Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten: Entwurf eines Kollisionsmodells unter Zusammenführung der Schutzpflichten- und der Drittwirkungslehre [1 ed.] 9783428503681, 9783428103683

Bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen, tonnenweise zerstörtes Obst und Gemüse - Bilder aus Frankreich, die in de

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German Pages 227 Year 2001

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Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten: Entwurf eines Kollisionsmodells unter Zusammenführung der Schutzpflichten- und der Drittwirkungslehre [1 ed.]
 9783428503681, 9783428103683

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DIERK SCHINDLER

Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 72

Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten Entwurf eines Kollisionsmodells unter Zusammenführung der Schutzpflichtenund der Drittwirkungslehre

Von Dierk Schindler M.I.L. (Lund)

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Schindler, Dierk:

Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten : Entwurf eines Kollisionsmodells unter Zusammenführung der Schutzpflichten- und der Drittwirkungslehre I Dierk Schindler. Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum europäischen Recht ; Bd. 72) Zug!.: Augsburg, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10368-8

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 2001 Duncker &

ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-10368-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068

Vorwort Die Veröffentlichung dieser Arbeit ist der letzte Schritt zur Erfüllung eines Traumes. Ich will sie nicht alljenen Menschen widmen, die mich -jeder auf seine Weise - im Verlauf dieses Jahres unterstützt haben. Vielmehr hoffe ich, dass ich ihnen im richtigen Moment eine ebensolche Unterstützung sein kann. Dr. jur. Nikolaus Bosch, zum Beispiel, der sich unzählige Male die Zeit für Diskussionen genommen hat, um mit seinem kritischen Scharfsinn so manchen Trugschluß aufzudekken oder Fortschritt abzurunden. Meinen Eltern, zum Beispiel, die mir - einmal mehr - den notwendigen Freiraum verschafft haben. Aber auch vielen Freunden, die es mir immer wieder leicht gemacht haben, die Arbeit für einige Stunden zu vergessen. Widmen möchte ich diese Arbeit allein Christina, denn sie hat die tägliche Belastung mitgetragen, vielfache gedankliche Abwesenheit ertragen, mir trotzdem immer wieder Mut gemacht und - sie behauptet bis heute meine endlosen Erzählungen, Erklärungen und Gedanken rund um ,,Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten" hätten sie wirklich interessiert. Dank schulde ich ferner meinem Doktorvater Herrn Prof. Heintschel von Heinegg für seine großartige Unterstützung, PrivDoz. Dr. Kahl für die rasante Erstellung des Zweitgutachtens, den Professoren Magiera und Merten für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe und nicht zuletzt Herrn Prof. Joachim Herrmann, der meine Abtrünnigkeit vom Strafrecht wohlwollend toleriert hat. Die Arbeit berücksichtigt die Literatur bis einschließlich Juli 2000. Augsburg, im August 2000

Dierk Schindler

Inhaltsübersicht Kapitell

Einführung

23

I. Der ,Erdbeerstreit' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

II. Beweggründe für die Fortentwicklung der Dogmatik zur Vertragsverletzung . . . . . . .

25

III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Kapitel2

Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit f"dr private Beschränkungshandlungen in der bestehenden Dogmatik zu den Grundfreiheiten

31

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

li. Die Zurechnung von privatem Handeln zum Staat : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

III. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß durch einen Mitgliedstaat - die Rs. Dubois und G6n6ral Cargo Services I Garonor . . . . . . . . . . . . . .

42

IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

Kapitel3

Die Erweiterung des Adressatenkreises der Grundfreiheiten auf Private die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

62

I. Problemaufriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

li. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten

63

8

Inhaltsübersicht

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten zugunsten der Grundfreiheiten: Alternativlösungen oder zwei Elemente eines einheitlichen Lösungssystems? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Kapitel4 Die Gemeinschaftsgrundrechte

113

I. Einleitung .. . .. . .. . .. .. . .. . .. . . .. . . .. .. . . .. .. .. .. .. . . .. .. .. .. . .. .. . . .. . .. .. . . . . .. . . 113 II. Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 III. Geltungsgrund, Anwendungsbereich und Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte . 117 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

KapitelS Die Struktur des Kollisionsproblems und seine Lösung mit Hilfe des Abwägungsmodells

159

I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 II. Die Abwägung als Lösungsmodell für die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten .. .. . .. . .. . . . . .. . .. . . . .. .. .. . . . .. . . . . .. .. .. .. . . . . . . .. . .. . . 162 III. Das Drei-Relationen-Modell zur vollständigen Erfassung des Konflikts zwischen gleichrangigen Freiheitsgarantien I Prinzipien . . .. . . .. .. . .. . . .. .. . .. . .. . .. . . . .. . .. . . 171 IV. Der Wesensunterschied zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundfreiheiten und seine Konsequenzen für den Abwägungsvorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 V. Zusammenfassung . .. . .. . . . .. . . .. .. . .. .. . .. .. .. .. . . . . .. .. . . . . . .. . .. . .. . .. . .. . .. .. . . 186

Kapitel6 Die dogmatische Umsetzung der Kollisionsregel im Gemeinschaftsrecht

188

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 II. Die Lösung im ,Erdbeerstreit'-Verfahren .. . .. .. . . . . . .. .. .. .. .. . . . .. .. .. . . . .. . . . .. . . 188

Inhaltsübersicht

9

III. Die Funktion von Art. 10 EGV im Rahmen einer Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten am Beispiel des ,Erdbeerstreit'-Verfahrens .. .. . ... 197 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Inhaltsverzeichnis Kapitell

Einf"lihrung

23

I. Der ,Erdbeerstreit' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

II. Beweggründe für die Fortentwicklung der Dogmatik zur Vertragsverletzung . . . . . . .

25

1. Tatsächliche Beweggründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

2. Rechtliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

a) Die doppelte Begrenztheit der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

b) Mögliche Lösungsansätze im Rahmen der bisherigen Dogmatik der Vertragsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

111. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Kapitell

Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit f"lir private Beschränkungshandlungen in der bestehenden Dogmatik zu den Grundfreiheiten

31

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

II. Die Zurechnung von privatem Handeln zum Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

2. Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

a) Zu den Grundfreiheiten- die Rs. Kommission/Irland (,Buy lrish') . . . . . . . . . .

34

b) Zum Vergaberecht - die Rs. Beentjes I Niederländischer Staat . . . . . . . . . . . . . . .

36

c) Zum Beihilferecht-die Rs. van der Kooy I Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

a) Die Kongruenz der geprüften Kriterien in den verschiedenen Gebieten des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

12

Inhaltsverzeichnis b) Die Bedeutung der Kriterien - kumulative Wirkung und unterschiedliches Gewicht in den verschiedenen Rechtsbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

c) Die Zurechnung privaten Handeins zum Staat- kein gangbarer Lösungsweg im ,Erdbeerstreit'-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

III. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß durch einen Mitgliedstaat - die Rs. Dubois und General Cargo Services I Garonor . . . . . . . . . . . . . .

42

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

2. Das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

3. Die Schlußanträge von GA La Pergola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

4. Parallelen zum ,Erdbeerstreit'-Verfahren........... .. . . . . ............. . . . . . . . . . .

47

5. Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

a) Kann manjedes Unterlassen auch als aktives Tun beschreiben?.. . .. . . ... . . ..

50

aa) Die logische Konsequenz aus der fehlenden Zurechenbarkeit des unmittelbar erfolgverursachenden privatautonomen Aktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

bb) Die drohende Entstehung einer absoluten Staatshaftung . . . . . . . . . . . . . . . .

52

b) Elemente einer Haftungsbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

aa) Die Abgrenzung von aktivem staatlichem Tun und staatlichem Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

bb) Die strikte Trennung zwischen aktivem staatlichem Tun und staatlichem Unterlassen als Element der Haftungsbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

6. Weitere Rechtsprechung zum sogenannten mittelbaren Vertragsverstoß . . . . . . . . .

57

7. Ergebnis. . . . ... ... ...... . ... . .... . ..... ... .. .. . . . . .. . .. . ... ..... . ... . ... .. ... . ..

59

IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

Kapitell

Die Erweiterung des Adressatenkreises der Grundfreiheiten auf Privatedie unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

62

I. Problemaufriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten

63

1. Die Rechtsprechung zu den Art. 39, 43 und 49 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

a) Die Rs. Walrave und Koch I Association UCI u. a. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

aa) Sachverhalt und Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Inhaltsverzeichnis

13

bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

(l) Unbegrenzte unmittelbare Drittwirkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

(2) Die VO 1612168 als Argument für eine unmittelbare Drittwirkung

66

(3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

b) Die Rs. DonltiMantero.... . ... . .... .. . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .

67

aa) Sachverhalt und Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

c) Die Entscheidung van Arneyde I Ufficio Centtale Italiano di Assistenza Assicurativa Automobilisti in Circolazione Internazionale (UCI) . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

aa) Sachverhalt und Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

d) Die Rs. Haug-Adrion I Frankfurter Versicherungs-AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

aa) Sachverhalt und Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

e) Die Rs. Union royale beige des societes de foothall association ASBL u. a.l Jean-Marc Dosman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

aa) Sachverhalt und Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

( 1) Art. 39 EGV als allgemeines Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

(2) Der Aussagegehalt zur horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten . .

74

f) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

2. Die Rechtsprechung zur unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV . . . . . . . . . .

77

a) Die Rechtsprechung des EuGH zu den gewerblichen Schutzrechten als Argument für eine unmittelbare Drittwirkung von Art. 28 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

aa) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

bb) Die Ausübung der gewerblichen Schutzrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

(I) Das nationale Gesetz als Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

(2) Die Entscheidung des mitgliedstaatliehen Gerichtes . . . . . . . . . . . . . . . .

83

(3) Die private Initiative der Rechtsausübung als Verstoß -eine zulässige Subjektivierung des Diskriminierungsbegriffes in Art. 30 Satz 2 EGV? .. . . ... ...... . . ....... . ... .. ...... .. .. . .......... . ... .. .. . ... .

84

b) Die sonstigen Rechtsprechung zu Art. 28 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

aa) Die Rs. ,Dansk Supermarkedllmerco' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

bb) Die Entscheidungen ,van de Haar', ,Vlaamse Reisebureaus' und,Bayerl Süllhöfer' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

14

Inhaltsverzeichnis 3. Bewertung der Rechtsprechungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

a) Die Grenzen der bisherigen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

b) Die Verfahrensart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

aa) Warum Vertragsverletzungs- statt Vorabentscheidungsverfahren? . . . . . . .

91

bb) Schlußfolgerung für das Verhältnis des Vertragsverstoßes durch Unterlassen zur unmittelbaren Drittwirkung .. .. .. . .. .. .. .. . .. . .. .. . . .. .. .. .. .

93

c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten zugunsten der Grundfreiheiten: Alternativlösungen oder zwei Elemente eines einheitlichen Lösungssystems? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

l. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

2. Stellungnahmen in der Literatur zu den beiden Rechtsinstituten . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

a) Stellungnahmen zur mitgliedstaatliehen Unterlassungshaftung . . . . . . . . . . . . . . .

96

b) Der Meinungsstand in der Literatur zur unmittelbaren Drittwirkung . . . . . . . . .

98

aa) Auf ,intermediäre Gewalten' beschränkte unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten-mitAusnahme der Warenverkehrsfreiheit . . . . . . . . . . . . 101 bb) ,Angemessene' unmittelbare Drittwirkung aller Grundfreiheiten begrenzt durch Art. 30 Satz 2 EGV und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 cc) Umfassende unmittelbare Drittwirkung unter Anerkennung von immanenten Grenzen der Grundfreiheiten .. . .. . .. .. . . .. .. .. .. . .. . .. .. . . . . .. .. l 04 c) Beschränkung der Grundfreiheiten durch Private- ein Kollisionsproblem . . . 106 aa) Die Gemeinschaftsgrundrechte als Ausnahmen zu den Grundfreiheiten l 07 bb) Gleichbehandlung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten im Rahmen der Herstellung praktischer Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l 08 cc) Berücksichtigung der Ungleichartigkeit von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten im Rahmen der Abwägung im Kollisionsfall . . . l 08 3. Ergebnis: Die Kollision gleichrangiger Rechte als gemeinsames Kernproblem der Rechtsinstitute der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten und der mitgliedstaatliehen Unterlassungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Kapitel4 Die Gemeinschaftsgrundrechte

ll3

I. Einleitung .. . .. . .. . .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. .. . .. . . . .. .. . . . .. .. . .. . .. . .. . . .. .. . .. . .. .. . . ll3 II. Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Inhaltsverzeichnis III. Geltungsgrund, Anwendungsbereich und Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte

15 117

I. Geltungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Stellungnahmen des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Diskussion . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . 119 2. Die Kritik an der Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes durch den EuGH . . . . . 121 a) Konturlosigkeit von Schutzbereich und Schranken. . . . .............. . ... . . . . . 121 aa) Beispiele für Defizite in der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH . . . . . 122 bb) Gründe für die Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 cc) Ansatzpunkt für eine Behebung des Grundrechtsdefizits . . . . . . . . . . . . . . . . 127 b) Der Rückzug auf eine Evidenzkontrolle bei der Überprüfung von Akten der Gemeinschaftsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte auf mitgliedstaatliche Akte

131

a) Die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 aa) Restriktive Urteile des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 bb) Die Doppelfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranke und Schranken-Schranke der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 cc) Keine darüber hinausgehende Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte auf mitgliedstaatliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 b) Kritik der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Diskussion der Rechtsprechung unter Berücksichtigung der Abwägungslösung . .... .. .... . . .. . ... . ... . .. .. . . ... .. ...... . .. ... . . . . ... . ..... . .. .. . . .. . .. 140 aa) Der Zusammenhang der Problemkreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 bb) Die Abwägungslösung . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4. Das Rangverhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten 145 5. Die Ungleichartigkeit von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten . . . . 148 a) Die unterschiedliche Wirkungsrichtung . . .. ...... . ... . .. . ... . .. . ... .. ........ 148 b) Institutionelle und individuelle Gewährleistungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 c) Schlußfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 6. Staatliche Schutzpflichten zugunsten der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . 152 a) Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 aa) Die Rs. ,Gouda' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 153

16

Inhaltsverzeichnis bb) Die Rs. ,Familiapress' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 cc) Ergebnis: Die Anerkennung der Existenz von Schutzpflichten . . . . . . . . . . 155 b) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

KapitelS Die Struktur des Kollisionsproblems und seine Lösung mit Hilfe des AbwägungsmodeUs

159

I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

1. Zurechnung des Handeins zum Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

2. Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten und die Anerkennung von Schutzpflichten auf Seiten der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Entwicklung und Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte und ihr Verhältnis zu den Grundfreiheiten.. . .. .. ................ .. .. . ................ . ... .. . . .. 161 II. Die Abwägung als Lösungsmodell für die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 1. Die Kollision von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten als Prinzipienkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Die Prinzipienqualität von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten 163 b) Auflösung der Prinzipienkollision durch Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Das Recht auf staatliches Handeln zum Schutz subjektiver Rechte und seine Kollision mit einem gleichrangigen Abwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. a) Das Recht auf staatliches Handeln zum Schutz subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . 168 b) Die Kollision von Schutzrechten mit Abwehrrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 aa) Abgleich mit dem Kollisionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 bb) Kritik an der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf Kollisionslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 III. Das Drei-Relationen-Modell zur vollständigen Erfassung des Konflikts zwischen gleichrangigen Freiheitsgarantien I Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Die drei Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

2. Das Verhältnis der drei Relationen zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Die Zweidimensionalität des ,Drei-Relationen-Modells' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Inhaltsverzeichnis

17

b) Das Verhältnis von unmittelbarer Drittwirkung, mittelbarer Drittwirkung und Schutzpflichtenlehre ....... . ... : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 aa) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 bb) Unmittelbare Drittwirkung- mittelbare Drittwirkung (Schutzpflicht) . . . 175 cc) Schutzpflichtenlehre-mittelbare Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 IV. Der Wesensunterschied zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundfreiheiten und seine Konsequenzen für den Abwägungsvorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Grundrechte als primär individuelle Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Die Grundfreiheiten als primär institutionelle Garantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3. Relevanz und Konsequenzen des unterschiedlichen materiellen Charakters von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten fllr den Abwägungsvorgang . . . I 78 a) Relevanz des unterschiedlichen materiellen Charakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Auswirkungen des unterschiedlichen materiellen Charakters auf den Abwägungsvorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 aa) Methodische Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . 180 bb) Die teleologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 cc) Systematische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (l) Systemwidrige Bindung Privater an die Grundfreiheiten? . . . . . . . . . . . 181

(2) Kein Spürbarkeitserfordemis im Rahmen der Grundfreiheiten? . . . . . 182 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 V. Zusanunenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Kapite/6

Die dogmatische Umsetzung der Kollisionsregel im Gemeinschaftsrecht

188

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 II. Die Lösung im ,Erdbeerstreit'-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 l. Das Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

2. Die Schlußanträge von GA Lenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 a) Die fehlenden Stringenz in der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 b) Die akzessorische Ergänzung des Beeinträchtigungsverbotes von Art. 28 EGV um ein Schutzgebot mit Hilfe von Art. 10 Abs. 1 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2 Schindler

18

Inhaltsverzeichnis c) Das Akzessorietätserfordemis im Rahmen von Art. 10 EGV . . . . . . . . . . .. . . . . . 192 aa) Allgemein .. . .. .. . . .. . .. .. .. .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. . .. . .. .. . .. .. 192 bb) l. Beispiel: Die unmittelbare Wirksamkeit von Richtlinienbestimmungen ................. .... .................. .. .............. .. .. .. ...... .. 193 cc) 2. Beispiel: Die mitgliedstaatliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 dd) Die Unanwendbarkeit von Art. 10 Abs. 1 EGV zur Begründung der zu sichemden Hauptpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3. Ergebnis..... . ............. .. .. . ................. . . ............ .. ............. . . 196

111. Die Funktion von Art. I 0 EGV im Rahmen einer Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten am Beispiel des ,Erdbeerstreit'-Verfahrens . . . . . . . . 197

l. Das Bestehen einer Schutzpflicht als Hauptpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2. Gemeinschaftsrechtliche Grenzen der akzessorischen Nebenpflichten . . . . . . . . . . . 199 a) Der Charakter der geschützten Rechtsposition als äußerer Rahmen für die Ableitung gemeinschaftsrechtlicher Schutzpflichten im Kollisionsfall . . . . . . . 199 b) Das Akzessorietätserfordemis als innerer Rahmen für die Ableitung gemeinschaftsrechtlicher Schutzpflichten im Kollisionsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Das mitgliedstaatliche Ermessen bei der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Schutzpflichten im Kollisionsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 aa) Die Ermessensreduktion im Bezug auf das Entschließungsermessen . . . . 201 bb) Das Auswahlermessen und der Rückzug des EuGH auf eine Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . 203 ( 1) Der Verhältnismäßigkeilsgrundsatz als Grenze für Gemeinschaftsmaßnahmen- Art. 5 Abs. 3 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 (2) Die ratio der Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

Literaturverzeichnis . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Sachwortverzeichnis . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . 224

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.E. a.F. a.a.O .. ABI. Abs. AcP AG AGB Alt. AöR Art. Aufl AVB BAG BayVBl. BB Bd. Beil. BGB BGBI. BGH BVerfG BVerfGE BVerfGG bzgl. bzw. ca. CahDrEur CMLRev. d.h. OB ders. DÖV DVBI. 2*

andere Ansicht amEnde alte Fassung am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (C = Communicationes, L =Leges) Absatz Archiv für civilistische Praxis Aktiengesellschaft Allgemeine Geschäftsbedingungen Alternative Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Allgemeine Versicherungsbedingungen Bundesarbeitsgericht Bayerische Verwaltungsblätter Betriebsberater Band Beilage Bürgerliches Gesetzbuch (der Bundesrepublik Deutschland) Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesverfassungsgericht .Bundesverfassungsgerichtsentscheidung (Band) Bundesverfassungsgerichtsgesetz bezüglich beziehungsweise cirka Cahier de Droit EuropeSen Common Market Law Review das heißt DerBetrieb derselbe Die öffentliche Verwaltung Deutsche Verwaltungsblätter

20

ECLR EEC

EG EGKSV EGMR EGV Eint. EJIL ELR EMRK EP etc. EU EuG EuGH EuGRZ EuR

EUV

EuZW EWG EWGV EWS f. (ff.)

FAZ

Fn. Fs. GA GF

GG

GIH GmbH GRURint. Gs. GTE Hdb.StR Hervorh. h.M. Hrsg. i.Erg. i.e.S. i.R.d.

Abkürzungsverzeichnis European Competition Law Review European Economic Community Europäische Gemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung European Journal of International Law European Law Review Europäische Menschnrechtskonvention Europäisches Parlament et cetera Europäische Union Europäisches Gericht Erster Instanz Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Vertrag zur Gründung der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote Festschrift Generalanwalt Grundfreiheiten Grundgesetz Grabitz I Hilf (vgl. Literaturverzeichnis) Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Auslands- und Internationaler Teil Gedächtnisschrift von der Groeben I Thiesing I Ehlerrnann (vgl. Literaturverzeichnis) Handbuch des Staatsrechts (vgl. Literaturverzeichnis) Hervorhebung herrschende Meinung Herausgeber im Ergebnis im engeren Sinne im Rahmen der I des

Abkürzungsverzeichnis i. s. d. i.S.v. i.V.m. i.w.S. insbes. IPR

JA JURA

JuS JZ Kfz. KJ km/h

lit. Lit. m.Anm. m.E. m.w.N. n.F. NJ

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o.ä. Prot. Pub!. Ser. RIW

RiL. Rn. Rs. Rspr.

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s. Slg. s.o. sog. st. Rspr. str. s.u. TÜV

im Sinne des I der im Sinne von in Verbindung mit im weiteren Sinne insbesondere Internationales Privatrecht Juristische Arbeitsblätter Juristische Analysen Juristische Schulung Juristenzeitung Kraftfahrzeug Kritische Justiz Kilometer pro Stunde littera Literatur mit Anmerkung meines Erachtens mit weiteren Nachweisen neue Fassung NeueJustiz Neue Juristische Wochenschrift noch nicht veröffentlicht Nummer Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht oder ähnliches Protokoll Public Series Recht Internationaler Wirtschaft Richtlinie Randnummer ·Rechtssache Rechtsprechung Seite siehe Sammlung (Amtliche Sammlung der Entscheidungen des EuGH) sieheoben sogenannte (-s, -r) ständige Rechtsprechung strittig siehe unten Technischer Überwachungsverein

21

22 Tz. u.a. UCI

UEFA Urt.

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u.U. UWG V.

v.a. verb. Verf. VG vgl.

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Vol. Vorbem. vs. VVDStRL WRP WuW

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Abkürzungsverzeichnis Teilziffer und andere oder unter anderem Union Cycliste Internationale oder Ufficio Centtale Italiano di Assistenza Assicurativa Automobilisti in Circulazione lnternazionale Union des associations europrennes de foothall Urteil United States unter Umständen Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb von/vom vorallem verbunden (-e) Verfasser Verwaltungsgericht vergleiche Verordnung Volume Vorbemerkung versus Veröffentlichungen der Deutschen Staatsrechtslehrer Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschaft und Wettbewerb Yearbook of European Law zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Ziffer zitiert zum Teil

Kapitell

Einführung I. Der ,Erdbeerstreit' .. Wie wir bei unserem Treffen vom 12. April angekündigt haben, bestätigen wir die Daten der Sperre der Einfuhren von Erdbeeren und Spargel, und zwar: - Erdbeeren aus Marokko: sofortige Sperre, .. . - Erdbeeren und Spargel aus Spanien: Sperre spätestens am 1. Mai, da die französische Erzeugung zu diesem Zeitpunkt zur Deckung des französischen Verbrauchs ausreichen wird. Die erheblichen Schwierigkeiten der Gemüseerzeuger zwingen uns dazu, äußerst wachsam zu sein, und bei den durchgeführten Kontrollen wird die Entdeckung von Waren zu den genannten Zeitpunkten zur Vernichtung dieser Waren führen. " 1

Nicht ganz zu Unrecht bediente sich die ,Federation dipartementale des producteurs de tegumes du Maine-et-Loire' in ihrem Schreiben an die französischen Supermärkte des Stils einer hoheitlichen Entscheidung. In der Tat hatte sie es - im Verbund mit anderen Verbänden und Gewerkschaften sowie einer Vielzahl von Landwirten- im Verlaufe eines Jahrzehnts geschafft, durch sich stetig zuspitzende Gewaltmaßnahmen das staatliche Machtmonopol de facto aufzuheben. Schreiben wie diese sowie massive, strafrechtlich relevante Gewaltakte blieben - abgesehen von vereinzelten Ausnahmen - ohne Folgen für die Urheber. Selbst wenn Polizeikräfte vor Ort waren, versuchten sie weder die Straftaten zu verhindem noch die Personalien zum Zwecke der Strafverfolgung festzustellen. Noch nachdem die • Schreiben der ,Fideration dipartementale des producteurs de ligumes du Maine-et-Loire' vom 18. April 1994 an die ,Grossistes du MIN' (wiedergegeben nach dem Zitat in den Schlußanträgen von GA Lenz zu EuGH-Kommission/ Frankreich (,Erdbeerstreit'), Rs. C265/95, Slg. 1997,1-6961 (6964); Hervorh. im Original); wiedergegeben bzw. besprochen in Meier, EuZW, 1998, S. 87 f.; Szcelcalla, DVBI., 1998 S. S. 219 ff.; Schorkopt EuZW, 1998, S. 237; Schwarze, Europarecht, 1998, S. 53 ff.; Schaerf, Österreichisches Recht der Wirtschaft, 1998, S. 322 ff.; Meurer, EWS, 1998, S. 196 ff.; Jalabert, Revue de droit des affaires internationales, 1998, S. 522 f.; Schaerf, Zeitschrift tur Zölle und Verbrauchsteuern, 1998, S. 617 f.; Muylle, ELR, 1998, S. 467 ff.; Jarvis, CMLRev., 1998, S. 1371 ff.; Kuehling, NJW, 1999, S. 403 f.; Gadbin, Revue de droit rural, 1999, S. 283.

24

1. Kap.: Einführung

Kommission am 19. Juli 1994 das Vorverfahren zum Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich eingeleitet hatte2 , konnten die Übergriffe bis in den Sommer des Jahres 1996 ungehindert fortgesetzt werden 3 . Angesichts dieser Vorkommnisse fällt es nicht schwer, sich GA Lenz anzuschließen, wenn er sagt, .. (w)ürde man es zulassen, daß zur Durchsetzung bestimmter wirtschaftlicher und politischer Ziele auch Gewalt angewendet werden könnte, würde die Herrschaft des Rechts durch die Herrschaft der Gewalt abgelöst. Dies würde auch das Ende der Gemeinschaft bedeuten. "4

Die extremen Umstände des ,Erdbeerstreit'-Verfahrens führen überzeugend vor Augen, daß zumindest derart gravierende Verstöße von Privaten gegen die Marktfreiheiten bzw. den freien Binnenmarkt gemeinschaftsrechtlich nicht toleriert werden können. Schon weitaus weniger eindeutig verhält es sich jedoch im Falle des französischen Fernfahrerstreiks im November 1997, als es zu anhaltenden Straßenblockaden an den französischen Grenzen kam und damit ebenfalls zu einer deutlichen Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs 5 • Die Tatsache, daß die Streikenden das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ins Felde führen konnten6 , macht zumindest ein derart eindeutiges Plädoyer zugunsten der Wahrung des freien Binnenmarktes unmöglich und wirft Fragen nach Ursprung, Voraussetzungen und Grenzen der den Mitgliedstaaten vom EuGH im ,Erdbeerstreit' auferlegten Schutzpflichten auf.

2 Durch das Aufforderungsschreiben an die französischen Behörden von diesem Tag; die Klageerhebung erfolgte mit Eingang der Klageschrift bei der Kanzlei des Gerichtshofs am 4. August 1995; allgemein zum Ablauf des Vertragsverletzungsverfahrens siehe Niedermühlbichler, Verfahren vor dem EuG und EuGH, Rn. 114 ff. 3 V gl. die ausführliche Wiedergabe der Sachverhaltsdarstellung durch die Kommission in den Schlußanträgen von GA Lenz zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, 1-6961, Tz. l. 4 In seinen Schlußanträgen zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, 1-6961, Tz. 33. s FAZvom 7. ll. 1997, Nr. 259, S. 2. 6 Zwar fehlt es seitens des Gerichtshofs noch an einer eindeutigen Stellungnahme zur Anerkennung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit auf Gemeinschaftsebene; in Anbetracht der durchgängigen Gewährleistung in den Mitgliedstaaten sowie in Art. 11 EMRK muß man jedoch von der Existenz dieses Grundrechts auch auf Gemeinschaftsebene ausgehen (vgl. die Übersicht bei Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 91 ff., der ebenfalls zu dieser Schlußfolgerung kommt;).

II. Beweggründe für die Fortentwicklung der Dogmatik zur Vertragsverletzung

25

II. Beweggründe für die Fortentwicklung der Dogmatik zur Vertragsverletzung Zum Zwecke der Annäherung an die Problematik soll der Beantwortung dieser Fragen jedoch eine andere grundsätzliche Überlegung vorangestellt werden. Wie auch GA Lenz feststellte, ist die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch Private in der Tat kein Novum in der Rechtsprechung des EuGH7 • Wenn also der EuGH - dem nach Art. 220 EGV8 die Wahrung des Rechtes bei der Auslegung und Anwendung des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts obliegt9 - es im Jahre 1997 plötzlich für notwendig erachtet, mit dem Vertragsverstoß durch Unterlassen eine neue Begehungsform im Bereich der Vertragsverletzung einzuführen 10, stellt sich zunächst einmal die Frage nach seinen Beweggründen.

1. Tatsächliche Beweggründe Betrachtet man die Schlußanträge und das Urteil im ,Erdbeerstreit'-Verfahren, so sind es zwei Aspekte, aus denen sich erklärt, warum sich für die Richter und den Generalanwalt die Notwendigkeit für eine Verurteilung ergab, obwohl sie damit den Rahmen der bisherigen Dogmatik verlassen mußten: erstens die Nachhaltigkeif der Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs, die über einen Zeitraum von zehn Jahren fortdauerte, und deren Ende überhaupt nicht absehbar war. In diesem Zusammenhang maßen sowohl die Kommission und GA Lenz 11 als auch der Gerichtshof12 dem mittlerweile durch die Vorfälle erzeugten Klima der Unsicher7 Vgl. Schlußanträge von GA Lenz zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, I· 6961, Tz. 6 unter Hinweis auf den sog. ,Weinkrieg' (EuGH-Kommission/Frankreich. Rs. 42/82, Slg. 1983, 1013), als französische Winzer durch massive, z.T. gewalttätige Proteste die Verschärfung der Grenzkontrollen für italienischen Wein und damit im Ergebnis die Ver· ringerung von Weinimporten aus Italien erreichten. s In dieser Arbeit wird durchgängig nach der durch den Amsterdamer Vertrag veränderten Artikelnummerierung zitiert. Soweit es zum Verständnis notwendig ist, werden die neue und alte Artikelnummer angegeben; Sollte ein Artikel durch den Vertrag von Amsterdam wegge· fallen sein, wird dies mit "ex·" gekennzeichnet. 9 Zwar weist nur Art. 31 EGKSV auf das Sekundärrecht hin, jedoch entspricht es der all· gemeinen Meinung, daß der EuGH auch zu dessen Überprüfung und Auslegung berufen ist (vgl. anstau vieler GTE-Krück, Art 164, Rn. 7 und 40 ff.). Der EuGH selbst hat dies zu Recht darauf zurückgeführt, daß die EG eine Rechtsgemeinschaft ist, bei der alle Handlungen der Organe - und damit auch das von ihr erlassene Sekundärrecht - am EGV und den allgemei· nen Rechtsgrundsätzen auf ihre Rechttnäßigkeit hin überprüft werden könne (EuGH-Les Vens, Rs. 294/83, Slg. 1986, S. 1339). 1o Auch GA Lenz sieht den EuGH zum ersten Mal mit dieser Konstellation befaßt (in sei· nen Schlußanträge zur Rs 265/95, Tz. 6). 11 Schlußanträge von GA Lenz zu EuGH·,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, 1·6959, Tz. 15.

1. Kap.: Einführung

26

heit und Ungewißheit entscheidende Bedeutung zu, indem sie schon allein daraus eine Behinderung des freien Warenverkehrs ableiteten. Zweitens spielte die Tatsache, daß mit der Warenverkehrsfreiheit das Herzstück der Gemeinschaft 13 oderwie es der EuGH ausdrückte - einer der tragenden Grundsätze des EGV betroffen war, eine entscheidende Rolle 14.

2. Rechtliche Erwägungen Im Mittelpunkt dieser Arbeit soll jedoch die darauf aufbauende Frage stehen, warum sich der EuGH gezwungen sah, mit dem , Unterlassen' auch eine neue Form der Vertragsverletzung zu schaffen. Allein die Tatsache, daß die Grundfreiheiten grundsätzlich nur die Mitgliedstaaten verpflichten 15, im Erdheerstreit jedoch die Beeinträchtigung der Grundfreiheit auf das Handeln Privater zurückzuführen war, vermag dies nicht zu begründen. Wie auch GA Lenz in seinen Schlußanträgen konzedierte, ist es schließlich keineswegs neu, daß auch ein Handeln von Privatpersonen die Warenverkehrsfreiheit nachhaltig behindern kann 16. Anders als in seiner bisherigen Rechtsprechung führte der EuGH jedoch im ,Erdbeerstreit' nicht die von ihm als Vertragsverstoß gerügten Handlungen der Privatpersonen im Wege der Zurechnung auf den Mitgliedstaat zurück 17. Ebensowenig griff er auf seine Rechtsprechung zur sogenannten unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten18 zurück, um eine Bindung der handelnden Privatrechtssubjekte an die Warenverkehrsfreiheit begründen zu können. Er trennte vielmehr zwischen dem die Behinderung verursachenden privaten Verhalten und der gemeinschaftsrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Mitgliedstaates. Das die Ausübung der Grundfreiheiten behindernde Handeln selbst wurde nicht unmittelbar als Vertragsverstoß qualifiziert, sondern lediglich als tatsächliche Grundlage herangezogen, auf deren

12

EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, 1- 6990, Tz. 53.

13 GTE-Müller-Gra.ff, Art. 30, Rn. 10. 14 EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, 1-6990, Tz. 24.

~~ Zu den Stimmen in der Literatur, die für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten plädieren, s. u. Kapitel 3, III., 2. 16 Schlußanträge zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997,1-6961, Tz. 6. 17 Sei es durch unmittelbares Anknüpfen an die im Zusammenhang mit dem Handeln Privater vorgenommenen Maßnahmen des Staates (EuGH-Kommission/ Frankreich (,Weinkrieg'), Rs. 42/82, Slg. 1983, 1013) oder durch Zurechnung des Handeins Privater (vgl. EuGH-Kommission/lrland (,Buy lrish'), Rs. 249/81, Slg. 1982, 4005). 18 Vgl. dazu demnächst Ganten. Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, Berlin; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, Baden-Baden; Roth, in: FS Everling, S. 1237 ff.; Schaefer, Die unmittelbare Wirkung des Verbots der nichttarifären Handelshemmnisse (Art. 30 EWGV) in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten, 1987, Frankfurt/ Main; Steindor.ff, EGV und Privatrecht, S. 283 ff.; sowie die ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Problematik unten in Kapitel 3.

li. Beweggründe für die Fortentwicklung der Dogmatik zur Vertragsverletzung

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Basis die Passivität des Mitgliedstaates Frankreich als Vertragsverstoß zu werten war- begangen durch Unterlassen.

a) Die doppelte Begrenztheit der Grundfreiheiten Dem ,Erdbeerstreit' liegt damit eine Sachverhaltskonstellation zugrunde, die zwei Lücken des Rechtes der Warenverkehrsfreiheit aufdeckt 19• Zum einen sind die Subjekte, von denen die aktive Beeinträchtigung ausgeht, Private. Der Adressatenkreis von Art. 28 EGV umfaßt jedoch grundsätzlich nur die Mitgliedstaaten und die Organe der EG. Zum anderen begründet Art. 28 EGV seinem Wortlaut nach lediglich eine Unterlassungspflicht für die Mitgliedstaaten. Im ,Erdbeerstreit' führt der EuGH aber die Beeinträchtigung gerade auf staatliches Unterlassen zurück, zu dessen Sanktionierung folglich die Begründung einer Handlungspflicht notwendig war. Bei genauerer Betrachtung sind diese beiden Lücken jedoch die zwei Seiten ein und derselben Konfliktlage und damit gleichzeitig auch die beiden möglichen Ansatzpunkte für eine Lösung. Es geht dabei um das Problem, daß es de facto Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit gibt, die vom Wortlaut des einschlägigen Gemeinschaftsrechtes nicht erfaßt werden, deren Sanktionierung aber zur Sicherstellung eines effektiven Schutzes dieser zentralen Gewährleistung des Gemeinschaftsrechts unerläßlich erscheint. Insbesondere Private haben vielerlei Möglichkeiten, durch ihr Handeln den Schutzbereich der Grundfreiheiten und damit die Errichtung des gemeinsamen Marktes zu beeinträchtigen, sei es durch Streiks, ,Buy National'-Kampagnen oder Berufsregelungen nichtstaatlicher Organisationen, Demonstrationen oder auch nur durch das schlichte Zusammenwirken einer großen Zahl von gewaltbereiten Einzelpersonen, wie beispielsweise auch im ,Erdbeerstreit'20. Ausgehend von der Dogmatik der Grundfreiheiten, kann der Schwerpunkt des Problems bzw. der Ansatz für dessen Lösung dann sowohl auf den beschränkten Adressatenkreis des Art. 28 EGV als auch auf das Fehlen von explizit im Recht der Warenverkehrsfreiheit normierten staatlichen Handlungspflichten gelegt werden. Zur Erfassung dieser Problemfälle kommt demzufolge grundsätzlich entweder die Erweiterung des Adressatenkreises der Warenverkehrsfreiheit auf Private oder die Erweiterung des staatlichen Pflichtenkreises auch auf Handlungspflichten in Betracht. Der EuGH hat mit seinem Urteil im ,Erdbeerstreit' den letzteren Weg gewählt und erstmals Handlungspflichten zugunsten der Warenverkehrsfreiheit aus dem EGV abgeleitet.

19 Aufgrund der insoweit kongruenten Struktur läßt sich dieser Gedanke jedoch auch auf die anderen Grundfreiheiten übertragen. 20 Vgl. die wiederkehrenden Hinweise in der Literatur, anstatt vieler GTE-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 301 ff.

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l. Kap.: Einführung

b) Mögliche Lösungsansätze im Rahmen der bisherigen Dogmatik der Vertragsverletzung An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum der Gerichtshof mit seinen bisherigen Mitteln zur rechtlichen Erfassung von unzulässigen Beschränkungen der Grundfreiheiten nicht mehr auskam. Der einfachste Weg wäre doch wohl auch hier gewesen, an die- durchaus auch im ,Erdbeerstreit' vorhandenen- Elemente staatlichen Handeins anzuknüpfen. Bei sehr vielen der fraglichen Vorkommnisse war beispielsweise die Polizei vor Ort, schritt jedoch nicht effektiv ein. In vereinzelten Fällen kam es auch zu Strafverfolgungsmaßnahmen, die dann aber nicht konsequent vorangetrieben wurden21 . Es mag eingewendet werden, daß Ursache und Schwerpunkt der Behinderungen zweifellos in den Aktionen der Privatpersonen zu suchen waren. Dieses Argument wird allerdings durch eine Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH relativiert, in deren Zuge die Anforderungen an den staatlichen Beitrag zur aktiven Behinderung stetig aufgeweicht wurden22. Die Möglichkeit, durch ein erneutes Herabsetzen der Anforderungen an einen Vertragsverstoß durch staatliches Handeln auch die Fälle zu erfassen, in denen inadäquate hoheitliche Maßnahmen zur Fortdauer von massiven privaten Gewaltakten führen, erscheint deshalb jedenfalls als nicht von vorneherein ausgeschlossen. Daneben hätte es den Weg über die von der Rechtsprechung entwickelte unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten gegeben23 , mit deren Hilfe Rechtssubjekte des Privatrechts unter bestimmten Voraussetzungen einer Bindung an die Grundfreiheiten unterworfen werden. In einigen Fällen, in denen die Beeinträchtigung von Grundfreiheiten ebenfalls auf das Handeln von Privaten zurückzuführen war, hatte der EuGH bereits eben diesen Lösungsweg über die Ausdehnung des Adressatenkreises der Grundfreiheiten auf bestimmte private Rechtssubjekte gewählt24. Obwohl es auch im ,Erdbeerstreit' in letzter Konsequenz um die Frage einer Sanktionierung von Privathandeln ging, entwickelte der EuGH jedoch nicht diese einmal für vergleichbare Konstellationen gewählte Lösungsvariante weiter. Statt dessen schwenkte er ohne Stellungnahme zu den Gründen auf einen alternativen Lösungsmechanismus über - die Ausdehnung des staatlichen Pflichtenkreises 21 Zu den Vorkommnissen im Einzelnen vgl. die ausführliche Mitteilung des Sachverhaltes sowohl in den Entscheidungsgründen (EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, 16990, Tz. 1 bis 23), als auch insbesondere in den Schlußanträgen von GA Lenz (Slg. 1997, 16961, Tz. 1 bis 4), der in vollem Umfang die Schilderungen aus der Klageschrift der Kommission zitiert. 22 Siehe EuGH-Kommissionllrland (,Buy lrish'), Rs. 249/81, S1g. 1982, 4005 und EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-2432; ausführlich dazu unten in Kapitel 2, ll., 2., und Ill. 23 Siehe dazu ausfUhrlieh Kapitel 3. 24 EuGH-Walrave u. Koch/Association UCI, Rs. 36174, Slg. 1974, 1405; EuGH-Dona/ Mantero, Rs. 13176, Slg. 1977, 1333; EuGH-vanAmeyde/UCI, Rs. 90176, Slg. 1977, 1091; EuGH-Haug-Adrion/Frankfurter Versicherungs-AG, Rs. 251/83, Slg. 1984, 4277; EuGHASBL u. a. /Bosman, Rs. C-415/93, Slg. 1995,1-4921.

