Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen [1 ed.] 9783428552269, 9783428152261

Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten ist die grundrechtsdogmatische Übersetzung der Frage nach dem Verhältni

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German Pages 259 Year 2018

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Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen [1 ed.]
 9783428552269, 9783428152261

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Das Recht der inneren und äußeren Sicherheit

Band 8

Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen Von

Christoph Clausen

Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTOPH CLAUSEN

Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen

Das Recht der inneren und äußeren Sicherheit Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Markus Thiel, Köln

Band 8

Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen

Von

Christoph Clausen

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahre 2017 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2199-3475 ISBN 978-3-428-15226-1 (Print) ISBN 978-3-428-55226-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-85226-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Max

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016 / 2017 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Sie entstand während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Berlin und dem Beginn meines Referendariats. Literatur und Rechtsprechung konnten bis Ende 2016 berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Fabian Wittreck, der mir stets mit herausragendem Engagement und wertvollen Ratschlägen zur Seite stand. Ich hätte mir keine bessere Betreuung wünschen können. Für die äußerst zügige Erstellung des Zweitgutachtens gebührt Herrn Prof. Dr. Hans Jarass, LL.M., Dank. Für die wertvolle Arbeit des Korrekturlesens danke ich meinen Freunden Gloria Bühler, Maximilian Frye und Stephan Nitsios, die sich dem Text hingebungsvoll gewidmet haben und mir viele nützliche Hinweise geben konnten. Vor allem aber danke ich von Herzen meinen Eltern, Marty und Dr. Nicolaus-Erik Clausen, die mir stets jede erdenkliche Unterstützung haben zukommen lassen, und Miriam Golan, ohne die diese Arbeit nie entstanden wäre. Die vorliegende Arbeit widme ich meinem Freund Max. Berlin, im März 2018

Christoph Clausen

Inhaltsverzeichnis Einleitung 

17

A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Ausnahmesituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Kapitel

Grundrechtsdogmatische Einordnung des Themas 

24

A. Verortung der Pflichten im Grundrechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte . . . . . . . . . . . . . . I. Achtungspflicht hinsichtlich der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 1. Alt. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Menschenwürde: Ein Unikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Strukturelle Einzigartigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normative Einzigartigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Mensch als Berechtigter der Achtungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt der Achtungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 1. Alt. GG . . . . . . . . a) Achtungspflicht trotz Unantastbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schwierigkeit der Bestimmung des Schutzgutes . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsens im Dissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wirkung der Achtungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 1. Alt. GG . . . . . II. Achtungspflicht hinsichtlich des Lebens aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG . . . . . 1. Inhalt der Achtungspflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG . . . . . . . . a) Der relativ(e) starke Schutz des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Identität der Achtungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirkung der Achtungspflicht zugunsten des Lebens . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Staat als Verpflichteter der Achtungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . .

26

C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzpflicht zugunsten der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzpflicht zugunsten des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herleitung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Positive Rezeption der Rechtsprechung im Schrifttum . . . . . . . . . . c) Weitere Begründungsversuche der Schutzpflicht  . . . . . . . . . . . . . .

45 46 46 47 48 52 54

28 28 29 29 30 31 31 32 36 37 38 39 40 42 44 44

10 Inhaltsverzeichnis aa) Staatszweck Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Menschenwürde als Ursprung der Schutzpflicht . . . . . . . . cc) Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die abwehrrechtliche Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tatbestand der grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Objekt der Gefährdung – grundrechtliche Schutzgüter  . . . . . . . . . . . . 2. Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gefahrenquelle – „von Seiten anderer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art der Gefahr – „rechtswidriger Eingriff“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unerheblichkeit der „Rechtswidrigkeit“ des Übergriffs . . . . . . bb) Gefahrenbegriff und Gefahrenschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verursachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Staat als Verpflichteter der grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . IV. Rechtsfolge der Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umfang und Grenzen des Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art und Weise des Schutzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit zu den grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Das mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entstehung mehrpoliger Verfassungsrechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rolle des Staates im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis . . . . . III. Auflösung mehrpoliger Verfassungsrechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . .

54 55 57 59 61 61 62 62 63 63 63 64 65 66 66 67 70 71 72 73 74

74 75 76 77

2. Kapitel

Primat der Achtungspflicht? 

A. Staatstheoretische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Thomas Hobbes – Sicherheit als Staatslegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . II. John Locke – Sicherheit vor dem Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gegenwartsbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80 84 85 86 87

B. Abwehrrechtliche Formulierung des Grundrechtsabschnitts . . . . . . . . . . . . . . 88 I. Textbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 II. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 C. Größere Schwere der Verletzung der Achtungspflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Art der Verletzungshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strafrechtliche Argumentation nach Saliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 92 92 93 96

Inhaltsverzeichnis11 II. Art des Verletzungserfolgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 D. Spielraum bei Erfüllung der Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unbestimmtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . II. Nur retardierender Effekt des Spielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bestimmtheit als Kriterium der Geltungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 99 100 101 101

E. Vorrang der Achtungspflicht wegen Eingriffsschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 F. Manko der Mediatisierungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausnahmen vom Dogma der Mediatisierungsbedürftigkeit  . . . . . . . . . . . II. Fortgeschrittener Stand der Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103 104 106 107

G. Subjektiv-rechtliche Dimension versus objektiv-rechtliche Dimension . . . . . . I. Objektives und subjektives Recht in der Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . II. Inkongruenz der überkommenen Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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H. Keine reine Verstärkungsfunktion objektiver Gehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Reine Verstärkungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Umkehrung der abwehrrechtlichen Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Determinierungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Historische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsfunktionen im deutschen Konstitutionalismus . . . . . . . . . . a) Süddeutsche Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Paulskirchenverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . d) Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenfazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weimarer Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Genese des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119 120 120 120 122 122 123 124 125 126 127 129

J. Liberale Grundrechtstheorie: in dubio pro libertate? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Liberale Grundrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Veränderung des Grundrechtsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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K. Kein Primat der Achtungspflicht im Dreiecksverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

12 Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel

Auflösung der Ausnahmesituationen 

143

A. Leben gegen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 I. Ausgangsposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Der Staat darf töten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Tötungsverbot des Art. 102 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Verbot der Antastung des Wesensgehalts gemäß Art. 19 Abs. 2 GG  . 149 4. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5. Grundrecht auf Leben unter Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 III. Pflichtenfortfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Fortfall der Achtungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Rechtsverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 c) Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Grundsätzliche Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts . . . . . . 153 bb) Dispositionsbefugnis über das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Fortfall der Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) Subsidiarität staatlichen Schutzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 b) Faktische Unmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Verzicht auf Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 d) Abwehrrechtliche Kautelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 e) Vorbehalt des rechtlich Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 IV. Auflösung durch Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 1. Absolutes Wertungsverbot von Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Zulässige Abwägungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Gefahrverantwortlichkeit des Übergriffigen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Wahrscheinlichkeit der Pflichterfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 c) Existenzbedrohung des Staates  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 V. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 B. Menschenwürde gegen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangsposition(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Pflichtenfortfall im Würdebereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unabwägbarkeit der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Weitere Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis13 1. Kloepfers These vom Leben als Höchstwert des Grundgesetzes . . . . . 2. Aufwertung des Lebensschutzes durch Gleichordnung . . . . . . . . . . . . 3. Koppelung von Menschenwürde und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung der alternativen Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175 176 177 177 181

C. Menschenwürde gegen Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Existenz der Würdekollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Kollision im Würdebereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Faktische Unmöglichkeit der Pflichtenkollision . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtliche Unmöglichkeit der Pflichtenkollision . . . . . . . . . . . . . . c) Alternative Konzepte von Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pro Pflichtenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lebenswirklichkeit der Menschenwürdekollision . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtliche Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kollisionsfähigkeit der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Modi der Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einzelfallabhängige Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unbedingte Vorrangkonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unauflösbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich . . . . . . . . . 1. Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grammatische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historisch-genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Schutz der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Menschenwürde als Legitimationsgrundlage des Staates  . . . . cc) Rechtsstaatlichkeit als Gebot der Menschenwürde . . . . . . . . . dd) Individuum vor Gemeinschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Grundrechtstheoretische Ausgestaltung des Vorrangs der Achtungspflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181 182 183 183 184 184 188 188 189 191 195 196 197 200 202 203 208 209 209 210 212 213 213 215 218 221 223 224

D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 E. Auswirkung auf die Konstellation Leben gegen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Schluss 

232

A. Die Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . 232 I. Keine Veränderung des grundrechtlichen Freiheitsverständnisses . . . . . . . 232 II. Kein Jurisdiktionsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

14 Inhaltsverzeichnis B. Bewältigung von Ausnahmesituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Leben gegen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Leben gegen Menschenwürde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Menschenwürde gegen Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235 235 235 236

C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht Abs. Absatz AK Alternativkommentar Allg. Allgemeine Alt. Alternative Anm. Anmerkung AöR Archiv des öffentlichen Rechts Art. Artikel Aufl. Auflage BayVBl. Bayerische Verwaltungsblätter Begr. Begründer BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGK Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Dig. Digesten DÖV Die öffentliche Verwaltung DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt EMRK Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten vom 4.11.1950, BGBl. 1952 II S. 685, in Deutschland in Kraft seit dem 3.9.1953 (BGBl. 1954 II S. 14) EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift f. folgende(r) ff. Folgende Fn. Fußnote GA Goltdammer’s Archiv für Strafrecht GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls h. M. herrschende Meinung Hrsg. Herausgeber JA Juristische Arbeitsblätter JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jura Juristische Ausbildung

16 Abkürzungsverzeichnis JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung Kap. Kapitel KJ Kritische Justiz KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft lit. Buchstabe m. w. N. mit weiteren Nachweisen Nr. Nummer NJW Neue juristische Wochenschrift NRW Nordrhein-Westfalen NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht PolG Polizeigesetz Rspr. Rechtsprechung S. Seite s. o. siehe oben sog. sogenannt(e) st. Ständige Der Staat Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches Öffentliches Recht StGB Strafgesetzbuch StudZR Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft Heidelberg u. a. unter anderem v. von VBlBW Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg VersR Versicherungsrecht – Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungsund Schadensrecht vgl. vergleiche Vorb. Vorbemerkung VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer WRV Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 z. B. zum Beispiel ZBR Zeitschrift für Beamtenrecht ZfMR Zeitschrift für Menschenrechte ZG Zeitschrift für Gesetzgebung ZLW Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZRph Zeitschrift für Rechtsphilosophie ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung A. Problemaufriss Der Staat hat die Freiheit und die Rechtsgüter des Einzelnen zu achten und zu schützen. In den ersten Jahrzehnten der noch jungen Bundesrepublik stand angesichts der schrecklichen Erfahrungen des Dritten Reichs vor allem die Sorge vor einem zu mächtigen Staat im Vordergrund. Neben verschiedenen rechtsstaatlichen Absicherungsmechanismen des Grundgesetzes haben auch die Achtungspflichten dafür gesorgt, dass diese Sorge unbegründet geblieben ist. Diese untersagen dem Staat, die grundrechtlichen Freiheitssphären seiner Bürger übermäßig zu beschneiden. Im Rückblick hat sich das Grundgesetz als effektives Bollwerk gegen eine ungezügelte staatliche Machtentfaltung erwiesen. Es ist ihm unter Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichts gelungen, die Freiheit des Einzelnen im Verhältnis zum Staat zu gewährleisten. Mit der Zeit wurde jedoch offenbar, dass die grundrechtlich geschützte Freiheit nicht nur Bedrohungen von staatlicher Seite ausgesetzt ist, sondern zunehmend auch durch Private gefährdet wird. Aus dieser Erkenntnis folgte ein stärkeres Verlangen nach der sicherheitsstiftenden Funktion des Staates. Diese zielt darauf ab, die Freiheit der Bürger im Verhältnis zueinander zu koordinieren und ihnen ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen. Dieser ursprüngliche Zweck des Staates – die Gewähr von Sicherheit – erlebte mithin eine Renaissance. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten wurde entwickelt. Diese verpflichten den Staat dazu, den Menschen ausreichend Schutz vor Gefahren zu gewähren, die von anderen Menschen ausgehen. Folglich ist der deutsche Staat seit Inkrafttreten des Grundgesetzes vom alleinigen Feind der Grundrechte nunmehr auch zu deren Garant geworden1. In dieser Janusköpfigkeit des Staates liegt das Kernproblem der Untersuchung begründet. Die grundrechtlichen Schutzpflichten fordern den Schutz durch den Staat. Wird der Staat aber zum Schutze eines Bürgers aktiv, weil dieser durch einen anderen in seiner Freiheit bedroht wird, so geht dies oftmals Hand in Hand mit einer Freiheitsbeschneidung bei demjenigen, der die Freiheitssphäre des Mitbürgers zu verletzen droht. Hierdurch werden die Achtungspflichten aktiviert, die den Schutz vor dem Staat fordern. Auch wenn der Staat zum Schutze eines Bürgers handelt, so hat er dennoch die 1  H. Dreier,

Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 49.

18 Einleitung

grundrechtliche Freiheit des anderen Bürgers zu achten, den er zu diesem Zweck in Anspruch nimmt. Achtungs- und Schutzpflichten richten aufgrund ihrer verschiedenen Schutzberechtigten also gegensätzliche Appelle an den Staat. Es kommt zu einer Pflichtenkollision im sogenannten Dreiecksverhältnis mit dem Staat an der Spitze und den beiden privaten Akteuren an den jeweiligen Enden. Auf der einen Seite soll der Staat seinen Bürgern ausreichend Schutz gewähren und auf der anderen Seite nicht übermäßig ihre Freiheiten beschneiden. Die staatliche Gewalt wird dadurch in eine Spannungslage versetzt, welche es aufzulösen gilt. An dieser Stelle wird das Verhältnis der Achtungspflichten zu den grundrechtlichen Schutzpflichten relevant. Es gilt zu klären, ob diese beiden Pflichten gleichwertig sind oder ob gegebenenfalls ein Vorrang einer der beiden Pflichtenarten besteht. Sollte dies der Fall sein, muss untersucht werden, wie dieser ausgestaltet ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Achtungs- zu Schutzpflichten ist dabei die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit zu Sicherheit in anderem Gewand. Unter „Freiheit“ wird diesbezüglich die Freiheit vor dem Staat verstanden, welche durch die Achtungspflichten vermittelt wird. Mit „Sicherheit“ ist demgegenüber die Sicherheit durch den Staat gemeint, die von den grundrechtlichen Schutzpflichten abgesichert wird. Im Zusammenhang mit diesem klassischen Begriffspaar geht man zumeist davon aus, dass ein Mehr auf der einen Seite stets zu einem Weniger auf der anderen Seite führe. Strebt man also beispielsweise mehr Sicherheit an, so gehe damit ein geringeres Maß an Freiheit einher. Diese Überlegung steht dabei zudem unter der Prämisse, dass Freiheit nicht ohne ein gewisses Mindestmaß an Sicherheit zu haben ist. Auf der anderen Seite wäre Sicherheit ohne Freiheit wertlos. Basierend auf diesem Modell stellt sich die Frage nach dem optimalen Verhältnis dieser beiden Größen zueinander. Dabei ist zu beachten, dass die Beantwortung dieser Frage zumeist stark von den aktuellen Umständen abhängt. Dies zeigt sich am Beispiel des Terrorismus. Die Formierung des Daesh und die von dieser Gruppierung verübten oder veranlassten Angriffe in Europa lassen in der Zivilbevölkerung das Gefühl der Bedrohung wachsen. Die durch den Staat zu gewährleistende Sicherheit scheint gefährdet. Damit einher gehen gesteigerte Sicherheitserwartungen in der Bevölkerung. Ebenso fordern die mit der Gefahrenabwehr betrauten Behörden mehr und insbesondere weiterreichende Instrumente, um effektiv gegen derartige Angriffe vorgehen zu können. Das Verhältnis von Sicherheit zu Freiheit scheint sich in Zeiten neuer Bedrohungen zugunsten der Sicherheit zu verschieben. Das ist kein neues Phänomen, sondern konnte auch in der Vergangenheit immer wieder beobachtet werden, wenn sich die Bevölkerung neuen Formen von Gewalt ausgesetzt sah, wie beispielsweise in den 1970er Jahren zu den Hochzeiten des Terrorismus der „Rote Armee Fraktion“. Ein weiteres Beispiel ist die im Zuge des Daschner-Prozesses



A. Problemaufriss19

wieder aufkeimende Debatte um die Zulässigkeit von Folter zur Rettung von Menschenleben. Ebenso virulent wurde die Frage, ob ein Flugzeug, welches von Terroristen entführt und als Waffe gegen eine große Menschenmenge eingesetzt werden soll, abgeschossen werden darf. All diese Konstellationen befassen sich im Kern mit der Frage nach dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit und damit von Schutz- zu Achtungspflichten. Folge solcher Ereignisse ist allzu oft symbolischer Aktionismus. Die verschiedenen politischen Lager überbieten sich in ihrer sicherheitspolitischen Rhetorik. Teilweise folgen rasche Reaktionen des Gesetzgebers, wie beispielsweise das Luftsicherheitsgesetz im Anschluss an die Attentate vom 11. September 2001, welches postwendend vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurde2. Derartige Legislativakte, die direkt im Anschluss auf Ereignisse folgen, die die Gesellschaft erschüttern, stehen stets unter dem Verdacht, mit „heißer Nadel gestrickt“ zu sein. Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, allein aus der Motivation heraus entstanden zu sein, der Bevölkerung ein zupackendes Bild der Regierung zu vermitteln. Dieser Umstand allein vermag indes keine Auskunft über die verfassungsrechtliche Bewertung solcher Regelungen zu geben. Aufhorchen sollte das Verfassungsrecht aber dann, wenn mit Gesetzesvorhaben eine Lockerung der rechtsstaatlichen Fesseln einhergeht, um der staatlichen Gewalt ein größeres Maß an Handlungsfähigkeit einzuräumen. „Die zuweilen in Hysterie umschlagende Terrorismusangst kann den Gesetzgeber nicht von einem verantwortungsbewussten, an den rechtsstaatlichen Vorgaben des Grundgesetzes orientierten Handeln entbinden“3. Das bedeutet, der Rechtsstaat kann und tut gut daran, angesichts neuartiger Bedrohungslagen sein Handlungsinstrumentarium zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Dabei sollte er aber stets gewahr sein, dass mit einer Erweiterung der Eingriffsbefugnisse der Gefahrenabwehrbehörden im Dienste der Sicherheit zumindest potentiell eine Beschränkung der individuellen Freiheit einhergeht. Diese gegenseitige Bedingtheit findet sich auch im Verhältnis von Achtungs- zu Schutzpflichten wieder. Im Rahmen dieser Untersuchung wird indes nicht nach dem optimalen Verhältnis der beiden Pflichtenarten gefragt. Vorausgesetzt, dass es ein solches gäbe, hätte ein jeder auf diese Frage wohl seine eigene Antwort. Herausgefunden werden soll vielmehr, welches Verhältnis das Grundgesetz vorgibt. Allein dieses ist Maßstab staatlichen Handelns und bestimmt damit auch die Handlungsspielräume der staatlichen Gewalt in den hier zu untersuchenden Ausnahmesituationen.

2  BVerfGE

115, 118. Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, in: NJW 2006,

3  W.-R. Schenke,

S. 736 (736).

20 Einleitung

B. Ausnahmesituationen Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten wird konkret in Hinblick auf Ausnahmesituationen untersucht. Im Rahmen dieser Untersuchung sind damit besondere Bedrohungslagen für existentielle Güter gemeint, namentlich das Leben und die Menschenwürde. Der Ausnahmecharakter der Situationen resultiert daher vor allem aus den betroffenen Grundrechten. Auch wenn das Grundgesetz keine abstrakte Rangordnung vorschreibt – schon gar nicht durch die Reihenfolge der Artikel im Grundgesetz – handelt es sich, sowohl beim Leben als auch bei der Menschenwürde, um Rechtsgüter, die für unser Dasein von übergeordneter Bedeutung sind. Sie stellen die „konstitutiven Eigenschaften“ des Menschen dar4. Hinsichtlich des Lebens erklärt es sich von selbst, da dieses die biologische Voraussetzung unserer körperlichen Existenz darstellt. Es ist damit zugleich conditio sine qua non für die Wahrnehmung aller anderen Grundrechte. Die Würdegarantie auf der anderen Seite bildet das Fundament unserer Rechtsordnung und beeinflusst maßgeblich das Verhältnis der Menschen untereinander als auch zum Staat. Der Ausnahmecharakter der hier behandelten Konfliktlagen ergibt sich zudem daraus, dass unterstellt wird, dass der Staat zum Schutz des Lebens oder der Menschenwürde zwingend auch Leben beenden oder die Menschenwürde verletzen muss. Die Pflichtenkollision lässt sich daher nie im Wege eines schonenden Ausgleichs auflösen. Der Staat wird in ein „Dilemma“ versetzt. Nicht von dem hier verwendeten Begriff der Ausnahmesituation erfasst sind hingegen Situationen in denen der Staat als solcher in seiner Existenz oder verfassungsrechtlichen Identität bedroht ist5. Es handelt sich mithin nicht um einen terminus technicus, insbesondere soll kein Fall des inneren Notstandes im Sinne von Art. 35, 87a Abs. 4, 91, 115a-115l GG vorliegen. Die besondere Inblicknahme von Ausnahmesituationen erfolgt, weil diese am ehesten geeignet sind das Recht an seine Grenzen zu bringen. Ihnen wohnt das Potential inne, unser Normensystem zu sprengen. Allein in besonderen Situationen offenbart sich, ob das bestehenden Recht in der Lage ist, diese einzufangen und befriedigend zu lösen. Das Recht muss schließlich auch solche Sachverhalte erfassen, die möglicherweise nicht recht ins System passen. Auch wenn es in der Lebenswirklichkeit in nahezu unendlich vielen Situationen zu einer Kollision von Achtungs- und Schutzpflichten 4  M. Kloepfer, Leben und Würde des Menschen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., 2001, S. 77 (78). 5  Dazu z. B. R. Poscher, Menschenwürde im Staatsnotstand, in: W. Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt? Juristische und philosophische Aspekte, 2006, S. 47 ff.



C. Gang der Untersuchung21

kommt, erscheint die Konzentration auf Ausnahmesituationen deshalb besonders wertvoll. Diese befinden sich zwar in der Peripherie des Rechts und umfassen daher nur einen äußerst kleinen Ausschnitt der vom Recht umfassten Lebenswirklichkeit, fordern den Staat aber umso mehr. Es sind in diesen Konstellationen schließlich integrale Positionen betroffen und die jeweilige Entscheidung des Staates hat einschneidende Folgen für die Betroffenen. Zudem gibt das Verhalten des Staates in solchen Situationen Auskunft über seine allgemeine Verfassung und den Zustand seiner Gesellschaft. Dabei wird im Rahmen dieser Untersuchung nicht vom Ausnahmezustand her gedacht. Der Arbeit liegt nicht die Disjunktion von Normalfall oder Ausnahmezustand zugrunde, wie sie sich beispielsweise bei Carl Schmitt findet6. Es geht hier mithin nicht um eine partielle Aufhebung der Rechtsordnung oder die Entwicklung eines Sonderrechts, sondern um eine Integration vermeintlich kritischer Bereiche in das bestehende System. Es wird also vielmehr ein Denken vom Normalzustand her angestrebt, mit dem Ziel auch besondere Situa­ tionen hierdurch lösen zu können. Dies erfolgt, weil das Recht aufgrund der engen Verknüpfung von Normativität und Normalität als sozialer Mechanismus gerade der Bewahrung des Normalzustandes dient7. Die Konzentration auf Ausnahmesituationen bietet sich aber deshalb an, weil das Recht seinen Schwerpunkt nicht in der Steuerung der Normalität haben kann, sondern diese Normalität nur dazu da ist, regelungsbedürftige Abweichungen ausmachen zu können, denen sich das Recht anzunehmen hat8. Im Ergebnis muss unsere Rechtsordnung die alltägliche Pflichtenkollision genauso bewältigen können wie die Ausnahmesituation. Nur so kann die Rechtsordnung in ihrer Allgemeinheit den Rückhalt der Gesellschaft erfahren.

C. Gang der Untersuchung Für die Untersuchung des Verhältnisses von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen, ist es zunächst erforderlich, diese beiden Pflichtenarten in die Dogmatik des Grundgesetzes einzuordnen. Zu diesem Zwecke erfolgt an erster Stelle eine konzise Darstellung der beiden Pflichtenarten. Auf die Achtungspflichten wird dabei nur in gebotener Kürze eingegangen, 6  Die Ausnahme soll daher nicht zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht werden im Sinne des Verständnisses wie es sich bei C. Schmitt findet, Politische Theologie, 2. Aufl. 1932, S. 21 „Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme.“ 7  K.-H. Ladeur/I. Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, 2008, S. 38. 8  Ladeur/Augsberg, Funktion (Fn. 7), S. 39.

22 Einleitung

weil deren Ursprung und Wirkung als weitestgehend bekannt vorausgesetzt werden können, schließlich handelt es sich um das Pendant zu den Abwehrrechten. Allein die Erläuterung des Inhalts der Achtungspflichten für das Leben und die Menschenwürde, erfordert einen gesteigerten Aufwand. Dies liegt in den zahlreichen Besonderheiten dieser beiden Schutzgüter begründet, die auch noch im weiteren Verlauf der Untersuchung von besonderer Relevanz sein werden. Im Anschluss erfolgt die Darstellung der grundrechtlichen Schutzpflichten. Deren Existenz ist grundsätzlich anerkannt, über die genaue Begründung besteht allerdings Streit. Daher wird die Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten erläutert, um darauf aufbauend ihren Tatbestand und insbesondere ihre Rechtsfolge darlegen zu können. Im letzten Teil der grundrechtsdogmatischen Einordnung der Pflichten wird dann mit dem sogenannten Dreiecksverhältnis die Ausgangsposition beschrieben, in der die beiden Pflichten in Konflikt geraten. Dabei wird neben dessen Entstehung auch auf die Rolle des Staates eingegangen und die verfassungsrechtlichen Grundbedingungen der Auflösung eines solchen Dreiecksverhältnisses erläutert. Damit ist die Grundlage für die weitere Untersuchung geschaffen. Der zweite Teil ist dem grundsätzlichen Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten gewidmet. Hier wird allgemein untersucht, ob einer der beiden Pflichtenarten ein abstrakter Vorrang zukommt oder ob diese als grundsätzlich gleichwertig anzusehen sind. Dazu wird das Verhältnis der beiden Pflichten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Begonnen wird mit einer staatstheoretischen Ergründung von Achtungs- und Schutzpflichten, gefolgt von einer Auslegung des Grundgesetztextes. Dem schließt sich eine Analyse der diversen Unterschiede der beiden Pflichtenarten an, aus denen sich ein Rangverhältnis ergeben könnte. Die Auffassung der Rechtsprechung wird ebenfalls einer näheren Betrachtung unterzogen. Darüber hinaus wird die Entstehungsgeschichte der Grundrechte auf etwaige Anhaltspunkte zum Verhältnis von Achtungs- zu Schutzpflichten untersucht. Abschließend werden Überlegungen angestellt, ob dem Grundgesetz ein bestimmtes Verständnis zugrunde gelegt werden kann, welches Aufschluss über das Verhältnis der beiden Pflichtenarten gibt. Unter Berücksichtigung sämtlicher genannter Aspekte wird dann eine These zum grundsätzlichen Verhältnis von Achtungspflichten zu grundrechtlichen Schutzpflichten formuliert. Im dritten und letzten Teil der Arbeit wird sich dann den Ausnahmesituationen zugewendet. Von Interesse ist hier insbesondere, ob das im zweiten Teil gefundene Ergebnis auch in der Lage ist, die Ausnahmesituationen zu bewältigen. Der Blick wird dabei zunächst auf die Konstellation, in der Leben gegen Leben steht, gerichtet. Hierzu erfolgt an erster Stelle eine kurze Darstellung der Ausgangsposition. Im Anschluss daran wird gefragt, unter welchen Voraussetzungen eine der beiden Pflichten in Hinblick auf das Leben gegebenenfalls keine Wirkung entfaltet und eine Auflösung der Kolli­



C. Gang der Untersuchung23

sionslage daher nicht erforderlich ist. Schließlich erfolgt eine Auseinandersetzung mit der konkreten Auflösung dieser Pflichtenkollision, welche insbesondere durch die Suche nach brauchbaren Parametern geprägt ist, welche den Staat bei seiner Entscheidung leiten können. Als nächste Ausnahme­ situation wird das Aufeinandertreffen von Leben und Würde in den Blick genommen. Dabei wird insbesondere auch auf die dem Grundrecht auf Leben zu Grunde zu legende Konzeption eingegangen. Zuletzt wird sich dann der Pflichtenkollision im Bereich der Menschenwürde gewidmet. Dabei gilt es zunächst zu klären, ob eine solche möglich ist. Danach wird der Frage nachgegangen, welcher Auflösungsmodus vor dem Hintergrund der Unantastbarkeit der Menschenwürde geeignet ist, eine Auflösung zu ermöglichen. Zum Schluss wird unter Rückgriff auf eine Auslegung das Verhältnis der beiden Pflichtenarten im Bereich der Menschenwürde herausgearbeitet. In Hinblick auf die zu untersuchenden Ausnahmesituationen ist es ein besonderes Anliegen dieser Untersuchung, die diesbezüglich oftmals polemisch und emotional geführte Debatte auf eine sachliche und vor allem rechtlich fundierte Basis zu stellen.

1. Kapitel

Grundrechtsdogmatische Einordnung des Themas Die Untersuchung des Verhältnisses von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen setzt eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Dogmatik dieser beiden Pflichtenarten voraus. Allein die extensive Analyse des Ursprungs, des Inhalts und der Wirkung von Achtungspflichten auf der einen und Schutzpflichten auf der anderen Seite ermöglicht es, ein klares Bild über diese beiden Rechtsfiguren zu gewinnen. Dies ist unerlässlich, um eine fundierte Aussage über die Beziehung dieser zueinander treffen zu können. Im Folgenden soll daher zunächst eine grundrechtsdogmatische Einordung der beiden Pflichtenarten erfolgen, gefolgt von einer konzisen Darstellung ihres Inhalts. Darauf aufbauend wird dann der Blick auf die Entstehung von Konstellation gerichtet, in denen Achtungs- und Schutzpflichten miteinander in Konflikt geraten.

A. Verortung der Pflichten im Grundrechtssystem Die Grundrechte haben verschiedene Dimensionen1. Diese Dimensionen lassen sich in subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Dimensionen unterteilen2. Der Begriff der „Dimension“ umschreibt dabei die rechtliche Wirkung der Grundrechte zugunsten des jeweiligen Schutzgutes3. Achtungs- und Schutzpflichten wurzeln in verschiedenen Dimensionen der Grundrechte4. Die Achtungspflichten werden der subjektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte zugeordnet. Darunter versteht man die Gehalte der Grundrechte, „die den Grundrechtsträgern unmittelbar einen Rechtsanspruch gegen den Staat einräumen.“5 Innerhalb der subjektiv-rechtlichen Dimension sind die Achtungspflichten wiederum der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte 1  B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 31. Aufl. 2015, § 4 Rn. 80 ff. 2  A. Voßkuhle/A.-B. Kaiser, Grundwissen Öffentliches Recht: Funktionen der Grundrechte, in: JuS 2011, S. 411 (411). 3  H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Vorb. vor Art. 1 Rn. 2. 4  Vgl. zum Begriff der Dimension Jarass (Fn. 3), Vorb. vor Art. 1 Rn. 2, er bezeichnet die Dimensionen als Funktionen. 5  H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  I, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rn. 83.



A. Verortung der Pflichten im Grundrechtssystem25

zuzuordnen6. In dieser Funktion verpflichten die Grundrechte den Staat zu einem Unterlassen von ungerechtfertigten Eingriffen in die grundrechtlichen Schutzgüter (Achtungspflichten). Die Achtungspflichten korrespondieren ihrem Inhalt nach mit der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte7. Sie dienen dazu, „die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern.“8 Die Schutzpflichten fallen demgegenüber in die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte9. Als solche werden Grundrechtswirkungen verstanden, die nicht unmittelbar subjektive Rechtsansprüche gewähren10. Damit ist zum einen gemeint, dass Grundrechte objektiv geltendes Recht sind11, zum anderen, dass die staatliche Gewalt die Grundrechte zu beachten hat12. Eigentliche Kernaussage des Begriffs der objektiv-rechtlichen Dimension ist aber, dass damit neue Wirkweisen der Grundrechte umschrieben werden, die diesen im Vergleich zu den ursprünglich subjektiv-rechtlichen Dimensionen der Grundrechte nunmehr zugesprochen werden13. Die objektiv-rechtlichen Dimensionen der Grundrechte sind somit nicht das Spiegelbild der subjektivrechtlichen Dimensionen, sondern schlichtweg andere, nicht direkt vergleichbare Wirkweisen14. Sie dienen der Verstärkung und Ergänzung der subjektivrechtlichen Bedeutungsgehalte15. Der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte werden beispielsweise deren Ausstrahlungswirkung, Grundrechtsschutz in und durch Verfahren oder Organisation, die Einrichtungsgarantien sowie die grundrechtlichen Schutzpflichten zugeordnet16. Die Schutzpflichten als eine dieser objektiv-rechtlichen Dimensionen schützen den Bürger im Gegensatz zu den Achtungspflichten nicht vor dem Staat. Vielmehr verpflichten sie den Staat, den einzelnen Bürger vor Übergriffen auf die grundrechtlich geschützten Güter von anderer Seite zu schützen17. „Der Staat (potenziell in all seinen Erscheinungsformen) ist danach verpflichtet, den in 6  Dreier

(Fn. 5), Vorb. Rn. 84. Die Garantie der Menschenwürde, in: JöR 57 (2009), S. 89 (94). 8  BVerfGE 7, 198 (204); 50, 290 (337); 68, 193 (205). 9  Dreier (Fn. 5), Vorb. vor Art. 1 Rn. 101. 10  Dreier (Fn. 5), Vorb. vor Art. 1 Rn. 94; was nicht ausschließt, dass im Einzelfall mit den objektiv-rechtlichen Gehalten subjektiv einklagbare Ansprüche korrespondieren. 11  J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S.  55 f.; Jarass (Fn. 3), Vorb. vor Art. 1 Rn. 6. 12  K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 290 ff.; Jarass (Fn. 3), Vorb. vor Art. 1 Rn. 6. 13  Dreier (Fn. 5), Vorb. vor Art. 1 Rn. 94; Jarass (Fn. 3), Vorb. vor Art. 1 Rn. 6. 14  Dreier (Fn. 5), Vorb. vor Art. 1 Rn. 94. 15  BVerfGE 7, 198 (205); Voßkuhle/Kaiser, Grundwissen (Fn. 2), S. 411. 16  Voßkuhle/Kaiser, Grundwissen (Fn. 2), S. 412. 17  Dreier (Fn. 5), Vorb. Rn. 101. 7  H. G. Dederer,

26

1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

den Grundrechten zum Ausdruck kommenden grundsätzlichen Aussagen dadurch Rechnung zu tragen, dass er sich „schützend und fördernd“ vor sie stellt – was Handlungspflichten des Staates gewissermaßen in Wahrnehmung einer Garantenstellung für die Grundrechte auslöst, die er ggf. durch Gesetzgebung zu erfüllen hat, aber nicht nur hierdurch, sondern auch durch Gesetzesanwendung und andere Maßnahmen.“18 Die Schutzpflichten korrespondieren also mit der grundrechtlichen Schutzfunktion19. Gemeinsam ist Achtungs- und Schutzpflichten der Adressat. Sie richten sich an den Staat. Da die beiden Pflichtenarten aus entgegengesetzten Dimensionen der Freiheitsgrundrechte folgen, unterscheiden sie sich aber in dem, was sie dem Staat abverlangen20. Achtungspflichten beinhalten das Verbot der Vornahme nicht rechtfertigungsfähiger Grundrechtseingriffe und verpflichten damit zu einem Unterlassen. Schutzpflichten hingegen gebieten der staatlichen Gewalt ein aktives Tätigwerden zum Schutz grundrechtlich geschützter Güter. Sie schützen beide die Schutzgüter der Freiheitsgrundrechte, allerdings vor verschiedenen Gefahrenquellen, haben also verschiedene Wirkrichtungen. Hierdurch soll ein lückenloser Schutz der grundrechtlichen Güter gewährleistet werden21.

