und einen spezifischen Verknüpfungstypus charakterisiert. Während der erste Teil, der Abschnitt des Planens, in gebrochener Linie Vektoren unterschiedlicher Bewegungsrichtung verknüpft und so einen Gestus des Ausprobierens in den Vordergrund rückt, in dem Handlungen immer wieder unterbrochen, neu initiiert, neu komponiert und moduliert werden, führt der zweite Teil, der Abschnitt des Überfalls, diese ungerichteten Bewegungen in einer gewissermaßen einzigen, die Einheit von Zeit, Raum und Handlung weitgehend respektierenden, Plansequenz zusammen und verdichtet diese in einem Gestus reiner phänomenologischer Erfahrbarkeit, in der die einzelne Geste Teil eines virtuellen Felds und seiner Modulationen ist. Im Gegensatz dazu hebt der letzte Teil, der Abschnitt der Abrechnung, die Geste des Schießens hervor und

93 Gemäß seiner Truffaut und Chabrol gegenüber geäußerten Statements ist das, woran Dassin vor allem gelegen ist, die ›Wirklichkeit‹; vgl. Truffaut / Chabrol 1955.

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bildet damit modellhaft die klassische Handlungsverknüpfung im Schuss – Gegenschuss ab. Letzten Endes aber führt Dassin auch diese wiederum in einem phänomenologischen Gestus auf die Materialität des filmischen Bildes zurück; die Technologie der Gangsterwelt eröffnet eine phänomenologische Dimension intensiver Erfahrbarkeit, die nicht jenseits der technischen Medien stattfindet, sondern durch das technische Medium selbst ermöglicht wird, und schafft damit den Weg für ein Neues Kino. Kein Wunder, dass dieser Film ausgerechnet in Kreisen der Nouvelle Vague und ihrem Umfeld auf solche Begeisterung stieß.

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Der Gangster als Spieler Handwerk und Hasardspiel in Melvilles Bob le flambeur W OLFRAM N ITSCH

Die Gangsterfilme von Jean-Pierre Melville gelten längst als Klassiker des Genres. Selbst ein darin kaum weniger ausgewiesener Regisseur wie Alain Corneau hat es als Ehrensache betrachtet, ein Remake von Le deuxième souffle zu drehen .1 Auch Bob le flambeur, Melvilles erstem Film dieser Art, ist in Neil Jordans bemerkenswertem Remake The Good Thief (2002) eine solche Hommage widerfahren. Allerdings steht der 1956 ins Kino gekommene Streifen nach Auskunft seines Regisseurs und Drehbuchautors an der Grenze des Genres, ist weniger ein »policier pur« als vielmehr eine im kriminellen Milieu angesiedelte »comédie de mœurs«.2 Denn sein Protagonist, so die im Weiteren entwickelte These, ist nicht in erster Linie ein ehrenwerter truand wie seine Kollegen in den kurz zuvor entstandenen Genreklassikern Touchez pas au grisbi (1954) und Du rififi chez les hommes (1955), deren großer Erfolg auch Bob le flambeur den Weg geebnet hat .3

1

2 3

Le deuxième souffle, F 2007, nach dem gleichnamigen Roman von José Giovanni, vor allem aber nach dessen Verfilmung durch Melville, F 1966; vgl. Corneau 2007, 281-299. Vgl. Nogueira 1996, 67. Alle Zeitangaben zu Bob le flambeur folgen der DVDEdition in der Criterion Collection (BF). Zur Entstehung des französischen Gangsterfilms in den 1950er Jahren siehe Guérif 1981, 105-108; Gerhold 1989, 101-118. Zu Melvilles strategischer Zusammenarbeit mit Auguste Le Breton, der nach der Vorlage für Rififi auch die Dialoge für Bob le flambeur schrieb, vgl. Beylie / Tavernier 1961, 14.

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Mindestens im gleichen, wenn nicht sogar in noch stärkerem Maße erscheint er als ein leidenschaftlicher Spieler. Während andere Gangster bei der Ausübung ihres Metiers Würfel und Karten beiseite legen, nimmt Bob sie im Augenblick des Coups erst recht in die Hand – und entrinnt gerade dadurch dem Untergang seiner gefährdeten Art.

E IN

EHRENWERTER

H ANDWERKER

Über weite Strecken des Films tritt der Titelheld Bob Montagné als truand alter Schule in Szene. Obwohl ihn der von Melville wieder entdeckte Vorkriegsstar Roger Duchesne verkörpert, gleicht er in vielem den reiferen Gangstern, die dessen Altersgenosse Jean Gabin in seinen Nachkriegsfilmen zu spielen pflegt. Dies liegt nicht so sehr an seinem silbernen Haar und an seiner weiterhin stattlichen Erscheinung, auch nicht an seiner gediegenen Wohnung mit Haushälterin, Gemälden und alten Büchern. Wie Max in Touchez pas au grisbi oder später Charles in Mélodie en sous-sol (1963) zeichnet er sich vor allem durch ehrenwertes Verhalten und professionelles Handwerk aus. In seinem Umgang mit anderen zeigt sich Bob weithin einem althergebrachten Ehrenkodex verhaftet, in dem persönliche Verpflichtungen höher rangieren als allgemein verbriefte Rechte und Pflichten .4 Dieser Kodex schließt insbesondere die Sorge um schutzbedürftige Personen im persönlichen Umfeld ein. So sorgt Bob für seinen jungen Freund Paulo, dem er als Vorbild und als Ersatz für den bei einem Vorkriegs-Coup getöteten Vater dient; aber auch für die minderjährige Herumtreiberin Anne, die er vor Sextouristen und Zuhältern zu bewahren sucht. Als sie ihn daraufhin als Beschützer der Witwen und Waisen verspottet, stellt er ihr mit patriarchaler Gebärde sowohl eine Prügelstrafe als auch eine Schlafgelegenheit in Aussicht. Sein von Anne als unzeitgemäß empfundener Ehrenkodex verbindet Bob mit dem gleichaltrigen Inspektor Ledru, seinem natürlichen Gegner. Ihr gegenseitiger Respekt und freundschaftlicher Umgang geht darauf zurück, dass er den Polizisten einst vor dem Todesschuss eines Komplizen bewahrte, und geht so weit, dass er zu Beginn der Handlung im Streifenwagen

4

Siehe hierzu allgemein Bourdieu 2000, 56 ff.; zu einer entsprechenden Lektüre von Bob le flambeur vgl. Mahler in diesem Band.

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mitfahren darf. Nicht von ungefähr hat Bob die gleiche Hausnummer wie Ledru im Kommissariat: »36, comme le quai [...] des Orfèvres« (BF 00:21:30). Beide teilen die Abneigung gegen Gangster neuen Typs, die ökonomische Interessen über persönliche Verpflichtungen stellen und damit den moralischen Verfall der Unterwelt beweisen. Seit der Okkupationszeit, als Gangster wie Polizisten mit der Gestapo kollaborierten, beachtet das kriminelle Milieu nur noch in Ausnahmefällen die alten Regeln, wie Bob bei einem gemeinsamen Abendessen mit dem Inspektor beklagt: » Le ›milieu‹ n’est plus ce qu’il était, c’est pourriture et Cie maintenant«.5 Dies gilt besonders für den Zuhälter Marc, der seine Gespielinnen ausbeutet und misshandelt. Entsprechend ungehalten wirft ihn der Protagonist hinaus, als dieser ihn zuhause um Geld anhaut oder als er in seinem Stammlokal mit Anne anbandelt. Ledru hingegen muss mit dem verachteten mec kooperieren, da er ihn unter Strafandrohung als Spitzel einsetzen kann. So bestärkt der nicht nur der Ehre, sondern auch dem Recht verpflichtete Inspektor wider Willen einen truand darin, aus Eigennutz ehemalige Freunde zu verraten. Als Hauptinstrument dafür erweist sich das Telefon, da es sachdienliche Hinweise ohne persönliche Interaktion gestattet. Der entscheidende Wink zu Bobs neuestem Coup, einem Einbruch ins Spielkasino von Deauville, geht bei Ledru per Fernsprecher ein; er kommt zwar nicht von Marc, der am Apparat gerade noch rechtzeitig von Paulo erschossen wird, wohl aber von Suzanne, der geldgierigen Frau des Ex-Zuhälters Jean, der als Croupier die Pläne geliefert hat. Hier tritt das Dilemma des ehrenwerten, bis zuletzt um Bob besorgten Ermittlers in aller Schärfe hervor: Kaum hat er den anonymen Anruf am Apparat mit dem Schimpfwort »Salope!« quittiert, trommelt er schon das Einsatzkommando zusammen. Der ehrenwerte Gangster hingegen greift so gut wie nie zum Hörer, da er seine Angelegenheiten lieber von Angesicht zu Angesicht regelt. Bezeichnenderweise steckt er sogleich sein Telefon aus, wenn er morgens nach Hause kommt, und reagiert bei seinem einzigen Telefonat barsch auf Paulos Versuch, ihn mit verstellter Stimme hinters Licht zu führen. Bobs auf Ehre und Loyalität bedachtes Verhalten findet seine räumliche Entsprechung in der kleinen Welt von Montmartre, der alten Hochburg des

5

BF 01:18:32; zum historischen Hintergrund vgl. auch den ausführlichen Kommentar des Regisseurs in Nogueira 1996, 74, sowie Pillard 2014, 291-297.

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kriminellen Milieus .6 Nach eigenen Angaben ist er seit seiner Geburt nie über die Porte Saint-Ouen im Pariser Norden hinausgekommen, hat also kaum jemals das populäre Viertel verlassen, das sich zwischen der Bergund der Talstation des in der ersten Einstellung gezeigten Funiculaire, zwischen der von seinem Fenster aus sichtbaren Basilika von Sacré-Cœur und dem Rotlichtbezirk um die Place Pigalle erstreckt. In den krummen, mit den Namen von Bars und Nachtclubs beschrifteten Straßen des Quartiers bewegt er sich mit der gleichen traumwandlerischen Sicherheit wie der Titelheld von Pépé le Moko (1937) in der Kasbah von Algier.7 Nicht von ungefähr fährt er mit offenem Verdeck, wenn er das Viertel ausnahmsweise nicht zu Fuß, sondern in seinem Plymouth Belvedere durchquert. Wo jeder jeden zu kennen scheint, besteht kein Anlass für automobiles Inkognito. Allerdings deutet die amerikanische Marke darauf hin, dass sich die einst geschlossene Pariser Unterwelt schon zur großen Welt hin geöffnet hat .8 In Le doulos (1962), seinem zweiten Gangsterfilm, hat Melville Montmartre gleich eingangs endgültig den Rücken gekehrt und das hier noch halbwegs transparente Großstadtmilieu durch eine unübersichtliche Vorstadtzone voller undurchsichtiger Figuren ersetzt. Neben seinem Ehrenkodex kennzeichnet auch sein Berufsethos den Helden als einen truand alten Schlages. Wie zunächst nur aus der Erzählung seiner Vorgeschichte durch seinen Freund Roger hervorgeht, hat er sich als Lenker handwerklich perfekter Einbrüche einen Namen gemacht. Durch den wegweisenden kriminellen Einsatz des Citroën Traction Avant schon vor dem Zweiten Weltkrieg spielt Bob laut Roger in der Geschichte des Bankraubs eine ähnlich wichtige Rolle wie die legendäre »bande à Bonnot« (BF 00:23:55), die vor dem Ersten Weltkrieg das Verbrechen motorisierte, dadurch die bis dato Rad fahrende Polizei hinter sich ließ und insofern sogar amerikanischen Gangstern zum Vorbild wurde .9 Allerdings hat ihn ein derartiger Coup auch ins Gefängnis gebracht, weshalb ihn der Inspektor als »truand assagi« (BF 00:04:20) im Ruhestand wähnt. Damit ist es jedoch vorbei, als Bob durch Jeans Indiskretion von den zeitweise

6 7 8 9

Vgl. hierzu Vincendeau 2003, 106-110. Zur »casbah« von Montmartre siehe Nogueira 1996, 73; zur Bezugnahme auf den Poetischen Realismus in Bob le flambeur vgl. Bantcheva 2007, 38-41. Zum amerikanischen Wagen im französischen Kino um 1960 vgl. Ross 2006, 37-74. Zur Bonnot-Bande und ihrem Widerhall im Kino vgl. Förster 2011, 26-28.

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astronomischen Summen im Tresor der Spielbank am Atlantik erfährt. Er beschließt, sich noch einmal selbst zu überbieten und einen Einbruch zu organisieren, der selbst den professionellen Juwelenraub in Rififi verblassen lässt. Denn sein Ausruf »L’affaire de ma vie!« (BF 00:34:41) liegt nicht nur im ausnehmend hohen Wert der Beute begründet, sondern auch in der ausnehmend großen Schwierigkeit, sie zu entwenden: »Ça sera dur, mais réalisable« (BF 00:36:49). Diese Schwierigkeit ergibt sich aus dem neuartigen Sicherungssystem des Kasinos, einem hydraulisch versenkbaren Tresor mit besonders geräuschlosem Schloss. Ihre Überwindung durch Gewaltanwendung kommt für Bob nicht in Frage. Seinen Komplizen schärft er ein, keinen Gebrauch von ihren Waffen zu machen, so dass sie im Grunde ebensogut »un pistolet à bouchon« vorhalten könnten, wie einer von ihnen sarkastisch bemerkt (BF 00:46:36). Er selbst lässt am entscheidenden Abend seine Pistole in der Schublade liegen und nimmt nur das daneben liegende weiße Stecktuch heraus. Um so mehr kommt es auf ausgefeiltes Handwerk an .10 Damit der Coup ohne Waffengewalt gelingt, muss er in allen Einzelheiten vorbereitet und einstudiert werden. Während die Einbrecher in John Hustons von Melville bewundertem heist movie Asphalt jungle (1950) noch direkt zur Sache kommen, müssen sie hier erst einmal zum Training antreten; und während in Rififi der Einbruch selbst im Mittelpunkt steht, rückt hier seine Einübung ins Zentrum des Films. Nicht weniger als drei Proben veranstaltet Bob mit seiner in Montmartre rekrutierten Bande auf Übungsgeländen außerhalb von Paris. Die erste und die dritte Probe finden im kleinen Kreis auf dem Landgut des ExGangsters McKimmie statt, der als Financier des Unternehmens auch im eigenen Interesse auf Sorgfalt pocht. Hier geht es um das Knacken des Panzerschranks, das eigentliche Meisterstück des Coups. Den Part des Knakkers übernimmt dabei der von einem echten Gangster gespielte Nachtclubbesitzer Roger, ein stiller Tüftler, der an verschiedenen Schlössern mit verschiedenen Aufschließtechniken experimentiert: zunächst mit einem Stethoskop am Geldschrank McKimmies, später mit Mikrophon, Oszilloskop und Lautsprecher an einem Modell des Spielbanktresors. Sobald bei der dritten Probe eines der Schlösser einrastet, sind die Rundungen der beiden

10 Zum Gangster als Handwerker siehe Doetsch in diesem Band; zum Berufsethos der Einbrecher im Spätwerk Melvilles vgl. Laborde / Servois 2010, 54-56, 7074.

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letztgenannten Geräte in Großaufnahme zu sehen (Abb. 1: BF 01:01:57) – einer für Melville eigentlich untypischen, hier jedoch plausiblen Einstel-

(Abb. 1: Das Handwerkszeug)

lungsgröße, da sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf den Fortgang der Tresoröffnung richtet .11 Es gilt dabei, so schnell wie möglich zu sein, und Bob kontrolliert in Trainermanier mit der Stoppuhr, wie weit Roger unterhalb des Zeitlimits von insgesamt sechs Minuten bleibt. Da im Ernstfall die Zeit drängt, nimmt die Vorbereitung Züge einer sportlichen Veranstaltung an. Noch deutlicher tritt Bobs Streben nach Perfektion bei der zweiten Probe zutage, die er mit der ganzen Bande auf einem terrain vague in der Nähe eines Flugplatzes abhält. Dort weist er seine insgesamt neun Komplizen an, mit der Disziplin einer Kampfflieger- oder Fallschirmjägereinheit vorzugehen: »On doit opérer comme un commando de parachutistes« (BF 00:56:23). Entsprechend spielt man den Einbruch wie in einem Manöver durch. Als Grundlage für das paramilitärische Planspiel dient der Grundriss des Kasinos, den Roger bei einer ersten Ortserkundung skizzierte 11 Zu Melvilles (späterer) Aversion gegen die Objektgroßaufnahme à la Hitchcock vgl. Nogueira 1996, 69.

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– auf dem Beifahrersitz von Bobs nunmehr geschlossenem Cabriolet während einer kompletten Rundfahrt um das Gebäude. Zum Zweck der Übung hat man diese Skizze zweimal im vergrößerten Maßstab übertragen: einmal mit Tinte auf die Wandtafel, an der Bob den Weg zum Tresor erläutert, aber auch mit Kreide auf das Gras der Brache, wo die Positionen und Bewegungen der Gangster einstudiert werden (Abb. 2: BF 00:58:17). So ist aus einem handgezeichneten Plan, dem typischen Gegenstück zur Polizeikarte in der Welt des Verbrechens, eine Art Spielfeld geworden .12 Auf diesem nur vorübergehend abgegrenzten, von Autowracks statt von Tribünen umstandenen Spielfeld mimt man den Kampf gegen die Uhr sowie gegen eventuelle Hindernisse und Gegenspieler, die beim Einbruch auftauchen könnten. Als Bob das Manöver neben dem Flugplatz eröffnet, lautet sein Befehl dementsprechend: »à vous de jouer«.13 Wie er sich das so Geprobte genau vorstellt, geht aus einer stummen Vorausblende hervor, die wenig später das Geschehen am Tatort »d’après Bob« demonstriert: Vollkommen unbehelligt dringt die Bande ins Kasino ein und wartet im Foyer auf den Abtransport der Beute. Zwar kommt es schließlich ganz anders, weil zwei indiskrete Frauen den Plan ausplaudern, erst Anne gegenüber Marc, dann Suzanne gegenüber Ledru. Die alarmierte Polizei vereitelt den Coup schon vor dem Kasino, erschießt zwei Einbrecher, darunter Paulo, und nimmt die anderen fest. Der Generalprobe folgt mithin nur eine imaginäre, keine reale Premiere. Doch auch wenn Bob als casseur scheitert, bleibt er doch als auteur eines raffinierten Plans im Gedächtnis. Nicht zufällig ähnelt der Protagonist Montagné in manchem dem Regisseur Melville, der seinerseits auf langen Autofahrten Schauplätze studierte und die akribische Vorbereitung

12 Zur Bedeutung der Karten für Melvilles Polizisten siehe Dünne 2009; zur Rolle handgezeichneter Pläne für seine Gangster vgl., mit Bezug auf Le doulos, Nitsch 2013. 13 BF 00:57:46. Weit weniger vielschichtig gestaltet sich das Planspiel in Lewis Milestones Einbrecherfilm Ocean’s eleven (1960), den Melville nicht ganz zu Unrecht als »Plagiat« von Bob le flambeur betrachtet (Nogueira 1996, 78): Dort breitet man den rudimentären Lageplan auf einem Billardtisch aus, ohne mit den Kugeln den Bewegungsablauf zu proben. Ein durchaus ähnliches Manöver erfolgt dagegen in La mort d’un tueur (1963) von Robert Hossein, wo man den Überfall auf einen Geldtransport am Strand simuliert, mit einem Sandgraben als Straßenzug und einer Packung Spielkarten sowie Steinen oder Seifenstücken als Autos.

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der Dreharbeit höher schätzte als die Dreharbeit selbst .14 Und nicht ohne Grund wurde Bob le flambeur von den auteurs der Nouvelle Vague wie kaum ein anderer französischer Film der 1950er Jahre bewundert .15 Der

(Abb. 2: Das Spielfeld)

Nimbus von Melvilles erstem Gangster entspringt nicht seinem praktischen Erfolg, sondern seinem Anspruch, den Coup bis ins kleinste Detail zu planen.

E IN LEIDENSCHAFTLICHER S PIELER Wie schon sein Unterweltname »Bob le Flambeur« verrät, ist Bob Montagné aber auch als notorischer Zocker bekannt, der sein illegal erbeutetes

14 Über Melvilles Drehortinspektion im Auto berichtet sein Ex-Assistent Volker Schlöndorff 1982; über seine Arbeit im eigenen Studio informieren Laborde / Servois 2010, 25-34. 15 Vgl. die euphorische Kritik von Claude Chabrol unter dem Namen Jean-Yves Goute 1956, sowie die Hommagen in Jean-Luc Godards À bout de souffle (1960), wo sich der Held nach Bob Montagné erkundigt, und in François Truffauts Baisers volés (1968), wo der Protagonist genau wie Bob in Montmartre einem Sprengwagen begegnet.

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Vermögen regelmäßig am Spieltisch verbrennt. Diese Seite des Helden wird gleich eingangs beleuchtet, noch ehe er als Gangster kenntlich wird. Nach der Leuchtreklame eines Lokals namens »Le Grand Jeu« (BF 00:00:32) ist ein Hinterzimmer in Rogers Nachtclub zu sehen, wo Bob gerade einige Scheine beim Craps verwürfelt, und wenig später ein Séparée in einer anderen Bar, wo er eine größere Summe beim Poker verspielt. Mit solchen Einstellungen verweist Melvilles Gangsterfilm auf das von einigen seiner Lieblingsregisseure gleichfalls kultivierte Genre des Spielerfilms, das im melodramatischen oder im komischen Modus um Spielsucht und Falschspiel kreist. Wenn Bob schon bei seinem ersten Auftritt am Würfeltisch steht, nicht anders als die Heldin am Anfang von The Lady Gambles oder der Held auf dem Höhepunkt von Any Number Can Play, und dann gleich weiter zu anderen Spieltischen zieht, dann steht ein Konflikt zwischen Gangsterethos und Spielleidenschaft zu erwarten .16 Solange sich Bob in Paris aufhält, hält sich sein Hang zum Glücksspiel jedoch noch in Grenzen. Der flambeur in ihm wirkt gebremst durch das familiäre Milieu von Montmartre, das ihn bei seinen vorwiegend nächtlichen Runden fürsorglich im Auge bewahrt. In seinen Stammlokalen begegnet er überall freundschaftlichem Verständnis. Nach dem verlorenen Würfelspiel in Rogers Nachtclub erkundigt sich der Hausherr höchstpersönlich nach seinem Befinden; nach der ungünstigen Pokerpartie in der Bar »Les Carpeaux« fährt ihn Ledru im Streifenwagen nach Hause; und als er noch eine letzte Etappe im Spielercafé »Pile ou face« einlegt, wacht die Wirtin Yvonne mit dem milden Blick der alten Vertrauten darüber, dass er den Bogen nicht überspannt. Sogar auf der Rennbahn von Longchamp, wo der erklärte Anhänger der »race chevaline« (BF 00:21:49) nach eingehender Sportteillektüre auf Pferde wettet, steht ihm Roger als sanfter Mahner und Warner zur Seite. Allein ist Bob eigentlich nur manchmal bei sich zuhause, wo er in einem Wandschrank einen einarmigen Banditen aufgestellt hat. Der Privatautomat verrät zwar ein schier unstillbares Verlangen nach Hasardspielen aller Art, als wäre die Wohnung mit der Hausnummer 36 nur

16 The Lady Gambles, USA 1949, dir. Michael Gordon; Any Number Can Play, USA 1949, dir. Mervyn LeRoy, D: Clark Gable. LeRoy steht auf Melvilles Liste der 63 besten Hollywood-Regisseure, so wie Clark Gable, der Hauptdarsteller, zu seinen bevorzugten Schauspielern gehört; vgl. Nogueira 1996, 21-24.

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eine weitere Station auf der Tour des rastlosen Zockers .17 So stellt Anne bei ihrem ersten Besuch die berechtigte Frage: »Vous êtes joueur à ce pointlà?« (BF 00:22:07). Wie ihr Bob entgegnet, dient ihm das solitäre Spiel in der Kammer jedoch eher als leichte Unterhaltung, da es dabei ja eigentlich nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren gibt. Insofern charakterisiert die Spielzelle den geradlinigen Helden ebensogut wie die Telefonzelle, der sie in einer Einstellung auffallend ähnelt (Abb. 3: BF 00:36:32), seine zwielichtigen Gegner. Während jene ihre Unterweltkollegen verraten, betrügt »Bob le flambeur« höchstens sich selbst. Bobs solchermaßen gedämpfte Spielleidenschaft kennt freilich keine Grenzen mehr, sobald er Paris verlässt und das Kasino von Deauville betritt. Denn in dessen großen Spielsälen begegnet er einer ganz anderen Welt als in den kleinen Bars von Montmartre. Bewegt er sich zuhause in einer überschaubaren, auf persönliche Bindungen gegründeten Gemeinschaft, so findet er sich hier in einer anonymen Gesellschaft wieder, wo er genau wie seine fremden Mitspieler schlicht als ›Monsieur‹ firmiert. Und während er in den Straßen um Pigalle ständig auf Namen wie »Le Grand Jeu«, »Les Carpeaux« oder »Pile ou Face« stieß, bekommt er hier nur noch Zahlen zu lesen, sei es auf dem Tapis der Roulette- und Kartentische oder auf den Hinweisschildern darüber, auf denen der jeweilige Mindest- oder Höchsteinsatz beziffert wird. Wenn schon die gierigen Spitzel und die anonymen Anrufer in Montmartre die drohende Verwandlung des konkreten Milieus in eine abstrakte Gesellschaft erahnen lassen, dann kann in Deauville ein fortgeschrittenes Stadium dieser Entwicklung besichtigt werden .18 Es mag durchaus sein, dass Melville oder vielmehr sein Kameramann Henri Decaë schon die anfangs gezeigte Place Pigalle von einem Sprengwagen wie von einer Roulettekugel umkreisen lässt und dadurch Bobs Gang in die Spielbank antizipiert .19 Doch dreht sich das metaphorische Glücksrad noch an

17 Die Nummer 36 bezeichnete im Palais Royal, dem Eldorado der Pariser Glücksspieler im 19. Jahrhundert, einen der fünf Spielsäle, den etwa auch der Held von Balzacs Roman La peau de chagrin gleich zu Beginn der Handlung betritt. 18 Zur ›abstrakten Gesellschaft‹ als Widerlager des konkreten Milieus im Gangsterfilm vgl. Mahler in diesem Band; zum Glücksspiel als einer Leitmetapher der Neuzeit, in der es sowohl die Erfahrung sinnloser Kontingenz als auch deren Bewältigung durch rationales Kalkül verbildlicht, siehe Schnyder 2009, 19-29. 19 Vgl. hierzu die für Spielthematik des Films insgesamt einschlägige Studie von Kavanagh 1993, 146.