III. Gang der Untersuchung

29

- und ging erstmals von staatlichen Schutzpflichten zugunsten der Grundfreiheiten aus. Angesichts der Tat-sache, daß der EuGH mit der unmittelbaren Drittwirkung ein potentiell einsetzbares, rechtlich scheinbar gleichwertiges Mittel zur Erfassung der Problematik des ,Erdbeerstreit'-Verfahrens bereits zur Verfügung hatte, überrascht der Ausbruch aus der bisherigen Dogmatik zu Fragen der Vertragsverletzung auf den ersten Blick.

111. Gang der Untersuchung Die schlaglichtartige Beleuchtung der dem ,Erdbeerstreit' zugrundeliegenden Problematik gibt den Einstieg in die Diskussion von möglichen Lösungsansätzen vor. In einem ersten Schritt ist zunächst darzulegen, daß und warum die auch im ,Erdbeerstreit' gegebenen Elemente mitgliedstaatliehen Handeins keine Zurechnung der durch Privathandeln hervorgerufenen Beeinträchtigungen ermöglichen (Kapitel2f5 • Die Verbindung von zwei gemeinschaftsrechtlichen Gegebenheiten determiniert dann das 3. KapiteP6 : erstens haben die einführenden Überlegungen gezeigt, daß als gangbare Lösungswege entweder die Ausdehnung des Adressatenkreises auch auf Private oder die Erweiterung des Pflichtenumfangs von Unterlassungs- auch auf Handlungspflichten in Betracht kommen; zweitens hat die Bindung von Privatpersonen in Form einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten bereits Eingang in das Gemeinschaftsrecht gefunden. Auch wenn der EuGH es bislang vermieden hat, eine unmittelbare Drittwirkung zugunsten der Warenverkehrsfreiheil anzuerkennen, scheint eine derartige Ergänzung des bereits bestehenden dogmatischen Systems naheliegender als die Einführung einer grundlegenden Neuerung - die Begründung von Schutzpflichten der Mitgliedstaaten zugunsten der Grundfreiheiten. Es ist zu klären, warum der EuGH hier letzteren Weg gewählt und von einer scheinbar logischen Vervollständigung der bereits existierenden unmittelbaren Drittwirkung abgesehen hat. Die in den Kapiteln zwei und drei vorgenommene Analyse der Frage, warum das bislang existierende dogmatische Werkzeug nicht ausreichte, um das Problem privater Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten zu erfassen, verleiht dieser Problematik im Ergebnis deutlich schärfere Konturen und deckt damit gleichzeitig die Defizite der bisherigen Lösungsansätze auf. Das vierte KapiteP1 ist demzufolge auch einem in der bisherigen Diskussion der privaten Beeinträchtigungen von Grundfreiheiten nur äußerst unzureichend berücksichtigten Aspekt gewidmet - der gemeinschaftsgrundrechtliehen Dimension des Problems. Geltungsgrund, Inhalt 25 26 27

s.u. s. 9 ff. s.u. s. 43 ff. s.u. s. 97 ff.

I. Kap.: Einführung

30

und Rang der Gemeinschaftsgrundrechte in der Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts sollen darüber Aufschluß geben, ob und inwieweit diese Rechte bei der Lösung der Problematik eine Rolle spielen bzw. spielen müssen.

Im fünften Kapite/28 ist dann die Aufgabe zu lösen, wie sich die grundfreiheitliche und die gemeinschaftsgrundrechtliche Dimension der Beeinträchtigung von Grundfreiheiten durch Privatpersonen zueinander verhalten und auf welche Art und Weise sie bei der Erfassung des Problems miteinander in Einldang gebracht werden können. Die unter diesem Blickwinkel gefundene theoretische Lösung bildet dann den Kernpunkt des hier vorgeschlagenen Lösungsmodells. Das abschließende sechste KapiteP9 dient dazu, die gefundenen Ergebnisse in den dogmatischen Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu stellen. Dabei geht es zum einen darum, die theoretischen Vorgaben der hier in dieser Arbeit vertretenen Lösung gemeinschaftsrechtlich umzusetzen, und zum anderen darum zu überprüfen, ob die systematischen Vorgaben des Gemeinschaftsrechtes im Zuge dieser Umsetzung eingehalten werden können.

28 29

S.u. S. 146 ff. S.u. S. 178 ff.

Kapitel2

Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen in der bestehenden Dogmatik zu den Grundfreiheiten

I. Einleitung Der EuGH war bereits vor dem ,Erdbeerstreit'-Verfahren mit Sachverhalten konfrontiert, in denen die jeweils fragliche Verletzung des Gemeinschaftsrechts unmittelbar nur auf das Handeln von Rechtssubjekten des Privatrechts 1 zurückgeführt werden konnte. Um Rechtsschutzlücken zu vermeiden, verfolgte der Gerichtshof in diesen Fällen bislang die Strategie, den Begriff des ,staatlichen Handelns' immer weiter auszudehnen. So nahm der Gerichtshof zum einen im Wege der Zurechnung eine unmittelbare Verantwortlichkeit des Staates auch für das Handeln von Privaten an, wenn im Einzelfall eine hinreichende Verbindung zwischen diesen und der staatlichen Ebene bestand2 . Zum anderen verzichtete der EuGH - wenn auch bis dato nur in einem Einzelfall - vollständig auf eine unmittelbare Verbindung zwischen dem staatlichen Handeln, das er im Ergebnis als Vertragsverletzung qualifizierte, und der tatsächlich gegebenen Beschränkungswirkung, die letztlich von autonom handelnden Privatrechtssubjekten vorgenommen wurden. In diesem Fall knüpfte der EuGH ganz einfach nicht direkt an den Akt an, der unmittelbar die beeinträchtigende Wirkung entfaltete, weil dieser völlig privatautonom vorgenommen worden war und deshalb dem Staat nicht zugerechnet werden konnte. Stattdessen stellte der Gerichtshof auf einen vorausgegangenen konkreten Organisationsmangel staatlicher Behörden ab und nahm einen mittelbaren Venragsverstoß an - interessanterweise ebenfalls in der Form eines aktiven Tuns 3 •

I Zwar hatte der EuGH bislang nur Fälle zu entscheiden, in denen die Beeinträchtigung von juristischen Personen ausging. Grundsätzlich ist jedoch auch das Handeln von natürlichen Personen einzubeziehen, da es - wie noch zu zeigen sein wird - nicht auf den rechtlichen Status der Handelnden, sondern auf die Beeinträchtigungswirkung der fraglichen Akte ankommt. 2 So z. B. im Fall EuGH-Kommission/lrland ~Buy lrish'), Rs. 249/81, Slg. 1982, 4005, der in diesem Kapitel ausführlich diskutiert wird (II., 2.).

32 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

Im ,Erdbeerstreit' wählte der EuGH jedoch nicht die scheinbar naheliegende Lösung, durch eine Anpassung der Zurechnungskriterien bzw. ein Anknüpfen an seine Entscheidung zum mittelbaren Vertragsverstoß im Rahmen der bereits entwickelten Dogmatik zu bleiben. Eine Untersuchung der einschlägigen Rechtsprechung soll Aufklärung darüber bringen, warum der Gerichtshof die bestehenden Lösungskonzepte nicht verfolgte bzw. verfolgen konnte, sondern ihnen mit dem Vertragsverstoß durch Unterlassen ein weiteres hinzufügte.

II. Die Zurechnung von privatem Handeln zum Staat 1. Problemstellung Soweit privatrechtlich organisierte öffentliche Untemehmen4 oder Standesorganisationen mit hoheitlichen oder hoheitsähnlichen Befugnissen5 ausgestattet sind, läßt sich eine Zurechnung von gemeinschaftsrechtlich relevanten Akten mit Blick auf diese besonderen rechtlichen Befugnisse vergleichsweise unproblematisch begründen. Dem stehen jedoch privatrechtliche Handlungen von Rechtssubjekten des Privatrechts gegenüber, die lediglich strukturell, personell oder finanziell mit der hoheitlichen Gewalt verbunden sind, die aber ansonsten wie alle anderen Personen des Privatrechts am Rechtsverkehr teilnehmen und gerade keine besonderen staatstypischen Befugnisse ausüben. Auch in solchen Fällen hat der EuGH aber in der Vergangenheit eine Zurechnung immer wieder bejaht6 • Damit hat der Gerichtshof unzweifelhaft das charakteristischste Merkmal staatlichen Handeins - die Möglichkeit der rechtlichen Verpflichtung von Privaten- als unabdingbare Voraussetzung für die Zurechenbarkeit einer Beschränkung aufgegeben7 • Schon eine rein faktische Verknüpfung bzw. die Möglichkeit einer irgendwie gearteten Einflußnahme auf das Handeln einer Person des Privatrechts kann demnach grundsätzlich im Wege der Zurechnung eine Verantwortlichkeit des Staates ftir deren Handeln begründen. Vor diesem Hintergrund hätte man auch im ,Erdbeerstreit' daran denken können, an einer rein tatsächlichen Verknüpfung zwischen dem Staat und den handelnden EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995,1-2432, dazu eingehend unten III. Wie z. B. vielfach die kommunalen Energieversarger (vgl. ausführlich dazu Britz. örtliche Energieversorgung nach nationalem Recht, S. 236); GTE-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 290. s EuGH-The Queen/Royal Pharmaceutical Society, Rs. 266 und 267/87, Slg. 1989, 1295, Tz. 15 ff.; EuGH-Hünennund u. a./Landesapothekerkßmmer Baden-Württemberg, Rs. C292/92, Slg. 1993,6787, Tz. 14 ff.; G/H-Matthieslvon Borries, Art. 30, Rn. 5; GTE-Müller-Graff, Art. 30, Rn. 289. 6 EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, Slg. 1982, 4005; EuGH-Beentjes/Niederländischer Staat, Rs. 31/87, Slg. 1988, 4635; EuGH-Van der Koy/Kommission, verb. Rs. 67,68 und 70/85, Slg. 1988, 219; diese Entscheidungen werden im folgenden besprochen. 7 So auch die Bewertung von Müller-Graf! in: GTE, Art. 30, Rn. 292. 3

4

II. Die Zurechnung von privatem Handeln zum Staat

33

Privatpersonen anzusetzen. Während der Gerichtshof und die Kommission einen Zusammenhang zu dieser Rechtsprechung gar nicht herstellen, begnügt sich GA Lenz mit dem Hinweis, daß ..... nichts dafür (spricht), daß im .. . (,Erdbeerstreit') ... ein vergleichbarer Sachverhalt gegeben sein könnte" 8•

Eine Begründung dafür, warum sich die Grundsätze dieser Rechtsprechung nicht übertragen lassen bzw. warum auch eine Modifikation im Sinne einer konsequenten Weiterentwicklung ausscheiden muß, bleibt der Generalanwalt jedoch schuldig. Berücksichtigt man, daß der französische Staat jederzeit durch den Einsatz seiner Polizeigewalt den Ausschreitungen wirksam hätte entgegentreten können, so wird deutlich, daß die Erwägung einer Parallele zu den Zurechnungsfällen jedenfalls nicht von vomeherein ausgeschlossen werden kann. Die Staatsgewalt hatte auch hier eine konkrete Möglichkeit der Einflußnahme. Zwar kann keinesfalls von einer staatlichen Billigung im Sinne einer Genehmigung durch den Staat ausgegangen werden, zumindest scheint aber die Annahme einer Duldung auf den ersten Blick nicht unvertretbar zu sein, da offenkundig keine der staatlichen Aktionen auf eine Unterbindung der Gewaltaktionen gerichtet war. Die primär notwendige - aber offenbar auch ausreichende -faktische Verbindung zwischen dem Staat und den privaten Störern könnte man in den nur halbherzig vorgenommenen Polizei- und Strafverfolgungsmaßnahmen sehen. Das fast ausschließlich passive Verhalten der staatlichen Ordnungsmacht ließe sich somit als faktischer Einfluß auf die gewaltbereiten französischen Bauern betrachten, da diese sich aufgrund dessen bei ihren die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigenden Aktionen sicher fühlen konnten. Mit dieser Argumentation könnte man die dem ,Erdbeerstreit' zugrundeliegende Konstellation ebenfalls als einen Fall faktischer staatlicher Einflußnahme auf die Handlungen von Privaten qualifizieren. Aus diesem Blickwinkel ist es dann auch hier prinzipiell denkbar, einen Verstoß des französischen Staates gegen Art. 28 EGV durch aktives Tun anzunehmen. Um die Tragfähigkeit dieser Argumentationslinie überprüfen zu können, müssen die Voraussetzungen isoliert werden, unter denen der EuGH bislang in Fällen von unverbindlicher bzw. rein faktischer staatlicher Einflußnahme eine Beschränkung der Grundfreiheit durch staatliches Handeln angenommen hat. Nachdem sich das vorliegend im Vordergrund stehende ,Erdbeerstreit'-Verfahren im Recht der Grundfreiheiten abspielte, ist zwar insbesondere das auch von GA Lenz in Bezug genommene sogenannte ,Buy-lrish '- Verfahren9 von Interesse, in dem eine Werbekampagne einer privaten Gesellschaft als Verstoß des irischen Staates gegen Art. 28 EGV angesehen wurde, weil die Gesellschaft personell und s In seinen Schlußanträgen zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997,6961, Tz. 9. EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, Slg. 1982, 4005; vgl. zu dieser Entscheidung auch Rabe, Europarecht, 1983, S. 341 ff.; Van Bael, CMLRev., 1983, S. 617. 9

3 Schindler

34 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

finanziell mit dem irischen Staat verbunden war. Das Problem des staatlichen Ursprungs einer Handlung stellte sich bisher jedoch nicht nur im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten, sondern auch im Beihilfe- 10 sowie im Vergaberecht 11 • Die Fragen, ob der Subventionsgeber der öffentlichen Hand zuzuordnen, bzw. ein Auftraggeber ,öffentlicher Auftraggeber' im Sinne des Vergaberechts ist, lassen sich im Grundsatz ebenso auf die Frage reduzieren, ob eine gegebene Handlung dem Staat zurechenbar und somit an den Normen des Gemeinschaftsrechts zu messen ist. Diese Verbindung hat der EuGH selbst zwar bislang noch nicht explizit hergestellt, sondern die Frage der Zurechenbarkeit isoliert für den jeweiligen Bereich entschieden, eine einheitliche Lösung bietet sich jedoch an 12. Sogar noch einen Schritt weiter geht GA Darmon, der in seinen Schlußanträgen zur Rs. Beentjes die das Vergaberecht betraf - zutreffend feststellte, daß sich ganz allgemein die Frage stellt, ..... ob Organismen, die außerhalb der klassischen Strukturen der Verwaltung stehen, aber - ohne mit eigener Rechtspersönlichkeit cmsgestattet zu sein - Aufgaben erfüllen, für die normalerweise der Staat oder die Gebietskörperschaften zuständig sind, der Anwendung der die Staaten oder die Gebietskörperschaften verpflichtenden Gemeinschaftsnormen entzogen werden können. " 13

Eine vergleichende Untersuchung von Beispielen aus der Rechtsprechung zu den genannten drei Rechtsgebieten soll Aufschluß darüber geben, nach welchen Kriterien der Gerichtshof über diese grundsätzliche Frage der Zurechnung entscheidet und ob das hinter diesen Kriterien stehende Prinzip so interpretiert werden kann, daß es auch eine Zurechnung der Beschränkungen von Art. 30 EGV im ,Erdbeerstreit' tragen würde.

2. Die Rechtsprechung des EuGH a) Zu den Grundfreiheiten- die Rs. Kommission/Irland (,Buy Irish') 14 Dieses auch von GA Lenz in seinen Schlußanträgen zum ,Erdbeerstreit' aufgegriffene15 Verfahren hatte die Frage zum Gegenstand, ob Irland dadurch gegen Art. 28 EGV verstoßen hatte, daß es eine Kampagne zur Förderung irischer Waren initiierte und unterstützte, die von einer privaten Einrichtung - dem ,lrish Goods EuGH-Van der Koy/Kommission, verb. Rs. 67,68 und 70/85, Slg. 1988, 219. EuGH-Been{jes I Niederländischer Staat, Rs. 31/87, Slg. 1988, 4635. 12 Für die Heranziehung von Erwägungen aus dem Beihilferecht tritt auch Müller-Graf! ein (in: GlE, Art. 30, Rn. 290). 13 Schlußanträge von GA Darmon zu EuGH-Been{jes!Niederländischer Staat, Rs. 31/87, Slg. 1988, 4643, Tz. 11. 14 EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, Slg. 1982,4005. IS Schlußanträge von GA Lenz zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1-1997, 16961. IO

II

ß. Die Zurechnung von privatem Handeln zum Staat

35

Council' - organisiert wurde. In ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme rügte die Kommission den Aufbau eines kostenlosen Informationsdienstes, der Verbrauchern die irischen Produkte einer Warengruppe nannte; die Durchführung von Ausstellungen ausschließlich für irische Produkte; die Verbreitung des Etiketts ,Guaranteed Irish'; die große Werbekampagne des ,Irish Goods Council' zugunsten irischer Erzeugnisse. Nachdem während des Vorverfahrens die ersten drei Tätigkeiten eingestellt worden waren, kam es entscheidend darauf an, ob der irische Staat für die fortlaufende Werbekampagne des ,Irish Goods Council' verantwortlich gemacht werden konnte. Der EuGH bejahte dies unter Hinweis auf die ganz überwiegende staatliche Finanzierung, die Besetzung des Vorstands durch den Minister for Industrie, Handel und Energie und die Möglichkeit, Einfluß auf die Ziele des Councils zu nehmen 16. Der vom Vertreter Irlands vorgebrachte Einwand, eine Maßnahme im Sinne des Art. 28 EGV könne nur ein verbindlicher Regierungsakt sein, wurde vom EuGH mit dem Argument verworfen, daß die tatsächliche Beeinflussung der Händler und Verbraucher durch die Unverbindlichkeit der Maßnahme keineswegs ausgeschlossen würde 17. Zu diesem Ergebnis kam auch GA Capotorti in seinen Schlußanträgen, wobei seine Begründung dafür jedoch viel präziser ausfiel. Er griff den eben genannten Einwand auf und bezeichnete das ,lrish Goods Council' zwar als öffentliche Institution mit wirtschaftlichen Hilfsaufgaben, verneinte jedoch zutreffend die Vergleichbarkeit mit einer Behörde, da es keinerlei hoheitliche Gewalt über die Bürger ausübte18. Deshalb lag nach Ansicht des Generalanwaltes- entgegen der Auffassung der Kommission - der Verstoß des irischen Staates in der Tat nicht schon in der Finanzierung der Werbekampagne. Die beschränkende Handlung sei gerade erst die Durchführung der Werbekampagne gewesen. Diese könne als private Handlung dem irischen Staat jedoch aufgrund der finanziellen Unterstützung (in Verbindung mit dem Einfluß auf die Besetzung der Gremien) zugerechnet werden 19. Vor dem Hintergrund dieser exakten Argumentation läßt sich festhalten, daß unmittelbar staatliches Handeln nur dann gegeben ist, wenn eine Behörde, d. h. eine Stelle, die hoheitliche Gewalt ausübt, tätig wird. Handelt jedoch eine private Organisation, mit welcher der Staat durch die Finanzierung oder den Besetzungsmodus dergestalt verbunden ist, daß er auf ihre Ziele Einfluß nehmen kann, liegt ein Fall privaten Handeins vor. Dabei stellen die staatlichen Mittel der Einflußnahme gerade noch nicht die Beschränkung, sondern lediglich die Verknüpfung zu den beschränkenden Maßnahmen der privaten Organisation dar, die dem Staat dann aufgrund dieser Verbindung zugerechnet werden. EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, Slg. 1982,4005, Tz. 18, 15. EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, Slg. 1982,4005, Tz. 28. 18 Schlußanträge von GA Capotorti zu EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, Slg. 1982, 4024, Tz.3. 19 Schlußanträge von GA Capotorti zu EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, Slg. 1982, 4024, Tz.4. 16

17

36 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungsbandlungen

Damit ist deutlich geworden, daß in dergestaltigen Verfahren regelmäßig zwei Fragen zu beantworten sind: Sind erstens die Handlungen der Person des Privatrechts als staatliche Handlungen zu qualifizieren (bzw. zurechenbar)?; und stellen zweitens diese Handlungen rein in ihrer Wirkung einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht dar? Dieser Zweischritt gilt nicht nur für Verfahren bei Verstößen gegen die Warenverkehrsfreiheit oder andere Grundfreiheiten, sondern auch in Fällen des Beihilferechts, in denen dann - neben der Zurechenbarkeit - auch die Frage nach der Beihilfequalität einer staatlichen Zuwendung zu beantworten ist20, und im Vergaberecht, wo es - neben der Frage: ,öffentlicher Auftraggeber oder nicht?' - theoretisch auch darum geht, ob es sich um einen Fall der Auftragsvergabe handelt, wobei der letztere Punkt in den seltensten Fällen strittig und damit in seiner Abgrenzungsfunktion praktisch bedeutungslos isr 1• Im folgenden Abschnitt wird sich jedoch zeigen, daß der Regelungszweck des Vergaberechts zu einer deutlichen Verschiebung des Prüfungsschwerpunkts und damit letztendlich auch zu einer leichten Abwandlung der Systematik führt.

b) Zum Vergaberecht-die Rs. Beentjes/Niederländischer Staat22 In einem Rechtsstreit zwischen der Firma Beentjes und dem niederländischen Staat stellte sich die Frage, ob die Richtlinie 71 I 30523 auf die Vergabe öffentlicher Bauaufträge durch die niederländische ,Örtliche Flurbereinigungskommission' anwendbar ist. Problematisch war dies, weil die Kommission weder eine Verwaltungsdienststelle noch eine der in der Richtlinie genannten juristischen Personen des öffentlichen Rechts war. Entgegen der streng am Wortlaut der Richtlinie orientierten Argumentation der niederländischen Regierung bejahten sowohl die Kommission und GA Darmon als auch der Gerichtshof die Anwendbarkeit der fraglichen Bestimmungen.

Generalanwalt und EuGH interpretieren in derartigen Fällen der Ausgliederung von Verwaltungsaufgaben den Begriff der Behörde im Sinne eines ,Öffentlichen Auftraggebers' rein funktionel/ 24 • Unter lnbezugnahme der Rs. ,Buy lrish '25 wur:zo Siehe dazu die unter c) diskutierte Entscheidung EuGH-van der Kooy/Niederländischer Staat, Rs. 67, 68 und 70/85, Slg. 1988, 219); anders die Rs. Dubois/Garonor, wo ein mittelbarer Vertragsverstoß angenommen wurde mit der Folge, daß in letzter Konsequenz eine staatliche Garantiehaftung eingeführt wurde, so daß es nicht mehr auf die zweite Frage ankäme (dazu ausführlich in diesem Kapitel unter III.). 21 Ausführlich dazu im Rahmen der Diskussion von EuGH-Beentjes/Niederländischer Staat, Rs. 31/87, Slg. 1988, 4635. 22 EuGH-Beentjes I Niederländischer Staat, Rs. 31/87, Slg. 1988, 4635. 23 ABI. Nr. L 185/1971. 2A EuGH-Beentjes/Niederländischer Staat, Rs. 31/87, Slg. 1988,4635, Tz. 11; GA Darmon in seinen Schlußanträgen zu dieser Rechtssache, 4643, Tz. 12; vgl. zu diesem Thema auch Schlette, EuR 2000, S. 119 ff. 23 Siehe dazu ausführlich oben in diesem Kapitel unter II., 2., a).

II. Die Zurechnung von privatem Handeln zum Staat

37

den vorliegend folgende Kriterien herangezogen, um eine solche Einrichtung dem Staat zuordnen zu können, mit der Folge, daß die fragliche Richtlinie Anwendung findet: die Aufgabenzuweisung kraft Gesetzes; die Weisungsgebundenheit gegenüber einem staatlich besetzten Gremium; die Gleichstellung mit Verwaltungsorganen nach innerstaatlichem Recht; die Besetzung der Kommission dun:h den Staat; die Finanzierung dun:h die öffentliche Haruf6 • Es ist nicht ersichtlich, daß GA Darmon oder der Gerichtshof diese Voraussetzungen als kumulativ verstanden wissen wollen. Vielmehr wurde im Wege einer Gesamtbetrachtung, die sich an den genannten Kriterien orientierte, festgestellt, daß die ,Örtlichen Kommissionen' zwar formal außerhalb der staatlichen Strukturen stehen, nicht aber autonom sind27• Sowohl die eben dargestellten Voraussetzungen als auch das Ergebnis, daß der Sachverhalt dem Gemeinschaftsrecht unterworfen wurde, waren dabei dieselben wie in der Rs. ,Buy Irish '. Ein Unterschied besteht allerdings in bezug auf den oben genannten zweiten Schritt. Während im genannten Verfahren gegen Irland nur eine einzelne Handlung erstens zugerechnet und zweitens auf ihre Beeinträchtigungswirkung überprüft wurde, fand in der Rs. Beentjes lediglich eine generelle Statusbestimmung statt, d. h. nicht ein Akt, sondern die agierende Stelle wurde der staatlichen Ebene zugeschrieben. Dieser systematische Unterschied läßt sich jedoch mit dem Grundprinzip des Vergaberechts rechtfertigen, daß die wirtschaftliche Macht, die vom Staat als Verbraucher bzw. Kunden ausgeht, ab einer bestimmten Größenordnung nach festen Regeln ausgeübt werden soll28. Die Gefahr für den freien Binnenmarkt geht dabei nicht konkret von einer einzelnen Handlung aus, sondern abstrakt von dem Status der handelnden ,staatlichen Stelle', eben dem ,öffentlichen Auftraggeber' 29• Während in bezug auf die Grundfreiheiten die Wirkung des jeweiligen Aktes im Vordergrund steht und im Beihilferecht die Beihilfequalität einer Zuwendung von entscheidender Bedeutung ist, gilt es im Vergaberecht vorrangig zu klären, ob der Staat mit seiner geballten Wirtschaftsmacht hinter dem fraglichen Auftrag steht. Entscheidend ist allein der erste Prüfungsschritt: öffentlicher Auftraggeber oder nicht? Der zweite Prüfungsschritt - Auftragsvergabe oder nicht - verblaßt demgegenüber, ganz anders als bei den Grundfreiheiten und im Beihilferecht, wo der Fra26 Wahrend der EuGH die Verbindung lediglich unausgesprochen durch das Aufgreifen des Kriterienkataloges herstellt (EuGH-Beentjes/Niederländischer Staat, Rs. 31187, Slg. 1988,4635, Tz. 8), findet sich in den Schlußanträgen von GA Darmon daneben (Tz. 19) auch ein expliziter Bezug zu dieser Rechtssache (Tz. 14). 27 Schlußanträge von GA Darmon zu EuGH-Beentjes/Niederländischer Staat, Rs. 31/87, Slg. 1988, 4643, Tz. 12. 28 So beträgt das Gesamtvolumen der öffentlichen Aufträge EU-weit ca. 15% des Bruttainlandsproduktes der Mitgliedstaaten, was einem Gegenwert von mehr als 720 Milliarden Euro entspricht (Boesen, EG-Vergaberecht, Köln 1998). 29 Die Beschränkung auf Aufträge, die über einem Schwellenwert liegen (5 Mio. Euro bei Bauaufträgen, 200.000 Euro bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen), beruht allein auf praktischen Erwägungen (Oppermann, Europarecht, 2. Auflage, Rn. 1619), was sich schon daraus ergibt, daß darunter die nationalen Verfahren gelten.

38 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

ge nach der Beeinträchtigungswirkung bzw. der Beihilfequalität einer Handlung entscheidende Bedeutung zukommt.

c) Zum Beihilferecht-die Rs. van der Kooy I Kommission30 In dieser Rechtssache war letztlich zu klären, ob ein Tarif, der auf einem niedrigeren Niveau als üblich festgesetzt wird, als Beihilfe im Sinne von Art. 87 EGV zu qualifizieren ist. Dabei stellte sich jedoch die hier interessierende Vorfrage, ob eine solche Beihilfe auch dann auf den Staat zurückgeführt werden kann, wenn sie von einer Gesellschaft des Privatrechts gewährt wird.

Im Rahmen des Beihilferechts konnten sich GA Slynn und der Gerichtshof an einer bereits gefestigten Rechtsprechung orientieren, derzufolge es nicht darauf ankommt, ob die Beihilfe durch den Staat gewährt wird oder durch eine zur Durchführung der Beihilferegelung beauftragten oder errichteten öffentlichen oder privaten Einrichtung; entscheidend sind allein die Begleitumstände31 • Ausschlaggebend für die Bejahung der Zurechenbarkeit war hier, daß der Staat zu 50% an der Gesellschaft beteiligt war und die Hälfte des für die Festlegung der Tarife zuständigen Gremiums besetzen konnte. Darüber hinaus bedurften die Tarife der Genehmigung des Wirtschaftsministers, so daß insgesamt davon auszugehen war, daß das Unternehmen unter staatlicher Kontrolle stand und nach Anweisungen öffentlicher Stellen handelte 32 • Auch in diesem Fall hatte der Staat damit entscheidenden Einfluß auf die personelle Ebene, war finanziell mit dem Unternehmen verbunden und hatte durch den Anteil von 50% zumindest die Möglichkeit, unliebsame Entscheidungen zu verhindern, zumal die Tarife ohnehin der Genehmigung des zuständigen Ministers unterlagen.

3. Stellungnahme a) Die Kongruenz der geprüften Kriterien in den verschiedenen Gebieten des Gemeinschaftsrechts In sämtlichen der angesprochenen Verfahren stellte sich ein und dieselbe grundsätzliche Frage: Unter welchen Voraussetzungen ist das Handeln von Rechtssubjekten des Privatrechts dem Staat zurechenbar? EuGH-Van der Kooy/NiederländischerStaat, Rs. 67,68 und 70/85, Slg. 1988,219. EuGH-Steinike und Weinlig/Deutschland, Rs. 78/76, Slg. 1977, 595, Tz. 21; EuGHKommission/Frankreich, Rs. 290/83, Slg. 1985,439, Tz. 14. 32 EuGH-van der Kooy/N~derländischer Staat, Rs. 67, 68 und 70/85, Slg. 1988, 219, Tz. 36 f. (wobei der Gerichtshof in Tz. 37 betont, daß sich diese Bewertung aus einer Zusammenschau der genannten Faktoren ergibt); Schlußanträge von GA Slynn zu dieser Rechtssache, 240 (248 ff.). 30

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0. Die Zurechnung von privatem Handeln zum Staat

39

Auch wenn im Bereich des Vergaberechts die Rechtsfolge darüber sogar noch hinausgeht, da es nicht nur um die Zurechnung des jeweiligen Einzelakts geht, sondern um eine ganz allgemeine Statusbestimmung bezüglich des privaten Unternehmens, fallt die große Ähnlichkeit der vom Gerichtshof in allen drei Fällen herangezogenen Kriterien auf. In allen Verfahren wurde auf personeller Ebene die Möglichkeit einer staatlichen Kontrolle der Entscheidungsgremien der privaten Gesellschaft bejahe3 ; in finanzieller Hinsicht war der Staat entweder als Eigentüme?4, als Verpflichteter35 oder als Geldgeber36 betroffen, d. h., die jeweilige Handlung schlug sich im Endeffekt im Staatshaushalt nieder. Was die Ziele der jeweils agierenden privaten Einrichtungen betraf, so war in allen drei Fällen der Staat entweder genehmigungsbefugt31 , hatte der Gesellschaft bestimmte Aufgabenkraft Gesetzes zugewiesen38 oder hatte zumindest eine sonstige, entscheidende Möglichkeit der Einflußnahme und sei es auch nur, weil die Änderung der im Gründungsvertrag festgelegten Ziele der Zustimmung des Staates bedurfte39•

b) Die Bedeutung der Kriterien - kumulative Wirkung und unterschiedliches Gewicht in den verschiedenen Rechtsbereichen Zu der Frage, ob es sich hierbei nun um kumulative oder alternative Kriterien handelt, nimmt der EuGH nicht ausdrücklich Stellung. In der Rs. van der Kooy läßt sich aus der Formulierung "(d}iese Umstände zeigen zusammengenommen .. ."40 in den Entscheidungsgründen lediglich ein Hinweis für eine Gesamtbetrachtung entnehmen. Dahinter steht die ständige Rechtsprechung des Gerichtshof im Beihilferecht, nach der bei der Beurteilung der staatlichen Zurechenbarkeit immer auf sämtliche Begleitumstände abzustellen ist41 • Die potentielle Vielfalt der zu beurteilenden Fälle sowie der Grundsatz der Effektivität des Gemeinschaftsrechts sprechen dafür, diese Vorgehensweise auch im Vergaberecht und im Recht der Grundfreiheiten zu verfolgen. 33 EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81 , Slg. 1982, 4005, Tz. 15; EuGH-Beentjes!NiederländischerStaat, Rs. 31/87, S1g. 1988,4635, Tz. 8; EuGH-Van der Kooy!NiederländischerStaat, Rs. 67,68 und 70/85, Slg. 1988,219, Tz. 36. 34 EuGH-Van der Kooy!Niederländischer Staat, Rs. 67, 68 und 70/85, Slg. 1988, 219, Tz. 36. 3S EuGH-Beentjes I Niederländischer Staat, Rs. 31/87, Slg. 1988, 4635, Tz. 8. 36 EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, S1g. 1982, 4005, Tz. 13 und 15. 37 EuGH-Van der Kooy!Kommission, verb. Rs. 67,68 und 70/85, S1g. 1988,219, Tz. 36. 38 EuGH-Beentjes/Niederländischer Staat, Rs. 31/87, Slg. 1988,4635, Tz. 8. 39 Schlußanträge von GA Capotorti zu EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, Slg. 1982, 4024 Tz. 3; EuGH-,Buy lrish', Rs. 249/81, S1g. 1982,4005, Tz. 15. 40 EuGH-Van der Kooy!Kommission, verb. Rs. 67,68 und 70/85, Slg. 1988,219, Tz. 37 (Herv. v. Verf.). 41 Dies ergibt sich aus den zusammenfassenden Ausfilluungen von Wallenbergs in GI H, Art. 92, Rn. 5 f.; und Pape, Staatliche Kapitalbeteiligung an Unternehmen und das Beihilfeverbot gern. Art. 92 EG-V, 1996, Frankfurt/a.M., S. 99 ff., 116.

40 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

Bei der Gewichtung der einzelnen Kriterien muß jedoch dem Regelungszweck der jeweiligen Rechtsmaterie Rechnung getragen werden. So ist im Vergaberecht von erhöhter Bedeutung, ob im Ergebnis für Rechnung des Staates gehandelt wird, da gerade die riesige staatliche Wirtschaftsmacht kontrolliert werden soll, wenn der Staat als Verbraucher auftritt42• Dagegen ist im Beihilferecht zusätzlich das Augenmerk darauf zu legen, ob der Staat die Gremien kontrolliert, welche über die gewährte Vergünstigung entscheiden, da der Staat nur im Rahmen der gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Kontrollverfahren mit seinen Mitteln gezielt Einfluß auf einzelne Wirtschaftszweige nehmen soll43 .

c) Die Zurechnung privaten Handeins zum Staatkein gangbarer Lösungsweg im ,Erdbeerstreit'-Verfahren Ausgangspunkt dieses Abschnitts war die Frage, ob die unzureichenden Maßnahmen der französischen Staatsorgane als eine Ermutigung bzw. Bestätigung der handelnden Privatpersonen und damit als Einflußnahme des Staates im Sinne der eben dargestellten Rechtsprechung qualifiziert werden können. Schließlich hätte der Staat im ,Erdbeerstreit', vergleichbar zu den diskutierten Zurechnungsfallen, durch Ausschöpfung seiner Handlungs- bzw. Einflußnahmemöglichkeiten die Vertragsverletzung abwenden können. Das Ergebnis der eben angestellten Untersuchung macht jedoch deutlich, daß ein gravierender Unterschied zwischen den Zurechnungsfallen und dem ,Erdbeerstreit' besteht, der eine Übertragung dieser Rechtsprechung unmöglich macht- die jeweils mögliche Art und Weise der staatlichen Einflußnahme. Im ,Erdbeerstreit' hätte Frankreich die Behinderungen allein unter Ausnutzung des staatlichen Gewaltmonopols verhindem können, d. h. durch Anwendung von unmittelbarem Zwang. Demgegenüber stand dem jeweiligen Mitgliedstaat in den Zurechnungsfällen jeweils der Weg über eine Beeinflussung der handelnden juristischen Person des Privatrechts ,von innen heraus' offen. Gerade diese Art und Weise des möglichen Einflusses spiegelt sich dann auch in den von der Rechtsprechung für eine Zurechnung aufgestellten Kriterien wider. Diesen ist gemeinsam, daß sie eine tatsächliche, interne Steuerungsmöglichkeit des Staates begründen. Das Handeln auf dem Privatsektor stellt sich insoweit als staatliches Handeln unter Zuhilfenahme der Mittel des Privatrechts dar. Um zu verhindern, daß ein Staat sich seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen durch eine ,Flucht in das Privatrecht' entziehen kann, ist eine Zurechnung der fraglichen privatrechtliehen Handlungen in diesen Fällen gemeinschaftsrechtlich geboten. Für eine Zurechnung von Privathandeln ist nach der bisherigen Rechtsprechung folglich ausschlaggebend, daß der Anstalt vieler Boesen. EG-Vergaberecht, S. 9. Vgl. dazu z. B. die Problemerfassung von Pape, Staatliche Kapitalbeteiligungen an Unternehmen, S. 2 ff., sowie seine Darstellung der Zurechnungsproblematik im Beihilferecht (S. 99 ff.). 42 43

II. Die Zurechnung von privatem Handeln zum Staat

41

Staat bereits im Vorfeld der fraglichen Handlung Strukturen geschaffen hat, die ihm einen Einfluß von innen heraus auf die handelnden Personen eröffnet. Jede Handlung im Rahmen derartiger Strukturen kann ihm deshalb als ,sein Werk' zugerechnet werden, weil er die betreffenden Privatpersonen gleichsam als Werkzeuge benutzt. Die insoweit bestehende einheitliche Grundstruktur der in den verschiedenen Bereichen des Gemeinschaftsrechts entwickelten Zurechnungskriterien - die interne Steuerungsmöglichkeit des fraglichen Privathandeins durch den Staat über bereits im Vorfeld bestehende Organisationsstrukturen - war jedoch im ,Erdbeerstreit' gerade nicht gegeben. Dort handelte es sich mit Gewerkschaften um eine Organisationsform, die traditionell privates Handeln (auch) gegen den Staat bündelt. In vielen der relevanten Fälle entsprangen die Beeinträchtigungen sogar nur einem losen Zusammenschluß von Privatpersonen, ohne irgendeine Form gemeinsamer rechtlicher Organisation44 • Eine staatliche Einflußnahme war allein über den Einsatz staatlicher Zwangsmittel, also durch externen Druck, möglich. Die dem Staat aufgrund des Gewaltmonopols zur Verfügung stehenden Zwangsmittel und die gemeinschaftsrechtswidrigen Akte stehen folglich nicht von vomeherein in Beziehung zueinander, wie dies bei staatlichem Einfluß auf bestehende interne Steuerungsmechanismen der Fall ist. Das staatliche Gewaltmonopol bedeutet lediglich die allgemeine Möglichkeit des Staates, rechtswidrige Akte zu ahnden, bzw. ihre Fortsetzung zu verhindern. Eine Verknüpfung zwischen der rechtswidrigen Handlung und der staatlichen Ebene entsteht ~rst durch die Ausübung oder Nichtausübung staatlicher Gewalt. Die Beeinträchtigung von Art. 28 EGV erhielt somit erst durch das Unterlassen derartiger Maßnahmen eine staatliche Dimension bzw. einen Bezug zur staatlichen Ebene. Deshalb war dem Staat nicht etwa das Handeln der ,Coordination rurale' bzw. der Demonstranten zuzurechnen, sondern er verletzte allenfalls eine eigene Handlungspflicht. Der Schwerpunkt des staatlichen Anteils an der Beeinträchtigung liegt daher - wie es die Lösung des EuGH im Ergebnis auch zutreffend widerspiegelt - nicht auf dem Verhalten, das die beteiligten Privatpersonen an den Tag legten, sondern auf dem Verhalten, das der französische Staat vermissen ließ. Nicht im Vorfeld geschaffene Strukturen der Einflußnahme des Staates begründen hier eine Qualifikation der privaten Handlungen als ,staatlich' . Vielmehr wirft die Tatsache, daß der französische Staat es unterließ, durch den Einsatz staatlicher Machtmittel die rechtswidrigen Zustände zu ahnden und in Zukunft zu unterbinden, die Frage auf, ob der Staat nicht hätte schützend eingreifen müssen. Dem Staat wegen seiner Machtmittel jegliches fortgesetzte, rechtswidrige Privathandeln 44 Im mitgeteilten Sachverhalt werden die ,Coordination rurale' und die ,Federation departementale des producteurs de legumes du Maine-et-Loire' genannt (Schlußanträge von GA Lenz zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. 265/95, Slg. 1997, 1-6961, Tz. 2 (Tz. 5 der zitierten Klageschrift der Kommission), denen jedoch bei weitem nicht alle der gerügten Maßnahmen zugeschrieben werden.