B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte Nach der klassischen Konzeption des liberalen Rechtsstaates sind die Grundrechte in erster Linie „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“22. Diese werden definiert als „durch Grundrechtsbestimmungen gesicherte subjektive Rechtspositionen, deren Beeinträchtigung der Staatsgewalt verboten ist und die durch negatorische Ansprüche der Berechtigten hiergegen gesichert sind.“23 Die Bedeutung ihrer Funktion – Bewahrung der durch die 18  I. v. Münch/P. Kunig, in: P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 6. Aufl. 2012, Vorb. Art. 1–19 Rn. 17. 19  Dederer, Garantie (Fn. 7), S. 94. 20  J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 1. 21  C. Calliess, Die grundrechtliche Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis, in: JZ 2006, S. 321 (327). 22  BVerfGE 7, 198 (204 f.); 50, 290 (337); 61, 82 (100 f.); G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 79; A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 27 ff. 23  K. Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: J.  Isen­ see/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 185 Rn. 57.



B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte 

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Grundrechte vorgezeichneten Freiheitssphäre vor staatlichen Beeinträchtigungen – wird dabei unterstrichen durch die Voranstellung des Grundrechtsabschnitts im Grundgesetz. Hierdurch soll gerade der Vorrang des Menschen und seiner Würde vor der Macht des Staates betont werden24. Das Grundgesetz entspringt also der geistesgeschichtlichen Tradition eines liberalen Rechtsstaates und ist in dieser verwurzelt25. Diese grundsätzliche Ausrichtung verwundert nicht, angesichts der historischen Umstände unter denen das Grundgesetz geschaffen wurde. In den Jahren nach der Kapitulation des Deutschen Reichs waren die Erfahrungen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, der sich gerade durch eine nahezu grenzenlose Macht der staatlichen Gewalt und entsprechend schwache Bürgerrechte auszeichnete, noch sehr präsent26. Die Abwehrfunktion der Grundrechte kann damit in Hinblick auf das Grundgesetz als deren Urfunktion bezeichnet werden27. Aus dieser Abwehrfunktion resultieren die staatlichen Achtungspflichten. Wie bereits dargestellt, begründen die Grundrechte in ihrer negatorischen Funktion staatsgerichtete Unterlassungsansprüche des Einzelnen28. Da die staatliche Gewalt aufgrund von Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist, leitet sich aus dem jeweiligen Abwehranspruch eine kongruente Achtungspflicht des Staates ab. Ihr Inhalt ist das Verbot eines verfassungswidrigen Grundrechtseingriffs in das betroffene Freiheitsgrundrecht. Sie könnten daher auch als Nichteingriffspflichten bezeichnet werden29. Die Achtungspflichten gebieten also Zurückhaltung des Staates30. Für den Gesetzgeber folgt daraus, dass dieser nur durch ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze in die Grundrechte eingreifen darf. Verwaltung und Rechtsprechung wiederum dürfen nur aufgrund eines verfassungsmäßigen Gesetzes in Grundrechte eingreifen. Darüber hinaus muss auch der auf dem jeweiligen Gesetz beruhende Eingriffsakt als solcher verfassungsgemäß sein, was insbesondere relevant wird, wenn der Verwaltung oder dem Gesetzgeber im konkreten Fall ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht. Unabhängig davon welche der staatlichen Gewalten tätig wird, agieren diese im Hinblick auf die Achtungspflichten also stets als Gegenüber des Bürgers und Verursacher der Gefahr für die Gewährleistungen des Grundgesetzes31. Die Ach24  BVerfGE

7, 198 (205). 61, 82 (100 f.). 26  W. Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, 2003, S. 75. 27  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 34. 28  M. Hermann, Schutz vor Fluglärm bei der Planung von Verkehrsflughäfen im Lichte des Verfassungsrechts, 1994, S. 81. 29  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 34. 30  Vgl. die Ausführungen von Stern zu den Grundrechten als Abwehrrechten, (Fn. 23), § 185 Rn. 57. 31  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 5. 25  BVerfGE

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

tungspflichten markieren hierbei die äußerste Grenze staatlicher Machtentfaltung gegenüber seinen Bürgern.

I. Achtungspflicht hinsichtlich der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 1. Alt. GG Das Grundgesetz erhebt bereits in seinem ersten Satz – die Präambel ausgenommen – die Menschenwürde zum höchsten Gut der Verfassung, indem es diese für „unantastbar“ erklärt32. Diese Formulierung, welche unter Verwendung des Indikativs eine Feststellung des Seins darstellt, ist die wohl stärkste Form der Umschreibung des Sollens33. Schon die sprachliche Fassung unterstreicht dadurch die herausgehobene Bedeutung der Menschenwürde im Grundrechtssystem34. Indem der Verfassungstext die Menschenwürde als unantastbar einstuft, hebt er sie im Vergleich zu den übrigen Schutzgütern des Grundgesetzes auf eine andere (höchste) Ebene. Art. 1 Abs. 1 S. 2 1. Alt. GG verpflichtet die staatliche Gewalt ausdrücklich, die Menschenwürde zu achten. Die Wahrung der metarechtlichen Idee des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG wird also abgesichert durch die eindeutige Rechtsfolge des Art. 1 Abs. 1  S. 2  1.  Alt.  GG35. So eindeutig das Bestehen der Achtungspflicht vom Verfassungstext vorgegeben ist, so unklar sind indes ihr konkreter Inhalt und ihre Wirkung. Dies hängt zum einen mit der Schwierigkeit der Bestimmung des Schutzgutes „Würde“ zusammen, aber auch mit dem absoluten Schutz, den die Menschenwürde genießt. 1. Die Menschenwürde: Ein Unikum Die in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Menschenwürdegarantie ist sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrer Normativität einzigartig im Grundrechtssystem36. Die hieraus resultierenden dogmatischen Besonderheiten wirken sich auch auf die Achtungspflicht aus und beeinflussen deren Verhältnis zu den Schutzpflichten.

32  Kunig

(Fn. 18), Art. 1 Rn. 1. (Fn. 18), Art. 1 Rn. 1. 34  Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 1; Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 128. 35  W. Höfling, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 1 Rn. 1. 36  Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 42; Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 8. 33  Kunig



B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte 29

a) Strukturelle Einzigartigkeit Im Gegensatz zu den anderen Freiheitsgrundrechten beschränkt sich der Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG nicht auf einen bestimmten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit37. Die Menschenwürdegarantie verfügt nicht über einen „sachlich eigengeprägten Normbereich“, sondern erstreckt sich prinzipiell auf alle Bereiche des menschlichen Lebens38. Es handelt sich um einen Verfassungsrechtssatz von „umfassender Allgemeinheit“39, vergleichbar mit der Generalklausel des Art. 2 Abs. 1 GG, in dessen Ausprägung als allgemeine Handlungsfreiheit40. Im Unterschied zur allgemeinen Handlungsfreiheit, welche als Auffanggrundrecht jegliches menschliche Verhalten schützt, das nicht bereits von den übrigen Freiheitsgrundrechten erfasst ist, stellt sich die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts von Art. 1 Abs. 1 GG schwieriger dar41. Der Schutz der Menschenwürde ist nicht an bestimmte Verhaltensweisen geknüpft, sondern an deren jeweilige Umstände42. Es handelt sich mithin um eine „modal ausgerichtete Generalklausel“, welche sich durch eine „besondere normative Offenheit“ auszeichnet43. Für die Achtungspflicht bedeutet dies, dass sie potentiell in zahllosen Fallkonstellationen Relevanz entfalten kann. b) Normative Einzigartigkeit Die Menschenwürdegarantie unterscheidet sich aufgrund der Unantastbarkeitsformel des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG in normativer Hinsicht von anderen Grundrechten. Diese absolut verstandene Garantie entzieht die Menschenwürde der grundrechtlichen Abwägung und soll ihr dadurch gleichsam absoluten Schutz vermitteln44. Weil die Menschenwürde unantastbar ist, besteht keine Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs. 37  Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 9; L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 5.  Aufl. 2016, Rn. 133. 38  Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 9. 39  P. Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, in: JZ 1964, S. 337 (342). 40  Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 9. 41  St. Rspr. des BVerfGE 1, 264 (273 f.); 6, 32 (37). 42  Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 9. 43  Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 9. 44  H.-J. Papier, Die Würde des Menschen ist unantastbar, in: R. Grote/u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, Festschrift für Christian Starck zum 70. Geburtstag, 2007, S. 371 (374); M. Baldus, Menschenwürdegarantie und Absolutheitsthese, Zwischenbericht zu einer zukunftsweisenden Debatte, in: AöR 136 (2011), S. 529 (530); anders: K.-E. Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?, in: Der Staat 45 (2006), S. 189 (207).

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

Jeder Eingriff in den Schutzbereich ist eine Antastung der Menschenwürde und damit zwingend verfassungswidrig45. Die Reichweite des Gewährleistungsinhalts von Art. 1 Abs. 1 GG soll sich also nicht durch das typische – auf Kompromissfindung angelegte – „Spiel von Grund und Gegengrund“46 ermitteln lassen47. Für die Achtungspflicht zugunsten der Menschenwürde bedeutet dies, dass deren tatsächliche inhaltliche Reichweite, also die Grenze des verfassungsrechtlich zulässigen Handelns im Bereich der Menschenwürde, durch den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG determiniert wird und kein darüber hinausgehender Spielraum besteht48. Ob dieser selbst das Produkt eines Abwägungsvorgangs darstellt, soll an dieser Stelle nicht interessieren49. Eine exakte und generelle Festlegung dieses unverfügbaren Bereichs ist jedenfalls bisher nicht erfolgt50. 2. Der Mensch als Berechtigter der Achtungspflicht Berechtigter der Achtungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG ist jeder Mensch, das heißt jede natürliche Person im Herrschaftsbereich des deutschen Staates unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und der Legalität ihres Aufenthaltes51. Die Berechtigung ist ebenso unabhängig von biologischen, sozialen und moralischen Eigenschaften und besteht daher unterschiedslos für jeden Menschen52. Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entschei45  Kunig

(Fn. 18), Art. 1 Rn. 4; Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 46. Theorie der Grundrechte, 1994, S. 289. 47  Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 46. 48  T. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 83; Dederer, Garantie (Fn. 7), S. 118; Kunig (Fn. Kunig), Art. 1 Rn. 26; anders M. Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 1976, S. 405 (412 f.); ders., Leben und Würde des Menschen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 77 (77 ff.), der anregt, die Schranke von Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG auf Art. 1 Abs. 1 GG zu übertragen. 49  Dazu Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 44), S. 536 ff. 50  R. Zippelius in: W. Kahl/C. Waldhoff/C. Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 u. 2 (1995), Rn. 38. 51  Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 11; Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 64. 52  BVerfGE 87, 209 (228); 96, 375 (399); 115, 118 (152 ); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, Die einzelnen Grundrechte, 2006, S. 71; C. Starck, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Abs. 1 Rn. 22, 24; J. Isensee, Würde des Menschen, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, 2011, § 87 Rn. 53, 165, 198. 46  R. Alexy,



B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte 31

dend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“53 Geschützt ist die Menschenwürde jedes Einzelnen und nicht allein die Würde „der“ Menschen im Allgemeinen54. Eine Relativierung der Menschenwürde zum Beispiel aufgrund von Verbrechertum ist nicht möglich55. 3. Inhalt der Achtungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 1. Alt. GG Der Inhalt der Achtungspflicht für die Menschenwürde bestimmt sich aufgrund ihrer Unantastbarkeit allein nach der Weite des Schutzbereiches von Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG. Dabei stellt die Bestimmung des Schutzgutes, also der Menschenwürde, bis heute ein scheinbar unüberwindbares Hindernis dar. Daher sollen an dieser Stelle kurz die Ursachen für die Schwierigkeiten bei der Begriffsbestimmung dargelegt werden, sowie die verschiedenen methodischen Ansätze, mit denen versucht wird, sich dem Inhalt der Menschenwürde zu nähern. a) Achtungspflicht trotz Unantastbarkeit? Die Menschenwürde wird in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG vom Grundgesetz für unantastbar erklärt. Sie kann keinem Menschen genommen werden56. Dies scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu stehen mit der durch Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG normierten Verpflichtung der staatlichen Gewalt zu Achtung und Schutz der Würde. Diese impliziert schließlich, dass die Würde Bedrohungen sowohl von staatlicher als auch von privater Seite ausgesetzt ist57. Es fragt sich, wieso etwas, das unantastbar und damit im Grunde auch unverletzlich ist, dennoch schutzbedürftig sein soll. Der Grund hierfür liegt in der Ambivalenz der Würde58. Der erste Satz des Grundgesetzes beschreibt die Würde als eine rechtliche Eigenschaft des Menschen und beinhaltet damit eine normative Feststellung bezogen auf das Sein des Menschen und 53  BVerfGE

39, 1 (41). Die Würde des Menschen, in: F. Neumann/ders./U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 1 (3); Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 17. 55  M. Herdegen, in: T. Maunz/G. Dürig u. a. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 53; Starck (Fn. 52), Art. 1 Rn. 23; Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 12. 56  H. Hofmann, in: B. Schmidt-Bleibtreu/ders./H.-G. Henneke (Hrsg.), GG Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. 2014, Art. 1 Rn. 7. 57  Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 152. 58  Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 152 ff. 54  H. C. Nipperdey,

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

dessen Rang59. Im zweiten Satz hingegen wird die Würde zum Objekt staatlicher Verpflichtung gemacht60. Hierbei handelt es sich um einen Normbefehl61. Dem Begriff der Würde kommt somit zweifache Bedeutung zu. Zum einen beschreibt sie eine objektive Eigenschaft des Menschen und zum anderen begründet sie einen subjektiven Achtungsanspruch mit korrespondierender Achtungspflicht62. Die Eigenschaft als solche ist unantastbar. Verletzt werden kann hingegen der mit der rechtlichen Eigenschaft korrespondierende Achtungsanspruch und damit auch die Achtungspflicht63. Es handelt sich bei Art. 1 Abs. 1 GG mithin um einen objektiv-rechtlichen Rechtssatz mit subjektiv-rechtlichem Charakter64. b) Schwierigkeit der Bestimmung des Schutzgutes Der Begriff der „Menschenwürde“ ist ein in hohem Maße unbestimmter Rechtsbegriff, dessen verfassungsrechtliche Interpretation und Konkretisierung seit Inkrafttreten des Grundgesetzes eine scheinbar unlösbare Aufgabe darstellt65. Dies hat seine Ursache unter anderem in dem philosophischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund des Würdebegriffs. Dieser „belastet“ den Menschenwürdesatz mit zweieinhalbtausend Jahren Philosophiegeschichte66. Sein ethisch-philosophischer Gehalt erschwert sowohl das Verständnis des Menschenwürdesatzes als auch dessen Auslegung und Konkretisierung67. Allerdings ist die geistesgeschichtliche Tradition nur begrenzt als Verständnis- und Auslegungshilfe der Menschenwürde geeignet68. Hinzu kommt, dass die Vorstellung, von dem, was Menschenwürde ist oder sein soll, zu einem gewissen Teil davon abhängig ist, wie sich die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Begebenheiten einer Gesellschaft darstel59  Isensee

(Fn. 52), § 87 Rn. 152 f. (Fn. 52), § 87 Rn. 152. 61  Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 152. 62  Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 157. 63  BVerfGE 87, 209 (228); Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 158. 64  Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 52), S. 60 ff. 65  H. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, in: AöR 118 (1993), S. 353 (356); Zippelius (Fn. 50), Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 38; Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 45; Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 18; Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 1. 66  Konzise Zusammenfassung der geistesgeschichtlichen Grundlagen bei N. Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 36 ff. 67  Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 1. 68  P. Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, in: JZ 1964, S. 337 (340); ders., Staatsrecht, 5. Aufl. 2012, S. 133 Rn. 32; M. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2000, S. 89 ff.; Papier, Würde (Fn. 44), S. 372; Dederer, Garantie (Fn. 7), S. 101; Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 2 f. 60  Isensee



B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte 33

len69. Getreu nach dem Sprichwort „tempora mutantur, nos et mutamur in illis“70, wandelt sich auch die Vorstellung vom Begriff der Menschenwürde mit Veränderung der äußeren Umstände71. Die wohl größte Schwierigkeit bei der Bestimmung des Schutzgutes Menschenwürde bereitet aber die Berücksichtigung ihrer strukturellen und normativen Einzigartigkeit72. Erschwert wird die Begriffsbestimmung zudem durch die der Menschenwürde zuerkannten überpositiven Substanz73. Im Gegensatz zu anderen unbestimmten Rechtsbegriffen, die menschliche Eigenschaften beschreiben, lässt sich die Würde nicht mittels äußerlich erkennbarer Verhaltensweisen abbilden. Nichtsdestotrotz bedarf sie einer Interpretation, um rechtspraktische Wirksamkeit zu erlangen74. Dazu wird grundsätzlich auf zwei unterschiedliche Methoden zurück­ gegriffen, die positive und die negative Begriffsbestimmung. Diejenigen, welche den wohl ambitionierteren erstgenannten Weg verfolgen, haben hierzu verschiedene Ansätze entwickelt; die Wert- / Mitgifttheorien, die Leistungstheorien und die Kommunikationstheorien75. Diese weisen jedoch jeweils erhebliche Schwächen verschiedener Natur auf, weshalb sich keine durchsetzen konnte76. Es hat sich daher weitestgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass es keine trennscharfe, abstrakte und allgemeingültige Definition von „Würde“ gibt, die einen schlichten Subsumtionsvorgang ermöglichen würde77. Auf dieser Einsicht aufbauend rückt die negative Begriffsbestimmung von der Idee ab, den Begriff der „Würde“ definieren zu wollen. Auch innerhalb dieser Herangehensweise lassen sich verschiedene Ansätze unterscheiden. Die extremste Form der negativen Begriffsbestimmung – welche sich genau genommen nicht als solche bezeichnen lässt – verneint bereits die Defini­ 69  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher,

Grundrechte (Fn. 1), Rn. 378. dem Lateinischen: „Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen.“. 71  BVerfGE 45, 187 (229); 34, 269 (288 f.); R. Gröschner/O. Lembcke, Dignitas absoluta, in: ders./ders. (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, S. 1; Pieroth/ Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 378. 72  Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 8. 73  Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 161. 74  Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 68), S. 88; Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 161. 75  Zu dieser Dreiteilung Dederer, Garantie (Fn. 7), S. 107; zu den Theorien Teifke, Prinzip (Fn. 66), S. 46 ff.; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 379 ff. 76  Hierzu Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 52), S. 20 ff. 77  Hesse, Verfassungsrecht (Fn. 12), Rn. 116; P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 22 Rn. 46; Starck (Fn. 52), Art. 1 Rn. 17; Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 22. 70  Aus

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tionsbedürftigkeit der Menschenwürde78. Schon der damalige Abgeordnete Theodor Heuss verstand die Menschenwürde als „nicht interpretierte These“79. Diese Auffassung muss sich allerdings die Frage gefallen lassen, wie der Staat seine Verpflichtung zu Achtung und Schutz der Würde erfüllen können soll, ohne Klarheit über das Schutzobjekt selbst zu haben80. Die eigentliche negative Begriffsbestimmung versucht, die Definition von Würde über die Identifikation diverser würdeverletzender Handlungen mit Inhalt zu füllen81. Sie nähert sich dem Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde somit gewissermaßen von außen und argumentiert nicht vom Schutzbereich, sondern vom Eingriff her. Die Erstellung eines Katalogs von Verletzungstatbeständen wie beispielsweise Folter, Versklavung, Brandmarkung et cetera kann gewiss die praktische Handhabung von würderelevanten Fallkonstellationen erleichtern, vermag indes nicht die Menschenwürdegarantie in ihrem vollen Umfang zu erfassen82. Es ist der bewusst gewählten Allgemeinheit der Menschenwürde und der Vielgestaltigkeit von Lebensvorgängen geschuldet, die auch diesen Ansatz schlussendlich an seine Grenzen stoßen lassen83. Um nicht in Einzelfallkasuistik zu verfallen, ist daher ein höherer Grad an Abstraktheit vonnöten. Hierzu wird versucht, die Bestimmung von relevanten Verletzungsvorgängen mehr am jeweiligen „Modus einer Handlung“ und bezogen auf das jeweilige Handlungsumfeld des betroffenen Grundrechtsträgers zu ermitteln84. Dadurch soll der Situationsabhängigkeit der Menschenwürde verstärkt Rechnung getragen werden85. Zur Bestimmung, ob ein Vorgang als würdeverletzend zu qualifizieren ist, wird hierfür auch heute noch auf die von Günther Dürig formulierte sogenannte Objektformel zurückgegriffen, welche auch das Bundesverfassungsgericht durchgängig verwendet86. Hiernach ist die „Menschenwürde […] betroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren 78  Nipperdey,

Würde (Fn. 54), S. 1. Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: JöR 1 (1951), S. 1 (49). 80  Starck (Fn. 52), Art. 1 Abs. 1 Rn. 1; Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 46, 62. 81  T. Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, in: ZRph 2008, S. 41 (58). 82  Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 162 f. 83  R. Thoma, Kritische Würdigung des vom Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates beschlossenen und veröffentlichten Grundrechtskataloges – 25.10.1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I, 1993, S. 361 (362). 84  Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 9, 14. 85  BVerfGE 30, 1 (25); 109, 279 (312); G. Dürig (Fn. 55), Stand 1958 Art. 1 Abs. 1 Rn. 16, 29; Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 22. 86  BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6); 45, 187 (228); 72, 105 (116); 109, 133 (149 f.); 115, 118 (153). 79  W. Matz,



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Größe herabgewürdigt wird.“87 Dieser Formel lassen sich zahlreiche Argumente entgegenhalten, wie ihre Vagheit oder ihr lehrformelhafter Charakter. Insbesondere die Gefahr einer Trivialisierung der Menschenwürde, die diese zur kleinen Münze88 verkommen lässt, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Mensch ist in vielen gesellschaftlichen Verhältnissen bloßes Objekt des Handelns anderer und muss sich ohne Rücksicht auf seine persönlichen Interessen fügen89. Die Annahme einer Würdeverletzung in all diesen Fällen wird dem Ausnahmecharakter des absoluten Schutzes der Würde nicht gerecht. Folglich kann nicht in jeder dieser Konstellationen eine Verletzung der Menschenwürdegarantie vorliegen, will man ihren Schutz nicht der Beliebigkeit preisgeben90. Die Objektformel vermag daher allein eine grobe Richtung vorzugeben, wann eine Verletzung des Achtungsanspruchs in Frage kommt91. Für das Vorliegen einer Würdeverletzung soll dann maßgeblich sein, ob die „Subjektsqualität“ des Einzelnen prinzipiell in Frage gestellt wird92. Dazu müsse die Behandlung des Menschen durch die staatliche Gewalt Ausdruck der Verachtung des Wertes sein, der dem Menschen kraft Personsein zukommt, also diesbezüglich eine „verächtliche Behandlung“93. Wann dies der Fall ist, lasse sich allein anhand einer sorgfältigen Analyse des betroffenen Lebensbereichs und des jeweiligen Einzelfalles bestimmen94. Es zeigt sich, dass die Bestimmung dessen, was Menschenwürde ist, beziehungsweise wovor die Achtungspflicht den Menschen schützen soll, eine äußerst schwierige Aufgabe darstellt, deren Lösung Rechtsprechung und Literatur bisher nicht gelungen ist95. Demnach ist es auch nicht möglich, den exakten Inhalt der Achtungspflicht darzustellen. Der Kernfrage, was Würde ist, müssen sich in letzter Konsequenz alle Ansätze stellen, unabhängig davon ob sie dies vom Schutzbereich oder vom Eingriff ausgehend versuchen. Festzuhalten bleibt, dass bei der Annahme einer Verletzung des aus der Würde resul87  G. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: AöR 81 (1956), S. 117 (127). 88  Dürig, Grundrechtssatz (Fn. 87), S. 124. 89  BVerfGE 30, 1 (25 f.); 109, 279 (311); Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 23; Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 15; Hofmann, Menschenwürde (Fn. 65), S. 360. 90  BVerfGE 30, 1 (26). 91  BVerfGE 30, 1 (25); P. Tiedemann, Vom inflationären Gebrauch der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DÖV 2009, S.  606  (612 f.). 92  BVerfGE 27, 1 (6); 28, 386 (391); 30, 1 (25 f.); 45, 187 (228); 87, 209 (228); 96, 375 (399); 109, 133 (149 f.); 109, 279 (312 f.). 93  BVerfGE 30, 1 (26); 109, 279 (313); 115, 118 (153). 94  BVerfGE 30, 1 (25); 109, 279 (311); 115, 118 (153); Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 16. 95  Michael/Morlok, Grundrechte (Fn. 37), Rn. 134,  139; dahingestellt sei, ob dies gelingen kann bzw. soll.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

tierenden Achtungsanspruchs aufgrund der Geltungskraft des Art. 1 Abs. 1 GG stets Vorsicht geboten ist, um die Menschenwürde nicht zu trivialisieren96. Mit einer Ausweitung ihres Gewährleistungsgehalts geht nämlich stets auch die Gefahr der Relativierung des eigentlich Absoluten einher97. c) Konsens im Dissens Ungeachtet der erheblichen Schwierigkeiten bei der Bestimmung des genauen Gewährleistungsgehalts der Menschenwürde, besteht dennoch Einigkeit über gewisse grundlegende Garantien, welche die Menschenwürde dem Einzelnen vermittelt98. Dies ist zum einen die menschliche Subjektivität99. Dieser liberale Grundsatz ist Ausdruck der verfassungsstaatlichen Freiheit und schützt daher besonders physische und psychische Identität und Integrität100. Zwar wird die körperliche Integrität größtenteils durch das in Art. 2 Abs. 2 GG verfasste Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit geschützt, gleichwohl beinhaltet auch die körperliche Integrität einen Teil menschlicher Würde101. Die Achtungspflicht des Staates zugunsten der Menschenwürde verbietet diesem daher beispielsweise Folter, Erniedrigung, Brandmarkung oder Ächtung sowie andere Verhaltensweisen, „die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen“102. Diesem Instrumentalisierungsverbot liegt die Vorstellung zugrunde, dass es sich beim Menschen um ein geistig-sittliches Wesen handelt, das „darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten“103. Es widerspricht der Würde des Menschen, wenn mit diesem als bloßes Objekt nach Belieben verfahren werden kann104. Ebenso umfasst vom Gewährleistungshalt der Menschenwürde, ist die prinzipielle rechtliche Gleichheit der Menschen105. 96  Herdegen (Fn. 55), Art. 1 Abs. 1 Rn. 44; Tiedemann, Menschenwürde (Fn. 91), S. 607; Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 17 f.; Michael/Morlok, Grundrechte (Fn. 37), Rn. 148; Jarass (Fn. 3), Art. 1 Rn. 11a. 97  Papier, Würde (Fn. 44), S. 371. 98  Michael/Morlok, Grundrechte (Fn. 37), Rn. 150 ff.; Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 384. 99  Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 62; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 384. 100  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 384; Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 62; F. Hufen, Staatsrecht II, 4. Aufl. 2014, § 10 Rn. 14. 101  Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 52), S. 24. 102  BVerfGE 1, 97 (104); 102, 347 (367); 107, 275 (284); Dreier (Fn. 5) Art. 1 I Rn. 131. 103  Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 174. 104  BVerfGE 30, 1 (20); 87, 209 (228). 105  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 384  f.; Hofmann, Menschenwürde (Fn. 65), S. 363.



B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte 

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Die Achtungspflicht fordert, dass jeder Mensch „als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt“ wird106. Dieses der Menschenwürde innewohnende egalitäre Prinzip verbietet daher die Einstufung der Menschen in Personengruppen verschiedenen Ranges und damit die Behandlung einer Person als Mensch „zweiter Klasse“107. Es gehört zur Menschenwürde, dass der Mensch nicht aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, in der Gesellschaft einen rechtlich minderwertigen Status besitzt108. Untersagt ist dem Staat daher jegliche Form von massiver Ungleichbehandlung wie zum Beispiel Sklaverei, Leibeigenschaft, Menschenhandel sowie andere systematische Diskriminierungen, Demütigungen und Erniedrigungen109. Schließlich gebietet Art. 1 Abs. 1 GG auch die Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz sowie ein materielles Existenzminimum110. 4. Wirkung der Achtungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 1. Alt. GG Die Achtungspflicht verpflichtet die staatliche Gewalt zu einem Unterlassen von Verletzungen des aus der Menschenwürde resultierenden Achtungsanspruchs. Sie beinhaltet also ein Antastungsverbot111. Der Staat hat damit alles zu unterlassen, was die Menschenwürde beeinträchtigen oder ihr schaden könnte112. Die dargestellten Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 1 Abs. 1 GG haben dabei keinen Einfluss auf deren normative Qualität, da sich diese nicht an der inhaltlichen Dichte eines Begriffes und der damit einhergehenden Auslegungsbedürftigkeit bemisst113. Die aus der Achtungspflicht resultierende Verpflichtung ist ferner unabhängig von der Rechtsform des staatlichen Handelns114. Die staatliche Gewalt hat daher unabhängig davon, in welcher Äußerungsform sie auch auftritt, die Achtungspflicht 106  BVerfGE

45, 187 (228). (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 61; Jarass (Fn. 3), Art. 1 Rn. 12. 108  A. Podlech, in: R. Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 1 Abs. 1 Rn. 29. 109  Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 61; Jarass (Fn. 3), Art. 1 Rn. 11; Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 393. 110  Hofmann, Menschenwürde (Fn. 65), S. 363; Hufen, Staatsrecht (Fn. 100), § 10 Rn. 14; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 388. 111  Zippelius (Fn. 50), Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 22; Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 52), S. 96; Herdegen (Fn. 55), Art. 1 Abs. 1 Rn. 75; Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 4; Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 131. 112  Nipperdey, Würde (Fn. 54), S. 27. 113  Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 18. 114  K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988, S. 29. 107  Dreier

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

zu wahren115. Dies gilt uneingeschränkt auch für besondere Gewaltverhältnisse116. Für den Gesetzgeber bedeutet dies, dass die Menschenwürdegarantie die Grenze seines legislativen Ermessens markiert117. Ebenso hat die Verwaltung bei all’ ihren Maßnahmen die Achtung der Menschenwürde zu berücksichtigen118. Besondere Relevanz für die vollziehende Gewalt hat dabei das Instrumentalisierungsverbot119. Vor allem bei weitreichenden Handlungsermächtigungen, zwingt die Achtungspflicht die Exekutive zu einer Auslegung, die im Einklang mit der Menschenwürdegarantie steht120. Auch die Rechtsprechung hat bei ihren Entscheidungen die Menschenwürdegarantie mit einzubeziehen. Die Achtungspflicht zugunsten der Menschenwürde begründet damit nach überkommener Auffassung ein absolutes Eingriffsverbot der staatlichen Gewalt. Dieses schafft für den Einzelnen einen Freiraum, der jeglicher Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist, unabhängig davon, welche Interessen des Staates oder Dritter betroffen sind121. Der Menschenwürdesatz als „Absolutum in einer zutiefst relativistischen Welt“122 begründet daher eine Achtungspflicht, die man als kategorische Achtungspflicht bezeichnen kann.