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einem Ort mit unverwechselbarem Lokalkolorit, sein buchstäbliches Pendant hingegen an einem Nicht-Ort ohne Gesicht .20

(Abb. 3: Der Privatautomat)

Bei Bobs erstem Besuch im Kasino kommt diese abstrakte Welt noch gar nicht ins Bild, lediglich ihre Wirkung auf den darin verlorenen Spieler. Wir sehen nicht, wie er in Deauville einen in Longchamp erzielten Wettgewinn restlos verspielt – im trügerischen Glauben an eine Glückssträhne, die ihn auf der Rennbahn begünstigt und im Grunde sein ganzes Leben lang begleitet habe: »Je suis né avec l’as de carreau dans la main« (BF 00:33:17). Wir sehen nur indirekt, wie er am Spieltisch komplett sein Zeitbewusstsein verliert. Roger, der ihn bis zur Spielbank, aber eben nicht hinein begleitet hat, muss im Wagen so lange auf ihn warten, dass ihm nicht einmal mehr das Autoradio die Zeit vertreiben kann. Als der abgebrannte Flambeur endlich auftaucht, muss er seinem Freund denn auch versprechen, nie wieder im Kasino zu spielen. Insofern erfüllt der wenig später gefasste Plan, den dortigen Tresor zu knacken, auch eine therapeutische Funktion. Bob soll und will die dort lagernden Millionen durch untadeliges Handwerk, nicht durch unberechenbares Hasardspiel erwerben. Die

20 Zum Begriff des Nicht-Ortes siehe Augé 1992, 97-144.

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vorbereitende Umkreisung des Kasinos im geschlossenen Cabriolet führt dieses Bemühen um Distanzierung anschaulich vor Augen: Statt noch einmal darin zu verschwinden, fährt Bob nurmehr an seiner Außenseite entlang. Wie die Protagonisten anderer Einbrecherfilme scheint er somit auf bestem Wege, eine klare Grenze zwischen Spieler- und Gangstermilieu zu ziehen. Wie der hooligan Dix in Asphalt Jungle kehrt er dem Glücksspiel den Rücken, um auf professionellere Weise seine Zukunft zu sichern .21 Und wie die Rennbahnräuber in Kubricks zeitgenössischem heist movie The Killing (1956) oder die Kasinodiebe in Mélodie en sous-sol nimmt er sich vor, das Eldorado der Spieler nur noch des Geldschranks wegen zu betreten. Doch als er sich in der Nacht des Coups wieder an den Roulettetisch begibt, um als Vorhut der Bande die Lage zu klären und Kontakt mit dem ortskundigen Komplizen Jean aufzunehmen, fällt Bob alsbald wieder in die alte Spielerrolle zurück. Nachdem er beiläufig ein paar Scheine gesetzt und hoch gewonnen hat, versinkt er immer mehr in der abstrakten Sphäre des Spiels und verliert den ausgefeilten Einbruchplan aus den Augen. Was auf dem ikonischen Spielfeld am Flugplatz eingeübt wurde, gerät auf dem symbolischen Tapis des Roulette in Vergessenheit; das Augenmerk gilt nicht mehr dem Fortgang der sorgfältig konzertierten Aktion, sondern nur noch dem Ausgang der aktuellen Runde im eigenen Spiel, wie die dreimalige Großaufnahme der als optischer Gegenpol zu Oszilloskop und Lautsprecher ins Bild gesetzten Roulettescheibe zeigt (Abb. 4: BF 01:28:19). Kurz, aus kollektiver mimicry ist solitäre alea, aus dem strategischen Nachahmungsspiel ein reines Hasardspiel geworden .22 Dementsprechend tritt die minutiös getaktete Zeit des Coups hinter der unmerklich fließenden Zeit des Hasardspiels zurück. Hatte Bob bei der Probe noch andauernd auf die Uhr geschaut, so nimmt er nun anscheinend kaum mehr wahr, dass er sich nach seiner Ankunft um halb zwei Uhr nachts eine gute Stunde im Hauptsaal des Kasinos und dann mehr als zwei Stunden beim Chemin de Fer, einer Variante des Baccara, in der »salle privée« aufhält. Denn die Zeitangaben gehen auf das Konto des Off-Kommentators, der von Bob den Part des peniblen Zeitmessers übernommen hat. In dieser Rolle kann er auch bald

21 Zum Glücksspiel in Hustons Einbrecherfilm, dem die Gangster wegen diverser »blind accidents« bei ihrem Coup nicht wirklich entrinnen, vgl. Böhringer 1998, 75-79. 22 Zur Unterscheidung dieser Spielkategorien siehe Caillois 1991, 45-91.

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konstatieren, dass der an allen Spieltischen vom Glück verfolgte Protagonist den Grund seines Besuchs längst vergessen hat: »La chance, sa vieille maîtresse, lui fit oublier la raison pour laquelle il était là« (BF 01:38:08). So versäumt es ausgerechnet der Anführer der Bande, zur verabredeten Zeit von fünf Uhr morgens im Foyer zu erscheinen. Als er mit knapper Verspätung eintrifft, hat die Polizei seine Komplizen bereits überwältigt.

(Abb. 4: Das Spielgerät)

Schon vorher aber hat er am Baccaratisch die Bank gesprengt, mithin die der Gang entgangene Beute auf ganz legalem Wege erlangt. Als Ledru ihm mit den Worten »Tʼas gagné« die Handschellen anlegt, läuft seine sarkastische Belehrung ins Leere, weil er damit nichtsahnend ins Schwarze trifft: »Tu ne crois pas si bien dire«, erwidert Bob mit Blick auf die Drehtür des Kasinos, aus der zwei livrierte Diener mit seinem Spielgewinn treten (BF 01:40:45). Und auch in der letzten Sequenz wird angedeutet, dass der Protagonist nicht wie die meisten Filmgangster als tragischer Verlierer 23, sondern vielmehr als Gewinner aus dem Coup hervorgehen wird. Während Maxʼ Goldbarren am Ende von Grisbi im Kofferraum eines Gangsterautos vernichtet werden, werden Bobs Banknoten sicher im Fond des Streifenwagens

23 Zu diesem genretypischen Ende siehe die klassische Studie von Warshow 1969.

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verstaut, wo man schon auf der Heimfahrt darüber berät, wie er mit einem Staranwalt einer Haftstrafe entgehen kann. Nur im Hinblick auf den toten Paulo stellt sich der Film demnach als eine »Studie scheiternder Sorge« dar.24 Für Bob hingegen wird durchaus weiter gesorgt, vor allem aber sorgt er erfolgreich für sich selbst – und allem Anschein nach auch weiter für Anne, die nach ihren flüchtigen Affären mit Paulo und Marc in seiner Wohnung auf ihn wartet. Die letzte Einstellung, die sein Cabrio im Morgenrot am Atlantikstrand zeigt, stellt jedenfalls weitere gemeinsame Ausfahrten in Aussicht. Die dem Ausgang vieler Gangsterfilme ablesbare Moral, Verbrechen rechne sich nicht, scheint im Hinblick auf diesen Helden ganz ohne Belang.25 Sie wird allenfalls insofern bestätigt, als er in der Rolle nicht des truand, sondern des flambeur sein Auskommen findet. Er kassiert als Spieler, und zwar nicht als im Grunde geläuterter Spieler wie der Held von Any Number Can Play, der nur aus Pflichtgefühl nochmals an den Spieltisch zurückkehrt, sondern als echter, von seiner Leidenschaft mitgerissener Hasardeur. Erst diese Leidenschaft, die Bereitschaft, auch hohe Gewinne wieder aufs Spiel zu setzen, verleiht ihm im Kasino eine aristokratische Aura, die seinem in Montmartre errungenen Gangsternimbus noch überstrahlt. Wenn truands in der Regel mit lakonischen Gesten gottgleich über Leben und Tod verfügen 26, dann verfügt »Bob le flambeur« mit ähnlichen Gesten über das Glück. Entsprechend rasch wächst sein Prestige am Spieltisch, obwohl dort niemand von seiner glorreichen Vergangenheit weiß. Er beeindruckt nicht bloß das Personal, das er dreimal lakonisch mit einem generösen Trinkgeld bedenkt; er schlägt auch fremde Mitspieler in seinen Bann, die sein hohes Spiel entweder ungläubig verfolgen oder durch Paralleleinsätze daran teilhaben wollen. Dabei lässt sein perfektes Pokerface nie vergessen, dass er sein Glück allein seiner Passion, nicht etwa dem Bluff oder anderen Tricks verdankt. Auch nachdem er sich schon vom Baccaratisch erhoben und ihn mit allen Signalen des Aufbruchs umrundet hat, nimmt er abermals Platz, um ein letztes Spiel zu riskieren. Insofern entspricht er dem Typus des ›echten Spielers‹, der spätestens seit der Romantik hohes literarisches Prestige genießt .27 Allerdings wird seine Spielleidenschaft weniger im

24 25 26 27

Vgl. Mahler in diesem Band S. 54 Vgl. die Kritik zu Bob le flambeur von Patalas 1958. Vgl. Barthes 1982. Vgl. hierzu Nitsch 2009.

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melodramatischen als vielmehr im komischen Modus vor Augen geführt. Dies zeigt sich schon beim Spiel am Privatautomaten, vor dem er beim Einparken sicher nicht zufällig einem Amilcar begegnet, dem klapprigen Wagen des Protagonisten von Tatis zeitgenössischer Komödie Les vacances de M. Hulot (1954). Besonders jedoch am Ende des Films tritt die Komik seiner Passion hervor. Als man Bob bei seiner Festnahme die Münze abnimmt, die er in Entscheidungssituationen zu werfen pflegt, entdeckt man ihr gezinktes Gepräge: Statt Kopf oder Zahl, pile ou face, zeigt sie auf Vorder- wie Rückseite zweimal face, garantiert mithin immer das gleiche Ergebnis. Zugleich aber bekennt Roger, dass er davon immer schon wusste, und Bob, dass er darüber seinerseits im Bilde war: »Il y a dix piges que je sais qu’elle est à double face. – Et moi il y a dix ans que je sais que tu le sais« (BF 01:40:27). So gibt sich der echte Spieler am Ende augenzwinkernd als Falschspieler, der nie einer war. Von dieser Pointe her wird verständlich, warum Melville sich in Gesprächen über Bob le flambeur gerne auf Sacha Guitrys Spielerfilm Le roman d’un tricheur beruft; denn dessen Held, seines Zeichens Croupier in Monte Carlo, konvertiert schließlich vom Falschspiel zum leidenschaftlichen Spiel und verzichtet ohne jede Zerknirschung, nur »par amour du jeu« auf weitere Versuche, den Spielverlauf im Kasino zu manipulieren .28 Diese Handlungsmaxime gilt für Melvilles alternden truand nicht minder als für Guitrys gereiften tricheur. Wenn er im Kasino vorübergehend gegen den alten Gangsterkodex verstößt, geschieht dies nicht aus eiskaltem Kalkül wie bei den Verrätern des Coups, sondern allein aus Liebe zum Spiel.

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28 Vgl. Guitry 1981, 150, die Romanvorlage zu dem 1936 gestarteten Film; zu Melvilles Orientierung an Guitry siehe Nogueira 1996, 75.

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Zwischenräume Topographien des Verbrechers im französischen Gangsterfilm M ARIA I MHOF

Schauplätze des Verbrechens sind eine filmwirksame Sache. Ob es sich um die Perspektive des Kripobeamten oder die des Verbrechers selbst handelt – der Ort, an dem ein Mord oder ein Raub verübt wird, wird im Film spezifisch behandelt, in besonderer Weise ausgestaltet und sorgfältig in Szene gesetzt. Orte des Verbrechens sind auf den ersten Blick konkret, und auch leicht zu ›orten‹: Es sind Casinos, Banken oder Juweliergeschäfte – sie sind funktional und durch die Anwesenheit von Geld charakterisiert; die Besitzer oder Betreiber bleiben im Film häufig anonym oder austauschbar. Die Orte wiederum, an denen sich derjenige bewegt, der die Verbrechen begeht, die Orte des Verbrechers, sind oftmals schwerer auszumachen; sie sind beinahe so ungreifbar wie der Gangster selbst. In vielen Filmen bleiben sie abstrakt, da der Gangster sie durch keine zu deutlichen Spuren markieren darf, will er nicht ›auffliegen‹; und so bekommt weder der Polizist noch der Zuschauer eine rechte Vorstellung von ihnen. Eine Eigenart des französischen Gangsterfilms, insbesondere der Nachkriegszeit, scheint es zu sein, die Unbestimmtheit der Rückzugsräume auf die Orte des Verbrechens selbst zu übertragen. So möchte ich, ausgehend von der dichotomischen Raumstruktur des Gangsterfilms, die sich zunächst einfach in Aktions- und Rückzugsräume des Gangsters unterteilen lässt, die obskuren Räume des Verbrechers und seiner Verbrechen im französischen

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Gangsterfilm als ›vage Räume‹ beschreiben: Sie werden durch die in ihnen vollzogenen Praktiken des Gangsters als ›glatte Räume‹ erzeugt oder simuliert, indem er sich in räumliche wie zeitliche Intervalle einschreibt, die als weiße Flecken das Stadtskript mitbestimmen – indem er sich also genau die Einkerbungen im Stadtraum zu Nutze macht, um seine Aktionen zu koordinieren.1 Gangsterfilme, so scheint mir, entschlüsseln das Raumskript der Stadt und suchen nach Leerstellen im städtischen Plan: Der Gangster benutzt diese räumlichen und zeitlichen Strukturen, an welche die Stadt sich nicht (mehr) erinnert, für subversive Praktiken in ihnen und Anschläge gegen sie. Der Raum des Verbrechers scheint so eine dynamische Konstellation aus ausradierbaren Punkten zu sein, die ihn als einen unsichtbaren Raum charakterisieren oder aber als einen, der durch spezifische Aktionen in ihm jederzeit zum Verschwinden gebracht werden kann.2 Dabei entwikkelt er eine ihm eigene Ästhetik des Ephemeren und verweist gleichzeitig auf die Entwicklung der Gesellschaft hin zu einer anonymisierten Funktionalität, die gerade durch ihre durchorganisierte Struktur ihre eigenen subversiven Elemente hervorbringt.3 Der Gangsterfilm entwirft die Stadt als zunehmend von Strukturen geprägt, die ihre Funktionalität sichern sollen, aber zum Einfallstor für Zweckentfremdung und Missbrauch durch den Gangster werden, der sich bis zur Unsichtbarkeit in sie einschreibt, um sei-

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Zu glatten und gekerbten Räumen siehe Deleuze / Guattari 1992, 658-694. Zu den raumerzeugenden Praktiken vgl. Michel de Certeau 1988, der die Raumpraktiken als konstitutiv für die Raumbildung und -wahrnehmung darstellt. Während Certeau sich für den parcours interessiert, um die Raumerfahrung zu beschreiben, haben Deleuze und Guattari darauf hingewiesen, dass Situationen zu Handlungen führen und umgekehrt, und dass der Raum durch Handlungen oder Wegpunkte eingekerbt wird. Auf dieser Grundlage kann man die Räume im Gangsterfilm beschreiben als solche, die durch Bewegungen und Handlungen als glatte Räume simuliert werden, aber eigentlich Einkerbungen aufweisen. Die Idee eines nicht a priori existenten Raumes skizziert, mit Heidegger und Kant, Doetsch 2004; den Begriff ›Raumskript‹ verwenden auch Dünne/Nitsch 2014. Die Idee des Ortes als ›momentane Konstellation von festen Punkten‹ findet sich auch bei Certeau 1988, 345, der davon ausgeht, dass »der Raum ein Ort [ist], mit dem man etwas macht«. Ich möchte hier aber den Raum des Gangsters als spezifischen Zwischenraum ausweisen, der sich subversiv in bestehende Ordnungen einschreibt und somit transformativ ist. Den französischen Gangsterfilm in Hinblick auf die Entwicklung zu einer abstrakten Gesellschaft hin analysiert Andreas Mahler in diesem Band.

ZWISCHENRÄUME | 173

ne Raubzüge durchzuführen. So generiert die Gesellschaft aus sich selbst heraus den modernen Gangster.

1. D ER R AUM

DES

G ANGSTERS

Um die flüchtige Konzeption der Gangsterräume zu beschreiben, bieten sich traditionell verschiedene Raumbegriffe an. Einige der Räume im Gangsterfilm lassen sich als Heterotopien fassen, als Räume mithin, die eigene Gesetze und Ordnungen innerhalb eines anderen etablierten Ordnungssystems aufweisen.4 Die Heterotopie steht der Gegenkultur und Gegenwelt des Gangstermilieus nahe, da sie die Defizite des Systems, dem sie als Gegenraum zugehört, spiegelt oder kompensiert. So weist der Rückzugsraum des Gangsters in Pépé le Moko, die Kasbah von Algier, als abgeschlossene Stadt in der Stadt eigene Gesetze und Grenzen auf und weiht Außenstehende trotz ihrer fast durchgängigen Beschriftung durch Straßenschilder nicht in ihre Funktionsweise ein, ebensowenig wie die Ordnungshüter des ›Draußen‹ in ihr über Handlungsmacht verfügen. Der Heterotopie nicht unähnlich, aber durch die Zufälligkeit und quasi ›Planwidrigkeit‹ seiner Entstehung und Existenz entgegengesetzt, ist das terrain vague.5 Vor allem das Transitorische und Poröse des terrain vague, das einen Gegensatz zur durchorganisierten und lückenlos beschilderten Stadt bildet, steht dem Raum nahe, den der Gangster durch seine Aktionen erzeugt und in denen er sich bewegt. Das terrain vague, das jederzeit zum Verschwinden gebracht werden kann, indem die Stadt beschließt, eine Siedlung zu bauen, zeigt ähnliche Voraussetzungen wie die flüchtigen Räume, die der Gangster selbst erzeugt. So ist es auch in vielen Gangsterfilmen als Spielort präsent, ob zur ›Entsorgung‹ einer Leiche oder zu anderen Zwecken; der unbeschriebene und ungenutzte städtische Zwischenraum eignet sich besonders gut zur Zweckentfremdung bzw. Umschreibung, da er per se eine Leerstelle im kartographierten städtischen Raumplan darstellt. Insofern kommt er der Suche des Gangsters nach Zwischenräumen entgegen und lädt dazu ein, als

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Zur Heterotopie vgl. Foucault 2005. Zum Begriff des terrain vague vgl. Nitsch 2013 (in gekürzter Form auch in Merkur 758 [2012], 638-644, hier S. 639 f.).

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alternativer Stadtplan in eigener Weise beschrieben zu werden.6 Das terrain vague ist zusätzlich ein ästhetischer und medienreflexiver Ort. Durch seine Leere und Unstrukturiertheit ähnelt es der Leinwand und ist wie diese mit Figuren und Aktionen zu füllen. Heterotopien und terrains vagues lassen sich unter den Begriff des ›Zwischenraumes‹ fassen, den ich hier als räumliches Äquivalent zum eher zeitlich geprägten Intervall-Begriff etablieren möchte.7 Der Zwischenraum ist in gewisser Weise das, was zwei distinkte Räume voneinander trennt. Es gibt keine Trennung von Räumen ohne das Dazwischen.8 Im Film wird dieses ›Dazwischen‹ zu einer wahrnehmbaren Größe und findet materiellen Ausdruck in Gegenräumen, städtischen Lükken und Infrastrukturen, die durch den Gangster zu glatten Räumen gemacht werden. Der Zwischenraum beschreibt Rückzugs- und Aktionsräume des Gangsters je nach den Aktionen, die in ihm vollzogen werden. In der Betrachtung verschiedener Entstehungszeiten von Gangsterfilmen scheint es eine Entwicklung hin zur Verschmelzung der Räume zu geben; der Vorkriegsgangsterfilm trennt tendenziell den Raum des Gangsters von dem der bürgerlichen Ordnung; der Nachkriegsgangsterfilm hingegen lässt die Grenzen der Räume verschwimmen, und der Gangster schreibt sich in die Stadtordnung selbst ein. Im neueren französischen Actionfilm, der seit den

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Das terrain vague als Möglichkeitsraum beschreibt, mit Bezug auf Vasset 2007, Nitsch 2013, 4. Das Filmische dieses Möglichkeitsraumes müsste zusätzlich noch betont werden, da der leere Raum der Leinwand ähnelt und sich eignet, durch Überblendung mit Leben gefüllt und quasi als Ergebnis einer ›frei umherschweifenden Imagination‹ verwandelt zu werden, so um Rückblenden einzuleiten oder die Fiktion einer Szene an sich zu betonen; vgl. z.B. die Eingangssequenzen aus Joel Schumachers Phantom of the Opera (2004) oder Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Café (1991). Der Gangsterfilm scheint dies aber seltener zu nützen als andere Genres; er setzt die Umschreibung nicht filmisch um und schreibt ihr somit eine gewisse Dauer und Materialität ein, sondern lässt sie im vagen und transitorischen Schwebezustand der imaginären Umwidmung verharren. Zur Bedeutung des Zwischenraums vgl. Bexte 2007. Bexte 2007, S. 221, der auch darauf hinweist, dass Michel Serres’ Gedanken zum Raum sich immer auf den Zwischenraum beziehen, was sich auch in seinem Interesse für Figuren des Übergangs niederschlägt: die Brücke, den Engel, den Parasiten oder den Götterboten Hermes. Diese Figuren verweisen auch auf die Bewegungen und Handlungen im Raum, die ich in Verbindung bringen will mit dem Konzept des Zwischenraums. Dahingehend ähnelt der Begriff des Zwischenraums demjenigen, den Luce Irigaray etabliert, die den Zwischenraum im Rahmen ihrer Gedanken zur sexuellen Differenz entwirft, auch wenn er hier anders gewendet werden soll; vgl. Irigaray 2006.

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1980ern den Gangsterfilm abzulösen scheint, etablieren sich wieder getrennte Räume und Grenzen, wenn sie auch vom ursprünglichen Modell Unterwelt – bürgerliche Welt signifikant abweichen. Banlieue 13 (2004, dir. Morel) beispielsweise zeigt eine durch eine Mauer abgeschlossene Welt, einen Vorort von Paris, der sich unkontrolliert zu einer Hochburg des Verbrechens entwickelt hat und daher durch die Regierung von dem normalen Lebensraum abgetrennt wurde – eine Heterotopie, die filmisch als ein Ort entworfen wird, in den unkontrolliert nur kleine Nager eintreten können, indem sie sich durch Mauerritzen zwängen, oder aber die beiden Protagonisten, als sie die am Eingang postierte Straßensperre durchfahren. Die Bedrohung, die von dieser Gegenwelt aus angeblich gegen Paris gerichtet ist, entpuppt sich am Ende als bloße Behauptung, als Versuch der Regierung, das abgeschlossene Ghetto selbst durch eine Explosion zu vernichten. Die Bösen sitzen hauptsächlich außerhalb der Mauer, und die athletischleichtfüßigen Parkourläufe der Schauspieler David Belle und Cyril Raffaelli erinnern eher an Mantel- und Degen-Choreographien (etwa Duccio Tessaris Zorro von 1975 mit Alain Delon oder Robert Siodmaks The Crimson Pirate von 1952 mit Burt Lancaster) als an den Gangsterfilm; deren Protagonisten entkommen ähnlich elegant einer umfangreichen Schar nicht eben geistreich agierender Verfolger.

2. Z WISCHENRÄUME

NUTZEN

Zwei Filmreihen von Louis Feuillade prägen den frühen französischen Gangsterfilm: Fantômas (1913) und Les Vampires (1915/16), die beide eine unterschiedliche Perspektive auf die Welt der Verbrecher werfen. Während Fantômas weitgehend die Perspektive des Verwandlungskünstlers Fantômas und seiner Verbrechen einnimmt, wählt Feuillade in Les Vampires hauptsächlich den recherchierenden rechtschaffenen Journalisten Guérande als Protagonisten.9 Diese Perspektiventrennung wird auch in den folgenden Jahrzehnten an Gewicht behalten, den Gangster- vom Ermittlerfilm unterscheiden, zu Besetzungsexperimenten wie in Le Samouraï und Un flic (Jean Pierre Melville, 1968/1975) oder Flic story (1975, Jacques Deray) führen – mit Alain Delon einmal in der Rolle des Profikillers und

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Zu Les Vampires vgl. Lascault 2008.

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einmal in der Rolle des Polizisten –, aber auch immer öfter die Nähe von Gangster und Ermittler fokussieren, die bis zur Ununterscheidbarkeit gehen kann.10 Im Gangsterfilmsequel Fantômas bleibt der Gangster ungestraft und wird für seine meisterhafte Kunstfertigkeit geliebt und bewundert; in Les Vampires hingegen finden alle Angehörigen der Verbrecherbande am Ende den gerechten Tod. Trotz der unterschiedlichen Gewichtung der Perspektive ist in diesen frühen Beispielen noch eine gemeinsame Behandlung der Räume des Verbrechens festzustellen: Das Verbrechen kommt in beiden Fällen aus einem unheimlichen Zwischenraum, der vage bleibt, und schlägt in der gesicherten und kartographierten Stadt zu.11 Deren Ordnung wird durch das Verbrechen bedroht und empfindlich gestört, etabliert sich aber wieder ohne die Figur des Verbrechers. Feuillades Filme invertieren den typischen Oben-Unten-Gegensatz, der in den Großstadtromanen des 19. Jahrhunderts entworfen wird, auch wenn sich der Begriff des ›Untergrunds‹ erhält und auch in den 1960er Jahren noch Verwendung im Gangsterfilm findet (etwa in Mélodie en sous-sol).12 Dem Bild des Kriminellen als Ratte in Kanälen, die die bürgerliche Ordnung untergräbt, stellen die Filme den Gangster als einen Bewohner der ›Oberwelt‹ oder ›Alternativwelt‹ gegenüber: Die Vampire kommen exzessiv über die Dächer in die Häuser; Fantômas nützt wie die Vampire urbane Randzonen als Aufenthaltsort, ohne einen wirklich privaten Raum zu besitzen, in der der Film ihn zeigen würde, ganz im Gegensatz zum Nachkriegsgangster, der meist – an den amerikanischen films noirs und Gangsterfilmen geschult – eine Wohnung besitzt, in deren Keller oder auch Wohnzimmer er den Coup plant. Lediglich die Wohnung seiner Geliebten ist ein Ort, der ihn in einem privaten Rahmen erscheinen lässt; allerdings ist er dort auch eher als Liebhaber zu sehen und weist nur eine geringe Verbindung mit seiner Existenz als

10 FBI-Filme entstehen ab den 1930er Jahren; zu Melvilles Zusammenarbeit mit Alain Delon vgl. Vincendeau 2003, 175-216; sowie Melvilles Kommentare zu seinen Filmen in Nogueira 2002, 161-178, 195-218, 219-230. Zur Nähe der Gangster- und Polizistenfiguren, auch und gerade in Un flic und Le samouraï, vgl. Andreas Mahler in diesem Band. 11 Zu den Räumen in Les Vampires, den Auf- und Abbewegungen und der Inszenierung von Paris als heimgesuchter Stadt, vgl. Lascault 2008, 10 f., 62 f. und 76. 12 Zum amerikanischen Gangsterfilm, der die Orte der ›Underworld‹ aufnimmt und inszeniert vgl. den Beitrag von Susanne Dürr in diesem Band.

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stadtgesuchter Gangster auf. Die Vampire bewegen sich lediglich in wenig spezifischen Orten wie einem Cabaret und einer Villa in den banlieues, wo sie ganz am Ende der Serie eine orgiastische Hochzeit zwischen Irma Vep und dem neuen Grand Vampire Satanas feiern.