42 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

zuzurechnen würde zu einer unüberschaubaren Gefährdungshaftung des Staates führen. Sie ist deshalb in dieser Allgemeinheit abzulehnen45 •

111. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß durch einen Mitgliedstaat die Rs. Dubois und General Cargo Services I Garonor46 1. Einleitung Trotz der eben beschriebenen weiten Interpretation des Terminus ,staatliches Handeln' durch die Rechtsprechung und der von ihr entwickelten Zurechenbarkeit von privatem Handeln zum Staat hielt der EuGH stets grundsätzlich an dem Prinzip fest, daß die fragliche Beschränkung in jedem Fall unmittelbar mit der staatlichen Ebene verbunden sein muß, damit der Staat für dieses Handeln verantwortlich gemacht werden kann. Dementsprechend wählte der Gerichtshof die im vorstehenden Kapitel herausgearbeiteten Kriterien aus, mit denen sich eine unmittelbare, strukturelle Verknüpfung zwischen der Handlung und dem Staat über eine staatliche beeinflußbare Organisationsstruktur begründen läßt. Zu trennen von der Frage der unmittelbaren Verknüpfung der Beeinträchtigung und der staatlichen Ebene sind die Voraussetzungen, die zur Feststellung der Beeinträchtigungswirkung gegeben sein müssen. Daftir genügt laut EuGH im Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit grundsätzlich jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindem47 • Diese Rechtsprechungslinie48 betrifft jedoch lediglich die Frage der Existenz einer Beeinträchtigung. Vorliegend geht es hingegen um die Frage der Verantwonlichkeit für eine gegebene Beeinträchtigung. In der Rs. Dubois relativierte der EuGH dann auch das Erfordernis der unmittelbaren Verknüpfung von Verletzungswirkung und staatlicher Handlungsebene. Er nahm explizit gerade keine Zurechnung einer Behinderung durch privates Verhalten mehr vor, kam aber dennoch zu einer Vertragsverletzung durch staatliches Handeln im Sinne eines aktiven Tuns. Dieser Lösung lag die Einftihrung des sog. mittelbaren Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht zugrunde, der an ein Organisationsverschulden des Staates anknüpft und der zu dieser Zeit ebenfalls ein Novum in Dazu näher unten in diesem Kapitel unter III., 5.. EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995,1-2432. 47 EuGH-Dassonville, Rs. 8174, Slg. 1974, 837,852. 48 Sie wird vervollständigt durch EuGH-Rewe-Zentral-AG I Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (,Cassis de Dijon'), Rs. 120178, Slg. 1979, 649 und EuGH-Keck und Mitlwuard (,Keck'), Verb. Rs. C-2667 u. 268/91, Slg. 1993,1-6097, 45

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III. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß

43

der Rechtsprechung des EuGH darstellte, wie auch GA La Pergola in seinen Schlußanträgen zu dieser Rechtssache konzedierte49• Auch im Bezug auf diese Argumentation läßt sich eine Übertragung auf die vorliegend diskutierte Konstellation denken, wurde doch dem französischen Staat im ,Erdbeerstreit'-Verfahren ein Fehlverhalten der Polizeikräfte vorgeworfen, die obwohl sie in vielen der gerügten Fälle sogar rechtzeitig vor Ort waren oder hätten sein können50 - durch ihr Verhalten minelbar die privaten Beschränkungsaktionen ermöglichten. Anband einer eingehenden Untersuchung der Urteilsgründe und der Schlußanträge zur Rs. Dubois soll daher überprüft werden, ob tatsächlich die darin eingeschlagene Linie auch im ,Erdbeerstreit' hätte verfolgt werden können51 •

2. Das Urteil Die private Gesellschaft ,Garonor' betrieb in der Nähe von Paris einen Umschlagplatz für Güterkraftverkehr. Auf diesem Areal waren auch Zolldienststellen untergebracht, bei denen die sonst an der Staatsgrenze üblichen Formalitäten abgewickelt werden konnten. Miete verlangte die ,Garonor' für die den Zollbehörden zur Verfügung gestellten Räume nicht. Sie vermietete Büroräume und sonstige Anlagen auf dem Gelände an Speditionsunternehmen und vereinbarte in den Verträgen, neben der Miete, auch eine ,Durchfahrtsgebühr' für jedes Fahrzeug im internationalen Transitverkehr. Im Rahmen einer Klage von Mietern (E. Dubois et fils SA und General cargo services SA) stellte das nationale Gericht fest, daß ein beträchtlicher Teil dieser Gebühr zur Deckung der Kosten aufgewendet wurde, die aus der Erfüllung der Zollaufgaben - insbesondere den Mietausfall bzgl. der Räume der Zollbehörden - resultierten. Auf Vorlage wertete der EuGH das Vorgehen als Verstoß des französischen Staates gegen Art. 23 und 25 EGV. Der Gerichtshof hielt es dabei für unerheblich, daß auch hier das dem Verstoß unmittelbar zugrundeliegende Handeln allein auf private Initiative zurückzuführen war. Unabhängig davon, ob die verbotene finanzielle Belastung des einzelnen unmittelbar durch den Staat oder - wie hier - mine/bar durch eine Kette von Verträgen erfolge, sei sie auf den Verstoß des Mitgliedstaates gegen seine finanziellen Verpflichtungen aus Art. 23 und 25 EGV zurückzuführen52. Dabei ist vor allen Dingen bemerkenswert, daß die Zollbehörden nach dem 49 Schlußanträge von GA La Pergola zu EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-2423, Tz. 20. so Vgl. dazu den von GA Lenz in seinen Schlußanträgen zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs, C265/95, Slg. 1997,1-6961, Tz. I, (I) und (5) wiedergegebenen Sachverhalt. 51 Wahrend der Gerichtshof selbst sich mit diesem Uneil überhaupt nicht auseinandersetzt, dient es GA Lenz in seinen Schlußanträgen lediglich als Illustration für die Tatsache," ... tÜJß auch im Bereich der Warenverkehrsfreiheit einem MitgliedskUlt unter bestimmten Voraussetzungen die Verantwortung für das Verhalten von Privatpersonen angelastet werden kann" (Rs. C-265/95, Slg. 1997,1-6961, Tz. 44);

44 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

mitgeteilten Sachverhalt die kostenlose Zurverfügungsstellung der Räumlichkeiten nicht einmal verlangt bzw. vorgeschrieben hatten, sondern lediglich die von der ,Garonor' von sich aus gebotenen Möglichkeiten ausnutzten53. Diese insgesamt äußerst knappe Argumentation des EuGH läuft im Endeffekt darauf hinaus, daß eine von Privaten verursachte Beeinträchtigung selbst dann als eine staatliche Vertragsverletzung qualifiziert werden kann, wenn sie nicht staatlich veranlaßt war bzw. der Staat keine der bis dahin von der Rechtsprechung zumindest verlangten Möglichkeiten der steuernden Einflußnahme54 auf die im Ergebnis handelnde Privatperson hatte. Der Gerichtshof löst sich damit ftir seine Bewertung von dem Akt, durch den konkret die Beeinträchtigung herbeigeführt wird - hier, die Weitergabe der Kosten für die Zolldienststellen durch private Wirtschaftsteilnehmer55. Er knüpft nunmehr allein an die Tatsache an, daß die Beeinträchtigungswirkung eintritt. Wahrend die Zurechnungskriterien die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten noch mit definierbaren Grenzen versah, führt diese rein wirkungsorientierte Argumentation des EuGH endgültig zu einer Verwässerung der Voraussetzungen für eine Haftungsbegründung und damit gleichzeitig zu einer weitgehenden Relativierung der haftungsbegrenzenden Elemente56 .

3. Die Schlußanträge von GA La Pergola Aufschlußreicher als die einmal mehr apodiktischen Urteilsgründe des Gerichtshofes sind die Schlußanträge des Generalanwaltes. lA Pergola stellt darin zunächst fest, daß die in den privatrechtliehen Verträgen der ,Garonor' mit ihren Mietern vorgesehene Durchfahrtsgebühr keinen Verstoß des französischen Staates gegen das Verbot der Einführung von Abgaben gleicher Wirkung im Sinne der Art. 23 s2 EuGH-Dubois!Garonor. Rs. C-16/94, Slg. 1995,1-2432, Tz. 20 s3 Dies ergibt sich aus den Fonnulierungen in den Schlußanträgen von GA La Pergola zu EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995,1-2423, Tz. 4: " ... a) Die Geldleistung, um die es gehe, werde zwar nicht vom Staat vorgeschrieben, jedoch zu seinen Gunsren erhoben, so daß der Staat letztlich der wahre Empfänger sei." (die Erwägungen von Kommission und Dubois wiedergebend), sowie in den Urteilsgründen zu EuGH-Dubois!Garonor, Rs. C-16/ 94, Slg. 1995, 1-2432, Tz. 20: "Unabhängig davon, ob die finanzielle Belastung den Winschaftsteilnehmer aufgrundeiner einseitigen Handlung der Behörde, oder aber über eine Reihe privatrechtlicher Venräge trifft, ... , sie ergibt sich stets - unmittelbar oder mittelbar aus dem Verstoß des betreffenden Mitgliedstaates gegen seine finanziellen Verpflichtungen aus den Artikeln 9 und 12 ... "). S4 Vgl. die in diesem Kapitel unter II. herausgearbeiteten Zurechnungskriterien. ss EuGH-Dubois!Garonor. Rs. C-16/94, Slg. 1995,1-2432, Tz. 20. S6 Zur Problematik der Haftungsbegrenzung und ihrer Elemente vgl. ausführlich unten III., 5., b); zur privatrechtliehen Seite des Problems einer fehlenden staatlichen Veranlassung vgl. die Kritik von Weber, RIW 1995, S. 1048, der den Privaten als den Leidtragenden sieht, da dessen Geschäftsbedingungen aufgrund des festgestellten Vertragsverstoßes durch den Mitgliedstaat nicht zur Anwendung kommen könnten.

III. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß

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und 25 EGV darstellt57• Dabei geht er zutreffend davon aus, daß die im letzten Abschnitt herausgearbeiteten Voraussetzungen ftir eine Zurechnung der vereinbarten Geldleistung nicht vorliegen, da es ftir eine tatsächliche oder rechtliche Möglichkeit der internen Einflußnahme des französischen Staates auf das Handeln der ,Garonor' keinerlei Anhaltspunkte gab58 • Folgerichtig sieht er sich damit vor die in der Rechtsprechung des EuGH neue Frage gestellt, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen man davon ausgehen kann, daß eine private Geldleistung gegen die Art. 23 und 25 EGV verstößt, deren Erhebung dem Staat zwar nicht zugerechnet werden kann, die aber dennoch den Zweck hat, Kosten zu decken, die mit der Erftillung staatlicher Aufgaben zusammenhängen. In seiner ausführlichen Argumentation beschäftigt sich der Generalanwalt zunächst mit dem Adressatenkreis der genannten Bestimmungen. Dieser beschränkt sich eindeutig auf die Mitgliedstaaten und umfaßt folglich gerade nicht eine rein privatrechtlich verursachte Geldleistung, wie z. B. die Durchfahrtsgebühr, die in den Mietverträgen der ,Garonor' enthalten w~9• Daraus folgerte lA Pergola, daß der europarechtliche Begriff der ,Zölle und Abgaben gleicher Wirkung' in den Art. 23 und 25 EGV an der Ausübung einer traditionell den staatlichen Organen vorbehaltenen Befugnis zur Vomahme von Besteuerungsmaßnahmen anknüpft. Auch nach einhelliger Ansicht im Schrifttum60 setzt das voraus, daß die Abgabe kraft zwingender hoheitlicher Anordnung zu leisten ist. Ein privatrechtlich begründeter Anspruch auf eine Geldleistung erfüllt somit grundsätzlich nicht die Merkmale einer Steuer im Sinne des Gemeinschaftsrechts61 • Die damit einzig noch in Betracht kommenden Varianten einer Beleihung der ,Garonor' bzw. einer Zurechnung der privatrechtlich erhobenen Gebühr schieden ebenfalls offensichtlich aus. 51 GA La Pergola, Schlußanträge zu EuGH-Dubois/Garonor; Rs. C-16/94, Slg. 1995, 12423, Tz. 5; der Generalanwalt zitiertjeweils Art. 9, 11, 12 und 16 EGV; dem istjedoch mit dem EuGH entgegenzuhalten, daß die Prüfung auf die Art. 9 und 12 EGV beschränkt werden kann, da die fraglichen Ereignisse nach Ablauf der Übergangszeit stattgefunden haben (EuGH-Dubois/Garonor; Rs. C- 16/94, Slg. 1995,1-2432, Tz. 12). 58 Siehe oben II., 3.; da es sich bei ,Garonor' um eine Gesellschaft privaten Rechts ohne besondere Stellung gegenüber dem französischen Staat handelte, war wohl eher auf diese allgemeinen Grundsätze zur Frage der Zurechenbarkeit von Privathandeln abzustellen als auf die von GA La Pergo/4 vorrangig herangezogene (vgl. in seinen Schlußanträgen zu EuGHDubois/Garonor; C-16/94, Slg. 1995,1-2423, Tz. 5, Fn. 3) Rechtsprechung aus der Rs. Foster (Slg. 1990, 1-3313, Tz. 20), nach der dem staatlichen Bereich jede Einrichtung zuzurechnen ist, .,die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt. " 59 EuGH-Geddo/Ente Nationale Risi, Rs. 2173, Slg. 865, Tz. 6. (l() GIH-Voß, Art. 12, Rn. 10; GTE-Beschel/Vaulont, Art. 12, Rn. 7; Lenz-Lux, Art 25, Rn. 11; Kohler. Abgaben zollgleicher Wirkung, S. 36. 61 GA La Pergola, Schlußanträge zu EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C- 16/94, Slg. 1995, 12423, Tz. 5.

46 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

Damit fand sich GA La Pergola in einer Situation wieder, wie sie sich auf vergleichbare Art und Weise zwei Jahre später auch für den Gerichtshof im ,Erdbeerstreit' stellte: Die gravierenden tatsächlichen Auswirkungen, sowie die Berührung des Kernbereichs des Gemeinschaftsrechts (auch hier der freie Warenverkehr) begründeten ein gemeinschaftsrechtspolitisches Bedürfnis für die Feststellung eines Vertragsverstoßes62 - das Gemeinschaftsrecht in seiner bis dahin erfolgten Prägung durch die Rechtsprechung erlaubte es jedoch nicht, die vorliegende Konstellation zu erfassen63 • Um das Problem dennoch einer Lösung zuzuführen, mußte der Generalanwalt folglich einen neuen Blickwinkel wählen. Er arbeitete heraus, daß sich in der Rs. Dubois I Garonor zusätzlich folgende Frage stellte: Ergibt sich eine Behinderung des freien Warenverkehrs daraus, daß Frankreich ..... gegen die Verpflichtung verstoßen hat, für die mit der Wahrnehmung der fraglichen öffentlichen Aufgabe verbundenen Kosten (selbst) einzustehen ... , so daß die Möglichkeit ausgeschlossen wird, daß der am Transit der Waren beteiligte private Wirtschaftsteilnehmer sie zu tragen hat"64?

Die Analyse des Generalanwalts fuhrt zwar stringent zum Kern der aufgeworfenen gemeinschaftsrechtlichen Fragestellung. Mit dem von ihm gewählten Lösungsansatz steht er jedoch dann vor dem Problem, daß der Wortlaut von Art. 23 und 25 EGV die dafür notwendige extensive Auslegung nicht zuläßt. Diese Vorschriften enthalten - ebenso wie auch die im ,Erdbeerstreit' angesprochenen Regelungen zu den Grundfreiheiten - lediglich Verbote, d. h. die Pflicht, bestimmte Handlungen zu unterlassen. Dem von GA La Pergola zutreffend formulierten Problem liegt also die Frage zugrunde, ob es dem Staat verboten ist, für seine Kosten nicht einzustehen, d. h., ob ihn eine Handlungspflicht triffi, die eigenen Kosten zu tragen mit anderen Worten, ob ihn ein Gebot im Sinne einer Kostenübernahmepflicht trim. Will man aber die Frage positiv beantworten, so ist es auch in diesem Fall unausweichlich, nach einem Verstoß durch Unterlassen gegen eine Handlungspflicht (Gebot) zu fragen, deren Existenz sich jedoch dem Wortlaut der Art. 23 und 25 EGV ebensowenig entnehmen läßt65• Um dennoch eine tragfähige Grundlage im EGV für eine dergestaltige mitgliedstaatliche Handlungspflicht zu finden, mußte der Generalanwalt daher einen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz in Bezug nehmen, welcher die Pflichten der Mitgliedstaaten aus den Spezialvorschriften zu erweitern vermag - die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue. Art. 10 EGV spezifiziert diese allgemeine 62

GA LA Pergola, Schlußanträge zu EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-

63

GA LA Pergola, Schlußanträge zu EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-

64

GA LA Pergola, Schlußanträge zu EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-

2423, Tz. 9.

2423, Tz. 8.

2423, Tz. 8.

M Zur Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen sowie zur Notwendigkeit des Erfordernisses einer Handlungspflicht flir eine Unterlassungshaftung siehe unten Ill., 5.

III. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß

47

Verpflichtung in Absatz 1 als Handlungspflicht und in Absatz 2 als Unterlassungspt1icht66. Eine eingehende Untersuchung dieser - auch im ,Erdbeerstreit' angewandten- rechtlichen Konstruktion bleibt einem eigenen Abschnitt vorbehalten67• An dieser Stelle soll lediglich näher beleuchtet werden, mit welcher Begehungsform der in der Rs. Dubois I Garonor daraus gefolgerte Vertragsverstoß korrekterweise zu beschreiben ist- als aktives Tun oder als Unterlassen? Angesichts der getroffenen Feststellungen des Generalanwalts, daß, erstens, eine staatliche Abgabe gleicher Wrrkung im Sinne der Art. 23 und 25 EGV unmittelbar nicht vorliegt, und daß, zweitens, auch die Voraussetzungen für eine Zurechnung des Handeins der ,Garonor' nicht gegeben sind, überrascht die Tatsache, daß La Pergola im Ergebnis dennoch zu einem Verstoß Frankreichs gegen die Unterlassungspflicht des Art. I 0 Abs. 2 EGV, d. h. zu einem Verstoß durch aktives Tun, kommt68 • Noch zwei Jahre vor dem ,Erdbeerstreit'-Verfahren wurde somit ein Fall mit gleichgelagertem Grundproblem dogmatisch vollkommen anders gelöst. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Argumentation von GA La Pergola soll daher klären, ob der von ihm gefundene Lösungsweg dogmatisch tragfähig ist, und ob er gegebenenfalls der später im ,Erdbeerstreit' gewählten Lösung vorzuziehen ist.

4. Parallelen zum ,Erdbeerstreit'-Verfahren Noch einmal sei festgehalten, daß der Generalanwalt durch seine exakte und folgerichtige Problemerfassung auf genau dieselbe Lücke in der Dogmatik der Grundfreiheiten stieß, die schließlich gut zwei Jahre später auch für GA Lenz und der Gerichtshof im ,Erdbeerstreit' das entscheidende Problem darstellte: Es lag eine faktisch zollgleich wirkende Geldleistung vor und damit im Ergebnis eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs, des Kernbereichs des Gemeinschaftsrechts. Dieser Verletzungserfolg konnte allerdings weder unmittelbar noch durch Zurechnung auf den Staat als dem alleinigen Adressaten der einschlägigen Normen zurückgeführt werden. Mit anderen Worten: Die bestehende Dogmatik erlaubte es nicht, den tatsächlichen Gegebenheiten und der Gemeinschaftsrechtspolitik angemessen Rechnung zu tragen und einen Vertragsverstoß festzustellen69• 66 Die Loyalitätspflicht oder Pflicht zur Gemeinschaftstreue geht jedoch in ihrer Gesamtheit über den Inhalt des Art. 5 EGV hinaus; vgl. eingehend dazu Lüc/c, Die Gemeinschaftstreue als allgemeines Rechtsprinzip, S. 25 ff. (mit ausführlicher Rechtsprechungsauswertung); GTE-Zuleeg, Art. 5, Rn. 1; GI H-von Bogdandy, Art. 5, Rn. 1. 67 Siehe unten Kapitel 6, 111. 68 Schlußanträge von GAlA Pergola zu EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-2423, Tz. 14. 69 Damit wird deutlich, daß die Rs. Dubois I Garonor als echter Präzedenzfall für eine Haftung des Staates ftir eigenes Unterlassen qualifiziert und diskutiert hätte werden müssen und nicht nur als Beispiel für die Verantwortlichkeit von Mitgliedstaaten für das Verhalten von

48 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

Das von GA La Pergola gewählte Einstiegsargument scheint dementsprechend auch noch unweigerlich darauf hinzuführen, daß schon in der Rs. Dubois/Garonor zum Zwecke der Feststellung eines Vertragsverstoßes eine Unterlassenshaftung der Mitgliedstaaten eingeführt werden mußte. Der Generalanwalt geht nämlich davon aus, daß .. (ä)ie Vorschriften ... , die für diese volle Garantie des Warenverkehrs sorgen sollen, ... auch von dem Willen getragen (sinä), die Untätigkeit des Staates, wie sie sich hier darstellt, zu verhindern, ... Das Verbot einer solchen Unterlassung ist zwar in den fraglichen Bestimmungen (Art. 9 und 12 EGV) . .. nur implizit enthalten; ... ein weiterer und sicherer Anhaltspunkt für dieses Verbot {findet sich aber) in der ausdrücklichen Bestimmung allgemeinen Charakters des Art. 5 Abs. 2 EGV. .. "70

Die Argumentation von La Pergola weist jedoch einen bemerkenswerten Widerspruch auf. Er spricht einerseits von dem Verbot einer Unterlassung - also einer Handlungspflicht -, will dieses Verbot aber andererseits aus Art. 10 Abs. 2 EGV ableiten, der gerade eine Grundlage für die Herleitung von Unterlassungspflichten postuliert. Diesem Widerspruch entzieht sich La Pergola durch einen terminologischen Kunstgriff, indem er in der nachfolgenden Subsumtion nur noch von dem , vertragsverletzenden Verhalten' des französischen Staates spricht71 . Unter allgemeiner Bezugnahme auf ,Art. 10 EGV' 72 begründet der Generalanwalt schließlich, daß auch ein ,Verhalten', welches zwar nicht gegen den Wortlaut einer Vertragsbestimmung, wohl aber gegen die der Bestimmung zugrundeliegenden Wertungen verstößt, eine Vertragsverletzung begründen könne. Dadurch, daß die Zollstelle auf dem Gelände der ,Garonor' nicht so verwaltet worden sei, daß der freie und unentgeltliche Grenzübertritt gewährleistet war, habe Frankreich gegen Art. 10 i.V.m. den Art. 23, 25 EGV und ex Art. 13 und 16 EGV verstoßen73 . Im Endeffekt geht der Generalanwalt also von einem Verstoß durch aktives Tun aus. Unabhängig davon, durch wen die Geldleistung im Ergebnis gefordert wird, ergibt sich diese seiner Meinung nach - wenn auch nur mittelbar - kausal aus dem (Fehl-)Verhalten des Staates, die Kosten seines Handeins nicht selbst zu dekken74.

Privatpersonen hätte herangezogen werden dürfen (so aber GA Lenz in seinen Schlußanträgen zu EuGH-.Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997,1-6961, Tz. 44). 70 Schlußanträge von GA La Pergola zu EuGH-Dubois!Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-2423, Tz. 9 (Hervorheb. v. Verf.). 71 Schlußanträge von GA La Pergola zu EuGH-Dubois!Garonor, Rs. C-16/94, S1g. 1995, 1-2423, Tz. 12 (vgl. auch den Wortlaut seines Antrags (1-2431)). n Wie sie auch häufiger in den Urteilsgründen des EuGH zu finden ist, vgl. nur EuGH,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, 1-6990, in dem der Gerichtshof Art. 5 EGV (jetzt: Art. 10 EGV) in den Tz. 7, 10, 16, 32, 39 und 66 erwähnt, ohne je den verwendeten Absatz zu zitieren. 73 Dabei zitiert der Generalanwalt nur noch Art. 5 EGV (jetzt: Art. 10 EGV) ohne Angabe des konkreten Absatzes (Schlußanträge von GA La Pergola zu EuGH-Dubois!Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995,1-2423, Tz. 10 und II).

111. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß

49

Zu diesem Ergebnis kann LA Pergola nur aus dem Grund kommen, weil er ganz einfach den Anknüpfungspunkt, von dem aus er die Handlungsqualität der gegebenen Beeinträchtigung beurteilt, an den Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts orientiert. Die einschlägigen Vorschriften (Art. 23 und 25 EGV) erfassen nur Akte, die, erstens, auf den Staat zurückzuführen sind, und die, zweitens, als aktives Tun qualifiziert werden können. GA LA Pergola greift deshalb das aktive Handeln des französischen Staates in Form des ,Betreibens einer Zollstelle auf eine bestimmte Art und Weise' heraus, die in der Tat beide Voraussetzungen zu erfüllen scheint: Der Staat selbst handelt in Form bestimmter Organisationsmaßnahmen. Bei diesem Vorgehen ignoriert er jedoch zwei Dinge: Erstens wird die Geldleistung von der privaten Gesellschaft ,Garonor' erhoben, deren Handlungen dem französischen Staat gerade nicht zurechenbar sind; zweitens erwächst die wirtschaftliche Notwendigkeit für diese ,Gebühr' aus der unterlassenen staatlichen Entschädigung ftir die kostenlosen Nutzung der Räume durch den Zoll. Die unmittelbare Verknüpfung zwischen der ,Durchfahrtsgebühr' und dem staatlichen Verhalten liegt damit in dem staatlichen Unterlassen der Zolldienststellen, Miete für die genutzten Räume zu bezahlen. Anstau also das eigentliche Problem zu lösen, daß einerseits die unmittelbar beschränkende Handlung durch eine Privatperson vorgenommen wird, deren Handeln dem Staat nicht zugerechnet werden kann, und daß andererseits das in diesem Zusammenhang relevante, weil der Verletzung unmittelbar zugrundeliegende staatliche Verhalten in einem Unterlassen, d. h. in einer bis dahin im Gemeinschaftsrecht unbekannten Begehungsform bestand, entzieht sich LA Pergola dieser Problematik, indem er das staatliche Unterlassen im Ergebnis in ein aktives Tun umdeutet. Er rückt dabei die ganz allgemeine Tatsache in den Mittelpunkt, daß die französischen Behörden überhaupt gehandelt haben, und nicht, daß sie es konkret bzw. unmittelbar unterlassen haben, die Kosten ihrer Verwaltungstätigkeit selbst zu tragen. Die im Endeffekt den Vertragsverstoß begründende Durchfahrtsgebühr sieht er dann lediglich als unerwünschte Konsequenz des staatlichen Handelns, die mit diesem im Sinne einer conditio sine qua non verbunden ist. Seiner rechtlichen Gedankenführung zufolge fehlt es demnach nicht an einem Handeln des Staates, so daß allenfalls ein vorwerfbares Unterlassen gegeben sein könnte, sondern an der Rechtmäßigkeit des allgemeinen, mittelbaren staatlichen Handelns. Überträgt man diese Vorgehensweise auf das ,Erdbeerstreit'-Verfahren, so ließe sich die dort vom Gerichtshof vorgenommene Ergänzung der bis dahin bestehenden Dogmatik um den Vertragsverstoß durch Unterlassen problemlos vermeiden. Anstatt von einem Verstoß gegen eine Handlungspflicht - also von einem Unterlassen - auszugehen, könnte man allgemein an das inkonsequente Verhalten - also aktive Tun - der staatlichen Organe (Regierung, Polizei und Strafverfolgungsbe74 GA La Pergola, in seinen Schlußanträgen zu EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-2423, Tz. 14; so i. Erg. auch der Gerichtshof, allerdings ohne Bezugnahme auf Art. 5 Abs. 2 EGV, EuGH-Dubois/Garonor, Rs. C-16/94, Slg. 1995,1-2432, Tz. 20.

4 Schindler

50 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

hörden) anknüpfen, welches - mittelbar - dazu geführt hat, daß durch anschließendes Verhalten Privater eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit entstand.

S. Diskussion a) Kann man jedes Unterlassen auch als aktives Thn beschreiben? Stellt also der im ,Erdbeerstreit' eingeführte Vertragsverstoß durch Unterlassen lediglich eine überflüssig verkomplizierte Lösung von Sachverhalten dar, di.e eigentlich unter Rückgriff auf das Urteil und die Schlußanträge in der Rs. Dubois I Garonor mit den bis dahin bekannten Mitteln der Dogmatik gelöst werden könnten? Die Antwort hängt entscheidend davon ab, ob in einem so gelagerten Fall tatsächlich der Anknüpfungspunkt für die Feststellung eines mitgliedstaatliehen Vertragsverstoßes frei (um nicht zu sagen: willkürlich) gewählt werden kann. Dafür ist wiederum zu klären, ob sich dann, wenn einer gegebenen, privatautonom verursachten Beeinträchtigung unmittelbar ein staatliches Unterlassen der gemeinschaftsrechtlich gebotenen Handlung zugrundeliegt, sich dieses Unterlassen immer auch als gemeinschaftsrechtswidriges mittelbares Handeln im Sinne eines aktiven Tuns des Staates darstellen läßt. Eine derartige Variabilität des Anknüpfungspunktes für die Bewertung des staatlichen Verhaltens im Zusammenhang mit einer gegebenen Beeinträchtigung basiert folglich auf der These, daß jedes Fehlen normgemäßen Verhaltens, d. h. jedes Unterlassen- auch als das Vorliegen insgesamt normwidrigen Handelns, d. h. als aktives Tun - qualifiziert werden kann. Es wird, mit anderen Worten, angenommen, daß staatliches Handeln, welches in seiner Gesamtheit die normgemäße Handlung nicht umfaßt, kein Unterlassen, sondern insgesamt normwidriges Handeln darstellt. Dieser gedankliche Kunstgriff wäre jedoch nur dann zulässig, wenn die Handlungsform - aktives Tun oder Unterlassen - tatsächlich für die gemeinschaftsrechtliche Bewertung des staatlichen Verhaltens unerheblich ist. Gegen eine derartige Variabilität des Anknüpfungspunktes bestehen aber grundsätzliche theoretische und systematische Bedenken.

aa) Die logische Konsequenz aus der fehlenden Zurechenbarkeit des unmittelbar erfolgverursachenden privatautonomen Aktes Die Lösungen, die man erhält, wenn man mit Hilfe eines definitorischen Kunstgriffes ein unmittelbares Unterlassen in ein mittelbares aktives Tun umwandelt, basieren auf einem logischen Fehler. An dieser Stelle muß zunächst noch einmal der argumentative Widerspruch aufgegriffen werden, der La Pergola in seinen Schlußanträgen unterlaufen ist. Im Zuge der Feststellung des gemeinschaftswidrigen Verhaltens von Frankreich kommt er zu dem Ergebnis, daß sich

III. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß

51

.. (d)ie Einführung dieser Geldleistung ... aus der Notwendigkeit des Bestreifens der Kosten (ergibt}, die zu übernehmen der Staat unterlassen hat" 15• Dieses ,Verbot der Unterlassung' greift er noch einmal unmittelbar vor der Feststellung auf, daß Frankreich durch aktives Tun seine gemeinschaftsrechtlichen Pflichten ·verletzt hat76• Damit läßt sich sein Ergebnis wie folgt zusammenfassen: Der Verletzungserfolg besteht unmittelbar in der von ,Garonor' erhobenen Gebühr; dieses aktive Tun kann dem Staat jedoch nach den oben herausgearbeiteten Kriterien nicht zugerechnet werden - ,Garonor' handelte autonom; die wirtschaftliche Notwendigkeit zur Erhebung der Gebühr entstand daraus, daß es der Staat unterlassen hatte, fdr die Kosten der Zolldienststellen einzustehen; die fehlende Kostendeckung macht mittelbar die staatliche Verwaltung der Zolldienststellen (aktives Tun) insgesamt gemeinschaftsrechtswidrig. Wenn aber die unmittelbar den Verletzungserfolg herbeiführende aktive Verletzungshandlung - die privatautonome Erhebung der ,zollgleich wirkenden Abgabe' - dem Staat nicht zugerechnet werden kann, so ist vor dem Hintergrund der oben herausgearbeiteten Zurechnungskriterien77 damit notwendigerweise die Feststellung verbunden, daß sie eigenständig und selbstgesteuert vorgenommen wurde, also gerade nicht auf einem entscheidenden Einfluß des Staates beruhte. Dennoch soll der Staat nach der Lösung des Generalanwalts aber durch aktives Tun zurechenbar den daraus resultierenden Verletzungserfolg verursacht haben. Es widerspricht jedoch den Gesetzen der Logik, sowohl zu dem Ergebnis zu kommen, daß das unmittelbar erfolgsverursachende aktive Tun völlig losgelöst von jeglichem staatlichen Einfluß vorgenommen wurde, als auch zu behaupten, ein aktives staatliches Tun habe den Vertragsverstoß zurechenbar verursacht. Wenn die der Zurechenbarkeit zugrundeliegende Kausalkette mit dem autonom gesetzten aktiven privaten Akt unterbrochen worden ist, kann ein diesem vorgelagertes aktives staatliches Tun für die Vertragsverletzung nicht kausal geworden sein. Wird die Zurechenbarkeit des aktiv herbeigeführten Verletzungserfolges zum Staat einmal verneint, kann dieser Erfolg denklogisch nicht mehr auf einer aktiven staatlichen Handlung beruhen. Dem Staat kann demzufolge allenfalls noch ein Unterlassen vorgeworfen werden, wenn ihn auch eine Erfolgsverhinderungspflicht im Sinne einer Handlungspflicht trifft. Eine derartige Handlungspflicht muß aber dann vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausruhrungen nach besonderen Kriterien im Einzelfall festgestellt werden. Mit anderen Worten: Man kann zu einem mitgliedstaatliehen Vertragsverstoß durch aktives Tun nur noch dann kommen, wenn man sich von dem Verletzungserfolg löst und einen anderen Anknüpfungspunkt fdr die Bewertung

1s Schlußanträge von GA La Pergola zu EuGH-Dubois!Garonor. Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-2423, Tz. 7 (Hervorh. v. Verf.). 76 Schlußanträge von GA La Pergola zu EuGH-Dubois/Garonor. Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-2423, Tz. 9. n Vgl. oben in diesem Kapitel unter II., 3.

52 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

des staatlichen Verhaltens wählt. Ein vorgelagertes aktives Tun zur Haftungsbegründung heranzuziehen, das - wie eben gezeigt - dann aber nicht mehr unmittelbar kausal mit dem Verletzungserfolg verbunden ist, hieße jedoch, den Staat für eine geschaffene Gefahr zur Verantwortung zu ziehen. Man würde damit die ihrem eindeutigen Wortlaut nach auf einem Erfolg im Sinne der Existenz einer zollgleichen Abgabe aufbauenden Art. 23 und 25 EGV, in eine Gefährdungshaftung umdeuten und damit die ratio legis sprengen78• bb) Die drohende Entstehung einer absoluten Staatshaftung

Damit deutet sich auch bereits ein zweites, allgemeines Argument gegen die Umdeutung eines mitgliedstaatliehen Unterlassens in ein mittelbares aktives Tun an. Würde man, dem eben erzielten Ergebnis entsprechend, den mittelbaren Vertragsverstoß durch aktives Tun zulassen, indem man davon ausgeht, daß sich aus den Art. 23 und 25 EGV bzw. aus Art. 28 EGV auch die Existenz einer staatlichen Gefahrdungshaftung ableiten läßt, so ginge damit zwingend auch eine nicht absehbare Ausweitung der mitgliedstaatliehen Haftung einher. Wie sich aus der negativen Fassung des Art. 28 EGV (...) im ,Erdbeerstreit' und der Art. 23 und 25 EGV ( ...)in der Rs. Dubois entnehmen läßt, normiert die jeweils fraglichen Verhaltensnorm des Gemeinschaftsrechtes lediglich ein Handlungsverbot. In einem solchen Fall stellt grundsätzlich79 jede Handlung - im Sinne eines aktiven Tuns - eines Mitgliedstaates, die diesem Verbot zuwiderläuft, einen Vertragsverstoß dar. Dehnt man folglich künstlich den Bereich aktiven staatlichen Tuns aus, indem man auch ein unmittelbar gegebenes Unterlassen als mittelbares aktives Tun definiert, so droht im Ergebnis das Entstehen einer unübersehbaren, potentiell sogar absoluten Haftung des Staates im Hinblick auf bestimmte Aufgaben und Ziele des EGV. Die Mitgliedstaaten könnten sich unter dieser Prämisse einer Haftung nur durch Perfektion entziehen. Dies ist nicht nur fern jeglicher Realität, sondern führt insbesondere auch zu einem verschärften Zielkonflikt mit gleichrangigen Freiheitsgewährleistungen, wie z. B. den Gemeinschaftsgrundrechten, die dann regelmäßig zurücktreten müßten80• Unter Hinweis auf eben diese drohende faktische Unmöglichkeit einer Haftungsvermeidung für die Mitgliedstaaten hat GA Lenz dann auch in seinen Schlußanträgen zum ,Erdbeerstreit'-Verfahren- dem, wie eingangs gezeigt, dieselbe Problematik zugrunde lag - zu Recht ausdrücklich darauf hingewiesen, daß von den Mitgliedstaaten keineswegs ein derartiger absoluter Schutz der WarenverkehrsfreiIn diese Richtung argumentiert auch Weber. RIW 1995, S. 1048. Fragen der Rechtfertigung spielen in diesem Zusammenhang noch keine Rolle und bleiben daher unberücksichtigt. 80 Zur Kollisionsproblematik zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten eingehend unten Kapitel 3 (Existenz und Ursprung), Kapitel 5 (Theoretische Auflösung) und Kapitel 6 (Dogmatische Umsetzung der Auflösung). 78

79

III. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß

53

heit verlangt wird81 • Es handelt sich bei Art. 28 EGV nicht um eine ,Obligation de resultat', sondern um eine ,obligation de moyens' 82• Die Mitgliedstaaten sind also gerade nicht zur Ergreifung von optimalen Mitteln verpflichtet, sondern zum Einsatz der geeigneten, erforderlichen und angemessenen Mittel, die ein ausreichendes Vorgehen gegen den oder die Störer darstellen83 .

b) Elemente einer Haftungsbegrenzung Die soeben aufgezeigten Defizite resultieren daraus, daß mit Hilfe einer freien Wahl des Anknüpfungspunktes - Erfolg oder Gefatudung - beliebig ein tatsächlich gegebenes Unterlassen als ein mittelbares Handeln im Sinne eines aktiven Tuns definiert wurde. Dies legt den Gegenschluß nahe, daß eine Haftungsbegrenzung gerade dadurch zu erreichen ist, daß man eine klare Differenzierung zwischen den Fällen aktiven Tuns und den Unterlassungsfällen anstrebt und sie dann auch ihrem jeweiligen Charakter entsprechend behandelt.

aa) Die Abgrenzung von aktivem staatlichem Tun und staatlichem Unterlassen Wie schwierig es aber ist, die beiden Begehungsformen scharf zu trennen, zeigt schon die oben dargestellte Rs. Dubois/Garonor. Deren Sachverhalt weist - typisch für einen Grenzfall- eine Vielzahl von Tatsachen unterschiedlichen Charakters auf, an die man zur Haftungsbegründung anknüpfen könnte. In Richtung eines Verstoßes durch aktives Tun weist beispielsweise, daß die Zollbehörden einen Mietvertrag abschließen, in dem ein Mietzins nicht vorgesehen ist. Für die Annahme eines Unterlassens spricht hingegen, daß unmittelbar kostenverursachend war, daß die Zollbehörden es unterließen, für die genutzten Räume Miete zu zahlen. Es stellt sich also die Frage, wonach sich bestimmen läßt, welche der beiden Tatsachengruppen zur Beantwortung der Frage nach der Haftungsbegründung herangezogen werden dürfen bzw. müssen. Insbesondere in Grenzfällen wird es dabei stets zu einer pflichtenorientierten Selektion der zu bewertenden Tatsachen kommen, d. h., nicht Struktur und Inhalt des Tatsachenmaterials geben die Prüfungsrichtung vor, sondern die im konkreten Fall vorrangig als verletzt in Frage kommende konkrete Pflicht. Nicht der Sachverhalt eröffnet den Blickwinkel auf einen bestimmten 81

Schlußanttäge von GA Lenz zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997,1-6961,

82

Schlußanttäge von GA Lenz zu EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, 1-6961,

Tz.66.