II. Achtungspflicht hinsichtlich des Lebens aus Art. 2 Abs. 2  S. 1  GG Das menschliche Leben ist die Basis, die natürliche Voraussetzung allen menschlichen Handelns und Seins. Es bildet die natürliche Voraussetzung für die Ausübung aller Freiheitsrechte123. Das Bundesverfassungsgericht beschreibt das Grundrecht auf Leben gar als „Höchstwert“ innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung124. Entgegen seiner fundamentalen Bedeutung und tiefen Verwurzelung im menschenrechtlichen Gedankengut, fand das Recht auf Leben jedoch erst als Reaktion auf die barbarische und willkürliche Auslöschung von Menschenleben zu Zeiten des Nationalsozialismus Einzug in einen deutschen Verfassungstext125. Nichtsdestotrotz ist das Recht auf Leben 115  Stern,

Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 29. Würde (Fn. 54), S. 28. 117  Hofmann (Fn. 56), Art. 1 Rn. 17. 118  Hofmann (Fn. 56), Art. 1 Rn. 16. 119  Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 174. 120  Starck (Fn. 52), Art. 1 Abs. 1 Rn. 39. 121  BVerfGE 6, 32 (41); 27, 1 (6); Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 29; Kunig (Fn. 18), Art. 1 Rn. 4. 122  Dreier (Fn. 5), Art. 1 I Rn. 43. 123  D. Murswiek, in: Sachs, GG (Fn. 35), Art. 2 Rn. 8. 124  BVerfGE 49, 24 (53); 115, 118 (139). 125  BVerfGE 18, 112 (117); Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 52), S. 122 ff.; D. Lorenz, in: Bonner Kommentar GG (Fn. 50), Art. 2 (2008), Rn. 26; R. Müller-Terpitz, Recht 116  Nipperdey,



B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte 39

seit langem fester Bestandteil jeglichen Konzepts von individuellen Rechten gegenüber der jeweiligen Obrigkeit126. Auch wenn die Bundesrepublik Deutschland ihren Bürgern nicht nach dem Leben trachtet und der Bürger durch das Verbot der Todesstrafe aus Art. 102 GG weitestgehend vor der Vernichtung seines Lebens durch die staatliche Gewalt gefeit ist, handelt es sich beim Grundrecht auf Leben dennoch nicht um eine bloße Selbstverständlichkeit oder bloße „verfassungsnormative Vergangenheits­ be­ wäl­ tigung“127. Zwar bildet die Tötung von Menschen in der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine seltene Ausnahme, dennoch beendet der Staat in gewissen Situationen, welche insbesondere den für diese Untersuchung relevanten Bereich der präventiven Gefahrenabwehr betreffen, aktiv Menschenleben128. Dies sind oftmals Konstellationen, in denen es zwischen Privaten zu Bedrohungen des Lebens kommt und der Staat vor der Frage steht, wie er das Rechtsgut Leben am besten schützen kann. Es geht um Situationen, in denen Leben geopfert werden muss, um Leben zu retten (zum Beispiel beim gezielten polizeilichen Todesschuss oder dem Abschuss eines gekaperten Flugzeugs)129. 1. Inhalt der Achtungspflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG Die Achtungspflicht schützt das menschliche Leben. Dieses wird verstanden als das körperliche Dasein, die biologisch-physische Existenz vom Zeitpunkt ihres Entstehens bis zum Eintritt des Todes130. Insbesondere in Bezug auf die tatbestandliche Reichweite des grundrechtlichen Lebensschutzes, also die Frage, wann das Leben beginnt und wann es endet, besteht lebhafter Streit, der an dieser Stelle nicht aufgegriffen werden kann und soll131. Einigauf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Handbuch des Staatsrechts für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 147 Rn. 1 f.; U. Fink, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte Bd. IV 2011, § 88 Rn. 1; Murswiek (Fn. 35), Art. 2 Rn. 5; Pieroth/ Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 436; Jarass (Fn. 3), Art. 2 Rn. 80. 126  A. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2.  Aufl. 1963, S.  113  ff.; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 16, 18 f., 22 f., 49 f.; Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 52), S. 121 ff.; Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 1. 127  U. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG (Fn. 55), Art. 2 Abs. 2 (2004), Rn. 7; Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (2012), Rn. 411. 128  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 46. 129  Di Fabio (Fn. 55), Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 7. 130  BVerfGE 115, 118 (119); H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I (Fn. 5), Art. 2 Abs. 2 Rn. 21; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 438; Jarass (Fn. 3), Art. 2 Rn. 81. 131  Vgl. zum Streit um Beginn und Ende des grundrechtlichen Lebensschutzes die Ausführungen bei Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 52), S. 142 ff.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

keit besteht indes darüber, dass das Leben und damit der Schutz der Achtungspflicht – unabhängig von dessen Definition – mit dem Tod endet, das heißt Leben und Tod schließen sich gegenseitig aus132. Ein Stadium zwischen Leben und Tod existiert nicht. Im Gegensatz zu den übrigen Freiheitsrechten schützt Art. 2 Abs. 2 GG keinen bestimmten Lebensausschnitt, sondern einen Zustand, die physische Existenz133. Allein das Lebendigsein ist damit Anknüpfungspunkt für den Bestand der Achtungspflicht. Hieraus folgt auch, dass die Achtungspflicht dem Staat untersagt, Differenzierungen des Lebensbegriffs nach biologischen Kriterien, gesellschaftlicher Nützlichkeit, Lebenserwartung oder anderen Parametern vorzunehmen134. Dahinter steht der Gedanke der formalen Gleichwertigkeit eines jeden Lebens135. Berechtigter der Achtungspflicht ist damit jede lebende natürliche Person136. Eine klare Trennung zwischen sachlichem und persönlichem Schutzbereich ist nicht möglich, da diese sich gegenseitig bedingen137. Die Reichweite der Achtungspflicht, also die Grenze verfassungsrechtlich zulässiger Beschränkungen des Rechtsguts Leben, lässt sich im Gegensatz zur Achtungspflicht zugunsten der Menschenwürde nicht allein mit Blick auf den Schutzbereich ermitteln. Die Grenzziehung kann nur unter Berücksichtigung der Rechtfertigungsebene erfolgen. a) Der relativ(e) starke Schutz des Lebens Das Grundrecht auf Leben wird trotz seiner überragenden Bedeutung als faktische Grundlage für das menschliche Dasein nicht schrankenlos gewährleistet. Es steht unter dem einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG und kann daher „auf Grund eines Gesetzes“ eingeschränkt werden. Hierin kommt die Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums zum Ausdruck, welche aus dem Menschenbild des Grundgesetzes folgt138. Zur Einschränkung des Lebensrechts bedarf es nach einheitlicher Auffassung eines förmlichen Parlamentsgesetzes, welches entweder zu Eingriffen in das Lebensrecht ermächtigt oder aber direkt in dieses eingreift139. Auch wenn sich hieraus noch keine Aussage über die Intensität des grundrechtlichen Lebens132  Schulze-Fielitz

(Fn. 5), Art. 2 Abs. 2 Rn. 30; Murswiek (Fn. 35), Art. 2 Rn. 142. (Fn. 50), Art. 2 (2008) Rn. 12; Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 9. 134  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 10, 35; Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 2 Abs. 2 Rn. 30. 135  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 58. 136  Kunig (Fn. 18), Art. 2 Rn. 44; Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 2 Abs. 2 Rn. 39. 137  Lorenz (Fn. 50), Art. 2 (2008) Rn. 423; Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 35. 138  Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (2008) Rn. 467. 139  Zum Erfordernis eines Parlamentsgesetzes: BVerfGE 22, 180 (219); 115, 118 (139); 128, 282 (317 ); P. Kunig, Grundrechtlicher Schutz des Lebens, in: Jura 1991, 133  Lorenz



B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte 41

schutzes ableiten lässt, soll es jedenfalls im Unterschied zur Menschenwürde keinen absoluten Schutz erfahren140. Das Leben ist ein relatives Verfassungsrechtsgut und damit nicht der Höchstwert der Verfassung, sondern lediglich ein Höchstwert unter mehreren141. Im Konflikt mit anderen Verfassungsgütern als dem Leben, ist eine Relativierung des Lebens daher prinzipiell möglich und zulässig142. Mit Blick auf die dogmatische Struktur des Lebensrechts könnte sich daher der Schluss aufdrängen, dieses erfahre nur einen mäßigen Schutz durch das Grundgesetz, der nicht mit seiner fundamentalen Bedeutung korrespondiert. Auch wenn eine Einschränkung des Lebens prinzipiell zulässig ist, gilt es, im Rahmen der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern die Besonderheiten dieses Rechtsguts zu berücksichtigen. Zunächst einmal ist auf die grundlegende Funktion des Lebensrechts als „Voraussetzungsgrundrecht“ hinzuweisen. Ohne am Leben zu sein, haben die übrigen grundrechtlichen Freiheiten für den Menschen keine Bedeutung mehr. Das von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Leben ist zudem ein unteilbares Rechtsgut, das heißt es gibt keine Abstufungen im Sinne von mehr oder weniger Leben143. Das bedeutet, dass zum Beispiel im Vergleich zum Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der Kreis von staatlichen Maßnahmen, die potentiell einen Eingriff darstellen könnten, durch die erforderliche Intensitätsschwelle eng gezogen ist. Ein Eingriff in das Recht auf Leben liegt in jeder rechtlichen oder faktischen Maßnahme der staatlichen Gewalt, die „den Tod eines Menschen objektiv zurechenbar bewirkt, ob final […] oder nicht, ob direkt oder nur indirekt bei objektiver Vorhersehbarkeit […], schuldhaft oder nicht, durch aktives Tun […] oder durch Unterlassen.“144 Über die Tötung eines Menschen hinaus, kann, aufgrund der Irreversibilität der Tötung, auch eine (nur) lebensgefährdende Maßnahme hierunter fallen145. Mit Ausnahme dieser lebensgefährdenden Maßnahmen führen Eingriffe in das Lebensrecht unabhängig von ihrer konkreten Gestalt im Einzelfall also allesamt zu einer Eliminierung des geschützten Rechtsguts. Eine Differenzierung anhand der Schwere des Eingriffs scheidet daher grundsätzlich aus146. Im Rahmen der Abwägung wirkt sich dies derart aus, dass an S. 415 (421); Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 2 Abs. 2 Rn. 52 f.; Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn. 443. 140  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 52; Murswiek (Fn. 35), Art. 2 Rn. 164. 141  BVerfGE 39, 1 (139); 46, 160 (164); 49, 24 (53); 115, 118 (139). 142  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 54. 143  BVerfGE 39, 1 (43); 88, 203 (255); Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 56. 144  Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 2 Abs. 2 Rn. 44. 145  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 36. 146  Fink (Fn. 125) § 88 Rn. 35; Schulze-Fielitz (Fn. 5) Art. 2 Abs. 2 Rn. 61.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

dieser Stelle grundsätzlich stets auch die Schwere des Eingriffs beziehungsweise das Ausmaß der daraus resultierenden Grundrechtsbeeinträchtigung zu berücksichtigen sind. Letztere lässt sich aufgrund der dogmatischen Struktur des Lebensgrundrechts als Statusrecht nicht in Beeinträchtigungsstufen verschiedener Intensität aufgliedern147. Das Ausmaß der Grundrechtsbeeinträchtigung liegt stets im gänzlichen Verlust des geschützten Rechtsguts. Dem Grundrecht auf Leben wird aufgrund der Unteilbarkeit des geschützten Rechtsguts somit in der Abwägung stets ein gesteigertes Gewicht zukommen, welches es anderen Verfassungsgütern erschwert, sich im Konflikt durchzusetzen148. Schließlich gilt es die Irreversibilität der Folgen eines Eingriffs zu berücksichtigen. Die Tötung eines Menschen kann durch keine irdische Gewalt rückgängig gemacht werden149. Damit einher geht zudem der Verlust der Grundrechtsträgerschaft als solcher150. Dies verpflichtet zu einer noch größeren Zurückhaltung bei Eingriffen in das Lebensrecht. Lebensbeendende Maßnahmen dürfen daher nur in den seltensten Fällen angewandt werden151. Für den Umfang der Achtungspflicht bedeutet dies, dass Einschränkungen des Lebensrechts nur nach sorgfältiger Abwägung zum Schutz gleichrangiger Rechtsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig sind152. Im Rahmen der Abwägung kommt es dabei nicht auf einen abstrakten Vergleich zwischen dem Rechtsgut Leben und dem oder den anderen betroffenen Rechtsgütern an, sondern auf ihre Bedeutung in der jeweiligen Situation153. Auch wenn das Grundrecht auf Leben grundsätzlich eingeschränkt werden kann, so ist dessen Schutz im Ergebnis doch als vergleichsweise stark zu bewerten154. b) Keine Identität der Achtungspflichten Das Grundrecht auf Leben und die Menschenwürdegarantie sind eng miteinander verknüpft, da mit der Vernichtung der physischen Existenz die 147  An dieser Stelle lässt sich allenfalls zwischen lebensbeendenden und lebensgefährdenden Eingriffen unterscheiden. 148  Schulze-Fielitz (Fn. 5), Art. 2 Abs. 2 Rn. 61. 149  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 56. 150  Fink (Fn. 125) § 88, Rn. 35. 151  U. Fink, Der Schutz des menschlichen Lebens im Grundgesetz – zugleich ein Beitrag zum Verhältnis des Lebensrechts zur Menschenwürdegarantie, in: Jura 2000, S. 210 (211); Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 56. 152  Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Rn. 479. 153  Hesse, Verfassungsrecht (Fn. 12), Rn. 317 ff.; Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Rn. 479. 154  K. Baumann, Das Grundrecht auf Leben unter Quantifizierungsvorbehalt?, in: DÖV 2004, S. 853 (857); Herdegen (Fn. 55), Art. 1 Abs. 1 Rn. 23.



B. Die Achtungspflichten – das Spiegelbild der Abwehrrechte 43

Aufhebung der biologischen Basis der Menschenwürde einhergeht155. Die Menschenwürdegarantie besteht wie oben dargestellt in dem naturgegebenen Eigenwert, der jedem Individuum kraft seines Menschseins zukommt, das heißt „wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“156 Die Achtung der physischen Existenz ist somit Voraussetzung für die ­Achtung der Menschenwürde157. Aus diesem Grund begreift auch das Bundesverfassungsgericht das Recht auf Leben als „vitale Basis der Menschenwürde“158. Es besteht also eine untrennbare Verknüpfung zwischen dem Recht auf Leben und der Menschenwürdegarantie159. Gerade diese enge Verbindung von „Physis und Dignitas“160 verleitet teilweise dazu, die Grenze zwischen den beiden Gewährleistungen – insbesondere in moralisch schwierigen Konstellationen – zu verwischen161. Würde jeder Eingriff in das Grundrecht auf Leben aber zugleich einen – nicht rechtfertigungsfähigen – Eingriff in die Menschenwürde darstellen, so würde das Grundrecht auf Leben faktisch vom absoluten Schutz der Menschenwürde mitumfasst sein. Es käme zu einem grundrechtsdogmatischen Gleichlauf, einer quasi Gleichstellung der beiden Grundrechtsgarantien. Deshalb gilt es klar zwischen den beiden Gewährleistungen und damit Achtungspflichten zu unterscheiden. Dies gebietet bereits der Wortlaut des Grundgesetzes, welcher die beiden Gewährleistungen unverkennbar als zwei voneinander getrennte Grundrechte ausweist162. Ferner lässt sich für die Eigenständigkeit beider Gewährleistungen die Systematik des Grundgesetzes anführen. Die Menschenwürde genießt absoluten Schutz, das Lebensrecht aufgrund des Gesetzesvorbehalts nur relativen Schutz. Diese dogmatische Unterscheidung verbietet eine Gleichsetzung, es sei denn man will auch dem Lebensrecht absoluten Schutz zukommen lassen163. Dem steht indes die Existenz des Gesetzesvorbehalts in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG entgegen. Dieser würde im Falle einer Gleichsetzung seiner Funktion beraubt, da wenn ein Eingriff in das Recht auf Leben zugleich einen „Eingriff“ in die Menschenwürde und damit eine Verletzung des hieraus resultierenden Achtungsanspruchs darstellt, eine Rechtfertigung ausgeschlossen wäre. 155  Vgl. BVerfGE 115, 118 (152); Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Rn. 411, 485; MüllerTerpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 5 f.; Starck (Fn. 52), Art. 2 Abs. 2 Rn. 205. 156  BVerfGE 39, 1 (41); 88, 203 (252); Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 200. 157  Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Rn. 415; Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 5. 158  BVerfGE 39, 1 (42); 115, 118 (152). 159  BVerfGE 115, 118 (152) spricht von „enger“ Vernküpfung; Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Rn. 411; Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 5. 160  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 5 ff. 161  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 5; Fink (Fn. 125), § 88 Rn. 6. 162  Fink (Fn. 125), § 88 Rn. 7. 163  Fink (Fn. 125), § 88 Rn. 7 f.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

Trotz ihrer engen Verbundenheit und ihrem grundlegenden funktionalen Zusammenhang handelt es sich daher um zwei voneinander unabhängige Grundrechte mit unterschiedlichen Gewährleistungsbereichen, Achtungs- und Schutzpflichten164. Der Schutz des Lebens wird nicht von der Menschenwürdegarantie eingeschlossen165. Es besteht keine Identität zwischen Leben und Würde166. Das bedeutet nicht, dass die beiden Gewährleistungen in einem Alternativverhältnis stünden167. Vielmehr verletzen Eingriffe in das Grundrecht auf Leben den aus der Menschenwürde resultierenden Achtungsanspruch nicht per se, sondern nur dann, wenn sie eine prinzipielle Missachtung der physischen menschlichen Existenz darstellen168. Dies ist insbesondere der Fall wenn mit der Tötung eine „rein fremdnützige Instrumentalisierung der menschlichen Physis einhergeht oder in dieser eine sonstwie verächtliche, den Wert- und Achtungsanspruch des Individuums in gröblicher Weise mißachtende Behandlung zum Ausdruck kommt.“169 2. Wirkung der Achtungspflicht zugunsten des Lebens Die Achtungspflicht zugunsten des Lebens verpflichtet die öffentliche Gewalt, nicht rechtfertigungsfähige Eingriffe in seine durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Sphäre – sein Leben – zu unterlassen170. Im Unterschied zur Achtungspflicht zugunsten der Menschenwürde wird die Grenze zulässigen staatlichen Handelns im Bereich des Lebens nicht bereits durch den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 GG vorgegeben, sondern ergibt sich erst als Produkt der Abwägung mit anderen betroffenen Rechtsgütern171. 3. Der Staat als Verpflichteter der Achtungspflichten Adressat der Achtungspflichten ist die staatliche Gewalt. Für die Achtungspflicht zugunsten der Menschenwürde ergibt sich dies bereits aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, für die Achtungspflicht zugunsten des Lebens aus Art. 1 Abs. 3 GG. Der Begriff der staatlichen Gewalt aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ist identisch mit den in Art. 1 Abs. 3 GG verwendeten Begriffen und „umfaßt 164  Lorenz

(Fn. 50), Art. 2 Rn. 416; Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 6. Fabio (Fn. 55), Art. 2 Abs. 2 S. 1 Rn. 14 ff.; Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Rn. 416; Höfling (Fn. 35), Art. 1 Rn. 67 ff. 166  Fink (Fn. 125), § 88 Rn. 11. 167  Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Rn. 416. 168  Lorenz (Fn. 50), Art. 2 Rn. 417; Murswiek (Fn. 35), Art. 2 Rn. 170. 169  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 6. 170  Müller-Terpitz (Fn. 125), § 147 Rn. 45. 171  Di Fabio (Fn. 55), Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Rn. 7. 165  Di



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten45

alle Gliederungen der gewaltenteiligen, föderalen und dezentralen Organisation des Staates“172. Verpflichtete der Achtungspflicht sind damit auch alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts, sowie Privatpersonen, denen öffentlich-rechtliche Funktionen übertragen wurden, wie beispielsweise Beliehene173. Dies wird unterstrichen durch die Verwendung des Begriffs „aller“ in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, welcher auf eine lückenlose Wirkkraft schließen lässt174.

C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten Neben den vom Staat ausgehenden Bedrohungen sind Menschen zudem potentiell Bedrohungen durch andere Personen sowie durch natürliche Gefahren, wie beispielsweise Naturkatastrophen, ausgesetzt. Gegenstand dieser Untersuchung sind allein die Konstellationen, in denen ein Grundrechtsberechtigter droht, die grundrechtsbewehrten Rechtsgüter eines anderen Grundrechtsberechtigten zu verletzen oder dies bereits tut. Es geht mithin um zwischenmenschliche Konflikte. Dem vom Übergriff Betroffenen wird in dieser Konstellation durch die Achtungspflichten kein Schutz vermittelt, da diese dem Staat allein ein Unterlassen grundrechtswidriger Eingriffe gebieten, nicht aber aktives Tätigwerden zum Schutz anderer175. Zugleich sind die Bürger selbst nicht Verpflichtete der Achtungspflichten. Die Grundrechte entfalten mit Ausnahme des Art. 9 Abs. 3 GG keine unmittelbare Drittwirkung. Die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte bietet demnach keinen Schutz vor Übergriffen Dritter176. In Betracht käme daher, sich selbst gegen die Bedrohung zu verteidigen. Dies mag dem Bürger im Einzelfall faktisch möglich sein. Der tatsächlichen Möglichkeit der Selbstverteidigung sind aber rechtliche Grenzen gesetzt. Das staatliche Gewaltmonopol erlegt dem Bürger eine Friedenspflicht auf. Gewaltanwendung gegen andere Bürger sind daher nur legal, wenn sich der Bürger im Einzelfall auf ein Selbsthilferecht wie beispielsweise §§ 32, 34, 35 StGB berufen kann. Zu beachten ist allerdings, dass, nur weil ein Bürger sich in rechtlich zulässiger Weise mittels Gewaltanwendung gegen einen Angriff von Seiten eines anderen Bürgers verteidigen darf, dies nicht bedeutet, dass er es auch tatsächlich kann. Einem kräftemäßig überlegenen Gegenüber 172  Zitat von: B. Kempen, Grundrechtsverpflichtete, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 54 Rn.  2, 23 f.; Starck (Fn. 52), Art. 1  Abs. 1 Rn. 37; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 27 f. 173  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 29. 174  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 28 f. 175  E. Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, in: NJW 1989, S. 1633 (1633). 176  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 177.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

wäre er dennoch ausgeliefert. Die rechtliche Ermächtigung des Bürgers zur Selbstverteidigung allein, vermag daher keinen effektiven Schutz seiner grundrechtlich geschützten Güter zu garantieren. Einfachgesetzliche Selbsthilferechte sind nicht in der Lage faktische Kräfteunterschiede einzuebnen. Weder die Achtungspflichten noch der Bürger selbst können somit die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter vollumfänglich gegen Übergriffe von privater Seite abschirmen. Angesichts der Tatsache, dass die durch private Übergriffe hervorgerufenen Schäden in ihrer Intensität den von staatlicher Hand verursachten Beeinträchtigungen in nichts nachstehen müssen177, lässt sich diesbezüglich ein Schutzdefizit ausmachen178. Die grundrechtlichen Schutzpflichten ersuchen diese „offene Flanke des Grundrechtsschutzes“ zu schließen, um einen umfassenden Schutz der grundrechtsbewehrten Rechtsgüter zu gewährleisten179. Sie verpflichten daher die staatliche Gewalt, das jeweils betroffene Rechtsgut gegenüber Angriffen von Dritten zu schützen180. Damit sind sie nicht allgemein auf die Gewährleistung von Sicherheit gerichtet, sondern zielen nur auf den Schutz jeweils einzeln geschützter Rechtsgüter ab181. Die Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten als solche ist dabei in Literatur und Rechtsprechung anerkannt, im Einzelnen ist allerdings noch vieles umstritten182.

I. Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten Die Untersuchung des Verhältnisses von Achtungs- und Schutzpflichten macht es unerlässlich, auch deren Ursprünge zu beleuchten, da das dogmatische Fundament maßgeblichen Einfluss auf Umfang, Inhalt und Wirkung der grundrechtlichen Schutzpflichten hat. 1. Schutzpflicht zugunsten der Menschenwürde Die Schutzpflicht zugunsten der Menschenwürde ergibt sich unmittelbar aus dem Text des Grundgesetzes. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG besagt, die Men177  Hesse, Verfassungsrecht (Fn. 12), Rn. 349; L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2000, S. 17; Murswiek (Fn. 35), Art. 2 Rn. 24. 178  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 177. 179  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 178. 180  Hesse, Verfassungsrecht (Fn. 12), Rn. 350. 181  D. Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, in: K. Stern/ K. Grupp (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 227 (230). 182  W. Cremer, Die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der grundrechtlichen Schutzpflicht, in: DÖV 2008, S. 102 (102).



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten

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schenwürde „zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“183 Es wurde bereits früh erkannt, dass diese Schutzverpflichtung gewissermaßen als Gegenstück zum Achtungsgebot nur auf den Schutz vor nichtstaatlichen Beeinträchtigungen der Menschenwürde gerichtet sein kann184. Der Verfassungsgeber stellt die Menschenwürde damit ausdrücklich unter staatlichen Schutz. Einer gesonderten Herleitung bedarf es aufgrund der Eindeutigkeit der Formulierung nicht185. Als Bestandteil des positiven Verfassungsrechts entfaltet die Schutzpflicht zugunsten der Menschenwürde damit unmittelbar rechtsverbindliche Wirkung186. Sie stellt zunächst einmal eine objektive Pflicht des Staates dar187. Die Eindeutigkeit mit der Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG die Schutzpflicht zugunsten der Menschenwürde benennt, spiegelt sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wieder, welche, ohne deren Existenz in Frage zu stellen, auf die in Art. 1 Abs. 1 GG enthaltene Schutzpflicht für die Menschenwürde zurückgreift188. 2. Schutzpflicht zugunsten des Lebens Im Gegensatz zu Art. 1 GG sucht man in Art. 2 GG vergeblich nach einer Formulierung, die ausdrücklich eine Schutzpflicht für das Leben normiert. Das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG verfasste Recht auf Leben ist sprachlich allein als Abwehrrecht konzipiert. Die Schutzpflicht zugunsten des Lebens lässt sich also nicht unmittelbar aus dem Verfassungstext entnehmen. Es liegt dennoch nahe, dass sie existiert, wenn bereits an prominenter Stelle in Art. 1 Abs. 1 GG ausdrücklich Achtungs- und Schutzfunktion für die Menschenwürde benannt sind189. Aus dem ersten Artikel des Grundgesetzes lässt sich aber allenfalls die grundsätzliche Entscheidung der Verfassung für die Anerkennung der Schutzfunktion als solcher ableiten190. Eine schlichte Übertragung der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG auf das Grundrecht auf 183  Hervorhebung 184  W. Hamel,

vom Verfasser. Anmerkung zum Urteil des BGH v. 2.4.1957, in: DVBl. 1957,

S. 616 (618). 185  BVerfGE 49, 89 (141 f.); Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 943; GeddertSteinacher, Menschenwürde (Fn. 48), S. 93 f.; M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 152. 186  W. Krawietz, Gewährt Art. 1 Abs. 1 GG dem Menschen ein Grundrecht auf Achtung und Schutz seiner Würde?, in: D. Wilke/H. Weber (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Friedrich Klein, 1977, S. 245 (275); Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 28. 187  G. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 143. 188  BVerfGE 1, 97 (104), 39, 1 (41); 88, 203 (251). 189  Krings, Grund (Fn. 187), S. 145. 190  Krings, Grund (Fn. 187), S. 145 f.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

Leben ist allerdings nicht zulässig191. Die normative Grundlage der Schutzpflicht für das Leben lässt sich daher nur im Wege der Herleitung ermitteln. a) Herleitung des Bundesverfassungsgerichts Die herrschende Meinung und insbesondere das Bundesverfassungsgericht nimmt die Herleitung der Schutzpflichten im Wege der Verfassungsinterpretation vor, indem es diese aus der objektiv-rechtlichen Dimension192 der Grundrechte herleitet193. Aufgrund dieser Anknüpfung an die Grundrechte werden sie als grundrechtliche Schutzpflichten bezeichnet194. Anhand einer Auswahl von Entscheidungen wird im Folgenden ein Überblick über die Entwicklung der Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten nachgezeichnet. Ihren „Durchbruch“ erfuhr die Figur der grundrechtlichen Schutzpflicht im Zuge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch, in welcher das Gericht feststellte, dass sich die „Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen […] unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG“195 ableiten ließe. Ferner ergäbe sich die Schutzpflicht „auch aus der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG.“196 Das Bundesverfassungsgericht bediente sich damit zweier Anknüpfungspunkte für die Herleitung der Schutzpflicht zugunsten des Lebens, ohne diese Vorgehensweise näher zu begründen. Allerdings könnte aus der Feststellung des Gerichts, dass es für die Frage des Bestehens einer Schutzverpflichtung gegenüber dem nasciturus, nicht auf dessen umstrittene Rechts- und Grundrechtsfähigkeit ankomme, Näheres für die Begründung der Schutzpflicht zu entnehmen sein197. Die Unerheblichkeit der Grundrechtsfähigkeit des nasciturus wird damit begründet, dass die Grundrechte nicht allein subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat beinhalten, sondern zugleich eine objektive Wertordnung verkörpern, „die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt.“198 Aus der Uner191  Ruffert,

Vorrang (Fn. 185), S. 153; Krings, Grund (Fn. 187), S. 143. werden in der Literatur auch die Begriffe Funktion, Gehalte oder Wirkungen verwandt. 193  BVerfGE 39, 1 (42); 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 56, 54 (71); 77, 170 (214); 115, 118 (152). 194  Teilweise werden sie auch als „staatliche Schutzpflichten“ bezeichnet. 195  BVerfGE 39, 1 (41). 196  BVerfGE 39, 1 (41). 197  BVerfGE 39, 1 (41). 198  BVerfGE 39, 1 (41). 192  Synonym



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten49

heblichkeit der Grundrechtsfähigkeit des Betroffenen für den Bestand der Schutzpflicht, lässt sich folgern, dass diese nicht aus der subjektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte herzuleiten sind, sondern ihren Ursprung in der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte haben müssen. Damit in Einklang steht auch der nachfolgende Hinweis auf die in den Grundrechten verkörperte objektive Werteordnung, aus welcher das Bundesverfassungs­ gericht die grundrechtlichen Schutzpflichten schließlich herleitet. Die ob­ jektiv-rechtliche Dimension wurde erstmals in der Lüth-Entscheidung entwickelt und ist seither fester Bestandteil der Rechtsprechung199. Ihre Anerkennung stellt eine der grundlegenden Weichenstellungen des deutschen Verfassungsrechts seit Inkrafttreten des Grundgesetzes dar200. Eine tiefergehende Begründung lässt die Entscheidung indes vermissen. Im Anschluss daran, führt das Gericht aus, dass sich das „Ob“ und „Wie“ der Schutzpflichtenerfüllung aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte erschließen lasse201. Dieser Hinweis stellt indes auch keine Begründung für die Herleitung der Schutzpflicht dar, sondern setzt deren Existenz voraus und bezieht sich allein auf die zur Auslösung der Schutzpflicht erforderliche Beeinträchtigungsintensität, beziehungsweise die Art und Weise der Schutzpflichtenerfüllung. Relevant wurde die Schutzpflicht zugunsten des Lebens dann wieder im Schleyer-Beschluss. Nunmehr leitet das Gericht die Schutzpflicht allerdings aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ab202. Aus dem Nebeneinander der beiden Normen ist ein Miteinander geworden. Erläuterungen, was Ursache und Ziel dieser Verbindung waren, sind indes ebenso wenig vorhanden, wie eine nähere Begründung der Schutzpflicht. Die gleiche Formulierung wie im Schleyer-Beschluss findet sich dann auch in der nachfolgenden Entscheidung zum Kontaktsperregesetz203. In seinem Kalkar-Beschluss spricht das Bundesverfassungsgericht dann zunächst von objektivrechtlichen, aus der Grundrechtsordnung herzuleitenden Schutzpflichten204. Nahezu identisch mit der Formulierung in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, begründet das Gericht die Schutzpflichten in der Folge mit den, den grundrechtlichen Verbürgungen immanenten, „objektivrechtliche[n] Wertentscheidungen der Verfassung, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzge199  BVerfGE 39, 1 (41); 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 56, 54 (73); 77, 170 (214); 85, 191 (212); 92, 26 (46). 200  R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, in: JZ 1990, S. 553 (556). 201  BVerfGE 39, 1 (41 f.). 202  BVerfGE 46, 160 (164). 203  BVerfGE 49, 24 (53). 204  BVerfGE 49, 89 (140).