(Abb. 1-2: Fantômas 00:21:15 / 00:24:03)

Fantômas wird dezidiert als Fremdkörper in die Stadt importiert: Feuillades Film zeigt ihn öfters im Zug, in dem er als Richter verkleidet aus dem unbestimmten Vorstadtraum in die Stadt hineinfährt oder im Gepäckraum als blinder Passagier reist, um an einem bestimmten Ort vor der Einfahrt in den Bahnhof abzuspringen (Abb. 1-2). Die Vampire und Fantômas umgibt in ihrem Auftauchen und Verschwinden etwas Mystisch-Magisches, das seine Herkunft vom Theater mit seinen Falltüren und den frühen Filmen von Méliès nicht verleugnen kann und will. Fantômas ist ein Meister der Verkleidung, die Vampire tragen schwarze eng anliegende Einteiler oder nehmen andere Identitäten an (Dr. Nox, Irma Vep als Hausmädchen), sie kommen aus Kaminen oder durch Geheimtüren hinter Uhren und Bildern in die Zimmer der Opfer und wählen den Weg über die Dächer, um filmwirksam zwischen Schornsteinen im Rauch und dumpfen Licht zu verschwinden.13 Der Kamera erschließen sich diese Zugangswege ebensowenig wie diejenigen von Fantômas; in den Vampires erscheinen nur mysteriöse dunkle Öffnungen, hinter denen das Verbrechen lauert, Dächer, über die die anderen Figuren ihnen nicht folgen. Der strikten Trennung der Räume zwischen bürgerlicher kartographierter Stadt und vager Halbwelt im Unter-, bzw. ›Ober‹grund und hinter Wänden entspricht die Gut-Böse-Dichotomie der Filme: Irma Vep (ein Anagramm für Vampire) dient als Quintessenz des Bösen und der Vampire, Philippe Guérmande und sein treudoofer Be-

13 Vgl. Lascault 2008, 62-64.

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gleiter Mazamette als Vertreter der bürgerlichen Ordnung. Über die Motivation für das Verbrechen erfährt man nicht viel; es scheint vom Gelderwerb bis zur Rache zu gehen und daher nicht dem später im USamerikanischen Gangsterfilm entworfenen Modell des Aufsteigerfilms nahezustehen. Der frühe französische Gangster gehört nicht zur Gesellschaft, sondern bewegt sich in einem völlig anderen Raum. Er bedient sich ihrer nur, um an etwas zu kommen, was er sich gerade unverbindlich wünscht, und er ist – ein Erbe des 19. Jahrhunderts – böse um des Bösen willen. Die Orte des Verbrechers in den frühen Filmen Feuillades bleiben so in einem derart vagen Zwischenraum angesiedelt, dass sie gar nicht zur Darstellung kommen, sie bilden tatsächlich weiße Flecken im Stadtskript, die in späteren Filmen als terrains vagues oder Heterotopien ästhetisch zur Geltung gebracht werden. In anderer Weise trennt Pépé le Moko (dir. Julien Duvivier, 1937) die Aktions- und Rückzugsräume des Gangsters: dessen gleichnamiger Protagonist hat sich aus Paris in die ehemalige Festung der Stadt Algier zurückgezogen und befindet sich gleichsam im Ruhestand. Die Perspektive des Films ist die des Gangsters, der die Ordnung der bürgerlichen Stadt nicht mehr bedroht, sondern zu einem Gefangenen seines eigenen Rückzugsraums geworden ist. Die Kasbah ist ein Gegenraum zum organisierten, kartographierten Raum der Ordnungshüter, die hinter Pépé her sind. So lange er die Kasbah nicht verlässt, ist er nicht zu fassen; er muss herausgelockt werden, um greifbar zu werden. Die Kasbah wird im Film als aufsichtiger Stadtplan eingeführt, der in einem Polizeibüro hängt und keine Straßenbeschriftungen aufweist. Beim Eintritt der Kamera in die verwinkelten Gassen verliert der Zuschauer schnell die Übersicht.14 Die Kasbah ist nur scheinbar ein kartographierter Raum, ihre eigentliche Ordnung kann nur der eingeweihte Kenner dechiffrieren15; sie ist kein zufällig entstandener, sondern ein bewusst entworfener eigener Raum mit eigenen Grenzen, eine Heterotopie im Foucaultschen Sinne, ein Zwischen- oder Alternativraum in der Stadt Algier. Darüber hinaus ist sie in Pépé le Moko ein filmisch-

14 Zur Funktion der Stadtpläne im Gangsterfilm vgl. Dünne 2009; zur Nähe der Inszenierung der Kasbah und anderer Gangsterhochburgen wie Montmartre vgl. Vincendeau 1998, 46-49. 15 Ibid., 11-15.

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künstlicher Raum, da nicht vor Ort in Algier, sondern an einem Set gedreht wurde.16 Pépé selbst ist gewissermaßen eine filmische Gegenfigur von Fantômas; er ist im Außenraum, im Rückzugsraum des Gangsters gefangen und greift in die Ordnungsstrukturen der Stadt nicht mehr durch seine Verbrechen ein. Er kann sich nur in der Kasbah frei bewegen und lediglich in imaginären Stadtspaziergängen mit Gaby von einer Rückkehr nach Paris träumen, die sich nicht realisieren lässt. Der kartographierte Stadtraum ist in Pépé le Moko kein Lebensraum für den Gangster, dieser kann – und das verbindet ihn wieder mit Fantômas – nur in dem vagen Durcheinander der engen Gassen überleben. Der geschützte Rückzugsraum mag zum Gefängnis geworden sein, das Überschreiten der Grenze nach draußen aber endet umgehend mit dem Tod des Protagonisten.17

3. Z WISCHENRÄUME

SCHAFFEN

Der Nachkriegsfilm, am amerikanischen Gangsterfilm und film noir orientiert, eröffnet eine neue Sicht auf den Raum des Gangsters: Der Gangster wird zunehmend Teil der Stadt und bewegt sich in den ihr zugehörigen Räumen und Rhythmen, die er durch seine Aktionen in ihrer Bedeutung und Funktion umwidmet. Der Nachkriegsfilm zeigt noch mehr als lediglich eine Durchdringung der Räume, die vor dem Krieg tendenziell getrennt bleiben. Er etabliert den Zwischenraum als zentrales Moment in der Handlung. Dieser ist räumlich wie zeitlich zu fassen. Der Zwischen-Raum des terrain vague ist in Bob le flambeur (dir. Jean-Pierre Melville, 1956) und Le doulos (dir. Jean-Pierre Melville, 1962) ein zentraler Ort des Geschehens. Die Heterotopien treten in Mélodie en sous-sol (1963) an die Stelle der terrains vagues, die dort vernichtet werden, das zeitliche Intervall ist es in Rififi (dir. Jules Dassin, 1955). Rififi entwirft einen Einbruch, der sich in die Zeitstruktur der Stadt einschreibt, der also im Stadtskript nicht nur die Leerstellen entschlüsselt, sondern sich die Infrastrukturen selbst zu Nutze macht: Der Gangster in Rififi

16 Ibid., 14 f. 17 Zur Semantisierung von Räumen im künstlerischen Text und der Bedeutung der Grenze siehe Lotman 1989.

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entschlüsselt nicht nur das Raum-, sondern auch das Zeitskript der Stadt, orientiert seinen Einbruch durch die Decke des Juwelierladens zeitlich streng an den Intervallen zwischen den Anlieferungen und den Aktivitäten der umliegenden Geschäfte, die unbewusst durch ihre Präzision zum Gelingen des Coups beitragen. Ohne diese Struktur gäbe es die präzise strukturierte Arbeitsweise der Gruppe um Tony nicht, denn sie zeigt ihnen genauer noch als die Uhr den Puls der Stadt und deren Ordnungshüter an. Die zeitlichen Zwischenräume der Anlieferungen und Rundgänge decken die Aktivitäten der Gangster und machen sie unhör- und unsichtbar. So ist es schließlich die Berechenbarkeit der durchorganisierten Stadt, die dem Gangster die Möglichkeit eröffnet, seine Perfektion unter Beweis zu stellen und ihre Schätze aus ihren undurchdringlichen Eingeweiden zu stehlen. Die Stadt selbst bringt nicht nur den Gangster als Figur hervor, sondern auch seine Arbeitsweise. Den strukturierenden zeitlichen Intervallen in Rififi stehen die räumlichen Leerstellen des terrain vague nahe. Auch sie erlauben es, sich in die Struktur der Stadt einzuschreiben, ohne sichtbar zu werden. Tatsächlich verfahren Jean-Pierre Melvilles Filme ähnlich mit dem terrain vague wie Dassins Rififi mit der Zeitstruktur. In Bob le flambeur dient das terrain vague in der Nachbarschaft eines Flughafens der Gruppe um Bob zur Probe des Raubes im Casino von Deauville. Dabei wird ein Spielfeld auf den Boden gezeichnet, das, ähnlich einem Sportplatz oder einem Fußballfeld, zur spielerischen Inszenierung des Überfalls dient; die Mitspieler verteilen sich auf die ihnen zugewiesenen Positionen und laufen auf ein Stichwort hin auf ihre nächste Position.18 Die Einschreibung von imaginärer Räumlichkeit in die unbeschriebene städtische Leerstelle verändert in zweierlei Hinsicht den Charakter des terrain vague. Einerseits wird die Leerstelle zweckentfremdet und in Dienst genommen als Pseudo-Casino, andererseits zeigt sich hier auch die Doppelbesetzung des Zwischenraums als krimineller Übungsplatz und als unverbindlicher Spielraum.19 Es ist diese spielerische Indienstnah-

18 Möglicherweise ist Melville auch hier vom amerikanischen Film inspiriert; der Drehbuchentwurf zu Bob le flambeur stammt von 1950; The Street With No Name (dir. William Keighley, 1948) zeigt die Gangstergruppe als eine organisierte Truppe, die in der Privatwohnung des Chefs den Überfall auf ein Kasino verbal probt, indem sie ihn mit verteilten Rollen durchspricht, ähnlich wie Bob le flambeur dies einige Jahre später aufnimmt, als die Gangster auf einem Spielfeld im Freien den Überfall auf das Casino proben. 19 Vgl. dazu Wolfram Nitsch im vorliegenden Band.

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me, die den Zwischenraum als einen konkret-abstrakten konstituiert, einen Ort, der vage und präzise gleichzeitig ist. Der Film hätte die Möglichkeit, durch eine Überblendung des terrain vague mit dem Ort des Raubes auch visuell die Transformation der Leerstelle darzustellen, den Übungsplatz also in den realen Schauplatz zu verwandeln und die Imagination bildliche Realität werden lassen.20 Aber Melville geht es offensichtlich um das Transitorische des Übungsplatzes21; er wird aufgesucht, aber nicht verwandelt, weil keine Spuren zurückgelassen werden sollen. Durch seine Aktionen in dem unbeschriebenen Raum erschafft Bob im städtischen Ensemble einen Zwischenraum, einen nur ihm und seiner Truppe sichtbaren Ort, der jederzeit wieder ausradiert werden kann und insgesamt auch bei Entdeckung keinerlei Hinweise auf den Ort oder die Absicht des Überfalls gibt. Diese Inszenierung des Raums als Effekt eines performativen Prozesses verweist auch ohne Überblendungstechniken auf die beliebige Besetzbarkeit von filmischen Räumen und Sets ebenso wie auf die Eigenschaften des medialen Raumes. Dieser ergibt sich aus bedeutungsvollen Relationen von Körpern, Artefakten und Bewegung, besitzt aber immer auch eine semiotische Dimension durch sein Eingebundensein in einen sozialen Kontext.22 Er ist konstruiert und erzeugt in Verbindung mit anderen konstruierten Räumen eine eigene Topographie der Stadt. Auch in seinem sechs Jahre später erschienenen Film Le Doulos inszeniert Melville den Zwischenraum als einen abstrakt-konkreten, der durch die Indienstnahme durch den Gangster sichtbar und unsichtbar zugleich erscheint. Le Doulos folgt in der Eingangssequenz einem Mann im Trenchcoat durch eine unwirtliche abstrakte und menschenleere Stadtlandschaft, dezidiert weg von Montmartre und seinem Wahrzeichen Sacré-Cœur, einem Viertel, das in Bob le flambeur noch den Hauptort der Handlung darstellte, den sein Protagonist auch so gut wie nie verlassen hatte.23 Während Bob sich ein terrain vague suchen musste, um unerkannt den Überfall auf

20 Überblendet wird in Mélodie en sous-sol die vom Gangster gezeichnete Landkarte mit dem Filmbild; der alternative Stadtplan wird dort zum Leben erweckt. 21 Insgesamt legt der Film mehr Wert auf die Vorbereitung des Überfalls als auf die eigentliche Aktion selbst, vgl. den Beitrag von Wolfram Nitsch in diesem Band. 22 Vgl. Böttcher 2014, 9-11. 23 Vgl. Nitsch 2013, 1, und Vincendeau 2003, 145 f. Melville hat sich in Le Doulos absichtlich von der konkreten Umgebung der Gangsterhochburg Montmartre entfernt.

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(Abb. 3: Le Doulos 00:03:26)

das Casino zu proben, scheint die Handlung von Le Doulos hauptsächlich an einem derartigen Ort zu spielen. Melville nutzt das Transitorische des Übergangsraumes auch zur Einstimmung des Zuschauers auf die Unbestimmtheit und Undurchsichtigkeit der Motive und Handlungen der Figuren, die sich in ihm bewegen (Abb. 3). Der Zuschauer ist nicht darauf vorbereitet, dass Faugel den Hehler Gilbert aufgrund einer alten Rechnung erschießen wird, obwohl er sich gerade noch freundschaftlich mit ihm unterhalten hat.24 Der Hehler bewohnt ein dem terrain vague in der Nähe eines Umschlagbahnhofes angelagertes, einer städtischen Säuberung offensichtlich entgangenes zusammenfallendes Gebäude, das er für seine Geschäfte benützt.25 Seine Existenz ist nur Eingeweihten bekannt, sein Wohnort so unsichtbar wie vor aller Augen. Dieser Rückzugsraum des Hehlers, selbst von der Vernichtung bedroht, wird nun zum finsteren Schauplatz des Mordes an Gilbert.26 Faugel nimmt den Schmuck des Hehlers an sich und vergräbt ihn bei einer einsamen Straßenlaterne, die offensichtlich von einer früheren

24 Anders als in der Romanvorlage weiht Melville den Zuschauer nicht in die Gedanken der Figur ein, vgl. zu diesen Unterschieden auch Vincendeau 2003, 147. 25 Auf die Inszenierung des abstrakten urbanen Brachlands in Le Doulos und den damit verbundenen Verweis auf die Tradition des film noir weist hin Vincendeau 2003, 142-153, hier v.a. S. 145-147 und S. 153. 26 Vgl. in Bezug auf die Darstellung des terrain vague in der Literatur des 19. Jahrhunderts Nitsch 2013, 11-13.

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Bebauung der Fläche übriggeblieben ist (Abb. 4). Später wird er eine Karte des Ortes zeichnen, die die Stelle markiert und das terrain vague als Tresor sichtbar macht, der den Schmuck in sich beherbergt. Diese Kartierung macht den vagen Zwischenraum verfügbar und den Tresor zugänglich, eventuell auch einem Unbefugten und Unerwünschten. Denn als eine Gestalt mit Hut den Schmuck schließlich ausgräbt, vermutet der Zuschauer bereits, dass dies nicht Jean ist, dem allein die Karte verfügbar gemacht werden sollte. Das ausgedehnte terrain vague in Le Doulos wird mit ästhetischer Kraft aufgeladen und aus seiner Zweckfreiheit herausgelöst; es wird zu einem Möglichkeitsraum, der sich verschiedenen Besetzungen öffnet.27 Diejenigen, die diese Stellen aufsuchen, stellen dem offiziellen Stadtplan einen sekundären entgegen: Die ›Unterwelt‹ etabliert sich nun nicht in einer ObenUnten-Struktur, sondern in einer Raumordnung Zwischenraum – Stadtskript. Der Gangster sucht den Zwischenraum auf, sollte aber – wie Faugel das anfangs auch praktiziert – keine Spuren hinterlassen und den vagen Raum als unmarkierten und ungekerbten Raum erhalten, sonst könnte ihm die Kontrolle über seine Aktionen entgleiten. Das terrain vague an sich ist so schwer zu erfassen wie die Gangsterpraktiken und daher der geeignete

(Abb. 4: Le Doulos 00:13:05)

27 Vgl. nochmal Nitsch 2013, 4, der hierin Vasset 2007 folgt.

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vage Ort für unsichtbare Aktionen. Auch daher konkretisiert das Filmbild den genauen Ort in Le Doulos nicht, sondern belässt ihn in seiner Abstraktheit. Ist in Fantômas und den Vampires der Schauplatz der Morde noch überall in der Stadt, so verschiebt sich in Le Doulos der finstere Schauplatz des Mordes an Gilbert und Thérèse an den Stadtrand und die Zwischenräume. Und diese sind selbst von der Vernichtung bedroht und transitorisch. Die Zerstörung dieser dem Gangster seine Aktionsfreiräume lassenden Leerstellen im Stadtskript schreitet nämlich durch die zunehmende Kartographierung des städtischen Raums fort. In Mélodie en sous-sol wird dies filmisch konkretisiert, denn die schäbigen Bauten, in denen Gilbert leben konnte, sind in der Eingangssequenz vernichtet und mussten der durchorganisierten und lückenlos beschilderten Stadt weichen, die sich in anonymisierten, gleichgeschalteten Neubauten manifestiert, deren durchstrukturierte Ordnung durch die ausgedehnte und veränderte Straßenbeschriftung noch unterstützt wird (Abb. 5). Das terrain vague, als transitorischer Raum immer von der Vernichtung bedroht und deshalb eigentlich ein perfekter Raum für den Gangster, ist in der Eingangssequenz von Mélodie tatsächlich verschwunden – die Betonung und filmische Umsetzung dieses Prozesses verweist auf die Bedeutung, die diese Räume traditionell für den Gangsterfilm besitzen. Vielleicht ist Melvilles Le Doulos in diesem Sinne auch als Antwort auf Mélodie en sous-sol zu lesen, da er dem terrain vague noch

(Abb. 5: Mélodie en sous-sol 00:06:11)

ZWISCHENRÄUME | 185

(Abb. 6: Mélodie en sous-sol 00:06:19)

einmal einen großen Auftritt verschafft. Die Vernichtung der weißen Stellen zeigt aber auch die zunehmende Funktionalisierung des Lebens auf: Am Beispiel der banlieue als mehr oder minder abgegrenztem Alternativraum der Stadt entwirft Mélodie en sous-sol ein Bild der abstrakten Gesellschaft aus dem Blickwinkel des alternden Gangsters. Er ist ein Teil der alten Welt, traditionell mit älteren Gesellschaftsmodellen wie familiären Gangstergruppen verbunden, und mit Orten, die sich der anonymen Durchorganisiertheit des modernen Bürgertums entziehen. Die banlieue war ein Ort, an dem der Gangster wohnen oder an den er sich zurückziehen konnte, so wie die Brüder Grutter in Rififi oder bereits die Vampires; er war der Gegenraum zur bürgerlichen Welt. Als nun aber Charles (Jean Gabin) in den Außenbereich der Stadt zurückkehrt, nachdem er aus dem Knast entlassen wurde, hat die bürgerliche und definitiv abstrakte Bauwut den Vorort erreicht. War in Pépé le Moko der abgegrenzte Alternativraum der Kasbah eine sichere Zone und die banlieue in Rififi ein Ort, wo sich die wohlhabenden Nachtclubbesitzer ein Häuschen bauen, ist der Vorort in Mélodie en sous-sol ein vernichtetes terrain vague: Jean war dorthin gezogen, weil es viele unbebaute Grünflächen gab und sein kleines Haus einen geeigneten Rückzugsraum und eine bürgerliche Fassade darstellte, aber als er nach fünf Jahren zurückkehrt, findet er sich nicht mehr zurecht. Das terrain vague ist dem Nicht-Ort gewichen 28, einer anonymisierten Ansammlung von vielstöckigen Mietskasernen, deren Gesichtslosigkeit in krassem Gegensatz zu dem (schließlich mit Hilfe der Bauleitung gefundenen) Häuschen mit Garten steht, das eingequetscht zwischen Hochhäusern inmitten der Betonwüste sein eingezwängtes Dasein mit Blumengarten fristet

28 Zum Konzept des Nicht-Ortes vgl. Augé 1992.

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(Abb. 6). Der Gangster der 1960er Jahre muss sich an die Vernichtung der weißen Stellen im städtischen Plan anpassen; kein Wunder, dass er sich als Reaktion in ihre Eingeweide einschreibt. Gezwungenermaßen sucht sich dieser Gangster nun andere Zwischenräume; diese findet er in unsichtbaren Strukturen der Stadt. Mélodie en sous-sol – bereits der Titel verweist auf die Nutzung der Zwischenräume durch den Gangster – inszeniert parasitäre Praktiken im städtischen Raum und macht sich so die Schwachstelle der Stadt zu Nutze: ihre organisierte Berechenbarkeit. Der Gangster bedient sich nun statt der terrains vagues anderer Orte und Strukturen, die noch in Gebrauch sind, aber aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit von den Bürgern kaum bemerkt werden. Mit diesen verfährt er ähnlich wie mit den terrains vagues – er verändert ihre Struktur durch seine Aktionen. Nur erfolgt der Prozess nun umgekehrt: Der Gangster erzeugt glatte Räume durch seine Praktiken. Er benutzt Infrastrukturen, die nicht erinnert werden, obwohl sie allen sichtbar sind; öffentliche Räume wie Cafés werden zu Kommunikationszentren, in denen die Kommunikation dadurch gekennzeichnet ist, dass sie einerseits öffentlich, aber andererseits auch privat oder gar geheim ist. Mélodie en sous-sol verfährt mit dem Einbruch in ein Casino quasi analog zu dem in Rififi, nur dass sich der Regisseur auf räumliche Strukturen konzentriert. Das Casino wird durch einen Luftschacht betreten, und im markierten Gegensatz zum Titel des Filmes über das Dach. Das bauliche Element, das das Überleben der mit Sauerstoff zu versorgenden feinen Gesellschaft in den Spielsälen sichert, wird zum Eingangstor für die Gangster,

(Abb. 7: Mélodie en sous-sol 01:30:49)

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die sich den Gewinn des Casinos als Beute auserkoren haben (Abb. 7). In gewisser Weise entspricht der Luftschacht im Casino der Kanalisation in anderen Filmen; auch sie repräsentiert die schamhaft verschwiegenen Eingeweide der Stadt, ihren Kreislauf. Das Klettern über die Dächer von Paris, das Les Vampires und Fantômas prägte, die zwischen Schornsteinen und dumpfem Licht ihre Fluchtwege und Zuwege fanden, wird zwar auch in späteren Filmen wie Le cercle rouge (dir. Melville, 1973) noch zitiert; aber der geheimnisvolle, im Rauch verschwindende Gangster wird durch einen pragmatischeren und sichtbareren ersetzt, der – eher wie in Hitchcocks To Catch a Thief (1955) – seine geheimen Wege dem Zuschauer offenlegt. Dieser wird so von der erschrockenen Mitsicht mit den überraschten Opfern zum bewundernden Komplizen des geschickten Profi-Gangsters transformiert. Dieser kommt nicht überraschend aus Geheimgängen, die immer schon die Phantasie anregen; die Kamera folgt ihm auf seinen Wegen in die Eingeweide und über die Dächer der Stadt. In einer schönen Szene von Mélodie en sous-sol kriecht der leicht hitzköpfige ›Teil‹ der Bande, Francis, durch die Eingeweide des Casinos, die sich für einen Moment der Praxis des Gangsters widersetzen, als der Belüftungsschacht beginnt, die Luft auszutauschen und damit einen Sog erzeugt, der Francis hinauszudrücken droht. Die Inszenierung verwandelt den Luftschacht durch die Praktiken in ihm in einen quasi unsichtbaren Raum, der, obschon über den Köpfen der Casinobesucher und allerorts sichtbar, zum Verschwinden gebracht wird (Abb. 8). Das Wissen um die Zwischenräume hat in Le doulos eine erfolgreiche

(Abb. 8: Mélodie en sous-sol 01:30:36)

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(Abb. 9: Mélodie en sous-sol 01:54:58)

Umbesetzung des terrain vague zur Folge – Faugel kann seine Beute unter einer Laterne sicherstellen und später den Tresor wieder öffnen. In Mélodie en sous-sol können die Gangster durch die Schaffung von glatten Zwischenräumen erfolgreich ihre eigene Existenz und ihre Bewegungen verschleiern und die Beute aus dem Tresor des Casinos tragen Hingegen gelingt es nicht, einen weiteren Zwischenraum zu besetzen, der kurzfristig als Versteck der Beute dienen soll: Francis wirft in einem Augenblick kopfloser Panik aus Angst vor Entdeckung die Taschen mit dem erbeuteten Geld in den Swimmingpool, an dessen Rand Charles darauf wartet, dass Francis ihm die Taschen übergibt. Zwar ist der Swimmingpool in gewisser Weise ein typisches Versteck des modernen Gangsters: Er befindet sich vor aller Augen und ist doch nicht in seiner Tresorfunktion wahrnehmbar. Doch widersetzt sich der zweckentfremdete Pool der Besetzung und Umwidmung durch den Gangster, der diesmal auch nicht mehr selbst Handlungen vollziehen kann, sondern die Kontrolle über die Objekte verliert. Was beim Luftschacht noch funktionierte, wird nun zum Problem. Die Taschen öffnen sich am Grund und lassen, heraufgewirbelt durch den Ventilator der Wasserströmungsanlage, die Scheine an die Oberfläche treten (Abb. 9).29 Diese legen sich wie Herbstblätter über die Wasseroberfläche, und bezeichnen die Umbesetzung des freizügigen Badeplatzes durch den Gangster. Zwar verraten sie nicht seine Identität, aber die Unsichtbarkeit weicht einer konkreten Sichtbarkeit (Abb. 10). Der Zwischenraum ist ein wesentliches Element des Gangsterfilms. Er wird beschrieben, durch Aktionen verändert, in anderer Funktion genützt, als es für ihn vorgesehen war. Der

29 Vgl. hierzu den Beitrag von Jörg Dünne in diesem Band.

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(Abb. 10: Mélodie en sous-sol 01:55:35)

Gangster schreibt sich in brachliegende Strukturen der Stadt ein, um seine Verbrechen zu begehen und verweist so auf die Omnipräsenz des truand in der Gesellschaft und in ihren Funktionseinrichtungen. Der Gangsterfilm weist den Gangster als einen Teil der Gesellschaft aus, der von ihr hervorgebracht wird und ihr genuin zugehört, er ist das Störelement, aber auch das Zwischenwesen, das die räumlichen Verbindungen überbrückt und die Leerstellen (zumindest für den Eingeweihten) sichtbar macht. Durch die Inszenierung des Zwischenraumes als zur Unsichtbarkeit gebrachter Instanz zeigt der Gangsterfilm die Funktionsweise einer abstrakten Gesellschaft auf, die sich ihrer Einrichtungen zur Aufrechterhaltung ihres Standards nicht mehr bewusst ist.30 Der Gangster als Bewohner der Zwischenräume bringt diese aber nicht nur in ihrer NichtFunktionalität zur Anschauung, sondern verleiht ihnen ästhetische Kraft – er ist Garant für die Möglichkeit der Imagination, sich in den vagen Übergängen zu tummeln und erneut einen Gegenraum zu erschaffen, der bevölkert ist von den Gestalten einer abgründigen Phantasie.

L ITERATUR Augé, Marc (1992), Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris.

30 Zur Bedeutung der abstrakten Gesellschaft vgl. Mahler in diesem Band, der sich u.a. auf das Konzept bei Zapf 1988 stützt.

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Bexte, Peter (2007), »Zwischenräume. Kybernetik und Strukturalismus«, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld, S. 219-233. Böttcher, Marius et al. (Hg.) (2014), Wörterbuch kinematographischer Objekte, Berlin. Certeau, Michel de (1988), »Praktiken im Raum«, in: M.C., Die Kunst des Handelns (1980), übers. v. Roland Voullié, Berlin, S. 179-238. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1992), Tausend Plateaus, übers. v. Gabriele Ricke / Roland Voullié, Berlin. Doetsch, Hermann (2004), »Intervall. Überlegungen zum Raum«, in: Jörg Dünne / Hermann Doetsch / Roger Lüdeke (Hg.), Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive, Würzburg, S. 23-56. Dünne, Jörg (2009), »Zwischen Kombinatorik und Kontrolle. Zur Funktion des Stadtplans in Jean-Pierre Melvilles Le Samouraï«, in: Achim Hölter / Volker Pantenburg / Susanne Stemmler (Hg.): Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst, Bielefeld, S. 77-96. Dünne, Jörg / Nitsch, Wolfram (Hg.) (2014), Scénarios d'espace. Littérature, cinéma et parcours urbains, Clermont-Ferrand. Foucault, Michel (2005), Die Heterotopien. Der utopische Körper (1966), übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M.. Irigaray, Luce (2006), »Der Ort, der Zwischenraum. Eine Lektüre von Aristoteles: Physik IV, 2-5« (1984), in: Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Frankfurt a.M., S. 244-260. Lascault, Gilbert (2008), Les Vampires de Louis Feuillade, Liège. Lotman, Jurij M. (1989). Die Struktur literarischer Texte (1970), 3. Aufl., München. Nitsch, Wolfram (2013). »Terrain vague. Zur Poetik des städtischen Zwischenraums in der französischen Moderne«, Comparatio 5, 1-18 (gekürzt: [2012], Merkur 758, 638-644). Nogueira, Rui (2002), Kino der Nacht. Gespräche mit Jean-Pierre Melville, übers. v. Robert Fischer, Berlin. Vasset Philippe (2007), Un livre blanc. Récit avec cartes, Paris. Vincendeau, Ginette (1998), Pépé le Moko, London (BFI Film Classics). — (2003), Jean-Pierre Melville. An American in Paris, London.

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Zapf, Hubert (1988), Das Drama der abstrakten Gesellschaft. Zur Theorie und Struktur des modernen englischen Dramas, Tübingen.