Tz. 45.

83 Meurer vergleicht dies zutreffend mit dem Untermaßverbot im deutschen Öffentlichen Recht, EWS 1998, S. 200; allgemein zum Untermaßverbot im deutschen Verfassungsrecht siehe Stern, in: ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. Ill/2, § 96, IV 3, S. 1806 m. w. N.

54 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

Pflichtenkreis, sondern ein ausgewählter Pflichtenkreis bestimmt den Blickwinkel auf einen gegebenen Sachverhalt. Sowohl Art. 23 und 25 EGV (Rs. Dubois/Garonor) als auch Art. 28 EGV (,Erdbeerstreit'-Verfahren) setzen eine Beeinträchtigungswirkung im Sinne einer zollgleichen Abgabe bzw. einer Maßnahme gleicher Wirkung voraus. Zeigt sich in einem Sachverhalt eine derartige Wirkung und stellt sich dementsprechend die Frage der Haftung dafür, so ist zu deren Beantwortung unmittelbar von der konkret gegebenen Beeinträchtigungswirkung in ihrer konkreten Gestalt auszugehen. Dabei liegt es nahe, mit der Prüfung der explizit normierten Unterlassungspflicht zu beginnen. Wenn aber- wie in der Rs. Dubois/Garonor und im ,Erdbeerstreit'- die Beeinträchtigungswirkung erstens von Privaten herbeigeführt wurde und zweitens dem Staat nicht zugerechnet werden kann, dann ist es denklogisch unmöglich, daß eben dieser Erfolg in seiner konkreten Gestalt auch durch aktives Tun des Staates herbeigeführt wurde84• Staatliches Verhalten kann für die konkrete Beeinträchtigung unmittelbar nur noch im Wege der Unterlassung ursächlich geworden sein. Eine solche Unterlassungshaftung muß jedoch wiederum unter den Vorbehalt der Existenz einer Handlungspflicht gestellt werden. Ansonsten würde man den Staat dazu verpflichten, grundsätzlich gegen jede privatrechtliche Vereinbarung vorzugehen, die einen auch nur mittelbaren Bezug zu staatlichen Leistungen hat. Hätten die Zolldienststellen Miete bezahlt, die ,Garonor' aber dennoch eine Durchfahrtsgebühr in den Verträgen mit ihren Mietern vereinbart, so wäre ein Anknüpfungspunkt für eine Haftung des Staates nicht ersichtlich, es sei denn, man wollte eine Verantwortlichkeit des Staates schon allein daraus ableiten, daß er durch seine bloße Ansiedlung einen geldwerten Wettbewerbsvorteil für die ,Garonor' geschaffen habe8s. Die zu bewertende staatliche Begehungsform und damit die zur Selektion des zu bewertenden Tatsachenmaterials heranzuziehende Pflicht - Handlungs- oder Unterlassungspflicht - ist somit nach dem Schwerpunkt der Vorweifbarkeit auszuwählen. Unter dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ist dabei das staatliche Verhalten zu verstehen, welches der privatautonom herbeigeführten Beeinträchtigung des Gemeinschaftsrechts unmittelbar vorgelagert ist. Kann dem Staat das unmittelbar beeinträchtigende aktive Tun nach den oben beschriebenen Kriterien nicht zugerechnet werden, weil er keine internen Steuerungsmöglichkeiten hatte, um es zu beeinflussen, so kann der Schwerpunkt des Vorwurfs an den Mitgliedstaat nur darin liegen, daß er es versäumt - also unterlassen - hat, von außen mit Hilfe seines Gewaltmonopols steuernd einzugreifen. Um dem Mitgliedstaat aber diesen Vorwurf machen zu können, muß dann in einem vorhergehenden Schritt festgestellt werden, daß ihn in dem konkreten Fall auch tatsächlich eine Pflicht zum Handeln Vgl. oben in diesem Kapitel unter III., 5., a), aa). Dies wäre m. E. ein vertretbarer Weg gewesen, der es Generalanwalt und EuGH zudem ermöglicht hätte, im Bereich des aktiven Tuns und damit - auf vertretbare Art und Weise im Rahmen der bis dahin existierenden Dogmatik des Vertragsverstoßes zu bleiben. 84 8~

111. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß

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getroffen hat. So wie ein Handeln nur dann rechtswidrig sein kann, wenn es gegen ein Verbot verstößt, kann ein UnterlaSsen nur dann rechtswidrig sein, wenn ihm ein Gebot entgegensteht. bb) Die strikte Trennung zwischen aktivem staatlichem Tun und staatlichem Unterlassen als Element der Haftungsbegrenzung

Die Mitgliedstaaten soll im Bereich der Warenverkehrsfreiheit keine absolute Haftung im Sinne einer Garantiehaftung treffen86• Aus dieser Erwägung ergibt sich die Notwendigkeit, eine Unterlassungshaftung von der Existenz einer Handlungspflicht abhängig zu machen. Erst dadurch erhält die Entscheidung, ob bei privater Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit staatliches Nichthandeln als Unterlassen oder als mittelbar staatliches Handeln erfaßt wird, mehr als nur eine terminologische Dimension. Der Kern ihrer Bedeutung liegt dann nämlich darin, daß es nur mit Hilfe einer scharfen Trennung der Bereiche des aktiven Tuns und des UnterJassens möglich ist, die für die Systematik des Gemeinschaftsrechts typische Begrenzung der mitgliedstaatliehen Haftung aufrechtzuerhalten. Im Bereich des aktiven staatlichen Handeins ergibt sich die Haftungslimitierung folgendermaßen: Art. 30 EGV stellt seinem Wortlaut nach ein Handlungsverbot zu Lasten des Staates auf. Die Verantwortlichkeit eines Mitgliedstaates für eigenes aktives Tun bedarf unter dem Blickwinkel der Zurechenbarkeit prinzipiell keiner weiteren Begründung. Entscheidend ist allein, daß staatliches aktives Tun gegeben ist, welches in seinen Wirkungen gegen das gegebene Verbot verstößt. Handeln dagegen Private, ist für eine Haftung des Staates entscheidend, ob ihm die Handlung nach den oben genannten Kriterien zurechenbar ist87• Die zur Klärung der Zurechenbarkeit herangezogenen Kriterien bedeuten dann zwar in erster Linie eine Haftungserweiterung für die Mitgliedstaaten. Der dafür vom Gerichtshof entwikkelte Kriterienkatalog stellt jedoch gleichzeitig Voraussetzung und Grenze der Haftungserweiterung dar und erfüllt damit ebenfalls die Funktion eines haftungsbegrenzenden Korrektivs. Nur wenn dem Staat nach den oben dargestellten Kriterien eine interne Steuerung der handelnden Privatrechtssubjekte möglich war, ist es gerechtfertigt, ihn für deren beeinträchtigendes Handeln haften zu lassen, und auch nur dann wird nach der Zurechnungsrechtsprechung eine Verantwortlichkeit ausgelöst. Auch die Zurechnungskriterien entfalten somit Begrenzungsfunktion in Bezug auf den Haftungsumfang. Die Frage nach der Haftung des Staates für Unterlassen läßt sich vor diesem Hintergrund ebenfalls als Haftung für eine Beeinträchtigungswirkung, d. h. für einen Verletzungserfolg, beschreiben, der unmittelbar durch nichtstaatliches, weil dem Staat nicht zurechenbares Verhalten herbeigeführt wurde. Stellt man bei der 86 87

Vgl. oben in diesem Kapitel unter lß., 5., a), bb). Siehe dazu ausfUhrlieh oben in diesem Kapitel unter II.

56 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

Wahl der Begehungsform auf das staatliche Verhalten ab, welches im konkreten Fall dem Verletzungserfolg unmittelbar zugrundeliegt, so führt dies unausweichlich zur Frage der Haftung des Staates für ein Unterlassen. Schon aus der negativen Formulierung der einschlägigen Nonnen im Sinne von Verbotsnonnen wird aber deutlich, daß den Staat zwar eine grundsätzlich umfassende Unterlassungspflicht trifft, daß für korrespondierende Handlungspflichten aber eine gesonderte Begründung gefunden werden muß, da diese über den Wortlaut der genannten reinen Verbotsnonnen eindeutig hinausgehen. Die Verbindung zwischen dem Verletzungserfolg und der staatlichen Ebene ist folglich sogar indirekter als in den Zurechnungsfallen, so daß sich hier besonders prägnant die Notwendigkeit für die Einführung eines haftungslimitierenden Elementes durch besondere Haftungsvoraussetzungen zeigt. Demzufolge wird man der oben herausgearbeiteten Notwendigkeit eines haftungsbegrenzenden Korrektivs nur dann gerecht, wenn man das unmittelbar gegebene mitgliedstaatliche Unterlassen auch als solches begreift und dementsprechend eine Haftung des jeweiligen Mitgliedstaates nur dann bejaht, wenn sich aus dem Gemeinschaftsrecht auch eine Handlungspflicht für den konkret zu beurteilenden Fall ableiten Iäßt88• Nachdem die in der Rs. Dubois/Garonor bzw. im ,Erdbeerstreit' anwendbaren Vorschriften - Art. 23 und 25 EGV bzw. Art. 28 EGV - nur ein Verbot und damit eine Unterlassungspflicht aufstellen, ist zunächst einmal zu klären, ob privates oder staatliches Handeln im Sinne eines aktiven Tuns unmittelbar die Beeinträchtigungswirkung bzw. den Erfolg herbeigeführt hat. War es das Handeln eines Rechtssubjektes des Privatrechts, so ist zu fragen, ob dies dem jeweiligen Mitgliedstaat zugerechnet werden kann. Muß dies anband der dargestellten Kriterien verneint werden, so ist zu konstatieren, daß ein Verstoß des Staates durch aktives Tun nicht gegeben sein kann, da diesbezüglich die Kausalkette durch das autonome Handeln der Privatpersonen unterbrochen wurde89• So war es in der Rs. Duboisl Garonor unmittelbar die von ,Garonor' erhobene Durchfahrtsgebühr, die den Verletzungsecfolg verursacht hat. Da dieses Verhalten auf einer autonomen privatrechtlichen Vereinbarung beruhte, konnte es nicht nach den oben beschriebenen Kriterien zugerechnet werden, so daß für die Frage der Haftung des Staates ein anderer Anknüpfungspunkt gefunden werden muß. Es stellt sich dann die Frage, ob dennoch ein unmittelbar mit der Beeinträchtigungswirkung verbundener staatlicher Beitrag gegeben ist. Nachdem herausgearbeitet wurde, daß die Verletzung unmittelbar weder durch originär staatliches noch 88 V gl. den ähnlichen Grundsatz des allgemeinen Volkerrechts, daß ein Staat nicht für sämtliche Handlungen von Privaten auf seinem Territorium haftet, der auf der schlichten wie überzeugenden Begründung basiert, daß es dem Staat unmöglich ist, eine absolute Kontrolle über sein Territorium auszuüben, vgl. auch Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten für rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang mit Aktionen Privater, S. 107 ff. m. w. N.; Heintschel v. Heinegg, JA 1991, S. 177 ff.; Ipsen-ders., Volkerrecht, S. 525 ff. und S. 535 ff.; Vitzthum-Schroder, VOlkerrecht, S. 530 ff.; 89 Siehe dazu oben in diesem Kapitel unter III., 5., a), aa).

III. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß

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dem Staat zurechenbares Privathandeln verursacht wurde, kann der Schwerpunkt des dem Staat vorwertbaren Verhaltens nur noch in einem Unterlassen bestehen. Das für den konkreten Erfolg unmittelbar relevante staatliche Verhalten ist dementsprechend in der Rs. Dubois/Garonor keineswegs ganz allgemein die Art und Weise der Zollverwaltung, sondern konkret das Unterlassen der vollständigen Kostentragung. Dem Staat ist nicht vorzuwerfen, daß bzw. wie er seine Zolldienststellen verwaltet, sondern daß er die Kosten dafür nicht vollständig trägt. Würde der Staat selbst die Gebühr erheben, läge ein Verstoß durch aktives Tun vor; duldet der Staat lediglich, daß ein Dritter die Gebühr erhebt, und ist dieses aktive Tun dem Staat nicht zurechenbar, bleibt auf staatlicher Seite unmittelbar nur der Verstoß gegen die Handlungspflicht, dies durch die Deckung der eigenen Kosten zu verhindern. Ein derartiges Versäumnis stellt aber ein rein passives Verhalten im Sinne eines Unterlassens dar, so daß in dem konkreten Fall eine Handlungspflicht des Staates gegeben sein muß, damit dieses Unterlassen gemeinschaftsrechtswidrig ist. Im Rahmen des Unterlassens ist das entscheidende Kriterium damit nicht allein, daß der Staat nicht gehandelt hat, sondern daß der Staat in dem konkreten Fall hätte handeln müssen. Während in den Fällen des Verstoßes gegen eine Unterlassungspflicht durch aktives staatliches Tun die Frage der staatlichen Urheberschaft Voraussetzung und Grenze der Haftung ist, kommt in den Fällen staatlichen Unterlassens die Aufgabe der Haftungsbegrenzung der Frage nach der Existenz einer Handlungspflicht zu. Bedient man sich nun aber des oben aufgezeigten Kunstgriffs von La Pergola und beschreibt das Fehlen einer konkreten staatlichen Handlung nicht als staatliches Unterlassen - das nur im Falle des Bestehens einer Handlungspflicht haftungsbegründend wirkt -, sondern betrachtet insgesamt das gegebene aktive staatliche Verhalten als mittelbar gemeinschaftsrechtswidrig, weil zu kurz greifend, so umgeht man schlichtweg die besondere Voraussetzung einer Unterlassungshaftung und negiert zugleich die damit verbundene Begrenzung staatlicher Haftung.

6. Weitere Rechtsprechung zum sogenannten mittelbaren Vertragsverstoß Abschließend ist noch festzustellen, daß auch die lnbezugnahme der Rs. Kommission/ Belgien90 in den vorliegend relevanten Fallkonstellationen nicht weiterhilft. In diesem Verfahren wurde Belgien wegen Verstoßes gegen Art. 12 lit. b des Protokolls über die Befreiungen der Europäischen Gemeinschaft91 verurteilt, wonach die Bediensteten der EG von jeder Pflicht zur Eintragung im Einwohnermel90 EuGH-Kommission/Belgien, Rs. 85/85, Slg. 1986, 1149, aufgegriffen von GAlA Pergola in seinen Schlußanträgen zu EuGH-Dubois/Garonor. Rs. C-16/94, Slg. 1995, 1-2423, Tz. 12. 91 Protokoll vom 8. 4. 1965.

58 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

deregister zu befreien sind. In Belgien bestand zwar keine solche Pflicht, an die Nichteintragung wurden jedoch steuerliche Nachteile geknüpft. In diesem Fall war unzweifelhaft eine staatliche Handlung in Form der nachteiligen steuerrechtliehen Vorschrift gegeben. Dieser Akt verstieß jedoch nur in seinen tatsächlichen Wirkungen gegen die Verpflichtung aus dem genannten Protokoll. Auch wenn GA La Pergola zutreffend davon ausgeht, daß auch hier das staatliche Verhalten nicht unmittelbar gegen den Wortlaut des Gemeinschaftsrechts verstößt, sondern nur in seinen tatsächlichen Folgen einen faktischen Vertragsverstoß schafft, verkennt er doch den entscheidenden Unterschied zu den diskutierten ,Unterlassungsfällen'. Problematisch in der Rs. Kommission/Belgien ist, daß die gegebene staatliche Handlung zwar dem Wortlaut der fraglichen Verbotsbestimmung entspricht, daß die durch staatliches Handeln bedingten Steuernachteile aber dennoch dem Sinn und Zweck zuwiderlaufen und somit - mittelbar - eine Verletzung darstellten. In diesem Fall stellt sich also nicht die Frage nach dem staatlichen Ursprung einer Handlung, sondern nach deren Verletzungsqualität. Die hier bestehende Lücke zwischen der staatlichen Handlung einerseits und der Verletzungswirkung andererseits wird mit Hilfe von Art. 10 Abs. 2 EGV geschlossen, der- über den konkreten Wortlaut der Verpflichtungen des Gemeinschaftsrechts hinaus - jeden Akt verbietet, der gegen die vertraglichen Ziele verstößt. Durch diese zusätzlichen Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 2 EGV wird aber auch wiederum eine Limitierung dieses Ausnahmetatbestandes erreicht.

GA La Pergola übersieht also, daß in der Rs. Kommission/Belgien völlig unstreitig die unmittelbar erfolgsverursachende Handlung dem Staat zuzuordnen ist. Im Unterschied zu der Rs. Dubois/Garonor und dem ,Erdbeerstreit' ist hier nicht die staatliche Urheberschaft der Vertragsverletzung zu klären, sondern die Frage, ob die - unzweifelhaft staatliche - Handlung unmittelbar einen Vertragsverstoß darstellt. Erst an dieser Stelle bedarf es einer Begründung, warum eine dem Wortlaut des Gemeinschaftsrechts entsprechende staatliche Handlung trotzdem -mittelbar - als dem Gemeinschaftsrecht widersprechend eingestuft werden kann. Die Rs. Kommission/Belgien enthält somit die Lösung für ein Problem, das dem hier diskutierten nachgelagert ist. Es geht nicht darum, die staatliche Urheberschaft für eine Vertragsverletzung zu begründen, sondern eine unzweifelhaft staatliche Handlung, die unmittelbar - d. h. dem Wortlaut nach - gemeinschaftsrechtskonform ist, dennoch- mittelbar- als Vertragsverletzung werten zu können92 • 92 Noch weniger läßt sich die ebenfalls von lA Pergola angeführte Rechtsprechung zu Sonderfällen von zollgleichen Abgaben übertragen. In EuGH-Kommissionlltalien, Rs. 340/87, Slg. 1989, 1483 hatte Italien die Kosten der Zollformalitäten während bestimmter Öffnungszeiten der Zollstellen den Wirtschaftsteilnehmern auferlegt. Daraus läßt sich zwar in der Tat ablesen, daß der Staat die Kosten der Zollverwaltung selbst zu tragen hat, und daß die Weitergabe an Private eine zollgleiche Abgabe darstellt. Im Unterschied zu den vorliegenden Konstellationen war jedoch mit den Gebührenbescheiden eindeutig aktives staatliches Handeln gegeben, so daß diese Rechtsprechung in diesem Zusammenhang keine Aussagekraft besitzt (dasselbe gilt für den insoweit parallel gelagerten Fall EuGH-Bresciani, Rs. 87/75, Slg. 1976, 129, insbes. Tz. 10).

III. Privates Handeln als Grundlage für einen mittelbaren Vertragsverstoß

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7. Ergebnis Stimmte man der von GA La Pergola in der Rs. Dubois/Garonor praktizierten beliebigen Austauschbarkeil der zu bewertenden Handlung zu, würde das haftungslimitierende Korrektiv der Zurechenbarkeit des Vertragsverstoßes vollständig ausgehebelt. Eine Vertragsverletzung ist zwar bei staatlichem Organhandeln, welches unmittelbar eine Verbotsnorm verletzt, noch ohne weiteres zu bejahen. Auch beim zuletzt dargestellten mittelbaren Vertragsverstoß ist dies nicht anders, da auch hier die staatliche Urheberschaft in Form eines aktiven Tuns zweifelsfrei gegeben ist. Dort stellt sich lediglich das Zusatzproblem, daß die staatliche Handlung, die faktisch eine Verletzung herbeiführt, dem Wortlaut des Gemeinschaftsrechts entspricht. Sobald jedoch in einem Fall das Handeln privater Dritter eine Rolle spielt, kommt der Frage der Zurechenbarkeit eine besondere, weil haftungsbegrenzende Bedeutung zu, die in den oben dargestellten, von der Rechtsprechung entwickelten Zurechnungskriterien ihren Niederschlag gefunden hat. Der Staat haftet dafür nur unter bestimmten Voraussetzungen. Von ebenso großer Bedeutung ist die Frage der Zurechenbarkeit beim Vertragsverstoß durch Unterlassen. Läßt man hier die Tatsache unberücksichtigt, daß der Verletzungserfolg unmittelbar durch Privathandeln herbeigeführt wird, dann führt dies zu einem logischen Fehler, der seinerseits systemwidrige Konsequenzen nach sich zieht. Bestimmt man nämlich einen Akt in Form eines aktiven Tuns allein als unmittelbar erfolgverursachend und verneint die Zurechenbarkeit dieser Handlung zum Staat, dann ist es denklogisch unmöglich, mit einem anderen staatlichen Handeln in Form eines aktiven Tuns die Zurechnung dieses Verletzungserfolges zum Staat zu begründen. Ist die Handlung einer Privatperson als unmittelbar erfolgverursachend zu qualifizieren und deren Zurechenbarkeit zum Staat nach den obigen Kriterien zu verneinen, so ist es unmöglich, daß eine staatliche Handlung - im Sinne eines aktiven Tuns - ebenfalls den Verletzungserfolg zurechenbar herbeigeführt hat. Durch die private Urheberschaft und die Verneinung der Zurechenbarkeit ist die Kausalitätsbeziehung des aktiven Handlungsstranges zur staatlichen Ebene endgültig unterbrochen. Die gemeinschaftsrechtlichen Folgen dieses Fehlers sind schwerwiegend. Er führt nämlich zu der Annahme, daß auch dann die Verbotsnorm (Unterlassungspflicht) verletzt sein kann, wenn der Staat im konkreten Fall gerade nichts getan hat. Anstatt sich der dogmatischen Konsequenz dieser Tatsache zu stellen und zu begründen, ob - und wenn ja unter welchen Voraussetzungen - sich aus einem gegebenen Handlungsverbot auch ein Handlungsgebot ergibt, erklärt GA La Pergola in der Rs. Dubois I Garonor die Ausnahme schlichtweg zum normierten Standardfall. Dies ist nicht nur dogmatisch unkorrekt, sondern führt darüber hinaus de facto zu einer absoluten staatlichen Einstandspflicht für die Gewährleistungen des Gemeinschaftsrechts, die der Gemeinschaftsrechtsordnung fremd ist.

60 2. Kap.: Mitgliedstaatliche Verantwortlichkeit für private Beschränkungshandlungen

Im Rahmen der staatlichen Haftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht ist es demzufolge unumgänglich, das im konkreten Einzelfall dem Verletzungserfolg unmittelbar zugrundeligende Verhalten als Anknüpfungspunkt zu wählen. Ob es sich dabei um ein aktives Tun oder ein Unterlassen handelt, muß dann nach dem Schwerpunkt der Vorwerjbarkeit beurteilt werden. Die Schwierigkeit, in diesen Fällen eine scharfe Trennung vorzunehmen, zeigt sich jedoch bereits in der widersprüchlichen Begründung von La Pergola, in der ein konsequentes Auseinanderhalten der beiden Bereiche nicht gelingt93• Angesichts dessen wird es zukünftig die Aufgabe von Rechtsprechung und Lehre sein, nicht nur die Voraussetzungen für die Ableitung von staatlichen Handlungspflichten aus den gemeinschaftsrechtlichen Verbotsnormen mit Konturen zu versehen, sondern auch eine klare Linie zur Abgrenzung der Begehungsformen zu definieren.

IV. Zusammenfassung Ausgangspunkt des Kapitels war die Frage, warum der EuGH im ,Erdbeerstreit '-Verfahren keines der bereits existierenden Lösungskonzepte für Fälle der staatlichen Verantwortlichkeit für Beeinträchtigungen des Gemeinschaftsrechts fruchtbar gemacht hat. Was die Frage der Zurechnung von Privathandeln anbelangt, so konnte herausgearbeitet werden, daß die Kriterien, auf deren Grundlage die Frage der Zurechnung im Gemeinschaftsrecht allgemein entschieden wird, sich dadurch auszeichnen, daß sie eine Steuerungsmöglichkeit des Staates über die internen Strukturen der handelnden juristischen Person des Privatrechts begründen. Daran fehlte es im ,Erdbeerstreit', in dem Frankreich allenfalls durch den Einsatz staatlicher Zwangsmittel von außen auf die handelnden Rechtssubjekte des Privatrechts hätte einwirken können. Letzteres ist dem Staat jedoch praktisch immer möglich. Würde man daher die Möglichkeit des Einsatzes der staatlichen Zwangsmittel für eine Zurechnung ausreichen lassen, so käme man einer absoluten Staatshaftung bzw. einer staatlichen Garantiehaftung für die Grundwerte des Gemeinschaftsrechts nahe, die nirgendwo im EGV eine Stütze findet. Demgegenüber stellt die Möglichkeit staatlicher Einflußnahme von innen heraus eine qualifizierte Form staatlicher Steuerung dar und entfaltet somit Begrenzungswirkung. Auch die Lösung über den sog. mittelbaren Vertragsverstoß durch mitgliedstaatliebes Handeln ist als Alternativlösung zum Vertragsverstoß durch Unterlassen abzulehnen, obwohl sie in einem Fall entwickelt wurde, dem abstrakt genau dieselbe Grundkonstellation zugrundelag. Erstens liegt den damit erreichten Lösungen ein logischer Fehler zugrunde: Im Anschluß an die Feststellung, daß die Beeinträchti93 Schlußanträge von GA La Pergola zu EuGH-Dubois/Garonor, C-16/94, Slg. 1995, 12423, Tz. 9.

IV. Zusammenfassung

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gung völlig autonom von Privaten herbeigeführt wurde und deshalb nicht zurechenbar ist, geht der EuGH davon aus, daß aber dennoch ein staatliches Handeln (mittelbar) kausal für die Beeinträchtigungswirkung geworden sein soll, was denklogisch unmöglich ist. Zweitens hebelt die Umdeutung eines Vertragsverstoßes durch mitgliedstaatliches Unterlassen in einen mittelbaren Vertragsverstoß durch aktives Tun sämtliche Elemente einer Haftungsbegrenzung aus. Nachdem Art. 28 EGV lediglich staatliches aktives Tun mit Beeinträchtigungswirkung untersagt, folgt daraus, daß eine darüber hinausgehende Haftung grundsätzlich ausgeschlossen bzw. nur unter besonderen Voraussetzungen existieren soll. Dies spiegelt sich bereits in dem oben herausgearbeiteten Grundgedanken der Kriterien ftir die Möglichkeit einer Zurechnung von privatautonomem Handeln wieder. Dementsprechend kann auch ein vom Wortlaut des Art. 28 EGV gerade nicht erfaßtes mitgliedstaatliches Unterlassen nicht einfach als ein mittelbares Handeln interpretiert werden, mit der Folge, daß es dem Standardfall des von Art. 28 EGV untersagten Vertragsverstoßes gleichgestellt wird. Mitgliedstaatliches Unterlassen im Zusammenhang mit einer Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit stellt nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 28 EGV grundsätzlich keine Vertragsverletzung dar - es sei denn, es läßt sich in dem konkreten Fall aus dem Gemeinschaftsrecht eine Handlungspflicht des Mitgliedstaates begründen94•

94

siehe dazu eingehend unten, Kapitel 5.

Kapite/3

Die Erweiterung des Adressatenkreises der Grundfreiheiten auf Private die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

I. Problemaufriß Die bisher diskutierten Lösungsmöglichkeiten für die Fallkonstellation des ,Erdbeerstreits' standen unter der Prämisse, daß die Warenverkehrsfreiheit lediglich an die Mitgliedstaaten adressiert ist 1. Demzufolge konnte allein staatliches Verhalten als Anknüpfungspunkt für eine Haftung wegen Verletzung von Art. 28 EGV herangezogen werden. Die Vertreter einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten nehmen demgegenüber einen grundlegenden Perspektivenwechsel vor. Sie knüpfen dabei an mehrere Urteile des EuGH an, in denen der die Grundfreiheit unmittelbar beeinträchtigende Akt einer Personenvereinigung des Privatrechts zuzurechnen war und diese selbst als Verursacher der Beschränkung gemeinschaftsrechtlich zur Rechenschaft gezogen wurde2 • Dieser dogmatischen Konstruktion liegt der Gedanke zugrunde, daß die Grundfreiheiten dem einzelnen nicht nur Rechte verleihen, sondern ihm gegenüber unter bestimmten Voraussetzungen auch rechtsbeschränkend, d. h. verpflichtend wirken. In der Tat läßt sich eine Verpflichtung von Privaten unmittelbar aus den Grundfreiheiten im Ergebnis nur über die Bejahung einer unmittelbaren Drittwirkung erreichen3 • Im Rahmen dieses Kapitels soll daher geklärt werden, ob sich eine Verpflichtungswirkung der Grundfreiheiten gegenüber Privaten dogmatisch stringent be1 Die Bindung der Gemeinschaft an die Grundfreiheiten kann hier außer Betracht bleiben, vgl. dazu Bleckmonn, Europarecht, Rn. 760; Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, S. 200; GTE-Müller Graf!, Art. 30, Rn. 294 ff. zum wichtigsten fall des Art. 28 EGV. 2 EuGH-Walrave und Koch/UCI, Rs. 36/74, lg. 1974, 1405; EuGH-Dona/Mantero, Rs. 13/76, Slg. 1977, 1333; EuGH-vanAmeyde/UC/, Rs. 90176, Slg. 1977, 1091; EuGH-HaugAdrion/Frankfurter Versicherungs AG, Rs. 251/83, Slg. 1984, 4277; EuGH-ASBL u. a./ Bosman', Rs. C-415/93, Slg. 1995, 4921. 3 Die Tatsache, daß ein - wie auch immer erreichter - Schutz der Grundfreiheiten stets zu einer faktischen Drittwirkung der Grundfreiheiten führt, da der Grundfreiheitsschutz dann gegenüber allen anderen tangierten Rechtspositionen überwiegt, ist von der hier diskutierten frage, ob die unmittelbare Drittwirkung als solche bereits eine dogmatisch tragfähige Lösung darstellt, streng zu trennen. Siehe dazu ausführlich unten, Kapitel 5.

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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gründen läßt. Dabei ist zu untersuchen, ob das massive, zumindest in Teilen durch die Gewerkschaft ,coordination rurale' bzw. die Interessengemeinschaft ,Federation departementale des producteurs de legumes du Maine-et-loire' organisierte Auftreten der französischen Bauern als grundfreiheitsbeschränkendes Privathandeln einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV unterworfen und damit schon als solches für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt werden kann. Die Anerkennung eines Verstoßes gegen die Grundfreiheiten durch Unterlassen wäre sodann überflüssig.

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung4 der Grundfreiheiten Dem eigenen Ansatz zur Klärung dieser Frage soll die Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH zu dem Thema der unmittelbaren Drittwirkung zugrunde gelegt werden, die von den Befiirwortern einer unmittelbaren Drittwirkung einhellig zu deren Rechtfertigung herangezogen wird. Ziel ist es dabei, Grund, Voraussetzungen und Grenzen dieses Ansatzes zu identifizieren, um ihn dann auf seine Berechtigung und damit im Ergebnis auf seine Übertragbarkeit auf Konstellationen wie den ,Erdbeerstreit' zu überprüfen.

1. Die Rechtsprechung zu den Art. 39,43 und 49 EGV Eindeutige Stellungnahmen zur Frage einer horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten finden sich in der Rechtsprechung bisher nur zu den Art. 39, 43 und 49 EGV. Die Diskussion dieser Urteile soll deshalb den Einstieg bilden. a) Die Rs. Walrave und Koch/ Association UCI u. a.s aa) Sachverhalt und Urteil

In dem Ausgangsrechtsstreit hatten zwei Niederländer gegen den internationalen Radsportverband Union Cycliste Internationale (UCI) geklagt. Dessen Reglement war dahingehend geändert worden, daß bei Rennen der ,pacemaker' 6 und der 4 Im Folgenden werden die Begriffe unmittelbare Drittwirkung und horizontale Drittwirkung synonym verwendet. 5 EuGH-Walrave und Koch/Association UCI, Koninklijke Nederlandsche Wieiren Unie und Federacion Espanola Ciclismo (,Walrave'), Rs. 36/74, 1g. 1974, 1405. 6 ,Pacemaker' oder Schrittmacher sind im Radsport motorisierte Begleiter, in deren Windschatten die Rennfahrer besonders hohe Geschwindigkeiten (bis zu 100 km/h) erreichen können.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

Rennfahrer dieselbe Staatsangehörigkeit besitzen müssen. Die beiden Kläger arbeiteten jedoch hauptsächlich mit Rennfahrern aus anderen Staaten zusammen und sahen sich daher in ihren Rechten aus Art. 39 und 49 EGV eingeschränkt. Die Utrechter Rechtsbank legte dem EuGH die Frage vor, ob das geänderte Reglement mit Art. 39, 49 und 12 EGV vereinbar sei.

In ihrer Stellungnahme bejahte die Kommission die unmittelbare Drittwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit unter Berufung auf den Wortlaut von Art. 7 Abs. 4 VO Nr. 1612/687 , der an die Staatsangehörigkeit anknüpfende diskriminierende Bedingungen in "Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen oder sonstigen Kollektivvereinbarungen " 8 untersagt. Unter Hinweis auf die Subsidiarität zu den Bestimmungen über die Grundfreiheiten erkannte die Kommission auch Art. 12 EGV unmittelbare Drittwirkung zu9 • Die UCI dagegen wandte sich gegen die Anwendbarkeit der Art. 39 und 49 EGV auf ihre internationalen, privatrechtliehen Regelungen mit dem Argument, daß deren Geltungsbereich weit über das Gemeinschaftsgebiet hinausgehe10. Der EuGH geht im Ergebnis von einer unmittelbaren Drittwirkung der Art. 12, 39 und 49 EGV und damit von deren Anwendbarkeit auf die Satzung der UCI aus 11 , wobei er klarstellt, daß die Art. 39 und 59 EGV insoweit Ieges speciales gegenüber dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art. 6 EGV sind12 . Vor dem Hintergrund des Grundsatzes der effektiven praktischen Durchsetzbarkeit des Gemeinschaftsrechtes (,effet utile ') sieht der EuGH die Gewährleistung der Personenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit gefährdet, ., .. . wenn die Beseitigung staatlicher Schranken dadurch in ihrer Wirkung aufgehoben würde, daß privatrechtliche Vereinigungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten. " 13

In diesem Zusammenhang argumentiert der EuGH auch mit der Notwendigkeit einer einheitlichen Vertragsauslegung in den Mitgliedstaaten. Nachdem die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Maße hoheitlich und I oder von privaten Stellen geregelt würden, bestehe bei der Verordnung des Rates vom 15. 10. 1968, Abi. 1968 Nr. L 257/2 ff. EuGH-, Walrave', Rs. 36/74,lg. 1974, 1405, 1409; da eine vergleichbare VO zu Art. 49 EGV fehlt, lehnt die Kommission eine unmittelbare Drittwirkung dieser Vorschrift ab (1411). Zu der sich hier bereits abzeichnenden Problematik, daß sich aus dem Sekundärrecht nicht auf die Reichweite des Primärrechts schließen läßt, siehe ausführlich in diesem Kapitel unter II. l. a) bb) (2). 9 Standpunkt wiedergegeben im Tatbestand des Urteils, EuGH-, Walrave', Rs. 36174, Slg. 1974, 1405 (1412). 10 Standpunkt wiedergegeben im Tatbestand des Urteils, EuGH-, Walrave', Rs. 36174, Slg. 1974, 1405 (1414). 11 EuGH-, Walrave ', Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, Tz. 25. 12 EuGH-, Walrave', Rs. 36174, Slg. 1974, 1405 Tz. 4/10. 13 EuGH-, Walrave', Rs. 36174, Slg. 1974, 1405, Tz. 16/19. 7

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II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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Beschränkung des Anwendungsbereiches auf staatliche Maßnahmen die Gefahr einer uneinheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts. bb) Stellungnahme (1) Unbegrenzte unmittelbare Drittwirkung? Der EuGH dehnt in seinem Urteil zur Rs. Walrave zwar im Ergebnis den Anwendungsbereich von Art. 39 und 49 EGV über staatliches Handeln aus, nimmt damit jedoch keineswegs automatisch eine allgemeine Einbeziehung von Privathandeln in jeder Form vor. Das in den Art. 12, 39 und 49 EGV enthaltene Diskriminierungsverbot soll sich nur auf ., ... sonstige Maßnahmen (erstrecken), die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten " 14•

Dennoch sehen Teile der Lehre in einigen allgemein gehaltenen Formulierungen der Entscheidungsgründe eine Rechtfertigung für die Annahme einer umfassenden Bindung von Privaten an die Art. 39 und 49 EGV 15 • Ein derartiger Aussagegehalt wurde zum Beispiel den Tz. 16/19 zugeschrieben, in denen der EuGH ausführt, ..... , daß Art. 48 (jetzt: Art. 39 EGV), ... , gleichermaßen Verträge und sonstige Vereinbarungen erfaßt, die nicht von staatlichen Stellen herrühren. Folglich bestimmt Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68, daß das Diskriminierungsverbot auch für Einzelarbeitsverträge und sonstige Kollektivvereinbarungen gilt. (Hervorh. v. Verf.)"