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

bung, Verwaltung und Rechtsprechung geben“205. Unklar ist, ob die grundrechtlichen Schutzpflichten als Teil oder Folge dieser „objektiven Richtlinien“ zu verstehen sind206. Deutlich wird aber, dass das Gericht für die Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten nunmehr verstärkt auf den objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte abstellt und nicht mehr auf Art. 1 GG rekurriert. Auf dessen Abs. 1 Satz 2 wird lediglich hingewiesen, um die sich aus der objektiven Werteordnung ergebenden Pflichten zu verdeutlichen207. Im nachfolgenden Mülheim-Kärlich-Beschluss findet Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG dann schließlich gar keine Erwähnung mehr und allein der objektiv-rechtliche Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wird als Anknüpfungspunkt für die Herleitung der Schutzpflicht herangezogen208. Das Gericht folgert „aus seinem objektiv-rechtlichen Gehalt die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren.“209 Diese Passage wurde sinngemäß in den nachfolgenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts übernommen210. Es ist daher in ständiger Rechtsprechung beider Senate des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine objektivrechtliche Wertentscheidung der Verfassung darstellt, die eine grundrechtliche Schutzpflicht für das Leben begründet. Entgegen dieser Festigung des Schutzpflichtengedankens, bietet die vom Bundesverfassungsgericht gelieferte Begründung keine tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Argument der Wertenscheidung beziehungsweise dem objektivrechtlichen Gehalt211. Es soll daher an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, die Herleitung des Bundesverfassungsgerichts zu veranschaulichen. Der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte fungieren sollen, sondern dass ihnen auch objektive Aussagen darüber zu entnehmen sind, welche Werte in einer Gesellschaft gelten sollen212. Diese Qualifizierung der 205  BVerfGE

49, 89 (141 f.). Leben (Fn. 22), S. 45. 207  BVerfGE 49, 89 (141 f.). 208  BVerfGE 53, 30 (57). 209  BVerfGE 53, 30 (57). 210  BVerfGE 56, 54 (73); 77, 170 (214); 79, 174 (201 f.); 92, 26 (46); 96, 56 (64); 115, 118 (160). 211  H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 110 (1985), S.  363 (365 f.); Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 945, 948; Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 68), S. 180. 212  Hesse, Verfassungsrecht (Fn. 12), Rn. 350; L. P. Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 30. 206  Hermes,



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten51

Grundrechte als objektive Grundsatznormen beziehungsweise Wertentscheidungen erfolgte bereits Mitte der 50er Jahre und führte dazu, dass die Grundrechte nicht nur dort Geltung beanspruchen, wo der Staat an den Rechtsbeziehungen unmittelbar beteiligt ist, sondern vielmehr auch auf Rechtsbeziehungen von Privaten untereinander einwirken213. Die Erschließung der Schutzpflichten aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte schließt sich deren Anerkennung an und geht dabei auf das anfangs angesprochene Schutzdefizit zurück. Dieses bestünde, wenn sich die Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion erschöpfen würden, da diese gegenüber Übergriffen von Privaten keinen Schutz vermitteln kann214. Sollen die durch die Grundrechte begründeten Freiheitssphären dem Bürger aber so weit wie möglich zukommen, so müssen die grundrechtlich geschützten Güter auch nach allen Seiten – also auch gegenüber Beeinträchtigungen von Seiten Dritter – abgesichert werden. Nur so werden die Grundrechte ihrem Verständnis als objektive Grundsatznormen gerecht. Damit ist allerdings lediglich das Movens des Rekurses auf die objektiven Wertentscheidungen beschrieben, nicht aber deren Inhalt215. Es gilt daher zunächst die in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG enthaltene objektive Wertentscheidung beziehungsweise dessen objektiv-rechtlichen Gehalt zu bestimmen. Dies kann allein unter Ausblendung des subjektiv-rechtlichen Gehalts, der abwehrrechtlichen Funktion des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, erfolgen216. Demnach ist zu fragen, aufgrund welcher Wertentscheidung Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein Abwehrrecht gewährt217. Objektiv beinhaltet das Grundrecht ein an den Staat gerichtetes Tötungsverbot218. Durch Abstraktion des Rechtsverpflichteten lässt sich dann der in Frage stehende Wert ermitteln, auf den sich diese Entscheidung bezieht, das menschliche Leben219. Die Entscheidung hinsichtlich des Wertes Leben ist die Entscheidung für das Leben, nicht gegen das Leben, weil dieses als erhaltungswürdig scheint. Andernfalls bedürfte es keines Abwehrrechts, welches gegen Beeinträchtigungen des Lebens schützt. Diese Wertentscheidung ist der objektiv-rechtliche Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und damit Teil der objektiven Werteordnung des Grundgesetzes220. Diese Werteordnung gilt „als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Be213  BVerfGE 7, 198 (205 f.); K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: E. Benda/ W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Band  1, 2. Aufl. 1995, § 5 Rn. 21 f. 214  Vgl. oben C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 26. 215  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 365. 216  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 366; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 61. 217  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 366. 218  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 61. 219  Alexy, Theorie (Fn. 46), S. 414; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 61. 220  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 61.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

reiche des Rechts“, das heißt „Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von [ihr] Richtlinien und Impulse“221. Das bedeutet zunächst einmal, dass die staatliche Gewalt auf eine Effektuierung dieser Werteordnung hinzuarbeiten hat222. Sieht sich die objektive Werteordnung oder einzelne in ihr enthaltene Wertentscheidungen Bedrohungen ausgesetzt, so muss hieraus aber auch folgen, dass es diese zu verteidigen gilt223. Daraus folgert das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht. Es ist offensichtlich, dass diese aus der objektiven Werteordnung resultierenden Grundrechtsfunktionen weniger präzise und eingrenzbar sind als die Abwehrrechte224. Damit einher geht indes auch ein größeres Maß an Flexibilität zur Erreichung eines bestmöglichen Grundrechtsschutzes225. Das Bundesverfassungsgericht hat mit dieser Rechtsprechung somit eine neue objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte entwickelt226. b) Positive Rezeption der Rechtsprechung im Schrifttum Die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene dogmatische Herleitung der Schutzpflicht aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte ist nach anfänglicher Zurückhaltung in der Literatur grundsätzlich auf breite Akzeptanz gestoßen227. Diese weitgehende Befürwortung mag auf den ersten Blick verwundern, führte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts doch zur Begründung einer neuen Grundrechtsfunktion, was per se ein enor221  BVerfGE

7, 198 (205). Staatsrecht II, 17. Aufl. 2014, S. 32. 223  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 379. 224  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 366; E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 (1990), S. 1 (13). 225  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 366. 226  Kritisch: B. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr – Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGZR 1984, S. 457 ff. 227  E. Klein, Diplomatischer Schutz und grundrechtliche Schutzpflicht, in: DÖV 1977, S. 704 (706); J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 27 ff.; R. Steinberg, Grundfragen des öffentlichen Nachbarrechts, in: NJW 1984, S. 457 (458 f.); Hermes, Leben (Fn.  22), S. 208  ff.; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S.  931 ff.; D. Ehlers, Der Schutz wirtschaftlicher Unternehmen vor terroristischen Anschlägen, Spionage und Sabotage, in: H. Leßmann/B. Großfeld/L. Vollmer (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Lukes zum 65.  Geburtstag, 1989, S. 337 ff.; Alexy, Theorie (Fn. 46), S. 410 ff.; P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S.  31 ff., 56 f.; Hesse, Verfassungsrecht (Fn. 12), Rn. 350; Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 68), S. 180 ff.; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 62 ff.; Starck (Fn. 52), Art. 1 Rn. 170, 194 ff.; P. Badura, Staatsrecht, Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl. 2012, S. 120 f.; Dreier (Fn. 5), Vorb. vor Art. 1 Rn. 101 ff.; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 1), Rn.  116 ff. 222  J. Ipsen,



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten53

mes Diskussionspotential in sich birgt. Aus staatstheoretischer Sicht handelt es sich bei den grundrechtlichen Schutzpflichten allerdings weniger um eine Neuschöpfung, als vielmehr um eine Wiederentdeckung228. Vor diesem Hintergrund erscheint die grundsätzliche Anerkennung der Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte als logische Konsequenz229. Die Idee der Schutzpflichten ist zwingende Folge des modernen Staates, der auf dem Austauschverhältnis von Schutzgewährung und Unterwerfung beruht230. Damit allein ist jedoch noch nichts über deren Verortung im Grundrechtssystem, insbesondere deren Herleitung gesagt. Daher sieht sich die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Herleitung der Schutzpflichten verschiedensten Kritikpunkten ausgesetzt231. Zum einen wird gegen die wertorientierte Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, unter abwechselnder Verwendung von Begriffen wie „objektive Wertordnung“, „Wertsystem“, „objektiv-rechtlichen Gehalt“, „verfassungsrechtliche Grundentscheidung“, „Richtlinien“ und „Impulse“ eingewandt, diese stifte allenfalls Verwirrung, da die Begriffe zu unbestimmt seien, um ihren genauen Inhalt zu beschreiben und damit eine saubere dogmatische Herleitung nicht ermöglichen232. Weitergehend wird vor dem Hintergrund des rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsprinzips die Begründung von Schutzpflichten beziehungsweise deren Existenz kritisch betrachtet. Dies beruht auf der Annahme, dass jede Erweiterung der Grundrechtsfunktionen eine Einschränkung des Gestaltungsermessens des Gesetzgebers bewirkt. Darauf fußt die Befürchtung, dass mit Anerkennung grundrechtlicher Schutzpflichten eine Modifizierung des verfassungsrechtlichen Machtgefüges einherginge, dergestalt, dass auf Kosten der Legislative die Schaffung eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates befeuert würde233. Die damit verbundene Vermischung von Gesetzgebung und Rechtsprechung sei nicht mit dem Ge228  Isensee, Grundrecht (Fn. 227), S. 33 f.; Hermes, Leben (Fn. 22), S. 204 ff.; Robbers, Sicherheit (Fn. 126), S. 121; Merten, Schutzpflichten (Fn. 181) S. 227. 229  O. Klein, Das Untermaßverbot – Über die Justiziabilität grundrechtlicher Schutzpflichterfüllung, in: JuS 2006, S. 960 (960). 230  Robbers, Sicherheit (Fn. 126), S. 27 ff.; Alexy, Theorie (Fn. 46), S. 414 f.; Klein, Untermaßverbot (Fn. 229), S. 960. 231  Im Überblick dargestellt bei C. Calliess, Schutzpflichten, in: D. Merten/ H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 44 Rn. 8 ff. 232  J. Schwabe, bezeichnet den Begriff des Objektiven gar als „Nebelbegriff“, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 286; D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, Verfassungsrechtliche Grundlagen und immissionsschutzrechtliche Ausformung, 1985, S. 101 f. 233  Geddert-Steinacher, Menschenwürde (Fn. 48), S. 97; E. W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1992, S. 190; ders., Grundsatznormen (Fn. 224), S. 25 ff.; Calliess (Fn. 231), § 44 Rn. 8.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

waltenteilungsprinzip zu vereinbaren234. Gegen ein Verständnis der grundrechtlichen Schutzpflichten als subjektive Rechte wird zudem eingewandt, dass, insofern diese als Grundlage für freiheitsbeschränkende Maßnahmen dienen, hierdurch die freiheitssichernde Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil verkehrt würde235. Schließlich wird dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte als solchem ein dogmatisch tragbares Fundament abgesprochen, was insbesondere der Herleitung der Schutzpflichten durch das Bundesverfassungsgericht den Boden entzieht236. Entgegen dieser ablehnenden Stimmen leitet der Großteil des Schrifttums, in enger Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Schutzpflicht für das Leben aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ab237. c) Weitere Begründungsversuche der Schutzpflicht Neben der Herleitung aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt haben sich im Schrifttum weitere Begründungsansätze herausgebildet. aa) Staatszweck Sicherheit Zum Teil wird die These vertreten, die grundrechtlichen Schutzpflichten leiten sich aus dem Staatszweck der Sicherheit ab238. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, dass sich der moderne Staat nach der Konzeption seiner geistigen Väter Thomas Hobbes und John Locke unter anderem durch seine Sicherungsfunktion legitimiert239. Aus dem Staatszweck Sicherheit, der zugleich das Gewaltmonopol und die damit korrespondierende Friedenspflicht 234  Böckenförde,

Grundsatznormen (Fn. 224), S. 25. (Fn. 231), § 44 Rn. 8. 236  Schlink, Freiheit (Fn. 226), S. 457 ff.; D. P. Currie, Positive und negative Grundrechte, in: AöR 111 (1986), S. 230 (230 ff., 249 ff.); W. Cremer, Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: W. Erbguth/F. Müller/V. Neumann (Hrsg.), Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch. Gedächtnisschrift für Jeand’Heur, 1999, S. 59 (61 ff.). 237  D. Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, in: VVDStRL 38 (1980), S. 167 (183); Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 378 f.; Hesse, Bedeutung (Fn. 213), § 5 Rn. 17 ff. 238  Isensee, Sicherheit (Fn. 227), S. 15 ff.; ders. (Fn. 20), § 191 Rn. 146 ff.; Hermes, Grundrecht (Fn. 22), S. 148 ff.; Klein, Schutzpflicht (Fn. 177), S. 1635; H. Klein, Die grundrechtliche Schutzpflicht, in: DVBl. 1994, S. 489 (492 f.); Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 21 ff.; Merten, Schutzpflichten (Fn. 181), S. 227 ff. 239  T. Hobbes, Über den Bürger (1642), (zitiert nach der Brockhaus Ausgabe, übersetzt von Julius von Kirchmann), 1873; ders., Leviathan, or the Matter, Form and Power of a Commonwealth, ecclésiastical and civil, 1651; J. Locke, Two Treatises of Government, 1690. 235  Calliess



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten55

der Bürger begründet, ergebe sich wiederum die Pflicht des Staates, die Bürger auch untereinander gegen Beeinträchtigungen ihrer grundrechtlichen Freiheitssphären zu schützen240. Käme der Staat dieser Verpflichtung nicht nach, so hätte der Bürger selbst für seinen Schutz zu sorgen, mit der Folge, dass die Befriedungsfunktion des Staates unterwandert würde241. „Die Sicherheit des Menschen als solche ist also, obschon nicht ausdrücklich im Verfassungstext erwähnt, in der Art des vom Grundgesetz konstituierten Staates mitgeschrieben.“242 Als dogmatischer Anknüpfungspunkt für die Herleitung der Schutzpflichten werden die Grundrechte verstanden, die in ihrer Eigenschaft als Konstitutionsprinzipien einer objektiv-rechtlichen Werteordnung herangezogen werden243. Dagegen wird angeführt, dass zur Herleitung einer neuen Grundrechtsfunktion konkrete Anhaltspunkte im Grundgesetz selbst erforderlich seien müssen und allein der Rückgriff auf die neuzeitliche Staatszwecklehre nicht ausreiche244. Der Verweis auf den Staatszweck Sicherheit kann damit nicht allein zur Herleitung der Schutzpflichten dienen, sondern lediglich als ideengeschichtliches Intro. Nichtsdestotrotz bildet die Sicherheitsgarantie des Staates damit den Vorläufer der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten245. bb) Die Menschenwürde als Ursprung der Schutzpflicht Andere sehen den primären Anknüpfungspunkt für die Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG246. Diesem lasse sich die Aussage entnehmen, dass der Staat den in allen Grundrechten verbürgten Freiheiten zur praktischen Durchsetzung verhelfen müsse, da diese Ausformungen der Menschenwürdegarantie seien247. Unterstützend wird an240  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 932 ff.; Klein, Schutzpflicht (Fn. 177), S.  1635 f.; C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat – Zugleich ein Beitrag zur Grundrechtsdogmatik im Rahmen mehrpoliger Verfassungsrechtsverhältnisse, 2001, S.  96 ff.; ders., Sicherheit im freiheitlichen Rechtstaat, ZRP 2002, S. 1 ff. 241  Klein, Schutzpflicht (Fn. 177), S. 1636. 242  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 933. 243  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 937; Klein, Schutzpflicht (Fn. 177), S. 1636; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 181 ff. 244  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 40. 245  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 40; C. Möllers, Staat als Argument, 2. Aufl. 2011, S. 208. 246  F. Ossenbühl, Kernenergie im Spiegel des Verfassungsrechts, in: DÖV 1981, S.  1 (4 f.); Calliess (Fn. 231), § 44 Rn. 9. 247  A. Bleckmann, Neue Aspekte der Drittwirkung der Grundrechte, in: DVBl. 1988, S. 938 (941 f.); vgl. auch E. Benda, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht,

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

geführt, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung stets die enge Verbindung des Schutzgutes der Menschenwürde zu den anderen Grundrechten hervorgehoben habe248. Aufgrund dieser engen Verbindung lasse sich die Schutzpflicht für die Menschenwürde auf die anderen Rechtsgüter des Grundrechtskatalogs ausdehnen249. Einschränkend wird von Starck eine Schutzpflicht nur für den jeweiligen Menschenwürdegehalt des betroffenen Einzelgrundrechts angenommen250. Andernfalls drohe ein Ausufern der Schutzpflichtenlehre, welche die Position der Judikative im Verhältnis zur Legislative über Gebühr schwächen würde. Auch diese These wurde nicht kritiklos aufgenommen. Teilweise wird die große Unbestimmtheit der Menschenwürde und der sich daraus ergebende hohe Interpretationsbedarf, als Hindernis für die Herleitung der Schutzpflichten gesehen251. Andere halten eine Herleitung allein aus der Menschenwürde für unnötig, da mit der Lehre von der objektiven Wertordnung und dem staatstheoretischen Begründungsansatz bereits Konzepte bestünden, welche zur Begründung der grundrechtlichen Schutzpflicht ausreichen252. Darüber hinaus ist die These, dass die Einzelgrundrechte lediglich spezifische Ausformungen der Menschenwürde seien, anfechtbar253. Zweifelsohne konkretisieren die Einzelgrundrechte teilweise unmittelbar aus der Menschenwürde hervorgehende Rechte, welche dann auch von der Geltungsanordnung des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG miterfasst sein mögen254. Dies muss indes nicht bei allen Grundrechten der Fall sein. Bereits der Verfassungstext unterscheidet in Art. 1 GG deutlich zwischen unantastbarer und zu schützender Menschenwürde, unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten und den grundgesetzlich positivierten Grundrechten255. Hinzu kommt, dass sich der personelle Anwendungsbereich des Art. 1 GG von dem anderer Grundrechte unterscheidet. Die Grundrechte beschränken ihren personellen Anwendungsbereich zum Teil auf Deutsche, wohingegen die Menschenwürde für alle gilt. Darüber hinaus sind die Grundrechte zumeist einschränkbar und möglicherweise vor dem Hintergrund des Art. 18 GG gar verwirkbar256. Diese von der in: ders./Maihofer/Vogel, HdbVR I (Fn. 213), § 6 Rn. 10, der annimmt, die Grundrechte ergäben sich bereits aus Art. 1 Abs. 1 GG; es handele sich um „partiell verselbständigte Ausschnitte der Menschenwürde“. 248  BVerfGE 7, 198 (205); 35, 202 (225); 39, 1 (43). 249  Streuer, Verpflichtungen (Fn. 26), S. 93 f. 250  C. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 70 ff. 251  Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 68), S. 87 ff. 252  Ruffert, Vorrang (Fn. 185), S. 160 f. 253  Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 68), S. 97 ff. 254  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 146. 255  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 146. 256  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 147.



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten

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Verfassung vorgesehenen Einschränkungen liefen der in Art. 1 Abs. 1 GG verfassten Unantastbarkeit der Menschenwürde zuwider257. Diese Erwägungen gelten insbesondere auch für das Recht auf Leben, da nicht in jedem Entzug des Lebens auch eine Antastung der Menschenwürde des Grundrechtsträgers liegt258. Eine umfassende Ausdehnung der Schutzanordnung des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG auf die übrigen Schutzgüter des Grundgesetzes erscheint vor diesem Hintergrund daher nicht gerechtfertigt. Nur wenn in einer Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter zugleich auch eine Verletzung der Menschenwürde liegt, kann die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 2 S. 2 GG greifen259. Die Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflicht für das Leben kann daher trotz der engen Verbindung zwischen Leben und Würde nicht durch Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG erfolgen. Auch die Auffassung von Starck kann nicht überzeugen, da sie zu einem zu engen Verständnis der grundrechtlichen Schutzpflichten führt260. Würde nur der jeweilige Menschenwürdekern der Grundrechte von den grundrechtlichen Schutzpflichten erfasst werden, so könnten die Schutzpflichten ihrer Funktion, Sicherheit zu gewährleisten, nicht mehr ausreichend nachkommen. Gewährleistet wäre allein ein Minimalschutz im Würdebereich, der mit einer maximaler Schutzwirkung versehen wäre. Im Interesse eines umfassenden Schutzes grundrechtlich geschützter Güter erscheint es hingegen sinnvoller, der staatlichen Gewalt bei deren Schutz ein höheres Maß an Flexibilität zukommen zu lassen. Abgesehen davon stellt die konkrete Eingrenzung des Menschenwürdekerns im Einzelfall eine äußerst schwierige, wenn nicht gar unmögliche Aufgabe dar261. Auch aus Praktikabilitätsgründen ist eine Verengung der grundrechtlichen Schutzpflichten auf den Menschenwürdekern daher nicht geboten. cc) Sozialstaatsprinzip Schließlich wird zur Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten auf das Sozialstaatsprinzip zurückgegriffen. Dieses soll dem Ausgleich sozialer Gegensätze dienen, indem es einer gerechten Sozialordnung und dem Aufbau sozialer Grundausstattung der Gesellschaft den Weg bereitet, um jene Mindestvoraussetzungen zu schaffen, mit Hilfe derer sich ein menschenwürdiges 257  Dietlein,

Lehre (Fn. 11), S. 147. oben S. 42 „Keine Identität der Achtungspflichten“. 259  Starck, Verfassungsauslegung (Fn. 250), S. 70 ff.; Dietlein, Lehre (Fn.  11), S. 147 f. 260  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 44 ff.; Ruffert, Vorrang (Fn. 185), S. 161. 261  Ruffert, Vorrang (Fn. 185), S. 161. 258  Vgl.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

Dasein absichern lässt262. Hiernach folge die Schutzpflicht aus dem jeweiligen Grundrecht in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip263. Diese Herleitung beruht auf der Annahme, dass den Grundrechten ein subjektives Teilhabe- oder Leistungsrecht zu entnehmen sei, dessen objektive Kehrseite die Schutzpflichten darstellen264. Allerdings begegnet bereits die Leistungsfunktion der Grundrechte als solche gewichtigem Widerstand. Sie wird weithin nur in Ausnahmefällen anerkannt. Darüber hinaus liegt den Leistungsrechten eine bipolare Beziehung zwischen Bürger und Staat zugrunde, wohingegen bei den Schutzpflichten mindestens eine trilaterale Fallkonstellation vorliegt mit dem Betroffenen, dem Übergriffigen und dem Staat als Beteiligten. Die zugrundeliegende Ausgangslage ist damit eine andere, weshalb die Schutzpflichten nicht die objektive Kehrseite der subjektiven Teilhabe- oder Leistungsrechte sein können265. Des Weiteren teilen Schutzpflichten und das Sozialstaatsprinzip nicht die gleiche Zielrichtung. Schutzpflichten sollen geschützte Rechtsgüter erhalten, indem sie diese gegen Beeinträchtigungen Dritter abschirmen. Das Sozialstaatsprinzip zielt demgegenüber in erster Linie auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit ab, also die Verbesserung der materiellen Lebensumstände266. Schutzpflichten versuchen etwas Vorhandenes – den status quo – zu bewahren, wohingegen das Sozialstaatsprinzip gerade auf die Herstellung, eines „mehr“ als des Vorhandenen gerichtet ist267. Gegen eine Herleitung der Schutzpflichten aus dem Sozialstaatsprinzip wird schließlich noch angeführt, dass dieses als verfassungsrechtlicher Auftrag nicht geeignet sei, konkrete Handlungsanweisungen zu begründen, da es ihm an Konturenschärfe mangelt268. Die unterstützende Heranziehung des Sozialstaatsprinzip vermag daher im Ergebnis die Herleitung der Schutzpflichten nicht auf ein solideres dogmatisches Fundament zu stellen.

262  Hofmann

(Fn. 56), Art. 20 Rn. 27. Sicherheit (Fn. 126), S. 193; V. Neumann, Sozialstaatsprinzip und Grundrechtsdogmatik, in: DVBl. 1997, S. 92 (96 f.). 264  W. Loschelder, Staatliche Regelungsbefugnis und Toleranz im Immissionsschutz zwischen Privaten, in: ZBR 1977, S. 337 (339). 265  Klein, Schutz (Fn. 227), S. 704 (706); Murswiek, Verantwortung (Fn. 232), S.  123 f.; Hermes, Leben (Fn. 22), S. 119 f.; Alexy, Theorie (Fn. 46), S. 410 ff. 266  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 49. 267  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 49; Jaeckel, Schutzpflichten (Fn. 177), S. 45. 268  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 132 f.; Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 49; Jaeckel, Schutzpflichten (Fn. 177), S. 45. 263  Robbers,



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten59

dd) Die abwehrrechtliche Lösung Der vor allem von Murswiek269 und Schwabe270 entwickelte und von Szczekalla271 wieder aufgegriffene Ansatz zur Begründung der Schutzpflichten hält den Rekurs auf die objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechte für überflüssig. Die Schutzpflichten lassen sich hiernach bereits aus der Abwehrfunktion der Grundrechte herleiten272. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist das staatliche Gewaltmonopol, welches dem Bürger eine Friedenspflicht auferlegt. Daraus wird die Verpflichtung des Staates abgeleitet, den Bürger vor Beeinträchtigungen seiner grundrechtlich geschützten Rechtsgüter zu schützen273. Bis zu diesem Punkt deckt sich die Herleitung mit der Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten aus dem Staatszweck der Sicherheit. Kommt der Staat dieser Verpflichtung nun aber nicht nach, so setzt dieser Ansatz den unterlassenen Schutz vor Übergriffen durch Dritte in grundrechtlich geschützte Bereiche Grundrechtseingriffen des Staates durch aktives Tun gleich274. Die von einem Dritten vorgenommene Grundrechtsbeeinträchtigung wird dem Staat somit als eigene zugerechnet275. Anknüpfungspunkt für diese Zurechnung ist dabei eine dem Bürger auferlegte Duldungspflicht, die ebenso aus dem Gewaltverbot beziehungsweise der Friedenspflicht folgt. Mit dem Verbot privater Gewalt lege der Staat seinen Bürgern zugleich die Pflicht auf, etwaige beeinträchtigende Handlungen Dritter hinzunehmen, insoweit diese durch die Rechtsordnung gestattet sind276. Verbietet der Staat die Gefährdung oder Verletzung grundrechtlich geschützter Güter durch Dritte nicht, müsse er sich deren Verhalten wie eigenes Handeln zurechnen lassen. Der Staat sei folglich „durch rechtliche Regelungen, gerichtlichen Ausspruch und vollstreckenden Zugriff an dem Verletzungsvorgang beteiligt“277. Das Schutzpflichtenproblem stellt sich hiernach 269  Murswiek,

Verantwortung (Fn. 232), S. 57 ff. Grundrechtsdogmatik (Fn. 232), S. 201 ff. 271  P. Szczekalla, Die sogenannten Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S. 404 ff. 272  Schwabe, Bundesverfassungsgericht und „Drittwirkung“ der Grundrechte, in: AöR 110 (1975), S. 442 ff.; ders., Grundrechtsdogmatik (Fn. 232), S. 211 ff.; Murswiek, Verantwortung (Fn. 232), S. 88 ff.; ders., Entschädigung für immissionsbedingte Waldschäden, in: NVwZ 1986, S. 611 ff. 273  Murswiek, Verantwortung (Fn. 232), S. 23 f., 102. 274  Schwabe, Grundrechtsdogmatik (Fn. 232), S. 213 ff.; Murswiek, Verantwortung (Fn. 232), S. 66 f., 107. 275  Schwabe, Grundrechtsdogmatik (Fn. 232), S. 213 ff.; Murswiek, Verantwortung (Fn. 232), S. 66 f., 107. 276  Streuer, Verpflichtungen (Fn. 26), S. 85. 277  Schwabe, Grundrechtsdogmatik (Fn. 232), S. 213; ders., Bundesverfassungsgericht (Fn. 272), S. 442 ff. 270  Schwabe,

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

also allein auf der abwehrrechtlichen Ebene, so dass eine weitere dogmatische Fundierung der Schutzpflichten entbehrlich sei278. Diese sogenannte abwehrrechtliche Lösung ist in der Literatur auf heftige Kritik gestoßen279. Zum einen übersehe der Ansatz den Unterschied zwischen Achtungs- und Schutzpflichten280. Die Achtungspflichten zwingen den Staat zum Unterlassen eines genau bestimmten Eingriffs, wohingegen die Schutzpflichten durch aktives Tun, welches grundsätzlich nicht auf eine bestimmte Verhaltensalternative beschränkt ist, zu erfüllen sind281. Ferner führe die Gleichsetzung des Grundrechtseingriffs durch aktives Tun mit der Grundrechtsbeeinträchtigung durch Dritte aufgrund unterlassener Schutzgewährung dazu, dass die Unterscheidung zwischen hoheitlichem und privatem Verhalten weitestgehend verwischt würde282. In der Folge würden die Achtungspflichten an Konturenschärfe verlieren und der klassische Eingriffsbegriff jeglicher juristischer Handhabe beraubt283. Zwar wird dieser Einwand unter Zugrundelegung des modernen Eingriffsbegriffs abgeschwächt; die Ausdehnung des Eingriffsbegriffs wäre dennoch kaum mehr einzugrenzen284. Die Kombination aus dem hieraus resultierenden weiten Eingriffsbegriff mit weiten Schutzbereichen berge zudem die Gefahr in sich, dass der Gesetzesvorbehalt in einen „Totalvorbehalt“ für jedwede Grundrechtsbeeinträchtigung verkomme, was Effektivität und Flexibilität der Verwaltung weitestgehend beseitigen würde285. Darüber hinaus wird gegen die abwehrrechtliche Lösung angeführt, dass der Schluss von einem fehlenden Eingriffsverbot auf eine hiermit korrespondierende Duldungspflicht nicht schlüssig sei, da der Staat den Betroffenen nicht auch zugleich zu einem Erdulden der Beeinträchtigung zwingt, sondern ihm die Möglichkeit des Ausweichens belässt286. Es handele sich daher vielmehr um ein Verbot der Selbstverteidigung287. Zu guter Letzt 278  Murswiek, Verantwortung (Fn. 232), S. 107 f.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik (Fn. 232), S. 213 f. 279  Guter Überblick bei Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 42 ff. 280  E. Schmidt-Aßmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 Abs. 2 im Immissionsschutzrecht, in: AöR 106 (1981), S. 205 (215); Bleckmann, Aspekte (Fn. 247), S. 940; Klein, Schutzpflicht (Fn. 177), S. 1639; Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 46 f. 281  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 200), S. 558; Alexy, Theorie (Fn. 46), S. 420 ff.; W. Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994, S. 343. 282  L. Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich, 2012, S. 72. 283  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 95 f.; R. Schmidt, Staatshaftung für Waldschäden, in: ZRP 1987, S. 345 (347). 284  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 41 f.; Calliess (Fn. 231), § 44 Rn. 14; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 72. 285  Calliess (Fn. 231), § 44 Rn. 14. 286  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 76 f.; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 730; Klein, Schutzpflicht (Fn. 177), S. 1639; Alexy, Theorie (Fn. 46), S. 417 ff. 287  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 730.



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten61

wird der abwehrrechtlichen Lösung auch ein methodischer Einwand entgegengehalten. Die Theorie beruhe auf einem Zirkelschluss, da die Zurechnung privater Übergriffe an den Staat voraussetzt, dass für diesen die vorgelagerte Pflicht besteht solche Eingriffe abzuwehren und zu verbieten288. Es wird also die eigentlich erst zu begründende Schutzpflicht bereits vorausgesetzt289. Der abwehrrechtlichen Theorie ist demnach ein logischer Bruch immanent290. Aufgrund dieser gewichtigen und überzeugenden Einwände kann die abwehrrechtliche Lösung nicht überzeugen. d) Zwischenfazit Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte als solche kann heute zum unbestrittenen Bestand der Grundrechtsdogmatik gezählt werden291. Zwist besteht indes über die dogmatische Herleitung. Trotz der jeweiligen Kritik an den vorgebrachten Ansätzen zur Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten stellt sich die Schutzpflichtenlehre der Literatur in ihrer Gesamtheit weniger als Feld sich ausschließender Gegensätze dar, sondern vielmehr als sich ergänzende und aufeinander aufbauende Bausteine zur grundrechtsdogmatischen Absicherung der wiederentdeckten Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte292.

II. Tatbestand der grundrechtlichen Schutzpflichten Nachdem die Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflicht nachgezeichnet wurde und festgestellt werden konnte, dass es sich hierbei um eine weitere Grundrechtsfunktion handelt, die sich aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte ableitet, soll nunmehr zum besseren Verständnis kursorisch deren tatbestandliche Struktur erläutert werden. Aufgrund der Verschiedenheit von Achtungs- und Schutzpflichten kann hierfür allerdings nicht auf die zu den Abwehrrechten entwickelte Dogmatik zurückgegriffen werden293. Die grundrechtlichen Schutzpflichten werden nicht durch einen Eingriff von 288  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 97; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 947; Alexy, Theorie (Fn. 46), S. 417; Streuer, Verpflichtungen (Fn. 26), S. 87. 289  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 97; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 947; Alexy, Theorie (Fn. 46), S. 417; Streuer, Verpflichtungen (Fn. 26), S. 87. 290  Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 72. 291  K. Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, in: DÖV 2010, S. 241 (247, 249). 292  U. Vosgerau, Zur Kollision von Grundrechtsfunktionen, ein zentrales Problem der Grundrechtsdogmatik, in: AöR 133 (2008), S. 347 (357). 293  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 219 ff.; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 75.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

staatlicher Seite ausgelöst, sondern dann, wenn ein Übergriff eines Privaten auf ein grundrechtliches Schutzgut gegeben ist, oder die Gefahr eines solchen Übergriffs besteht294. 1. Objekt der Gefährdung – grundrechtliche Schutzgüter Gegenstand der grundrechtlichen Schutzpflichten sind die in den Grundrechten normierten Güter295. Das jeweilige Schutzobjekt der Schutzpflicht – das zu schützende Rechtsgut – entspricht dabei in Inhalt und persönlicher Reichweite dem Schutzbereich des korrespondierenden Abwehrrechts, also dem Inhalt der Achtungspflicht296. Dies hat seine Ursache darin, dass es gerade Zweck der Schutzpflichtenfunktion ist, die Geltungskraft der Grundrechte zu verstärken297. Achtungs- und Schutzpflicht teilen somit einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt. Die beiden für diese Untersuchung relevanten Schutzgüter Würde und Leben wurden bereits im Rahmen der Achtungspflichten näher dargestellt298. Eine tiefergehende Erläuterung erübrigt sich daher. 2. Gefahr Zur Auslösung der Schutzpflicht bedarf es eines Übergriffs durch einen Privaten auf ein grundrechtliches Schutzgut. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird dieser als „rechtswidrige[r] Eingriff von seiten anderer“ bezeichnet299. In Bezug auf die hier zu untersuchenden Ausnahmesituationen geht es dabei um Fälle, in denen Private Gewalt gegen andere Private einsetzen. Hierdurch brechen sie grundsätzlich die allgemeine, zwischen den Staatsbürgern bestehende Friedenspflicht.

294  Isensee

(Fn. 20), § 192 Rn. 218 ff. Dogmatik (Fn. 227), S. 75; Jaeckel, Schutzpflichten (Fn. 177), S. 62; K.-A. Schwarz, Die Dogmatik der Grundrechte – Schutz und Abwehr im freiheits­ sichernden Staat, in: U. Blaschke/u. a. (Hrsg.) Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, S. 29 (42 f.); Isensee (Fn. 20), § 192 Rn. 218, 222. 296  Jaeckel, Schutzpflichten (Fn. 177), S. 62; Schwarz, Dogmatik (Fn. 295), S. 43; Isensee (Fn. 20), § 192 Rn. 222. 297  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 222 f.; Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 75. 298  Siehe oben zum jeweiligen Inhalt der Achtungspflicht: „Inhalt der Achtungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 1. Alt. GG“, S. 31 und „Inhalt der Achtungspflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG“, S. 39. 299  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 49, 24 (53); 53, 30 (57); 56, 54 (73). 295  Unruh,



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten63

a) Gefahrenquelle – „von Seiten anderer“ Der Übergriff darf nicht vom Staat ausgehen. Allein nicht-staatliche Beeinträchtigungen können die grundrechtlichen Schutzpflichten auslösen300. Dies hat seinen Grund im komplementären Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten301. Bezogen auf eine Person können Achtungs- und Schutzpflichten daher im konkreten Einzelfall nie gleichzeitig, sondern immer nur alternativ angesprochen sein302. Dies führt zur Entstehung des sogenannten mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses, auf das später noch eingegangen wird. Es bleibt festzuhalten, dass der Tatbestand der grundrechtlichen Schutzpflicht per definitionem die Abwesenheit eines staatlichen Grundrechtseingriffs voraussetzt303. b) Art der Gefahr – „rechtswidriger Eingriff“ Die Rechtsprechung fordert einen rechtswidrigen Eingriff, damit sich die grundrechtlichen Schutzpflichten aktualisieren. Die Verwendung des Terminus „Eingriff“ ist insofern unglücklich, als dass dieser der abwehrrechtlichen Terminologie entstammt. Er wird im Rahmen dieser Untersuchung daher als „Übergriff“ bezeichnet. Einen solchen Übergriff kann man grundsätzlich in Anlehnung an den klassischen Eingriffsbegriff als jedes Verhalten eines Privaten, dass final und unmittelbar auf die Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzgutes bei einem bestimmten Grundrechtsträger gerichtet ist, definieren. Allein die Feststellung, dass ein solcher Übergriff vorliegt, kann aufgrund der Weite der genannten Definition nicht bereits zur Auslösung der grundrechtlichen Schutzpflichten führen. Geltungsgrund und Ziel der grundrechtlichen Schutzpflichten ist der Schutz der grundrechtlich geschützten Güter. Es kommt danach für ihr Aufleben weniger auf die Art und Weise der privaten Beeinträchtigung an, als vielmehr auf deren Wirkung. aa) Unerheblichkeit der „Rechtswidrigkeit“ des Übergriffs Teilweise wird die Rechtswidrigkeit des Übergriffs zur Auslösung der grundrechtlichen Schutzpflichten gefordert304. Dabei stellt sich zunächst die Frage, wonach sich die Rechtswidrigkeit des Übergriffs bemessen soll. Würde 300  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 75; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 247; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 90 f. 301  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 87. 302  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 87 f. 303  Jaeckel, Schutzpflichten (Fn. 177), S. 63; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 88. 304  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 49, 24 (53); 53, 30 (57); 56, 54 (73).