Gangster am Pool Abstrakte Gesellschaft und flüssige Moderne J ÖRG D ÜNNE

Zwei auf den ersten Blick sehr ähnliche Einzelbilder, die aus zwei Darstellungen der Oberflächen von Swimming Pools in den nachfolgend untersuchten Filmen stammen, sollen als Einstieg für die folgenden Überlegungen dienen.1 Es handelt sich um zwei Momente, in denen auch in klassisch erzählenden Filmen die Textur des Filmbildes selbst in den Fokus rückt.

(Abb. 1-2: Pool-Oberflächen in Les Diaboliques und in Mélodie en sous-sol)

Die erste Abbildung zeigt einen mit schmutzigem Wasser gefüllten Pool in Henri-Georges Clouzots Film Les Diaboliques (1955)2, wobei die Wasseroberfläche, in der sich das Sonnenlicht spiegelt, optisch dadurch ge-

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Für Anregungen zu diesem Beitrag danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Seminars »Am Pool« im Sommersemester 2014 an der Universität Erfurt. Henri-Georges Clouzot, dir. (1955/2010), Les Diaboliques, DVD, Concorde Home Entertainment, F; in der Folge: D.

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brochen ist, dass auf ihr ›Entengrütze‹ schwimmt, die diese Oberfläche in ihrer Textur körnig macht und gleichzeitig eine verborgene, semantisierbare Tiefe evoziert (D 01:05:15, Abb. 1).3 In die Tiefe des undurchsichtigen Pools ist wie in ein vorübergehendes Grab ein scheinbar toter Körper versenkt worden – eine Leiche, die in Wirklichkeit aber keine ist, sondern an anderer Stelle, genauer: in anderen flüssigen Räumen wieder auftaucht und damit die starre Begrenztheit dieser vorübergehenden Lokalisierung überschreitet. Die zweite Abbildung stammt von einem gepflegten Swimmingpool an der Côte d’Azur in Henri Verneuils Gangsterfilm Mélodie en sous-sol (1963)4 – in diesem Pool verschwindet keine Leiche, sondern es erscheinen vielmehr nach und nach störende, zunächst wie eine Verschmutzung des klaren Poolwassers wirkende Gegenstände und durchbrechen die diaphane Durchsichtigkeit der Wasseroberfläche. Dieser Moment einer visuellen Epiphanie von Objekten im Wasser findet am Ende des Films statt: Es handelt sich um Banknoten, genauer um die Beute der beiden Gangster, die sie am Abend zuvor aus dem benachbarten Casino erbeutet haben und die nun in anderer Form als geplant wieder ›an die Oberfläche‹ kommt. Das sich an der Wasseroberfläche zeigende Geld kündet somit vom Scheitern des großen Coups, nachdem der jüngere der beiden Gangster die Nerven verloren und die Beute in den Pool geworfen hat (M 01:42:10, Abb. 2). Das Verschwinden bzw. das Erscheinen von Gegenständen im Wasser des Swimmingpools, das mit einer besonderen momentanen Fokussierung auf die Bildoberfläche der beiden Filme einhergeht, soll, ausgehend von diesen beiden Einzelbildern, den Rahmen für die beiden folgenden Analysen zur Rolle von Swimmingpools im Kriminalfilm abgeben. Anhand zweier französischer Filme der Nachkriegszeit möchte ich mich mit Figurationen flüssiger Räume sowie mit deren medialen sowie sozialen Implikationen auseinandersetzen. Pools im Film sollen dabei auf zwei Ebenen untersucht werden: als mediale und als soziale Räume. Als mediale Räume bilden sie, wie an den Eingangsbeispielen exemplarisch vorgeführt, Re-

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Die Wasseroberfläche des Pools liefert im Übrigen auch den Hintergrund für die title credits des Films und wird damit buchstäblich zur Fläche, auf der sich Bedeutungen ›einschreiben‹. Henri Verneuil, dir. (1963/2008), Mélodie en sous-sol, DVD, EuropaCorp, F; in der Folge: M. Für die Abbildungen wird die nachträglich kolorierte Fassung des Films verwendet.

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flexionsfiguren des filmischen Raums selbst zwischen Be- und Entgrenztheit, zwischen strenger Kadrierung und ›fluider‹ Zirkulation. Als soziale Räume werden Pools zu Kristallisationspunkten bestimmter gesellschaftlichen ›Milieus‹, die hier vor allem im Rückbezug auf die sozialen Räume der französischen Nachkriegsgesellschaft untersucht werden sollen. Flüssige Räume erlauben – so die Annahme, die im Folgenden entfaltet werden soll – die Modellierung unterschiedlicher Umgangsformen mit der ›abstrakten Gesellschaft‹ der Moderne in ihrer spezifischen Ausprägung in der französischen Nachkriegsepoche5: Sie machen eine moralistische Kultur des Verdachts ebenso sichtbar wie sie eine Beobachtung der selbstgenügsamen Zirkulation des Kapitals ermöglichen, das sich gänzlich von seinen menschlichen ›Nutzern‹ abgekoppelt hat. Stärker noch als die soziologische Formel von der ›abstrakten Gesellschaft‹ dies erkennbar werden lässt, beschreibt dabei der in beiden Filmen vor Augen geführte ›flüssige Raum‹ über ein Modell der funktionalen sozialen Ausdifferenzierung hinaus ein soziales Modell der Zirkulation, das in den beiden untersuchten, politisch ebenso konservativen wie ästhetisch innovativen Filmen skeptisch betrachtet, aber gleichzeitig als unhintergehbar dargestellt wird. Bevor ich allerdings zu diesen beiden konkreten Beispielen zurückkomme, zunächst noch einige allgemeine Überlegungen zu Pools im Film.

1. S WIMMINGPOOLS

ALS › FLÜSSIGE

R ÄUME ‹

Swimmingpools sind privilegierte Orte der Selbstreflexion des Filmbildes, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen verdoppelt die strenge Umgrenztheit des Pools die Kadrierung des Bildausschnitts und lässt den Pool zu einer mise en abyme der Frage nach dem onscreen bzw. dem offscreen space im Film generell werden.6 Gleichzeitig eröffnet die Wasseroberfläche auch optische Effekte, die einen gegenteiligen Effekt haben und innerhalb der Kadrierung fließende Bildübergange schaffen, die für die Entstehung, Transformation und Auflösung von Bildmotiven und Bild-Texturen ver-

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6

Vgl. dazu, in Aufnahme des von Karl Popper und vor allem von Anton C. Zijderveld geprägten Begriffs der ›abstract society‹, den einleitenden Beitrag von Andreas Mahler in diesem Band. Vgl. dazu grundlegend Burch 1973, 3-31.

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antwortlich sind.7 Insbesondere können die Wasseroberflächen der Pools dazu dienen, das Emergieren von Filmbildern aus der flachen Leinwand bzw. dem Bildschirm bewusst zu machen und zu zeigen, wie Bilder allererst die ›Tiefe‹ eines wiedererkennbaren Objekts erlangen, bzw. wie sich umgekehrt dreidimensional scheinende Objekte in flächige Texturen auflösen: Die Wasseroberfläche wird zum Ort des Dimensionenübergangs zwischen der Flächigkeit des filmischen und der Tiefenillusion des diegetischen Raums. Dieses Erscheinen und Verschwinden von Objekten nicht nur in der Tiefe des Pools, sondern auch in der Fläche des Bildraums ist eines der Potenziale, das Pools bzw. generell die Darstellung von Wasserflächen in Filmen mehr oder weniger bewusst ausspielen: Sie bildet, mit Gilles Deleuze und seiner Analyse der Funktion des Wassers bei Jean Vigo und anderen französischen Filmemachern der Zwischenkriegszeit gesprochen, eine Fluchtlinie des filmischen Erzählens auf dem Weg zur Ästhetik eines »flüssigen Bildes«.8 Auch im klassischen Erzählkino, beispielsweise im Genrefilm, gibt es, wie eingangs gezeigt, solche Momente einer ›Verflüssigung‹ des Filmbildes zu bewegten Oberflächen, in denen die Texturen des Bildes sichtbar werden. Sie bieten dort den Ansatzpunkt für die Frage, wie Pools bzw. andere ›flüssige Räume‹ im Film in semantischer Hinsicht eine Funktion als Räume der De- oder gegebenenfalls auch der Restabilisierung sozialer Ordnung zugewiesen bekommen. Wie an einem kurzen Überblick über die Geschichte einer langen Wahlverwandtschaft zwischen dem Swimmingpool und dem Kriminalfilm deutlich wird, sind hier verschiedenste Funktionen denkbar: Ganz allgemein lassen sich Pools im Kriminalfilm als filmische Handlungsräume beschreiben, die häufig zweckentfremdet werden. Während badende Körper im Pool den erwartbaren Normalfall einer Poolnutzung darstellen, beruht der Pool als Tatort im Kriminalfilm auf einer Transgression dieser Ordnung, auf einem Eindringen des kalten Todes in den Raum der sommerlichen Vergnügungen. Pools können in Kriminalfilmplots zu Orten des Verbrechens werden, zu Tat-Orten, in denen die Zurschaustellung leicht bekleideter, junger und begehrenswerter Körper in Bewegung umschlägt in den Schrecken meist regloser, bekleideter, kopf-

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Vgl. dazu, wenn auch mit einer oft nicht eindeutig geklärten Metaphorisierung des ›Fluiden‹, Heller 2010. Vgl. Deleuze 1983, 116.

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unter auf der Wasseroberfläche treibender Leichen – ein besonders bekanntes Beispiel dafür ist Eingangssequenz von Billy Wilders Sunset Boulevard (1950), in der die Leiche eines jungen Mannes kopfunter im Pool einer Hollywood-Villa treibt.9 Eine solche Darstellung des Pools als Ort des Verbrechens verbindet sich also mit einer ›Umnutzung‹ oder einer Nichtnutzung des Pools, der sich dabei zum Nicht-Ort oder gar zum Un-Ort10 wandelt. Doch neben dieser transgressiven Nutzung des Pools als Ort des Verbrechens, der sich in seiner insistenten Kadrierung dem Blick der Zuschauer darbietet, erfüllt der Pool im Film häufig die Funktion eines selbst nicht oder kaum zu seinem eigentlichen Zweck genutzten Ortes, der aber gerade als solcher eine besondere Anziehungskraft für ein bestimmtes soziales Milieu entfaltet. Der exemplarische Fall einer solchen ›milieubildenden‹ Funktion ist vor dem Hintergrund der enormen Bedeutung von privaten Pools als Statussymbolen, wie sich dies in den USA seit den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts etabliert,11 die Poolparty, die eine gehobene oder zumindest nach sozialem Aufstieg strebende Gesellschaft versammelt: Leute, die in diesem Milieu den Pool zu seiner eigentlichen Funktion, d.h. zum Baden oder Schwimmen nutzen, sind entweder betrunken oder marginalisiert, wie sich dies besonders deutlich in der Erzählung The Swimmer von John Cheever sowie der darauf aufbauenden gleichnamigen Verfilmung von Frank Perry zeigt.12 Wer schwimmt, gehört in den Bildern dieses Films, in dem sich die gute Gesellschaft an den Rändern des Pools aufhält, gerade nicht oder zumindest nicht mehr dazu – der einzige Ort, an dem das

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Billy Wilder, dir. (1950/2004), Sunset Boulevard, Paramount, USA, hier: 00:02:10 ff. Wie sich später herausstellt, ist dieser Mann der extradiegetische Erzähler des Films, dessen Stimme den Zuschauer bzw. Zuhörer mit wissenden Andeutungen dessen versieht, was es im Film über die Hintergründe des Mordes und der Leiche zu erfahren gibt. In einer ungewöhnlichen Einstellung begibt sich die Kamera dabei an den Grund des Pools, in dem die Leiche treibt und suggeriert dem Filmzuschauer damit die besondere Macht der filmischen Erzählung, jede noch so verborgene Dimension der erzählten Geschichte aufzudecken und mit dem Blick aus der Tiefe des Pools Transparenz im Hinblick auf die Hintergründe des Mordes zu schaffen. 10 Vgl. zu filmischen Un-Orten Verf. 2010. 11 Vgl. hierzu die materialreiche Untersuchung von Van Leeuwen 1998, zu einer Geschichte des öffentlichen Bades komplementär dazu Wiltse 2007. 12 Frank Perry, dir. (1968/2003), The Swimmer, DVD, Sony Home Entertainment, USA; der Film basiert auf der Vorlage von Cheever 1964/2009.

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Schwimmbecken wirklich voller Menschen ist, ist die öffentliche Badeanstalt, in die sich die Unterschicht drängt. In seiner Macht zur sozialen Milieubildung zeigt sich der Pool nicht nur als bloßer Schauplatz, der eine Kulisse für filmische Ereignisse abgibt, sondern er wird selbst zum Aktanten, der dazu beiträgt, soziale Schichten voneinander zu differenzieren und der das Leben derer, die sich in ihn hineinbegeben, verändern kann. Neben der Abgrenzung von Innen- und Außenraum mitsamt ihren möglichen semantischen Besetzungen des Pools können dabei auch die Semantiken seiner Oberfläche und seiner Tiefe bedeutsam werden. Während der schmutzige, mit dunklem Wasser gefüllte Pool eine uneinsehbare Tiefe evoziert, die mit verschiedensten semantischen Besetzungen gefüllt werden kann, gibt sich der gepflegte Pool mit seinem klaren Wasser ganz als transparente Oberfläche, die wie ein Panoptikum alle Facetten einer erzählten Geschichte sichtbar macht. In all diesen Fällen ist es unmöglich, den Pool als sozialen Raum von seinen medialen Form der Präsentation zu trennen – beim Verschwindenlassen einer Leiche in den trüben Wassern des Pools, wie in Les Diaboliques, aber auch beim Auftauchen von Geldscheinen an der diaphanen Wasseroberfläche, wie in Mélodie en sous-sol, fallen die Momente einer Verflüssigung des Filmbildes und die semantische Relevanz der flüssigen Räume als Leitmetaphern einer bestimmten Form des Sozialen jeweils zusammen.

2. V ERSCHWINDEN : L ES D IABOLIQUES UND DIE L EICHE IM P OOL Eine Klasse in einem französischen Internat in der Nähe von Paris wiederholt im Chor die Grundformen englischer Verben: to fall – fell – fallen; to find – found – found – danach stockt die Stimme der Lehrerin, die die zu konjugierenden Verben vorgibt, während die Kamera, die zuvor die Schulklasse samt ihrer Lehrerin von außen durch das geöffnete Fenster des Klassenzimmers beobachtet hat, nun ihrem angstvollen Blick nach außen folgt (D 01:01:20 ff.). Die Verben kündigen das an, was die Zuschauer bereits wissen: Etwas ist in den Pool gefallen und der Hausmeister des Internats hat dort auch etwas gefunden, jedoch nicht den Körper des toten Mannes der Lehrerin Cristina, den diese zusammen mit ihrer Komplizin Nicole dort in der Nacht zuvor versenkt hat, sondern bloß einen Papierfetzen, der auf

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dem Wasser treibt. Die Spannung von Henri-Georges Clouzots Les Diaboliques beruht auf dem Verschwinden der scheinbaren Leiche aus dem Pool und auf der lang aufgeschobenen Auflösung dieses Rätsels. Der Mord an Michel Delassalle stellt sich in Wirklichkeit als perfide Inszenierung des sich tot stellenden Ehemannes und seiner Geliebten Nicole dar, die die herzkranke Cristina durch seine in einer Badewanne des Internats erfolgende ›Auferstehung‹ einen solchen Schock versetzen, dass sie daran stirbt und den beiden Liebenden eine gemeinsame Zukunft offen stehen zu scheint – wenn sie nicht ihrerseits bei ihrer Tat durch einen auf eigene Faust ermittelnden pensionierten Kommissar ertappt worden wären. Sicherlich ist Clouzots Film, der auf einer unheimlich-phantastischen Erzählung beruht13 und dessen suspense-Effekte mit denen der Filme Alfred Hitchcocks konkurrieren, kein Gangsterfilm im eigentlichen Sinn, auch wenn es in ihm einen gegen Ende des Films sich zunehmend deutlicher manifestierenden Kriminalplot gibt. Dennoch ist ein Vergleich der sozialen Relationen, die in diesem Film dargestellt werden, mit denen des Gangstermilieus, das Clouzot in anderen seiner Filme porträtiert14, aufschlussreich. Eine Gemeinschaft unter Gangstern, wie das in diesem Genre in der Nachkriegszeit üblich ist, oder einer anderen sozialen Gruppe ist in Les Diaboliques nicht vorhanden – das Internat ist, ob unter Schülern oder im Lehrerkollegium, ein sozialer Ort des andauernden und unumschränkten Misstrauens, in dem es keine zwischenmenschlichen Allianzen gibt und wo weder fürs Leben gelernt noch eine irgendwie geartete Solidarität eingeübt wird. Das Einzige, was das Leben im Internat vermittelt, ist die Einimpfung von Misstrauen. Die ›abstrakte Gesellschaft‹ der Nachkriegszeit, aus der substanzielle soziale Bindungen ausgetrieben werden, steht hier im Zeichen einer umfassenden moralistischen Menschenskepsis und prägt eine Kultur der Denunziation und der gegenseitigen Überwachung aus, die noch ganz von der Kollaboration und dem Vichy-Régime in Frankreich geprägt scheint.

13 Vgl. Boileau / Narcejac 1952/1998, bei denen das phantastische Motiv des ›revenant‹ im Vordergrund steht. Im Film wir das Leitmotiv der flüssigen Räume durch die Wahl eines Schwimmbeckens sehr viel deutlicher akzentuiert, während die Vorlage von Boileau / Narcejac, die vom Film frei adaptiert wird, das Opfer (dort ist es die Frau des Protagonisten) in einem Teich versenkt. 14 Vgl. insbesondere zu Clouzots Quai des Orfèvres aus dem Jahr 1947 den Beitrag von Andreas Mahler in diesem Band.

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Dieses allumfassende Misstrauen ohne die Möglichkeit einer sinnstiftenden ›Gegengesellschaft‹ gibt nun auch dem Pool seine besondere Funktion. Er ist einerseits Metapher für eine unhintergehbare Tiefe, ja Abgründigkeit sozialer Beziehungen, gleichzeitig aber auch Akteur im starken Sinn, nämlich wesentliches Element einer Serie von aquatischen Räumen, zwischen denen im Film Erscheinungen von toten bzw. scheintoten Körpern verschoben werden. Die leitmotivartige Funktion des Wassers wird bereits im Vorspann des Films mit der Nahaufnahme einer dunklen Pfütze hervorgehoben, durch die ein Auto hindurchfährt und dabei ein weißes Papierfaltboot zerstört (D 00:03:50). Das Flüssige fungiert im Film als Element, mit dessen Hilfe Körper, über deren Lebendigkeit sich nichts Definitives aussagen lässt, von einem Gefäß zu einem nächsten verschoben werden. Michel Delassalle wird in der Badewanne in der Wohnung seiner Geliebten Nicole in Niort ertränkt (D 00:47:50, Abb. 3), seine Leiche wird aber im Swimmingpool des Internats bei Paris versenkt (D 00:56:50, Abb. 4), um dort – so zumindest der Plan der beiden Frauen – von den anderen Internatsinsassen gefunden zu werden. De facto taucht Michels Körper jedoch nicht dort wieder auf, sondern – nachdem zwischendurch auch noch die falsche Fährte einer Wasserleiche in der Seine gelegt wird (D 01:17:30 ff.) – unter plakativer Nutzung von allerlei Horroreffekten in Cristinas Badewanne im Inneren des Internats (D 01:48:45, Abb. 5).

(Abb. 3-5: Von der Badewanne zum Pool zur Badewanne in Les Diaboliques)

Auch die Entleerung des Pools kann das Rätsel des verschwundenen Leichnams nicht lösen, sie gibt nur Anlass zu küchenpsychologischen Spekulationen der Lehrerkollegen über den horror vacui der Natur im Allgemeinen und der am Rande des Pools ohnmächtig werdenden Cristina im Besonderen, als klar wird, dass sich die Leiche ihres Mannes nicht mehr an diesem Ort befindet (D 01:08:05). Das Unheimliche, das der Film erzeugt, beruht im Wesentlichen auf der metonymischen Verschiebung des corpus delicti im flüssigen Raum – der untote Körper Michels gleitet von einem wasserhaltigen Gefäß zum nächsten: Man kann sich so in den Diaboliques

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nie sicher sein, dass eine soziale Handlung tatsächlich in die Tiefe des Vergessens versinkt, dass ein Körper tatsächlich dauerhaft begraben werden kann, sondern die Folgen eines Verbrechens zirkulieren im Film unablässig und werden auf der Bilder produzierenden Projektionsfläche des Wassers immer wieder zum Vorschein gebracht. Diese wesentliche Unabschließbarkeit betrifft nicht nur den scheinbaren Tod Michels, sondern auch denjenigen Cristinas – zum Schluss ist nämlich nicht einmal klar, ob die beiden Verbrecher tatsächlich ihr Ziel erreicht haben, die herzkranke Gattin umzubringen, oder ob diese nicht, wie der Schüler Moinet beobachtet haben will (vgl. D 01:51:20), dennoch weiterlebt und damit letztlich nicht nur über ihren Mann, sondern auch über seine Geliebte triumphiert. Der ermittelnde Polizist bemerkt an einer Stelle des Films trocken: »J’ai l’impression que vous rêvez beaucoup d’eau dans la maison.« (D 01:27:10) Damit trifft er den Nagel auf den Kopf, allerdings handelt es sich bei dieser Obsession für Wasserräume mitnichten um eine poetisch-psychoanalytische Träumerei von der bergenden Ur-Macht der Elemente, wie dies etwa Gaston Bachelard ausgeführt hat.15 Vielmehr werden die flüssigen Räume des Films in ihrer insistenten medialen Präsenz zur Metapher einer spezifischen Form der abstrakten Gesellschaft. Und so hat die Bemerkung des Filmkritikers Paul Guth, »les deux principaux personnages du film« seien »une piscine et une baignoire«16, durchaus ihre Berechtigung: Versteht man die auf der filmischen Projektionsfläche bzw. zwischen den dort gezeigten flüssigen Räumen immer weiter verschobenen untoten Körper in Les Diaboliques als Allegorie sozialer Beziehungen, so legen sie einen unaufhörlichen Kreislauf des moralistischen Misstrauens nahe, in dem nichts von dem Üblen, das man seinem Nächsten antun kann, lange verborgen bleibt. Alles, was in den dunklen Wassern eines Pools verschwindet, kann in den sozialen Kreisläufen einer Gesellschaft im Zeichen des gegenseitigen Misstrauens jederzeit an unerwarteter Stelle wieder auftauchen. Die besondere phantasmatische Qualität dieser Form sozialer Beziehungen liegt darin, dass in ihr die Kontingenz moderner sozialer Beziehungen nicht einfach als abstraktes, anonymes Funktionsgefüge hervortritt, sondern dass die flüssigen Räume ein Moment unheimlicher metonymischer Verschiebung einführen, durch das die Folgen einer Tat jederzeit wieder an die Oberfläche treten

15 Bachelard 2008. 16 Zitiert nach Lloyd 2007, 123.

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können: Das scheinbar funktionale Gefüge einer abstrakten Gesellschaft wäre damit eine bloße (Wasser-)Oberfläche, die in den Diaboliques auf die undurchschaubar-trübe Tiefe der menschlichen Psyche verwiesen bleibt.

3. E RSCHEINEN : M ÉLODIE EN SOUS - SOL UND DAS G ELD IM P OOL Mélodie en sous-sol gehört ebenfalls nicht unbedingt zu den klassischen Gangsterfilmen der französischen Nachkriegszeit, die das Gangstermilieu als humane ›Gegengesellschaft‹ profilieren.17 In dem Film ist bereits zu Beginn die Opposition zwischen einer verschwindenden, von persönlicher Nähe geprägten Gemeinschaft der Gangster und der sich ausbreitenden ›abstrakten Gesellschaft‹ in einer fast überdeutlichen Opposition markiert: Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis ist der Gangster Charles, gespielt von dem alternden, mit seinem eigenen Rollenimage spielenden Jean Gabin, ›aus der Zeit gefallen‹ und findet sich in seinem eigenen Viertel, d.h. in Sarcelles, wo inzwischen die Urbanisierung der französischen banlieues Einzug gehalten hat, nicht mehr zurecht (vgl. M 00:02:55 ff): Seine cabane, d.h. sein kleines Häuschen, steht zwar noch, da seine Frau sich geweigert hat, es zu verkaufen, aber es ist eingerahmt von einer Reihe von Hochhäusern, die mit der Skyline von New York verglichen werden, und sogar aus seiner ehemaligen Adresse, der »rue Théophile Gautier«, ist inzwischen der vom Zeitgeist der Modernisierung geprägte »boulevard Henri Bergson« geworden. Ziel von Charles’ geplantem, für den Gangsterfilm topischen ›letzten‹ Coup ist nun, ein Casino an der Côte d’Azur auszurauben, um sich mit Hilfe dieses Geldes nach Australien abzusetzen – in Frankreich zu verbleiben wäre für ihn eine bloße Illusion von Freiheit, die, wie die Gespräche bei seiner Fahrt mit dem Vorortzug im Vorspann des Films (M 00:00:35 ff.) zeigen, immer an die soziale Konkurrenz mit anderen gebunden bleibt. Eine Gesellschaft, in der sich jeder Ferien leisten kann, so die Botschaft dieser kurzen Milieustudie, mag zwar ein funktionierendes Sozialsystem bieten, sie kann aber dem romantischen Traum vom fernen Raum jenseits des

17 Vgl. auch hierzu den Beitrag von Andreas Mahler in diesem Band, insbes. S. 45 ff.

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Meeres, in dem die Aussicht auf ein ehrenvolles Leben besteht, nicht Genüge tun. Auch in Mélodie en sous-sol gibt es nun eine Serie von ›flüssigen‹ Räumen, die diese plakative soziale Basisopposition konkretisieren und sie schließlich mit einer charakteristischen Wendung versehen: Dabei bleibt der offene Raum des Meeres, der an der Côte d’Azur gezeigt wird, letztlich nur unerreichbarer Horizont, wird die romantische Fluchtphantasie als unmöglich entlarvt, weil das Geld lieber an der Cote d’Azur bleibt – schuld daran ist einmal mehr der Swimmingpool. Wie in Les Diaboliques wird auch die Handlung von Mélodie en soussol entlang einer Kette von aquatischen Räumen entwickelt, die im Verlauf des Films zunehmend Aktantenstatus gewinnen und die dabei noch deutlicher als in dem zuvor untersuchten Film ins Zentrum der medialen Räume des Films rücken. So trifft Charles seinen ehemaligen Komplizen Mario, der den Plan für den letzten Coup, d.h. den Einbruch in Palm-Beach-Casino in Cannes ausgeheckt hat, selbst aber so krank ist, dass er ihn nicht mit ausführen kann, im Untergeschoss der dubiosen bains-douches »Les fauvettes« (M 00:09:55 ff.). Und auch die Operationsbasis für den Coup in Cannes ist der Hotelpool der in direkter Nachbarschaft des Casinos liegenden »Résidence Marly« – Charles’ Pool-tauglicher Komplize ist dabei der junge und attraktive, von Alain Delon gespielte Kleinkriminelle Francis, der am Pool Kontakte zu einer jungen Variététänzerin knüpfen soll, um sich so über die ebenfalls benachbarte Theaterbühne Zugang zum Dach des Casinos zu verschaffen, den Coup einzuleiten und schließlich die Beute in einer der Umkleidekabinen unterhalb des Hotelpools zu verstecken – wobei die blau geflieste Umkleidekabine, die als Beutedepot dient, ihrerseits wie ein leerer Pool wirkt. Dass die mise en scène des gesamten Films um den Pool kreist, zeigt sich bereits an der ersten Szene, die Francis in seiner neuen Umgebung einführt. Der Pool wird hier mit einer Reihe von Kadrierungs-Experimenten präsentiert: Die kreisrunde Aussparung im Sockel des Sprungturms, durch die die Kamera Francis auf seinen Weg zum Beckenrand und zur dort befindlichen Bar erfasst, wirkt wie eine Kreisblende aus der Stummfilmzeit,

(Abb. 6-7: Der Pool in Mélodie en sous-sol)