Auch in anderen Passagen trifft der EuGH scheinbar allgemeine Aussagen, wonach es auf den Ursprung der Behinderung 16 bzw. die Art der Rechtsbeziehung 17 nicht ankomme. Angesichts der begrenzten Vorlagefrage, die ausschließlich eine Kollektivvereinbarung in Form einer Verbandssatzung betraf, und des eindeutig darauf bezogenen Tenors, muß dies als eine Überinterpretation der Entscheidungsgründe abgelehnt werden 18 • Bei genauerer Analyse legt schließlich sogar der von der Gegenmeinung angeführte Wortlaut der Tz. 16/19 insgesamt betrachtet eher eine restriktive Interpretation nahe. Wenn der EuGH von "Einzelarbeitsverträgen und sonstigen Kollektivvereinbarungen" 19 spricht, kann man daraus nur schließen, daß EuGH-, Walrave ', Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, Tz. 16/19. Chrisham, CMLRev. 1977, 110; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 46; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 281; Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 127 f.; GA Warnerinden Schlußanträgen zu EuGH-, Walrave', Rs. 36174, Slg. 1974, 1425 f.; Winkel, NJW 1975, S. 1060 f. 16 EuGH-, Walrave', Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, Tz. 20/24. 17 EuGH-, Walrave ', Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, Ziffer 2 des Tenors. 18 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 35; bestritten von Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 46. 14

15

5 Schindler

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

er auch die Parteien von Einzelarbeitsverträgen nur insoweit von einer unmittelbaren Drittwirkung erfaßt sieht, als diese Verträge durch irgendeine Verknüpfung als Kollektivvereinbarung gelten können. Zu denken wäre hier an den Abschluß von Einzelarbeitsverträgen im Rahmen von Kollektivvereinbarungen 20• (2) Die VO 1612/68 als Argument für eine unmittelbare Drittwirkung

In ihrer Stellungnahme sieht die Kommission eine ausreichende Begründung für die unmittelbare Drittwirkung von Art. 39 Abs. 2 EGV bereits in der Tatsache, daß Art. 7 Abs. 4 der VO 1612/68 diskriminierende Bestimmungen in Einzelarbeitsverträgen oder sonstigen Kollektivvereinbarungen untersage'. Man könnte in diesem Zusammenhang sogar noch einen Schritt weitergehen und die These vertreten, auf Art. 39 und 49 EGV komme es hier überhaupt nicht an, da der Fall über die Vorschrift des Art. 7 Abs. 4 VO 1612/68 zu lösen gewesen wäre, der auch private Kollektivregelungen erfasse22• Der Standpunkt der Kommission wurde jedoch als dogmatisch fehlerhaft kritisiert, da eine (sekundärrechtliche) Verordnung nicht den Anwendungsbereich einer primärrechtlichen Vorschrift bestimmen könne23 . Das ist im Ergebnis zwar richtig, in dieser Allgemeinheit der Formulierung jedoch zumindest irreführend. Betrachtet man Art. 39 EGV, auf den sich die der VO 1612/68 zugrundeliegende Kompetenznorm des Art. 40 EGV bezieht, in seiner Funktion als Grundfreiheit, dann spräche nichts gegen eine sekundärrechtliche Ausdehnung seines Anwendungsbereiches auch auf Private. Es würde sich insoweit lediglich um eine Verbesserung der Rechtsposition der durch die Grundfreiheit Begünstigten handeln, gegen die prinzipiell nichts einzuwenden wäre. Ihre Grenze würde eine derartige Ausdehnung erst in den entgegenstehenden Rechtspositionen Dritter finden, die im konkreten Einzelfall in einen angemessenen Ausgleich zu den Grundfreiheiten gebracht werden müßten. Unter diesem Aspekt stünde grundsätzlich einer unmittelbaren Drittwirkung nichts entgegen, sie ließe sich sogar allein durch einen Sekundärrechtsakt begründen. Problematisch wird diese Argumentation erst dadurch, daß Art. 39 EGV eben nicht nur dem Einzelnen Rechte gewährt, sondern auch den Inhalt der Kompetenznorm des Art. 40 EGV bestimmt, auf den diese in ihrem Abs. 1 Bezug nimmt. 19 Hervorhebung vom Verfasser; .,sonstigen" bezieht sich hier auf den Terminus .,Tarifverträge" in Art. 7 Abs. 4 derVO 1612/68. 20 So auch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 38. 21 Erklärungen der Kommission zu EuGH-,Walrave ', Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 (1409), Tz. 1. 22 So die Ansicht von Kluth, AöR 122 (1997), S. 566. 23 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 36 f. ; Winkel, NJW 1975, S. 1060; Schlußanträge von GA Warner zu EuGH-,Walrave ', Rs. 36/74, Slg. 1974, 1423 (1425).

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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Insbesondere vor dem Hintergrund des gemeinschaftsrechtlichen Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung kann eine Kompetenznorm jedoch keinesfalls in ihrem Umfang durch das auf ihr basierende Sekundärrecht bestimmt werden24• Ganz im Gegenteil hat sich die VO 1612/68 im Kompetenzrahmen des Art. 40 i.V.m. Art. 39 EGV zu halten. Nachdem nun in Art. 7 Abs. 4 VO 1612/68 eindeutig auch privatrechtliche Regelungen in den Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit einbezogen werden, folgt daraus, daß entweder Art. 39 EGV selbst - aus sich heraus- unmittelbare Drittwirkung entfaltet, oder daß die VO 1612/68 insoweit darüber hinausgeht und damit rechtswidrig ist25 • Letzteres wurde vom Gerichtshof jedoch nicht gerügt, so daß in der Tat dem Urteil entnommen werden kann, daß den Art. 39 und 49 EGV eine unmittelbare Drittwirkung zukommt, wenn auch nur im Bezug auf privatrechtliche Kollektivregelungen.

(3) Ergebnis Somit ist Kluth zwar im Ergebnis in seiner Aussage zuzustimmen, der Fall hätte allein mit Hilfe von Art. 7 Abs. 4 VO 1612/68 gelöst werden können. Richtig ist aber auch, daß die Rechtmäßigkeit dieser Verordnung notwendigerweise die Einhaltung des Kompetenzrahmens voraussetzt, der wiederum von der Reichweite des Art. 39 EGV bestimmt wird. Dies erfordert wiederum, daß auch der Grundfreiheit selbst eine solche - auf Kollektivregelungen begrenzte - unmittelbare Drittwirkung zukommt. Die entscheidende Frage, ob bzw. wie dies gemeinschaftsrechtlich begründet werden kann, bleibt damit aber immer noch offen.

b) Die Rs. Don8/Mantero26 aa) Sachverhalt und Urteil Auch in der Rs. Doni.z hatte der EuGH eine privatrechtliche Satzung an den Grundfreiheiten zu messen. Nach der Personalordnung des italienischen Fußballverbandes durften einerseits nur Mitglieder des Verbandes als Profis oder Halbprofis an den Spielen teilnehmen, wobei jedoch andererseits ausschließlich italienische Staatsangehörige in den Verband aufgenommen wurden. In Bestätigung seines Urteils in der Rs. Walrave21 prüft der EuGH auch diese privatrechtliche Satzung an den Art. 12, 39 und 49 EGV und stellt ebenfalls ihre Unvereinbarkeit mit diesen Bestimmungen fest.

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s•

Nur insoweit ist folglich die oben dargestellte Kritik berechtigt. So im Ergebnis auch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 38. EuGH-Dona/Mantero (,Dona '), Rs. 13/76, Slg. 1977, 1333. EuGH-,Dona', Rs. 13176, Slg. 1977, 1333, Tz. 18.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

bb) Stellungnahme

Im Bezug auf die unmittelbare Drinwirkung der Art. 12, 39 und 49 EGV sowie das Verhältnis der Art. 39 und 49 EGV zu Art. 12 EGV enthält die Rs. Doni.t lediglich eine Bestätigung der Feststellungen in der Rs. Walrave. Wieder war der EuGH nur aufgefordert, eine Anwendung auf Kollektivregelungen zu prüfen. Ob er sich darauf auch in Zukunft beschränken will, läßt die Entscheidung erneut offen28 • Bemerkenswert ist jedoch, daß der EuGH zwar in seine Darstellung der Vorlagefrage die Tatsache aufnimmt, daß der italienische Fußballverband allgemein die Befugnis hatte, das Fußballwesen in Italien zu regeln29, darauf aber bei der Bejahung der unmittelbaren Drinwirkung der einschlägigen Vertragsbestimmungen nicht mehr eingeht, wo es nur noch heißt, das Diskriminierungsverbot ,.erstreckt sich auch auf sonstige Maßnahmen, die eine kollektive Regelung im Arbeitsund Dienstleistungsbereich enthalten "30•

Dies läßt den Schluß zu, daß es für die Frage einer unmittelbaren Drinwirkung der Grundfreiheiten auf eine (ausschließliche) Rechtsmacht zum Erlaß der Kollektivregelungen nicht ankommt. Für die Prüfung der Kollektivregelungen an den Art. 12, 39 und 49 EGV reicht offenbar deren kollektive Wirkung aus. Anknüpfungspunkt könnte in diesen Fällen daher allein die faktische Monopolstellung des italienischen Fußballverbandes sein, die für den Spieler eine unentrinnbare Macht darstellt 31 • Eine explizite Feststellung in diesem Sinne enthalten die Urteilsgründe allerdings nicht, so daß auch diese Rechtssache keine eindeutige Stellungnahme zu den Voraussetzungen und der Reichweite der implizierten unmittelbaren Drittwirkung zuläßt. c) Die Entscheidung van Ameyde/Ufficio Centrale Italiano di Assistenza Assicurativa Automobilisti in Circolazione Internazionale (UCI)32 aa) Sachverhalt und Uneil Van Ameyde, die italienische Tochter einer niederländischen Versicherungsgesellschaft, nahm als ,loss adjuster' die Schadensregulierung von Kfz-Versicherungsfallen vor. Sie klagte gegen das italienische Zentralbüro für Kfz-Versicherun28 Offen sind - entgegen der Auffassung von Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 39 - auch die Schlußanträge des GA Trabucchi, der lediglich die Formulierung des EuGH in der Rs., Walrave ' (Tz. 16/19) aufgreift, EuGH-,Dona', Rs. 13/76, Slg. 1977, 1343 (1345). 29 EuGH-,Dona', Rs. 13/76, Slg. 1977, 1333, Tz. 1/3. 30 EuGH-,Dona', Rs. 13/76, Slg. 1977, 1333, Tz. 17/18. 31 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 40, wohl den Ansatz von Roth (in: FS. Everling, S. 1239) fortführend. 32 EuGH-vanAmeyde/UCI, Rs. 90/76, Slg. 1977,1091.

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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gen (UCI), in dem alle italienischen Kfz-Versicherungen zwangsweise zusammengeschlossen sind und dem vom italienischen Staat besondere Rechte i. S. d. Art. 86 Abs. 1 EGV übertragen worden waren. Nach italienischem Recht haftet das UCI für alle Schäden, die mit ausländischen Kfz verursacht werden. UCI beschloß, die Regulierung von Schadensfällen nur noch an ihre Mitglieder zu vergeben. Nachdem van Ameyde nicht Mitglied der UCI war, konnte die Gesellschaft faktisch ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben. Die Prozeßteilnehmer33 gingen von einer Bindung der UCI an die zu prüfenden Art. 12, 43 und 49 EGV aus, allerdings ohne darauf einzugehen, ob sie sich aus einer unmittelbaren Drittwirkung der einschlägigen Grundfreiheiten ergibt. Der EuGH stellte zwar klar, daß es unerheblich sei, ob der Beschluß von UCI hoheitlichen oder privaten Ursprungs ist34• Aus den Leitsätzen ergibt sich dann jedoch, daß er letztlich von einer privaten Maßnahme ausging35 • Im Ergebnis aber verneinte der Gerichtshof eine Diskriminierung im Sinne der Art. 43 und 49 EGV, da der Ausschluß von van Ameyde auf anderen Gründen als der Staatsangehörigkeit beruhte36• Nach dem gegebenen Sachverhalt hätte man durchaus problematisieren können, ob nicht bereits die Rechtsübertragung im Sinne der Art. 86 Abs. 1 EGV es nahelegt, das Vorgehen der UCI dem italienischen Staat zuzurechnen. Dieser Gedanke drängt sich insbesondere dann auf, wenn man sich die Parallelität der Voraussetzungen von Art. 86 Abs. 1 EGV und für eine Zurechnung privaten Handeins zum Staat vor Augen führe7 • An dieser Stelle soll jedoch die in der Literatur regelmäßig behauptete Verwertbarkeit der Rechtsprechung, und damit auch der Rs. van Ameyde, als Argument für die Begründung einer unmittelbaren Drittwirkung38 gewürdigt werden. Deshalb soll den folgenden Ausführungen die herkömmliche Interpretation dieser Rechtssache zugrundegelegt werden. bb) Stellungnahme

Die klare Einordnung des Beschlusses von UCI als nichtstaatliche Maßnahme läßt zunächst einmal den Schluß zu, daß der EuGH auch Art. 43 EGVunmittelbare Drittwirkung zuerkenne9 • Darüber hinaus spricht der EuGH hier in einem obiter 33 EuGH-van Ameyde/UC/, Rs. 90176, Slg. 1977, 1106 (van Ameyde), 1111 (UCI), 1120 (Kommission). 34 EuGH-vanAmeyde/UCI, Rs. 90/76, Slg. 1977, 1091 , Tz. 28. 3S EuGH-van Ameyde/UCI, Rs. 90/76, Slg. 1977, 1091, Leitsatz 4. 36 EuGH-vanAmeyde/UC/, Rs. 90176, Slg. 1977,1091, Tz. 29/30. 37 Siehe oben Kapitel 2 II. 3., sowie die Diskussion von Art. 90 Abs. EGV bei Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 197 ff. (insbes. S. 222). 38 Vgl. Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 49 f.; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 40 ff.; Roth, in: FS Everling, S. 1238; Schaefer, Die unmittelbare Wtrkung, S. 134 ff.; SteindoTjf, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 280 (Fn. 19).

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

dieturn zwar davon, daß eine diskriminierende Regelung oder Verhaltensweise, gleich welchen Ursprungs, dem Verbot von Art. 43 und 49 EGV unterliege40• Der Rückschluß, er wolle damit einzelvertragliches Privathandeln ganz allgemein einschließen41, verbietet sich - angesichts der begrenzten Vorlagefrage - hier jedoch genauso, wie bei den anderen bereits angesprochenen Urteilen. Naheliegender ist der Schluß, daß, wie bereits in der Rs. Dona, nur klargestellt werden sollte, daß es nicht auf die rechtliche Qualität der diskriminierenden Handlung, sondern nur auf derenfaktische Wrrkung ankommt.

d) Die Rs. Haug-Adrion/Frankfurter Versicherungs-AG42 aa) Sachverhalt und Urteil In diesem Verfahren wurde dem EuGH die Frage nach der Vereinbarkeil von behördlich genehmigten - Tarifbestimmungen einer Kfz-Versicherung mit den Art. 39, 49 und 54 EGV vorgelegt. Danach wurden Kunden, die ein Kfz mit Zollkennzeichen43 besitzen, von der Gewährung des Schadensfreiheitsrabattes ausgenommen. Der Kläger begründete den behaupteten Verstoß damit, daß von dieser nachteiligen Regelung vor allem Staatsangehörige aus anderen Mitgliedstaaten betroffen würden.

Der EuGH bekräftigte noch einmal seine Auffassung, wonach die Art. 39, 49 und 54 EGV das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 12 EGV konkretisieren. Demnach seien alle Maßnahmen verboten, die eine Diskriminierung im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit zum Ziel haben44. Da die Nichtgewährung des Rabattes an eine Tatsache geknüpft wurde, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Versicherungsnehmers ist, verneinte der EuGH jedoch im Ergebnis einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot 39 GA Reischi übergeht die Problematik in seinen Schlußanträgen und nimmt sofort eine Prüfung der Maßnahme an Art. 43 EGV vor, dessen Verletzung er mangels Diskriminierung aber verneint (Schlußanträge von GA Reischi zu EuGH-van Anu!yde/UCI, Rs. 90176, Slg. 1977. 1130 ( 1139)). 40 EuGH-vanAmeyde/UC/, Rs. 90/76, Slg. 1977,1091, Tz. 28. 41 So z. 8. Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 49 f.; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 41; Roth, in: FS Everling, S. 1238; Schroeder, Sport und europäische Integration, S. 132; zu Recht zurückhaltend Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 136. 42 EuGH-Haug-Adrion/Frankfuner Versicherungs-AG, Rs. 251/83, Slg. 1984,4277. 43 Ein Zollkennzeichen wird in Deutschland für noch nicht zum Verkehr zugelassene Kfz erteilt, die mit eigener Triebkraft ins Ausland ausgeführt werden sollen, wenn die ausfUhrende Person keinen ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland hat(§§ 1 und 7 II der VO über internationalen Kfz-Verkehr vom 12. November 1934). 44 EuGH-Haug-Adrion/Frankfuner Versicherungs-AG, Rs. 251/83, Slg. 1984,4277, Tz. 14.

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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bb) Stellungna/une

Die Frage, ob der vorliegende Sachverhalt überhaupt dem Problemkreis der unmittelbaren Drittwirkung zuzuordnen ist, wird unterschiedlich beantwortet. GA Lenz bleibt in seiner Aussage unverbindlich, indem er die Staatlichkeil der Maßnahme zwar für sehr zweifelhaft hält, diese Frage letztendlich aber dahinstehen läßt45. Allenfalls seine Ausführungen zu Art. 49 EGV lassen sich als die implizite Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung interpretieren, da der Generalanwalt hinsichtlich dieser Norm eine materielle Prüfung der fraglichen Maßnahmen vornimmt46. Wesentlich eleganter ließe sich die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten begründen, wenn man das Faktum der staatlichen Genehmigung als möglichen Anknüpfungspunkt für eine Zurechnung der Versicherungsbestimmungen heranziehen würde47. Auch hier soll jedoch der argumentative Gehalt der Entscheidung in bezug auf die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung überprüft werden, weshalb die alternative Begründbarkeil einer Anwendung der Grundfreiheiten nicht weiter verfolgt wird48 . Wie so oft besteht Unsicherheit bezüglich einer Interpretation der Urteilsgründe. Wie ist zu bewerten, daß der Gerichtshof die entscheidende Frage - ,kommt den Art. 39 und 49 EGV Drittwirkung zu?' - übergeht? Ginge man davon aus, daß er sie schlichtweg übersehen hat, wäre der Aussagegehalt des Urteils sehr gering. Dagegen spricht jedoch, daß GA Lenz auf die Problematik ausdrücklich hingewiesen49 und der Gerichtshof diesen Fingerzeig bei der Ausarbeitung seiner Entscheidungsgründe nicht berücksichtigt hat. Eine Zuordnung des Falles zur Fallgruppe der unmittelbaren Drittwirkung läßt sich folglich damit begründen, daß der EuGH, ohne auf die Frage der Staatlichkeil der Maßnahme überhaupt einzugehen, in seinen Entscheidungsgründen ausschließlich die Tarifbestimmungen am Gemeinschaftsrecht überprüfte5°. 4S Schlußanträge von GA l.en:r. zu EuGH-Haug-Adrionl Fran/rfurter Versicherungs-AG, Rs. 251/83, Slg. 1984, 4293. 46 Schlußanträge von GA l.en:r. zu EuGH-Haug-Adrionl Fran/rfurter Versicherungs-AG, Rs. 251/83, Slg. 1984, 4294; so auch Roth, FS Everling, S. 1239, Fn. 57. 47 Auch Roth sieht eine mögliche Begründung für die Anwendung der Grundfreiheiten in der staatlichen Genehmigung der Taritbestimmungen. Trotz seiner Kritik an der fehlenden Eindeutigkeit der Stellungnahme von GA l.en:r. läßt er ebenfalls offen, ob man deshalb nicht von einer staatlichen Maßnahme ausgeben muß. Die Grenze der Aussagekraft des Urteils in bezug auf eine unmittelbare Drittwirkung besteht seiner Meinung nach aber (zumindest) darin, daß nur privatrechtliche Kollektivregelungen in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten einbezogen werden (Roth, in: FS Everling, 1239, wo er eine Ausdehnung auf die.. zumal staatlich genehmigten" -privaten Maßnahmen mit Kollektivcharakter bejaht). 48 Allgemein m Voraussetzungen und Umfang einer Zurechenbarkeit von Privathandeln zum Staat siehe oben Kapitel 2 li. 49 Schlußanträge von GA l.en:r. zu EuGH-Haug-Adrionl Fran/rfurter Versicherungs-AG, Rs. 251/83, Slg. 1984, 4293, B Tz. 6. so EuGH-Haug-Adrion/Frankfurter Versicherungs AG, Rs. 251/83, Slg. 1984,4277, Tz. 16; so auch die herrschende Lehre, Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 38;

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

Dieser Feststellung schließt sich jedoch erneut die Frage nach dem Umfang der angenommenen unmittelbaren Drittwirkung an. Steindorffund Ganten sehen damit ganz allgemein ..... private Vertragsgestaltungen von (den) Grundfreiheiten erfaßt"51. Nun läßt in der Tat der hier zu beurteilende Sachverhalt die Begrenzung der Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung auf Fälle von oktroyierten Kollektivregelungen endgültig nicht mehr zu52. Die Schlußfolgerung, daß damit eine undifferenzierte Einbeziehung aller privatautonomen Rechtsgestalrungen vorgenommen wurde, ist aber dennoch keineswegs zwingend. Zwar handelt es sich bei den Tarifbestimmungen um privatautonome Regelungen; diese betreffen jedoch eine Vielzahl von Verträgen und damit Einzelpersonen, die aufgrund ihrer deutlich schwächeren Verhandlungsposition eine für sie günstigere Regelung kaum erreichen können. Bei derartigen privatrechtliehen Regelungen greift das der Privatautonomie grundsätzlich innewohnende Korrektiv des Interessenausgleiches zwischen den Vertragspartnern aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Übermacht einer Vertragspartei nicht. De facto ist der einzelne diesen Regeln genauso ausgeliefert wie staatlichen Regeln. Die Situation ist insoweit durchaus vergleichbar mit den bisher diskutierten Fällen, daß Einzelpersonen einem großen Verband gegenüberstehen53 . Für diese Überlegung spricht auch nicht zuletzt, daß das Merkmal der Monopolstellung oder sozialen und wirtschaftlichen Übermachtstellung in allen bisher besprochenen Urteilen anzutreffen ist, in denen der EuGH eine horizontale Wirkung angenommen hat54 . Ein rechtliches Fundament dieser Übermachtsstellung wurde dabei nie als entscheidend angesehen.

e) Die Rs. Union royale beige des societes de footbaU association ASBL u. a./ Jean-Marc Bosman55 aa) Sachverhalt und Urteil

Der belgisehe Fußballprofi Jean-Marc 8osman klagte gegen zwei Regelungen in den Satzungen der UEFA und des belgiseben Fußballverbandes, die dazu führJaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 43; Steitulorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 281. 51 Steitulorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 282. 52 So zu Recht Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 43 und Roth, in: FS Everling, S. 1239, die jedoch zutreffend nur eine begrenzte Aussagekraft anerkennen. S3 So auch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 43. S4 In der Rs., Walrave' der Radsportverband; in der Rs. ,Dona' der Fußballverband; in der Rs. Van Ameyde die Vereinigung der Kfz-Versicherer. ss EuGH-Union royale belge des sociitis de foothall association ASBL u. a. I Jean-Marc Bosman (,Bosman'), Rs. C-415/93, Slg. 1995, 1-4921; vgl. hierzu u. a. Soeffing, 88, 1996, S. 523 ff.; Schroeder, JZ 1996, S. 254 ff.; Wertenbruch, EuZW 1996, S. 91 f.; Hilf/Pache, NJW 1996, S. 1169 ff.; Kluth, AöR 1997, S. 557 ff.; Weber, Recht der Arbeit 1997, S. 183 ff.; Nettesheim, NVwZ 1996, S. 342 ff.; Reichold, ZEuP 1998, S. 434 ff.; lmping, EWS 1996, S.193ff..

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ten, daß er keine Verträge mit belgiseben oder französischen Profimannschaften abschließen konnte. Es ging dabei zum einen um die Pflicht der Vereine, bei der Neuverpflichtung eines Spielers, dessen Vertrag bei seinem ehemaligen Verein ausgelaufen war, eine Ablöse an den bisherigen Verein zu bezahlen. Zum anderen richtete sich die Klage gegen die in den Satzungen enthaltenen Ausländerklauseln, nach denen ein Verein nur eine begrenzte Anzahl von Profis einsetzen durfte, die nicht die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Mitgliedstaates hatten. Die Frage der Unanwendbarkeit dieser Regeln auf Bosman legte das Berufungsgericht dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Der EuGH setzt seine Rechtsprechung in den Rs. Walrave56 und Dona57 fort, indem er feststellt, daß Art. 39 EGV ,.nicht nur ftir behördliche Maßnahmen gilt, sondern sich auch auf Vorschriften anderer Art erstreckt, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit dienen. " 58

Zur Begründung der damit wiederum nur implizit angenommenen unmittelbaren Drittwirkung zieht der Gerichtshof zum einen den Grundsatz des ,effet utile' heran, der es verbietet, daß Private die Hindernisse wieder errichten, welche die Mitgliedstaaten zur Herstellung der Freizügigkeit abgebaut haben59 • Zum anderen erfordere die Sicherstellung der einheitlichen Vertragsauslegung, daß Art. 39 EGV auf alle Regelungen von Arbeitsbedingungen angewendet wird, unabhängig von deren Ursprung. 60 Im Ergebnis bejahte der EuGH einen Verstoß der Transferregeln gegen Art. 39EGV. bb) Stellungnahme (1) Art. 39 EGVals allgemeines Beschränkungsverbot Anknüpfend an frühere Rechtsprechung61 - auch zu den Art. 43 EGy62 - besteht die erste wesentliche Aussage des ,Bosman' - Urteils darin, daß auch Art. 39 EGV ein über das Diskriminierungsverbot hinausgehendes allgemeines Beschränkungsverbot zu entnehmen ist. Zu beachten ist freilich, daß damit nicht die Entstehung eines gemeinsamen Marktes mit vollkommen einheitlichen Regeln gemeint EuGH-, Walrave', Rs. 36174, Slg. 1974, 1405, Tz. 16/19. EuGH-,Dona', Rs. 13176, Slg. 1976, 1333, Tz. 18. 58 EuGH-,Bosman', Rs. C-415/93, S1g. 1995,1-4921, Tz. 82. 59 EuGH-,Bosman', Rs. C-415/93, Slg. 1995,1-4921, Tz. 83. 60 EuGH-,Bosman', Rs. C-415/93, Slg. 1995,1-4921, Tz. 84. 61 EuGH-,Bosman', Rs. C-415/93, Slg. 1995, 1-4921, Tz. 92 ff., unter Bezugnahme auf EuGH-Stanton, Rs. 143/87, Slg. 1988, 3877; EuGH-Roux, Rs. 363/89, Slg. 1991, 1-273; EuGH-Masgio, Rs. C-10/90, Slg. 1991, 1-1119; EuGH-Singh, Rs. C-370/90, S1g. 1992, 14265; vgl. auch die ausfUhrliehe Auseinandersetzung mit der früheren Rechtsprechung in den Schlußanträgen von GA Lenz zu EuGH-,Bosman', Rs. C-415/93, Slg. 1995, 1-4921, Tz. 165 ff. 62 EuGH-Daily Mailand General Trust, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483, Tz. 16. 56 57

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ist. Dazu wäre eine umfassende Rechtsetzungsbefugnis der Gemeinschaft erforderlich, der mit dem Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 EGV eine eindeutige Absage erteilt wurde63 • Verboten sind lediglich solche Hindernisse, die eine unverhiiltnismäßige Beschränkung der Wirtschaftsfreiheiten im grenzüberschreitenden Verkehr bedeuten. Der am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgerichtete Inhalt des allgemeinen Beschränkungsverbotes stellt bereits den Bezug zu der zweiten Art von Freiheitsgewährleistungen auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts her- zu den Gemeinschaftsgrundrechten. Diese bilden einen grundrechtliehen Unterbau für die Grundfreiheiten, d. h., insbesondere die Wertungen der Wirtschaftsgrundrechte sind parallel zu den Grundfreiheiten zu berücksichtigen, da sie diese vielfach in ihrer Wirkung unterstützen und absichern64• Mindestens ebenso wichtig ist jedoch ein zweiter Bezug zwischen den beiden Arten von Freiheitsgewährleistungen. Den Grundfreiheiten ist zwar aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung für die Gemeinschaftsrechtsordnung möglichst umfassende Geltung zu verschaffen. Da sie jedoch nur einen Ausschnitt aus den grundlegenden Gewährleistungen des Gemeinschaftsrechts darstellen, dürfen sie andererseits jedoch spätestens dann nicht mehr unbeschränkt Geltung beanspruchen, wenn sie mit den Wertungen von anderen Freiheitsgewährleistungen insbesondere den Gemeinschaftsgrundrechten - kollidieren65 • (2) Der Aussagegehalt zur horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten Was die Frage einer horizontalen oder unmittelbaren Wrrkung der Grundfreiheiten anbelangt, bestätigt der EuGH zwar seine Rechtsprechung aus den Rs. Walrave und Dona, läßt jedoch weiterhin offen, ob sich die unmittelbare Drittwirkung auf alle privaten Maßnahmen erstreckt oder auf private Kollektivmaßnahmen beschränkt ist66• Darüber hinaus enthält die Entscheidung ,Bosman' aber auch implizit zwei Klarstellungen zur Frage der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten. Erstens bejaht der EuGH die horizontale Wrrkung von Art. 39 EGV auch in seiner Form als allgemeines Beschränkungsverbot67 , da er die Norm auch auf die Ablöseregeso auch Kluth, AöR 122 (1997), S. 565 f.; vgl. auch Classen, EWS 1995, S. 105m. w. N. Kluth. AöR 122 (1997), S. 565. 65 ausführlich zu diesem Problem siehe unten Kapitel 5; allgemein zu Geltungsgrund und Stellung den Gemeinschaftsgrundrechte siehe unten Kapitel 4. 66 EuGH-,Bosman', Rs. C-415/93, Slg. 1995, 1-4921; Tz. 82 ff.; so auch die Interpretation von Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 45. 67 Über die Frage, ob die Grundfreiheiten lediglich Diskriminierungsverbote darstellen, oder darüber hinaus allgemein auch vor - sachlich nicht gerechtfertigten - Beschränkungen schützen, besteht in der Literatur Streit: Lediglich als Grundgleichheiten verstehen die Grundfreiheiten G/H-Randelzhofer, Art. 59 Rn. 11 ; Everling, DB 1990, S. 1857 (m. w. N. zur älteren Literatur); so auch Jarass, EuR 1995, S. 216, der jedoch den Diskriminierungsbegriff weit interpretiert; die deutlich überwiegende und sich ständig verstärkende Meinung tritt hingegen für die Betrachtung der Grundfreiheiten als allgemeine Beschränkungsverbote ein: 63

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Iungen anwendet, welche nicht unter das Diskriminierungsverbot subsumiert werden können68• Damit läßt sich zudem erklären, warum der EuGH in dieser Rechtssache nicht an Art. 12 EGV, sondern an den ,effet utile' und die ,Einheitlichkeit der Vertragsauslegung' anknüpft69, um die Drittwirkung zu begründen. Zweitens stellt der Gerichtshof klar, daß - wenn schon der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten erweitert wird - sich dann auch Privatpersonen zur Rechtfertigung von Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die ordre-public-Vorbehalte berufen können70. Mit der Anerkennung dieser Rechtfertigungsmöglichkeit schafft der Gerichtshof zwar ein Korrektiv zugunsten der Rechtsposition der grundfreiheitsverpflichteten Person des Privatrechts, dessen inhaltliche Ausgestaltung ist jedoch fragwürdig. In der Tat muß sich der EuGH vorwerfen lassen, er übersehe, ., ... daß sich die privatrechtlich organisierten Sportverbände keineswegs auf ,Allgemeininteressen' berufen. Vielmehr führen sie die Berechtigung ihrer sportlichen Regeln auf die auch als Gemeinschaftsgrundrecht garantierte Vereinigungsfreiheit zurück. "11

Unter dem Strich läßt sich sagen, daß der EuGH zwar grundsätzlich den durch die Anerkennung einer horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten herbeigeführten Konflikt zwischen den Grundrechten und Grundfreiheiten erkennt, daß sein Lösungsmodell die Problemlage jedoch nicht voll erfaßt72• Besonders deutlich macht dies die rudimentäre Prüfung der Vereinigungsfreiheit, die zweifelsohne ein gewichtiges - weil - grundrechtliches Argument zugunsten der beteiligten Fußballverbände dargestellt hätte~ f) Ergebnis

Der EuGH geht in seiner Rechtsprechung von einer horizontalen Wirkung der Art. 39, 43 und 49 EGV aus und erstreckt diese auch auf deren Wirkungsweise als vgl. Behrens, EuR 1992/2, S. 156; Bleckmann, DVBI. 1986, S. 69 ff.; ders., Europarecht, Rn. 1562 ff.; Classen, EWS 1995, S. 97 f.; Dörr, RabelsZ 54 (1990), S. 677 ff.; Eberhartinger, EWS 1997, S. 44 ff.; Knobbe-Keuk, DB 1990, S. 2573 ff.; Kort, JZ 1996, S. 132 ff.; Dauses-Roth, Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts (Stand: Januar 1996), E.l, Rn. 69, 117; Steindorff, EuR 1988, S. 19 ff.; GlE-Troberg, Art. 59, Rn. 4; GlE-Wölker (4. Auflage), Art. 48, Rn.5m.w. N.. 68 So auch Kluth, Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer, S. 560 f.; zur Entwicklung einer Konvergenz der Grundfreiheiten vgl. Behrens, EuR 1992, S. 145 ff.; Eberhartinger, EWS 1997, s. 43 ff. 69 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 45; aus heutiger Sicht unzutreffend daher die Feststellung von Roth, man hätte die Ergebnisse auch über die Anwendung von Art. 6 EGV erreichen können, Fs. Everling, S. 1239. 70 EuGH-,Bosman', Rs. C-415/93, Slg. 1995,1-4921, Tz. 86. 71 Schroeder, JZ 1996, S. 256. n Dazu ausführlicher unten Kapitel 5.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

allgemeine Beschränkungsverbote - eine dogmatisch überzeugende Begründung dafür läßt er jedoch vermissen. Zunächst ging es in der Rechtsprechung um Fälle von Kollektivregelungen, die entweder auf der Satzung einer Vereinigung73 oder auf der begrenzten Rechtssetzungsmacht einer privaten Organisation beruhten74 • Später wurde die unmittelbare Drittwirkung auf Fälle ausgeweitet, in denen lediglich eine unbestimmte Zahl von Privatrechtsverhältnissen von standardisierten Vertragsbestimmungen betroffen wurden, auf deren konkrete Ausgestaltung der Einzelne regelmäßig keinen Einfluß nehmen kann75 • Daraus läßt sich entgegen einiger Stimmen in der Literatur76 jedoch keine umfassende Bindung von Privathandeln an die Grundfreiheiten ableiten. Denn den Kollektivregelungen einerseits und den allgemeinen Vertragsbestimmungen einer Versicherung andererseits ist gemeinsam, daß sie erstens in eine Vielzahl von Verträgen einbezogen werden und zweitens regelmäßig vom Verwender diktiert werden. Der Verwender hat im letzteren Fall zwar de jure keine Rechtssetzungsmacht, kann aber aufgrund seines sozialen oder wirtschaftlichen Übergewichtes die Privatautonomie seiner Vertragspartner de facto einschränken". Mit anderen Worten, das dem privatautonomen Vertragsschluß grundsätzlich inhärente Korrektiv des Interessenausgleichs ist faktisch ausgeschlossen. Handelt es sich beim Verwender um eine private Organisation, der bestimmte Privatpersonen beitreten müssen, so wird die faktische Zwangslage durch die Satzungsbefugnis dieser Organisation lediglich verstärkt, ohne daß es aus Sicht des Gerichtshofs auf diese rechtliche Übermacht entscheidend ankäme. Diese Tendenz wurde in der Rs. Van Ameyde bestätigt, als der EuGH den Ursprung der Regelung und damit im Ergebnis deren rechtliche Qualität für unerheblich erklärte und allein auf die tatsächliche Wirkung der Regelung abstellte. Spätestens aber mit der Entscheidung in der Rs. Haug-Adrion, in welcher der EuGH die allgemeinen Tarifbestimmungen - ungeachtet ihrer behördlichen Genehmigung - an den Grundfreiheiten überprüfte, wurde deutlich, daß die faktische Übermachtstellung einer Partei ausschlaggebend sein soll, um eine unmittelbare Drittwirkung begründen zu können. Die Entscheidung in der Rs. 8osman führte eine weitere Klärung des Umfangs der unmittelbaren Drittwirkung herbei, da erstmals Grundfreiheiten auch in ihrer Form als allgemeine Beschränkungsverbote auf privates Handeln angewendet wurden. Den verpflichteten Privatpersonen wird dabei zugestanden, sich zur Rechtfer73 EuGH-,Walrave', Rs. 36174, Slg. 1974, 1405; EuGH-,Dona', Rs. 13/76, Slg. 1977, 1333. 74 EuGH-VanAmeyde/UCJ, Rs. 90176, Slg. 1977, 1091. 75 EuGH-Haug-Adrion!Frankfurter Versicherungs-AG, Rs. 251/83, Slg. 1984,4277. 76 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 281 f.; Schaefer, Die horizontale Wirkung der Grundfreiheiten, S. 121 ff.; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 54 (im Bezug auf die Art. 39, 52 und 59 EGV). 77 So i. Erg. auch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 43.

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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tigung von beschränkenden Maßnahmen auf ,Allgemeininteressen ', d. h. auf Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zu berufen. Die Anerkennung von Rechtfertigungsgründen auch im Bereich der horizontalen Wirkung geht zwar grundsätzlich in die richtige Richtung, aber in dieser Form nicht weit genug. Der EuGH übersieht, daß Private mit ihrem Handeln allenfalls auch Allgemeininteressen verfolgen, vor allen Dingen aber von ihren (gemeinschafts-) grundrechtlieh garantierten Rechten Gebrauch machen wollen. Die somit gegebene Kollisionslage zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten wird noch exakter zu identifizieren78 und ausführlich zu diskutieren sein79• Insgesamt fallt auf, daß der EuGH - trotz des insoweit eindeutigen Aussagehaltes seiner Urteile - es bisher vermieden hat, in seiner Rechtsprechung den Begriff ,unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten' zu verwenden. Seine zu diesem Thema entwickelte Terminologie beschränkt sich auf Umschreibungen, die lediglich eine Anwendbarkeit der einschlägigen Grundfreiheit auf die jeweils fragliche Maßnahme bejahen80• Der Gerichtshof erkennt folglich den Effekt an, ohne jedoch selbst jemals eindeutig zu den Voraussetzungen und Grenzen und v.a. zu dem dogmatischen Fundament Stellung genommen zu haben.