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

man als Maßstab das einfache Recht anlegen, so würden die grundrechtlichen Schutzpflichten nur dann ausgelöst werden, wenn der Übergriff hiernach als rechtswidrig zu beurteilen wäre. Dies ist insofern problematisch, als dass es dem Vorrang der Verfassung widerspricht, wenn einfaches Recht den Geltungsbereich verfassungsrechtlicher Anforderungen präjudiziert305. Alternativ könnte man als Maßstab die Verfassung selbst heranziehen. Dies ist allerdings unter zwei Gesichtspunkten bedenklich. Zum einen sind Private nicht Verpflichtete der Grundrechte306. Jemand, der nicht an eine Norm gebunden ist, kann diese auch nicht verletzen. Zum anderen soll erst im Rahmen der Prüfung der Schutzpflicht festgestellt werden, ob ein Tätigwerden des Staates verfassungsrechtlich geboten ist, mithin ob davor ein „verfassungswidriger“ Zustand bestand, den es zu beseitigen gilt. Das Ergebnis der Prüfung der Schutzpflicht würde demnach bereits als Tatbestandsmerkmal fungieren. Eine solche Vorgehensweise kann nicht überzeugen, weshalb die Rechtswidrigkeit des Übergriffs keine pflichtbegründende Bedeutung haben kann und damit zur Beschreibung der Voraussetzungen der Schutzpflicht unbrauchbar ist307. bb) Gefahrenbegriff und Gefahrenschwelle Neben der Verletzung von grundrechtlichen Schutzgütern kann auch bereits die bloße Gefahr der Verletzung zur Auslösung der grundrechtlichen Schutzpflichten führen, mithin die Gefahr eines Übergriffs. Wann eine solche Gefahr vorliegt und welche Intensität diese Gefahr haben muss, geht aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht hervor308. Dies kann insofern auch nicht einheitlich beantwortet werden, da die Schwelle für Exekutive und Legislative verschieden zu beurteilen ist309. Bezüglich der Exekutive gilt es sich in diesem Zusammenhang zu vergegenwärtigen, dass diese aufgrund ihrer Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG bei der Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten stets im Rahmen der Gesetze zu handeln hat. Das bedeutet auch, dass sie aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes einer Ermächtigungsgrundlage bedarf, wenn sie in grundrechtlich geschützte Bereiche Dritter eingreift. Diese Ermächtigungsgrundlage aber gibt regelmäßig zugleich den Gefahrenbegriff vor. Dies führt dazu, dass der, die grundrechtlichen Schutzpflichten auslösende, „Gefahrenbegriff“ nicht über das hinausgehen kann, was das einfache 305  Hermes,

Leben (Fn. 22), S. 226 f.; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 106. Ablehnung einer unmittelbaren Drittwirkung wird als allgemein anerkannt angesehen. 307  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 47 f., 227; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 106. 308  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 76. 309  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 77; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 109 ff. 306  Die



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten65

Recht vorgibt beziehungsweise im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung zulässt310. In Bezug auf das Handeln der Exekutive erscheint es daher sinnvoll, sich an dem für das Polizei- und Ordnungsrecht entwickelten Gefahrenbegriff zu orientieren311. Maßgebliche Faktoren sind damit die Schwere des erwarteten Schadens, die Bedeutung des betroffenen Schutzgutes sowie die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts als solche. Bei der Legislative hingegen ist zu berücksichtigen, dass diese in erster Linie der Verwaltung die erforderlichen Ermächtigungsgrundlagen für die Gefahrenabwehr zur Verfügung stellen muss, um Übergriffe unterbinden zu können. In letzter Konsequenz können die grundrechtlichen Schutzpflichten die Legislative zur Gesetzgebung zwingen, mithin eine Gesetzgebungspflicht begründen. Eine solche Verpflichtung widerspricht eigentlich der dieser Gewalt immanenten Gestaltungsfreiheit bei der Gesetzgebung, die nicht nur die inhaltliche Gestaltungsfreiheit umfasst, sondern ebenso die Frage, ob überhaupt ein Gesetz verabschiedet wird. Im deutschen Grundrechtssystem bilden Gesetzgebungspflichten die Ausnahme von der Regel. Dem muss der für die Legislative relevante Gefahrenbegriff Rechnung tragen, dergestalt, dass das pflichtenbegründende Gefahrenniveau entsprechend hoch anzusiedeln ist312. Wann genau dieses Niveau erreicht ist, lässt sich ebenfalls allein für den Einzelfall beurteilen. Das Bundesverfassungsgericht äußert sich diesbezüglich dahingehend, dass eine Verletzung der grundrechtlichen Schutzpflichten nur dann anzunehmen sein kann, wenn Schutzvorkehrungen gar nicht getroffen werden, gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind313. Es zeigt sich, dass der Tatbestand der Gefährdung auf Verfassungsebene abstrakt bleibt und erst im Rahmen seiner Umsetzung in gesetzliche Regelungen an Schärfe gewinnen kann314. cc) Verursachung Schließlich muss der private Dritte die Gefahr auch verursacht haben. Sie muss ihm zuzurechnen sein315. Dies ist zum einen dann anzunehmen, wenn die Gefahr auf einem bestimmten Verhalten des Dritten beruht, oder aber von einer Sache ausgeht, für die der Dritte die Verantwortung trägt316. Die Verur310  Dietlein,

Lehre (Fn. 11), S. 109 f. Verantwortung (Fn. 232), S. 85; Hermes, Leben (Fn. 22), S. 236; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 740; a. A.: Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 77 f.; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 107 ff.; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 235. 312  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 111 ff. 313  BVerfGE 77, 170 (215). 314  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 237. 315  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 240. 316  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 240. 311  Murswiek,

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

sachung ist im Rahmen des Schutzpflichtentatbestandes weit auszulegen, weil es erst im Rahmen der Überprüfung der Erfüllung der Schutzpflicht einer näheren Präzisierung bedarf317. All dies wird erst im Rahmen der Rechtsfolge relevant, weil es allein Sinn der Schutzpflicht ist, die Unversehrtheit der geschützten Rechtsgüter gegenüber privaten Übergriffen zu schützen318.

III. Der Staat als Verpflichteter der grundrechtlichen Schutzpflichten Adressat der grundrechtlichen Schutzpflichten ist die gesamte staatliche Gewalt. Dies ergibt sich daraus, dass auch die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte von der Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG erfasst sind319. Verpflichtet sind damit entsprechend ihrer jeweiligen Funktion neben dem Gesetzgeber auch Exekutive und Judikative320. Welche staatliche Stelle innerhalb der Staatsorganisation im konkreten Fall zur Erfüllung der Schutzpflicht berufen ist, richtet sich dann wiederum nach der verfassungs- und einfachgesetzlichen Kompetenzordnung321. Die grundrechtlichen Schutzpflichten selbst können grundsätzlich keine Kompetenzen begründen322.

IV. Rechtsfolge der Schutzpflichten Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Schutzpflicht vor, so fordert diese ein aktives Handeln der staatlichen Gewalt zugunsten des bedrohten grundrechtlichen Rechtsguts323. Die Schutzpflichten können daher als „Gefahren- und Störungsabwehrpflichten“ beschrieben werden324. Sie können zudem auch zur Risikovorsorge verpflichten325. Wie die Schutzpflichten allerdings im Einzelfall umzusetzen sind, ergibt sich nicht aus Art. 1 Abs. 3 317  Isensee

(Fn. 20), § 191 Rn. 240. (Fn. 20), § 191 Rn. 241 f. 319  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 277; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 112. 320  BVerfGE 46, 160 (164); Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 950; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 277. 321  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 200), S. 559; K.-H. Kästner, Kompetenzfragen der Erledigung grundrechtlicher Schutzaufgaben durch Gemeinden, in: NVwZ 1992, S.  9 ff.; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 278. 322  Isensee, (Fn. 20), § 191 Rn. 277 f.; hiervon wurden für Gefahrenwarnungen in der Vergangenheit Ausnahmen zugelassen. 323  BVerfGE 56, 54 (81); Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 945; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 34. 324  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 949. 325  Isensee, (Fn. 20), § 191 Rn. 219. 318  Isensee



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten

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GG. Diesem lässt sich allein entnehmen, dass Schutzpflichten bestehen und wen diese verpflichten326. Die Verfassung trifft somit keine Aussage darüber, welche Maßnahmen der Staat konkret vorzunehmen hat, um den grundrechtlichen Schutzpflichten zu genügen. Sie gibt allein das Ziel des Schutzes vor327. Den Schutzpflichten kommt also ein finaler Charakter zu328. Im Vergleich zu den Achtungspflichten sind sie aber unbestimmt, was ihre Rechtsfolge angeht. Das Bundesverfassungsgericht äußert sich diesbezüglich dahingehend, dass dem „Gesetzgeber wie der vollziehenden Gewalt […] bei der Erfüllung dieser Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu[kommt], der auch Raum läßt, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen.“329 Der jeweils angesprochenen Gewalt steht somit im Einzelfall ein Spielraum für die Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflicht zu330. 1. Umfang und Grenzen des Schutzes Das Bundesverfassungsgericht stellte im Urteil zur Fristenlösung fest: „Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend.“331 Gemeint ist damit nicht, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten den Staat zu einem absoluten Schutz der grundrechtlich geschützten Rechtsgüter verpflichten würden332. Auch für Verpflichtungen des Staates muss der allgemeine Rechtsgrundsatz des „ultra posse nemo obligatur“ gelten, wonach es keine rechtliche Verpflichtung zu einer Leistung geben kann, die unmöglich ist333. Darüber hinaus ginge eine solche absolute Schutzverpflichtung – deren Umsetzbarkeit vorausgesetzt – mit einer vollkommenen Beschränkung der Freiheit einher334. Dies würde im Ergebnis zu einer Aufhebung der durch die Grundrechte gewährten Freiheit führen und damit der Intention der Schutzpflichtenlehre, die Geltungskraft der Grundrechte zu verstärken, zuwiderlaufen. Welches Ausmaß an Schutz ist also erforderlich, damit der Staat seinen Schutzverpflichtungen nachkommt? Einigkeit besteht darüber, dass die 326  Stern,

327  Hesse,

Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 950. Verfassungsrecht (Fn. 12), Rn. 350; Klein, Untermaßverbot (Fn. 229),

S. 960. 328  Klein, Untermaßverbot (Fn. 229), S. 960. 329  BVerfGE 77, 170 (214 f.). 330  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 950. 331  BVerfGE 39, 1 (42). 332  BVerfGE 49, 89 (143); 56, 54 (80); Hermes, Leben (Fn. 22) S. 49; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 952 f.; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 105. 333  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 105; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 274. 334  BVerfGE 115, 320 (358); Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 101.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

Schutzverpflichtung nicht besteht, wenn der Bürger sich in eigener Verantwortung innerhalb der gesetzlichen Vorgaben selbst verteidigen kann335. Bis heute konnte aber kein Konsens über den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab bezüglich der staatlichen Schutzpflichtenerfüllung erzielt werden, insbesondere hinsichtlich der schutzrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung ist vieles unklar336. Meist wird diesbezüglich auf das sogenannte „Untermaßverbot“ zurückgegriffen337. Die Begriffswahl orientiert sich ersichtlich am „Übermaßverbot“, welches oftmals als Synonym für Verhältnismäßigkeit im abwehrrechtlichen Kontext gebraucht wird338. Das Untermaßverbot beschränkt sich darauf, das Ergebnis der Schutzmaßnahme zu überprüfen. Es gibt mithin keine konkrete Handlungsanweisung. Die jeweilige Ausgestaltung des Schutzes ist, aufgrund des weiten Spielraums der Gewalten bei der Schutzpflichtenerfüllung, einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle weitestgehend entzogen339. Ferner kann es allein zur Bestimmung des wenigstens geforderten Schutzes dienen, also eines Mindeststandards340. Dies erlaubt es dem Bundesverfassungsgericht zu beurteilen, ob eine Maßnahme verfassungswidrig ist. Bezüglich des verfassungsrechtlich geforderten Mindeststandards besteht indes ebenso Unklarheit341. Das Bundesverfassungsgericht sah eine Verletzung des Untermaßverbots zunächst nur dann als gegeben an, „wenn die staatlichen Organe gänzlich untätig geblieben sind oder wenn die bisher getroffenen Maßnahmen evident unzureichend sind.“342 Dieser äußerst begrenzte Prüfungsmaßstab beließ Gesetzgebung und Verwaltung bei der Erfüllung der Schutzpflichten einen sehr weiten Spielraum. Dieser ließ dem Anschein nach alle Maßnahmen genügen, die nur irgendwie zum Schutz des im Einzelfall betroffenen Rechtsgutes beitragen. Das Bundesverfassungsgericht stellte daher in der Folge klar, dass die Ausführungen nicht dahingehend zu verstehen sind, „als genügten der Erfüllung der Schutzpflicht 335  Isensee

(Fn. 20), § 191 Rn. 271, 273. Schutzpflicht (Fn. 21), S. 321 ff.; Cremer, Verhältnismäßigkeitsprüfung (Fn. 182), S. 102 ff. 337  BVerfGE 88, 203 (254); Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 383 ff.; Hermes, Leben (Fn. 22), S. 253 ff.; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 116; Calliess (Fn. 231), § 44 Rn. 29 ff.; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 303; gegen das Untermaßverbot als eigenständiger Prüfungsmaßstab K.-E. Hain, Der Gesetzgeber in der Klemme zwischen Übermaß- und Untermaßverbot, in: DVBl. 1993, S. 982 ff. 338  BVerfGE 34, 261 (266); BVerwGE 30, 313 (316); E. Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: AöR 98 (1973), S. 569 (570). 339  Klein, Untermaßverbot (Fn. 229), S. 961. 340  C. Brüning, Voraussetzungen und Inhalt eines grundrechtlichen Schutzanspruchs, in: JuS 2000, S. 955 (957). 341  Kloepfer, Leben (Fn. 48), S. 89; S. Muckel, Kein grundrechtlicher Anspruch auf Verschärfung des Waffengesetzes, in: JA 2013, S. 554 (555). 342  BVerfGE 56, 54 (81); 77, 170 (215); 79, 174 (201 f.). 336  Calliess,



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten69

des Staates gegenüber menschlichem Leben schon Maßnahmen, die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind“343. Notwendig sei vielmehr ein angemessener Schutz unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter, welcher wirksam ist344. Für diesen sind stets die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens, die technischen Möglichkeiten und die praktische Vernunft zu berücksichtigen345. Bei Rechtsgütern von höchster Bedeutung, wie den für diese Untersuchung relevanten Schutzgütern Würde und Leben, verschärft sich also der gerichtliche Überprüfungsmaßstab, da sich auch der Spielraum des Staates zur Erfüllung der Schutzpflichten verengt. In diese Fällen ist daher eine umfassende Überprüfung normativer und tatsächlicher Art geboten346. Was unter einem angemessenen und wirksamen Schutz zu verstehen ist, wird indes nicht näher erläutert. Der verfassungsrechtlich gebotene Mindestschutz soll dabei aber maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls, „im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich – zumal über künftige Entwicklungen wie die Auswirkungen einer Norm – ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter“347 abhängig sein. Darüber hinaus sind auch Art, Nähe und das Ausmaß der Gefahr maßgeblich ebenso, wie die Möglichkeit legitimer und zumutbarer Abhilfe durch den Betroffenen selbst348. Es zeigt sich, dass der Umfang des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes stark einzelfallabhängig ist349. Hinsichtlich der hier betroffenen Rechtsgüter lässt sich allerdings für diese Untersuchung festhalten, dass es sich bei der Würde und dem Leben um den Höchstwert beziehungsweise einen Höchstwert der Verfassung handelt und die jeweilige Schutzpflicht daher besonders ernst genommen werden muss350. Aufgrund der überragenden Bedeutung dieser beiden Schutzgüter erübrigt sich eine gesetzliche Harmonisierung mit anderen, ihnen möglicherweise zuwiderlaufenden, grundrechtlich geschützten Handlungen weitestgehend351. Die Schutzpflicht verlangt jedenfalls dann einen Eingriff des Staates, wenn andernfalls gegen das Untermaßverbot verstoßen werden würde. Dieses 343  BVerfGE

88, 203 (262 f.). 88, 203 (254). 345  BVerfGE 49, 89 (143); 56, 54 (80); Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 101. 346  Kloepfer, Leben (Fn. 48), S. 90; Klein, Untermaßverbot (Fn. 229), S. 961. 347  BVerfGE 88, 203 (262). 348  Brüning, Voraussetzungen (Fn. 340), S. 957; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 219. 349  BVerfGE 39, 1 (42); C.-W. Canaris, Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip in der richterlichen Anwendung und Fortbildung des Privatrechts, in: JuS 1989, S. 161 (163); Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 270. 350  BVerfGE 46, 160 (164); 49, 24 (53). 351  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 76. 344  BVerfGE

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

Maß an Schutz darf nicht unterschritten werden, da ansonsten die grundrechtlichen Schutzpflichten als solche bedeutungslos würden352. 2. Art und Weise des Schutzes Die Art und Weise des Schutzes, dass heißt durch welches Verhalten die Schutzpflicht erfüllt werden kann und zu erfüllen ist, lässt sich schwerer bestimmen als bei der Achtungspflicht. Dies liegt zum einen darin begründet, dass sich bei den Achtungspflichten das vom Staat geforderte Verhalten in einer einzigen konkretisierbaren Handlungsform, dem Unterlassen eines verfassungswidrigen Grundrechtseingriffs, erschöpft353. Demgegenüber fordern die grundrechtlichen Schutzpflichten ein aktives Tätigwerden, dass potentiell durch alle Formen staatlichen Handelns verwirklicht werden kann354. In Betracht kommen „Prävention wie Repression, Gefahrenabwehr wie Strafe, Eingriff wie Fürsorge.“355 Sie werden von der Verfassung folglich nicht vollständig vorbestimmt356. Vielmehr kommt der staatlichen Gewalt ein weiter Gestaltungsspielraum bei der Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten zu357. Dieser Spielraum ergibt sich aus der Struktur positiver Rechte358. Von gesteigerter Bedeutung sind im Zusammenhang mit Schutzpflichten der jeweilige Prognose- und Abwägungsspielraum359. „Nur unter ganz besonderen Umständen kann sich diese Gestaltungsfreiheit in der Weise verengen, daß allein durch eine bestimmte Maßnahme der Schutzpflicht Genüge getan werden kann.“360 Wie dieser Gestaltungspielraum hinsichtlich der Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten im Einzelfall verwirklicht wird, hängt maßgeblich davon ab, welche Schutzgüter betroffen sind, welches Ausmaß die Gefahr hat, denen diese ausgesetzt sind und welche der Staatsgewalten zum Tätigwerden berufen ist361. Zwar richten sich die grundrechtlichen Schutzpflichten 352  S. Lenz,

Vorbehaltlose Freiheitsrechte, 2006, S. 293. (Fn. 213), § 5 Rn. 51 S. 150; Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 79; Calliess, Schutzpflicht (Fn. 21), S. 328. 354  BVerfGE 56, 54 (81); Isensee, Grundrecht (Fn. 227), S. 39; Alexy, Theorie (Fn. 46), S. 420. 355  Isensee, Grundrecht (Fn. 227), S. 39. 356  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 283. 357  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 950. 358  R. Alexy bezeichnet diesen als „strukturellen Spielraum“, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, in: Der Staat 29 (1999), S. 49 (62). 359  Alexy, Grundrechte (Fn. 358), S. 62. 360  BVerfGE 77, 170 (215). 361  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 950 f. 353  Hesse



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten

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an alle Staatsgewalten, können diese aber nur im Rahmen ihrer spezifischen verfassungsrechtlich vorgegebenen Funktion und Befugnisse verpflichten362. Der Umfang des gebotenen Schutzes unterliegt damit sowohl in der „Tiefe“ als auch in der „Breite“ gewissen Einschränkungen. Es handelt sich insofern um eine unbestimmte Handlungspflicht363. a) Legislative Die abstrakten grundrechtlichen Schutzpflichten sind grundsätzlich nicht geeignet, der staatlichen Gewalt konkrete Handlungsanweisungen zu geben und bedürfen daher der Konkretisierung durch den Gesetzgeber364. Ferner geht der Schutz eines Grundrechtsträgers oftmals notwendig mit einem Eingriff in die Grundrechte eines anderen einher. Derartige Eingriffe sind grundsätzlich nur dann zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruhen365. Die grundrechtlichen Schutzpflichten richten sich daher in erster Linie an den parlamentarischen Gesetzgeber, der die Rechtsordnung entsprechend auszugestalten hat366. Dieser hat darauf hinzuwirken, die Gefahr der Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter nach Möglichkeit zu verringern und ihr vorzubeugen367. Hierfür ist zunächst die Schaffung entsprechender Verfahrensnormen erforderlich368. Ebenso muss die Rechtsordnung in materieller Hinsicht Sachnormen bereitstellen, welche den Schutz der Rechtsgüter einfachgesetzlich normieren369. Für das Zivilrecht bedeutet dies, dass es Unterlassungs-, Beseitigungs- und Ersatzansprüche beinhalten muss370. Das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht muss, zur Gewährleistung des Erhalts der Schutzgüter, Sanktionen vorsehen, um hierdurch den Willen des Staates zum Festhalten an der verletzten Norm zum Ausdruck zu 362  BVerfGE 39, 1 (42); Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 951; Jaeckel, Schutzpflichten (Fn. 177), S. 91; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 114. 363  Cremer, Verhältnismäßigkeitsprüfung (Fn. 182), S. 104. 364  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 24. 365  Jarass (Fn. 3), Art. 20 Rn. 41 ff. 366  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 395; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 951; Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 20; Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 68), S. 199; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 128. 367  BVerfGE 49, 89 (142); Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 395; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 951; Isensee, Grundrecht (Fn. 227), S. 44; ders. (Fn. 20), § 191 Rn. 268; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 70; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 113. 368  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 267. 369  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 128; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 267. 370  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 128; Calliess, Schutzpflicht (Fn. 21), S. 326; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 267.

72

1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

bringen371. Das Verwaltungsrecht muss schließlich aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes über Ermächtigungsgrundlagen verfügen, welche der Exekutive eine effektive Durchsetzung des Rechtsgüterschutzes im Einzelfall ermöglichen, insofern dazu ein Eingriff in die Grundrechte Dritter erforderlich ist372. Die vorgenannte, von den grundrechtlichen Schutzpflichten geforderte, Ausgestaltung der Rechtsordnung, ist in der Regel bereits durch die bestehenden Normen erfolgt, wird aber insbesondere bei neuartigen Gefahren relevant373. Den Gesetzgeber trifft zudem eine Nachbesserungspflicht, falls der einfachgesetzlich gewährte Schutz hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Niveau zurückbleibt374. Dies kann beispielsweise bei neuen Entwicklungen der Fall sein. Eine solche Pflicht zur Gesetzgebung kommt aufgrund des weiten Gestaltungsspielraums, welcher dem Staat bei der Umsetzung der Schutzpflichten zukommt, allerdings nur in den seltensten Fällen in Betracht. b) Exekutive Allein die Schaffung abstrakter Gesetze kann zur Gewährleistung, des von den Schutzpflichten geforderten Schutzniveaus, nicht ausreichen375. Die grundrechtlichen Schutzpflichten gebieten der Exekutive daher, den durch die Gesetze vermittelten Schutz konkret hoheitlich durchzusetzen, um diesem zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen376. Die grundrechtlichen Schutzpflichten beinhalten folglich auch einen Vollzugsauftrag377. Im Gegensatz zur Gesetzgebung kann die Exekutive aufgrund des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes allerdings nicht allein unter Berufung auf eine 371  BVerfGE 39, 1  ff.; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 128; Calliess, Schutzpflicht (Fn. 21), S. 326; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 267. 372  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 208; Wahl/Masing, Schutz (Fn. 200), S. 559; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 128 f.; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 267, 279; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 114. 373  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 285. 374  BVerfGE 25, 1 (12 f.); 49, 89 (130 ff.); 50, 290 (335 f.); 55, 274 (317); 56, 54 (78 ff.); 59, 119 (127); 65, 1 (56); 73, 118 (180); P. Badura, Die verfassungsrechtliche Pflicht des gesetzgebenden Parlaments zur „Nachbesserung“ von Gesetzen, in: G. Müller (Hrsg.), Festschrift für Kurt Eichenberger, 1982, S. 481 ff.; R. Stettner, Die Verpflichtung des Gesetzgebers zu erneutem Tätigwerden bei fehlerhafter Prognose, in: DVBl. 1982, S. 1123 (1123 ff.); Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 24 f. 375  Isensee (Fn. 20) § 191 Rn. 306; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 113. 376  Isensee, Grundrecht (Fn. 227), S. 51; ders., (Fn. 20), § 191 Rn. 267; Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 20; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 71; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 113. 377  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 306 f.



C. Die grundrechtlichen Schutzpflichten

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bestehende grundrechtliche Schutzpflicht tätig werden378. Für die ausführende Gewalt sind die grundrechtlichen Schutzpflichten daher vielmehr „gesetzesmediatisierte“ Schutzpflichten379. Je nach Einzelfall fordern die grundrechtlichen Schutzpflichten die Verwaltung zur Normsetzung, zum Erlass von Verwaltungsakten oder zu schlichtem Verwaltungshandeln auf380. Dabei dienen die grundrechtlichen Schutzpflichten der Verwaltung als Leitlinien bei der Norminterpretation und der Ermessensausübung381. Sie könne sich im Einzelfall derart auf das Ermessen auswirken, dass es zu einer Handlungsverpflichtung kommt („Ermessensreduzierung auf Null“)382. Im Bereich der sogenannten gesetzesfreien Verwaltung hingegen, können sich aus den grundrechtlichen Schutzpflichten, genau wie bei der Gesetzgebung, originäre Handlungsanweisungen ergeben383. c) Judikative Für die Rechtsprechung fungieren die grundrechtlichen Schutzpflichten vorrangig als Kontrollnormen zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen, welche die anderen beiden Gewalten in Erfüllung ihrer Schutzverpflichtung vorgenommen haben384. Dabei obliegt es allein dem Bundesverfassungsgericht, die verfassungsgemäße Erfüllung der Schutzpflichten durch den Gesetzgeber zu überprüfen. Aufgrund des weiten Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber zugebilligt wird, ist dies allerdings nur begrenzt möglich385. Geprüft wird daher, ob der Gesetzgeber seine eventuell bestehende Pflicht zur Gesetzgebung oder zur Nachbesserung bestehender Gesetze, verletzt hat386. Die Verwaltungsgerichte wiederum überprüfen Maßnahmen der Exekutive. Die grundrechtlichen Schutzpflichten werden hierbei vor allem bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und der Überprüfung der behördlichen Ermessensentscheidung relevant387. Maßstab der Überprüfung bleibt freilich stets das einfache Recht. Aufgrund des Vorrangs der Verfassung muss aber 378  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 200), S. 559; Brüning, Voraussetzungen (Fn. 340), S. 959. 379  Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 113. 380  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 72; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 113. 381  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 952; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 71 f.; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 113. 382  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 952; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 219, 307. 383  Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 129; Tian, Grundrechtsfunktionen (Fn. 282), S. 113. 384  Robbers, Sicherheit (Fn. 126), S. 125; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 951; Dietlein, Lehre (Fn. 11), S. 129. 385  BVerfGE 56, 54 (81). 386  BVerfGE 4, 7 (18); 27, 253 (283); 33, 303 (333); 56, 54 (81). 387  Hermes, Leben (Fn. 22), S. 39 f.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

auch das einfache Recht im Zweifelsfall verfassungskonform ausgelegt werden, was nur unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Schutzpflichten erfolgen kann388. In seltenen Fällen können die grundrechtlichen Schutzpflichten aber auch der Rechtsprechung Handlungspflichten auferlegen389.

V. Fazit zu den grundrechtlichen Schutzpflichten Es zeigt sich, dass die dogmatischen Strukturen der grundrechtlichen Schutzpflichten bisher im Vergleich zu den Achtungspflichten nur rudimentär ausgeprägt sind. Ihre Existenz wird nicht bestritten. Demgegenüber sind ihre Herleitung, ihre Voraussetzungen sowie ihr Inhalt und Umfang bis heute nicht abschließend geklärt. Dessen ist sich stets gewahr zu sein beim Umgang mit dieser Rechtsfigur, die erst unter dem Grundgesetz von Rechtsprechung und Staatsrechtslehre entwickelt wurde und keine explizite Vorgabe der Verfassung darstellt390. Mit der Schutzpflichtenlehre deutet sich eine Entwicklung hin zu einem Staat an, der nicht mehr nur der potentielle Gefährder privater Freiheiten ist, sondern im Gegenteil ihr Verfechter. Dabei sei darauf hingewiesen, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten nicht die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte durch die Hintertür einführen, da Verpflichteter der Staat bleibt und ihnen damit keine direkte Auswirkung auf das Verhältnis der Bürger untereinander zukommt391. Nichtsdestotrotz haben sie faktisch dennoch Einfluss auf dieses Verhältnis, da der Staat zum Eingriff in dieses horizontale Bürger-Bürger-Verhältnis verpflichtet wird.

D. Das mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis Nachdem die Strukturen und Inhalte der im Rahmen dieser Untersuchung relevanten Pflichten dargestellt wurden, kann nunmehr die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Pflichtenarten zueinander thematisiert werden. Relevant kann die Frage, wie die beiden Pflichten zueinander stehen, indes nur dann werden, wenn eine Situation gegeben ist, in der beide Pflichten zugleich Wirkung entfalten. Diese Konstellation wird als Dreiecksverhältnis oder auch mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis bezeichnet392. Sie bildet den situati388  Stern,

Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 951. Lehre (Fn. 11), S. 129; so z. B. wenn die Sicherheit im Gerichtssaal durch den Richter gewährleistet werden muss. 390  Ausgenommen die ausdrücklich normierten Schutzpflichten; Böckenförde, Grundsatznormen (Fn. 224), S. 2 f. 391  Merten, Schutzpflichten (Fn. 181), S. 236. 392  Merten, Schutzpflichten (Fn. 181), S. 237; Calliess, Schutzpflicht (Fn. 21), S. 326. 389  Dietlein,



D. Das mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis

75

ven Ausgangspunkt der Untersuchung. Der Begriff des mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses steht dabei in keiner Beziehung zu dem Begriff des Verfassungsrechtsverhältnisses welchen das Bundesverfassungsgericht zur Abgrenzung des Organstreitverfahrens vom Verwaltungsrechtsweg verwendet393. Er soll vielmehr den Unterschied zu dem aus der abwehrrechtlichen Grundrechtsdogmatik bekannten bipolaren Verhältnis des Bürgers zum Staat verdeutlichen, wo der Staat allein als Gegenspieler des Bürgers in Erscheinung tritt394.

I. Entstehung mehrpoliger Verfassungsrechtsverhältnisse Ursache für die Existenz mehrpoliger Verfassungsrechtsverhältnisse sind die verschiedenen Grundrechtsdimensionen und deren unterschiedlichen Wirkungen in Bezug auf das jeweilige Schutzgut395. Achtungs- und Schutzpflicht wirken wie oben dargestellt jeweils beide im Verhältnis des Staates zum Bürger. In einer Person können, bezogen auf eine konkrete Situation, aber nie zugleich Achtungs- und Schutzpflicht wirken. Entweder werden die grundrechtlichen Schutzgüter von staatlicher oder von nicht-staatlicher Seite beeinträchtigt. Daraus folgt, dass neben dem Staat wenigstens zwei Grundrechtsträger an dem mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis beteiligt sein müssen. Das „klassische“ mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis ist das Dreiecksverhältnis. Dieses wird dadurch begründet, dass ein Grundrechtsträger („Übergriffiger“) ein grundrechtliches Schutzgut eines anderen Grundrechtsträgers („Betroffener“) verletzt oder zu verletzen droht. Durch dieses grundrechtsgefährdende Verhalten wird die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte in Gestalt der Schutzpflichten aktiviert und der dritte Akteur – der Staat – tritt als Garant für die grundrechtlichen Schutzgüter in Erscheinung396. Der Staat hat aufgrund der grundrechtlichen Schutzpflichten die Grundrechtsausübung vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu bewahren. Zur Erfüllung seiner Schutzverpflichtung wird der Staat regelmäßig Maßnahmen gegenüber dem Übergriffigen ergreifen müssen und dadurch in dessen Grundrechte eingreifen397. Nur dann liegt die hier zu untersuchende Pflich393  Siehe dazu D. Umbach, in: ders./T. Clemens/F.-W. Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2. Aufl. 2005, §§ 63, 64 Rn. 132. 394  Calliess, Schutzpflicht (Fn. 21), S. 326. 395  Calliess, Schutzpflicht (Fn. 21), S. 326. 396  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 946, Streuer, Verpflichtungen (Fn. 26), S. 49. 397  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 382; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 316.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

tenkollision vor. Durch den Schutzeingriff wird schließlich die subjektivrechtliche Funktion der Grundrechte in Form der Achtungspflichten aktiviert. Es kommt somit zu einer Kollision von Grundrechtsfunktionen398. Diese Spannungslage ist kennzeichnend für das mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis und diesem immanent.