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die einerseits auf Francis fokussiert, gleichzeitig das Bild aber auch als perspektivische Fluchtlinie auf das – im Film nie erreichte – offene Meer verlängert (M 00:31:40, Abb. 6). Am Ende des Films wird Francis von dort mit der Beute erscheinen (M 01:33:40, Abb. 7), während die Umgebung des Pools von den ermittelnden Polizisten durchsucht wird, die zwar die Taschen, mit denen die Beute abtransportiert worden sein muss, genauestens beschreiben, aber nicht erkennen, dass diese Taschen im selben Moment genau vor ihnen stehen. Während die beiden Gangster zuvor mit Erfolg darum gekämpft haben, zu ihrer Beute über ein kompliziertes System von Röhren und Verbindungsgängen wie das Lüftungssystem und den Aufzugschacht des Casinobaus einzudringen und sie sodann aus dem geschlossenen Raum des Safes zu entwenden, stockt nun der Weg ins Offene. Francis, in zunehmender Angst, ertappt zu werden, bringt das Geld zum mit Charles vereinbarten Treffpunkt am Rand des Pools und macht dort das Wasserbecken als das letzte mögliche Versteck des Geldes aus, gleichsam als Supplement für die inzwischen geräumte, da zu unsicher gewordene Umkleidekabine. In der Formensprache des Films korrespondiert dieses letzte Versteck mit einem Übergang vom Runden zum Eckigen, von der durch die kreisrunde Öffnung im Sprungturm suggerierten Öffnung auf das offene Meer in den wie ein unüberwindbares Gefängnis abgegrenzten viereckigen Raum des Pools, in den Francis die Beute schließlich gleiten lässt (M 01:38:35), während Charles auf der anderen Seite des Pools der nervösen Überreaktion seines Komplizen ohnmächtig zuschauen muss. In dem was folgt, ist es wiederum ein rundes Element, das schließlich das Geld aus seinem Versteck befreit, damit aber den beiden Gangstern den Zugriff darauf entzieht: Es handelt sich um einen kreisförmig gestalteten Wasserzufluss (M 01:39:19, Abb. 8), der unversehens seine Tätigkeit aufnimmt und damit das Wasser des Pools in eine leichte Zirkulation versetzt, die aber ausreicht, um das Geld aus den nur unzureichend geschlossenen Taschen am Grund des Pools hervorzuholen und aus dessen Tiefe an die Oberfläche aufsteigen zu lassen (M 01:39:50, Abb. 9) – bis schließlich, wie eingangs bereits gezeigt, der ganze Pool von Geldscheinen bedeckt ist (s.o., Abb. 2). Der Film endet damit, dass die beiden Gangster an den beiden Längsseiten des Pools zu bloßen Zuschauern eines Kreislaufs werden, der sich verselbständigt und sich ihrem Zugriff vollständig entzieht: Was hier zirku-

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(Abb. 8-9: Wasser- und Geldkreisläufe in Mélodie en sous-sol)

liert, ist das Geld selbst, das im Unterschied zu den im Wasser verschwindenden und aus ihm wieder auftauchenden Körpern in Les Diaboliques nichts Unheimliches mehr an sich hat, sondern einzig und allein sein Zirkulieren als spektakulären Schauwert feiert: Die so zynische wie schön anzusehende Zuspitzung der abstrakten Gesellschaft am Ende von Mélodie en sous-sol besteht bezeichnenderweise nicht in der Ergreifung der Gangster am Ende ihres Coups, sondern in der schamlosen Zurschaustellung des Geldes, das sich einfach weigert, sein angestammtes Milieu in Cannes zu verlassen und sich mit Charles und Francis auf die Flucht nach Australien oder in Richtung auf einen anderen offenen Horizont zu begeben. Das Kapital liebt die Sonne des Südens, es verbleibt ganz selbstverständlich in der Umgebung, in der es von den Schönen und Reichen ausgegeben wird und zirkuliert im Pool ebenso ungehindert vor sich hin wie zuvor auf den Roulette-Tischen des Casinos, deren bildimmanente Kadrierung die Kamera zuvor im Film ebenso angezogen hat wie nun diejenige des Pools. Auch Mélodie en sous-sol entwirft also mittels flüssiger Räume das Modell einer abstrakten Gesellschaft – nunmehr jedoch einer Gesellschaft, in der letztendlich die menschlichen Akteure zu bloßen Zuschauern einer im wahrsten Sinn des ortes un-menschlichen Zirkulation werden, nämlich derjenigen des Kapitals selbst. Die Position, von der Mélodie en sous-sol aus die abstrakte Gesellschaft der Moderne beobachtet, ist somit nicht mehr, wie in Les Diaboliques, psychologisch-moralistisch, sondern in einem spezifischen Sinn ›posthuman‹. *** Der ›flüssige‹ Raum des Pools beschreibt in den hier untersuchten Filmen zwei Facetten der abstrakten Gesellschaft unter besonderer Rücksichtnahme auf Prozesse der Zirkulation, die in den Filmen vor allem als räumliche Destabilisierung wahrgenommen werden: eine psychologisch-moralistische und eine kapitalistische Zirkulation. Die ›kulturkritische‹ Perspektive bei-

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der untersuchten Filme lässt somit keine Affirmation einer Moderne in ständiger Bewegung zu, wie dies etwa in der Gegenwartsdiagnose des Soziologen Zygmunt Bauman metaphorisch als »liquid modernity« beschrieben wird.18 Indem beide Filme außerdem die Metapher der ›flüssigen‹ Raums an seine konkreten medialen und materiellen Erscheinungsbedingungen binden, zeigen sie, wie überhaupt eine solche soziale Leitmetaphorik entstehen und mit spezifischen, für die französische Nachkriegsgesellschaft bedeutsamen Semantiken aufgeladen werden kann. Es handelt sich dabei beileibe nicht um die einzig denkbaren Formen der Semantisierung, die für Swimmingpools in (Kriminal-)Filmen denkbar ist – eine Geschichte flüssiger Räume im US-amerikanischen Film und insbesondere im film noir müsste wohl, wie dies anhand der Eingangssequenz von Sunset Boulevard bzw. von The Swimmer angedeutet wurde, ganz anders geschrieben werden, selbst wenn die Pool-Kultur der USA unbestreitbar auch die Figurationen von Pools in französischen Filmen geprägt hat. In jedem Fall hat das Milieu des Pools im französischen Film, insbesondere im Kriminalfilm, offensichtlich auch in den späten Sechzigerjahren und weit darüber hinaus nachhaltige Spuren hinterlassen, wie dies andere bekannte Pool-Filme des französischen Kinos von Jacques Derays La Piscine bis hin zu François Ozons Swimming Pool19 zeigen, nicht ohne dabei allerdings erneut andere Semantisierungen des flüssigen Raums vorzunehmen, die den Fokus auf die ›abstrakte‹ französische Gesellschaft der Nachkriegszeit bei weitem übersteigen würden.

L ITERATUR Bachelard, Gaston (2008), L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière (1942), Paris. Bauman, Zygmunt (2012), Liquid Modernity (2000), Cambridge.

18 Bauman 2012. 19 Jacques Deray, dir. (1969/2008), La Piscine, DVD, M6 Vidéo, F; François Ozon, dir. (2002 / o.J.), Swimming Pool, Neue Constantin, F: In beiden Filmen zeichnet sich dabei etwas ab, das weder im amerikanischen Pool-Film noch in den hier besprochenen Filmen zu finden ist, nämlich dass das Innere das Pools, d.h. der Wasserraum selbst zum Handlungsort wird.

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Boileau, Pierre / Narcejac, Thomas (1998), Celle qui n’était plus (Les Diaboliques) (1952), Paris. Burch, Noel (1973), Theory of Film Practice (1969), New York / Washington. Cheever, John (2009), »The Swimmer« (1964), in: J.Ch., Collected Stories and Other Writings, New York, S. 726-737. Deleuze, Gilles (1983), Cinéma I. L’image-mouvement, Paris. Dünne, Jörg (2010), »Filmische Unorte. Lars von Triers Dogville«, in: Matthias Däumer / Annette Gerok-Reiter / Friedemann Kreuder (Hg.), Unorte, Bielefeld, S. 31-52. Heller, Franziska (2010), Filmästhetik des Fluiden. Strömungen des Erzählens von Vigo bis Tarkowskij, von Huston bis Cameron, München. Lloyd, Christopher (2007), Henri-Georges Clouzot, Manchester. Van Leeuwen, Thomas (1998), The Springboard in the Pond. An Intimate History of the Swimming Pool, Cambridge, MA. Wiltse, Jeff (2007), Contested Waters. A Social History of Swimming Pools in America, Chapel Hill, NC.

Zwischen den Fronten Der ›flic‹ als Einzelgänger in Police von Maurice Pialat W OLFGANG L ASINGER

Als Kriminalfilm gehört Maurice Pialats Film Police zum Subgenre des Polizeifilms.1 Als Genrefilm stellt Police, hält man sich an die etwas pauschalen Charakterisierungen in den Überblicksdarstellungen, in denen der Film erwähnt wird, wiederum einen Zwitter, einen Grenzfall dar: er ist als »eines der sperrigsten, widerspenstigsten Beispiele des französischen Genrefilmes«2 und als ein »die Regeln der Gattung konsequent brechende[r] Film«3 bezeichnet worden. Und auch Joël Magny bescheinigt in seiner Monographie zu Pialat der im Film erzählten Krimihandlung, von eher marginaler Bedeutung zu sein.4

1. T OPOLOGISCHE G RUNDSTRUKTUR Gleichwohl ist die topologische Grundstruktur des Kriminalgenres erkennbar. Mit Hickethier geht es in diesem Genre um die Wiederherstellung einer

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Vgl. allgemein zur Systematik des Genres Hickethier 2005, 16 ff., zum Polizeifilm dort S. 18 f. Zum Polizeifilm als eigenem Genre Seeßlen 1999. Seeßlen 1999, 354. Gerhold 1989, 235. Magny 1992, 65.

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verletzten Ordnung5, ein Handlungsschema, das sich mit Lotman als Sujet, spezifisch als restitutives Sujet, bezeichnen lässt.6 Die für Sujets konstitutive topologische Opposition mit ihrer semantischen und normabbildenden Grenzziehung zwischen zwei getrennten Bereichen erscheint in Police als das genrekonforme Gegenüber von Polizei und Gangstern, der ›flics‹ und der ›truands‹ (so in der Formulierung der Hauptfigur, des Polizeiinspektors Mangin; P 01:43:53).7 Die Opposition realisiert sich in Police im Gegenüber von Polizei und Tunesiern.8 Konkret gestaltet sich die Gruppe der ›truands‹, der Gangster, als clanartiger Verband von drogenschmuggelnden Tunesiern, im Film pauschalisierend (auch von diesen selbst) als »Arabes« bezeichnet (so etwa von René El Gassah, der ein als Anlaufstation für die Angehörigen des Clans und dessen Umfeld dienendes Lokal betreibt; P 00:18:05). Den Kern des Clans machen die Slimane-Brüder aus. Die familiären Zusammenhänge um sie herum bestimmen die Atmosphäre, vor allem in dem Treffpunkt des Lokals von René. Es lässt sich in Grundzügen ein archaisch anmutender Ehrenkodex erkennen, den Simon Slimane so formuliert: »c’est un milieu où on triche pas« (P 01:18:10). Die Freundin Simon Slimanes, Noria, wird nach seiner Festnahme durch die Polizei mit den Ansichten des Clans konfrontiert, die von ihr, auch bei einer langjährigen Strafe, absolute Treue zu dem Gefangenen erwarten. Verrat am Clan wird blutig geahndet: Maxime Slimane schießt auf Tarak ›Claude‹ Louati, nachdem dieser den Namen Simon Slimanes der Polizei preisgegeben hat. Die Gruppe verfügt über eigene Kommunikationsstrukturen: ›le téléphone arabe‹ nennt es Lambert, der Anwalt, der die Slimane-Brüder und die Angehörigen des Clans verteidigt. Die pauschale Bezeichnung ›Arabes‹ dient dabei insgesamt der homogenisierenden Abgrenzung der Gruppe vom französischen Umfeld und

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Hickethier 2005, 11 f. Zum Begriff des Sujets vgl. Lotman 1972; zum restitutiven Sujet vgl. Martinez / Scheffel 2007, 142. Die DVD-Edition, auf die im folgenden Bezug mit dem Kürzel P genommen wird, ist: Maurice Pialat, dir. (1985/2005), Police / Der Bulle von Paris, DVD, Tobis / Universum, F. Vgl. auch Magny 1992, 90: »deux communautés, celle des policiers et celle des Arabes«, ebenso Gerhold 1989, der von einer »Studie der Konfrontation zwischen Kulturen – französische Polizei versus arabische Immigranten –« spricht (S. 236).

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zeigt gleichzeitig an, dass die Gruppe der Tunesier einem Assimilationsdruck durch dieses Umfeld ausgesetzt ist: in den selbstgewählten französischen Vornamen der Tunesier wie ›Claude‹ und ›Simon‹ und insbesondere bei ›René‹ und seinen Söhnen ›Franck‹ und ›Sébastien‹ wird die Neigung, sich anzupassen, deutlich sichtbar. Im Zentrum der Gruppe der ›flics‹ steht Inspektor Mangin, der wegen Drogenhandels gegen den Clan um die Slimane-Brüder ermittelt. Mangin ist ein verwitweter Polizeiinspektor, der von der Figur her als »kaputter Bulle«9 bzw. als »Flic[] auf verlorenem Posten«10 angelegt ist, was bereits auf eine Problematik in der Gruppe der ›flics‹ und eine drohende Destabilisierung der Opposition hinweist. Symptomatisch für die schleichende innere Zersetzung des Exekutivorgans der Polizei ist eine Szene bei einem Umtrunk auf dem Revier, in dem einer der älteren Kollegen als von Alkohol und Krankheit zerstörtes Wrack mit traumatischer Indochinakriegvergangenheit charakterisiert wird. Der Topos des ›kaputten Bullen‹, der dann am Ende gar den Gangstern ähnelt, ist freilich nichts Außergewöhnliches im Genre.11 Mangin selbst spricht von der Austauschbarkeit der beiden: »On dit souvent qu’ les flics et les truands c’est pareil« (P 01:43:54). Allerdings steht Mangin hier schon am Ende seines Seitenwechsels, den er im Laufe des Films vollzogen hat. Mangins Kaputtheit wird vor allem an seiner radikalen privaten Vereinzelung und Vereinsamung festgemacht, die von seiner defizitären Familiensituation bestimmt ist. Nach dem Tod seiner Frau (der nicht näher erläutert wird) ist er ein alleinstehender Vater von zwei Töchtern (die auf Plotebene durchweg abwesend sind, was seine familiäre Einsamkeit noch unterstreicht), und seine Verzweiflung zeigt sich in den hilflosen Versuchen der Kontaktaufnahme, erst bei der neuen Kommissarsanwärterin Marie Vedret und, fast unmittelbar nachdem er von dieser abgewiesen wird, in einer analogen Situation in seinem Auto bei Noria. (Abb. 1/2: P 01:05:06/01:09:17)

9 Gerhold 1989, 235. 10 Seeßlen 1999, 348. 11 Vgl. etwa Ritzer 2012 zu Yves Boissets Un condé (1970), dort S. 18 f., vgl. dann auch die Figur des Kommissars Alex, der aus einer Gangsterfamilie stammt, bei André Téchiné, Les voleurs (1996).

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2. G EGENÜBERSTELLUNG UND D ESTABILISIERUNG Die Konfrontation der beiden Gruppen wird in Police exemplarisch in der Situation des Gegenübers im Verhör gestaltet, und zwar direkt mit dem Einstieg des Films in die Handlung. Der Beginn zeigt Inspektor Mangin beim Verhör des Verdächtigen Tarak ›Claude‹ Louati, in das unmittelbar mit einer Nahaufnahme auf diesen hineingeschnitten wird. Es ist bereits im Gange und scheint noch nicht viel Verwertbares ergeben zu haben, so dass Mangin gerade mit Ungeduldsäußerungen eine Phase der Verschärfung des Verhörs einleitet. In der Schuss-Gegenschuss-Montage von Vernommenem und Inspektor wird das oppositive Gegenüber von ›flic‹ und ›truand‹ nachdrücklich betont. Mit dem Verhör nimmt Police ein wesentliches Plotelement des Kriminalfilms auf. Dort gehört das Verhör zu den Handlungsschritten, die Teil der Ermittlungen sind: Es gehört zum Bereich der »Detektion«, und es steht in dem idealtypischen Modell Hickethiers in der Mitte zwischen »Verbrechen« und »Bestrafung«.12 Eine Besonderheit bei Pialat besteht nun darin, dass dieses Genreelement ›Verhör‹ im ersten Teil von Police geradezu serialisiert wird. Zunächst einmal dadurch, dass die Polizeiarbeit auf dem Kommissariat als sukzessive Folge und paralleles Nebeneinander von mehreren Verhören gezeigt wird. Fünf Verhöre prägen die ersten 40 Minuten des Films: die Verhöre von Tarak ›Claude‹ Louati, Simon Slimane, René El Gassah, Noria und das des Handtaschenräubers, das in das Verhör Norias eingeschoben wird. Bei dieser Verkettung handelt es sich nicht nur um eine additive Reihung einander gleichgeordneter Verhöre. Die Verhöre 2, 3 und 4 sind Folgen des Verhörs 1, hängen also handlungslogisch davon ab und sollten auch mit den jeweils in ihnen erfragten Informationen zu einem stetig anwachsenden Ermittlungsfortschritt führen. Es entsteht aber im Gegenteil

12 Vgl. Hickethier 2005, 22. Gelegentlich macht das Verhör als Sonderform einen ganzen Film aus, etwa in Claude Millers Garde à vue (1981) (vgl. dazu Gerhold 1989, 225 f.). Zum Verhörfilm als Subgenre des Polizeifilms vgl. Seeßlen 1999, 191-196; hier werde, so Seeßlen, das Verhör meist als »psychisches Duell« inszeniert, und der Verhörfilm als vor allem »europäisches Genre« zeige insbesondere zwei Aspekte: den »Impuls, die Wahrheit zu finden […], und die mögliche Kritik an den unmenschlichen Methoden des Verhörs« (S. 191).

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(Abb. 1/2)

der Eindruck, dass ein Verhör nur zu einem weiteren Verhör führt, so dass die Aufklärungsarbeit eher ein repetitives Stocken der Detektion ist, die eine Struktur des Aufschubs und der Suspension aufweist. Auch das gewissermaßen en passant eingeschobene Verhör 5, das Teil einer anderen Ermittlung ist, destabilisiert den Eindruck eines klaren linearen Verlaufs der Polizeiarbeit. Und zusätzlich lässt die Tatsache, dass neben den im Vordergrund gezeigten Vernehmungen parallel an anderen Schreibtischen im Hintergrund andere Verhöre im Gange sind, die Polizeiarbeit alles andere als zielgerichtet und konzentriert erscheinen. Der Film erlangt hier vielmehr eine quasidokumentarische Qualität, die Erfordernisse einer plotorientierten Dramaturgie ignoriert.13 Als Teil der Detektion dienen Verhöre in der Regel der Aufklärung des Falles und somit der Ergründung der Wahrheit.14 Seeßlen stellt hierbei einen Zusammenhang mit der »europäische[n] Tradition der gesellschaftlich organisierten ›Wahrheitsfindung‹« her, für die er etwa die Inquisition der katholischen Kirche anführt.15 Demnach sind Verhöre als jene Diskursrituale der Geständniserzeugung zu begreifen, die Foucault einem ›Willen zum Wissen‹ zuschreibt.16 Die Verhöre in Police jedoch drohen bereits auf der fundamentalen Ebene der Eruierung der Identität der Vernommenen zu scheitern. Jardon-

13 Gerhold bezeichnet den »Erzählgestus« im ersten Teil des Films als »halbdokumentarisch« (1989, 236). Magny bescheinigt Pialats Filmen generell eine »volonté de capter la réalité sans lui faire signifier a priori telle ou telle chose« (1992, 25). Vgl. auch die Stichworte »Captation du réel« und »Documentaire« bei De Baecque 2008, 66 ff. u. 100 f. 14 Vgl. Hickethier 2005, 29. 15 Seeßlen 1999, 191. 16 Foucault 1989. Den Zusammenhang des Willens zum Wissen mit der Entstehung kriminalistischer Denkmuster zeigt Vogl 1991. Zum Verhör als Prozedur der Wahrheitsermittlung vgl. umfassend Niehaus 2003.

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net spricht von einem »Abgrund der Identitäten«, der sich hier auftue.17 Die Angehörigen des Clans versehen sich nämlich, wie erwähnt, allesamt mit französischen Namen: Tarak etwa nennt sich ›Claude‹, Nazri Slimane nennt sich ›Simon‹. Mangins Erfragen der Identität des Letzteren erfolgt mit großem affektgeladenem Nachdruck: »Simon? C’est qui Simon? Qui? Simon qui?« (P 00:02:23 ff.). Doch der als ›Simon‹ vernommene Nazri Slimane streitet ab, Simon zu sein (»Personne ne m’appelle Simon«; P 00:15:37 u. 56). Gleichwohl beziehen sich im Fortlauf des Films alle mit großer Selbstverständlichkeit auf ihn als ›Simon‹ (so etwa umstandslos René; P 00:26:00). Auf diese Weise werden Namen zu bloßen arbiträren Bezeichnungen, die zwar in der Verständigung, auch zwischen Polizei und Gangstern, funktionieren, sich aber im Verhör trotzdem nicht auf eine feste Zuschreibung fixieren lassen. Weiter zeigt sich in den Verhören, wie schon angedeutet, eine Verlagerung des Fokus auf eine quasidokumentarische Ebene. Weniger die in ihnen erfragten und verwertbaren Ergebnisse scheinen im Vordergrund zu stehen. Vielmehr offenbaren die Verhöre auf der einen Seite das rüde und brutale Vorgehen der Polizeibeamten, insbesondere Inspektor Mangins, und auf der anderen die körperlichen und emotionalen Reaktionen der Vernommenen. Damit werden der Vernehmende und der Verhörte zu gleichermaßen interessierenden Gegenständen, deren Gestik, Mimik und Sprechperformance aufmerksam registriert werden (etwa wenn sich Mangin unwillkürlich unter das Hemd greift, um sich zu kratzen; P 00:02:54). Überspitzt könnte man sagen, dass hier die ›Wahrheit‹ auf einer anderen Ebene gesucht wird, auf der des Kamera-Blicks nämlich: denn es geht hier um die Wahrheit der filmischen Repräsentation vor der Kamera agierender Körper und damit weit weniger um das Geständnis der Verdächtigen, als vielmehr darum, die gefilmte Wirklichkeit vor der Kamera gewissermaßen ›zum Gestehen‹ zu bringen.18 So arbeitet die Darstellung in den Verhören auf discours-Ebene geradezu der Auflösung der für die histoire-Ebene relevanten Opposition zwischen ›flics‹ und ›truands‹ zu. Was die Verhöre zudem als ein die Grenzen zwischen Polizei und Gangstern übergreifendes strukturelles Dispositiv ausweist, ist die Tatsa-

17 »[L’]abîme identitaire« (Jardonnet 2006, 211). 18 Um eine auf Erich von Stroheim gemünzte Formulierung André Bazins zu verwenden (Bazin 2003, 260).

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che, dass sich die Verhörsituation auch in den als Zweierkonstellation geführten Privatgesprächen von Mangin fortsetzt.19 Vor allem in den Zwiegesprächen mit den Frauen, denen gegenüber er ein sexuelles Interesse artikuliert, reproduziert er damit eine aus seiner Funktion im Dienst übernommene Rolle. Besonders bedeutsam für das Verhältnis zwischen den opponierenden Gruppen und damit für die Konfrontation der involvierten Codes ist jedoch, dass im Verhör eine Verhandlung der zur Debatte stehenden Werte stattfindet: das Verhör wird nämlich zum Ort eines Deals zwischen Polizei und Gangstern, zum Medium gar eines Einvernehmens zwischen ihnen. Wenn Mangin in dem Verhör mit Tarak ›Claude‹ Louati, das den Einstieg des Films darstellt, diesem ein Tauschgeschäft des ›donnant-donnant‹ vorschlägt, dann setzt bereits ein Vorgang ein, der von einer Äquivalenz der in den Verhören hervorgebrachten ›Wahrheiten‹ mit bestimmten Vergehen ausgeht, über die Mangin hinwegzusehen bereit ist, wenn er eine entsprechende Gegenleistung bekommt. Dieses Spiel des ›donnant-donnant‹ setzt denn auch die Kettenreaktion der Handlung des Films in Gang, indem sie die nächsten Verhörpartner Simon und Noria auf den Plan ruft und damit die für Mangin so folgenreiche Begegnung mit Noria herbeiführt. Auffällig ist, dass das von Mangin gemachte Angebot des ›donnantdonnant‹ nicht nur in der Schuss-Gegenschuss-Montage des VerhörDialogs strukturell gespiegelt ist, sondern durch das Nachfragen auch noch in den Repliken verdoppelt wird: »C’est donnant-donnant.« (P 00:01:30) / »Comment donnant-donnant?« (P 00:01:34) / »C’est donnant-donnant, tu comprends« (P 00:01:36), während der Verhörte hier ein weiteres »comment?« intermittierend in Mangins Bestärkung seines Angebots einwirft. (Abb. 3/4: P 00:01:30/00:01:33) Der Deal, bei dem Mangin eine bei Tarak gefundene Waffe aus den Akten streichen will, wird so ausdrücklich thematisiert und zwischen den beiden Gesprächspartnern hin- und hergereicht, als müsste das zugrundeliegende Tauschprinzip auch noch auf sprachgestischer und filmstilistischer Ebene performiert werden. Das Prinzip des ›donnant-donnant‹ ist Teil einer von Deleuze in einem kurzen Essay mit ebendiesem Titel skizzierten »Philosophie de la série noire«, dergemäß nicht die Suche nach Wahrheit das Ziel der Ermittlungen

19 Darauf hat Serge Toubiana in seiner Besprechung für die Cahiers du Cinéma 375 (1985) hingewiesen (vgl. http://www.maurice-pialat.net/toubiana1.htm).

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in den Romanen der ›Série noire‹ sei, sondern eine »compensation d’erreurs«.20 Die in den Verhören gemäß der Genrekonvention aufgebaute Konfrontation der Parteien, die immer wieder destabilisiert wird, findet zum Abschluss der Sequenz mit den fünf Verhören noch eine eigenartige demonstrative Unterstreichung. In den Räumlichkeiten der Polizeibrigade findet ein nicht näher kommentierter Umtrunk der Polizeibeamten statt (P 00:40:00 ff), und das auffällligerweise genau vor den Arrestzellen, in denen sich die in den vorangegangenen Szenen Verhörten befinden. Die Arrestzellen sind von dem Bereich davor durch Türen und Wände mit Glaspartien getrennt, sodass die Zelleninsassen die Beamten sehen können; an einer Stelle beginnt einer der Beamten gar, die Insassen der Arrestzellen mit Gesten zu provozieren, was Mangin dann diskret unterbindet (P 00:40:45).