2. Die Rechtsprechung zur unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV Obwohl im ,Erdbeerstreit' die Frage nach einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV interessiert, war der Umweg über oben diskutierte Rechtsprechung zu den Art. 39, 43 und 49 EGV notwendig, da vergleichbar gelagerte Drittwirkungsralle für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit bislang fehlen. Nachdem angesichts der eben besprochenen Fälle zu den anderen Grundfreiheiten eine unmittelbare Drittwirkung zumindest als in der Rechtsprechung des EuGH angelegt zu qualifizieren ist, gilt es nun zu klären, ob bzw. wie sich dies aus der bestehenden Rechtsprechung zu Art. 28 EGV auch für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit begründen läßt. Immerhin scheint auf den ersten Blick eine Abrundung der dargestellten ,Drittwirkungsrechtsprechung' dogmatisch doch deutlich näher zu liegen als die Einführung einer dogmatisch in dieser Form bislang unbekannten Unterlassungshaftung. Sieh dazu in diesem Kapitel unter III., 2., c). Dieser Aufgabe ist Kapitel 5 gewidmet. 80 EuGH-, Walrave', Rs. 36174, Slg. 1974, 1405, Tz. 16/19 "erstreckt sich auf sonstige Maßnahmen, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten"; EuGH-,Dona', Rs. 13176, Slg. 1977, 1333, Tz. 18; und EuGH-,Bosman', Rs. 415/93, S1g. 1995, 1-4921 , Tz. 82 mit gleicher bzw. ähnliche Formulierung; EuGH-Van Ameydel UCI, Rs. 90176, Slg. 1977, 1091, Tz. 28: .,unerheblich, ob die Diskriminierung ihren Ursprung in hoheitlichen Maßnahmen oder aber in Handlungen hat, die dem nationalen Versicherungsbüro .. . zuzurechnen sind". 78

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

a) Die Rechtsprechung des EuGH zu den gewerblichen Schutzrechten als Argument rür eine unmittelbare Drittwirkung von Art. 28 EGV aa) Einführung

Der Teil der Lehre, der eine unmittelbare Drittwirkung von Art. 28 EGV bejaht, stützt sich überwiegend auf die Rechtsprechung des EuGH zu den gewerblichen Schutzrechten81 , weshalb diese nun auf ihre Aussagekraft zur Drittwirkungsproblematik überprüft werden soll. Auf europäischer Ebene anerkannte gewerbliche Schutzrechte sind u. a. 82 das Patentrecht83, das Urheberrecht an Musikwerken84, das Recht an Zeichnungen und Modellen85, das Warenzeichenrecht86 und das Firmenrecht87. Bei all diesen Rechten handelt es sich um sog. Ausschließlichkeitsrechte. Wegen der fehlenden Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet der gewerblichen Schutzrechte liegt es nach wie vor in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, die Einzelausprägung dieser Rechte selbst vorzunehmen. Für die Geltendmachung des Schutzrechtes gilt dann das Territorialitätsprinzip, d. h., es gilt jeweils das Recht des Landes, in dem der Schutz begehrt wird88 . 81 Diesem Ansatzfolgend: Barents, CMLRev. 1981, S. 275 (Fn. 17); Bauer. Wettbewerbsbeschränkungen durch Staaten, S. 36 f.; Bebr. Development of judicial control of the EC, S. 598; Beier. GRUR Iot. 1989, S. 609 f.; Bleckmann, Europarecht, XXX; Easson, ELR 1979, S. 69; Emmerich, DB 1972, S. 1327; lsaac, Droit comrnunautaire general, S. 160; Pemice, Grundrechtsgehalte, S. 91; Oldenbourg, Unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien, S. 146; Perrott, YEL 1981, S. 208; Waelbroeck in: FS Pescatore, S. 782 ff.; in diese Richtung gehend auch Moench, NJW 1982, S. 2690, der allerdings nicht eindeutig zwischen mittelbarer und unmittelbarer Drittwirkung trennt; ebenfalls widersprüchlich Schröter. WRP 1971, S. 361 f.; differenzierend Streil in: Beutler/Bieber/Piepkom/Streil, S. 298, der lediglich im Zusammenhang mit den gewerblichen Schutzrechten eine unmittelbare Drittwirkung von Art. 28 EGV annimmt; kritisch, aber diesem Ansatz zuneigend Steindorff, in: EG-Vertrag und Privatrecht, S. 282 ff.; gegen diese Argumentation, aber dennoch eine unmittelbare Drittwirkung bejahend: Ebenroth/Hübschle, Gewerbliche Schutzrechte und Marktaufteilung, Rn. 77; Oliver. Free movements of goods in the E.E.C., S. 55; Roth, in: FS Everling, S. 1237; Schaefer. Die unmittelbare Wirkung, S. 74 ff.; vgl. auch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 51, 64 und 69, der die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten zumindest im Bezug auf sog. ,intermediäre Gewalten' anerkennt (dazu eingehend in diesem Kapitel unter Iß., 2., b), aa)). 82 Übersicht bei GTE-Müller-Grajf. Art. 36, Rn. 72. 83 EuGH-Centrafarm/Sterling Drug, Rs. 15/74, Slg. 1974, 1147 (1163); EuGH-Merck/ Stephar. Rs. 187/80, Slg. 1981, 2063; EuGH-Pharmon/Hoechst, Rs. 19/84, Slg. 1985, 2281. 84 EuGH-Musik-Venrieb, Rs. 55 und 67/80, Slg. 1981, 147 (162); EuGH-Coditelll, Rs. 262/81, Slg. 1982, 3381 (3400). 85 EuGH-Keurkoop, Rs. 144/81, Slg. 1982,2853 (2870). 86 EuGH-Van Zuylen/Hag (Kaffee Hag l'), Rs. 192173, Slg. 1974,731 (744); EuGH-Centrafarm/Winthrop, Rs. 16/74, Slg. 1974, 1183 (1194 f.). 87 EuGH-Terrapin/Te"anova, Rs. 119/75, Slg. 1976, 1039 (1062 f.). 88 GTE-Müller-Grajf. Art. 36,73/76.

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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Die Zulässigkeil von Beschränkungen des Art. 28 EGV zum Schutz des ,gewerblichen und kommerziellen Eigentums' ergibt sich explizit aus Art. 30 EGV. Die einzelstaatliche Anerkennung und Durchsetzung von gewerblichen Schutzrechten birgt folglich ein signifikantes Potential an Behinderungen des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs. Es fragt sich daher, welchen Grenzen diese Ausnahme zum Grundsatz der Warenverkehrsfreiheit unterliegt. In ständiger Rechtsprechung89 erlaubt der EuGH Beschränkungen des Art. 28 EGV nur, .,soweit sie zur Wahrung der Rechte berechtigt sind, die den spezifischen Bestand des Eigentums ausmachen"90•

Ausgehend von dieser Rechtsprechung unterscheidet der EuGH zwischen dem Bestand der vom nationalen Gesetzgeber gewährleisteten Schutzrechte und deren Ausübung, die im Einzelfall durch die gemeinschaftsrechtlichen Verbotsnormen begrenzt ist91 . Aus ., ... dem Wortlaut, insbesondere des zweiten Satzes, und der Stellung dieses Artikels {Art. 30 EGV) ergibt sich . . . , claß der Vertrag zwar den Bestand der durch die nationale Gesetzgebung eines Mitgliedstaates eingeräumten gewerblichen Schutzrechte nicht berührt, die Ausübung dieser Rechte aber sehr wohl ... {beschränken) kann. "92 .

Laut EuGH geht dieser Schutz jedoch nur soweit, bis sich das Recht ,erschöpft' hat (sog. ,Erschöpfungsgrundsatz')93 • Danach darf eine nationale Rechtsvorschrift - wegen Verstoßes gegen die Art. 28 und 30 EGV - .nicht angewendet werden, die den Inhaber des Schutzrechtes im Einfuhrstaat dazu berechtigt, sich dem Vertrieb von Erzeugnissen zu widersetzen, welche im Ausfuhrstaat von ihm selbst oder mit seiner Zustimmung in Verkehr gebracht worden sind94• Die Anerkennung des Erschöpfungsgrundsatzes begründet sich daraus, daß der Inhaber des Schutzrechtes zu diesem Zeitpunkt bereits die Gelegenheit dazu hatte, seine Vermarktungschancen zu nutzen95 • GTE-Müller-Graff, Art. 36, Rn. 76 m. w. N. EuGH-Centrafarm/Sterling Drug, Rs. 15174, Slg. 1974, 1147 (1163). 91 EuGH-Deutsche Grammophon/Metro, Rs. 78/70, S1g. 1971, 487; EuGH-RTE und ITP/Kommission, Rs. C-241 und 242/91, S1g. 1995,1-743, Tz. 48; EuGH-Centrafarm/Sterling Drug, Rs. 15174, S1g. 1974, 1147 (1163); dieser Unterscheidung kritisch gegenüberstehend GTE-Müller-Graff, Art. 36, Rn. 77; Götting, JZ 1994, S. 1170; vgl. auch Ebenroth/ Hübschle, EWS 1994, S. 109 ff. 92 so der EuGH in ständiger Rechtsprechung, z. B. EuGH-Centrafarm/Sterling Drug, Rs. 15/74, S1g. 1974, 1147, (1163) Tz. 7; EuGH-Dansk Supermarked/lmerco, Rs. 58/80; S1g. 1981, 181 (193), Tz. 11 (Hervorhebungen v. Verf.). 93 EuGH-Generics/Smith, Rs. C-191/90, S1g. 1992,1-5335, Tz. 22; EuGH-Danzinger/ Ideal-Standard (,Ideal Standard II'), Rs. 9/93, Slg. 1994,1-2789, Tz. 33. 94 EuGH-Danzinger/ldeal-Standard (Ideal Standard II), Rs. 9/93, S1g. 1994, 1-2789, Tz. 33. 95 Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 666. 89 90

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

bb) Die Ausübung der gewerblichen Schutzrechte Nachdem der EuGH zunächst die Frage der Ausübung eines Ausschließlichkeitsrechtes nur an den Art. 81 f. EGV gemessen hatte96, vollzog er mit der Entscheidung in der Rs. Deutsche Grammophon Gesellschaft/Metro97 eine Ausweitung seiner Rechtsprechung auf die Überprüfung dieser Rechte im Lichte der Warenverkehrsfreiheit98. Grund dafür waren auftretende Schutzlücken bei ausschließlichem Rückgriff auf das Wettbewerbsrecht So stellen zum einen konzerninterne Abreden, wie die Anweisung der Mutterfirma an ihre 100%-ige Tochter, keine Firmenprodukte außerhalb des Mitgliedstaates zu vertreiben, in dem die Tochterfirma ansässig ist, keine wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen im Sinne von Art. 81 EGV dar99, und zum anderen liegt in den schutzrechtlichen Standardfällen in der Regel kein von Art. 82 EGV vorausgesetzter Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung vorHJO. Ob sich aus diesem Entwicklungsschritt in der Rechtsprechung aber auf eine unmittelbare Drittwirkung von Art. 28 EGV schließen läßt, hängt entscheidend davon ab, an welchen Akt der EuGH bei der Überprüfung der Geltendmachung des Schutzrechtes jeweils konkret angeknüpft hat. In Betracht kommt dabei einerseits privates Handeln - die Inanspruchnahme des Schutzrechtes selbst -, oder andererseits staatliches Handeln -das dem Schutzrecht zugrundeliegende Gesetz bzw. das stattgebende GerichtsurteiL Vor dem Hintergrund dieser Überlegung und der vom EuGH zur deren Umschreibung gebrauchten Formulierungen ("von einer gesetzlich eingeräumten Befugnis Gebrauch machen" 101 , .. sich aufgrundeines gesetzlich geschützten Rechts widersetzen" 102, oder "sich zur Wehr setzen" 103) liegt tatsächlich der Schluß nahe, der EuGH knüpfe in der Tat direkt an das Verhalten der Privatpersonen an, um einen Vertragsverstoß zu begründen 104 • Diese Schlußfolgerung ist jedoch keineswegs zwingend. Schließlich existieren mit dem das Schutzrecht begründenden na96 So z. 8. in EuGH-Grundig und Consten/Kommission. Rs. 56 und 58/64, Slg. 1966, 394; EuGH-Parke und Davis/Centrafarm, Rs. 24/67, Slg. 1968, 85, Tz. 111 ff.; EuGH-Sirena/Eda, Rs. 40/70, Slg. 1971,69, Tz. 5. 97 EuGH-Deutsche Grammophon/Metro, Rs. 78/70, Slg. 1971,487, Tz. 6. 98 Schaefer, Die horizontale Wirkung, S. 79 f.; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 46, Fn. 78. 99 EuG-Viho Europe BV/Kommission, Rs. T-102195, Slg. 11-1995, 17, Tz. 52; Bleckmann. Europarecht, Rn. 1835 f. 100 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 176 anknüpfend an Hefermehl/ Fezer, in: Hefermehl/ lpsen I Schluep I Sieben, Nationaler Markenschutz und freier Warenverkehr in der Europäischen Gemeinschaft, S. 77. 101 EuGH-Centrafarm/Sterling Drug, Rs. 15/74, Slg. 1974, 1147 (1164). 102 EuGH-Terrapin/Terranova, Rs. 119/75; Slg. 1976 , 1039 (1063). IOJ EuGH-Hoffmann/La Roche, Rs. 102/77, Slg. 1978, 1139 (1165). 104 Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 85.

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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tionalen Gesetz und dem im Urteil enthaltenen Verbotsspruch zwei originär staatliche Akte, die als Maßnahme gleicher. Wirkung im Sinne des Art. 28 EGV qualifiziert werden könnten. Es ist daher zu untersuchen, ob diese staatlichen Maßnahmen taugliche Anknüpfungspunkte für die Feststellung einer unzulässigen Beschränkung von Art. 28 EGV sind. (1) Das nationale Gesetz als Anknüpfungspunkt Bereits zwei ganz grundlegende Gedanken unterstützen die Position des EuGH, der es ablehnt, zur Feststellung einer Beeinträchtigungswirkung schon an den bloßen Bestand von gewerblichen Schutzrechten anzuknüpfen: Erstens würde er ansonsten den in Art. 30 EGV festgeschriebenen Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers ignorieren, der den Schutz kommerziellen Eigentums explizit als mögliche Rechtfertigung eines Verstoßes gegen Art. 28 EGV anerkannt hat. Zweitens entfaltet das aus dem jeweiligen Gesetz fließende Ausschließlichkeitsrecht seine Wirkung erst und nur dann, wenn sich der Berechtigte darauf beruft. Verzichtet er jedoch auf die Durchsetzung seines Rechtes, entsteht erst gar keine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit Die gewerblichen Schutzgesetze schaffen also für den einzelnen lediglich die Möglichkeit, ein ihm gewährtes Recht gerichtlich durchzusetzen, d. h., sie wirken nur mittelbar beschränkend 105 . An dieser Stelle muß kurz darauf eingegangen werden, ob sich dieser Ansatz mit der grundlegenden Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit vereinbaren läßt. Schließlich lassen sich nach der Dassonville-FormelH)6 grundsätzlich alljene Maßnahmen unter Art. 28 EGV subsumieren, die dazu geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Warenverkehr zumindest potentiell zu behindern - und die potentiell behindernde Wirkung der gewerblichen Schutzgesetze steht mit Sicherheit außer Zweifel. Aus diesem Grund geht ein Teil der Literatur davon aus, daß schon das nationale Gesetz als staatliche Maßnahme im Sinne des Art. 28 EGV anzusehen sei 107 . Abstrakt betrachtet, scheint diese Aussage auch durchaus folgerichtig zu sein, sie führt aber im konkreten Fall der gewerblichen Schutzrechte zu einem Widerspruch. Geht man nämlich davon aus, daß zu Recht der bloße Bestand der Schutzrechte vom EGV unberührt bleiben muß 108, so kann man dann nicht den staatlichen Ursprung des dem Bestand zugrundeliegenden Gesetzes als Anknüpfungspunkt für einen Verstoß gegen Art. 28 EGV nehmen. Das hieße letztlich, den ws Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 48. Der Name der Formel geht auf das Urteil EuGH-Dassonville, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 zurück, in der der EuGH feststellte, Maßnahmen gleicher Wirkung i. S. d. Art. 28 seien .. (j)ede Handelsregelung der Mitgliedstaaten. die geeignet ist, den innergemeinscluJftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, .. . " (Tz. 5). 107 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten , S. 49; Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 90 f. 1os Dafür spricht die ratio legis von Art. 28 EGV (s.o . in diesem Abschnitt). 106

6 Schindler

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

Vertragsverstoß doch an dem Gesetz selbst und damit im Ergebnis am Bestand des Schutzrechtes festzumachen. In aller Regel ergibt sich also der Gemeinschaftsrechtsverstoß gerade erst aus der Ausübung des Schutzrechtes, oder anders ausgedrückt, aus der gerichtlichen Anwendung des Gesetzes. Diese Vorgänge sind zwar mittelbar auf das Gesetz zurückzuführen, Anknüpfungspunkt für den Verstoß ist aber dessen konkrete Anwendung. Solange das Gesetz eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und damit Anwendung zuläßt, darf eben noch nicht seine bloße Existenz, sondern erst die gemeinschaftsrechtswidrige Auslegung zu einem Vertragsverstoß fUhren. Nur wenn der Gesetzeswortlaut so eng und präzise ist, daß allein eine gemeinschaftsrechtswidrige Auslegung und Anwendung denkbar ist, fallen Bestand und Ausübung derart zusammen, daß für die Feststellung eines Vertragsverstoßes bereits an das Gesetz und damit den Bestand selbst angeknüpft werden kann.

Diese Auffassung steht auch im Einklang mit der neueren Rechtsprechung des EuGH. In der Entscheidung Danzinger/Jdeal Standard (,Ideal Standard 11') knüpft der Gerichtshof zur Bestimmung der Voraussetzungen für die Annahme eines Hindernisses ftir den freien Warenverkehr zwar unmittelbar an die innerstaatliche Gesetzgebung an 109• Er kommt jedoch zu dem Ergebnis der Nichtanwendung der Vorschrift im konkreten Fallaufgrund des Erschöpfungsgrundsatzes 110• Entscheidend war somit auch in diesem Fall gerade nicht schon die Existenz der Vorschrift selbst, sondern ihre Anwendung in dem bestimmten Fall. Mit anderen Worten ging es nicht um den Bestand der Vorschrift selbst, sondern um die Ausübung der aus ihr folgenden Rechte unter Zugrundelegung eines bestimmten Sachverhaltes m. Auch in einer seinen jüngsten Entscheidungen spricht der EuGH im Tenor ausdrücklich jeweils von "der Anwendung einer nationalen Vorschrift" 112 bzw. davon, daß sich "Markeninhaber auf das Markenrecht berufen " 113, und knüpft damit wiederum nicht an das Gesetz selbst, sondern an die Ausübung des darin enthaltenen Rechtes im konkreten Einzelfall an. Damit stellt das Urteil als Einzelfallentscheidung den Ursprung eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes dar, wenn und soweit es auf einer gemeinschaftsrechtswidrigen Auslegung des gesetzlichen Schutzrechtes beruht. Demzufolge ist in all diesen Fällen, in denen die fragliche einzelstaatliche Regelung auch eine mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbarende Auslegung zuläßt, 109 EuGH-Danzingerlldeal Standard, Rs. C-9/93, Slg. 1994, 2837, Tz. 33, wobei der EuGH an die Entscheidung Centrafarm/Winthrop, Rs. 16/74, Slg. 1994, 1183, Tz. 9/11 anknüpft. 110 EuGH-Danzinger/Jdeal Standard, Rs. C-9/93, Slg. 1994,2837, Tz. 34. 111 Insoweit widersprüchlich Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 49 und Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 90 f. 112 EuGH-Phyteron International SA/Jean Bourdon SA, Rs. 352195, Slg. 1997, 1-1729 (1750); vgl. hierzu Gippini-Fournier, CMLRev. 1998, S. 947 ff.; vgl. hierzu Clark, European Intellectual Property Review 1998, S. 328 ff. 113 EuGH-Londersloot/Ballantine &Son Ltd., Rs. 349/95, Slg. 1997,1-6227 (6262).

Il. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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allein danach zu fragen, ob zulässigerweise an das Urteil des nationalen Gerichtes als staatliche Maßnahme angeknüpft werden kann. Sollte dies nicht der Fall sein, käme zur Begründung eines Vertragsverstoßes tatsächlich nur noch die Initiative der Privatperson in Betracht, die sich auf das nationale Markenrecht beruft, mit der Folge, daß man auch in bezug auf Art. 28 EGV von der Existenz einer unmittelbaren Drittwirkung ausgehen müßte.

(2) Die Entscheidung des mitgliedstaatliehen Gerichtes Soweit sich die beschränkende Wirkung erst aufgrund der Gesetzesauslegung durch den Richter ergibt, kommt als staatliche Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art. 28 EGV allein das Urteil in Betracht. Grundsätzlich sind alle staatlichen Organe- also auch die Judikative- als Träger der öffentlichen Gewalt im Rahmen ihrer Zuständigkeit an die Grundfreiheiten gebunden 114• Dem steht nicht entgegen, daß auch im Bereich der gewerblichen Schutzrechte die Gerichte erst auf private Initiative hin tätig werden. Der verbindliche Richterspruch bleibt die notwendige Voraussetzung dafür, daß das private Vorgehen beschränkende Wrrkung entfaltet 115 • Dieser handelsbeeinträchtigenden und damit integrationsgefährdenden Wirkung des Urteils steht auch sein Einzelfallcharakter nicht entgegen 116• Würde man Urteile allein aufgrund dessen aus der Bindung an Art. 28 EGV entlassen, wäre einer Umgehung der gemeinschaftsrechtlichen Pflichten mit Hilfe der Rechtsprechung Tür und Tor geöffnet 117• Dem folgend stellt der EuGH in der Rs. Dansk Supermarked/ lmerco fest, daß die Art. 28 und 30 EGV so auszulegen sind, ., ... daß die Gerichte eines Mitgliedstaates nicht befugt (sind), aufgrundeines Urheberrechts . . . den Vertrieb einer durch eines dieser Rechte geschützten Ware zu untersagen"us.

Im Ergebnis besteht also mit dem Urteil eines nationalen Gerichtes ein tauglicher Anknüpfungspunkt an staatliches Handeln. Was die Reichweite der Bindung mitgliedstaatlicher Gerichte an die Grundfreiheiten anbelangt ist jedoch darauf hinzuweisen, daß diese nicht unbeschränkt gelten kann. Über Art. 10 Abs. 2 EGV sind die Gerichte nicht etwa an ein bestimmtes Ergebnis gebunden, sondern lediglich im Hinblick auf die Auslegung der nationalen Gesetze, die gemeinschafts114 EuGH-Colson und Kamann/NRW, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, Tz. 26; EuGH-Dori/ Recreb, Rs. C-91/92, Slg. 1994, 1-3325, Tz. 26; GTE-Müller-Graff, Vorb. Zu Art. 28 bis 37, Rn. 12; Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 93. m Schtlefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 92. 116 So aber GI H-Matthies, Art. 28, Rn. 5. 117 Schtlefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 93. us EuGH-Dansk Supermarkedllmen:o, Rs. 58/80, Slg. 1981, 181, Tz. 12 (Hervorhebung vorn Verf.).

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

rechtskonform zu erfolgen hat 119• Was aber rein vertragliche Ansprüche zwischen Privaten anbelangt, so ist zu konstatieren, daß sich eine solche nur dann begründen ließe, wenn man auch eine unmittelbare Drittwirkung bejaht. Nachdem vorliegend gerade deren Existenz diskutiert wird, muß die Frage hier offen bleiben, will man sich nicht dem Vorwurf des Zirkelschlusses aussetzen. Zur Frage der Bindung der nationalen Gerichte läßt sich daher mit Bestimmtheit lediglich die Existenz einer mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten feststellen. Mit anderen Worten: Die Grundfreiheiten wirken indirekt über die dem Richter obliegende gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts auf den Richterspruch ein. Ob sie auch unmittelbar zwischen den Privaten, d. h. auch im Rahmen von rein vertraglichen Ansprüchen gelten, muß hier noch offen bleiben. Diese Schlußfolgerung reicht jedoch aus, um im Ergebnis feststellen zu können, daß im Bereich der gewerblichen Schutzrechte mit dem Urteil des nationalen Gerichtes ein staatlicher Akt gegeben ist, an den zur Feststellung eines staatlichen Verstoßes dann zulässigerweise angeknüpft werden kann, wenn und soweit das Urteil auf einer gemeinschaftsrechtswidrigen Auslegung eines nationalen Gesetzes beruht. (3) Die private Initiative der Rechtsausübung als Verstoßeine zulässige Subjektivierung des Diskriminierungsbegriffes in Art. 30 Satz 2 EGV? Da mit dem Urteil ein staatlicher Akt als tragfähiger Anknüpfungspunkt ftir eine Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit gegeben ist, setzt die Rechtsprechung zu den gewerblichen Schutzrechten jedenfalls nicht notwendigerweise die Anerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV voraus. Konträr dazu leiten Beflirworter eine unmittelbare Drittwirkung aber gerade aus dieser Rechtsprechung ab 120• Die Entscheidung, ob ein gegebenes gewerbliches Schutzrecht ausgeübt wird oder nicht, obliege dem einzelnen allein und könne deshalb nicht dem Staat zugerechnet werden 121 • Diesem Argument liegt eine subjektive Auslegung des Diskriminierungsbegriffes in Art. 30 Abs. 2 EGV zugrunde, womit folglich auch der einzelne zum Normadressaten wird. Eine solche Bindung würde nach der Vertragssystematik allerdings voraussetzen, daß der einzelne auch an Art. 28 EGV gebunden ist, mit anderen Worten, daß Art. 28 EGV unmittelbare Drittwirkung entfaltet 122• So auch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 53. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 287 ff. (290). 121 Steindorff, FS Lerche, S. 575 (581 f.). 122 Auf diesen Zusammenhang verweisen auch Roth, FS Everling, S. 1233, und Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 55, Fn. 129, die im Ergebnis aber eine unmittelbare Drittwirkung des Art. 28 EGV ablehnen. 119

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II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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Wie oben 123 gezeigt, enthält insbesondere die ältere Rechtsprechung des EuGH zu den gewerblichen Schutzrechten Formulierungen, die so ausgelegt werden könnten, daß der Gerichtshof tatsächlich an den privaten Akt der Inanspruchnahme des Schutzrechtes anknüpft, wenn er einen Sachverhalt an Art. 28 EGV überprüft. Es sei hier nur noch einmal auf die Rs. Terrapin/Terranova verwiesen, in welcher der EuGH feststellte, daß vom nationalen Gericht zu überprüfen sei, ob der Inhaber des Schutzrechtes dieses mit ,gleicher Strenge' ausübe. 124 Ein Verstoß gegen Art. 30 Abs. 2 EGV kommt für den EuGH auch dort in Betracht, wo der Rechtsinhaber auf die künstliche Abschottung der Märkte abzielt, wie beispielsweise in dem Fall, daß ein Unternehmen sein Produkt in zwei Mitgliedstaaten jeweils unter verschiedenen Namen und zu verschiedenen Preisen vertreibt, um dann gegen einen Konkurrenten vorzugehen, der in dem einen Mitgliedstaat die billige Version einkauft, diese umverpackt und unter Hinweis auf den Hersteller in dem anderen Mitgliedstaat vertreibt 125 • Demgegenüber erklärte der EuGH aber in seiner jüngeren Rechtsprechung explizit, daß nicht die Rechtsausübung selbst den Verstoß begründet, sondern die das Abwehrrecht begründende Anwendung der nationalen Gesetzgebung 126• Darin wird zu Recht die eindeutige Entscheidung gegen einen subjektiven Diskriminierungsbegriff in Art. 30 Abs. 2 EGV gesehen 127• Angesichts der wechselnden Formulierungen in der früheren Rechtsprechung, läßt die seither bestehende Konstanz des EuGH, an die Rechtsvorschrift bzw. an deren Anwendung durch das nationale Gericht anzuknüpfen 128, auch keinen anderen Schluß zu 129• b) Die sonstige Rechtsprechung zu Art. 28 EGV Eine ähnliche Entwicklung vollzog der EuGH auch in den übrigen Fällen zu Art. 28 EGV, die Raum für eine Lösung über eine unmittelbare Drittwirkung geboten hätten. Die prominenteste Entscheidung war dabei die Rs. Dansk Supermarked, Siehe oben in diesem Kapitel unter II., 2., a), bb). EuGH-Terrapin/Terranova, Rs. 119/75, Slg. 1976, 1039, Tz. 4. m EuGH-Centraftinn/American Home Products, Rs. 3/78, Slg. 1978, 1823, Tz. 19/22. 126 EuGH-Basset, Rs. 402/85, Slg. 1987, 1747, Tz. 16; im Ansatz genauso EuGH-Tournier, Rs. 395/87, Slg. 1989, 2521, Tz. 15. 127 Roth, FS Everling, S. 1234; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 55; White, CMLRev. 26 (1989), 267; demgegenüber qualifiziert Steindorff, als Verfechter einer unmittelbaren Drittwirkung, die Judikatur lediglich als unklar (in: EG-Vertrag und Privatrecht, S. 288). 12s EuGH-C/CRA/Renault, Rs. 53/87, Slg. 1988, 6039, Tz. 10 f.; EuGH-Toumier, Rs. 395/87, Slg. 1989,2521, Tz. 15; EuGH-SUCAL/Hag (,Kaffee Hag//'), Rs. C-10/89, Slg. 1990, 1-3711, Tz. 20; EuGH-Danzinger/ldeal-Standard (Ideal Standard II), Rs. C-9/93, Slg. 1994,1-2789, Tz. 19 und 33 ff. 129 So auch Roth, FS Everling, S. 1234 und- wohl ihm folgend- Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 56. 123

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

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die Formulierungen zugunsten einer unmittelbaren Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheil zu enthalten scheint. aa) Die Rs. ,Dansk Supermarked/lmerco' 130 In dem Ausgangsverfahren ging es um die Frage, ob sich der dänische Besteller einer in England produzierten Ware gegen den Vertrieb der gleichen Ware (zweiter Wahl) durch einen inländischen Konkurrenten unter Berufung auf dänisches Unlauterkeitsrecht wehren darf, wenn in seinem Vertrag dem Vertreiber die anderweitige Lieferung der Ware nach Dänemark untersagt und der Verkauf in England nur unter der Bedingung gestattet worden war, daß die Ware nicht nach Dänemark ausgeführt wird. Die in dem Urteil getroffene Aussage des Gerichtshofes: .. Vereinbarungen zwischen Privaten dürfen in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen des Vertrages über den freien Wa~nverkehr abweichen " 131 ,

wurde von den Befürwortem einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV als eindeutig zu ihren Gunsten sprechendes Votum angesehen 132• Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Interpretation jedoch als unzutreffend. Gewichtige Anhaltspunkte sprechen dafür, daß der EuGH in Wirklichkeit an dieser Stelle lediglich eine gemeinschaftsrechtskonfonne Auslegung des dänischen Unlauterkeilsrechts vorgenommen hat mit der Folge, daß auch dieser Fall der mittelbaren Drittwirkung zuzuordnen wäre. So befindet sich der zitierte Erwägungsgrund in einem Abschnitt des Urteils, der mit dem Titel ,Zur Anwendung der Vermarktungsvorschriften' überschrieben ist. Darin knüpft der EuGH zunächst an seine Feststellung in der Rs. Beguelin an, wonach die bloße Einfuhr einer in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebrachten Ware nicht als unlautere Handelspraxis qualifiziert werden kann133 • Die im Anschlußdarangetroffene Aussage über Vereinbarungen Privater wurde daher nicht isoliert getroffen, sondern ist Teil der gemeinschaftskonformen Auslegung von nationalem Unlauterkeitsrecht durch nationale Gerichte 134 • Das ergibt sich auch aus dem Wortlaut von Teilziffer EuGH-Dansk Supermarked, Rs. 58/80, Slg. 1981, 181. EuGH-Dansk Supermarked, Rs. 58/80, Slg. 1981, 181, Tz. 17. 132 Steindorjf. Drittwirkung der Grundfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, FS Lerche, S. 578; ders., EG-Vertrag und Privatrecht, S. 282/283; Oliver; Free Movement of Goods in the E.E.C. under Articles 30 to 36 of the Rome Treaty, S. 53; Moench, NJW 1982 2689, s. 2690. 133 EuGH-Beguelin, Rs. 22171, Slg. 1971,949. 134 Donner; S.E.W.I982, S. 371; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 59; Roth, FS Everling, S. 1235; Schrödermeier; GRUR Int. 1987, S. 87; darüber hinaus weist Roth zu Recht darauf hin, daß die Vereinbarung zwischen Hersteller und Besteller als Vorfrage des auf dänisches UnlauterkeilSrecht gestützten Anspruchs nach ex-Art. 85 EGV geprüft werden müsse (a. a. 0., S. 1236). 130 131

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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17 (a.E.) der Entscheidung, wo der EuGH die Konsequenz aus seiner oben zitierten Aussage darin sieht, daß die private Vereinbarung .,nicht geltend gemacht oder berücksichtigt werden konn, um den Absatz. dieser Ware als eine unz.ulässige oder unlautere HandelspraJCis z.u qualijiz.ieren" 135•

Dementsprechend geht auch GA Capotorti nur von einer Bindung der staatlichen Maßnahme (hier der Anwendung des dänischen Gesetzes durch das nationale Gericht) aus, wenn er prüft, ., ... inwieweit derartige nationale Maßnahmen, ... , aufgrundder Ausnahmevorschrift des Artikels 36 EWG-Vertrag (jetz.t: Art. 30) z.ugelassen werden können " 136.

Somit stellt das Urteil Dansk Supermarkedl /merco weder einen Präzedenzfall für, noch einen .,Ausreißer" 131 in Richtung einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV dar. Vielmehr handelt es sich lediglich um ein Beispiel für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung von nationalem Recht, d. h. um einen Fall der mittelbaren Drittwirkung.

bb) Die Entscheidungen ,van de Haar' 138,, Vlaamse Reisebureaus'139 und ,Bayer/Süllhöfer'140 Angesichts dieser Feststellungen war es nur folgerichtig, daß der EuGH in der nachfolgenden Rechtsprechung den Adressatenkreis des Art. 28 EGV dann auch ausdrücklich auf die Mitgliedstaaten begrenzt. Eine .,Nichtbeachtung" 141 oder ein "Abweichen " 142 von seinen Erwägungen in der Rs. Dansk Supermarked/ /merco war entgegen einiger Stimmen im Schrifttum gar nicht notwendig. Es handelte sich vielmehr um eine Klarstellung friiherer mißverständlicher Passagen. Im Urteil , van de Haar' klärte der EuGH dann die Abgrenzung der Adressatenkreise von Art. 81 und Art. 28 EGV. Ersterer richte sich an Unternehmen und deren Vereinigungen und diene der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Wettbewerbes innerhalb des Gemeinsamen Marktes 143 • Letzterer wende sich gegen natioHervorhebungen v. Verf. Schlußanträge von GA Capotorti zu EuGH-Dansk Supermarked/lmerco, Rs. 58/80, Slg. 1981, 197 (199 f.), 2. 137 So die zunächst mißverständliche Formulierung von Roth, in: FS Everling, 1235, der dann aber ebenfalls zu dem Schluß kommt, daß es sich letztlich nur um eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung von dänischem Unlauterkeilsrecht handelt. 138 EuGH-van de Haar, Rs. 177 und 178/82, S1g. 1984, 1797. 139 EuGH-WR/Sociale Dienst, Rs. 311/85, S1g. 1987,3821. 140 EuGH-Bayer I Süllhöfer, Rs. 65/86, S1g. 1988, 5249. 141 Roth, FS Everling, S. 1236. 142 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 284. 143 EuGH-van de Haar, Rs. 177 und 178/82, Slg. 1984, 1797, Tz. 11 und 14. 13S

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

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nale Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die den freien Warenverkehr behindern 144• Da jedoch eine staatliche Maßnahme Gegenstand des Verfahrens war, ist relativierend anzumerken, daß es sich bei den Ausführungen zum Adressatenkreis des Art. 28 EGV lediglich um obiterdicta handelt 145 • Letzte Zweifel beseitigten jedoch zwei weitere Urteile. In der Rs. , Vlaamse Reisebureaus' wurden dem EuGH sowohl eine staatliche Verordnung zu Verhaltensregeln von Reisebüros als auch die von dem zuständigen Berufsverband aufgestellten und für die Mitglieder ebenfalls verbindlichen Verhaltensregeln vorgelegt. Was die Überprüfung an Art. 28 EGV betraf, erklärte der EuGH explizit, daß die Regeln der Warenverkehrsfreiheit nur staatliche Maßnahmen betreffen und sich nicht auf Verhaltensweisen von Unternehmen beziehen 146. Eine unmittelbare Drittwirkung wurde somit ausdrücklich verneint 147• Ebenso deutlich nahm der EuGH in der Rs. BayerI Süllhöfer gegen eine unmittelbare Drittwirkung Stellung. Dem EuGH war die Vereinbarkeit einer Nichtangriffsabrede zwischen zwei Unternehmen mit Gemeinschaftsrecht zur Vorabentscheidung vorgelegt worden. Wieder lehnte der EuGH die Anwendung von Art. 28 EGV mit dem Argument ab, diese Norm betreffe nur staatliche Maßnahmen. Demgegenüber fänden die Art. 81 ff. EGV auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen Anwendung 148 • Damit bestätigt der EuGH seine ablehnende Haltung gegenüber einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV, da er diesen nicht etwa auf der Konkurrenzebene gegenüber den Art. 81 ff. EGV zurücktreten ließ, sondern schlichtweg für nicht anwendbar erklärte. c) Ergebnis

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den gewerblichen Schutzrechten läßt sich keine Notwendigkeit für die Anerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV ableiten. In seinen Urteilen unterscheidet der EuGH zwischen dem Bestand und der Ausübung dieser Rechte, wobei er nur letzteren Aspekt am Gemeinschaftsrecht mißt. Auch wenn die Inanspruchnahme eines solchen Ausschließlichkeitsrechtes immer auf einer privaten Initiative beruht, konnte gezeigt werden, daß der EuGH gerade nicht an dieses Element anknüpft, um gegebenenfalls die Anwendbarkeit von Art. 28 EGV zu begründen. Die fehlende Notwendigkeit dafür ergibt sich daraus, daß mit dem Schutzgesetz und dem erwirkten Urteil zwei originär staatliche Akte EuGH-van de Haar, Rs. 177 und 178/82, Slg. 1984, 1797, Tz. 12 und 14. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 61. 146 EuGH-WR/Sociale Dienst, Rs. 311/85, Slg. 1987,3821, Tz. 30. 147 So auch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 63; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 284/285, erkennt zwar die ablehnende Haltung des EuGH in dieser Rechtssache an, beruft sich aber auf die vermeintliche Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung. 148 EuGH-Bayer/Süllhöfer, Rs. 65/86, Slg. 1988,5249, Tz. 11 144 14S

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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als mögliche Anknüpfungspunkte für eine gegebene Beeinträchtigung von Art. 28 EGV vorliegen. Entgegen einiger Stimmen in der Literatur muß das Gesetz jedoch ausscheiden, weil ansonsten im Ergebnis doch wieder an den Bestand des Schutzrechtes an sich angeknüpft würde, was dem in Art. 30 EGV niedergelegten eindeutigen Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers zuwiderliefe. Einen zulässigen Anknüpfungspunkt stellt aber das Urteil dar, denn auch die Judikative ist grundsätzlich an das Gemeinschaftsrecht gebunden. Anders als bei direktem Rückgriff auf das Schutzgesetz setzt man sich damit auch nicht in Widerspruch zu der gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Tolerierung des Bestands solcher Rechte, denn das Urteil enthält lediglich die Auslegung und Anwendung des Schutzgesetzes in einem konkreten Einzelfall, so daß es dessen Bestand an sich unberührt läßt, wenn man eine solche Entscheidung als Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht qualifiziert. Zudem ist es auch gerade erst der Richterspruch der die Verletzungswirkung herbeiführt, indem er einer privaten Inanspruchnahme im konkreten Einzelfall Rechtskraftwirkung verleiht. Damit handelt es sich geradezu um den klassischen Fall einer nur minelbaren Drittwirkung. Die mit dieser Erkenntnis einhergehende Beschränkung des Adressatenkreises von Art. 28 EGV auf die Hoheitsgewalt findet ihre konsequente Fortsetzung in der Rechtsprechung des EuGH seit der Rs. ,Dansk Supermarkedllmerco '.

3. Bewertung der Rechtsprechungsanalyse Auch wenn Existenz und Umfang der unmittelbaren Drittwirkung in der Lehre nach wie vor umstritten sind, stellt sich doch die Frage, warum der EuGH, der sie schon bislang - zumindest zu den Art. 39, 43 und 49 EGV - im Ergebnis grundsätzlich anerkennt, nicht auch im ,Erdbeerstreit' diesen Lösungsweg gewählt hat, sondern stattdessen die mitgliedstaatliche Vertragsverletzung durch Unterlassen schuf.

a) Die Grenzen der bisherigen Rechtsprechung Vom Standpunkt des EuGH aus betrachtet, läßt sich dessen Zurückhaltung gegenüber einer Lösung auf der Grundlage einer unmittelbaren Drittwirkung nicht mit der Tatsache erklären, daß er bisher zwar bzgl. der Art. 39, 43 und 49 EGV, nicht aber hinsichtlich Art. 28 EGV eine unmittelbare Drittwirkung anerkannt hat. Bei der Wahl dieser Lösung wäre eine Fortentwicklung der bestehenden Dogmatik ebenso notwendig gewesen wie bei der ,Neuschaffung' des Vertragsverstoßes durch Unterlassen. Der Gerichtshof mußte also ohnehin den bisher in seiner Rechtsprechung gesetzten dogmatischen Rahmen überschreiten. Angesichts der bisherigen Ergebnisse wäre es auf den ersten Blick wohl eleganter und auch dogmatisch

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

konsequenter gewesen, wenn der Gerichtshof, anstelle der Einführung einer weiteren, völlig neuen dogmatischen Figur des Vertragsverstoßes durch Unterlassen, ganz einfach seine Rechtsprechung zur unmittelbaren Drittwirkung auch auf Art. 28 EGVausgedehnt und damit im Ergebnis lediglich vereinheitlicht hätte 149 ein Argument von freilich geringem Gewicht.

b) Die Verfahrensart Rein formal betrachtet, war für den EuGH im ,Erdbeerstreit' der Lösungsweg über die Begründung einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV aber schon deshalb nicht gangbar, weil er sich im Rahmen des angestrengten Verfahrens nach Art. 226 EGV nur mit einem möglichen Vertragsverstoß des Mitgliedstaates Frankreich auseinanderzusetzen hatte. Eine Haftung von Privatpersonen (bzw. juristischen Personen des Privatrechts) ist in diesem Verfahren keine Option.