II. Die Rolle des Staates im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis Der Staat nimmt aufgrund dieser unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Begrenzungen und Ermächtigungen eine ambivalenten Rolle im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis ein. In Hinblick auf die Achtungspflicht agiert der Staat in seiner Paraderolle als Gegenüber des Bürgers und Verursacher der Gefahr für die Gewährleistungen des Grundgesetzes399. Demgegenüber tritt der Staat bei Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten aus Sicht des Betroffenen als Beschützer der Grundrechte auf. Er nimmt also einen Rollenwechsel vom potentiellen Verletzer der Grundrechte zu deren Beschützer vor400. Dies ist erforderlich, weil das Opfer sich aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols und der damit korrespondierenden Friedenspflicht der Bürger, grundsätzlich nicht selbst zur Wehr setzen kann beziehungsweise darf401. Die Schutzpflicht ist Kompensation für die Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols402. Will der Staat diese Rolle überzeugend spielen, so obliegt ihm die schwierige Aufgabe die dem mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis immanente Spannungslage zwischen den gegenläufigen Grundrechtspositionen von Über­ griffigem und Betroffenem in Einklang zu bringen403. Gegenüber dem Betroffenen ist er als Garant der grundrechtlichen Schutzgüter verpflichtet und muss sich zum anderen als potentieller Verletzer der Grundrechte des Übergriffigen zugleich in Zurückhaltung üben404. Das Verhältnis zwischen Übergriffigem und Opfer ist für die Auflösung des mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses nicht von Bedeutung, da 398  Vosgerau,

Kollision (Fn. 292), S. 376. (Fn. 20), § 191 Rn. 5. 400  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 946. 401  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 114), S. 946; Vosgerau, Kollision (Fn. 292), S. 348. 402  Bildlich gesprochen wird ein Weniger an Freiheit (Verzicht auf Gewalt) gegen ein Mehr an Sicherheit getauscht; Isensee, Grundrecht (Fn. 227), S. 23 f.; Robbers, Sicherheit (Fn. 126), S. 127. 403  BVerfGE 53, 30 (58); Wahl/Masing, Schutz (Fn. 200), S. 556; Calliess, Schutzpflicht (Fn. 21), S. 322; Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 220; ders. (Fn. 20), § 191 Rn. 220. 404  Calliess, Schutzpflicht (Fn. 21), S. 326; Isensee (Fn. 52), § 87 Rn. 220. 399  Isensee



D. Das mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis

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sich sowohl die Achtungs- als auch die Schutzpflicht allein an den Staat als Adressaten richten. Mangels unmittelbarer Drittwirkung wird das Verhältnis zwischen Betroffenem und Übergriffigem durch die Grundrechte nur mittelbar, das heißt über die Auslegung des einfachen Rechts bestimmt405.

III. Auflösung mehrpoliger Verfassungsrechtsverhältnisse Die Auflösung mehrpoliger Verfassungsrechtsverhältnisse stellt aufgrund der Mehrzahl der Beteiligten und deren gegenläufigen Interessen eine äußerst komplexe Aufgabe dar. Dies insbesondere deshalb, weil der Schutz des einen regelmäßig mit der Belastung des anderen einhergeht406. Je stärker der Staat die Freiheit des Übergriffigen beschneidet, desto intensiver ist der Schutz des Betroffenen407. Die staatliche Gewalt hat daher bei Erfüllung der Schutzpflicht stets auch die Achtungspflicht zu beachten und vice versa. Eine isolierte Betrachtung nur einer Pflicht ist vor diesem Hintergrund nicht möglich. Die Freiheitssphären der Beteiligten müssen in ein Verhältnis der Kompatibilität gebracht werden, um die kollidierenden Belange jeweils möglichst weitgehend zur Geltung zu bringen408. Der staatlichen Gewalt werden dabei durch das Verfassungsrecht verschiedene Grenzen gesetzt, die bei der Erfüllung der beiden Pflichtenarten und damit der Auflösung eines mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses zu beachten sind. Die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten werden hierbei auf der einen Seite durch das Untermaßverbot und auf der anderen Seite durch das Übermaßverbot markiert409. Die Erfüllung der Schutzpflicht wird also begrenzt durch die Grundrechte des Übergriffigen in ihrer klassischen abwehrrechtlichen Funktion410. Der Staat kann aber hinter der durch das Übermaßverbot vorgegebenen maximal verfassungsrechtlich zulässigen Eingriffsintensität zurückbleiben und ebenso über das durch das Untermaßverbot vorgegebene 405  Calliess, 406  Hesse,

Schutzpflicht (Fn. 21), S. 326. Verfassungsrecht (Fn. 12), Rn. 350; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 352),

S. 288. 407  Aus diesem Grund versagt ein reines Optimierungsmodell bei der Kollision von Achtungs- und Schutzpflicht, weil alle Entscheidungen gleichermaßen optimal sind, vgl. dazu J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 90 ff.; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 352), S. 288. 408  Unruh, Dogmatik (Fn. 227), S. 23; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 352), S. 287; Calliess, Schutzpflicht (Fn. 21), S. 326. 409  Anders: Hain, Klemme (Fn. 337), S. 983. 410  H.-C. Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat – nach 40 Jahren Grundgesetz, in: VVDStRL 48 (1990), S. 28; Geddert-Steinacher, Menschenwürde (Fn. 48), S. 101; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 220.

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1. Kap.: Grundechtsdogmatische Einordnung des Themas

mindestens zu gewährleistende Schutzniveau hinausgehen411. Dies hat zur Folge, dass die „Minimalgarantie der Schutzpflicht und die Maximalgarantie der Eingriffsabwehr“ nicht kongruent sind412. Das Bundesverfassungsgericht äußerte sich hierzu folgendermaßen: „Wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt, ist in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden. Er befindet darüber, welche Schutzmaßnahmen er für zweckdienlich und geboten hält.“413 Dadurch entsteht bildlich gesprochen ein Korridor, innerhalb dessen dem Staat je nach Einzelfall ein mehr oder minder großer Entscheidungsspielraum zukommt. Es obliegt dem Staat innerhalb dieses Korridors einen Ausweg zu finden414. Dessen Ausmaß richtet sich danach, wie nah der verfassungsrechtlich gebotene Schutz und die maximal verfassungsrechtlich zulässige Beschränkung der Achtungspflichten beisammen oder entfernt voneinander liegen415. In bestimmten Fällen können die Grenzen auch Zusammenfallen, sodass allein eine Möglichkeit zur Auflösung des mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses verbleibt. Eine weitere Beschränkung der Auflösung von mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen erfährt die staatliche Gewalt dadurch, dass auch ein in Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht vorgenommener Eingriff in die Grundrechte des Übergriffigen grundsätzlich den rechtsstaatlichen Kautelen, wie beispielsweise den Kompetenzvorschriften oder dem Vorbehalt des Gesetzes, genügen muss416. „Verfassungslegitimität ersetzt nicht Legalität.“417 Allein die Tatsache, dass der Staat in Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten handelt, entbindet diesen also nicht von den grundlegenden verfassungsrechtlichen Anforderungen418. Erschwert wird dem Staat der Umgang mit mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen schließlich dadurch, dass die Verfassung keine Aussage über die Behandlung mehrpoliger Verfassungsrechtsverhältnisse und das Verhältnis der von staatlicher Seite zu erfüllenden Verpflichtungen trifft419. 411  Isensee

(Fn. 20), § 191 Rn. 304. (Fn. 20), § 191 Rn. 304. 413  BVerfGE 39, 1 (44); 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.). 414  Merten, Schutzpflichten (Fn. 181), S. 241. 415  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 211), S. 383; a. A. der Staat darf nicht über das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß an Schutz hinausgehen, weil hierfür – insoweit die Schutzpflicht einen Eingriff verlangt – keine Rechtfertigung bestünde, da in dem Bereich, der über das Untermaßverbot hinausgeht schon keine Pflicht zum Handeln bestehe, Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 352), S. 293. 416  Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 316 ff. 417  Vosgerau, Kollision (Fn. 292), S. 369. 418  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 200), S. 557 ff.; Isensee (Fn. 20), § 191 Rn. 316 f. 419  Vosgerau, Kollision (Fn. 292), S. 376. 412  Isensee



D. Das mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis

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Dies hat seinen Grund darin, dass den Vätern des Grundgesetzes die Problematik der Kollision von Grundrechtsfunktionen nicht bewusst war, ja gar nicht bewusst sein konnte, da die Figur der Schutzpflichten erst unter dem Grundgesetz entwickelt wurde420. Es ist daher Kernanliegen dieser Untersuchung, eben dieses Verhältnis näher zu beleuchten und grundrechtsdogmatisch tragbare Wege zur Auflösung dieser Konstellationen zu entwickeln.

420  Vosgerau,

Kollision (Fn. 292), S. 376, 386.

2. Kapitel

Primat der Achtungspflicht? Abwehr und Schutz sind grundverschiedene, selbstständige Grundrechtsfunktionen. Dies spiegelt sich auch in der Dogmatik ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Ausformung, den Achtungs- respektive Schutzpflichten, wider. Das bedeutet aber nicht, dass sie vollkommen unverbunden nebeneinander stehen. In den für diese Untersuchung relevanten Dreieckskonstellationen treten beide Grundrechtsfunktionen in Erscheinung. Aufgrund ihrer entgegengesetzten Zielrichtung werden sie dabei gegeneinander in Stellung gebracht, mit der Folge, dass eine Pflicht oftmals nur auf Kosten der anderen erfüllt werden kann. Die Auflösung dieser Konfliktlagen bereitet aufgrund ihrer Komplexität große Schwierigkeiten. Dies gilt in besonderem Maße für die hier thematisierten Ausnahmesituationen, die oftmals allein durch äußerst grundrechtsintensive Maßnahmen aufgelöst werden können. Entscheidend für die Behandlung der angesprochenen Extremsituationen durch die staatliche Gewalt ist daher das Verhältnis der beiden konfligierenden Pflichtenarten zueinander. Das Bild von der Balance zwischen Sicherheit und Freiheit1 legt eine abstrakte Gleichwertigkeit der Pflichten nahe2. Fraglich ist daher, ob diese als gleichrangig zu begreifen sind oder möglicherweise ein Vorrang der einen vor der anderen Pflichtenart besteht? Vieles scheint dabei für eine Präponderanz der Abwehrfunktion und damit der Achtungspflichten zu sprechen. Der Staat trägt schließlich die Rechtfertigungslast für Grundrechtseingriffe3. Außerdem legt die sprachliche Fassung des Grundrechtsabschnitts einen abwehrrechtlichen Duktus nahe. Hinzu kommt, dass zur Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten – mit Ausnahme der im Verfassungstext bereits normierten – der im Vergleich mühevolle Weg über die Herleitung beschritten werden muss. Schließlich soll dem Grundgesetz ein liberales Grundrechtsverständnis zugrunde liegen, welches 1  BVerfGE

115, 320 (358). Grundrechte als Instrumente der Risikoallokation, in: J. Scharrer/u. a. (Hrsg.), Risiko im Recht – Recht im Risiko, 2011, S. 111 (115). 3  H. Bethge, Grundrechtswahrnehmung, Grundrechtsverzicht, Grundrechtsverwirkung in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 203 Rn. 199. 2  M. Hong,



2. Kap.: Primat der Achtungspflicht81

dem Schutz vor dem Staat eine größere Bedeutung beimisst als dem Schutz durch den Staat4. Dies sind nur einige Anhaltspunkte, welche eine grundsätzliche Höherwertigkeit der Achtungspflichten im Verhältnis zu den Schutzpflichten nahe legen. Damit ist die entscheidende Frage aufgeworfen: Besteht ein Primat der Achtungspflicht? Hierunter ist eine den Achtungspflichten zukommende immanente Vorrangstellung im Verhältnis zu den grundrechtlichen Schutzpflichten zu verstehen, sobald diese im Rahmen von mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen in Konflikt geraten. Nicht gemeint ist hingegen die augenfällig abwehrrechtliche Prägung des Grundgesetzes und die vorherrschende Rolle, welche die Abwehrrechte in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts einnehmen. Diese steht außer Frage. Hier geht es allein um die Wirkkraft der Pflichten in den benannten Dreieckskonstellationen und die Frage, ob diese bei abstrakter Betrachtung identisch ist, oder ob den Achtungspflichten eine höhere Wirkkraft zukommt, so dass zwischen den Pflichten ein Rangverhältnis besteht. Zu letzterer Auffassung scheint das Bundesverfassungsgericht zu tendieren, wenn es in ständiger Rechtsprechung betont, dass „die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt [sind], die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern“5. Aus der Betonung der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte lässt sich folgern, dass den grundrechtlichen Schutzpflichten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wohl lediglich ein untergeordneter Rang zukommen soll. „Die Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft, hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung.“6 Auch diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts legen ein Rangverhältnis der beiden Pflichten nahe. Dieses Rangverhältnis kann theoretisch zwei Ausformungen haben. Zum einen könnten Achtungs- und Schutzpflichten normenhierarchisch auf verschiedenen Stufen stehen. Die Achtungspflicht als höher stehende Norm würde die Schutzpflicht im Konfliktfall ausnahmslos verdrängen. Ein solches Verständnis würde die Schutzpflichten allerdings an den Rand der Bedeutungslosigkeit drängen. Sobald ein Eingriff in Grundrechte Dritter zur Erfüllung der jeweils einschlägigen grundrechtlichen Schutzpflicht geboten wäre, müssten sie zurücktreten. Dies entspricht nicht ihrer Bedeutung als eigenständiger Grundrechtsfunktion. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt ein solches Verständnis nicht im Ansatz erken4  M. Gerbig,

Grundrecht auf staatlichen Schutz, 2014, S. 82. 7, 198 (204); ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vgl. BVerfGE 21, 362 (369); 50, 290 (336, 337); 61, 82 (101); 68, 193 (205). 6  BVerfGE 7, 198 (204); 50, 290 (337). 5  BVerfGE

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

nen7. Im Hinblick auf das angesprochene Stufenverhältnis kommt daher allein dessen zweite mögliche Ausformung in Frage. Diese Ausgestaltung versteht das Primat der Achtungspflicht nicht als absoluten Vorrang der Achtungspflicht, sondern dahingehend, dass der Achtungspflicht im Vergleich zur Schutzpflicht eine (nur) prinzipiell höhere Wirkkraft zukommt. Die Schutzpflicht könnte sich im Einzelfall, nach Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten, daher ebenso durchsetzen. Die Pflichten träten sich aber im Ausgang nicht als Äquivalent in Bezug auf ihre Wirkkraft gegenüber. Der Achtungspflicht käme aus sich heraus ein gewisses Übergewicht zu. Plastisch lässt sich dies mittels einer Reminiszenz an die Balkenwaage der Justitia darstellen. Eine Waagschale soll dabei die Achtungspflicht symbolisieren, die andere die grundrechtliche Schutzpflicht. Bevor diese jeweils befüllt werden, mit je nach Einzelfall mehr oder minder schweren Gewichten, sollten sich die Waagschalen im Gleichgewicht befinden. Das Primat der Achtungspflicht hat man sich nun so vorzustellen, als befände sich in der die Achtungspflichten repräsentierenden Waagschale stets ein winziges Sandkorn, dass durch sein – wenn auch geringes – Gewicht ein Ungleichgewicht schafft. Durch diesen unendlichen kleinen, aber dennoch existenten Gewichtsüberschuss gerät die weniger schwere Waagschale von Anfang an ins Hintertreffen. Ihr Überwiegen am Ende des Messvorgangs ist damit nicht ausgeschlossen, wird aber erschwert. Dieses Verständnis von einem Primat der Achtungspflicht liegt den folgenden Ausführungen zugrunde. Die Konsequenzen der Annahme einer derart ausgestalteten Vorrangstellung der Achtungspflichten sind dabei mannigfaltig. Am offensichtlichsten sind dabei die Auswirkungen auf die Beteiligten des mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses. Das Primat der Achtungspflicht würde zu einer „Asymmetrie in der Intensität der Grundrechtswirkung“ führen8. Aus ihm würde folgen, dass entweder der Achtungspflicht ein Vorrang gegenüber der Schutzpflicht zukommt, oder aber die Schutzpflicht von vornherein nur in den Grenzen der Achtungspflicht besteht9. Der Berechtigte der Achtungspflicht, also der Übergriffige, würde in der Folge privilegiert. Damit einher ginge eine Schlechterstellung des Betroffenen. Der Schutz seiner grundrechtlich geschützten Rechtsgüter, deren Schädigung oder Gefährdung durch ein Verhalten des Übergriffigen verursacht wird, wöge prinzipiell weniger als die Achtung der grundrechtlich geschützten Rechtsgüter des Übergriffigen. Pro7  Exemplarisch die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch BVerfGE 39, 1; 88, 203. 8  J. Hager, Grundrechte im Privatrecht, in: JZ 1994, S. 373 (381); ders., Die Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: Jura 2000, S. 186 (189). 9  Hong, Grundrechte (Fn. 2), S. 112.



2. Kap.: Primat der Achtungspflicht83

blematisch könnte daher sein, dass sich Verursachungsbeitrag und Verteilung der Folgenlast unter Umständen nicht entsprechen. Angesichts der Tatsache, dass sich staatliche und private Verhaltensweisen in Bezug auf ihr Schädigungspotential für grundrechtlich geschützte Güter in nichts nachstehen, wird die Privilegierung des Übergriffigen wohl insbesondere aus Sicht des Betroffenen als unbillig empfunden werden. Mit Annahme eines Primats der Achtungspflicht würde außerdem zugleich eine Kollisionsregel für Zweifelsfälle geschaffen, in denen die staatliche Gewalt ansonsten ohne Handlungsdirektive zu entscheiden hätte. Derartige Kollisionslagen, auf die später noch eingegangen wird, treten insbesondere dann auf, wenn auf beiden Seiten des Dreiecks das gleiche Rechtsgut betroffen ist, die eine Pflicht nur auf Kosten der anderen erfüllt werden kann und selbst nach Berücksichtigung der Gegebenheiten des Einzelfalls eine Entscheidung für oder gegen die Erfüllung einer der beiden Pflichten nicht möglich ist. In diesen an sich unauflösbaren Pattsituationen käme dann das den Achtungspflichten immanente Übergewicht zum Tragen. Die Pattsituation könnte problemlos zugunsten der Erfüllung der Achtungspflicht aufgelöst werden. Darin liegt ein nicht zu unterschätzender praktischer Nutzen einer solchen Vorrangregelung, weil das Primat der Achtungspflicht die Ausweglosigkeit der Situation schlechthin eliminiert, die staatliche Gewalt daher gewissermaßen bei der Hand nimmt und aus dem Dilemma führt. Nachdem Bedeutung und Folgen eines solchen Primats der Achtungspflicht überblicksartig erläutert wurden, gilt es nun nach dessen Existenz zu fragen. Das Verfassungsrecht, welches – mit Ausnahme der Menschenwürdegarantie – schon im Hinblick auf die verschiedenen Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion keine Rangfolge normiert, gibt auch keine Auskunft über das Verhältnis der Achtungs- und Schutzpflichten zueinander10. Ähnlich unergiebig ist der Rekurs auf die Rechtsprechung. Auch wenn die oben angeführten Aussagen des Bundesverfassungsgerichts auf den ersten Blick vermuten lassen, dass dieses von einem Primat der Achtungspflicht ausgeht, so widerspricht dieser Schlussfolgerung doch dessen eigene Rechtsprechung. Diese lässt keine verallgemeinerungsfähige Tendenz erkennen, wie Konstellationen, in denen Grundrechtsfunktionen in Widerstreit geraten, aufzulösen sind, sondern scheint von Fall zu Fall zu entscheiden11. Ausführungen zu 10  M. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2000, S. 267; J. Gauder, Das abverlangte Lebensopfer, 2010, S. 163. 11  Schutzpflicht prinzipiell gleichwertig BVerfGE 39, 1 (52 ff.); 46, 160 (164); 88, 203 (251 ff.); Schutzpflicht nur politischer Leitsatz BVerfGE 49, 89 (127 ff.); 53, 30 (57); 56, 54 (73, 78 f., 80); 77, 170 (229 f.); 79, 174 (202); Abwehrrecht überwiegt

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

einer expliziten Vorrangstellung der Achtungspflichten hat es bisher jedenfalls nicht gemacht. Obwohl Verfassungsrecht und Rechtsprechung also keine eindeutige Aussage zum Bestehen eines Primats der Achtungspflicht treffen wird im Rahmen von mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen, oftmals ohne nähere Begründung, von einem Vorrang der Achtungspflicht ausgegangen12. Von Vosgerau wird dies in Anlehnung an Ernst Forsthoff, der davon ausging, dass Grundrechte nur staatsgerichtete Abwehrrechte seien und sonst nichts13, als „modifiziertes Forsthoffsches Dogma“14 bezeichnet. Die negative Konnotation dieser Begriffsschöpfung ist nicht zu übersehen. Deren Berechtigung wird sich im Folgenden herausstellen. Die Untersuchung des Bestehens eines Primats der Achtungspflicht soll dabei losgelöst von den Achtungs- und Schutzpflichten für die Menschenwürde und das Leben erfolgen. Auf deren Verhältnis zueinander wird noch an späterer Stelle eingegangen werden. Vielmehr werden im Folgenden die verschiedenen Anhaltspunkte, welche einen allgemeinen Vorrang der Abwehrfunktion der Grundrechte im Dreiecksverhältnis begründen könnten, auf ihre Validität hin überprüft.

A. Staatstheoretische Betrachtung „Am Anfang aller Legitimationsgründe steht die Sicherheit.“15 Diese bildet seit jeher Teil der theoretischen Rechtfertigung von Staatlichkeit16. Gemeint ist damit die Sicherheit des Einzelnen vor Übergriffen anderer Privater. Schutzpflicht: BVerfGE 115, 118 (152 ff.); Schutzpflicht überwiegt Abwehrrecht: BVerfGE 49, 24 (53 ff.); BVerwGE 49, 202 (209). 12  W.-R. Schenke, Versicherungsrecht im Fokus des Verfassungsrechts – die Urteile des BVerfG vom 26. Juli 2005, in: VersR 2006, S. 871 (873); R. Merkel, Folter und Notwehr, in: M. Pawlik/R. Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs, 2007, S. 375 (396 ff.); ders., § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, in: JZ 2007, S. 373 (381); W. Schwetzel, Freiheit, Sicherheit, Terror: das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit nach dem 11. September 2001 auf verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Ebene, 2007, S. 56 f.; gut begründet hingegen bei Hong, Grundrechte (Fn. 2), S. 111 ff. 13  E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: H. Barion/ ders./W. Weber (Hrsg.) Festschrift für Carl Schmitt zum 70.  Geburtstag, 1959, S. 35 (44 ff.); ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961, S. 30  ff.; ders., Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 213 (216 f.). 14  U. Vosgerau, Grenzen der Liberalen Gewährleistungspolitik, in: J. Scharrer/u. a. (Hrsg.), Risiko im Recht – Recht im Risiko, 2011, S. 135 (141). 15  J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, S. 3. 16  E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit: Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie



A. Staatstheoretische Betrachtung85

Die Gewähr von Sicherheit in diesem Sinne stellt auch heute noch einen essenziellen Staatszweck dar. Verfassungsrechtliches Substrat der Sicherheit sind die grundrechtlichen Schutzpflichten17. Mit Bestehen eines Staates, der über die Fähigkeit zur Gewaltausübung verfügt, sieht sich der Bürger allerdings einem weiteren potentiellen Schädiger seiner Rechtsgüter ausgesetzt, dem Staat selbst. Hiergegen schützen die Achtungspflichten, welche den Staat in seiner Machtentfaltung einschränken. Beide Pflichtenarten verfügen also über staatstheoretische Anknüpfungspunkte. Um diese einordnen und gegebenenfalls eine Aussage über ihr Verhältnis zueinander treffen zu können, sind deren Ursprünge kurz darzustellen.

I. Thomas Hobbes – Sicherheit als Staatslegitimation Die Gewähr von Sicherheit wurde insbesondere von Thomas Hobbes als zentrale Rechtfertigung für Staatlichkeit ausgemacht18. Entscheidende Vorarbeit leistete dabei Jean Bodin, der wohl bedeutendste Vertreter der Idee der souveränen Staatsgewalt. Nur wenn die Staatsführung über „souveräne Gewalt“ verfügt, das heißt das Monopol der Gewaltanwendung beim Staat liegt, kann dieser Sicherheit und Ordnung seiner Bürger gewährleisten19. Die staatstheoretische Berechtigung dieser absoluten Macht wurde dann von Hobbes herausgearbeitet. Er ging davon aus, dass die natürliche Situation ein Krieg aller Menschen untereinander ist, weil ein jeder das Recht auf alles beansprucht20. Zur Überwindung dieses natürlichen Kriegszustandes einigen sich die Menschen, ihre Kriegshandlungen einzustellen und sich dem Staat – dem Leviathan – unterzuordnen. Dieser ist stärker als jede andere (private) Macht und vermag Letztere daher zu unterdrücken. Damit einher geht ein Gewaltverzicht der Bürger. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Staat fähig ist, den Bürger unter seinen Schutz zu stellen, denn „der Staat, der nicht die Macht besitzt, zu schützen, besitzt auch nicht das Recht, Gehorsam zu verlangen.“21 Die Gewährleistung von Sicherheit durch den Staat ist somit Kompensation für den Verzicht auf Eigenmacht und Privatjustiz auf und Verfassungsgeschichte, 1991, S. 92 ff.; J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 21. 17  Schwetzel, Freiheit (Fn. 12), S. 9. 18  T. Hobbes, Grundzüge der Philosophie, Lehre vom Bürger, Widmung an den Grafen von Devonshire, (zitiert nach der Verlag von Felix Meiner Ausgabe, übersetzt von M. Frischeisen-Köhler, 1949, S. 59) „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“. 19  J. Bodin, Six livres de la République (1583), Buch I, Kapitel 8 (zitiert nach der C. H. Beck Ausgabe, übersetzt von B. Wimmer, 1981, S. 205 ff.). 20  Hobbes, Grundzüge (Fn. 18), Widmung an den Grafen von Devonshire. 21  Isensee, Grundrecht (Fn. 15), S. 3.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

Bürgerseite22. Die Friedenspflicht der Bürger steht – bezogen auf den Gesellschaftsvertrag – in einem synallagmatischen Verhältnis zur Schutzpflicht des Staates23. Nach Hobbes stellt die Schutzgewähr die eigentliche Urfunktion des Staates dar24. Sie entspringt der ältesten staatstheoretische Legitimationsgrundlage für den modernen Staat, der Gewähr von Sicherheit25.

II. John Locke – Sicherheit vor dem Staat Später, im Zuge der zunehmenden Liberalisierung des Staatsverständnisses, welche durch John Locke eingeleitet wurde, rückte der Schutz des Bürgers vor dem Staat in den Vordergrund26. Die Anhänger der liberalen Idee hatten erkannt, dass im Verhältnis zwischen Bürger und Staat ein Spannungsfeld zwischen der individuellen Freiheit und der staatlichen Ordnungsmacht besteht27. Ihr Ziel war es, durch Begrenzung der staatlichen Macht der individuellen Freiheit ein höheres Gewicht zukommen zu lassen als bisher28. Es ging den liberalen Bestrebungen folglich um die Gewährleistung von Sicherheit vor dem Staat29. Dabei wurde die von Hobbes betonte Schutzaufgabe des Staates indes nie in Frage gestellt30. Vielmehr sei die Gehorsamspflicht der Bürger nach Auffassung Lockes zweifach bedingt. Zum einen setzt sie, wie bei Hobbes auch, die Gewährleistung von Schutz durch den Staat voraus. Zum anderen besteht sie aber nur so lange, wie der Staat von seiner Macht in maßvoller Weise Gebrauch macht. Ein Missbrauch der Macht durch den Staat führt damit ebenso zu einem Erlöschen der Gehorsamspflicht wie die Unfähigkeit, den Bürgern ausreichend Sicherheit zu gewährleisten. Das von Locke entwickelte Prinzip der Sicherheit vor dem Staat verdrängte somit nicht das Prinzip der Sicherheit durch den Staat, sondern baut auf der Sicher22  J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 181. 23  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 181. 24  M. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 76. 25  M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 155. 26  J. Locke, Two Treatises of Government, 1690. 27  A. Archangelskij, Das Problem des Lebensnotstandes am Beispiel des Abschusses eines von Terroristen entführten Flugzeuges, 2005, S. 102 f. 28  Hobbes grenzt die Macht des Leviathan nicht ein, obwohl er sich der Missbrauchsgefahr bewusst war; „Denn der, welcher Macht genug hat alle zu beschützen, hat auch Macht, alle zu unterdrücken“. 29  Isensee, Grundrecht (Fn. 15), S. 6. 30  A. Bleckmann, Neue Aspekte der Drittwirkung der Grundrechte, in: DVBl. 1988, S. 938 (941).



A. Staatstheoretische Betrachtung

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heitsphilosophie von Hobbes auf und bildet sie fort31. Die Begrenzung staatlicher Macht ist dabei selbst kein Staatszweck, sondern setzt den Staat begriffslogisch voraus32. Auch wenn der Begriff der „Sicherheit“ in höchstem Maße unbestimmt ist, weil er die Existenz von Rechten und Rechtsgütern sowie deren individuelle Zuordnung voraussetzt, so wird doch dessen (doppelte) Stoßrichtung offenbar. Es geht um den Schutz des Individuums vor dem Staat und durch den Staat.

III. Gegenwartsbedeutung Diese beiden grundlegenden staatstheoretischen Erkenntnisse sind auch heute noch von ungebrochener Relevanz33. In der Literatur finden sich zahlreiche Beiträge, die sich mit der Thematik der Sicherheit und insbesondere deren Verhältnis zur Freiheit befassen34. Der Begriff der Freiheit meint in diesem Kontext zumeist das Gleiche wie die Sicherheit vor dem Staat. Diese wird bekanntlich durch die Achtungspflichten gewährleistet. Deren Gegenwartsbedeutung steht außer Frage. Für die Sicherheit durch den Staat, welche durch die grundrechtlichen Schutzpflichten vermittelt wird, lässt sich dies nicht mit gleicher Leichtigkeit sagen. Die Verfassung beinhaltet nur wenige ausdrücklich normierte Schutzpflichten. Außerdem findet sich weder eine Staatszielbestimmung Sicherheit, noch eine ausdrückliche Regelung des Gewaltmonopols im Grundgesetz35. Letzteres ist bedeutend, weil wie von Hobbes dargelegt, das Gewaltmonopol des Staates aus dem Gewaltverzicht des Volkes herrührt, welches im Ausgleich dafür Schutz vor privater Gewalt erwartet. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass in der modernen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland die grundsätzliche Abwesenheit physischer Gewalt durch private Dritte zur Regel, gar zur Selbstverständlichkeit geworden ist36. Aufgrund dieser Entwicklung ist die Funktion des Staates, Sicherheit für seine Bürger zu gewährleisten, zunehmend 31  Isensee,

Grundrecht (Fn. 15), S. 17 f.; Dietlein, Lehre (Fn. 16), S. 23. Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik: Verfassungsrechtliche Grundlagen und immissionsschutzrechtliche Ausformung, 1985, S. 105; dies bezieht sich nicht auf die vorstaatliche Natur der Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion. 33  K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 932. 34  Beispielhaft genannt seien nur: Isensee, Grundrecht (Fn. 15); G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht. Aspekte der Geschichte, Begründung und Wirkung von Grundrechtsfunktionen, 1987; Schwetzel, Freiheit (Fn. 12). 35  C. Calliess, Sicherheit im freiheitlichen Rechtsstaat – Eine verfassungsrecht­ liche Gratwanderung mit staatstheoretischem Kompass, in: ZRP 2002, S. 1 (1). 36  Calliess, Sicherheit (Fn. 35), S. 1. 32  D. Murswiek,

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

in den Hintergrund getreten und auf das einfache Recht verlagert worden37. Nichtsdestotrotz setzt das Grundgesetz sowohl die Gewähr von Sicherheit als auch das staatliche Gewaltmonopol voraus38. Dies belegt insbesondere auch die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts im Kontaktsperre-Urteil von 1977, in dem es ausführte: „Die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht und die vom ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet“39. Der Gehalt dieser Aussage erschöpft sich indes nicht in der Feststellung, dass es sich bei der Gewähr von Sicherheit um einen unverzichtbaren Verfassungswert handelt. Darüber hinaus setzt das Bundesverfassungsgericht diesen mit anderen Verfassungswerten gleich und damit mit der Bewahrung der individuellen Freiheit. Dies zeigt, dass auch heute kein Weg an dem von Hobbes entwickelten philosophischen Modell vorbei führt40. In seiner Ergänzung mit den Ausführungen Lockes bildet es das staatstheoretische Gerüst des modernen Staates. Dieser versteht Freiheit und Sicherheit als grundsätzlich gleichberechtigte Elemente. Diesem Verständnis scheint auch das Bundesverfassungsgericht zu folgen, wenn es in seiner Entscheidung zur Rasterfahndung feststellt: „Die Verfassung verlangt vom Gesetzgeber, eine angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen.“41 Eine grundsätzliche Privilegierung eines der beiden Teilaspekte scheint daher staatstheoretisch schwer begründbar42. Damit kommt hiernach ein Primat der Achtungspflicht nicht in Frage.

B. Abwehrrechtliche Formulierung des Grundrechtsabschnitts Die sprachliche Gestaltung des Grundrechtsabschnitts lässt auf den ersten Blick vermuten, dass die Grundrechte in funktioneller Hinsicht nahezu aus37  Dietlein,

Lehre (Fn. 16), S. 23. Zum Streit um den Todesschuß, in: (Hrsg.), K. Hail­­bron­­ner/ G. Ress/T. Stein, Staat und Völkerrechtsordnung Festschrift für Karl Doehring, 1989, S. 579 (585 ff.); Calliess, Sicherheit (Fn. 35), S. 1 f. 39  BVerfGE 49, 24 (56 f. mit Verweis auf BVerwGE 49, 202 [209]). 40  P. Koller, Moderne Vertragstheorie und Grundgesetz, in: W. Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 361 ff. 41  BVerfGE 115, 320 (358). 42  K.-A. Schwarz, Die Dogmatik der Grundrechte – Schutz und Abwehr im freiheitssichernden Staat, in: U. Blaschke/u. a. (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit?, 2005, S. 29 (31); Schwetzel, Freiheit (Fn. 12), S. 7. 38  D. Merten,



B. Abwehrrechtliche Formulierung des Grundrechtsabschnitts 89

schließlich auf Abwehr vor dem Staat ausgerichtet sind43. Weil dem Wortsinn bei der Auslegung von Gesetzen eine herausragende Bedeutung zukommt, würde dies für eine prinzipielle Vorrangstellung der Abwehrfunktion sprechen44. Ob dieser erste Eindruck zutrifft, kann sich allerdings erst im Rahmen einer umfassenden Analyse des Verfassungstextes zeigen.