3. G RENZGANG

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T RANSGRESSION

Die Konfrontation zwischen den vordergründig klar definierten Gruppen der ›truands‹ und ›flics‹ bildet eine Art Folie, vor der sich insbesondere vier Figuren des Films als isolierte Individuen bzw. Einzelgänger zwischen den Gruppen abheben und die sich auf der Grenzlinie zwischen den beiden Ordnungen bewegen. Der Inspektor Mangin, der Anwalt Lambert, der die Slimane-Brüder verteidigt, die Freundin des Verdächtigen Simon Slimane, Noria, und auch die Prostituierte Lydie stehen dabei nicht einfach nur zwischen den Fronten, sondern sie flottieren frei – sie sind bereit, in kurzzeitige Bindungen zu treten, egal in welchem der beiden Lager. Signifikant für dieses Flottieren zwischen den Fronten sind die vielen informellen Begegnungen zwischen diesen Figuren im öffentlichen Raum, auf der Straße und in Lokalen, die eine Zone der Indistinktheit schaffen, einen Bereich der Vermischung. Die filmische Textur von Police fördert diese Atmosphäre der Vermischung als die einer sozialen Interaktion seiner Figuren. Inszenierung und Montage folgen der Bewegung der Figuren im Raum, wobei selten die

20 Deleuze 2002, 116 f. Wir kommen weiter unten noch einmal auf diese »compensation d’erreurs« zu sprechen.

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(Abb. 3/4)

Figuren übersteigende Totalen verwendet werden und eine an den Figuren orientierte Kadrierung der halbnahen Einstellung dominiert. Plansequenzen, die das Zeitmaß der Figurenaktionen nicht manipulieren, sondern respektieren, dann wieder abrupte Schnitte (mitten in eine Geste oder Bewegung, eine Mimik hinein) zielen auf eine authentisierende Darstellung ab, die eine dichte Verwebung der Figuren in ihr soziales Umfeld als Medium ihrer Interaktion erzeugt. Beachtlich ist dabei das Desinteresse der Dramaturgie an der Makro-Chronologie der Ereignisse: Die Darstellung hält sich zwar streng an die lineare Abfolge, aber die unmittelbare Aufeinanderfolge der einzelnen Ereignisse bzw. größere Zeitsprünge zwischen ihnen wird nicht deutlich gemacht.21 Es geht vorrangig um die jeweilige Szene oder Sequenz in ihrer oft genügend chaotisch und turbulent anmutenden Gegenwärtigkeit für die Figuren. Lambert etwa, der es auf Lydie abgesehen hat und wohl auch im Sinne seiner eigenen Interessen an ihr den Coup mit Mangin zusammen einfädelt, bei dem ihrem Zuhälter Dédé von der Polizei Drogen untergeschoben werden, damit dieser aus dem Weg ist, versucht auch mit der Kommissarsanwärterin Marie Vedret anzubandeln. Zudem hatte er ein Verhältnis mit Noria. Lambert ist befreundet mit Mangin und befindet sich als Anwalt derer, gegen die Mangin ermittelt, damit von vornherein in einer Zwischenposition. Diese prekäre Situation Lamberts ist auch ausdrücklich Gegenstand eines Gesprächs, das die beiden früh im Film führen. Als es um die Prostituierte Lydie und ihren Zuhälter geht, sagt Mangin zu Lambert: »Tu as tout l’air d’un proxo« (P 00:21:15), um dann Lambert direkt auf die Gefahr eines Übergangs in das andere Lager anzusprechen: »Tu es en train de passer

21 Vgl. dazu die Stichworte »Béance« und »Ellipse« im Dictionnaire Pialat, wo u.a. von der bei Pialat häufig anzutreffenden »absence de transition« die Rede ist (De Baecque 2008, 44 ff. u. 111).

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de l’autre côté« (P 00:21:20), ein Vorwurf, den Lambert nochmals zur Verdeutlichung paraphrasiert: »Tu me vois en train de virer voyou?« (P 00:21:30). Mangin spricht dieses Thema an, weil er sich selbst in derselben Gefahr sieht. Und im Grunde ist er selbst schon in diesem Moment dabei, die Seiten zu wechseln, schließlich erklärt er sich bereit, bei Lamberts Spiel mitzumachen, wenn es darum geht, den Zuhälter von Lydie für kurze Zeit auszuschalten. Wie sehr ihn die Problematik selbst betrifft, kann man dann kurz darauf an dem anstehenden Verhör mit dem Bistrobetreiber René erkennen, in dem Mangin Stammgast ist. Aus Befangenheit überlässt er es lieber seinem Kollegen aus Marseille, diese Vernehmung durchzuführen (P 00:24:10 ff). Das ›Flirten‹ mit der anderen Seite prägt Mangin von Anfang an; es deutet sich in dem Deal des ›donnant-donnant‹ an, den er Tarak vorschlägt, es setzt sich in seinen aggressiven Ausbrüchen gegen die Verdächtigen bei den Verhören fort. Die definitive Überschreitung der Grenze vollzieht er, als er sich in Noria verliebt und mit ihr eine Beziehung beginnt. Das Transgressive dieser Liaison wird nachdrücklich unterstrichen, wenn er den sexuellen Akt mit ihr in den Räumen der Brigade zu vollziehen versucht, außerhalb der Hauptdienstzeiten zwar, aber dennoch auf der Hut vor zufällig anwesenden Kollegen, vor denen die beiden sich verbergen. Er ist sich des Verbotenen seines Handelns sehr wohl bewusst (P 01:24:52 ff.). Noria ihrerseits ist eine Grenzgängerin im anderen Lager, sie verrät den Kodex der ›truands‹, indem sie die Tasche mit Geld und Drogen aus der Wohnung der Slimane-Brüder entwendet. Eigentlich heißt sie ›Anne‹ und hat sich umgekehrt zur Praxis der Tunesier des Slimane-Clans einen arabischen Namen angeeignet. Sie bekennt sich zu einer Kultur der Lüge, zu der sie schon immer neigte und die sie bei den ›Arabern‹ zu finden glaubt: »les Arabes, ils ont leur vérité, on croit toujours qu’ils mentent« (P 01:35:50 ff.). Die von Noria gelebte Kultur der Lüge und dann auch des Verrats steht diametral zur Welt der Verhöre und ihrer Geständniserzeugung, die Mangin in seinem Beruf, wenn auch immer weniger erfolgreich, zu vertreten hat. Dass Mangin nun durch seine individuelle Vereinzelung, seine Verletzbarkeit im Privatleben, vollends auf die andere Seite gezogen zu werden droht, wird veranschaulicht in der verlockenden Möglichkeit, mit Noria und dem den Brüdern Slimane entwendeten Geld aus dem bisherigen Leben zu entfliehen. Allerdings ist dies eine Option, die für Mangin nicht in Frage

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kommt, und zwar aus moralischen Gründen, die nichts mit seinem Polizeiberuf zu tun haben, sondern wohl eher mit seiner kleinbürgerlich rechtschaffenen Herkunft. Es geht dabei um das durch ehrliche Arbeit verdiente Geld, das er dem durch Nicht-Arbeit, durch »la casse ou le loto« (P 01:37:30) erlangten illegitimen Geld, kategorisch vorzieht. Norias gestohlenes Geld wird Mangins Integrität aber letztlich auf eine andere Art zum Verhängnis. Denn Noria bekommt es aufgrund des zunehmenden Drucks des Clans, dessen Verdacht sich auf sie bzw. auf ihren Bruder richtet, mit der Angst zu tun; auch Lambert als ebenfalls des Diebstahls Verdächtigter wurde schon in die Enge getrieben. Um Norias Unversehrtheit oder gar ihr Leben zu retten, stellt sich Mangin zur Verfügung, das Geld und die Drogen an den Clan zurückzugeben. Es kommt zu einer quasioffiziellen Rückgabe, zu einer Restitution des den Gangstern entwendeten Gutes. Von René, der hier im Namen des Clans agiert (womit er das überzeugende Leugnen der Kenntnis des Clans im Verhör Lügen straft), wird bei der Übergabe der bezeichnende Kommentar geäußert: »C’est le monde à l’envers.« (P 01:39:20) Die Verkehrung der Verhältnisse besteht vordergründig darin, dass der Vertreter der Polizei eine Übertretung des Kodex unter den Gangstern in Ordnung bringt. Die Rückgabe des Geldes und der Drogen, die genau den Tatbestand bestätigen, den Mangin seit Beginn des Films mit seinen Ermittlungen verfolgt, stellt gewissermaßen eine Anerkennung des Illegalen dar. Anderseits folgt Mangin seinen privaten Moralvorstellungen, indem er genau das unmoralisch erlangte, nicht durch Arbeit erworbene Geld zurückgibt, und er scheint dabei seine Integrität wiederherzustellen. Eine strukturelle Ironie ergibt sich daraus, dass Mangin nun in einem umfassenderen Sinne jener Logik des ›donnant-donnant‹ gehorcht, die er zu Beginn des Films im Verhör aus einer Position des Mächtigeren heraus eingeführt hat. Nur dass er sich jetzt auf dem Platz des Schwächeren befindet. Tatsächlich scheint sich nunmehr hier jene ›compensation d’erreurs‹ zu ereignen, in der Deleuze die eigentliche Bedeutung des Prinzips des ›donnant-donnant‹ in der Série noire sieht. Er stellt auch einen Zusammenhang mit der Suspendierung der Wahrheitssuche her: C’est que la vérité n’est pas du tout l’élément de l’enquête: on ne peut même pas penser que la compensation des erreurs ait pour objet final la découverte du vrai. Elle a au contraire sa dimension propre, sa suffisance, une espèce d’équilibre ou de

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rétablissement de l’équilibre, un processus de restitution qui permet à une société, aux limites du cynisme, de cacher ce qu’elle veut cacher, de montrer ce qu’elle veut montrer, de nier l’évidence et de proclamer l’invraisemblable.22

Die von Mangin (nach den Regeln der ›truands‹) vollzogene Restitution und ihre nachdrückliche Bestätigung des Äquvalenzprinzips des ›donnantdonnant‹ ist kein Nullsummenspiel, bei dem etwas im Sinne des üblichen Kriminalgenres ›in Ordnung‹ gebracht würde. Es wird nicht einmal mehr der Schein einer Ordnung aufrechterhalten, wie dies Deleuze für die Romane der Série noire der 1950er und 1960er Jahre konstatiert. Vielmehr artikuliert sich das Prinzip des ›donnant-donnant‹ in seiner nackten Funktionsweise: im zerstörerischen Effekt auf das Einzelindividuum mit seinen Illusionen von privatem Glück und beruflichem Ethos. Es sieht sich zum bloßen Instrument reduziert. Zurück bleibt ein beschädigter, um nicht zu sagen zerstörter Mangin: die erhoffte Liebesbeziehung zu Noria realisiert sich nicht (der letzte Dienst, den er ihr mit der Rückgabe des Geldes erwiesen hat, entspricht auch der Geste einer Auflösung der Beziehung: es ist, als ob das kriminelle Gut, das sie heimlich besaß, ihn an sie gebunden hätte), und der Akt der Restitution kompromittiert ihn definitiv als Kriminalbeamten. Bezeichnend ist die nach der Übergabe des Geldes erfolgende zufällige Begegnung mit dem Handtaschenräuber, dem Mangin im Verhör brutal die Nase gebrochen hat. Mangin stellt sich gewissermaßen mit vollständigem Namen, als würden die Verhältnisse tatsächlich umgekehrt (monde à l’envers) und als wäre er nun der Verhörte: »Je m’appelle Louis Vincent Mangin.« (P 01:41:00) Man kann dies als den Versuch einer Selbstvergewisserung begreifen, der nichts anderes mehr zur Hand ist als der bloße arbiträre Name und die hilflos auf diesen formalen Akt der erkennungsdienstlichen Behandlung seiner selbst zurückgreift. Die letzte Einstellung zeigt – in Entsprechung und Kontrast zum Moment des beginnenden Liebesglücks Mangins (P 01:15:18) – ein radikal vereinzeltes Individuum, das aus allen Zusammenhängen gefallen scheint und zurückgeworfen ist auf einen unauslotbaren Gefühlsausdruck der Wirrnis: ein Affektbild, das stillgestellt ist in einem freeze frame. (Abb. 5/6: P 01:15:18/01:45:46)

22 Deleuze 2002, 117.

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(Abb. 5/6)

L ITERATUR Bazin, André (2003), »Die Entwicklung der kinematographischen Sprache« (1958), in: Texte zur Theorie des Films, hg. v. Franz-Josef Albersmeier, 5. Aufl., Stuttgart (RUB 9943), S. 256-274. De Baecque, Antoine (2008), Le Dictionnaire Pialat, Paris. Deleuze, Gilles (2002), »Philosophie de la série noire« (1966), in: G.D., L’île déserte et autres textes. Textes et entretiens, hg. v. David Lapoujade, Paris, S. 114-119. Fontanel, Rémi (2004), Formes de l’insaisissable. Le cinéma de Maurice Pialat, Lyon. Foucault, Michel (1989), Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen (1976), übers. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a.M (stw 716). Gerhold, Hans (1989), Kino der Blicke. Der französische Kriminalfilm, Frankfurt a.M. Hickethier, Knut (Hg.) (2005), Filmgenres. Kriminalfilm, Stuttgart (RUB 18408). Jardonnet, Evelyne (2006), Poétique de la singularité au cinéma. Une lecture croisée de Jacques Rivette et Maurice Pialat, Paris. Lotman, Jurij M. (1972), Die Struktur literarischer Texte, übers. v. RolfDietrich Keil, München (UTB 103). Magny, Joël (1992), Maurice Pialat, Paris (Cahiers du Cinéma). Martinez, Matias / Michael Scheffel (2007), Einführung in die Erzähltheorie (1999), 7. Aufl., München. Niehaus, Michael (2003), Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion, München.

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Ritzer, Ivo (2012) »Polar. Zum Diskurs des französischen Kriminalfilms«, in: I.R. (Hg.), Polar. Französischer Kriminalfilm, Mainz, S. 7-32. Seeßlen, Georg (1999), Copland. Geschichte und Mythologie des Polizeifilms, Marburg. Vogl, Joseph (1991), »Mimesis und Verdacht. Skizze zu einer Poetologie des Wissens nach Foucault«, in: François Ewald / Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. (es 1640), S. 193-204. Warehime, Marja (2006), Maurice Pialat, Manchester.

Von Ex-Bullen, Rechercheuren und Reanimateuren Wirklichkeitsbehauptung und Lust am Genre – Aspekte des französischen Gangsterfilms der 2000er und 2010er Jahre D UNJA B IALAS

1. P ERSISTENZ Zu Beginn der 1990er Jahre erfährt der Polar1 in Frankreich eine Wiederbelebung, dies jedoch anders als in den vorangegangenen Jahrzehnten. Film noir, Film policier und Film de gangsters werden in den 1970er und frühen 1980er Jahren vor dem Hintergrund einer sich politisierenden und modernisierenden Gesellschaft inszeniert. Das historische Erbe des Algerienkriegs und die aus ihm resultierenden Seilschaften, die sich in allen gesellschaftlichen Schichten fortsetzen, kollidieren mit der zeitgenössischen Kritik der

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›Polar‹ ist Portemanteau für einen sehr französischen Genrebegriff, in dem sich ›police‹ und ›argot‹ (stellvertretend für die sich im Jargon kristallisierende Welt der Gangster) zusammentun (vgl. Ritzer 2012, 12). In ihrem Beitrag zur Retrospektive »Il Polar« des 33. Bergamo Film Meeting umreißt die italienische Filmwissenschaftlerin Gloria Zerbinati ›Polar‹ als »a lungo considerato un sottogenere del poliziesco o del noir (da qui il nome composto)« (Zerbinati 2015, 4).

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politisierten (Post-) 68er-Generation; beides bildet die oftmals deutlich artikulierte gesellschaftspolitische Folie der Kriminalgeschichten. In Jacques Brals durch seinen Titel auf das Genre selbst abhebendem Film Polar (1984) steht ein Privatdetektiv im Zentrum, der in der Vorgeschichte ›aus Versehen‹ einen Polizisten im Zuge einer 68er-Demo getötet hat. Philippe Labro lässt in Sans mobile apparent (1972) die Autos von Funktionären und Angehörigen der mondänden Gesellschaft mit pazifistischen Graffitis besprühen, während diese ihre Verbundenheit seit dem Algerienkrieg beschwören. Oft ist es der Gangster, der aus seiner anarchischen Haltung heraus die gesellschaftliche Ordnung herausfordert, sich dabei freiheitsliebend und human zeigt, wie in Alain Corneaus Le Choix des armes (1981). Andererseits wurde die französische Gesellschaft in den siebziger Jahren moralisch freizügiger, und die in den Filmen dargestellten kriminellen Handlungen gingen mitunter das Paradox ein, mittels des Verbrechens die moralische Ordnung wiederherstellen zu wollen. Paradebeispiel hierfür ist Henri Verneuils Peur sur la ville, der 1975 mit über drei Millionen Besuchern Frankreich in Atem hielt.2 In ihm jagt Jean-Paul Belmondo als leidenschaftlicher Kommissar Le Tellier den Frauenmörder Minos. Gegen den neuen feministischen Diskurs der selbstbestimmten und sexuell befreiten Frau und den Zerfall der patriarchal geprägten Gesellschaftsordnung stellt sich die antimodernistische Tendenz des archaischen Frauenmörders, der monsterhaft mit dem starren ›Blick‹ eines Glasauges gezeichnet wird. Dem Gangster als selbstberufenem Hüter der moralischen Ordnung werden hier restaurative Tendenzen zugeschlagen, während der Kommissar die moderne und sich reformierende Gesellschaft repräsentiert: Peur sur la ville ist der Polar als politischer Kommentar. Zu Beginn der 1980er Jahre wird es trotz vereinzelter Filme ruhiger um das Kriminalgenre.3 Eine neue, von der Kritik unter großem Vorbehalt aufgenommene kinematographische Opulenz erobert die Kinos: das Cinéma du look, das ebenfalls, wenn auch spärlich und unter anderem Vorzeichen,

2 3

Vgl. http://www.boxofficestory.com/peur-sur-la-ville-jean-paul-belmondo-boxoffice-1975-a112628204 (alle Zugriffe 9.11.2015). Nicht unerwähnt bleiben sollen Vivement Dimanche! von François Truffaut (der 1983, ein knappes Jahr vor seinem Tod, in die Kinos kam) sowie Robert Bressons im selben Jahr realisierter letzter Film L’Argent.

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Kriminalgeschichten hervorbringt.4 Das rätselhafte, sich mit intellektuellen Andeutungen begnügende Erzählen und die sich an der gesellschaftlichen Beschaffenheit abarbeitenden Antagonisten machen Platz für die Oberflächenreize »einer radikalisierten Postmoderne [...], in der Form über Inhalt geht, in der Schein und Leuchtfarben [...] vor Körperwelten und Wirklichkeit zählen und Bildeffekte gegenüber jeder Handlungslogik triumphieren«.5 Repräsentanten des postmodernen Cinéma du look sind Jean-Jacques Beineix (Diva, 1981), Léos Carax (Mauvais sang, 1986) und Luc Besson (Nikita, 1990). Besson forciert in der Folge die Erneuerung des Genrefilms bei veränderten Parametern. Nikita bildet den Auftakt zu einer in Frankreich ungewohnten kinematographischen Tonalität, in der sich Versatzstücke des Gangsterfilms mit jenen des Actionfilms verbinden. Inszenierungen expliziter Gewalt zugunsten spektakulärer Schauwerte halten Einzug in das französische Kino, ohne dass dies jedoch, wie es später durch Autoren des Gangsterfilms wie Olivier Marchal oder Frédéric Schoendoerffer der Fall sein wird, durch tiefere Handlungszusammenhänge motiviert wäre. Mit temporeichen Verfolgungsjagden, blutigen Gefechten, sexualisierten Frauen und niederschwelligem Argot wird der Kriminalfilm gleichermaßen für den Mainstream wie für ein junges Publikum aufbereitet und für eine neue Ära gerüstet, zu einer Zeit der beginnenden Bildexplosionen und schnellen Schnitte.6 Vier Jahre später, mit der englischsprachigen, auf den amerikanischen Markt zugeschnittenen Produktion Léon (1994) etabliert Besson den Schauspieler Jean Reno als neue ›Gangster-Fresse‹ und beginnt die Internationalisierung des französischen Filmschaffens.7 Zugleich lanciert er den

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5 6

7

Vgl. Rauscher 2012: »Das Cinéma du look ist die Gegeninstanz zum Polar, der die Geschichte des Aufklärungsblicks ist« (145); und Knörer 2012: »Man darf [...] nicht vergessen, dass Marchal kaum an die jüngere Vergangenheit seit den 1980ern anschließen kann. Die Tradition brach nämlich ab. Nach Alain Corneaus Le choix des armes (1981) verlor das französische Kino thematisch, ästhetisch und überhaupt den Bezug zur Geschichte von Série noire und NeoPolar. Es folgte auch hier eine Phase der Veräußerlichung aller Genre-Merkmale und Signale im Cinéma du look«. (179 f.) Rauscher 2012, 144 f. MTV Europe, der generell für die sich verändernde Bildgestaltung verantwortlich gemachte Musikkanal, gründet sich 1987 und wird bis 1995 europaweit frei ausgestrahlt (vgl. Greenberg 2009). »Based initially on iconoclastic, youth-angled cinéma du look hits [...], Besson designed and made famous an aggressivly commercial production aesthetic,

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neuen Typus des Produzenten-Kinos (im Gegensatz zur von François Truffaut proklamierten Politique des auteurs), was 2000 in die Gründung von EuropaCorp und La Cité du Cinéma mündet.8 Spätestens jetzt wird die vielzitierte Dichotomie von Europa und USA obsolet, deren »implicit items of conventional wisdom« Thomas Elsaesser wie folgt benennt: »Europe stands for art, and the US for pop; Europe for high culture, America for mass entertainment; [...] Europe for state (subsidy), Hollywood for studio (box office)«.9 Neue Autorenfilmer wie Olivier Marchal oder Frédéric Schoendoerffer lassen sich von der brutalen und actiongeladenen Erneuerung der Bildsprache anstecken, deren Explizitheit sich in einem neuen Realismus (Marchal) oder Psychologismus (Schoendoerffer) Bahn bricht, was die oberflächlichen Schauwerte des Cinéma du look zumindest handlungslogisch verankert. Weitere Auffächerungen des Genres finden statt: Die Romantisierung des Gangsters zum Outlaw führt der mit fast vier Millionen Besuchern äußerst erfolgreiche Zweiteiler von Jean-François Richet L’Instinct de mort und Mesrine – L’Ennemi public n°1 (beide 2008) vor. Als nennenswertes Randphänomen des neueren Gangsterfilms sei Fabienne Godets sozialromantisierender Dokumentarfilm Ne me libérez pas, je m’en charge über den realen Ausbrecherkönig Michel Vaujour (ebenfalls 2008) aufgerufen. Das Autorenkino wiederum setzt auf Entdramatisierung und Entschleunigung und siedelt seine Gangster im bürgerlichen Milieu an. Beispiele hierfür sind die sich das Genre zunutze machenden, gleichzeitig als Vexierbil-

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changing his home industry forever«, konstatiert der amerikanische Filmwissenschaftler Tim Palmer zum Phänomen Luc Besson (Palmer 2011, 114). Siehe die Selbstdarstellungen der Firmen: »Répondant au défi de concilier passion du cinéma et véritable vision économique, EuropaCorp est un studio intégré qui produit de longues métrages, et gère leur distribution en France et dans le monde. [...] [L]e groupe a notammant développé un savoir-faire en production de film en langue anglaise.« (EuropaCorp) – »En effet, la France en est le premier producteur de film mais elle n’avait malheureusement jusqu’à aujourd’hui aucun lieu susceptible de rivaliser avec les autres studios européens.« (Cité du Cinéma; zit. nach http://www.europacorp-corporate.com/indexfr.html bzw. http://www. citeducinema.org/qui-sommes-nous). Besson knüpft mit der Gründung der Cité du Cinéma an die Tradition der französischen Studios wie Boulogne-Billancourt oder Studios Pagnol an, die zur Zeit des Cinéma de qualité ihre Blütezeit hatten. Elsaesser 2005 (zit. nach Lovell / Sergi 2009, 5).

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der rezipierbaren Filme von Cédric Anger mit Le Tueur (2007) und Claire Denis’ Les Salauds (2013), in denen sich einerseits der Gangsterplot unter Aspekten der zugrundeliegenden bürgerlichen Handlung entkriminalisiert, sich andererseits der bürgerliche Raum als ›durchkriminalisiert‹ erweist. Zudem kommt es durch den Wechsel von Drehbuchautoren (Cédric Anger), Schauspielern (Guillaume Canet) oder bei der Filmproduktion Beteiligten (Kameramann Pierre Morel) ins Regiefach sowie durch die Etablierung neuer Stars wie Vincent Cassel (Mesrine, Teil 1 und 2, 2008) oder Niels Arestrup (Un Prophète, 2009, 96 Heures, 2014) als Gangsterdarsteller zu einer Vervielfachung der Filmproduktionen – der französische Gangsterfilm ist in den 2000er und 2010er Jahren wieder allgegenwärtig. Im folgenden soll diese Persistenz des Gangster-Genres bei seiner gleichzeitigen Ausfächerung anhand konkreter Filmbeispiele betrachtet werden. Die Variabilität des Genres entfaltet sich hierbei im Spannungsfeld von Arbeit und Action, Sozialkritik und Popularisierung, einhergehend mit deutlichen oder unterschwelligen Authentifizierungsbestrebungen und Genremodifikationen.

2. AUSFÄCHERUNGEN 2.1. Wirklichkeitsbehauptung: Systemkritik und Sozialrealismus Wirklichkeitssegmente als zur Darstellung gelangende Realitäten reichern im Zuge autorenseitiger Authentifizierungen das Genre an.10 Die mit der Genretradition gewachsene Regelhaftigkeit für Plot, Figuren und Intrigen widersteht indes dem Realismus als dominant diskursgebendem Element:

10 Unter dem Stichwort ›Realitäten‹ sei hier auf zwei weitere Gangsterfilme hingewiesen: Olivier Marchals Les Lyonnais (2011) behandelt Aufstieg und Fall der authentischen ›Gang des Lyonnais‹ (aktiv von 1967 bis 1977). Der zweite, gleichfalls historisch geprägte Film ist Jacques Maillots Les Liens du sang (2008), der auf dem autobiographischen Roman Deux frères: flic et truand der Brüder Bruno und Michel Papet basiert (Paris: Flammarion 1999). Sein französisch-US-amerikanisches Remake Blood Ties entsteht 2013 unter der Regie von Guillaume Canet. Dieser wiederum spielte im französischen Original die Rolle des Polizistenbruders François. Hier wird in kleiner Form die Perpetuierung des Genres durch den Rollenwechsel beteiligter Akteure deutlich.

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auch unter dem Einwirken des Sozialrealistischen bricht sich immer wieder das Genre Bahn und forciert die genuin cineastische Rezeption. Olivier Marchal und Xavier Beauvois, die hier paradigmatisch betrachtet werden, kommen, sich darauf berufend, ›das Milieu zu kennen‹, aus je unterschiedlichem Ansatz zu ganz ähnlichen Wirklichkeitsbehauptungen. Olivier Marchal, der 2002 als Regisseur von Gangsters debütiert und 2004 mit 36 Quai des Orfèvres an die französische Tradition des Polizeifilms anknüpft11, ist ein ehemaliger Polizist des Service Régional de Police Judiciaire (SRPJ), den nach eigener Aussage die Filme von Jean-Pierre Melville und Michael Mann sowie die Helden des klassischen französischen Gangsterfilms zum Eintritt in den Polizeidienst motivierten: »J’avais envie d’être un héros.«12 Der Regie wendet er sich unter dem Einfluss des ehemaligen Polizisten Simon Michaël zu, der bereits in den frühen 1980er Jahren mit seiner »expérience du terrain« ein gefragter Drehbuchautor wurde.13 Marchal schildert seine Erfahrungen im Polizeidienst wie folgt: J’ai eu la chance d’être poulet dans les années 80. Les boîtes, la nuit, les fêtes, des supers affaires, on était une vraie tribu, une vraie famille. [...] Tu bosses avec des Corses, des Marseillais, des titis parisiens, des mecs de Belleville, ’y avait plein de codes de langage... C’est la vraie école de la vie, qu’on a perdu aujourd’hui. Avec eux, je me suis prouvé des choses par rapport au courage. J’ai été mal dans ma peau pendant longtemps, et c’est un métier qui m’a permis de m’assumer en tant qu’homme, de me rassurer. Ça m’a amené des choses très noires, très glauques, mais aussi des choses formidables.

Die in der realen Welt erfahrenen Aspekte von Argot, Ersatzfamilie und Testosteron sind die Zutaten seiner Filme, die er, wie er selbst sagt, »en marge« des französischen Autorenfilmschaffens stellt.14 Zugleich zementiert Marchal mit seiner Schilderung das klischierte Milieu, stellt es aber unter die Authentizität der eigenen Erfahrung – und verbürgt das Klischee als ›wahr‹.