An dieser Stelle sei zur Klarstellung darauf hingewiesen, daß es zwar in der Tat schon friiher in der Rechtsprechung Fälle gegeben hat, in denen ein Mitgliedstaat passivlegitimiert und schlußendlich auch verurteilt worden war, obwohl der Beschränkung das Verhalten von Privaten zugrunde lag. (So waren beispielsweise bereits im sog.• Weinkrieg' 150 nicht die gewalttätigen Protestaktionen der französischen Weinbauern gegen die stetig steigenden und damit ihre Existenz bedrohenden Weinimporte aus Italien Gegenstand des Verfahrens vor dem EuGH, sondern die staatliche Reaktion darauf, die aus verschärften und schleppend durchgeführten Zollkontrollen bestand). Der entscheidende Unterschied zum ,Erdbeerstreit' liegt jedoch in der Form des mit den privaten Aktionen verbundenen staatlichen Verhaltens. Im , Weinkrieg' hatte sich der Staat den Verletzungserfolg durch eigene aktive Handlungen quasi zueigen gemacht, so daß der Gerichtshof an ein aktives Tun des Staates anknüpfen und damit im bekannten Priifungsschema bleiben konnte 151 • IS2. Im ,Erdbeerstreit' aber ermöglichte der Staat lediglich durch seine Passivität (also 149 Zu den gemeinschaftsrechtstheoretischen Aspekten der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten s.u. Kapitel 5, 1., 2. 1~o EuGH-Kommissionl Frankreich (, Weinkrieg '), Rs. 42/82, Slg. 1983, 1013. lSl Zu dieser Abgrenzung vgl. auch GA Lenz in seinen Schlußanträgen zur Rs. 265/95, Slg. 1997, 1-6959, Tz. 6 und 7, in denen er ebenfalls diese beiden Fälle gegeneinander abgrenzt und zutreffend darauf hinweist, daß deshalb nicht die Tatsache, daß die Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit privat verursacht wurden, ein Novum darstellen, sondern die Frage, ob ein Mitgliedstaat für solche privaten Akte haften muß. 152 Als weiteres Beispiel für einen Fall, in dem ein Mitgliedstaat eine eigene Verantwortlichkeit flir ursprünglich privat ausgelöste private Beeinträchtigungen dadurch begründete, daß er sich diese durch eigene aktive Handlungen zueigen gemacht hatte, sei hingewiesen auf EuGH-Kommissionlltalien, Rs. C-280/95, Slg. 1998, 1-271, als Italien aufgrund massiver Streiks im Transportgewerbe unzulässige, weil gegen Beihilferecht verstoßende Steuervergünstigungen eingeführt hatte (siehe dort 1-276, Tz. 11); vgl. zu dieser Entscheidung Stambach, European Law Reporter 1998, S. 69.

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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durch Unterlassen), daß die immer noch originijr privaten Handlungen ihre Beschränkungswirkung entfalteten und fortwirkten. Er trat also gerade nicht durch eigenes Handeln dazwischen. Nachdem auch ein Klageverfahren von Privaten gegen Private wegen Verletzung des EGV im Gemeinschaftsrecht fehlt, hätte der EuGH bei einem Rückzug auf die unmittelbare Drittwirkung von Art. 28 EGV folglich darauf warten müssen, daß die geschädigten Privatpersonen gegen die Schädiger klagen, und daß es im Rahmen dieses nationalen Verfahrens zum Vorlagebeschluß im Sinne von Art. 234 Abs. 2 EGV kommt 153 • Aus dem Faktum, daß sämtliche der vorstehend diskutierten Fälle einer unmittelbaren Drittwirkung im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vor den EuGH gelangten, der ,Erdbeerstreit' im Gegensatz dazu aber prozessual in ein Vertragsverletzungsverfahren eingebettet war, lassen sich jedoch noch weitere Rückschlüsse auf das Verhältnis dieser dogmatischen Konstruktion zum Vertragsverstoß durch Unterlassen durch einen Mitgliedstaat gewinnen.

aa) Warum Vertragsverletzungs- statt Vorabentscheidungsverfahren?

Die oben zur Analyse der unmittelbaren Drittwirkung diskutierten Rechtssachen - bei denen es sich ausnahmslos um Vorabentscheidungsverfahren handelte - zeigen, daß Fälle bislang jeweils zur Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung führten, in denen die fragliche Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch Private als Verstoß qualifiziert, dem Staat aber nicht zurechenbar war. Geht man davon aus, daß im Grundsatz die Problemkonstellationen im ,Erdbeerstreit' und in den Fällen einer unmittelbaren Drittwirkung gleich gelagert sind, ist zu konstatieren, daß eine bereits bekannte Problematik - der Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch Private- im ,Erdbeerstreit' erstmals auch im Wege des Vertragsverletzungsverfahren zu behandeln war. Warum aber dauerte es bis zum Jahre 1997, ehe diese Entwicklung begann? Die veränderte prozessuale Einkleidung der Problematik läßt sich jedenfalls nicht einfach als verfahrensrechtliche Zufälligkeit bzw. willkürliche Verfahrenswahl abtun. Die Verlagerung beruht vielmehr auf einem grundlegenden Unterschied in den tatsächlichen Umständen der beiden Fallkonstellationen. In alljenen Fällen, in denen der EuGH bisher von einer unmittelbaren Drittwirkung ausgegangen ist- die Rs. , Walrave ', ,Dona ', , van Ameyde ', ,Haug Adrion' und, 8osman ' 154 ISJ Man kann deshalb ganz allgemein feststellen, daß dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EGV besondere Bedeutung unter dem Gesichtspunkt des Individualrechtsschutzes zukommt. Diese Funktion wurde im ,Erdbeerstreit'-Verfahren freilich dadurch ausgehebelt, daß der französische Staat in der Regel freiwillig und zügig die den Opfern der Gewaltakte entstandenen Schäden ersetzte (vgl. EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. 265/95, Slg. 1997, 1-6995, Tz. ll, sowie die Schlußanträge von GA Lenz zu dieser Rechtssache, Slg. 1997, 16985, Tz. 64 f.). IS4 Eingehend dazu oben in diesem Kapitel unter II., I.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