I. Textbefund Die Freiheitsrechte sind überwiegend als Abwehrrechte formuliert. Dies zeigt sich darin, dass diverse Grundrechtsgüter explizit vor staatlichem Verhalten geschützt werden, welches teilweise als Eingriff45, Beschränkungen46, Einschränkungen47 oder auch Beeinträchtigung48 bezeichnet wird. In Kombination damit, dass das Grundgesetz von Schranken ausgeht, bringt dies zum Ausdruck, dass das Grundgesetz primär die staatliche Gewalt als potentiellen Verletzer der Grundrechtsgüter sieht. Auch die Schrankenschranke des Art. 19 Abs. 1 S. 1 und 2 GG, welche nur für die Abwehrrechte Relevanz entfalten kann, deutet auf eine Dominanz des abwehrrechtlichen Charakters der Grundrechte hin49. Den Postulaten, welche einzelne Grundrechtsgüter als „unantastbar“50 oder „unverletzlich“51 ausweisen, lässt sich bei isolierter Betrachtung keine Aussage über ihre Ausrichtung entnehmen. Mit Ausnahme der in Art. 4 Abs. 2 GG verbürgten Religionsfreiheit ergibt sich jedoch mit Blick auf den jeweiligen Grundrechtsartikel in seiner Gesamtheit deren abwehrrechtliche Tendenz52. Demgegenüber beinhaltet der Grundrechtsabschnitt aber auch einige Grundrechte, die Formen der Freiheitsausübung „gewährleisten“53 oder Grund­ 43  Isensee,

Grundrecht (Fn. 15), S. 27. Grundrechtsgehalte (Fn. 10), S. 269 f.; E. Reimer, Die Schwäche des Rechtsstaats ist seine Stärke, in: StudZR 2006, S. 601 (606); zur Bedeutung der grammatikalischen Auslegung im Verfassungsrecht C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 271. 45  Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 13 Abs. 7 GG. 46  Art. 8 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 S. 1, Art. 13 Abs. 7, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG. 47  Art. 11 Abs. 2 GG. 48  Art. 12a Abs. 2 S. 3 GG. 49  W. Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 68; F. Winkeler, Bedingt abwehrbereit? Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Gefahrenabwehrmaßnahmen auf Kosten Unschuldiger am Beispiel des Luftsicherheitsgesetzes, 2007, S. 176. 50  Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG. 51  Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 4 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 GG. 52  Art. 2 Abs. 2 S. 2 und 3, Art. 10 Abs. 1 und 2 GG. 53  Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 1, Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG. 44  Dolderer,

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

rechtsausübungen als „frei“54 bezeichnen. Eine abwehrrechtliche Ausrichtung lässt sich für diese nicht ausmachen55. Im Gegenteil implizieren vor allem die Gewährleistungen von Freiheiten auch den Schutz selbiger durch die staatliche Gewalt und damit eine von der abwehrrechtlichen Komponente der Grundrechte abweichende Ausrichtung. Schließlich erlegen einige Grundrechte, allen voran Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, der staatlichen Gewalt explizit Schutzpflichten auf56. Der Grundrechtsabschnitt ist demnach nicht ausschließlich auf Abwehr vor dem Staat gerichtet. Hinzu kommt, dass in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG Achtungs- und Schutzpflicht „gleichrangig nebeneinander“ stehen57. Die zweiseitige Stoßrichtung der Grundrechte, das heißt Achtung und Schutz, wird damit bereits am Anfang des Grundrechtskatalogs vorgegeben und impliziert deren Gleichrangigkeit58. Letzterer kann dabei nur den Schutz vor nichtstaatlichen Beeinträchtigungen umfassen, weil der Schutz vor dem Staat selbst bereits vollständig im Begriff des „Achtens“ aufgeht59.

II. Bewertung Die augenscheinliche Dominanz abwehrrechtlicher Formulierungen rechtfertigt nicht die Annahme eines Primats der Achtungspflicht im hier benannten Sinne. Dies ergibt sich insbesondere aus der ausdrücklichen Normierung von grundrechtlichen Schutzpflichten, allen voran die Schutzpflicht für die Menschenwürde. Diese bringt gleich zu Beginn des Grundrechtsabschnitts die Gleichwertigkeit von Achtung und Schutz für den höchsten Verfassungswert zum Ausdruck60. Unklar ist, ob sich diese Ebenbürtigkeit auch auf die ungeschriebenen Schutzpflichten überträgt61. Dies könnte wegen Art. 1 Abs. 3 GG aufgrund der besonderen Bedeutung der Menschenwürdegarantie als höchstem „Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung“62 und deren Stellung am Anfang des Grundrechtsabschnitts angenommen wer54  Art. 8

Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 GG. Freiheitsgrundrechte (Fn. 48), S. 68. 56  Art. 1 Abs. 1 S. 2, Art. 6 Abs. 1 und 4 GG. 57  G. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 142; F. Ekardt, Die Multipolarität der Freiheit, in: JZ 2007, S. 137 (138); ablehnend dagegen Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 28. 58  Krings, Grund (Fn. 57), S. 142. 59  Krings, Grund (Fn. 57), S. 142; Ekardt, Multipolarität (Fn. 57), S. 138. 60  W. Brugger, Examensklausur im öffentlichen Recht, Übungsklausur Würde gegen Würde, in: VBlBW 16 (1995), S. 414 ff. (450); E. Franz, Der Bundeswehreinsatz im Innern und die Tötung Unschuldiger im Kreuzfeuer von Menschenwürde und Recht auf Leben, in: Der Staat 45 (2006), S. 501 (514). 61  Dagegen Krings, Grund (Fn. 57), S. 143. 62  BVerfGE 45, 187 (227). 55  Cremer,



C. Größere Schwere der Verletzung der Achtungspflicht? 91

den63. Darüber hinaus wohnt vielen Freiheitsrechten des Grundgesetzes ein Menschenwürdekern inne. Zwingend ist eine Übertragung aber nicht. Wenn aber schon beim Höchstwert der Verfassung der Textbefund eine Gleichwertigkeit nahe legt, so spricht dies gegen ein generelles Primat der Achtungspflicht. Die übrigen ausdrücklich normierten Schutzpflichten durchbrechen darüber hinaus die abwehrrechtliche Diktion des Grundrechtsabschnitts. Entscheidend ist im Ergebnis aber, dass der Verfassungstext keine explizite Aussage zum Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten beinhaltet. Dies hat seinen Grund darin, dass der Verfassungsgeber sich einer Kollision von Achtungs- und Schutzpflichten nicht gewahr war. Somit konnte er allenfalls unbewusst eine Aussage über das Verhältnis der beiden Pflichtenarten zueinander treffen. Anhaltspunkt zur Ergründung einer etwaigen Aussage wäre im Hinblick auf die Textanalyse allein das Übergewicht abwehrrechtlicher Formulierungen. Aus dieser rein quantitativen Beobachtung auf einen qualitativen Unterschied zwischen Achtungs- und Schutzpflichten zu schließen, erscheint aber nicht überzeugend. Auch wenn die sprachliche Fassung des Grundrechtsabschnitt zweifelsohne abwehrrechtlich geprägt ist, ginge es daher zu weit, allein daraus auf ein Primat der Achtungspflichten im hier benannten Sinne zu schließen.

C. Größere Schwere der Verletzung der Achtungspflicht? Das Bundesverfassungsgericht spricht vereinzelt von besonders schweren Verfassungsverstößen64. Formulierungen dieser Art implizieren, dass innerhalb der Gesamtheit aller Verfassungsverletzungen ein Stufenverhältnis besteht, welches auf einer Unterscheidung nach der Schwere der jeweiligen Verletzung beruht65. Ließe sich ein solches Stufenverhältnis im Hinblick auf die Verletzung von Achtungs- und Schutzpflichten ausmachen, so könnte man hieraus auf eine Höherwertigkeit einer der beiden Pflichtenarten schließen. Eine solche Schlussfolgerung basiert auf der Annahme, dass die Schwere der Verletzung einer Pflicht unmittelbar mit der ihr zugedachten Wertigkeit im Verfassungsgefüge zusammenhängt. Je schwerwiegender die Verletzung einer Pflicht eingestuft wird, desto gewichtiger muss die Pflicht als solche sein. Im Hinblick auf die Frage nach dem Bestehen eines Primats der Achtungspflicht geht es mithin darum, zu ermitteln, ob die Verletzung der Ach63  Isensee

(Fn. 22), § 191 Rn. 28. 107, 339 (365, 371, 387). 65  E. Klein, Stufen der Verfassungsverletzung?, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 169 (169). 64  BVerfGE

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

tungspflichten per se schwerer wiegt als die Verletzung von grundrechtlichen Schutzpflichten. Dazu sind zunächst etwaige Unterschiede im Hinblick auf die Verletzung der Pflichten zu identifizieren. Diese sind dann daraufhin zu untersuchen, ob sie zu einer größeren Schwere der Pflichtverletzung führen und im Ergebnis einen prinzipiellen Vorrang der Achtungspflichten vor den grundrechtlichen Schutzpflichten begründen können. Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass die Nichterfüllung beider Pflichtenarten eine Verletzung von Verfassungsrecht darstellt.

I. Art der Verletzungshandlung Ein erster vergleichender Blick offenbart, dass sich Achtungs- und Schutzpflichten hinsichtlich ihres jeweiligen Zuwiderhandelns in der Verletzungshandlung unterscheiden. Die Achtungspflichten werden verletzt durch ein übermäßiges Tätigwerden des Staates, die grundrechtlichen Schutzpflichten durch ein Unterlassen der gebotenen Schutzgewähr. Dies ergibt sich bereits aus den inhaltlichen Anforderungen der beiden Pflichtenarten an ihre Erfüllung. Hieran anknüpfend wird teilweise vertreten, dass die Verletzung des aus der Achtungspflicht folgenden Handlungsverbotes allgemein einen schwerwiegenderen Rechtsverstoß darstelle, als die Nichterfüllung des durch die grundrechtliche Schutzpflicht begründeten Handlungsgebotes66. Diese Argumentation basiert auf der Annahme, dass die Verletzung einer verfassungsrechtlichen Pflicht durch aktives Tun schwerer wiege als durch Unterlassen. Entscheidend ist damit, ob eine solch qualitativ unterschiedliche Bewertung der in Frage stehenden staatlichen Verhaltensweisen gerechtfertigt ist. 1. Strafrechtliche Argumentation nach Saliger Nach Saliger ergibt sich die größere Schwere der Verletzung eines Handlungsverbotes (Achtungspflichten) aus den Verboten zwangsweiser Bluttransfusionen und Organentnahmen67. Ein Arzt darf hiernach nicht zur Rettung eines seiner Patienten einem anderen Patienten gegen dessen Willen beispielsweise eine Niere entnehmen. Er orientiert sich damit an der strafrechtlichen Dogmatik, wo nach allgemeiner Auffassung beim Zusammentreffen 66  F. Saliger, Absolutes im Strafprozess? Über das Folterverbot, seine Verletzung und die Folgen seiner Verletzung, in: ZStW 116 (2004), S. 35 (47); W. Höfling/S. Augsberg, Luftsicherheit, Grundrechtsregime und Ausnahmezustand, in: JZ 2005, S. 1080 (1084); Merkel, Luftsicherheitsgesetz (Fn. 12), S. 381. 67  Saliger, Absolutes (Fn. 66), S. 47 f.; die gleiche Argumentation findet sich auch bei S. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, 2006, S. 304.



C. Größere Schwere der Verletzung der Achtungspflicht? 93

einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht in einer Person, Straffreiheit allein mit Befolgung der Unterlassungspflicht erreicht werden kann68. Dem Verstoß gegen das Handlungsverbot muss demnach ein im Vergleich höherer Unwertgehalt zukommen. Diese Wertung überträgt er nahtlos auf das Verfassungsrecht. Saliger begründet die größere Schwere des Verstoßes gegen das Handlungsverbot mit einem Rückgriff auf die strafrechtliche Bewertung von Tun und Unterlassen. Ein Unterlassen wird bei den sogenannten unechten Unterlassungsdelikten nur unter Erfüllung der zusätzlichen Voraussetzungen des § 13 StGB einem aktiven Tun gleichgestellt. Zudem lässt § 13 Abs. 2 StGB explizit eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB für Unterlassungsdelikte zu69. Im Strafrecht lässt sich der Unrechtsgehalt eines Tatbestandes an dessen Rechtsfolge messen. Die durch § 13 Abs. 2 StGB eröffnete Milderungsmöglichkeit und damit weniger strenge Rechtsfolge bringt folglich zum Ausdruck, dass die Tatbestandsverwirklichung durch ein Unterlassen hinsichtlich ihres Unwertgehalts regelmäßig weniger schwer wiegt als die Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun. Gegen diese dem Strafrecht entlehnte Argumentation ist indes anzuführen, dass die Wertung einer einfachgesetzlichen Regelung des Strafrechts aufgrund der Normenhierarchie für die Beurteilung einer grundrechtsdogmatischen Fragestellung allenfalls einen Denkanstoß sein kann und ihr keinesfalls Anspruch auf Verbindlichkeit zukommt70. Hinzu kommt, dass das Strafrecht auf die Bewertung individuellen menschlichen Verhaltens abzielt und somit mangels Vergleichbarkeit nur sehr bedingt für die Interpretation von Verfassungsrecht fruchtbar gemacht werden kann71. Die von Saliger vorgebrachte Argumentation kann daher nicht überzeugen. Sie ist nur von geringer Bedeutung für die verfassungsrechtliche Bewertung der in Frage stehenden Verletzungshandlungen. 2. Verfassungsrechtliche Betrachtung Im Grundrechtsabschnitt finden sich hinsichtlich der qualitativen Bewertung der verschiedenen Verhaltensformen keine konkreten Hinweise. Genau 68  R. Rengier,

69  BT-Drucks.

Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2014, § 19 Rn. 59 ff. V/4095, S. 8; Hinweis darauf auch Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 67),

S. 304. 70  F. Wittreck, Achtungs- gegen Schutzpflicht? Zur Diskussion um Menschenwürde und Folterverbot, in: U. Blaschke/A. Förster (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, S. 161 (180 f.); J.-U. Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, 2010, S. 112. 71  C. C. Herbst, Die lebensrettende Aussageerzwingung, 2011, S. 195.

94

2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

wie Saliger sieht Merkel die Verletzung von Achtungspflichten als gewichtiger an, weil es sich bei diesen um negative Pflichten handelt72. Achtungspflichten stellen negative Pflichten dar, weil sie das Verbot grundrechtswidriger Grundrechtseingriffe beinhalten, mithin ein Unterlassen fordern. Demgegenüber stellen die grundrechtlichen Schutzpflichten positive Pflichten dar, weil sie das Gebot effektiver Schutzgewähr enthalten, also ein aktives Tun gebieten. Allein aus dieser normativen Unterscheidung ergebe sich laut Merkel ein Vorrang der Achtungspflicht73. Dies begründet er mit der Grundfunktion des Rechts, die wechselseitige Sicherung der persönlichen Freiheit der Bürger zu gewährleisten74. Zugleich beruft er sich auf Anselm von Feuerbach, wonach die „ursprüngliche Verbindlichkeit“ des Staatsbürgers „nur auf Unterlassungen“ gehe75. Diese Verpflichtung betreffe jedoch allein das Verhältnis der Bürger untereinander. Allerdings wirke sich diese auch auf den Staat aus. Dem obliege zwar als primäre Aufgabe die Schaffung einer Rechtsordnung, welche die grundrechtlichen Freiheitsphären der einzelnen Bürger gegeneinander abgrenzt und schützt76. Dabei habe er sich aber auch selbst zu mäßigen und sich in den durch die Achtungspflichten gezogenen Grenzen zu bewegen77. Hieraus schließt Merkel darauf, dass die negativen Unterlassungspflichten des Staates (Achtungspflichten) den positiven Handlungspflichten (grundrechtliche Schutzpflichten) im Falle einer Kollision ausnahmslos vorgehen78. Die Ausführungen Merkels sind nicht überzeugend. Es fehlt die Vergleichbarkeit des Akteurs Staat mit dem Akteur Bürger. Auch wenn die ursprüngliche Pflicht der Bürger in einem Unterlassen zu sehen ist, so gilt dies nicht gleichermaßen für den Staat. Dieser existiert zunächst einmal nur, um den Bürgern Sicherheit zu bieten. Frei sind sie nach der vorstaatlichen Konzeption der Grundrechte ohnehin. Seine ursprüngliche Verbindlichkeit geht daher vielmehr auf ein Tun. Die Argumentation von Merkel erscheint daher widersprüchlich. Teilweise wird ein Vorrang der Achtungspflicht daran festgemacht, dass den Staat bei ihrer Verletzung ein größeres Maß an Verantwortlichkeit träfe, da er die Verletzung des grundrechtlichen Schutzgutes unmittelbar herbeiführe. Die Achtungspflicht stünde dem Staat gewissermaßen näher, da sie ein 72  Merkel,

Luftsicherheitsgesetz (Fn. 12), S. 381. Luftsicherheitsgesetz (Fn. 12), S. 381. 74  Merkel, Luftsicherheitsgesetz (Fn. 12), S. 381. 75  A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, § 24. 76  Merkel, Luftsicherheitsgesetz (Fn. 12), S. 381. 77  Merkel, Luftsicherheitsgesetz (Fn. 12), S. 381. 78  Merkel, Luftsicherheitsgesetz (Fn. 12), S. 381. 73  Merkel,



C. Größere Schwere der Verletzung der Achtungspflicht? 95

konkretes staatliches Handeln untersagt79. Demgegenüber werde die eigentliche Verletzung des grundrechtlichen Schutzgutes bei den Schutzpflichten durch den übergriffigen Dritten vorgenommen. Der Staat führe die Verletzung des grundrechtlichen Schutzgutes durch seine Untätigkeit daher nur mittelbar herbei, da er den Kausalverlauf nicht aktiv beeinflusse80. Es komme daher zu einer Teilung der Verantwortlichkeit zwischen dem Staat und dem Übergriffigen81. Hinzu komme, dass der Staat das Verhalten Privater nicht vorhersehen kann und es daher auch nicht in Gänze zu unterbinden vermag82. Diese unterschiedlichen Grade staatlicher Verantwortung sprächen daher für einen Vorrang der Achtungspflicht83. Diese Argumentation entspricht der intuitiven Prämisse, wonach bei Möglichkeit der Schadensabwendung ein Geschehenlassen der Schädigung durch einen Dritten weniger schwer wiegt, als ein Herbeiführen der Schädigung durch eigenes Tun84. Dabei kann die Annahme verschiedener Grade von Verantwortlichkeit jedenfalls dann nicht überzeugen, wenn die Folgen des Verhaltens des übergriffigen Dritten ebenso vorhersehbar sind, wie die des eigenen Tätigwerdens85. Hier gibt es keinen Grund, in puncto Verantwortlichkeit zwischen Tun und Unterlassen zu differenzieren86. Auch grundsätzlich überzeugt eine Unterscheidung am Maßstab der Verantwortlichkeit nicht. Die Annahme bei der Verletzung der Schutzpflicht treffe den Staat ein geringeres Maß an Verantwortung geht fehl. Entweder der Staat ist für die Abwendung einer Gefahr für grundrechtlich geschützte Güter verantwortlich oder nicht. An dieser Verantwortlichkeit ändert auch das Dazwischentreten eines privaten Dritten nichts. Eine Teilung der Verantwortlichkeit zwischen Staat und Bürger ist in Hinblick auf grundrechtliche Schutzpflichten nicht plausibel, da diese allein den Staat als Adressaten haben. Der Schluss von der geringeren Nähe des Staates zur Verletzung des grundrechtlichen Schutzgutes auf ein geringeres Maß an Verantwortlichkeit überzeugt daher nicht. Im Üb79  J. v. Bernstorff, Pflichtenkollision und Menschenwürdegarantie, in: Der Staat 47 (2008), S. 21 (34 f.); ders., Die Wesensgehalte der Grundrechte, in: F. Arndt (Hrsg.), Freiheit – Sicherheit – Öffentlichkeit, 2009, S. 40 (53); C. D. Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, in: DÖV 2009, S. 689 (694 f.). 80  Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 67), S. 305; v. Bernstorff, Wesensgehalte (Fn. 79), S. 54. 81  Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 67), S. 304 f.; P. Tiedemann, Die Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung, 2. Aufl. 2010, S. 483. 82  Classen, Menschenwürde (Fn. 79), S. 695. 83  Classen, Menschenwürde (Fn. 79), S. 694 f. 84  So in Bezug auf die Menschenwürde Classen, Menschenwürde (Fn. 79), S.  694 f.; Tiedemann, Menschenwürde (Fn. 81), S. 483. 85  Tiedemann, Menschenwürde (Fn. 81), S. 484. 86  D. Birnbacher, Tun und Unterlassen, 1995, S. 65  ff.; Tiedemann, Menschenwürde (Fn. 81), S. 484.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

rigen übersieht eine Argumentation am Maßstab der Nähe, dass der Staat nie eigenhändig handelt, sondern stets durch Organe vertreten wird. Zwischen dem Staat und der Verletzung des grundrechtlichen Schutzgutes liegt also auch bei aktivem Tun ein Ausführungsmedium, welches faktisch die Unmittelbarkeit der Verletzung mindert87. Classen führt zur Unterstützung der Höherwertigkeit der Achtungspflicht schließlich an, dass diese im Gegensatz zur Schutzpflicht immer erfüllt werden kann, weil das von ihr geforderte Unterlassen stets möglich ist88. Die Erfüllung der Schutzpflicht ist demgegenüber nicht immer erfüllbar, weil diese als Handlungspflicht die Möglichkeit zum Handeln voraussetzt89. Diese kann im Einzelfall nicht gegeben sein und die Schutzpflicht dann nicht erfüllt werden. Hieraus ergäbe sich, dass die beiden Pflichten nicht gleichwertig sein können90. Dabei übersieht er, dass die Schutzpflicht gar nicht besteht, wenn nicht die tatsächliche Möglichkeit der Erfüllung besteht. Es liegt dann schon keine Kollision der beiden Pflichten vor und die Frage nach einer unterschiedlichen Wertigkeit stellt sich nicht. Abgesehen davon erschließt sich nicht, wie sich aus der Erfüllbarkeit einer Pflicht eine Aussage über deren Wertigkeit ableiten lässt. 3. Zwischenergebnis Die von Saliger angeregte Unterscheidung am Maßstab des Handlungsunrechts lässt sich nicht auf das Verfassungsrecht übertragen. Aber auch bei rein verfassungsrechtlicher Betrachtung ist eine unterschiedliche Behandlung der in Frage stehenden Verhaltensweisen nicht gerechtfertigt. In diesem Sinne spricht sich auch Isensee für eine verfassungsrechtliche Gleichwertigkeit von Handlungs- und Unterlassungspflicht aus91. Beiden Pflichtenarten liege ein kategorischer Normbefehl zugrunde, der eine unterschiedliche Bewertung aufgrund ihres identischen verfassungsrechtlichen Geltungsanspruchs nicht zulasse92. Hinzu kommt, dass auch Art. 1 Abs. 3 GG die unmittelbare Geltung der Schutzpflichten anordnet. Die Verletzung der Achtungspflichten kann daher nicht verfassungswidriger sein als die Verletzung der grundrechtlichen Schutzpflichten93. 87  Vosgerau,

Grenzen (Fn. 14), S. 141. Menschenwürde (Fn. 79), S. 695. 89  Classen, Menschenwürde (Fn. 79), S. 695. 90  Classen, Menschenwürde (Fn. 79), S. 695. 91  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 298. 92  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 298. 93  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 298; Vosgerau, Grenzen (Fn. 14), S. 141 f. 88  Classen,



C. Größere Schwere der Verletzung der Achtungspflicht? 

97

Darüber hinaus bestehen grundsätzliche Bedenken gegen eine Orientierung an den verschiedenen Verhaltensformen. Ein Grundrechtseingriff – als potentielle Verletzung der Achtungspflicht – kann in bestimmten Fällen auch durch ein Unterlassen erfolgen94. Beispiel hierfür ist die gesetzeswidrige Versagung einer Erlaubnis bei grundrechtskonformen gesetzlichen Verboten mit Erlaubnisvorbehalt95. Kann den Pflichtenarten aber nicht exklusiv eine Verhaltensweise als Verletzungshandlung zugeordnet werden, so beraubt dies den aus ihrer Gegenüberstellung gewonnen Erkenntnissen eines Großteils ihrer Aussagekraft. Vor dem Hintergrund des „modernen Eingriffsbegriffs“96, wonach ein Eingriff insbesondere auch im bewussten Dulden eines privaten Übergriffes liegen kann, überzeugt eine Differenzierung nach Verhaltensweisen daher nicht97. Möglicherweise existiert ein moralischer Unterschied im Hinblick auf die Wertigkeit von aktivem Tun und Unterlassen98. Dies kann indes für deren rechtliche Bewertung keinen Unterschied machen99.

II. Art des Verletzungserfolgs Nachdem die Verletzungshandlung sich nicht als geeignetes Unterscheidungskriterium herausgestellt hat, soll nunmehr der zweite Bestandteil der Verletzung – der Verletzungserfolg – näher betrachtet werden. Dieser liegt sowohl für Achtungs- als auch für Schutzpflichten in der verfassungswidrigen Beeinträchtigung des jeweils betroffenen Schutzgutes. Das Schutzgut ist für beide Pflichten identisch100. Maßgeblich kann daher allein sein, ob die jeweiligen Beeinträchtigungen sich in ihrer Intensität unterscheiden. Dagegen spricht zunächst, dass die Intensität der Verletzung nicht davon abhängt, ob sie unmittelbar durch den Staat oder – aus Sicht des Staates – 94  C. Hillgruber, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff, in: Isensee/Kirchhof, HStR IX (Fn. 22), § 200 Rn. 81. 95  Hillgruber (Fn. 22), § 200 Rn. 82. 96  Dazu B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 31. Aufl. 2015, Rn. 261 ff. 97  Ekardt, Multipolarität (Fn. 57), S. 139; U. Vosgerau, Zur Kollision von Grundrechtsfunktionen, in: AöR 133 (2008), S. 346 (349). 98  Dieser beruht auf einer Äußerung von Sokrates „Wenn aber die Notwendigkeit bestünde, entweder Unrecht zu tun oder Unrecht zu erleiden, dürfte ich mich daher eher dafür entscheiden, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun“; Platon, Gorgias 469 c). 99  J.-U. Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, 2010, S. 113; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I Rn. 133. 100  s. o. 1. Kap. C. II. 1. Objekt der Gefährdung – Grundrechtliche Schutzgüter, S. 62.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

nur mittelbar durch einen privaten Dritten herbeigeführt wird. Diese Erwägung gilt für alle Staatsgewalten. Unterlassene Legislativakte sind der Freiheit genauso abträglich wie übermäßig beeinträchtigende101. „Aus Sicht der Grundrechte spielt es keine grundsätzliche Rolle, von welcher Seite aus die Beeinträchtigung grundrechtlich gewährter Freiheit droht.“102 Die Intensität des Verletzungserfolgs ist damit unabhängig davon, wer diesen im Einzelfall herbeiführt. Weitere Ansatzpunkte, die eine unterschiedliche Schwere des Verletzungserfolges begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Verletzungserfolg in Gestalt der Schädigung des grundrechtlichen Schutzgutes ist damit identisch. Dies verdeutlicht auch folgendes Beispiel. Der Staat ist im Rahmen eines Dreiecksverhältnisses einer Situation ausgesetzt, in der er zwischen der Erfüllung der Achtungs- und der Schutzpflicht entscheiden muss. Eine je teilweise Erfüllung ist nicht möglich. Das bedeutet: unabhängig davon, welche der beiden Pflichten der Staat erfüllt, es wird stets eine Verletzung des Schutzgutes eintreten. Bei saldierender Betrachtung kann es vor dem Hintergrund des potentiell gleichen Verletzungsausmaßes keinen Unterschied machen, welche der Pflichten befolgt wird. Auch ein Anknüpfen an den Verletzungserfolg kann somit einen Vorrang der Achtungspflicht nicht logisch begründen.

III. Zwischenfazit Ein qualitativer Unterschied lässt sich im Hinblick auf die Verletzung von Achtungs- und Schutzpflichten nicht ausmachen. Das tatsächliche Schadenspotential ist im Falle ihrer Verletzung identisch. Eine Unterscheidung am Maßstab des zur Verletzung führenden Verhaltens überzeugte ebenso wenig. Dass Achtungspflichten durch ein aktives Tun und Schutzpflichten durch ein Unterlassen verletzt werden, ist für deren Qualität somit unerheblich. Es ist damit festzuhalten, dass die Verletzung von Achtungs- und Schutzpflichten nicht unterschiedlich schwer wiegt. Die Verletzung beider Pflichtenarten stellt schlichtweg einen Verfassungsverstoß dar. Dieses Verständnis fügt sich auch in die bewährte Unterscheidung zwischen verfassungsgemäßen und verfassungswidrigen Staatshandeln ein, für die unerheblich ist, welches Ausmaß ein etwaiger Verfassungsverstoß hat. Bestätigung findet dieses Ergebnis zudem darin, dass sich (schon) innerhalb der Grundrechte in ihrer 101  M. Mayer,

Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, 2005, S. 142. Grundrechtsschutz unter Untermaßverbot?, in: R. Grote/u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, 2007, S. 297 (301). 102  C.-L. Lee,



D. Spielraum bei Erfüllung der Schutzpflichten99

abwehrrechtlichen Funktion – mit Ausnahme von Art. 1 Abs. 1 GG – keine Hierarchie feststellen lässt103. Demnach findet dort auch keine Differenzierung hinsichtlich der Schwere der Verletzung des Verfassungsrechts statt104. Dies spricht dafür, auch funktionenübergreifend hinsichtlich der Verletzung von Achtungs- und Schutzpflichten nicht am Maßstab der Schwere zu unterscheiden. Auf abstrakter Ebene stellt die Verletzung einer Achtungspflicht damit einen genauso schweren oder leichten Verfassungsverstoß dar, wie die Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht.

D. Spielraum bei Erfüllung der Schutzpflichten Dem Staat kommt bezüglich der Art und Weise der Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten im Regelfall ein Spielraum zu. Innerhalb dieses Spielraums ist er frei bei der Ausgestaltung der Schutzgewähr. Ein solcher Spielraum besteht bei der Erfüllung der Achtungspflichten nicht. Hier besteht die verfassungsrechtlich geforderte Handlung allein in einem Unterlassen. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind daher im Vergleich zu den Achtungspflichten unbestimmter und unspezifischer105. Hieraus wird oftmals auf eine Höherrangigkeit der Achtungspflichten geschlossen106. Die Validität dieser Schlussfolgerung gilt es im Folgenden zu überprüfen.

I. Unbestimmtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten Anknüpfungspunkt für die Vertreter dieser Auffassung ist die relative Unbestimmtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten auf Rechtsfolgenseite. Im Gegensatz dazu ist die Erfüllungshandlung der Achtungspflichten deutlich klarer umrissen. Diese fordern ein Unterlassen bereits erfolgter oder beabsichtigter verfassungswidriger Grundrechtseingriffe107. Mit dem staatlichen Eingriffsakt besteht daher ein konkreter Bezugspunkt für die Bestimmung der Erfüllungshandlung. Sie liegt schließlich schlichtweg in der Negation des überbordenden Eingriffs. Das Unterlassen ist daher klar bestimmt oder zumindest bestimmbar108. Demgegenüber sind die grundrechtlichen Schutzpflichten lediglich final bestimmt. Sie gebieten abstrakt die Gewährung von 103  Klein,

Stufen (Fn. 65), S. 172. Stufen (Fn. 65), S. 181. 105  R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, in: JZ 1990, S. 553 (558). 106  BVerfGE 115, 118 (160); Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S. 558; H. Welsch, Die Wiederkehr der Folter als das letzte Verteidigungsmittel des Rechtsstaats?, in: BayVBl. 2003, S. 481 (484); wohl auch Schwetzel, Freiheit (Fn. 12), S. 57. 107  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S. 558. 108  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S. 558. 104  Klein,

100

2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

Schutz109. Konträr zu den Achtungspflichten knüpfen sie an ein verfassungswidriges Unterlassen des Staates an110. Dieses Unterlassen von Schutz ist aber in großem Maße unspezifisch, weil es kein konkretes staatliches Handeln als Bezugspunkt hat111. Vielmehr unterlässt der Staat dann im Regelfall diverse Handlungen, die jede für sich den gebotenen Schutz gewähren könnten. Bleibt der Staat unter dem verfassungsrechtlich geforderten Maß an Schutzgewähr zurück, „existiert daher auch kein definites verfassungsmäßiges Gegenteil, sondern nur eine indefinite Vielzahl verfassungsmäßiger Alternativen.“112 Die Unbestimmtheit des verfassungswidrigen Unterlassens setzt sich also in der Erfüllungshandlung fort. Diese ist in der Regel nicht auf ein konkretes Mittel beschränkt, sondern es kommen potentiell viele taugliche Maßnahmen in Betracht. Dabei hat der Staat grundsätzlich in eigener Verantwortung zu entscheiden, wie er die grundrechtlichen Schutzpflichten erfüllt113. Mit diesem strukturell bedingten Unterschied der beiden Pflichtenarten wird teilweise eine Vorrangigkeit der Achtungspflichten begründet114. Den grundrechtlichen Schutzpflichten komme, weil sie allein das Ziel ausreichender Schutzgewähr vorgeben, nicht aber die Vornahme spezifischer Maßnahmen, lediglich eine „Grundsatzwirkung“ zu115. Aufgrund der geringeren normativen Dichte der grundrechtlichen Schutzpflichten seien diese von entsprechend geringerer Verbindlichkeit116. Ihre Unbestimmtheit, sowie der hieraus resultierende Spielraum, welcher der staatlichen Gewalt bei der Erfüllung der Schutzpflichten zukommt, begründen deren Minderwertigkeit.