11 U.a. in der durch den Titel aufgerufenen Reminiszenz an Henri-Georges Clouzots Quai des Orfèvres (1947). 12 »Olivier Marchal sur tous les fronts!« – Interview mit O.M. in AlloCiné vom 5.7.2014 (Online: http://www.allocine.fr/article/fichearticle_gen_carticle=18634 365.html). 13 »Deux flics infiltrent le cinéma d’Olivier Marchal« – Interview mit Simon Michaël und Michel Alexandre im Nouvel Observateur vom 30.11.2011 (zit. nach http://tempsreel.nouvelobs.com/cinema/20111130.CIN0475/deux-flicsinfiltrent-le-cinema-d-olivier-marchal.html). 14 »Olivier Marchal sur tous les fronts!« (siehe Anm. 12).

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Während Olivier Marchal aus dem Polizeimilieu zu dessen Darstellung wechselt, wendet sich Autorenfilmer Xavier Beauvois dem Milieu aus primär künstlerischer Absicht zu. Ihm dient zur Vorbereitung seines Polizeifilms Le petit Lieutenant das dokumentarische Mittel der Recherche, um seinerseits Klischees und Genrekonventionen zu vermeiden, wie sein Drehbuchautor Cédric Anger hervorhebt.15 Mit der Zurückweisung des Genres und dem angestrebten Realismus stellt sich Beauvois gegen die »façon mensongère«, mit der genretypisch die »réalité de son travail [i.e. du policier]« dargestellt wird. Und weiter: »C’est ce quotidien qui intéresse le cinéaste [Beauvois]. C’est cette recherche qui le pousse à banaliser toute scène d’action la réduisant au ›travail‹ policier, à en évacuer le danger, à changer de héros en cours de route.« Beauvois gibt das Milieu in reportageartigem Stil wieder und führt damit zum Ursprung des Polizeifilms zurück: »Avec son film, il revient à l’origine, c’est-à-dire aux actualités et aux reportages.«16 Aus unterschiedlicher Richtung, vom ›terrain‹ zum ›sujet‹ und dazu gegenläufig vom ›sujet‹ zum ›terrain‹, gelangen bei Marchal wie bei Beauvois Realitäten zur Darstellung. Der Film des Ex-Polizisten Marchal unterscheidet sich von dem des Autorenfilmers Beauvois somit weniger im Anliegen als vor allem in der Handschrift: während Marchal Genrestandards feiert, verzichtet Beauvois weitgehend darauf. Beide jedoch führen das grundsätzliche Versagen der Systeme vor: als systemisches Versagen des Polizeiapparats im Angesicht der Mission, den Grand Banditisme zu bekämpfen, oder als individuelles Versagen des Polizisten, der den alltäglichen Anforderungen des Dienstes am Ende nicht gewachsen ist.

15 »Alors plutôt de se lancer dans un récit traditionnel du genre, il décide de raconter ce qu’il a vécu depuis les premiers mois de ses fréquentations policières.« (Cédric Anger, »Le petit lieutenant de Xavier Beauvois: réalisme et solitude« [2009], veröffentlicht auf http://www.centreimages.fr/Realismeetsolitude.pdf; dort auch alle Folgezitate) 16 Xavier Beauvois stellt sich hier in die Tradition von Raymond Depardon, der als Dokumentarfilmer im Stile des Cinéma direct die Welt von Polizei und Justiz in Form von Reportagen aufzeichnete: Faits divers (1983) dokumentiert die Einsätze eines Kommissariats in Paris, Délits flagrants (1994) zeigt Kleinkriminelle in der Begegnung mit dem großen rechtsstaatlichen Apparat des Palais de Justice von Paris, 10° Chambre, instants d’audience beschließt 2004 die Trilogie mit der Dokumentation einer Strafkammer in Paris.

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2.1.1. Systemkritik: 36 Quai des Orfèvres Im Auftakt von 36 Quai des Orfèvres (2004) werden in Parallelmontage die Verabschiedung eines Dienstkollegen und ein bewaffneter Überfall auf einen Geldtransporter enggeführt. Obgleich hier die traditionelle Opposition ›Gangster‹ gegen ›Bullen‹ gesetzt wird, zieht sich im weiteren die antagonistische Linie entlang zweier konkurrierender Spezialeinheiten der französischen Polizei, der Brigade de Recherche et d’Intervention (BRI) und der Brigade de Répression du Banditisme (BRB), deren realer Sitz die titelgebende Adresse ist. Kommissar Vrink (Daniel Auteuil) der BRI gelangt mit seinen unorthodoxen Methoden der ›Recherche‹, mit denen er sich einen Informanten im Gangstermilieu hält, an das Versteck der Geldtransporterbande, sein Gegenpart Klein (Gérard Depardieu) widersetzt sich Vrinks Plänen und setzt auf ›Repression‹ des Milieus durch einen gewalttätigen Einsatz, bei dem ein Kollege getötet wird – Recherche und Repression wiederum sind die Gegenpole der konkurrierenden Brigaden. Unter der Perspektive der biographischen Verbürgtheit der geschilderten Verhältnisse gerät der Film zur Anklage des unter Korruption und Gewalt geratenen polizeilichen Staatsapparats. Die Korrumpiertheit der Polizei erweist sich als zugrundeliegender Double Bind, innerhalb dessen widersprüchlicher Parameter der Polizist agiert: »Diese Helden arbeiten in der Institution (›Polizei‹) gegen die Institution, in der Überzeugung, der Institution so am besten zu dienen.«17 Die spektakulär und brutal inszenierte Gewalt – der brennende Geldtransporter (36Q 00:08:51), die BeinaheHinrichtung eines Gangsters im Wald (36Q 00:17:15), der Sturz aus dem Fenster, bei dem ein Gangster versucht, den Polizisten mit in den Tod zu reißen (36Q 00:21:17) – trägt sich jedoch stets außerhalb der Polizeistation zu. Die Schießerei, die zum Tod eines Polizistenkollegen führt (ab 36Q 00:43:12), wird auf einem terrain vague in Art des Westerns inszeniert. Einsetzende Zeitlupe und Musik verweisen auf die tragische Unentrinnbarkeit der Polizistenrivalität unter dem Zeichen der Grande Nation. (Abb. 1) In der übernächsten Szene (36Q 00:47:35) wenden sich die Brigadiers aus Protest am eigenmächtigen Einsatz von Kommissar Klein vom französischen Drapeau ab: das System ist erodiert.

17 Siehe Knörer 2012, 177. Zitierter Film: Olivier Marchal, dir. (2004/2008), 36 Quai des Orfèvres, DVD, Gaumont Vidéo, F.

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(Abb. 1: Vergrößerung des Realen: Schießerei auf einem terrain vague in Art des Western)

Der ›Realist‹ Marchal, der sich selbst von der Polizei abgewandt hat, setzt nicht nur in dieser Szene deutliche Signale. Die Inszenierung gerät insgesamt in der Explizitheit und auch im Ausmaß der Gewalt unter die Eigendynamik ihrer brutalen Darstellung, wodurch sich das Reale für die gewünschten Genreeffekte vergrößert18, hält jedoch in ihrer Grundkonstruktion im Vergleich zu Luc Besson zugleich die Zurückhaltung eines um Authentizität bedachten auctor ein. 2.1.2. Sozialrealismus: Le petit Lieutenant Xavier Beauvois, der sich in der Art eines Dokumentarfilmers durch Recherche auf seinen Film vorbereitet, bringt den von ihm postulierten Wirklichkeitsanspruch mit dokumentarischer Gestaltung zur Darstellung. Ähnlich dem sozialrealistischen Kino, wie es das Nouveau cinéma français im Umfeld eines Bruno Dumont oder Laurent Cantet hervorgebracht hat, lässt er in Le petit Lieutenant (2005) seinen Protagonisten Antoine (Jalil Lespert, der 1999 in Cantets Ressources humaines zum sozialrealistischen ›Star‹ wurde) in Szenen agieren, die von einer quasi-dokumentarischen Handschrift geprägt sind. Sie setzt die beschreibende und zu ihren Protagonisten Distanz haltende Erzählweise sich meist langsam und undramatisch entwickelnder Szenen (Deskription) an die Stelle einer dramaturgisch gestalteten, auf Identifikation abzielenden und mit Plotpoints versehenen, span-

18 Vgl. ebd., 181: »[Marchal] zieht, je sicherer er seiner Mittel wird, [...] umso mehr die Lizenz nicht zum Straßenrealismus, sondern zur Vergrößerung des Realen.«

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nungsreichen Narration. Auffallend sind die nüchterne Mise-en-scène, die Abwesenheit von spannungserzeugender Musik und die Kameraführung, die eine figurengebundene Sichtweise suggeriert. Die Figuren interagieren, indem jede die ihr zugedachte, funktionale Rolle in einer abstrakt gewordenen Gesellschaft der Arbeitserfüllung einnimmt.19 Oberkommissarin Caroline Vaudieu (Nathalie Baye) wird Antoine als »Madame Super-Flic« (PL 00:05:08) vorgestellt, die ihn ihrerseits »petit lieutenant« nennt (PL 00:06:07) – mit dem komplementären Paar sind die Hauptfiguren des Films gesetzt. Die Oberkommissarin erweist sich als trockene Alkoholikerin, was – durch die lediglich unter Kontrolle gebrachte Leidenschaft – das Funktionieren des Polizeiapparats grundsätzlich problematisiert. Mit dem Beginn, der Antoine beim Abschluss seiner Ausbildung in der nordfranzösischen Provinz zeigt, wird eine weitere Herkunftsgeschichte eingeführt. Andere Insignien des Sozialrealistischen finden sich im ungestaltet wirkenden ›realen‹ Dekor der Polizeistation sowie in der Thematisierung banaler Aspekte des Arbeitsalltags (»Le café, il est bon?« – »C’est de la machine.« – »Un sac de poubelle, c’est possible de trouver ça?«; PL 00:07:00/30). Antoine werden die »cellule de dégrisement« (PL 00:07:50) sowie das Bistro für die Mittagspause und den Feierabend als weitere Stationen des Arbeitsalltags gezeigt (PL 00:08:15; Abb. 2). Ereignislose Nachtschichten, Einsätze im Rahmen der faits divers und Frotzeleien unter den Kollegen ergänzen die Banalitäten. Als motivischer fil conducteur zieht sich der Alkoholkonsum durch die einzelnen Szenen, der zur fatalen Plotentwicklung führt und das Funktionieren des Systems im entscheidenden Moment außer Kraft setzt. Die kriminalistische Handlung entwickelt sich entlang eines Mordfalls im Obdachlosen- und Russenmilieu (PL 00:29:38 ff.) als realem Kolorit einer sozialpolitisch herausgeforderten Gesellschaft. Während eines Einsatzes in einer Unterkunft, in dem sich einer der Hauptverdächtigen befindet, kommt es zur Trennung des Einsatzteams. Antoine geht auf eigene Faust in eine der Wohnungen (PL 01:07:00), während sich sein Kollege in einem Bistro ein Bier genehmigt. Antoine wird bei seinem Einsatz niedergestochen und stirbt später an seinen Verletzungen. Im letzten Drittel setzt

19 Verwiesen sei hier auf die Ausführungen von Andreas Mahler zur ›abstrakten Gesellschaft‹ nach Zijderveld in diesem Band. Zitierter Film: Xavier Beauvois, dir. (2005/2006), Le petit lieutenant, DVD, StudioCanal, F.

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(Abb. 2: Dokumentarische Kameraführung: »Madame Superflic« und »le petit Lieutenant« auf Rundgang durch die Polizeistation)

sich das Genre bei der Suche nach Antoines Mörder durch: typische Merkmale wie der in den Verhören gewalttätig ausgetragene Antagonismus Polizisten vs. Kriminelle oder die Verfolgungsjagden durch Paris, in denen der mutmaßliche Täter immer wieder entkommt, setzen die zur Action gesteigerte Narration an die Stelle der Deskription, angetrieben durch die Kommissarin, die im Antoines Tod ein persönliches Trauma wiederkehren sieht. Le petit Lieutenant zeigt das Wirken von persönlichem Versagen und Ehrgeiz in der Welt des Polizeiberufes, die in ihrer ›fatalen‹ Zusammenkunft am Ende die tödliche Handlung herbeiführen.20 In dieser dialektischen Konstruktion ist Beauvois Marchal nicht unähnlich, der im Figurenpaar der Kommissare Vrink / Klein einen moralischen Antagonismus installiert, um das Versagen des (polizeilichen) Apparats vorzuführen. 2.2. Lust am Genre: Machtgefüge und Entdramatisierung Während Olivier Marchal seine autobiographisch verbürgten Erfahrungen zur Umformung von Genreelementen heranzieht und Xavier Beauvois durch Recherche und Inszenierung auf Distanz zum Genre geht, heben Jacques Audiard und Frédéric Schoendoerffer als ihren Ausgangspunkt ausdrücklich das Genre hervor. Die daraus resultierenden Ausfächerungen

20 Der deutsche Verleihtitel lautet so auch Eine fatale Entscheidung.

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sind gleichfalls Arbeit am Genre, welche zugleich eine deutliche ›Lust am Genre‹ in sich birgt. Die Produktionsgeschichte zu Jacques Audiards Un Prophète (2009) verknüpft sich gleichwohl mit einer Anekdote aus der sozialrealistischen Lebenswelt: Als ich meinen vorigen Film, Der wilde Schlag meines Herzens, fertiggestellt hatte, wurde ich von der Stadt Paris gefragt, ob ich den Film im Filmklub eines Gefängnisses zeigen wolle. Ich erklärte mich dazu bereit, doch die Erfahrung war für mich wie ein Schock. Als ich diese Inhaftierten sah und die Bedingungen, unter denen sie lebten, kam mir zum ersten Mal die Idee oder eher der Wunsch, etwas mit ihnen und über sie zu machen.«21

Audiard unterstreicht, dass für ihn jedoch nicht der dokumentarische Aspekt im Vordergrund stehe, sondern der »Genrefilm mit allen Konventionen«. Das Genre an sich hebt er als Möglichkeit zu fiktionalem Pragmatismus und narrativer Ökonomie hervor: »Genre ist ein Mittel, um schnell und direkt mit dem Publikum zu kommunizieren. Es basiert auf einer Reihe von Codes und einem sozialen Kontext. Das Publikum weiß sofort, wo und woran es ist. Sobald man sie hat, kann man seine Geschichte erzählen und sie mit auf eine Reise nehmen.« Dabei stehe die Abbildbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse im Vordergrund: »Auf eine Art geht es immer um eine Gesellschaftsanalyse. Man nimmt einen Teil der Gesellschaft unter die Lupe und betrachtet ihn in Großaufnahme.« Das Gefängnis sei »ein sehr dichter Fokus, ein sehr konzentriertes Universum, in dem bestimmte Aspekte deutlicher zu Tage treten. In Frankreich sind etwa acht Prozent der Bevölkerung Nordafrikaner, im Gefängnis sind es 75 Prozent.« Obgleich Audiard hier das Gefängnis als Brennpunkt gesellschaftlicher Probleme akzentuiert, positioniert er sich an anderer Stelle explizit als Regisseur, dem es nicht um Gesellschaftskritik gehe: »Again, it’s a fiction, a story. Yes, I looked at real prisons and how they work, but mainly so I could get my actor to walk right and talk right. In the end, I used plenty of real-life inmates as extras, so they knew exactly the right behaviour. But, no, it isn’t a social critique for me.«22

21 »Im Gefängnis herrscht das pure Mittelalter« – Audiard im Interview mit Ray (05/2010), zit. nach http://www.ray-magazin.at/magazin/2010/05/un-prophetejacques-audiard-im-interview (alle Folgezitate ebd.). 22 Audiard im Interview mit The Guardian vom 6.12.2009 (zit. nach http:// www.theguardian.com/film/2009/dec/06/jacques-audiard-interview-a-prophet).

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Frédéric Schoendoerffer hat sich seit seinem Regiedebüt Scènes de crimes (2000) dem Gangster-Genre verschrieben. Er unterstreicht die möglichen Schauwerte des Genres und die gegebene Spannung des Erzählens: »J’aime les films policiers et c’est une démarche aussi simple qu’honnête. Il y a dans ces films tous les ingrédients pour faire un bon spectacle: de l’action, une vraie tension dramatique et cette pression de la mort qui rôde toujours autour des personnages.«23 Genre ist für ihn die Möglichkeit, im Sujet eine verborgene Botschaft, »un message sous-jacent, politique ou autre«, zur Darstellung zu bringen und das Bild der Gesellschaft wie »au travers d’un filtre« zu betrachten. Die Struktur eines Genrefilms beschreibt Schoendoerffer als »mille feuilles«, bei dem »le spectateur désirant voir un simple film de truands sera satisfait et celui qui cherche autre chose le sera, je pense, aussi«.24 Mit dem Anspruch, gesellschaftliche Verhältnisse zur Darstellung zu bringen, behauptet er, anders als Audiard, der auf dem fiktionalen Charakter seiner Filme besteht, Wahrheiten wiederzugeben: »Je voulais montrer […] la sauvagerie des mafieux et montrer qu’ils étaient à l’image de notre société: de plus en plus violente et sauvage. [...] Cette violence et ces mafieux, on les voit tous les jours à Marseille. Moi, je ne voulais pas faire l’apologie de tout cela, je voulais montrer ce monde sans artifices. Voilà comment est ce monde-là.«25 Ein postulierter Realitätsanspruch, der hier allerdings ohne Authentifizierung auskommt und in der Verneinung den impliziten Horizont seiner Inszenierungen benennt: ›ne pas faire l’apologie de tout cela‹. 2.2.1. Machtgefüge: Un Prophète Un Prophète (2009) zeigt die klassische Aufstiegsgeschichte des Kleinkriminellen zum professionellen Gangster. Als Referenzfilm nennt Audiard so auch Francis Ford Coppolas The Godfather II (1974). Trotz seiner Ab-

23 Schoendoerffer im Interview mit Critique de poche vom 23.4.2014 (zit. nach http://lecritiquedepoche.com/?p=777). 24 Schoendoerffer im Interview mit TF1 vom 16.1.2007 (zit. nach http:// lci.tf1.fr/cinema/news/interview-frederic-schoendoerffer-truands-page-2-5010 167.html). 25 »Rencontre avec Frédéric Schoendoerffer« – Schoendoerffer im Interview mit Fragil vom 9.5.2014 (zit. nach http://www.fragil.org/focus/2395).

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sage an die Sozialkritik betont er die Besonderheit seines arabischen Aufsteigers: »People have difficulty swallowing the fact that Malik is a survivor – but I think that’s because he’s an Arab character. They’re not used to seeing Arabs come out on top and they don’t like it, not in France, anyway. Tahar, they don’t know him, he’s an Arab and, sad to say, this is still a problem.«26 Tahar Rahim, der den jungen Malik spielt, agiert zusammen mit im Gefängnis gecasteten Laiendarstellern innerhalb der Gruppe der Araber. Das Gefängnis wird anfänglich, ähnlich wie bei Xavier Beauvois, zu Alltag und Arbeitswelt heruntergebrochen, eingefangen mit einer quasi-dokumentarischen Handkamera. Bereits ab Minute sechzehn des 155 Minuten langen Films macht sich jedoch ein anderes Motiv bemerkbar: das der machtvollen Kontrolle, die sich nach Michel Foucault im Gefängnis als ›Disziplinarinstitution‹ auf verschiedenen Ebenen festsetzt. Parzellierung, Zuweisung von Funktionsstellen, Rangzuweisung, Kontrolle der Tätigkeiten etc. sind die disziplinarischen Gesten von ›Überwachen und Strafen‹.27 Un Prophète entfaltet die Kontrolle jedoch nicht anhand der entgegengesetzten Gruppen von Inhaftierten und Wärtern, sondern innerhalb der Gruppe der Insassen selbst. Die das Gefängnis dominierende Korsen-Mafia mit dem ›Paten‹ César Luciani (Niels Arestrup) will anhand von Malik Kontrolle über die gleichfalls starke Gemeinschaft der Araber gewinnen. Dies läuft über Maliks ›Prüfung‹, der seinen Zellengenossen töten soll. Danach ist er dem Machtdiktat der Korsen unterworfen und für sie eine Art Kammerdiener, der das Essen serviert und in den Zellen für Sauberkeit sorgt; zugleich steht er unter ihrem Schutz (»maintenant tu es sous protéction«; P 00:28:47).28

26 Audiard im Interview mit The Guardian (siehe Anm. 22). 27 Siehe Foucault 1998, 183 ff. 28 In dem Maße, wie für Malik die topologischen Raumgrenzen zwischen den inhaftierten ethnischen Gruppen unter dem Diktat der Korsen durchlässig geworden sind, ist er nach Jurij Lotman eine Figur, die »mit unvereinbaren Typen der Raumaufteilung gekoppelt« ist. Erst indem Malik später auf die Seite der Araber wechselt, versieht er die disjunkten Teilräume erneut mit einer Grenze und wird durch das Ein- und Austreten im topologischen Gegenraum der Korsen zum »Helden« (vgl.: »als Unbeweglichkeit gilt [...] jede eindeutig vorherbestimmte, vollständig determinierte Bewegung. Eine solche Bewegung wird als Sklaverei aufgefaßt, der die Freiheit gegenübersteht – die Möglichkeit des Unvorhersagbaren«; Lotman 1986, 320 u. 327 ff.). Zitierter Film: Jacques Audiard, dir. (2009/2010), Un prophète, DVD, UGC Vidéo, F.

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(Abb. 3: Verschiebung im Machtgefüge durch Kontrolle im Informationsfluss: »les yeux, les oreilles«)

Diese »normierende Sanktion«29 des Geprüften installiert das Machtverhältnis und holt Malik aus der differenzlosen Gleichheit der Inhaftierten heraus: Er ist der Auserwählte, der ›Prophet‹. Sein kontrollierter Aufstieg wandelt sich zur Emanzipationsgeschichte, als er Lesen und Schreiben lernt. Dieser Plotstrang entspricht den sozialen Gegebenheiten französischer Gefängnisse, in denen laut Unesco 85 Prozent der jungen Inhaftierten lediglich die Grundschule durchlaufen haben und als Analphabeten gelten.30 Dem Nicht-Sozialkritiker Audiard dient dieser Wirklichkeitsausschnitt als dramaturgischer Schritt für das weitere Vorankommen seiner Figur. Der bereits mobilisierte Malik durchdringt durch das Erlernen der korsischen Sprache (forciert durch die alphabetisierte Handhabe eines Wörterbuchs) auch die Kommunikationskanäle der oppositionellen Gruppen Korsen vs. Araber. Als er César seine Fähigkeit verrät (»parlo la tua lingua«; P 00:45:00), wird er für den Paten zu »ochji e arechja« (P 00:46:54), zu Augen und Ohren, die seine Landsleute ausspionieren sollen, Malik ist zum mobilen ›Panoptikum‹31, geworden, affichiert in dem ins Bild gehobenen Insert, das ein neues Kapitel seines Aufstiegs markiert: »les yeux les

29 Nach Foucault vereint die Prüfung die »Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion«, die zu einem Zugewinn an Macht über den Prüfling führt (vgl. Foucault 1998, 238). 30 Siehe »Education de base dans les prisons«, hg. v. United Nations and UNESCO-Institute for Education (zit. nach http://www.unesco.org/education/uie/online/prifr/Premier4.html). 31 Vgl. Foucault 1998, 257: »Er [der Insasse] wird gesehen, ohne selber zu sehen; er ist Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation.«

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oreilles« (P 00:48:52). Die Teilhabe am Informationsfluss und mehr noch seine Kontrolle verleiht dem Aufgestiegenen wiederum Macht über den Auftraggeber. Kommunikation und Handlungsmöglichkeit fallen hier, wie es Luhmann beschreibt, ineins, wodurch Malik selbst Teil des Machtgefüges wird (Abb. 3).32 Der Einfluss des Paten ist in dem Moment, als er Malik zu seinem Vertrauten erhebt, bereits geschwächt, und hier wird wiederum eine reale politische Entwicklung dramaturgisch ausgespielt. In den Minuten P 00:41:00 bis P 00:45:00 geht es um die Verlegung der korsischen Gefangenen auf die Insel. Realpolitischer Hintergrund ist die im September 2002 stattfindende Kampagne des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy, die als Nachrichtensendung eingespielt wird (P 00:40:18).33 César, der ein zu hohes Strafmaß hat, um von dieser neuen Regelung zu profitieren, bleibt nach Verlegung seiner korsischen Entourage isoliert zurück. Im übertragenen und buchstäblichen Sinn öffnen und schließen sich im weiteren die Türen, was Audiard als ›Metapher der Gesellschaft‹ anführt34: der Gefängnisraum sowie die Gesellschaft gliedern sich nach ihm gleichermaßen in ein Innen und Außen, die über Zugehörigkeit und Ausschluss entscheiden. Genau über die Paradoxie der Macht, sich den Beherrschten gegenüber gleichzeitig verschließen und öffnen zu müssen35, beginnt der finale Aufstieg von Malik und der gleichzeitige Abstieg Césars. Malik erhält über seinen Freund Ryad Zutritt zur Gruppe der Araber, die er zunehmend kontrolliert, und deren Patron er bei seiner Freilassung sein wird. Durch

32 Vgl. Luhmann 1987, 193: »Kommunikation und Handlung [sind] in der Tat nicht zu trennen [...]. Der elementare, Soziales als besondere Realität konstituierende Prozeß ist ein Kommunikationsprozeß.« Ebenso Luhmann 2002, 19: »Wer über die Möglichkeit verfügt, die Unsicherheit anderer zu beheben oder auch auszunutzen, ›verdient‹ sozusagen Macht (was nicht heißt, daß er sie zu nutzen versteht). […] Außerdem kann Macht, wenn einmal etabliert, als weitere Quelle von Unsicherheit gebraucht werden.« 33 Vgl. »Sarkozy favorable au regroupement des condamnés«, RFI–Meldung vom 30.9.2002 (zit. nach http://www1.rfi.fr/actufr/articles/033/article_17703.asp). 34 So auf der Pressekonferenz der Filmfestspiele von Cannes 2009 (vgl. http://www.arte.tv/de/content/tv/02__Universes/U3__Cine__Cinema/04-Dossiers/2009.04.02_20CANNES_202009/01_20FILMS/01_20Comp_C3_A9tition/ Un_20proph_C3_A8te/2642704.html). 35 Vgl. hierzu Luhmann 2002, 20:: »Die Umwelt muß ausgeschlossen werden, damit das System operative Schließung erreicht; und sie muß trotzdem berücksichtigt werden, weil das System sich durch genau die Distanz, auf der seine Autopoiesis beruht, auch gefährden kann.«

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den versiegenden Informationsfluss schließt er wiederum den Korsen aus: das Machtgefälle hat sich verkehrt. Audiard hat mit Un Prophète das Gangsterfilm-Subgenre ›Gefängnisfilm‹ als besonders aufnahmefähig für gesellschaftspolitische Entwicklungen und Zustände ausgewiesen. Er widersteht einer naheliegenden, der jeweiligen Zeit verpflichteten Sozialkritik. Fakten der gesellschaftlichen Wirklichkeit integriert er in Form von Handlungsmomenten in die Dramaturgie. Aus ihnen resultieren die entscheidenden Plotpoints für die fiktive Handlungsentwicklung vom Aufstieg und Fall zweier verschiedener Gangstertypen: Wirklichkeit qua soziale Realität und Fiktion qua Genre gehen bei Audiard einen unhintergehbaren Pakt ein. 2.2.2. Entdramatisierung: 96 Heures Frédéric Schoendoerffer kehrt in 96 Heures (2014) die beschriebene Anordnung des Gefängnisfilms auf vielfältige Weise um, was sich auch auf die innere Strukturiertheit auswirkt: Gefangenschaft zeigt sich hier als Ohnmachtsgefüge, in dem die Wärter selbst Unterworfene der von ihnen herbeigeführten Situation werden. Eine Gruppe von Gangstern kidnappt den Chef der Brigade du Répression du Banditisme (BRB), Carré (Gérard Lanvin), aus seiner Wohnung und benutzt ihn als ›Türöffner‹ für das Gefängnis, um einen 96-StundenAusgang für dem Gangster-Patron Kancel (wiederum Niels Arestrup) zu erwirken (»Ouvre, c’est la BRB pour l’extraction«; 96H 00:06:37). In den folgenden 96 Stunden (der maximalen Dauer einer realen garde à vue36) wollen die Gangster von Carré mittels Verhör und Folter in Erfahrung bringen, wer Kancel fünf Jahre zuvor hinter Gitter gebracht hat. Nicht das Motiv der Freiheit treibt ihn jedoch an (»T’es libre, t’es dehors, qu’est-ce qu’il te faut de plus?«; 96H 00:14:28), sondern ein letztlich psychologischer Erkenntniswille. Die Situation ›Gefangen bei den Gangstern‹ formuliert Schoendoerffer in deutlicher Spiegelbildlichkeit zur Inhaftierung des Gangsters durch die Polizei aus: Dem Kommissar Carré werden wie einem Verhafteten die Ge-

36 Vgl. Le Service public, hg. v. Administration française, http://vosdroits.servicepublic.fr/particuliers/F14837.xhtml. Zitierter Film: Frédéric Schoendoerffer, dir. (2014), 96 heures, DVD, ARP Sélection, F.