- lag der Ausgangspunkt der Streitigkeiten zwischen den beteiligten Privaten jeweils in den durch Vertragsschluß oder Verbandsbeitritt willentlich zwischen ihnen begründeten privatrechtliehen Beziehungen. Damit war in diesen Fällen die naheliegende Entwicklung eingetreten, daß die nationale Staatsgewalt jeweils in Form der Judikative mit dem Fall befaßt wurde, was wiederum zur Folge hatte, daß aufgeund der bestehenden Vorlagemöglichkeit nach Art. 234 Abs. 2 EGV 155 alldiese Verfahren im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vor den EuGH gelangten. Gemeinschaftsrechtlich zu bewerten war dann die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen dieser zwischen den Privaten willentlich begründeten privatrechtlichen Rechtsbeziehung. Im ,Erdbeerstreit'-Verfahren hingegen wurden die gemeinschaftsrechtlich relevanten rechtlichen Beziehungen zwischen den Geschädigten und den französischen Bauern bzw. den Gewerkschaften - die deliktischen Ansprüche - durch einen einseitigen Willensakt der Schädiger und damit gegen den Willen der Opfer begründet. Demzufolge war auf staatlicher Ebene primär die Polizeigewalt, also die Exekutive, angesprochen, um die Schädigungen zu beenden und in Zukunft zu verhindern. Mangels Vorlagebefugnis kann die Exekutive aber ihr Verhalten nicht -wie die Judikative- dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen, sondern muß allein nach eigenem Ermessen handeln. Festgestellt werden kann die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit in solchen Fällen vom EuGH erst aufgrund der sich an das Privathandeln anschließenden Mangelbartigkeit staatlichen Handeins im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens festgestellt werden - wie dies im ,Erdbeerstreit' letztendlich auch geschah 156• Mit anderen Worten perpetuierte sich zunächst die faktische Beschränkung der Grundfreiheiten durch Private in einem staatlichen Fehlverhalten (hier: Unterlassen), und nur dieser Gesichtspunkt wurde dann zum Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens. Statt der unmittelbar handelnden Person des Privatrechts war damit der Staat passivlegitimiert.

~~~ Vorlageberechtigt ist danach jedes Gericht dem sich im Rahmen eines Verfahrens eine Frage stellt, welche die Auslegung von Primär- oder Sekundärrecht oder die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane betrifft. Vorlagep.flichtig sind demgegenüber gern. Art. 177 Abs. 3 EGV nur all jene nationalen Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit ordentlichen innerstaatlichen Rechtsmitteln angreifbar sind. Damit sind zwar in erster Linie die Ietztinstanzlichen Gerichte angesprochen. Darüber hinaus trifft die Vorlagepflicht auch jedes andere Gericht, das eine Bestimmung des sekundären Gemeinschaftsrechtes nicht anwenden will, weil es sie für ungültig hält, da zu dieser Feststellung allein der EuGH befugt ist (EuGH-Foto Frost/Hauptzollamt liibeck-Ost, Rs. 314/85, Slg. 1987,4199 Tz. 15). m An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, daß natürlich auch die Opfer der Gewaltaktionen im Wege der Schadensersatzklage den nationalen Rechtsweg hätten beschreiten und damit ein Vorabentscheidungsverfahren hätte entstehen können. Vor diesem Hintergrund läßt sich auch erklären, warum der französische Staat sich regelmäßig um den zügigen Ersatz der entstandenen Schäden bemühte (EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. 265/95, Slg. 1997, 6995, Tz. 12; Schlußanträge von GA Lenz zu dieser Rechtssache, Slg. 1997, 6985, Tz. 64f.).

II. Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung

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bb) Schlußfolgerung für das Verhältnis des Vertragsverstoßes durch Unterlassen zur unmittelbaren Drittwirkung

Die bisherigen Ausführungen lassen zwar die enge Verwandtschaft zwischen der unmittelbaren Drittwirkung und dem Vertragsverstoß durch Unterlassen erkennen; ungeklärt jedoch ist noch die Frage, ob es sich dabei um zwei dogmatisch eigenständige und damit alternative Lösungen für ein und dasselbe Problem, oder um zwei zusammengehörige, weil aufeinander aufbauende Elemente einer einheitlichen Lösung handelt. Wie bereits erwähnt, hätten die von den Aktionen geschädigten Wirtschaftsteilnehmer in der Tat die Möglichkeit gehabt, ebenso wie in den Verfahren, in denen der EuGH bislang eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten bejaht hat 157, zunächst den nationalen Rechtsweg gegen die französischen Bauern bzw. die involvierten Gewerkschaften zu beschreiten. Sie hätten dann im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV eine Auslegung von Art. 28 EGV anstreben müssen, auf deren Grundlage die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der privaten Handlungen hätte festgestellt werden können. Obwohl also zur direkten Durchsetzung der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten zwischen den tangierten Privaten das adäquate Verfahren vor dem EuGH fehlt, war deren Annahme daher auch im ,Erdbeerstreit' nicht grundsätzlich unmöglich, sondern wäre ganz im Gegenteil auf exakt demselben Weg zu erreichen gewesen, wie in den oben genannten Präzedenzfällen zur unmittelbaren Drittwirkung der anderen Grundfreiheiten. Daraus läßt sich jedenfalls schließen, daß die unmittelbare Drittwirkung und der Vertragsverstoß durch Unterlassen nicht als isolierte Lösungen zusammenhanglos nebeneinander existieren, sondern dogmatisch miteinander verwoben sind. Es hängt lediglich vom jeweils angesteuerten Verfahren ab, welches der beiden Rechtsinstitute bei der Entscheidungstindung im Vordergrund steht158 • c) Ergebnis

Allein die Tatsache, daß der EuGH bis zu diesem Zeitpunkt eine unmittelbare Drittwirkung von Art. 28 EGV strikt abgelehnt hatte, erklärt noch nicht das Ausweichen auf die ebenfalls neue dogmatische Konstruktion des Vertragsverstoßes durch Unterlassen. Begründen kann man dies jedoch damit, daß die Problematik des beschränkenden Privathandeins erstmals nicht im Rahmen eines Vorabentscheidungs-, sondern eines Vertragsverletzungsverfahrens vom EuGH zu entscheiden war. 157 Die Rs., Walrave'; ,Dona'; ,van Ameyde'; ,Haug-Adrion' und ,Bosman'; dazu ausführlich oben in diesem Kapitel unter II., I. 158 Ausführlich zu der Beziehung der unmittelbaren Drittwirkung und den staatlichen Handlungspflichten siehe unten in diesem Kapitel unter lll.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

Diesem formalen Argument liegt wiederum die Tatsache zugrunde, daß im ,Erdbeerstreit' der Verletzungserfolg nicht aus einer willentlich herbeigeführten rechtlichen Beziehung zwischen den Privaten hervorging, sondern zurückzuführen war auf rein faktisches Handeln der Schädiger und somit auf eine einseitige begründete rechtliche Beziehung. Mangels Erhebung einer Schadensersatzklage vor den nationalen Gerichten, innerhalb deren es zu einer Vorlage zum EuGH hätte kommen können, blieb zur Beendigung und Unterbindung der Beschränkungen nur noch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission. Folglich war hier der Staat passivlegitimiert -und nicht die privaten Schädiger. Obwohl auch die Fälle privater Beeinträchtigungen des Gemeinschaftsrechts als solche nicht grundsätzlich neu waren, ergab sich die Notwendigkeit ftir die Einführung des Rechtsinstituts , Vertragsverstoß durch Unterlassen' daraus, daß der Staat im ,Erdbeerstreit' sich die privaten Beeinträchtigungen nicht wie in vorangegangenen Fällen durch eigenes positives Tun zueigen gemacht hatte, sondern diese schlichtweg durch Nichthandeln fortbestehen und damit fortwirken ließ. Aus alledem ergibt sich, daß die Rechtsinstitute der Unterlassungshaftung der Mitgliedstaaten und der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern im Zusammenhang zu sehen sind. Dieses Ergebnis bestätigt somit die eingangs der Untersuchung aufgestellte These, daß die Sachverhaltskonstellation des ,Erdbeerstreit'-Verfahrens in doppelter Hinsicht den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten (dort Art. 28 EGV) sprengt: Erstens wird der Verletzungserfolg unmittelbar von Privaten und damit von Subjekten herbeigeführt, die nicht zum Adressatenkreis der Grundfreiheiten gehören; zweitens stellen die Grundfreiheiten ihrem Wortlaut nach nur Unterlassungspflichten auf, wohingegen dem von den Grundfreiheiten adressierten Staat aber gerade ein Unterlassen und damit ein Verstoß gegen eine Handlungspflicht vorzuwerfen ist. Ist dann die Lösung des Problems tatsächlich -je nachdem, ob der Fall sich im Vorabentscheidungs- oder Vertragsverletzungsverfahren bewegt - entweder in der Erweiterung des Adressatenkreises auf Private, oder in der Erweiterung des Pflichtenkreises auf Handlungspflichten zu suchen? Nachdem der EuGH - in zwei anscheinend nebeneinander stehenden Entscheidungslinien - einerseits mit Hilfe der unmittelbaren Drittwirkung den Adressatenkreis und andererseits durch die Anerkennung von Handlungspflichten der Mitgliedstaaten den Pflichtenkreis der Grundfreiheiten ausdehnt, scheint er in der Tat beide Lösungswege beschreiten zu wollen. Wenn aber die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten und die Haftung der Mitgliedstaaten wegen Vertragsverstoßes durch Unterlassen dogmatische Konstrukte zur Erfassung desselben Problems sind, drängt sich die Frage auf, ob der Gerichtshof- der ja selbst in seinen Urteilen nie ausdrücklich von einer unmittelbaren Drittwirkung gesprochen hat dann mit der Einführung des mitgliedstaatliehen Vertragsverstoßes durch Unterlassen der Theorie einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten nicht doch

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten

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eine Absage erteilt hat. Eine Stellungnahme zu dieser Frage findet sich jedoch weder in den Schlußanträgen von GA Lenz noch im Urteil selbst 159• Es ist daher festzuhalten, daß Gerichtshof und Generalanwalt in ihrer Argumentation an entscheidender Stelle zu kurz greifen, denn angesichts der eben dargelegten Verwandtschaft der beiden Rechtsinstitute ist es unumgänglich, auch deren Zusammenspiel dogmatisch zu klären. Jedenfalls unzutreffend ist die Feststellung von Meurer; daß das ., ... Postulat nach einer mitgliedstaatliehen lnteTVention zeigt, dllß im vorliegenden Fall eine mögliche Drittwirkung der Grundfreiheiten nicht angesprochen ist" 160•

Auch wenn die Lösung im konkreten Fall des ,Erdbeerstreit'-Verfahren ohne Hilfe einer unmittelbaren Drittwirkung gefunden werden konnte, spricht der ,Erdbeerstreit' die Problematik jedenfalls als Abgrenzungsfrage durchaus an - Gerichtshof, Generalanwalt und bisher auch die Literatur behandeln sie lediglich nicht.

111. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten zugunsten der Grundfreiheiten: Alternativlösungen oder zwei Elemente eines einheitlichen Lösungssystems? 1. Einleitung In den vorstehenden Ausführungen wurde aufgezeigt, daß zwischen den Rechtsinstituten der unmittelbaren Drittwirkung und des mitgliedstaatliehen Verstoßes gegen die Grundfreiheiten durch Unterlassen ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, da beide ein Lösungsmodell ftir ein und dieselbe Fallkonstellation darstellen. Daranschließt sich unmittelbar die Frage an, ob es sich bei den beiden Rechtsin-· stituten um zwei konkurrierende, weil eigenständige Lösungsmodelle oder um zwei Elemente eines einheitlichen Lösungssystems handelt. Die Beantwortung dieser Frage setzt zunächst einmal voraus, daß der bislang lediglich festgestellte dogmatische Zusammenhang zwischen den beiden Rechtsfiguren konkretisiert wird. Erst vor diesem Hintergrund läßt sich dann beurteilen, ob die unmittelbare Drittwirkung bzw. die mitgliedstaatliche Unterlassungshaftung jeweils flir sich genommen zur vollständigen Erfassung der ihnen gemeinsam zugrundeliegenden Probtets9 In Anbetracht der ansonsten ausführlichen Auseinandersetzung von GA Lenz mit der jeweiligen Rechtsprechung zu den verschiedenen Facetten der ,Erdbeerstreit'-Problematik läßt sich aus dieser Lücke aber wohl lediglich schließen, daß der eben aufgezeigte Zusammenhang offenbar übersehen wurde. 160 Meurer, EWS 1998, S. 197.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

matik geeignet und ausreichend sind, so daß eines der beiden Rechtsinstitute verzichtbar wäre.

2. Stellungnahmen in der Literatur zu den beiden Rechtsinstituten Ausgangspunkt einer Erörterung des Verhältnisses zwischen der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten und der mitgliedstaatliehen Unterlassungshaftung soll deren Diskussion durch die Lehre sein. Eine Analyse der dort vertretenen dogmatischen Einordnung der beiden Rechtsinstitute soll die Grundlage für eine Identifikation des dogmatischen Zusammenhangs zwischen den beiden bilden, der im Anschluß daran theoretisch zu bewerten ist.

a) Stellungnahmen zur mitgliedstaatliehen Unterlassungshaftung In den bislang wenigen Besprechungen des ,Erdbeerstreit'-Urteils wurde eine Verbindung zur Frage der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten überhaupt nicht hergestellt 161 , so daß Aussagen zu eventuellen Parallelen in den rechtlichen Grundsatzfragen vollständig fehlen. Ganz im Gegenteil wird vereinzelt sogar eine ausdrückliche Abgrenzung zwischen den beiden Rechtsinstituten getroffen, indem behauptet wird, daß

" ... (m)it dieser Bestimmung der Entstehungsvoraussetzungen einer Schut"l/)jlicht ... keine Bindung von Privatpersonen an die Freiheit des Warenverkehrs begründet (wird) " 162•

Schon an dieser Stelle ist auf die Angreifbarkeil dieser These hinzuweisen, da Frankreich doch gerade dazu verpflichtet wurde, die Warenverkehrsfreiheit gegen die Angreifer zu schützen bzw. durchzusetzen. Jedenfalls im Ergebnis führt ein dementsprechendes Vorgehen aus Sicht des privaten Verursachers der Beschränkungen unzweifelhaft zu dessen Bindung an Art. 28 EGV, da Frankreich dazu verpflichtet wird, deren Verstöße für rechtswidrig zu erklären und diese Entscheidung v.a. auch durchzusetzen 163 • Besondere Beachtung verdient jedoch ein anderer Aspekt, den Meurer in seiner Stellungnahme- der bisher ausführlichsten zum ,Erdbeerstreit'-Urteil- aufwirft. 161 Lindner, BayVBI. 1999, S. 337 ff.; Meier, EuZW 1998, S. 87 f.; Meurer, EWS 1998, S. 196 ff., der eine solche Verbindung sogar ausdrücklich verneint (S. 197); Schärf, EuZW 1998, S. 617; Szczekalla, DVBI. 1998, S. 219 ff., der jedoch die Grundrechtsrelevanz der Schutzpflichten aufzeigt (S. 221 ff.); Kühling, NJW 1999, S. 403 ff. 162 Meurer, EWS 98, S. 199. 163 Dazu ausführlich unten in Kapitel 5, III.

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten

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Anband eines Beispiels, in dem eine Demonstration zu einer Beschränkung von Art. 28 EGV führt, weist er darauf hiri, daß die mit dem ,Erdbeerstreit '-Verfahren zugunsten der Grundfreiheiten begründbaren Handlungspflichten der Mitgliedstaaten grundsätzlich in Widerstreit zu den Grundrechten der Störer treten 164 - werdemonstriert, hat schließlich prinzipiell die Versammlungsfreiheit auf seiner Seite165 • Meurers Schlußfolgerung, nationales Streikrecht rechtfertige allenfalls eine Importbehinderung, nie aber die Behinderung eines Transits ausländischer Waren, die für ein anderes Land bestimmt sind, überzeugt angesichts dieser Erkenntnis jedoch nicht, da er eine Begründung dafür schuldig bleibt, warum die Grundfreiheiten im letzteren Fall per se gegenüber dem Grundrecht Vorrang genießen sollen. Jedenfalls dann, wenn man - entgegen Meurer- davon ausgeht, daß in dieser Konstellation keineswegs nationales Veifassungsrecht, sondern das Gemeinschaftsgrundrecht der Versammlungsfreiheit 166 heranzuziehen ist167, läßt sich die von ihm unterstellte Rangordnung innerhalb der beiden Arten von Freiheitsgewährleistungen des Gemeinschaftsrechts - Gemeinschaftsgrundrechte und Grundfreiheiten -nicht halten. Auch die pointierte Darstellung von Meier, daß nach den Feststellungen des Gerichtshofs die Grundfreiheiten scheinbar alle anderen Rechtsgüter überragten, so daß die Polizei notfalls auch zum Schutz der Grundfreiheiten schießen müsse 168 , macht deutlich, daß und worin die Handlungs- bzw. Schutzpflichten zugunsten der Grundfreiheiten selbst ihre Grenze finden müssen: in den Gemeinschaftsgrundrechten der Störer169• Damit wird aber auch deutlich, daß es irreführend ist, wenn man, wie Meurer, die Gemeinschaftsgrundrechte nur unter dem Gesichtspunkt der Rechtfertigung der Verletzung einer zugunsten der Grundfreiheiten bestehenden Schutzpflicht anspricht. Geht man davon aus, daß die Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts 170 dem Primärrecht zuMeurer, EWS 98, S. 199. Auch wenn nach deutschem und europäischem Recht wohl Gewalttäter im konkreten Fall des ,Erdbeerstreits' nicht grundrechtlich geschützt wären; zum deutschen Recht: Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn 697 ff.; Sachs-Höfling, Art. 8, Rn. 28 ff.- wonach Demonstrationen mit gewalttätigem, aufrührerischem Verlauf nicht in den Schutzbereich fallen; die Verwirklichung von Straftaten allein reicht dafür jedoch nicht aus (BVerfGE 73, 206 (248); so aber Kloepfer, in: lsensee/Kirchhof, Hdb.StR VI, S. 760); zur EMRK: Frowein, in ders./ Peukert, Art. 11, Rn. 4, der sogar schon Blockadeversarnmlungen, mit denen der Verkehr oder bestimmte Gebäude abgeriegelt werden, ausschließen will. 166 Von der Existenz der Versammlungsfreiheit als Grundrecht kann auch auf Gemeinschaftsebene- trotz bislang fehlender Rechtsprechung des EuGH dazu -ausgegangen werden (so auch Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 91 ff.). 167 Diesen Gedanken streift Meurer lediglich bei der Frage der Rechtfertigung der Verletzung einer Schutzpflicht (EWS 98, S. 202). 168 Meier in seiner Anmerkung zum ,Erdbeerstreit'-Urteil (EuZW 1998, S. 87 f.), derleider keinen Bezug zu den Gemeinschaftsgrundrechten herstellt. 169 Das provozierte Echo findet sich in der Replik von Schärf, EuZW 1998, S. 617 f. 110 Siehe dazu eingehend unten Kapitel4, III., 4. 164 16S

7 Schindler

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

mindest gleichgeordnet sind 171 und daß damit grundsätzlich auch zu ihren Gunsten Schutzpflichten der Mitgliedstaaten entstehen können 172, so kann daraus nur die Schlußfolgerung gezogen werden, daß sich die Gemeinschaftsgrundrechte und die Grundfreiheiten wechselseitig begrenzen und deshalb im Kollisionsfall gegeneinander abzuwägen sind 173• Tragfabigkeit und Tragweite der dabei zugrundegelegten Grundrechtsdogmatik auf Gemeinschaftsrechtsebene werden noch zu verifizieren sein 174•

b) Der Meinungsstand in der Literatur zur unmittelbaren Drittwirkung Auch in der Diskussion um die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten wird bis heute ein Zusammenhang zu etwaigen Handlungs- und Schutzpflichten der Mitgliedstaaten zugunsten der Grundfreiheiten nicht hergestellt. Eine kritische Würdigung der Entwicklung in der einschlägigen Lehre - insbesondere der jüngeren Stellungnahmen - offenbart jedoch signifikante Parallelen zum eben skizzierten Konflikt von Grundfreiheiten und Grundrechten im Rahmen der mitgliedstaatliehen Unterlassungshaftung. Nachdem der EuGH die Art. 39, 43 und 49 EGV in einer ganzen Reihe von Fällen angewendet hat, in denen sich die beeinträchtigende Wirkung im Bezug auf eine Grundfreiheit allein aus den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten ergabm, wurde das Phänomen der horizontalen Wirkung (unmittelbaren Drittwirkung) der Grundfreiheiten gegenüber Privaten in der Lehre lange Zeit als gegeben hingenommen, ohne daß dabei je die Tragfabigkeit der theoretischen Grundlage dieser Rechtsfigur hinterfragt worden wäre176• Der Schwerpunkt der Diskussion lag in den Stellungnahmen dazu noch bis vor kurzem auf den Fragen des Umfangs und der dogmatischen Ausgestaltung der unmittelbaren Drittwirkung 177• Eine Auseinandersetzung 171 So wohl die überwiegende Meinung vgl. z. B. GTE-Beutler, Art. F, Rn. 73; Kutscher, EuGRZ 78, 504; Oppermann, Europarecht, Rn 496; Pernice, EuR 79, 415; differenzierend Wetter, Grundrechtscharta, 98 f., die den Gemeinschaftsgrundrechten Vorrang gegenüber dem einfachen Vertragsrecht einräumt, sie aber den obersten Verfassungsprinzipien von EG und EU gleichstellt, wozu auch die Grundfreiheiten zu zählen sind. 172 Dies betont auch Schiirf, EuZW 98, 618, in seiner Replik auf die provokante Anmerkung von Meier, EuZW 98, 87 f., zum ,Erdbeerstreit'-Urteil. 173 Vgl. auch den zutreffenden Hinweis von Szczekalla, DVBI. 1998, S. 224. 174 Damit beschäftigt sich eingehend das folgende Kapitel 4. m EuGH-, Walrave', Rs. 36174, Slg. 1974, 1405; EuGH-,Dona', Rs. 13176, Slg. 1977, 1333; EuGH-VanAmeyde/UCI, Rs. 90176, Slg. 1977, 1091; EuGH-Haug-Adrion/Frankfurter Versicherungs-AG, Rs. 251/83, Slg. 1984, 4277; EuGH-,Bosman', Rs. C-415/93, Slg. 1995,1-4921. 176 So insbesondere Roth, in FS Everling, S. 1231 ff.; Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 182 ff. und Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 277, aber auch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, der ebenfalls lediglich einen Zusammenhang zur bestehenden Rechtsprechung (S. 33 ff.) und zur Systematik (S. 81 ff.), nicht aber zu den theoretischen Grundlagen dieses Ansatzes herstellt.

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten

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mit der Frage, ob der unmittelbare Rückgriff auf die horizontale Wtrkung der Grundfreiheiten - den der EuGH zur Lösung der Problemfälle in der Tat vornimmt - den jeweils berührten Interessen überhaupt konzeptionell gerecht wird, findet hingegen erst in jüngster Zeit vereinzelt und auch nur ausschnittweise statt 178 • Der immer noch herrschende Teil der Literatur übernimmt jedoch nach wie vor die Ergebnisse des EuGH ohne grundlegende Kritik und unterscheidet zwischen den Art. 39, 43 und 49 EGV, denen eine verpflichtende Wtrkung gegenüber Privaten zugesprochen 179, und Art. 28 EGV, dem sie mehrheitlich abgesprochen wird 180• Im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit fehlt es überhaupt noch an einer Erörterung der Drittwirkungsproblematik. In den jüngeren Publikationen zu dem Thema ist darüber hinaus die Tendenz erkennbar, trotz ablehnender Rechtsprechung des EuGH zu dieser Frage 181 auch den Art. 28 ff. EGVeine verpflichtende Wirkung zuzuerkennen 182 • Begründet wird dies zum einen mit der zentralen Stel177 Vgl. zuletzt Jaen.sch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, und Ganten. Die Drittwirkung der Grundfreiheiten; und auch CI R-Epiney, Art. 28, Rn. 46. I7B Prinzipiell dagegen erst Gramlich, Grundfreiheiten contra Grundrechte im Gemeinschaftsrecht, DÖV 1996, 801; Kluth, Die Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten, AöR 1997, 557; im Ansatz auch schon Schroeder, Sport und Europäische Integration, 176 ff.; ders., Anm. zur Rs. Bosman, JZ 96, 256. 179 Bleckmonn, Europarecht, Rn. 757; van Gerven. CMLRev 1977, S. 23, der allerdings auch Art. 28 EGV unmittelbare Drittwirkung zuspricht; GIH-Randel;;hofer, Art. 48, Rn. 29; Art. 52, Rn 39 f. (auch zu Art. 49 EGV); GTE-Wölker, Art. 48, Rn. 16; GTE-Troberg, Art. 59, Rn. 46 (auch zu Art. 43 EGV); Hailbronner/Nachbauer, EuZW 1992, 112 (zu den Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote); Kahlenberg, EWS 1994,424, 431; Marenco, CMLRev. 1983, 496 (zu Art. 39; Nicolaysen. EuR 1984, 386 (zu den Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote), vgl. aber ders. in: Europäisches Gemeinschaftsrecht, 107 f., wo er Art. 39 nur aufNormen anwenden will; Palme/Hepp-Schwab/Wilsu, JZ 1994,346 (zu Art. 39); Pemice, Grundrechtsgehalte, 144 f.; Rengeling, DVBI. 1982, 142; Schaefer, Die horizontale Wirkung, 123 ff. und 190; Soerensen, EuGRZ 1978, 35 f.; Streit, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ Streil, 211 (zu den Grundfreiheiten als Diskriminierungserbote); ~att, ELR 1983, S. 245 (zu Art. 39); weitere Nachweise bei Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 82,Rn. 7. IBO Deringer, NJW 1977, 471; G/H-Matthies, Art. 30, Rn. 5 und 41; restriktiv, aber differenzierend, GTE-Müller-Graff, Art 30, Rn. 301 ff.; Nicolaysen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 97; Möschel, NJW 1994, S. 782; Roth, in; FS Everling, S. 1240 ff.; Sedemund, EuR 1977, S. 169; Stewing, EWS 1994, S. 232 (allerdings mit extrem weitem Verständnis der staatlichen Zurechenbarkeit); Streinz. Europarecht, Rn. 708; weitere Nachweise bei Jaen.sch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 83/84, Rn. 12. 181 EuGH-WR/Sociale Dienst, Rs. 311/85, Slg. 1987, 3821; EuGH-Bayer/Süllhöfer, Rs. 65/86, Slg. 1988, 5249; dazu näher oben, Kapitel 3, II., 2., b), bb). 182 Barents, CMLRev. 1981, S. 275; Easson, ELR 1979, S. 69; Emmerich, DB 1972, S. 1327; van Gerven. CMLRev. 1977, S. 21 (wenn auch abwartend); GTE-Wägenbauer (3. Auflage), vor Art. 30-37, Rn. 54; Moench, NJW 1982, S. 2690; Pemice, Grundrechtsgehalte, S. 87 und 91; Pescatore, ELR 1983, S. 163; Rengeling, DVBI. 1982, S. 142; Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 189 f. Stellungnahmen nach den ablehnenden Urteilen: Bauer, Wettbewerbsbeschränkungen durch Staaten, S. 36 f. (der allerdings das Urteil in der Rs. WR/Sociale Dienst, Rs. 311/85,

7•

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

lung der Warenverkehrsfreiheit im Gemeinschaftsrechr83, deren Wirkungen nicht durch private Beschränkungen unterlaufen werden dürfe 184• Zum anderen stützt man sich auf die Rechtsprechung des EuGH zu den gewerblichen Schutzrechten und dabei v.a. auf das Urteil in der Rs. Dansk Supermarked185 - aus dem geschlossen wird, der EuGH gehe auch in bezug auf Art. 28 EGV von einer unmittelbaren Drittwirkung aus 186• Gleichzeitig herrscht aber auch die grundsätzliche Einsicht vor, daß die unmittelbare Drittwirkung restriktiv zu handhaben sei. Wie insbesondere die letzten, z.T. sehr ausführlichen Stellungnahmen zur Problematik der Verpflichtung von Privaten aus den Grundfreiheiten zeigen, besteht Einigkeit darüber, daß die sog. unmittelbare Drittwirkung jedenfalls nicht unbeschränkt gelten kann 187• Die Begründungen für dieses Ergebnis divergieren jedoch. Im Anschluß an die bis dato vom Gerichtshof entschiedenen Fälle 188 wird vorgeschlagen, die Bindung Privater durch die Grundfreiheiten generell auf Kollektivregelungen 189 bzw. auf Maßnahmen von sog. ,intermediären Gewalten' zu begrenzen 190, oder aber sie zumindest inhaltlich an den Bereich des privaten Handeins anzupassen 191 •

Slg. 1987, 3821 nicht in seinem ablehnenden Aussagegehalt würdigt); Bleckmann, Europarecht, Rn. 757; differenzierend GTE-Müller-Graff, Art. 30 Rn. 301 ff.; Hauschka, DB 1990, S. 873 f. (der die unmittelbare Drittwirkung wegen angeblich fehlender klarer Stellungnahme unterstellt); Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 200 f. ; Steindnrjf. FS. Lerche, S. 586; ders., EG-Vertrag und Privatrecht, S. 291. 183 Dieses Argument ist interessanterweise auch von entscheidender Bedeutung, um im ,Erdbeerstreit'-Verfahren eine Handlungspflicht und damit letztlich eine Unterlassungshaftung Frankreichs zu begründen, vgl. EuGH-,Erdbeerstreit', Rs. C-265/95, Slg. 1997, 1-6990,

Tz.24.

184 GTE-lWigenbauer (3. Auflage), Vor Art. 30-37, Rn. 54; Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, 180 f. (der Argumentation des EuGH folgend in: , Walrave ', Rs. 36174, Slg. 1974, 1405, Tz. 16/19); implizit auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 757 f., der aber auf mögliche Einschränkungen durch das Streikrecht hinweist. 185 EuGH-Dansk Supermarkedllmen:o, Rs. 58/80, Slg. 1981, 181. 186 Bauer, Wettbewerbsbeschränkungen durch Staaten, 36 f.; Pemice, Grundrechtsgehalte, 91; Steindorjf. in: FS Lerche, 582; Streit, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, 298 (der eine unmittelbare Drittwirkung von Art. 28 EGV allerdings nur im Bezug im Rahmen der gewerblichen Schutzrechte annimmt); weitere Nachweise bei Jaensch, S. 85, Rn. 15; vgl. auch die ausführliche Darstellung der Rechtsprechung zu den gewerblichen Schutzrechten und ihrer Bedeutung für die Begründung einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 28 EGV, oben unter Kapitel 3, II., 2., a). 187 Eine Übersicht über frühere Ansätze dazu gibt Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. SOff.; 188 Dazu eingehend oben in diesem Kapitel unter II. 189 So beispielsweise GTE-Troberg, Art. 52, Rn. 43; Art. 59, Rn. 32. 190 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten , S. 285 ff.; Roth; in: FS Everling, S. 1246 f. 191 So das eher vage Ergebnis von Steindorjf. EGV und Privatrecht, S. 295 f. und S. 299; vgl. in diesem Zusammenhang auch Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 162 ff.

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten

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aa) Auf ,intermediäre Gewalten' beschränkte unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten - mit Ausnahme der Warenverkehrsfreiheit Roth lehnt eine unmittelbare Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit kategorisch ab 192 und will sie bei den übrigen Grundfreiheiten nur unter besonderen Voraussetzungen zulassen. Er führt diesbezüglich den später von Jaensch übernommenen Begriff der ,intermediären Gewalten' ein: Wenn private Institutionen mit typisch staatlichen Machtbefugnissen ausgestattet sind, dürfe es für die Gemeinschaftsbürger nicht zu einer unterschiedlichen Rechtsstellung im Hinblick auf die Grundfreiheiten führen, die sich danach richtet, ob die jeweilige Maßnahme von einer staatlichen Institution oder einer privaten Organisation herrührt193 • Wohl in Anlehnung an diese Auffassung, allerdings auf der Grundlage einer eingehenderen Analyse von Rechtsprechung und Systematik des EGV, kommt auch Jaensch zunächst zu dem Schluß, daß eine unmittelbare Drittwirkung grundsätzlich abzulehnen sei 194• Im Ergebnis geht er dann aber ebenfalls von einer eingeschränkten horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten - im Gegensatz zu Roth auch für die Warenverkehrsfreiheit -, in bezug auf sog. ,intermediäre Gewalten', wie z. B. Standes- und Berufsorganisationen, Sportverbände und Dachverbände der Gewerkschaften, aus 195 • Sowohl Roth als auch Jaensch bejahen eine unmittelbare Drittwirkung auch in Fällen der kollektiven Rechtsetzung durch Private unter der Voraussetzung, daß der einzelne diesen Regeln- mangels Wettbewerb- nicht ausweichen kann 196• Diese Bindung von privaten Einrichtungen an die Grundfreiheiten rechtfertige sich daraus, daß in solchen Fällen ihr Auftreten im Gemeinsamen Markt mit dem eines Mitgliedstaates vergleichbar sei 197 • Im übrigen sei das Bedürfnis nach einer einheitlichen Anwendung der Grundfreiheiten zu berücksichtigen, die sich nicht - abhängig von der Staatsquote bei. der Normsetzung - zwischen den Mitgliedstaaten unterscheiden dürfe, d. h. danach, inwieweit staatliche Normsetzung durch privatrechtliche Regelungen ersetzt werden 198 • Jaensch spezifiziert die Voraussetzungen für eine derartige Bindung von Privaten dahingehend, daß die private Einrichtung Normsetzungsbefugnis haben muß 199, der einzelne diesen Normenfaktisch ausgeliefert sein muß (sog. Unentrinnbarkeit)200, und die private Einrichtung damit Allgemeininteressen verfolgen muß201 • 192 193

Roth. in: FS Everling, S. 1237. Roth. in: FS-Everling, S. 1246; hier ist allerdings fraglich, ob überhaupt ein Fall der

Drittwirkung gegeben ist. Naheliegender ist es, hier von einem dem Staat zurechenbaren Handeln von Privaten auszugehen. 194 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 263. 195 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 275 und S. 285. 196 Roth. in: FS-Everling, S. 1247 f. 197 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 263. 198 Roth. in: FS-Everling, S. 1246 f. 199 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 268 ff. 200 Jaensch. Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 275 ff.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

Diese Erwägungen sind zwar nicht unberechtigt, bilden jedoch allein kein tragfähiges dogmatisches Fundament für die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten. Wenn sich nämlich Roth und Jaensch in der fraglichen Konfliktlage ausschließlich mit der Frage nach dem Adressatenkreis der Grundfreiheiten befassen, dann liegt dem konkludent die Behauptung zugrunde, daß auch nur diese Rechte berührt sind. Die fragliche Problemkonstellation zeichnet sich jedoch gerade dadurch aus, daß sich nicht Staat und Bürger, sondern Bürger und Bürger gegenüberstehen. Zwar besteht nur auf einer der beiden Seiten eine Berechtigung aus den Grundfreiheiten, jedoch hat die andere private Partei prinzipiell die (Gemeinschafts-)Grundrechte auf ihrer Seite und sei es ,nur' in Form der allgemeinen Handlungsfreiheit. Dieser Ansatz läßt somit außer Betracht, daß die unter dem Gesichtspunkt einer unmittelbaren Drittwirkung diskutierten Fällen grundsätzlich einen Konflikt zwischen der Ausübung von Grundfreiheiten einerseits und Grundrechten andererseits aufweisen. Um eine Lösung, die allein auf einer Diskussion der Grundfreiheiten basiert, auf ein dogmatisch tragfähiges Fundament zu stellen, hätte es zumindest einer Begründung dafür bedurft, daß und warum die privaten ,intermediären Gewalten' in dieser Funktion generell nicht grundrechtsberechtigt sein sollen. Als Ausgleich für die - wenn auch beschränkte - unmittelbare Drittwirkung, billigt Jaensch, ebenso wie der EuGH in der Rs. Bosman202 , den Privaten das Recht zu, sich - wie die Mitgliedstaaten - zur Rechtfertigung ihrer Maßnahmen auf zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls zu berufen203• Spätestens an diesem Rechtfertigungsmodell wird aber deutlich, daß auch Jaensch das Grundproblem, nämlich die Kollision zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten, verkennt. Anstatt das eigentliche Problem dieser Fallkonstellationen zu lösen, umgeht er es durch die Annahme einer - begrenzten - Bindung der privaten ,intermediären Gewalten' an die Grundfreiheiten inklusive Rechtfertigungsmöglichkeit Demzufolge werden dann auch nicht die in Wahrheit widerstreitenden privaten Rechtspositionen gegeneinander abgewogen, sondern private gegen öffentliche Interessen. Diese Lösung ist jedoch nicht nur dogmatisch inkorrekt, sondern geht auch an der Realität vorbei, denn in aller Regel werden sich z. B. Sportverbände nicht auf Allgemeininteressen berufen, sondern auf ihre eigenen, durch die Vereinigungsfreiheit geschützten lnteressen204• Als einzige Begründung flir diese künstliche Verlagerung des Problems bietet Jaensch die in der Folge allerdings nicht weiter erläuterte These an, es sei ,bedenklich', Private lediglich auf eine Rechtfertigungsmöglichkeit anband der Grundrechte zu verweisen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil da201 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 278 ff., wobei soziale oder wirtschaftliche Macht allein nicht ausreichen sollen. 202 EuGH-,Bosman', Rs. C-415/93, Slg. 1995,1-4921, Tz. 104. 203 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 279; Roth geht auf die Frage einer Rechtfertigungsmöglichkeit ftlr Akte von ,intermediären Gewalten' überhaupt nicht ein. 204 So auch der zutreffende Hinweis von Schroeder, JZ 96, S. 256.

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten

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durch das abgestimmte Regel-Ausnahme-Verhältnis des EGV bzgl. der Grundfreiheiten durch den Rückgriff auf ,allgemeine Vorschriften' aus den Angeln gehoben würde205 • Damit bleibt Jaensch zwar eine tragfähige Erklärung für seine erstaunliche Behauptung schuldig, daß die Grundrechte als Rechtfertigungsmöglichkeit dem System des Gemeinschaftsrechts ,fremd' sein sollen206• Hinter dieser Aussage verbirgt sich aber zumindest die zutreffende Erkenntnis, daß im Rahmen der Diskussion um eine Bindung von Rechtssubjekten des Privatrechts an die Grundfreiheiten grundsätzlich deren Grundrechtsträgerschaft berücksichtigt werden muß. Der Widerspruch, warum die letztlich auch seiner Meinung nach grundsätzlich bestehende Grundrechtsberechtigung solcher Verbände an dieser Stelle nun doch keine Rolle spielen soll, bleibt allerdings unaufgelöst. Mit der Tatsache, daß die Verbände sich hier auf die Vereinigungsfreiheit berufen können, begründet er lediglich, daß die unmittelbare Drittwirkung auf die Maßnahmen zu beschränken sei, die zur Verfolgung öffentlicher Interessen ergriffen würden, da ansonsten diesen Institutionen nur der ., ... systemfremde Rückgriff auf die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte bliebe " 2cn. Warum dieser Rückgriff zum einen ,systemfremd' und zum anderen denprivaten ,intermediären Gewalten' verwehrt sein soll, bleibt im dunkeln. bb) ,Angemessene' unmittelbare Drittwirkung aller Grundfreiheiten begrenzt durch Art. 30 Satz 2 EGV und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Nach Ansicht von Steindorff sind zwar die Aussagen der Rechtsprechung zur Problematik der horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten widersprüchlich, weist aber vor allem der Regelungszweck von EGV und EUV in Richtung einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten208• Aus der Rechtsprechung zu den gewerblichen Schutzrechten leitet er eine Bindung des einzelnen bei der Ausübung dieser Rechte ab209• Regelungslücken, die entstünden, weil das Kartellrecht nicht alle beschränkenden Verhaltensweisen von Privaten zu erfassen vermag, seien mittels einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten zu lösen. Wie sich aus der Rechtsprechung ergebe, sei diese insbesondere nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil im Einzelfall Grundfreiheiten und Kartellrecht konkurrieren könnten210• Steindorff spricht sich dann eher vage für eine ,inhaltlich angemesws Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 138 f. 206 So die Formulierung bei Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, s. 279. 207 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 279. 208 Steindorff, EGV und Privatrecht, S. 283. 209 Steindorff, EGV und Privatrecht, S. 289 f.; zur Unergiebigkeit dieser Rechtsprechung in bezug auf die Frage der unmittelbaren Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit bereits ausführlich oben in diesem Kapitel unter ß., 2.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

sene' unmittelbare Drittwirkung aller Grundfreiheiten - auch der Warenverkehrsfreiheit - aus, die sich über die Anwendung der Maßstäbe von Art. 30 Satz 2 EGV, dem Verbot willkürlicher Diskriminierungen, erreichen lasse211 • Generelle Akte von Gesellschaften oder Verbänden sollen im Rahmen einer Verhältnismäßigkeilsprüfung strenger an die Grundfreiheiten gebunden werden als individuelle rechtsgeschäftliche Maßnahmen212•

Seiner Schlußfolgerung, ..... daß eine sinnvolle Drittwirkung von Grundfreiheiten ... als möglich erscheint"213 , ist rein wertungsmäßig wenig entgegenzusetzen. Auch der von ihm als Steuerungsmaßstab favorisierte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird in der Tat zu angemessenen Ergebnissen führen. Jedoch bleibt auch Steindorff an entscheidender Stelle unpräzise, da er unbeantwortet läßt, welche Rechtsposition er zu den horizontal wirkenden Grundfreiheiten ins Verhältnis setzen, wie er sie gewichten und nach welchen Kriterien er schließlich die Angemessenheil des jeweiligen Ergebnisses bestimmen will. Die bereits gegenüber den Ansätzen von Roth und Jaensch geäußerte grundsätzliche Kritik greift damit auch in Bezug auf das Lösungsmodell von Steindorff. Daß sich die beiden ersten Autoren auf das bekannte Rechtfertigungssystem der Grundfreiheiten zurückziehen, während Steindorff das sehr allgemeine Korrektiv des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Bezug nimmt, bedeutet zwar einen dogmatischen Unterschied, basiert aber auf demselben grundsätzlichen Defizit in der Erfassung der gegebenen Problemkonstellation. Alle drei gehen davon aus, daß es sich isoliert um ein Problem der Dogmatik der Grundfreiheiten handelt. Sie übergehen dabei, daß sich die vorliegende Frage typischerweise nicht im Verhältnis zwischen Staat und Bürger, sondern im Verhältnis zwischen Privaten stellt. Wie schon die bereits diskutierten Lösungen von Rothund Jaensch, verkennt auch Steindorffbei seinem Ansatz den an dieser Stelle gegebenen untrennbaren Zusammenhang zwischen der Ausdehnung der verschiedenen gleichrangigen Freiheitsgewährleistungen des Gemeinschaftsrechts - den Grundrechten und den Grundfreiheiten. Die potentielle Kollisionslage von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten bleibt damit auch in der Lösung von Steindorffunberücksichtigt. cc) Umfassende unminelbare Drittwirkung unter Anerkennung von immanenten Grenzen der Grundfreiheiten

Im Ansatz ähnlich weitgehend wie Steindorjf. gehen Schaefer und Ganten grundsätzlich von einer unmittelbaren Drittwirkung aller Grundfreiheiten aus214 , Steindorff, EGV und Privatrecht, S. 293. Steindorff, EGV und Privatrecht, S. 299; er lehnt sich dabei an die Diskussion im deutschen Verfassungsrecht zur Drittwirkung der Grundrechte im Bereich des Privatrechts an; vgl. dazu anstaU vieler die ausführliche Diskussion bei Stern. in: ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, § 82, S. 619 ff. 212 Steindorff, EGV und Privatrecht, S. 299. 213 Steindorff, EGV und Privatrecht, S. 299 (Hervorhebung v. Verf.). 21o

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III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten

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die sie dann durch die Anerkennung von immanenten Grenzen wieder einschränken215. Als wichtigsten Aspekt dieser immanenten Grenzen heben sie die Gemeinschaftsgrundrechte hervor, deren Berücksichtigung dann über eine Abwägung im Einzelfall zu einer Beschränkung der unmittelbaren Drittwirkung führt216. Diese Ansicht basiert auf der zutreffenden Einsicht, daß der Problematik um die verpflichtende Wirkung der Grundfreiheiten ftir Private die Kollision von Grundfreiheiten auf der einen, und Grundrechten auf der anderen Seite zugrundeliegt. Die für die Fälle einer unmittelbaren Drittwirkung charakteristische Kollision von Grundfreiheiten mit Grundrechten wurde somit als erstes von Schaefer als solche erfaßt, dem sich kürzlich auch Ganten anschloß217. Die wechselseitige Blockade der kollidierenden gleichrangigen und gleichwertigen Rechte läßt sich im Ergebnis in der Tat nur dadurch lösen, daß einem Recht wertungsmäßig Vorrang gegenüber dem anderen eingeräumt wird. Geht man davon aus, daß die Grundrechte auch im Gemeinschaftsrecht an der Spitze der Normenhierarchie stehen, daß aber im besonderen Fall der Gemeinschaftsrechtsordnung dieser Rang auch den Grundfreiheiten zukommt, so ist nicht ersichtlich, warum nicht auch den Gemeinschaftsgrundrechten potentiell unmittelbare Drittwirkung zukommen soll. Erkennt man aber auch den Gemeinschaftsgrundrechten unmittelbare Drittwirkung zu, so steht man wieder am Ausgangspunkt der Überlegungen dem Konflikt gleichrangiger und gleichwertiger Rechtspositionen. Die Formel von Schaefer zur Lösung dieses Kollisionsproblems von Grundfreiheit und Grundrecht lautet: "Im Ergebnis kommt es somit bei der Beurteilung der Frage, ob im Einzelfall eine Verletzung eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechts vorliegt, zu einem Abwägungsvorgang zwischen Ziel und Zweck der betreffenden Gemeinschaftsnorm ( . .. ) einerseits und der Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte andererseits. " 218

Wie sich anschließend auch aus seinen Lösungsvorschlägen zu den von ihm gebildeten Beispielsfällen ergibt, berücksichtigt er unter dem Strich die gleichrangigen Rechtspositionen keineswegs in gleichem Maße. So soll z. B. im Fall des Widerstreits zwischen der Freiheit des Warenverkehrs und der Privatautonomie die unmittelbare Wirkung der Grundfreiheit ihre Grenze erst im Kern (Wesensgehalt) 214 Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 180; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 120 ff. 21s Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 210 (am Beispiel des Art. 28 EGV); ihm folgend Müller-Graf!, G1E, Art. 30, Rn. 308; und Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 174 ff. 216 Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 233; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 176 ff. 217 Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 211; wohl ihm folgend Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 174 ff. 218 Schaefer, Die unmittelbare Wirkung, S. 230, (Hervorhebung v. Verf.); wohl ihm folgend Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 180.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

der Privatautonomie finden219• Damit gehen Schaefer und Ganten zwar einen entscheidenden Schritt weiter als Roth, Jaensch und Steindorff, da sie zumindest die Kollisionslage zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten anerkennen. Angesichts ihrer konkreten Lösungsmodelle, in welchen die Gemeinschaftsgrundrechte von vomeherein auf ihren Wesensgehalt reduziert sind, ist jedoch auch ihnen der Vorwurf zu machen, daß sie den Grundfreiheiten a priori einen Wertungsvorsprung gegenüber den Gemeinschaftsgrundrechten einräumen und damit im Ergebnis die Gleichwertigkeit der beiden Arten von Freiheitsgewährleistungen verneinen. Wenn Schaefer und Ganten aber grundsätzlich die Gleichrangigkeit anerkennen220, die Gleichwertigkeit jedoch negieren, vertauschen sie damit Ausgangspunkt und Ergebnis bzw. das abstrakte Lösungsmodell und die konkrete Lösung. Das abstrakte Modell eines Lösungsansatzes, dessen korrekte Prämisse die abstrakte Gleichrangigkeit der kollidierenden Rechte ist, muß ebenso abstrakt zunächst einmal von deren Gleichwertigkeit ausgehen. Erst das konkrete, mittels Abwägung erzielte Ergebnis kann und muß dann - obwohl immer noch auf der Gleichrangigkeit der kollidierenden Rechtspositionen basierend - eine im Einzelfall bestehende Ungleichwertigkeit aussprechen221 • Das - weitgehend unbeachtete - Verdienst von Schaefer liegt folglich darin, daß er als erster diesen Konflikt aufgezeigt und als solchen benannt hat. Wie die anderen Lösungsansätze leidet jedoch auch seiner (ebenso wie der von Ganten) unter dem Manko, daß sie, schon bevor sie in die konkrete, d. h. einzelfallorientierte Konfliktlösung bzw. Abwägung eintreten, die Ebenbürtigkeit der beiden Freiheitsgewährleistungen wieder negieren. Indem sie den Grundfreiheiten unmittelbare Drittwirkung zubilligen, räumen sie ihnen den größtmöglichen Wirkungsumfang ein, wohingegen die Heranziehung der Gemeinschaftsgrundrechte als immanente Schranken nach ihrem Verständnis dieser dogmatischen Figur im Gemeinschaftsrecht dazu führt, daß diese Rechte von vomeherein auf ihren Kernbereich oder Wesensgehalt und damit mintlestmöglichen Wirkungsbereich reduziert werden.

c) Beschränkung der Grundfreiheiten durch Private ein Kollisionsproblem Den Stellungnahmen von Schroeder; Gramlieh und Kluth ist gemeinsam, daß sie die Problematik der Beeinträchtigung von Grundfreiheiten durch Private zutref219 Sclwefer. Die unmittelbare Wirkung, S. 235; Vergleichbare Konsequenzen ergeben sich bei Ganten, der beispielsweise davon ausgeht, daß .,(w)egen der Wechselwirkung des EUGrundrechts auf Vertragsfreiheit mit dem Binnenmarktziel ... das Recht, an den Stoatsgrenzen Hindernisse zu errichten, tendenziell weniger geschützt {ist)" (in: Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 182). 22o Sclwefer. Die unmittelbare Wirkung, S. 230 ff.; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 176. 221 Dazu ausführlich unten in KapitelS.

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten

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fend als Fall der Kollision von Grundrechten und Grundfreiheiten qualifizieren und ihre Lösungsansätze im Grundsatz danach ausrichten222• Alle drei gehen dabei von der so einfachen wie stichhaltigen These aus, daß ..... jedes subjektive Recht in die Rechtssphärr! eines anderen eingreift, also seinerseits subjektive Rechte berührt. ... Die Träger der Grundfreiheiten nehmen ihl'f! Rechte auf Kosten eines anderen wahr, so daß sich zwangsläufig die Frage nach dessen Rechten erhebt, die seiner Verpflichtung Grr!nzen ziehen können"223 • .. Zur Wahrung der institutionellen Frr!iheit der Marktordnung und der individuellen Freiheit der Marktbürger wird die winschaftliche Betätigungsfreiheit anderr!r Marktbürger . .. beschränkt" 224•

Die logische Konsequenz daraus ist, daß im Zentrum ihrer Lösungen dann das Abwägungsgebor25 bzw. die Figur der praktischen Konkordan:l26 steht. Die drei Ansichten divergieren jedoch in der konkreten Ausgestaltung dieser Lösung. Der Grund dafür ist darin zu suchen, daß jeder der drei Vertreter das Problern aus einer anderen Perspektive betrachtet. Während Schroeder von den Grundfreiheiten und ihrer Dogmatik ausgeht und nach ihrer Einschränkbarkeit durch Grundrechte fragt227, nähert sich Gramlieh dem Problern von der Seite der Grundrechte und diskutiert die Frage unter dem Aspekt ihrer Einschränkbarkeit228 • Kluth hingegen versucht seine Lösung von einer neutralen Position aus zu entwickeln und ist damit der einzige, der die Verschiedenartigkeit der gleichrangigen und gleichwertigen Freiheitsgewährleistungen erkennt und in seinem Lösungsansatz berücksichtigt. aa) Die Gemeinschaftsgrundrechte als Ausnahmen zu den Grundfreiheiten Obwohl Schroeder den Konflikt zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten korrekt herausarbeitet, argumentiert er letztlich doch primär grundfreiheitsorientiert und begreift die Grundrechte als Ausnahmen zu den Grundfreiheiten. Er unterwirft die vorliegende Kollisionslage dem allgemein zu den ordre-public-Vorbehalten entwickelten Grundsatz einer restriktiven Handha222 Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 185 ff.; ders., JZ 1996, S. 256; Gramlieh, DÖV 1996, S. 808; Kluth, AöR 122 (1997), S. 578 ff.; in diese Richtung gehend wohl auch Epiney in C/R, Art. 28, Rn. 47 ff.. 223 Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 186. 224 Kluth, AöR 122 (1997), S. 519. m Kluth, AöR 122 (1997), S. 5801582. 226 Schroeder. Sport und Europäische Integration, S. 197 ff.; Gramlich, DÖV 1996, s. 810 f. 227 Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 176. 228 Gramlich, DÖV 1996, S. 809 f.

3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

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bung der Ausnahmetatbestände229• Daraus begründet er dann seine These, daß den Wirtschaftsgrundrechten der Eigentums-, Berufs-, und Koalitionsfreiheit im Falle einer Kollision mit Grundfreiheiten die Anwendbarkeit zu versagen sei, da die Verwirklichung der wirtschaftlichen Freiheit zwangsläufig die wirtschaftlichen Interessen eines anderen einschränken müsse und deshalb sozusagen das Wesen der Marktfreiheiten ausmache230. Ähnlich wie Schaefer und Ganten231 negiert jedoch damit auch er die Gleichwertigkeit der Grundrechte gegenüber den Grundfreiheiten. Er stellt implizit eine Wertrangordnung der Wirtschaftsfreiheiten auf, in welcher er den Grundfreiheiten generellen Vorrang gegenüber den Wirtschaftsgrundrechten einräumt. bb) Gleichbehandlung von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten im Rahmen der Herstellung praktischer Konkordanz

Demgegenüber wählt Gramlieh in seiner Besprechung des ,Bosman'-Urteils eine eher grundrechtsorientierte Perspektive, indem er die Frage in den Mittelpunkt stellt, ob die vom Gerichtshof propagierte ,Drittwirkungsregel' eine zulässige Beschränkung des Gemeinschaftsgrundrechts der Vereinigungsfreiheit darstellt232. Damit vermeidet er zwar die eben genannte Schwäche und berücksichtigt sowohl die Gleichrangig-, wie auch die Gleichwertigkeit von Grundfreiheiten und Grundrechten. Seine Lösung basiert aber darüber hinaus auf der Prämisse, daß die beiden Formen von Freiheitsgewährleistungen auch gleichartig sind, denn erst dieser Aspekt erlaubt es Gramlich, im Ergebnis ohne weitere Differenzierung auf das aus der deutschen Grundrechtslehre bekannte System der praktischen Konkordanz einzuschwenken233. Die unumgängliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Übertragbarkeit dieses Systems, angesichts des unterschiedlichen Charakters von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten bleibt Gramlieh jedoch schuldig. cc) Berücksichtigung der Ungleichartigkeit von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten im Rahmen der Abwägung im Kollisionsfall

Lediglich Kluth stellt seine Argumentation auf eine neutrale Grundlage, indem er einerseits die Problematik als Kollision gleichrangiger und gleichwertiger Rechte einordnet234, andererseits aber seine Lösung nicht einseitig der Systematik Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 194. Schroeder. Sport und Europäische Integration, S. 194 f., wo er davon ausgeht, daß anderenfalls die Grundfreiheiten durch die Grundrechte wieder vollständig neutralisiert würden. 231 S.o. in diesem Kapitel unter III., 2., b), cc). 232 Gramlich, DÖV 1996, S. 810. 233 Gramlich, DÖV 1996, S. 810. 229 230

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten

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entweder der Grundfreiheiten oder der Grundrechte unterwirft, sondern sie unter Berücksichtigung des strukturellen Unterschieds der beiden Fonneo von Freiheitsgewährleistungen entwickelt, womit er letztendlich auch das eben genannte Defizit in der Argumentation von Gramlieh offenlegt Aus dem objektiven Wortlaut der einzelnen Grundfreiheiten sowie aus ihrer Zuordnung zu den Zielen der Gemeinschaft in Art. 3 lit. c EGV folgert Kluth zutreffend, daß der Sinn und Zweck der Marktfreiheiten vorrangig in der Verwirklichung und Gewährleistung eines freien Binnenmarktes zu sehen ist. Damit weisen die Grundfreiheiten seiner Ansicht nach eine primär institutionelle Struktur auf, aus der sich die individuellen Rechtsgewährleistungen lediglich ableiten, wohingegen bei den Grundrechten die individuelle Freiheitsgarantie im Vordergrund steht235 • Folge davon ist, daß im Bezug auf die Grundfreiheiten die Eingriffsschwelle erst bei Beeinträchtigung der institutionellen Gewährleistung und nicht schon mit der Beschränkung des daraus abgeleiteten individuellen Rechts erreicht ist. Kluth läßt jedoch die Frage unbeantwortet, ob dies für Beschränkungen der Grundfreiheiten allgemein (d. h. auch für hoheitliche) gelten soll, oder nur für solche, die von Privaten verursacht wurden236•

3. Ergebnis: Die Kollision gleichrangiger Rechte als gemeinsames Kernproblem der Rechtsinstitute der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten und der mitgliedstaatliehen Unterlassungshaftung Die Analyse von Rechtsprechung und Literatur hat gezeigt, daß ein Zusammenhang zwischen einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten und Schutzpflichten der Mitgliedstaaten zugunsten dieser Rechte bislang nicht gesehen wird. Dennoch hat bereits die kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Denkmodellen zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten und der mitgliedstaatliehen Unterlassenshaftung offenbart, worin die oben aufgezeigte Verwandtschaft zwischen den beiden Rechtsinstituten dogmatisch begründet liegt: Sie bieten beide einen Lösungsansatzfür die Kollision von Grundfreiheiten mit Grundrechten. Zwar ist dem EuGH zweifellos zuzugestehen, daß die von ihm bislang gefundenen Ergebnisse unter reinen Wertungsgesichtspunkten durchaus überzeugen, münden sie doch unter dem Strich in dem salomonischen Urteil, daß in den entschiedeKluth, AöR 122 (1997), S. 578 ff. Kluth, AöR 122 (1997), S. 574 f.; ausführlich zum Wesensunterschied zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten und den Konsequenzen daraus, siehe unten Kapitel 5, IV. 236 In Kapitel 5 wird aufgezeigt werden, daß und warum zwischen privaten und hoheitlichen Beschränkungen zu unterscheiden ist. 234

235

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

nen Fällen von privaten Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten diese Gewährleistungen weder grundsätzlich unbeachtlich sind noch alles überstrahlen. Das große Defizit der Rechtsprechung - aber auch der Lehre - besteht allerdings darin, daß sie ihren Lösungen bis heute noch kein theoretisches Fundament gegeben hat. Der Gerichtshof beschränkt sich vielmehr auf eine einzelfallorientierte Ausdehnung des Anwendungsbereiches der Grundfreiheiten237 , so daß er es auch bis heute vermeiden konnte, die Begriffe der ,unmittelbaren Drittwirkung' oder ,horizontalen Wirkung' der Grundfreiheiten in seine Terminologie aufzunehmen. Der Vorwurf, der an die Adresse des EuGH zu richten ist, erschöpft sich jedoch nicht in diesem Argumentationsdefizit Viel wichtiger ist, daß sich hinter dieser Argumentationslücke ein fundamentales Abwägungs- und damit im Ergebnis auch ein Gewährleistungsdefizit im Hinblick auf die jeweils tangierten Grundrechte verbirgt. So hatte in den Rs. , Walrave ', ,Dona' und ,Bosman' die jeweils betroffenen Verbände grundsätzlich die Vereinigungsfreiheit auf ihrer Seite, in der Rs. , van Ameyde' wäre zumindest die in der allgemeinen Handlungsfreiheit verankerte Privatautonomie zu berücksichtigen gewesen und im ,Erdbeerstreit' - zumindest potentiell - die Versammlungsfreiheit. Auch die in der Literatur überwiegend vertretenen Ansätze einer begrenzten unmittelbaren Drittwirkung weisen - parallel zur Rechtsprechung - dieselbe grundsätzliche Schwäche auf. Sie berücksichtigen allenfalls unzureichend, daß sich in der fraglichen Fallkonstellation zwei Personen des Privatrechts und damit zwei Träger von jeweils unterschiedlichen, aber prinzipiell gleichrangigen und gleichwertigen Rechten gegenüberstehen: Den Grundfreiheiten auf der einen und den Gemeinschaftsgrundrechten auf der anderen Seite. Der direkte Rückgriff auf eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten im Sinne einer in sich abgeschlossenen Lösung bedeutet, daß allein die Rechtsstellung der Person, die sich auf eine Grundfreiheit berufen kann, in das Zentrum der Lösung gestellt wird. Die zwingende Konsequenz daraus ist, daß die ebenfalls primärrechtlich geschützte Rechtsstellung der anderen Person, die grundsätzlich die Grundrechte für sich in Anspruch nehmen kann, nicht als grundsätzlich gleichgewichtiger Abwägungsfaktor, sondern allenfalls defizitär berücksichtigt wird. Auch diesen Lösungsmodellen ist daher ein Abwägungsdefizit zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten zu bescheinigen. Genau dieselben Erwägungen tragen im Bereich der mitgliedstaatliehen Schutzpflichten zugunsten der Grundfreiheiten. Nachdem in Sachverhaltskonstellationen wie dem ,Erdbeerstreit' ebenfalls Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte zueinander in Widerstreit treten238, gilt es auch dort ein Lösungsmodell zu entwik237 Mit einer Ausnahme in bezug Art. 28 EGV (so betont der EuGH beispielsweise in der Rs. ,van de Haar', daß Art. 28 ff. EGV und Art. 81 ff. EGV sich auf unterschiedliche Adressatenkreise beziehen (EuGH-van de Haar; verb. Rs. 177 und 178/82, Slg. 1987,1797, Tz. 11). 238 In Konstellationen, wie dem ,Erdbeerstreit'-Verfahren ist, zumindest potentiell, die Versammlungsfreiheit einschlägig.

III. Unmittelbare Drittwirkung und mitgliedstaatliche Handlungspflichten

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kein, welches die Gleichrangigkeil und die Gleichwertigkeit dieser Freiheitsgewährleistungen berücksichtigt239• Daraus folgt unmittelbar, daß Schutzpflichten prinzipiell nicht nur zugunsten der Grundfreiheiten, sondern auch zugunsten der Grundrechte bestehen können. Setzt man diese logische Schlußfolgerung in Beziehung zu dem oben gefundenen Ergebnis, daß auch die Fälle einer mitgliedstaatlieben Unterlassenshaftung auf den Konflikt ,Grundfreiheiten vs. Grundrechte' zurückzuführen sind, so muß auch hier zunächst einmal begründet werden, welcher der ebenbürtigen Rechtspositionen im konkreten Fall der Vorrang gebührt. Der Anerkennung einer Schutzpflicht zugunsten der Grundfreiheiten muß daher genauso zwingend eine Abwägung vorangehen, auf deren Grundlage im konkreten Einzelfall bestimmt wird, welche der einschlägigen gleichrangigen und gleichwertigen Freiheitsgewährleistungen überwiegt und deshalb zu schützen ist. Der Konflikt läßt sich auch in dieser Konstellation nicht rein abstrakt lösen, sondern nur vor dem Hintergrund des jeweiligen konkreten Einzelfalls. Es ist daher methodisch inkorrekt, eine Lösung für die Kollisionsproblematik allein mit Blick auf eine effektive Geltung der Grundfreiheiten zu konzipieren, indem man entweder eine Verpflichtung der anderen Partei aus den Grundfreiheiten annimmt (unmittelbare Drittwirkung) und dann nur noch über deren Umfang diskutiert, oder aber eine Schutzpflicht zugunsten der Grundfreiheiten bejaht (mitgliedstaatliche Unterlassenshaftung), ohne anband einer vorangegangenen offenen Abwägung im Einzelfall den Vorrang der grundfreiheitlichen Gewährleistung gegenüber den entgegenstehenden Grundrechtspositionen zu begründen. Es geht in diesen Fällen zwar in der Tat um den Schutz der Grundfreiheiten vor einer Aushöhlung durch Privatpersonen und damit um einen nicht zu vernachlässigenden Aspekt dieser grundsätzlich staatsgerichteten Freiheitsgewährleistungen240• Soweit sich das Handeln der anderen Privatperson jedoch im Rahmen einer Grundrechtsausübung bewegt, darf dieser Aspekt nicht einfach in die zweite Reihe verwiesen werden. Vielmehr ist ganz im Gegenteil zu konstatieren, daß, erstens, zwei gleichrangige Rechtspositionen kollidieren, und daß, zweitens, eine gemeinschaftsrechtlich normierte Kollisionsnorm zur Auflösung eines derartigen Konfliktes fehlt. Bereits angesichts dieser grundsätzlichen Erwägungen wird deutlich, daß eine Lösung, die sich auf eine unmittelbare Drittwirkung bzw. auf staatliche Schutzpflichten ausschließlich zugunsten der Grundfreiheiten stützt, auf einer dogmatischen Schieflage basiert. Eine Kollision von Grundfreiheiten und Grundrechten kann nicht allein mit Blick auf eine effektive Geltung der Grundfreiheiten gelöst werden. Zwar gehen in der Tat weder der EuGH noch die Literatur von einer umfassenden Geltung der grundfreiheitlichen Verpflichtungen für Private aus, so daß die jeweils erzielten Ergebnisse rein wertungsmäßig als angemessen erscheinen. Ob sie es auch tatsächlich sind, ist jedoch angesichts des den Urteilen innewohnenden Abwägungsdefizits in bezug auf die Grundrechte keineswegs gewährleistet. 239 240

So zutreffend Schärf. EuZW 98, S. 618. Kluth, AöR 122 (1997), S. 582.

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3. Kap.: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten

Erst wenn im Rahmen einer Abwägung der einschlägigen Grundfreiheiten und Grundrechte die Lösungstindung um die grundrechtliche Dimension erweitert wird, sind die durch Auslegung des EGV ermittelten, spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Wertungen aussagekräftig. Die Behauptung einer unmittelbaren Drittwirkung bzw. von Schutzpflichten zugunsten der Grundfreiheiten darf nicht die dogmatische Ersatzlösung der Rechtsprechung sein ftir das Problem der Kollision zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten241 •

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Kluth, AöR 122 (1997), S. 581.

Kapite/4

Die Gemeinschaftsgrundrechte I. Einleitung Geht man aber von der These aus, daß es sich sowohl in den Fällen einer mitgliedstaatliehen Unterlassungshaftung als auch in den Fällen einer unmittelbaren Drittwirkung im Grundsatz um die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten handelt, die durch eine Abwägung zwischen den beiden Rechten zu lösen ist, so setzt sie voraus, daß nicht nur die Grundfreiheiten, sondern auch die Gemeinschaftsgrundrechte in all diesen Fällen anwendbar, den Grundfreiheiten gegenüber gleichrangig sind, und daß die Rechtsprechung auch zu ihren Gunsten Schutzpflichten anerkennt. Den diesbezüglichen Ausführungen soll ein knapper Überblick über die Entwicklung des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene vorangestellt werden.

II. Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht Es ist kein Zufall, daß im Gemeinschaftsrecht ein geschriebener Grundrechtskatalog fehlt. Ausgehend von der völkerrechtlichen Natur der Römischen Verträge von 1951 und 1957 war es zunächst naheliegender, die völkerrechtstypische Mediatisierung des einzelnen 1 auch in das Gemeinschaftsrecht zu übertragen2 • Dafür sprach umso mehr, als das zunächst verfolgte konstitutionell-föderale Konzept einer europäischen politischen Union gescheitert und der Gedanke der Einigung auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt worden war3• In einem derart begrenzten und zweckorientierten Vertragswerk wurde die Inkorporation von Grundrechten einerI Vgl. anstau vieler Seidl-Hohenveldem, V6lkerrecht, Ril. 927; zur Zulässigkeit von völkerrechtlichen Erwägungen im Gemeinschaftsrecht siehe, Marschik, Subsysteme im V6lkerrecht, 1997, Berlin. 2 Jürgensen, Transeuropäische Verkehrsnetze, S. 147. 3 Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 43; Feger, Grundrechte im Recht der EG, S. 61; Jürgensen, Transeuropäische Verkehrsnetze, S. 151.

8 Schindler

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4. Kap.: Die Gemeinschaftsgrundrechte

seits für nicht erforderlich gehalten4 , andererseits sollte auch die vordringlich für notwendig erachtete wirtschaftliche Einigung nicht politisch belastet werden5 . Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, daß sich der EuGH bis in die sechziger Jahre überhaupt nicht mit der Existenz von Gemeinschaftsgrundrechten befaßte und es auch mehrmals explizit ablehnte, nationale Grundrechtsgewährleistungen zu berücksichtigen6 • Erst mit der Erkenntnis, daß es sich bei den Europäischen Gemeinschaften nicht um eine bloße völkerrechtliche Verbindung, sondern um eine Rechtsordnung eigener Art handelt7 , eröffnete sich der EuGH den Weg für eine Herausbildung von originär gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgarantien8 • Folgerichtig sah es der EuGH in der Rs. Stauder als in seiner Zuständigkeit liegend an, sicherzustellen, daß eine ,. ... streitige Vorschrift nichts enthält, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte"9 • 4 Hilf, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Integrationsfaktor, in Prowein (Hrsg.), Die Grundrechte in der Europäischen Gmeinschaft, S. 26; /psen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (1972), S. 716, 721; Jürgensen, Transeuropäische Verkehrsnetze, S. 151; Wetter, Grundrechtscharta, S. 4; demgegenüber gehen Pescatore und Feger davon aus, daß das Problem schlichtweg übersehen wurde (Pescatore, Der Schutz der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften und seine Lücken, in: Mosler/Bemhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 64; Feger, Grundrechte im Recht der EG, S. 64). s Chwolik-LonfermJJnn, Grundrechtsschutz, S. 43. 6 So z. B. in der Rs. Stork, in der der Gerichtshof feststellte, daß er,. ... gemäß An. 31 des Venrages, lediglich die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages und seiner Durchführungsvorschriften zu sichern (habe}, .. . Infolgedessen kann auch auf den Vorwuif, die Hohe Behörde habe mit ihrer Entscheidung Grundsätz des deutschen Verfassungsrechts ( . .. ) verletzt, im Verfahren vor diesem Gerichtshof nicht eingegangen werden." (EuGH-Stork, Rs. 1/58, Slg. 1958/59, 43 (63 f.)); ebenso EuGH-Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaften, verb. Rs. 36-38 und 40/59, Slg. 1960, 885; ein weiterer gewichtiger Grund dafür war sicherlich auch, daß dies zu einer gemeinschaftsrechtlichen Fixierung der unterschiedlichen nationalen Grundrechtsstandards geführt hätte (so auch GTE-Beutler, Grundrechtsschutz, Rn. 5), deren Divergenz später gerade zu der Herausbildung der gemeinsamen Gemeinschaftsgrundrechte führte (vgl. Pescatore, Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft und seine Lücken, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 64 f.); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 48, der zutreffend die beiden Hauptprobleme, die sich aus dieser Rechtsprechung ergaben, beschreibt: Zum einen den Anschein, auf Gemeinschaftsrechtsebene existiere gar kein Grundrechtsschutz; zum anderen, allein die Mitgliedstaaten seien für dessen Gewährleistung zuständig. 7 EuGH-van Gend&Loos, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1; EuGH-Costa/ENEL. Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1270), in denen der EuGH grundsätzlich die Möglichkeit einer unmittelbaren Geltung des Primärrechts anerkannte. a Chwolik-LonfermJJnn, Grundrechtsschutz, 49; vgl. auch Jürgensen, Transeuropäische Verkehrsnetze, S. 148 ff., der die fehlende Grundrechtssensibilität auf Gemeinschaftsebene auch auf das gravierende Demokratiedefizit zurückführt. Zu der Frage, ob das Scheitern des konstitutionell-föderalen Konzepts einer Europäischen politischen Union im Vorfeld der Römischen Verträge ebenfalls ein entscheidender Faktor für die Ausklammerung des Grundrechtsschutzes war, siehe Wieland, EJIL 94, S. 259/261 f.; weitere Nachweise bei Jürgensen, Transeuropäische Verkehrsnetze, S. 151 (Fn. 30).

II. Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht

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In der Rs. lnternatioTUJle Handelsgesellschaft nahm der EuGH eine weitere Konkretisierung des Konzepts der Gemeinschaftsgrundrechte vor, indem er zu deren Herleitung auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zurückgriff10• In der Folge präzisierte er diesen Ansatz durch das Instrument der "wertenden Rechtsvergleichung " 11 , mit Hilfe dessen er begründete, daß - neben den mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen - auch die EMRK zur inhaltlichen Ausgestaltung der Gemeinschaftsgrundrechte herangezogen werden kann 12• Da sich nach der Rechtsprechung die Gemeinschaftsgrundrechte aber in die eigenständige Rechtsordnung des Gemeinschaftsrechts einfügen müssen 13, sind die beiden Quellen keine Rechtsquellen im eigentlichen Sinne, sondern eher ,Rechtserkenntnisquellen •, aus denen rechtsvergleichend die Gemeinschaftsgrundrechte abgeleitet werden müssen 14• Nachdem nicht zuletzt durch den Druck mitgliedstaatlicher Gerichte15- es sei nur auf die ,Solange /'-Entscheidung 16 des BVerfG und die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtshofes vom 27. 12. 1973 17 verwiesen - neue Bewegung in die Frage des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene und die relevante Rechtsprechung des EuGH gekommen war18, erkannte EuGH-Stauder/Stadt Ulm, Rs. 29/69, Slg. 1969,425. EuGH-Internationale Handelsgesellschaft, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1134, Tz. 4. II So die Terminologie von Bleckmann, Die wertende Rechtsvergleichung bei der Entwicklung europäischer Grundrechte, in: FS Bömer, S. 29 ff. 12 Z. 8. EuGH-Hauer, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727; EuGH-Orkem SA, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283 in der sowohl nationales Recht und die EMRK als auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte herangezogen werden. 13 EuGH-Internationale Handelsgesellschaft, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1135, Tz. 4; EuGHNold, Rs. 4/73, Slg. 1974,471, Tz. 14. 14 Streinz. Europarecht, Rn. 361; Schneider, Die öffentliche Ordnung, S. 185; Kokott, AöR 9

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1996, s. 602.

" Nicoi