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genstände abgenommen, die ihn selbst gefährden könnten (»ceinture, la chaîne«; 96H 00:13:14), und er wird in seine Zelle gebracht, die sich im Keller der Villa befindet und ›Zimmer‹ genannt wird (»on va lui montrer sa chambre«; 96H 00:13:46). Installiert ist eine Webcam, die ihn überwacht. Darüber hinaus werden ihm bei seinem Eintritt in die ›Haft‹ zwei weitere Gegenstände abgenommen, die im weiteren konstituierend für den Plot sein werden: »la montre, l’alliance« (96H 00:13:14). Weitere Elemente, die Praktiken der »police à l’ancienne« (96H 00:29:20) aufrufen, sind die nächtliche Folter mit einer Elektroschockpistole, gleißendes Licht in der Zelle, sowie Verhöre, die sich als Plaudereien gestalten und mit Rotwein und gutem Essen die Vorzeichen der bürgerlichen Welt aufrufen, unter denen sich sowohl der Kommissar als auch die Gangster einfinden: das Milieu wird zugunsten von Komfort und leiblichem Wohl aufgegeben. Ein bedeutendes Moment der institutionellen Inhaftierung ist generell das insignifikante Verstreichen der Zeit, die durch Beschäftigungen wie Essensausgabe, Freigang im Hof oder Beginn der Nachtruhe gegliedert wird, als »Verfahren der zeitlichen Reglementierung«.37 Schoendoerffer hat in 96 Heures die Zeit durch die titelgebende Begrenzung zum dramaturgischen Leitmotiv erhoben, dessen Einsatz markiert wird: »La garde à vue commence maintenant« (96H 00:14:22). Der angekündigte Countdown verkehrt sich jedoch in ein undramaturgisches Totschlagen der Zeit, und darüber entdramatisiert sich in der Erwartung der Aussage des Gefangenen die ›Untersuchungshaft‹ zum gleichförmigen Warten. Das Überwachen der Webcam veralltäglicht sich zum Fernsehen (»Alors, il est bon, le programme?«; 96H 00:16:09), das Gesehene ist banal: »Il a fait trois fois tour de son lit. Il s’est assis, il s’est levé. Il s’est rassis, il s’est relevé.« Das Gefühl der stillstehenden Zeit verbildlicht sich in Salvador Dalís Gemälde »Die Beständigkeit der Erinnerung«, das als Druck im Wohnzimmer der Villa hängt: »Plus de montres, plus d’heure, le temps qui s’arrête«, kommentiert Kancel (96H 00:23:57). Auf Handlungsebene wird die Zeit durch das Schweigen des Gefangenen angehalten. Carré will Kancel nicht preisgeben, dass die »petite salope d’indic qui est à la base de [sa] promotion dans la hiérarchie policière« (96H 00:26:01) dessen Tochter Camille (Laura Smet) ist, mit der er ein Verhältnis hat. Indiz dafür ist Carrés Uhr, ein Geschenk von Camille.

37 Foucault 1998, 192.

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(Abb. 4: Fixierung der Fronten im Schuss-Gegenschuss)

Schoendoerffer bearbeitet das Genre weiterhin auf Figurenebene: die funktionalen Rollenbezüge von Gangster, Anwalt und Polizist vervielfältigen sich zu mehrfachen Abhängigkeiten über die von den Funktionen vorgegebenen Oppositionen hinweg. Der Anwalt, den die Gangster für das Verhör in der Villa hinzuziehen, genießt das Vertrauen Kancels (bei ihm wurde die Beute versteckt) und ist, wie sich herausstellt, zugleich ein Vertrauter Carrés (der über den Verbleib der mittlerweile verschwundenen Beute Bescheid weiß: »moi, je sais« (96H 01:30:39). Abdel wiederum, dem Kancel blind vertraut, ist in Wahrheit ein V-Mann der Polizei, den Carré deckt. Auf Bildebene wird das Verhältnis von Gangstern / Anwalt / Kommissar durch die bei der Vernehmung viele Standpunkte einnehmende Kamera dargestellt (96H 00:55:00 ff.), und erst nach der Erschießung zweier Gangster und des Anwalts klären sich die Fronten in einer SchussGegenschuss-Einstellung, in der Kancel und Carré sich fixieren (96H 01:02:58; Abb. 4). Die als instabil vorgeführte Ersatzfamilie der Gangster findet ihre Entsprechung in der bürgerlichen Welt. Die Ehe von Carré ist am Ende; sowohl seine Frau als auch er haben ein außereheliches Verhältnis. An ihre Stelle setzt Schoendoerffer die (Patchwork-)Kleinfamilie mit quasifamiliären Bindungen. Hier bestehen Konstellationen, die ins Zentrum der Intrige führen. Die Tochter Kancels ist die Geliebte Carrés, die er zu einer Zeit kennenlernte, als er von den Machenschaften Kancels nichts ahnte. Der Enkel Kancels wiederum ist von der fast klassischen Tragik betroffen, die Verhaftung seines Großvaters herbeigeführt zu haben (96H 01:28:19) und wird am Ende unwillentlich das geheim gehaltene Verhältnis aufdecken. Das Gefüge der Familie erweist sich ebenso wie das der Gangster als insta-

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bil und hält nur auf der Grundlage zufällig zustandegekommener Unverbindlichkeiten zusammen. Schoendoerffer, für den das Genre, wie dargestellt, die Möglichkeit bietet, ›au travers d’un filtre‹ auf die Gesellschaft zu blicken, betont in 96 Heures das Auseinanderbrechen aller Bindungen, den funktionalen Zusammenhalt der Gang und die ›Blutsbande‹ inbegriffen.

3. Ü BERBIETUNG : B ANLIEUE 13 Schoendoerffer unterscheidet sich in seiner reduzierten Inszenierung von Olivier Marchal, der selbst als Erneuerer des Genres gilt38 und den Boom des französischen Gangsterfilms seit den 2000er Jahren weiterführt. Sein populäres Vorbild heißt Luc Besson, dessen »moyens et la compétence« er bewundert, mithin die Paarung von Filmfinanzierung und Sachkenntnis, die geradewegs in den profitablen Mainstream führt – abzulesen an Zuschauerzahlen im Millionenbereich.39 Luc Besson hat zu einer Ausformung des transnationalen Produzentenfilms geführt, dessen kommerzieller Erfolg sich als Rezeptur mittlerweile auch auf den Arthouse-Bereich überträgt und hier ähnliche Erfolgsbilanzen wie das massentaugliche Popcorn-Kino aufweist.40 Mit Léon (1994) brachte

38 Vgl. Knörer 2012, 176: »[Marchal ist] ein Regisseur, der das Noir- und Polizeifilmgenre mit wachsendem Erfolg wiederbelebt.« 39 Luc Besson hatte, bevor er sich auf dessen Produktion verlegte, mit seiner ersten und einzigen Regiearbeit im Gangster-Genre, Léon (1994), 3,5 Mio. Zuschauer in Frankreich (vgl. http://www.boxofficestory.com/box-office-luc-bessonc24376787). 2014 kommt es zu einer Zusammenarbeit von Marchal und Besson, der die Produktion der TV-Serie Section zéro übernimmt. Vgl. »Olivier Marchal. Les ›poulets‹ ont toujours fasciné« – Marchal im Interview mit Le Monde vom 6.4.2014 (zit. nach http://www.lemonde.fr/culture/article/2014/04/06/oliviermarchal-les-poulets-ont-toujours-fascine_4395997_3246.html). 40 Der Begriff des ›Popcorn-Kinos‹ als Synonym zum massentauglichen Mainstream verdankt sich seiner Kulturgeschichte, wie Jörn Kabisch im Freitag zusammenfasst: »Popcorn wurde vor etwa hundert Jahren das erste Mal von fliegenden Händlern in den Nickelodeons verkauft. Weil eine Tüte nur ein paar Cent kostete, wurde es während der Großen Depression zum erschwinglichen Luxus für jedermann. Während des Zweiten Weltkriegs dann war Zucker in den USA rationiert, um die Truppen in Europa zu versorgen, so dass die heimische Süßwarenindustrie fast zum Erliegen kam – bis auf Popcorn. Die Amerikaner aßen 1945 dreimal so viel Popcorn wie zu Kriegsbeginn, vor allem in den Lichtspielhäusern. Parallel zum Siegeszug von Hollywood entwickelte sich Popcorn in den folgenden Jahren zum globalen Kinosnack.« (»Warum essen wir im Kino

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Besson als Regisseur den Gangsterfilm auf internationale Ebene. Die weiterhin von ihm produzierten Gangsterfilme wurden mit Elementen anderer populärer Genres wie dem Actionfilm, Politthriller, Martial Arts oder Science-Fiction versehen und verbreiteten sich als ›globalisiertes‹ Kino.41 Paradigmatisch für Filme aus der Produktionsstätte Leeloo Productions (von Besson 1992 gegründet und 2000 in EuropaCorp umbenannt) soll hier Banlieue 13 (2004) von Pierre Morel betrachtet werden, den Besson produzierte und dessen Drehbuch er mitverfasste. Morel wiederum kam als Kameramann aus dem Bessonschen Filmuniversum und hatte zwei Jahre zuvor den ebenfalls von Besson produzierten und geschriebenen The Transporter fotografiert. Banlieue 13 gilt als Bestreben, auch den kommerziellen Gangsterfilm wieder als nationales Phänomen zu fassen und die zunehmende Globalisierungstendenz durch »Reterritorialisierung« einzubremsen.42 Gezeichnet wird eine nähere, dystopische Zukunft (die Handlung spielt im Jahr 2010) in einem klar gefassten Territorium, das sich in den bürgerlichen Stadtraum Paris und den im starken Sinn zur Bannmeile erhobenen Vorstadtraum gliedert. Die Gangster sind innerhalb des durch eine unpassierbare Grenze abgeschiedenen topologischen Raums aktiv, dessen Werte, Moral und Gesetze den Codices der Gangster unterworfen sind. Der topologische Gegenraum der bürgerlichen Wertegesellschaft und staatlichen Rechtsordnung zeigt sich im verhassten Horizont: vom Dach aus sieht man in der Ferne Paris.

Popcorn?«, Freitag, 12.2.2010 (zit. nach https://www.freitag.de/autoren/jkabisch/warum-essen-wir-im-kino-popcorn). Der Begriff des ›Arthouse‹ oder ›Filmkunst‹ als Bezeichnung für nicht unter kommerziellen Gesichtspunkten produziertes Kino als Gegensatz zum ›Mainstream‹ wird unter diesem Phänomen obsolet. Kritiker sprechen daher auch von ›Arthouse-Mainstream‹, um populäre Filme wie Bienvenue chez les Ch’tis (2008) mit 20,4 Mio., Intouchables (2011) mit 19,4 oder Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu? (2014) mit 12,3 Mio. Zuschauern zu fassen. Die Zahlen sprechen für die Breitenwirkung der sich an alle Bevölkerungsgruppen richtenden Filme. Luc Bessons actiongeladenes Kino nimmt sich im Vergleich als geradezu nischenhaft aus. Zum ›Transnationalen‹ vgl. Ritzer 2012a, 190: »Besson [...] personifizert geradezu die transnationalen Tendenzen des Polar.« 41 Eine alternative, kritische Bezeichnung für das Globalisierungskino ist ›Europudding‹ als Zusammentreffen verschiedener europäischer Produktionsländer, die nationale Handschriften und Sprachen tilgen. 42 Ritzer 2012a, 209. Zitierter Film: Pierre Morel, dir. (2004/2006), Banlieue 13, DVD, Universum, F.

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Durch die Machenschaften der Gangster, die in der Banlieue selbst aktiv sind, droht diese zu implodieren. Bandenkriege und Drogenhandel machen aus dem Viertel einen zunehmend rechtsfreien Raum moralischer Selbstzerstörung. Dagegen richtet sich der Fund einer mit Nuklearsprengstoff bewehrten Rakete, welche die Gangster gegen Paris halten; sie scheint als Möglichkeit, über den Luftraum die unpassierbare Grenze zu überwinden und der drohenden Implosion des prekären Banlieue-Raums in der Explosion des bürgerlichen Paris-Raums zu entgehen. Gegen die Zerstörung der räumlichen Ordnung treten zwei gleichberechtigte Protagonisten an. Leïto (David Belle) ist der moralisch integre Kenner des Viertels, der die Bandenkriege bekämpft. An seiner Seite agiert der aus der Regierung als V-Mann in die Banlieue eingeschleuste Capitaine Damien Tomaso (Cyril Raffaelli), der zur Aufgabe hat, die Bombe zu entschärfen. Die topologische Ordnung des verkommenen Teilraums Banlieue und des intakten Teilraums Paris verkehrt sich in der Perspektive der Bewohner, indem die errichtete Schutzgrenze zur Grenze eines von der Regierung installierten ›Vernichtungslagers‹ erklärt wird: »Les murs et les barbelés autour, ça te rappelle rien? Ils vont mettre un couvercle là-dessus et ils vont faire tout péter, voilà comment ils vont faire, on va faire disparaître la merde« (B13 00:20:18). Hier ist ein zunächst noch diffuses ›ils‹ aufgerufen, das gegen die Banlieue agiert, final enttarnt als Regierungsvertreter, die von langer Hand die Vernichtung des Viertels geplant hatten. »Le quartier est incontrôlable.« – »Alors, on nettoie, à la bombe, c’est ça?« – »Oui. C’est ça. C’est pas très démocratique, mais ça résout beaucoup de problèmes« (B13 01:13:27).43 Die militärische Operation des Staates gegen die Gangster der Banlieue, um einen angeblich drohenden Angriff gegen die bürgerliche Gesellschaft abzuwenden, entpuppt sich als geplanter staatsterroristischer Akt: Das Entschärfen der Bombe hätte in Wahrheit zur deren Zündung geführt und das Viertel ausgelöscht. Die beiden Ermittler Leïto und Capitaine Damien

43 Banlieue 13 erscheint rückblickend wie eine zynische Antizipation der Ereignisse von 2005, in denen Bandenkriege und Aufstände Frankreich über Monate in Atem hielten. Die Ereignisse ließen den damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy zu seinem skandalumwitterten Ausspruch hinreißen: »Dès demain, on va nettoyer au Karcher la cité. On y mettra les effectifs nécessaires et le temps qu’il faudra, mais ça sera nettoyé.« (Zit. nach http://www.europe1.fr/politique/on-vanettoyer-au-karcher-la-cite-2738 35).

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(Abb. 5: Neuinterpretation des Raums im Parkours)

Tomaso werden zu Helden, indem sie die topologischen Vorzeichen der Teilräume Banlieue / Paris verkehren.44 Banlieue 13 signalisiert bereits durch seinen Titel das Thema des Films: die Darstellung einer problematischen topologischen Ordnung. Die Banlieue gilt seit Matthieu Kassovitz’ La Haine (1995) als zum Topos gewordener Schauplatz für die Inszenierung des gesellschaftlich Prekären. Die Besetzung der Hauptakteure durch David Belle und Cyril Raffaelli legt zusätzlich den Fokus auf den urbanen Raum. Belle gilt als Erfinder des Parkour, einer »möglichst effizienten Fortbewegungsart«, bei welcher der »Parkourläufer [...] seinen eigenen Weg durch den urbanen oder natürlichen Raum [bestimmt] – auf eine andere Weise als von Architektur und Kultur vorgegeben«.45 Belle sieht demgegenüber den Parkour vor allem als moderne Kampfkunst (im Sinn der Martial Arts), die erstmals auch die Kunst der Flucht beinhaltet: »Le Parkour [...] est une arme qu’on aiguise. [...] Ça peut être l’art de la fuite, de la poursuite.«46 Raffaelli wiederum ist Parkourläufer oder Traceur, daneben ist er berühmt als Martial-Arts-Kämpfer und bekannt als Stuntman. In seriellen Auftritten beweisen Belle und Raffaelli

44 In Negation des ›sujetlosen Texts‹, wie Lotman selbst vorschlägt (»der sujethaltige Text wird auf der Basis des sujetlosen errichtet als dessen Negation«; Lotman 1986, 338), ergibt sich hier die Sujethaltigkeit: »ein sujetloser Text ist die Bestätigung einer bestimmten Ordnung der inneren Organisation ihrer Welt. [...] Das Sujet ist ein ›revolutionäres Element‹ im Verhältnis zum Weltbild.« (337 ff.) 45 Vgl. die verschiedenen Fanzines im Web, hier exemplarisch herausgegriffen der deutsche Wikipedia-Eintrag; https://de.wikipedia.org/wiki/Parkour. 46 Vgl. http://parkourone.com/one/parkour/geschichte/david-belle/.

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ihr Können: in choreographierten Martial-Arts-Einlagen und Raumdurchquerungen werden bei extremem Köpereinsatz die physikalischen und architektonischen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt. In der Ausübung des Parkour werden die architektonischen Anordnungen des Raums enthierarchisiert, die Umstülpung der topologischen Ordnung wird als anschaubare Performance sichtbar: der Raum wird auf den Kopf gestellt (vgl. hierzu die furiose Verfolgungsjagd B13 00:08:18 ff. und den Zweikampf um die Entschärfung / Zündung der Bombe ab B13 01:07:52 ff.; Abb. 5). Die vertikalen und horizontalen (Flucht-)Linien, welche von den Traceuren durch den Raum gezogen werden, stellen auf der Ebene des filmischen Diskurses Verbindungen zwischen den einzelnen Handlungsmomenten dar. Der urbane Raum wird – auf der Flucht oder in der Verfolgung der Widersacher – durchquert, bis er in die nächste Szene mündet. Die Aufmerksamkeit der Inszenierung verlagert sich unter den spektakulären Parkour-Performances von der Gangsterhandlung auf die Action der Körper. Die Versatzstücke des hier sozialkritisch perspektivierten Gangsterfilms werden durch sie geradezu absorbiert: Im Kino à la Besson unterwirft sich das Genre den Schauwerten der aufgebotenen Attraktionen.

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Macadam (F 1946) Quai des Orfèvres (F 1947) Dédée d’Anvers (F 1948) L’ennemi public no 1 (F 1953) La môme vert-de-gris (F 1953) Les femmes s’en balancent (F 1954) Touchez pas au grisbi (F 1954) Les diaboliques (F 1955) Razzia sur la chnouf (F 1955) Du rififi chez les hommes (F 1955) Bob le flambeur (F 1956) Le fauve est lâché (F 1959) À bout de souffle (F 1960) Classe tous risques (F 1960) Tirez sur le pianiste (F 1960) Le cave se rebiffe (F 1961) Le président (F 1961) Le doulos (F 1962) Mélodie en sous-sol (F 1963) La mort d’un tueur (F 1963) Les tontons flingueurs (F 1963) Bande à part (F 1964) Les barbouzes (F 1964) La grosse caisse (F 1965) La métamorphose des cloportes (F 1965) Pierrot le fou (F 1965) Le deuxième souffle (F 1966) Le samouraï (F 1967) Ho ! (F 1968) Le clan des siciliens (F 1969) La piscine (F 1969) Le cercle rouge (F 1970) Borsalino (F 1970) Dernier domicile connu (F 1970) Un condé (F 1970) Max et les ferrailleurs (F 1971) Les caïds (F 1972)

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Un flic (F 1972) Sans mobile apparent (F 1972) Deux hommes dans la ville (F 1973) Flic Story (F 1975) Peur sur la ville (F 1975) Police python 357 (F 1976) Le juge Fayard dit le Sheriff (F 1977) Les égouts du paradis (F 1979) Série noire (F 1979) Atlantic City (F/CDN 1980) Le choix des armes (F 1981) Diva (F 1981) Garde à vue (F 1981) La balance (F 1982) L’Argent (F 1983) Faits divers (F 1983) Tchao Pantin (F 1983) Polar (F 1984) Les ripoux (F 1984) / Ripoux contre ripoux (F 1989) Police (F 1985) Mauvais sang (F 1986) Poussière d’ange (F 1987) Nikita (F 1990) L.627 (F 1992) Délits flagrants (F 1994) Léon (F 1994) Regarde les hommes tomber (F 1994) La haine (F 1995) Les voleurs (F 1996) Scènes de crime (F 2000) Gangster (F 2002) The Good Thief (UK/F/IRL 2002) Swimming Pool (F/UK 2002) Banlieue 13 (F 2003) 10o Chambre, instants d’audience (F 2004) 36, Quai des Orfèvres (F 2004) Le convoyeur (F 2004)

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De battre mon cœur s’est arrêté (F 2005) Le petit lieutenant (F 2005) Un printemps à Paris (F 2006) Le deuxième souffle (F 2007) Truands (F 2007) Le tueur (F 2007) L’instinct de mort (F 2008) Mesrine – L’Ennemi public no 1 (F 2008) Ne me libérez pas, je m’en charge (F 2008) Les liens de sang (F 2008) Cortex (F 2008) Un prophète (F 2009) L’Immortel (F 2010) Les Lyonnais (F 2011) Polisse (F 2011) Les salauds (F 2013) 96 Heures (F 2014)

Le roman d’un tricheur (F 1936) La bataille du rail (F 1946) The Crimson Pirate (USA 1952) Les vacances de M. Hulot (F 1954) Baisers volés (F 1968) The Swimmer (USA 1968) Zorro (I/F 1975) Fried Green Tomatoes (USA 1991) Phantom of the Opera (UK/USA 2004)

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B ILDNACHWEISE Titel: Jules Dassin dir. (1955/2001), Du rififi chez les hommes (Gaumont), DVD, The Criterion Collection, F; 00:24:06. Mahler Abb. 1: Jacques Becker, dir. (1954/2004), Touchez pas au grisbi, DVD, StudioCanal, F; 00:04:03. Mahler Abb. 2: Henri Georges Clouzot, dir. (1947/2008), Quai des Orfèvres, DVD, StudioCanal, F; 00:37:21. Mahler Abb. 3: Jean-Pierre Melville, dir. (1955/2006), Bob le flambeur, DVD, StudioCanal, F; 00:11:23. Mahler Abb. 4: Jules Dassin, dir. (1955/2007), Du rififi chez les hommes, DVD, Universum, F; 00:05:30. Mahler Abb. 5: Jean-Pierre Melville, dir. (1967/2001), Le Samouraï, DVD, Filmel, F; 01:38:45. Mahler Abb. 6: Jean-Pierre Melville, dir. (1972/2006), Un flic, DVD, StudioCanal, F; 00:17:35. Dürr Abb. 1: David W. Griffith, dir. (1912/1992), The Musketeers of Pig Alley, DVD, KinoVideo, USA; 00:02:09. Dürr Abb. 2: Howard Hawks, dir. (1932/2005), Scarface, DVD, United Artists / Universal Pictures, USA; 00:35:35. Dürr Abb. 3: Ibid. 00:46:25.

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Doetsch Abb. 1: Jules Dassin dir. (1955/2001), Du rififi chez les hommes (Gaumont), DVD, The Criterion Collection, F; 00:03:44. Doetsch Abb. 2: Ibid. 00:02:41. Doetsch Abb. 3: Ibid. 00:32:48. Doetsch Abb. 4: Ibid. 00:31:17. Doetsch Abb. 5: Ibid. 00:58:41. Doetsch Abb. 6: Ibid. 01:04:31. Doetsch Abb. 7: Ibid. 01:42:19. Doetsch Abb. 8: Ibid. 01:52:53. Imhof Abb. 1: Louis Feuillade, dir. (1913-1914/1998), Fantômas, DVD, Gaumont / Cinémathèque française, F; 00:21:15. Imhof Abb. 2: Ibid. 00:24:03. Imhof Abb. 3: Jean-Pierre Melville, dir. (1962/2010), Le Doulos / Der Teufel mit der weißen Weste, Arthaus Kinowelt, F; 00:03:26. Imhof Abb. 4: Ibid. 00:13:05. Imhof Abb. 5: Henri Verneuil, dir. (1963/2008), Mélodie en sous-sol / Lautlos wie die Nacht, DVD, Concorde Home Entertainment, F; 00:06:11. Imhof Abb. 6: Ibid. 00:06:19. Imhof Abb. 7: Ibid. 01:30:49. Imhof Abb. 8: Ibid. 01:30:36. Imhof Abb. 9: Ibid. 01:54:58. Imhof Abb. 10: Ibid. 01:55:35. Dünne Abb. 1: Henri-Georges Clouzot, dir. (1955/2010), Les DVD, Concorde Home Entertainment, F; 01:05:15. Dünne Abb. 2: Henri Verneuil, dir. (1963/2008), Mélodie DVD, EuropaCorp, F; 01:42:10. Dünne Abb. 3: Henri-Georges Clouzot, dir. (1955/2010), Les DVD, Concorde Home Entertainment, F; 00:47:50. Dünne Abb. 4: Ibid. 00:56:50. Dünne Abb. 5: Ibid. 01:48:45. Dünne Abb. 6: Henri Verneuil, dir. (1963/2008), Mélodie DVD, EuropaCorp, F; 00:31:40.

Diaboliques, en sous-sol, Diaboliques,

en sous-sol,

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Dünne Abb. 7: Ibid. 01:33:40. Dünne Abb. 8: Ibid. 01:39:19. Dünne Abb. 9: Ibid. 01:39:50. Lasinger Abb. 1: Maurice Pialat, dir. (1985/2005), Police / Der Bulle von Paris, DVD, Tobis / Universum, F; 01:05:06. Lasinger Abb. 2: Ibid. 01:09:17. Lasinger Abb. 3: Ibid. 00:01:30. Lasinger Abb. 4: Ibid. 00:01:33. Lasinger Abb. 5: Ibid. 01:15:18. Lasinger Abb. 6: Ibid. 01:45:46. Bialas Abb. 1: Olivier Marchal, dir. (2004/2008), 36 Quai des Orfèvres, DVD, Gaumont Vidéo, F; 00:43:12. Bialas Abb. 2: Xavier Beauvois, dir. (2005/2006), Le petit lieutenant, DVD, StudioCanal, F; 00:08:15. Bialas Abb. 3: Jacques Audiard, dir. (2009/2010), Un prophète, DVD, UGC Vidéo, F; 00:46:54. Bialas Abb. 4: Frédéric Schoendoerffer, dir. (2014), 96 heures, DVD, ARP Sélection, F; 01:02:58. Bialas Abb. 5: Pierre Morel, dir. (2004/2006), Banlieue 13, DVD, Universum, F; 00:08:18. Alle Bildrechte liegen bei den Rechteinhabern. Wir danken Gaumont für die Überlassung der Rechte für das Titelbild.

machina Elisabeth Carolin Bauer Frankophone digitale Literatur Geschichte, Strukturen und Ästhetik einer neuen Mediengattung August 2016, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3498-3

Susanne Kaiser Körper erzählen Der postkoloniale Maghreb von Assia Djebar und Tahar Ben Jelloun 2015, 322 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3141-8

Maria Imhof, Anke Grutschus (Hg.) Von Teufeln, Tänzen und Kastraten Die Oper als transmediales Spektakel 2015, 228 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3001-5

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machina Frank Lestringant Die Erfindung des Raums Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance. Erfurter Mercator-Vorlesungen (hg. von Jörg Dünne) 2012, 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1630-9

Matei Chihaia Der Golem-Effekt Orientierung und phantastische Immersion im Zeitalter des Kinos 2011, 392 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1714-6

Jochen Mecke (Hg.) Medien der Literatur Vom Almanach zur Hyperfiction. Stationen einer Mediengeschichte der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2010, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1675-0

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