II. Nur retardierender Effekt des Spielraums Gegen dieses Verständnis wird angeführt, dass der staatliche Spielraum bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, lediglich dazu führe, dass eine Kollision der beiden Pflichten hinausgezögert oder gar vermieden werde, solange mehrere Möglichkeiten zur Erfüllung der Schutzpflicht beste109  A. Pietrzak, Die Schutzpflicht im verfassungsrechtlichen Kontext – Überblick über neue Aspekte, in: JuS 1994, S. 748 (748). 110  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S. 558. 111  C. Brüning, Voraussetzungen und Inhalt eines grundrechtlichen Schutzanspruchs, in: JuS 2000, S. 955 (955). 112  D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: Die Zukunft der Verfassung, 1988, S. 221 (238). 113  BVerfGE 46, 160 (164). 114  BVerfGE 115, 118 (160); Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S. 558; Welsch, Wiederkehr (Fn. 106), S. 484; wohl auch Schwetzel, Freiheit (Fn. 12), S. 57. 115  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S. 558; Welsch, Wiederkehr (Fn. 106), S. 484. 116  Welsch, Wiederkehr (Fn. 106), S. 484.



D. Spielraum bei Erfüllung der Schutzpflichten101

hen, welche das Abwehrrecht gar nicht oder nur geringfügig beeinträchtigen117. Spitze sich die Lage indes derart zu, dass der staatlichen Gewalt zur Schutzgewähr nur eine solche Handlungsoptionen verbleibt118, die in das Abwehrrecht des Übergriffigen eingreift, so stünden sich Achtungs- und Schutzpflicht gleichwertig gegenüber119. Dem Gestaltungsspielraum der staatlichen Gewalt bei der Erfüllung der Schutzpflichten kommt hiernach lediglich ein retardierender Effekt im Hinblick auf die Entstehung von Kollisionslagen zu. Eine prinzipielle Minderwertigkeit der grundrechtlichen Schutzpflichten lasse sich aus diesem allerdings nicht ableiten120.

III. Bestimmtheit als Kriterium der Geltungskraft Grundsätzlich zweifelhaft ist darüber hinaus die Brauchbarkeit des Parameters der Bestimmtheit zur Ermittlung des Verhältnisses der in Frage stehenden verfassungsrechtlichen Pflichten. Es leuchtet nicht ein, inwiefern der Bestimmtheitsgrad einer Pflicht sich auf deren Geltungskraft auswirken soll. Ein gewisser Grad an Bestimmtheit ist bereits erforderlich für das Bestehen einer final ausgerichteten Pflicht als solcher. Hierdurch wird ihr Adressat erst in die Lage versetzt, zu erkennen was zur Erfüllung der jeweiligen Pflicht gefordert ist, unabhängig davon, ob es sich dabei um ein Tun oder Unterlassen handelt. Ist dieses Mindestmaß an Bestimmtheit hingegen erreicht, so kann ein hohes Maß an Bestimmtheit möglicherweise die Rechtsanwendung erleichtern, sagt jedoch nichts über die Geltungskraft der Pflicht aus. Bestimmtheit ist daher allein eine Voraussetzung einer Pflicht, kein Kriterium zur Bestimmung ihrer Geltungskraft. Somit geht auch der Schluss von der geringeren Bestimmtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten auf eine entsprechend geringere Geltungskraft fehl121.

IV. Stellungnahme Der Spielraum, welcher dem Staat bei der Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten zukommt, begründet keine Nachrangigkeit der Schutz- gegenüber den Achtungspflichten. Dies zeigen insbesondere die Ausführungen 117  Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 70), S. 180 f.; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 60), S. 509; U. Palm, Die Person als ethische Grundlage der Verfassungsordnung, in: Der Staat 47 (2008), S. 41 (57 f.). 118  Was durchaus möglich ist, belegt durch BVerfGE 46, 160 (164 f.). 119  Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 60), S. 509; Palm, Person (Fn. 117), S. 57 f. 120  Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 70) S. 180 f.; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 60), S. 509; Palm, Person (Fn. 117), S. 57 f.; ähnlich auch Hager, Grundrechte (Fn. 8), S. 381. 121  Im Ergebnis auch Palm, Person (Fn. 117), S. 57.

102

2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

zur mangelnden Tauglichkeit der Bestimmtheit als Kriterium der Geltungskraft einer Pflicht. Diejenigen, die für die Ebenbürtigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten den retardierenden Effekt des Erfüllungsspielraums ins Feld führen, nehmen sich nicht direkt dem Argument der geringeren Bestimmtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten an, sondern dem daraus resultierenden Erfüllungsspielraum. Sie veranschaulichen aber auf schlüssige Art und Weise, dass bei Aufeinandertreffen zweier Pflichten mit entgegengesetzten Zielrichtungen, von denen bei einer von beiden ein Spielraum hinsichtlich der Erfüllung besteht, der es erlaubt eine Kollisionslage zu vermeiden, dieser keine Nachrangigkeit dieser Pflicht begründet. Dem ist beizupflichten, weil der Erfüllungsspielraum allein aus der Struktur der Schutzpflichten als positiven Pflichten resultiert. Damit ist auch das Hauptargument gegen eine Höherrangigkeit der Achtungspflichten aufgrund ihres höheren Bestimmtheitsgrades genannt. Die Begründung eines Rangverhältnisses zwischen den beiden Pflichten unter Rückgriff auf deren Bestimmtheit blendet die strukturellen Unterschiede der Pflichtenarten aus. Zwar sind beide Pflichtenarten final ausgerichtet: Achtungspflichten auf das Unterlassen verfassungswidriger Grundrechtseingriffe und grundrechtliche Schutzpflichten auf die Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzniveaus. Bei den grundrechtlichen Schutzpflichten tritt indes darüber hinaus stets noch das Mittel zur Zielerreichung hinzu, welches, wie oben ausgeführt, zahlreiche Erscheinungsformen haben kann. Dieser Unterschied rührt jedoch allein daher, dass es sich bei Achtungspflichten um negative und bei Schutzpflichten um positive Pflichten handelt. Hieraus im Ergebnis auf eine mindere Geltungskraft der grundrechtlichen Schutzpflichten zu schließen kann nicht überzeugen. Ferner liefe eine übermäßige Bestimmtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten ihrem Ziel, einem effektiven Grundrechtsschutz, zuwider. Eine zu starke Einengung des Gestaltungsspielraums würde dem Staat möglicherweise effektivere Schutzmaßnahmen abschneiden. Die Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflichten sind aber gerade auf ein gewisses Maß an Flexibilität angewiesen. Die im Vergleich höhere Unbestimmtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten kann daher im Ergebnis nicht zu ihrer Herabwürdigung im Verhältnis zu Abwehrrechten führen122. Dafür spricht nicht zuletzt auch, dass der angesprochene Spielraum Grenzen hat. Die staatliche Gewalt kann nicht nach eigenem Gutdünken ihren Schutzverpflichtungen nachkommen, sondern hat sich innerhalb des vorgezeichneten Rahmens zu bewegen.

122  So auch Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 70), S. 181; Mayer, Untermaß (Fn. 101), S. 146; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 60), S. 509.



F. Manko der Mediatisierungsbedürftigkeit103

E. Vorrang der Achtungspflicht wegen Eingriffsschwelle Hong geht davon aus, dass sich ein Vorrang der abwehrrechtlichen Dimension gegenüber den Schutzpflichten jedenfalls bereichsspezifisch aus den grundrechtlichen Eingriffsschwellen ergäbe123. Damit meint er, dass für jeden Eingriff ein bestimmtes Maß an Schadenswahrscheinlichkeit bestehen muss, unterhalb dessen ein Eingriff unzulässig wäre124. Zum anderen können Eingriffe nur vorgenommen werden, wenn das hinter dem Zweck des Eingriffs stehende rechtfertigende Interesse ein gewisses „Schwellengewicht“ erreicht125. Dies ist grundsätzlich richtig, erklärt aber nicht, wieso hieraus ein Vorrang der Achtungspflicht herzuleiten ist. Auch die grundrechtlichen Schutzpflichten haben – wie oben dargestellt – eine Reaktionsschwelle, ab welcher sie aktiviert werden, mithin eine staatliche Aktion erforderlich wird. Diese Schwelle ist ebenso abhängig von der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, schließlich ist diese Bestandteil der Gefahr. Staatliches Unterlassen unterhalb dieser Grenze ist daher ebenso rechtfertigungsbedürftig. Im Ergebnis überzeugt es nicht, aus der Eingriffsschwelle einen Vorrang der Achtungspflicht abzuleiten.

F. Manko der Mediatisierungsbedürftigkeit Ist zur Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht ein Eingriff in Grundrechte Dritter nötig, so bedarf die Exekutive hierzu aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage126. Auch wenn die Schutzpflichten ebenso wie die Achtungspflichten verfassungsunmittelbare Pflichten sind, bedarf ihr Vollzug durch die Verwaltung in diesen Fällen demnach zunächst die Umsetzung in einfaches Gesetzesrecht. Sie können grundsätzlich den Vorbehalt des Gesetzes nicht durchbrechen127. Im Gegensatz zu den Achtungspflichten sind sie daher nicht self-executing128. Aus diesem Grund und weil sie als solche äußerst abstrakt und unbestimmt sind, werden sie als mediatisierungsbedürftig bezeichnet129. 123  Hong,

Grundrechte (Fn. 2), S. 116 ff. Grundrechte (Fn. 2), S. 116. 125  Hong, Grundrechte (Fn. 2), S. 116. 126  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S.  559 f.; Brüning, Voraussetzungen (Fn. 111), S. 957; Vosgerau, Kollision (Fn. 97), S. 369; Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 102. 127  Dietlein, Lehre (Fn. 16), S. 67 ff.; G. Hermes/S. Walther, Schwangerschaftsabbruch zwischen Recht und Unrecht – Das zweite Abtreibungsurteil des BVerfG und seine Folgen, in: NJW 1993, S. 2337 (2339); Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S.  553 ff.; Vosgerau, Kollision (Fn. 97), S. 369. 128  Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 102; Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 283. 129  Isensee, Grundrecht (Fn. 15), S. 44. 124  Hong,

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

Aus eben dieser Mediatisierungsbedürftigkeit wird teilweise auf eine Asymmetrie der beiden Pflichtenarten geschlossen, welche zugunsten der verfassungsunmittelbar wirkenden Achtungspflichten ausschlage130. Die Gesetzesmediatisierung, welche zwischen dem anfänglichen Normbefehl der Schutzpflicht und der Entfaltung ihrer praktischen Wirksamkeit steht, begründe hiernach deren niederen Rang, weil sie im Vergleich zu den Achtungspflichten nicht verfassungsunmittelbar wirke, sondern ihr Schutz allein durch einfaches Gesetzesrecht vermittelt werde. In abgeschwächter Form wird von Winkeler vertreten, dass ein Primat der Achtungspflicht nur dann nicht bestehe, wenn eine Mediatisierung erfolgt ist131. Damit spricht er sich grundsätzlich dennoch für ein Primat der Achtungspflicht aus. Der von den Vertretern dieser Auffassung vorgenommene Rückgriff auf das Kriterium der Unmittelbarkeit als Ausdruck der Nähe erscheint per se geeignet, eine Höherwertigkeit der Achtungspflichten zu begründen. Ihr liegt die schlüssige Prämisse zugrunde, dass die Wertigkeit einer Pflicht mit ihrer Nähe zur Verfassung steigt. Dies entspricht dem allgemeinen Verständnis der Normenhierarchie im deutschen Verfassungsrecht, wonach beispielsweise Verfassungsrecht über einfachem Gesetzesrecht steht. Die Achtungspflichten, als originär der Verfassung entstammende Pflichten, müssten demnach an der Spitze einer solchen Hierarchie stehen. In Bezug auf das abstrakte Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten bestehen jedoch verschiedene Einwände, die an der Brauchbarkeit dieses Kriteriums in dem hier in Frage stehenden Zusammenhang zweifeln lassen.

I. Ausnahmen vom Dogma der Mediatisierungsbedürftigkeit Die staatliche Gewalt sah sich in der Vergangenheit vereinzelt Situationen ausgesetzt, in denen sie zur Abwendung schwerer Gefahren unter Missachtung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes handelte, weil keine einfachgesetzliche Ermächtigung vorhanden war132. Bekanntestes Beispiel in diesem Zusammenhang ist wohl der Diethylenglykol-Fall, in dem der Bundesminister Kenntnis davon erhielt, dass im Umlauf befindliche Weine mit Diethylenglykol versetzt sind, welches potentiell lebensgefährlich für ge130  H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 110 (1985), S. 363 (395); Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S. 558 f.; J. Kersten, Die Tötung von Unbeteiligten, in: NVwZ 2005, S. 661 (662); Reimer, Schwäche (Fn. 44), S. 606; Hong erblickt hierin eine formale Risikoverteilung, die sich zulasten der Schutzpflicht auswirken kann, Grundrechte (Fn. 2), S. 115 f. 131  Winkeler, Gefahrenabwehrmaßnahmen (Fn. 49), S. 177. 132  BVerfGE 105, 279 (301); BVerwGE 82, 76 (79 ff.); 87, 37 (47 ff.).



F. Manko der Mediatisierungsbedürftigkeit105

sundheitlich angeschlagene Teile der Bevölkerung ist. Obwohl keine gesetzliche Grundlage für eine entsprechende Warnung der Bevölkerung bestand, warnte der Minister trotzdem. Sowohl das Bundesverwaltungsgericht133 als auch das Bundesverfassungsgericht134 bestätigten im Nachhinein die Verfassungsmäßigkeit seines Vorgehens und legitimierten den grundrechtsdogmatisch bedenklichen Schluss von der Aufgabe eines Organs auf dessen Befugnisse. Durch eine untypisch bewusst restriktive Auslegung des Schutzbereichs war es möglich das Vorliegen eines Grundrechtseingriffs zu verneinen, was faktisch zu einer Aufweichung der formalrechtsstaatlichen Anforderung des Vorbehalts des Gesetzes führte135. Dies belegt, dass gerade in Extremsitua­ tionen, in denen ein vermeintlich immenser Schaden droht, die Mediatisierungsbedürftigkeit der Schutzpflicht nicht uneingeschränkt zu gelten scheint. Handlungsunfähigkeit in Situationen größter Not, basierend auf einem Defizit auf der legislativen Ebene, kann die Mediatisierungsbedürftigkeit hiernach offenbar überwinden, indem es den Vorbehalt des Gesetzes um des Ergebnisses willen – der Schutzgewährung – aushebelt136. Darüber hinaus gehen wohl noch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Schleyer-Beschluss137. Maßnahmen zur Bewältigung terroristischer Erpressungen entziehen sich hiernach der Regelbarkeit durch den Gesetzgeber138. Zugleich geht das Gericht aber von einer grundsätzlichen Handlungsfähigkeit der staatlichen Gewalt aus139. Im Ergebnis wird daher gar die Mediatisierungsfähigkeit der grundrechtlichen Schutzpflicht für den Bereich des Schutzes gegen lebensbedrohende terroristische Erpressungen verneint140. Auch wenn es sich hierbei um einen (weiteren) Einzelfall handeln mag, drängt sich der Eindruck auf, dass der Vorbehalt des Gesetzes für die im Rahmen dieser Untersuchung relevanten Ausnahmesituationen, welche aufgrund eines hohen Schadenspotentials durch einen dringenden Handlungsbedarf charakterisiert sind, nicht konsequent durchgehalten wird. Gilt 133  BVerwGE

87, 37 (47 ff.). 105, 252 (265 ff.). 135  Kritisch dazu insbesondere F. Schoch, Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit, in: DVBl. 1991, S. 667 ff.; J. H. Klement, Der Vorbehalt des Gesetzes für das Unvorhersehbare, in: DÖV 2005, S. 507 ff. 136  W. Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, in: Der Staat 35 (1996), S. 67 (78); Vosgerau, Kollision (Fn. 97), S. 371. 137  BVerfGE 46, 160 (165). 138  BVerfGE 46, 160 (165): „Die Eigenart des Schutzes gegen lebensbedrohende terroristische Erpressungen ist dadurch gekennzeichnet, daß die gebotenen Maßnahmen der Vielfalt singulärer Lagen angepaßt sein müssen. Sie können weder generell im voraus normiert noch aus einem Individualgrundrecht als Norm hergeleitet werden.“ 139  BVerfGE 46, 160 (165). 140  Vosgerau, Kollision (Fn. 97), S. 353 f. 134  BVerfGE

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

die Mediatisierungsbedürftigkeit daher nicht ausnahmslos, kann sie auch kein Argument für einen prinzipiellen Vorrang der Achtungspflicht sein.

II. Fortgeschrittener Stand der Mediatisierung Gegen die Mediatisierungsbedürftigkeit als Argument für eine Minderwertigkeit der grundrechtlichen Schutzpflichten lässt sich zudem ein faktischer Einwand anbringen. Die Schutzpflichten sind bereits weitgehend mediatisiert141. Der Exekutive stehen zur Reaktion auf die allermeisten Übergriffe von privaten Dritten entsprechende Ermächtigungsgrundlagen zur Verfügung. Insbesondere im Polizei- und Ordnungsrecht sind neben den ausdifferenzierten und auf spezielle Sachverhalte ausgerichteten Standardmaßnahmen Generalklauseln vorhanden. Letztere existieren gerade aus dem Grund, der vollziehenden Gewalt eine flexible Reaktion auf unbekannte Gefahren jeglicher Art zu ermöglichen. Sie zeichnen sich daher gerade durch eine tatbestandliche Offenheit aus. Allerdings kann für schwerwiegende Grundrechtseingriffe aufgrund des Bestimmtheitsgebots nicht auf sie zurückgegriffen werden142. Es zeigt sich aber, dass die Mediatisierung der grundrechtlichen Schutzpflichten heute bereits weitestgehend erfolgt ist. Auch wenn dies für die im Rahmen dieser Untersuchung relevanten Ausnahmesituationen nicht der Fall sein mag, so bleibt zu berücksichtigen, dass diese nur einen kleinen Ausschnitt der nahezu endlosen Konstellationen darstellen, in denen private Dritte in Freiheitsbereiche anderer übergreifen. Für die generelle Frage nach einem prinzipiellen Vorrang der Achtungspflicht sind sie demnach nur von geringer Bedeutung. Weitergehend wird von Vosgerau gar die Auffassung vertreten, den polizeirechtlichen Generalklauseln komme ohnehin nur ein rein formeller Charakter zu143. Er begründet dies damit, dass diese inhaltlich nicht über den Grund für die Existenz der Polizei – die Gefahrenabwehr – hinausgingen, mithin die Befugnisnorm eine reine Wiederholung der Aufgabe darstelle144. Sie könnten daher auch weggedacht werden, ohne, dass sich das Handeln der Polizei grundlegend verändern würde145. Der Regelungsgehalt der Generalklauseln sei daher als „rein formell“ zu bewerten, da es sie nur gäbe, um den 141  Wahl/Masing, Schutz (Fn. 105), S. 560; M. Möstl, Probleme der verfassungsprozessualen Geltendmachung gesetzgeberischer Schutzpflichten, in: DÖV 1998, S. 1029 (1030); Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 285; Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 102. 142  BVerwGE 115, 189 (194). 143  Vosgerau, Kollision (Fn. 97), S. 371 f. 144  Vosgerau, Kollision (Fn. 97), S. 371. 145  Vosgerau, Kollision (Fn. 97), S. 372.



F. Manko der Mediatisierungsbedürftigkeit

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Ordnungsbehörden eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage an die Hand zu geben und dem Vorbehalt des Gesetzes Genüge zu tun146. Im Kern spricht er sich damit gegen das Erfordernis der Mediatisierungsbedürftigkeit aus. Hinzu käme, dass an die Gesetzesmediatisierung im Bereich des Gefahrenabwehrrechts nur geringe Anforderungen gestellt werden147. Er belegt dies mit einem Verweis auf die nordrhein-westfälische Regelung des polizeilichen Todesschusses und spricht diesbezüglich von einer sehr „mittelbaren“ Media­ tisierung148. Tatsächlich sind die grundrechtlichen Schutzpflichten im Großen und Ganzen mediatisiert und daher nicht (mehr) mediatisierungsbedürftig. Dies nimmt dem Schluss von der Mediatisierungsbedürftigkeit der Schutzpflichten auf deren Nachrangigkeit im Verhältnis zu den Achtungspflichten einiges an Überzeugungskraft. Sie können vielmehr aufgrund der bereits vorhandenen legislativen Ausgestaltung durch das einfache Recht wirken, weil sie diesem materielle Legitimation verschaffen149.

III. Zwischenfazit Die Ableitung eines prinzipiellen Vorrangs der Achtungspflichten aus der Mediatisierungsbedürftigkeit der grundrechtlichen Schutzpflichten überzeugt nicht. Das Erfordernis der Mediatisierung scheint nicht ausnahmslos zu gelten. Darüber hinaus betrifft die Mediatisierungsbedürftigkeit nur die Verwaltung als eine von insgesamt drei Gewalten und die Mediatisierung ist bereits größtenteils erfolgt. Abgesehen davon sind beide Pflichten ausweislich der Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG verfassungsunmittelbarer Natur und verpflichten die gesamte staatliche Gewalt. Dass die grundrechtlichen Schutzpflichten erst über den „Umweg“ des einfachen Rechts für die vollziehende Gewalt praktische Wirksamkeit erlangen können, kann ihnen im Fall der Kollision mit Achtungspflichten nicht zum Nachteil gereichen. Auch wenn sie des Vehikels des Gesetzes bedürfen, stehen auch die grundrechtlichen Schutzpflichten auf dem Fundament der Verfassung150. Beide teilen mit der Verfassung dieselbe Rechtsquelle. Die Schutzpflichten bilden den materialen Unterbau der jewei146  Vosgerau,

Kollision (Fn. 97), S. 371 f. Kollision (Fn. 97), S. 376. 148  Vosgerau, Kollision (Fn. 97), S. 376. 149  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 289. 150  J. Isensee, Leben gegen Leben, Das grundrechtliche Dilemma des Terrorangriffs mit gekapertem Passagierflugzeug, in: M. Pawlik/R. Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs zum 70.  Geburtstag am 26.  Juli 2007, 2007, S. 205 (228 f.); Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 82 ff. 147  Vosgerau,

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

ligen Eingriffsnorm und rechtfertigen diese „als grundrechtsbeschränkende Mittel zum grundrechtswahrenden Zweck.“151 Auch Institutsgarantien wie zum Beispiel das in Art. 14 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf Eigentum sind auf gesetzliche Ausformung angewiesen und werden erst durch Legislativakte operationabel152. Deswegen ist das Grundrecht auf Eigentum, gerät es mit anderen grundrechtlichen Schutzgütern in Konflikt, aber nicht prinzipiell nachrangig. Die Mediatisierungsbedürftigkeit der grundrechtlichen Schutzpflichten führt daher nicht zu einer Abwertung der Schutzfunktion der Grundrechte.

G. Subjektiv-rechtliche Dimension versus objektiv-rechtliche Dimension Die Achtungspflichten sind der subjektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte zuzuordnen. Die grundrechtlichen Schutzpflichten werden demgegenüber nach überwiegender Auffassung aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte hergeleitet153. Diese Zweidimensionalität der Grundrechte wird heute nicht mehr grundsätzlich angezweifelt154. Weiterhin unklar ist demgegenüber, wie diesen beiden Dimensionen zueinander stehen. Nach verbreiteter Auffassung kommt der objektiv-rechtlichen Dimension ein geringerer Schutz durch das Grundgesetz zu155. Träfe dies zu und würde sich dieses Defizit an Wirkkraft auch auf die grundrechtlichen Schutzpflichten durchschlagen, so ließe sich hieraus ein Primat der Achtungspflichten herleiten. Bevor aber auf das Verhältnis der beiden Grundrechtsdimensionen zueinander eingegangen werden kann, gilt es sich Klarheit über die Begrifflichkei151  H. D. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen. Objektive Grundrechtsgehalte, insbes. Schutzpflichten und privatrechtsgestaltende Wirkung, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 35 (40); Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 289. 152  Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 10), S. 199. 153  Vgl. dazu 1. Kap. C. I. 2. a) Herleitung des Bundesverfassungsgerichts, S. 48 ff. 154  BVerfGE 39, 1 (41); 49, 89 (141 f.); 50, 290 (337); 68, 193 (205); 74, 297 (323); 96, 56 (64); 115, 320 (358); Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 10), S. 76 ff.; Jarass, Grundrechte (Fn. 151), S. 35 ff.; K. Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof, HStR IX (Fn. 22), § 185 Rn. 52; Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 102; dagegen aber W. Cremer, Der sogenannte objektivrechtliche Gehalt der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: W. Erbguth/F. Müller/V. Neumann (Hrsg.), Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch Gedächtnisschrift für Bernd Jeand’Heur, 1999, S. 59 ff. 155  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 130), S. 384; Brüning, Voraussetzungen (Fn. 111), S. 958; M. Herdegen, in: T. Maunz/G. Dürig u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 3 (2005), Rn. 17; C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 171 ff.



G. Subjektiv-rechtliche Dimension versus objektiv-rechtliche Dimension 109

ten zu verschaffen. Die Bezeichnung der Dimensionen der Grundrechte als subjektiv-rechtlich und objektiv-rechtlich suggeriert schließlich auf den ersten Blick eine Gegensätzlichkeit der Wirkungsweisen der hieraus folgenden Grundrechtsfunktionen. Zugleich gerät die objektiv-rechtliche Dimension bereits mit ihrer Taufe als „objektiv-rechtlich“ ins Hintertreffen, wird dadurch doch zum Ausdruck gebracht, dass sie im Gegensatz zur subjektivrechtlichen Dimension keine Individualrechte zu vermitteln vermag. Fraglich ist daher zunächst, ob die gewählten Bezeichnungen in Übereinstimmung mit ihrem eigentlichen Bedeutungsinhalt stehen.

I. Objektives und subjektives Recht in der Rechtslehre In der Rechtslehre bezeichnet der Begriff des objektiven Rechts die Gesamtheit aller Rechtsvorschriften in einer Rechtsordnung156. Darunter fallen demnach auch die Grundrechte als Teil des Grundgesetzes. Weniger eindeutig ist, was unter einem subjektiven Recht zu verstehen ist157. Für diese Untersuchung wird es als eine durchsetzbare (einklagbare) Berechtigung verstanden, die sich für den Einzelnen aus den Vorschriften des objektiven Rechts ergibt158. Notwendige Bestandteile des subjektiven Rechts sind damit stets der Träger des Rechts, der Adressat des Rechts und sein Gegenstand (Recht auf etwas)159. Dies wird auch als dreistellige Relation bezeichnet160. Einem subjektiven Recht entspricht dabei stets eine Pflicht. „Objektives“ und „subjektives Recht“ beziehen sich also beide auf denselben Gegenstand – das „Recht“ – sind dabei aber Ausdruck verschiedener Fragestellungen161. Anders gewendet, „objektives Recht und subjektive Rechte oder Pflichten sind zwei verschiedene Seiten derselben Medaille.“162 Entscheidend ist, dass ein 156  K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 407; B. Rüthers/ C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Aufl. 2013, § 2 Rn. 61. 157  Historische Übersicht bei M. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 3. Aufl. 2014, § 24 Rn. 1; das subjektive Recht wurde im Laufe der Zeit unter anderem als „Willensmacht“ bei F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, § 4; „rechtlich geschütztes Interesse“ R. v. Jhering, Geist des römischen Rechts, Teil  III, 1924, S. 337 ff.; oder auch „Anspruchs- und Gestaltungsrecht“, B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Aufl. bearbeitet durch T. Kipp, 1906, Bd. 1, § 37 definiert. 158  Röhl/Röhl, Rechtslehre (Fn. 156), S. 407; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 156), § 2 Rn. 63. 159  R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S. 171 f.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 156), § 2 Rn. 63. 160  Alexy, Theorie (Fn. 159), S. 171 f. 161  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 156), § 2 Rn. 63. 162  Röhl/Röhl, Rechtslehre (Fn. 156), S. 407.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

subjektives Recht nur mit einer entsprechenden objektiv-rechtlichen Verpflichtung denkbar ist, wohingegen objektives Recht auch ohne subjektive Berechtigung konstruierbar ist163. Für sich genommen ist das objektive Recht damit im Vergleich zum subjektiven Recht defizitär, weil es dem Verpflichteten zwar eine rechtliche Bindung auferlegt, diese aber nicht vom Betroffenen durchgesetzt werden kann164. Ließen sich die subjektiv-rechtliche und die objektiv-rechtliche Dimension also in subjektives und objektives Recht unterteilen, so wäre ein Vorrang der Abwehrfunktion offenbar.

II. Inkongruenz der überkommenen Bezeichnungen Überträgt man die vorgenannten grundlegenden rechtstheoretischen Überlegungen auf die Grundrechtsdogmatik stellt sich das Bild allerdings wie folgt dar: Die klassische abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte als Hauptausformung der subjektiv-rechtlichen Dimension vermittelt den Grundrechtsträgern (Berechtigten) Abwehrrechte gegen den Staat. Die Grundrechtsträger sind berechtigt, von der staatlichen Gewalt (Verpflichteter) die Unterlassung verfassungswidriger Grundrechtseingriffe (Recht auf etwas) zu fordern. Der einzelne Grundrechtsberechtigte ist aufgrund von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG ferner in der Lage, diese Rechte mittels der Verfassungsbeschwerde oder auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Es handelt sich bei den Grundrechten in ihrer abwehrrechtlichen Funktion also eindeutig um subjektive Rechte. Zugleich sind Grundrechte aber auch objektive Normen, welche dem Staat verfassungswidrige Eingriffe in die Schutzbereiche der Grundrechte untersagen, unabhängig davon, ob der Bürger sein jeweiliges subjektives Recht geltend macht165. Hierher rührt die Bezeichnung der Abwehrrechte als negative Kompetenzbestimmungen166. Durch die Abwehrrechte werden beim Staat somit zugleich inhaltsgleiche Verpflichtungen gegenüber den Grundrechtsberechtigten etabliert. Dies beschreibt das objektiv-rechtliche Pendant der Abwehrrechte, die Achtungspflichten. Die Abwehrfunktion der Grundrechte als Teil ihrer „subjektiv-rechtlichen“ Dimension setzt sich somit sowohl aus objektiv-rechtlichen als auch aus subjektiv-rechtlichen Elementen zusammen. Die rechtstheoretische Einordnung der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte und insbesondere der grundrechtlichen Schutzpflichten als eine 163  Alexy, Theorie (Fn. 159), S. 171 ff. u. 181; Stern Staatsrecht III/1 (Fn. 33), S. 979; Cremer, Gehalt (Fn. 154), S. 62. 164  Cremer, Gehalt (Fn. 154), S. 62. 165  Jarass, Wertentscheidungen (Fn. 130), S. 368. 166  K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 291.



G. Subjektiv-rechtliche Dimension versus objektiv-rechtliche Dimension 111

ihrer Ausdeutungen stellt sich indes ungleich schwieriger dar. Dies liegt vor allem daran, dass der Begriff des „objektiven“ in diesem Zusammenhang nie klar definiert, sondern mit zahlreichen Ausdrücken zu umschreiben versucht wurde167. Schlüssig zu begründen wäre ein Vorrang der subjektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte, wenn die objektiv-rechtliche Dimension allein objektive Wirkungen beschreiben würde, mithin Pflichten, denen keine subjektiven Rechte korrespondieren168. Dies scheint für die grundrechtlichen Schutzpflichten nahe zu liegen, leiten sie sich doch aus der „objektiven Wertordnung“ des Grundgesetzes beziehungsweise den „objektivrechtlichen Gehalten“ der Grundrechte ab. Zudem verpflichten die grundrechtlichen Schutzpflichten allein den Staat als Adressaten. Ginge man nunmehr aber davon aus, dass mit den grundrechtlichen Schutzpflichten kein subjektives Recht einhergeht, so besteht die Gefahr, dass diese rein objektiven Pflichten zu bloßen Programmvorschriften mit verminderter Geltung verkommen169. Zwingende Konsequenz wäre dann, die Grundrechte hinsichtlich ihrer Schutzkomponente als unvollständige Rechtsnormen zu begreifen170. Ihnen käme danach allein Prinzipiencharakter zu171. Subjektive Rechte auf Schutz könnten sie nur vermitteln, wenn sie durch einfaches Recht konkretisiert worden sind172. Einem solchen Verständnis der grundrechtlichen Schutzpflichten steht allerdings entgegen, dass sowohl Rechtsprechung als auch Literatur weitestgehend der Auffassung sind, dass auch den grundrechtlichen Schutzpflichten ein subjektiv-rechtliches Element zukommt, sie mithin ein Recht auf Schutz gewährleisten173. Zwar hatte sich das Bundesverfassungsgericht diesbezüglich zunächst nicht eindeutig positioniert174. Im Urteil zum Schwangerschaftsabbruch hat es die Frage ausdrücklich offen gelassen175. In der Folge 167  R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, in: Der Staat 29 (1990), S. 49 (51). 168  Alexy, Grundrechte (Fn. 167), S. 53. 169  Röhl/Röhl, Rechtslehre (Fn. 156), S. 407, 412. 170  Röhl/Röhl, Rechtslehre (Fn. 156), S. 415. 171  Röhl/Röhl, Rechtslehre (Fn. 156), S. 416 f. 172  Röhl/Röhl, Rechtslehre (Fn. 156), S. 416 f. 173  BVerfGE 77, 170 (214 f.); 79, 174 (201 f.); 97, 298 (313); 125, 39 (78); Dietlein, Lehre (Fn. 16), S. 144 ff., 159 ff., 173 ff.; H. D. Jarass, Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 38 Rn. 9; Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 322 m. w. N.; Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 95; G. Manssen, Staatsrecht II Grundrechte, 11. Aufl. 2014, Rn. 49  ff.; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 96), Rn. 116 ff. 174  BVerfGE 30, 173 (188); 35, 79 (112) heben vor allem die objektiv-rechtliche Dimension des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG hervor. 175  BVerfGE 39, 1 (41 f.); ähnlich auch BVerfGE 40, 141 (177 f.).

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

ging das Bundesverfassungsgericht dann aber teilweise stillschweigend176 von der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde aus oder erwähnte diese Möglichkeit gar ausdrücklich177. Eine Verletzung der Schutzpflicht bedeutet hiernach zugleich eine Verletzung des betroffenen Grundrechts178. Den grundrechtlichen Schutzpflichten korrespondiert demnach ein Schutzrecht. Genau wie die Abwehrfunktion der Grundrechte setzt sich daher auch ihre Schutzfunktion sowohl aus objektiv-rechtlichen als auch aus subjektivrechtlichen Elementen zusammen179.

III. Zwischenfazit Der nach ihrer Bezeichnung suggerierte Gegensatz von objektiv-rechtlicher und subjektiv-rechtlicher Dimension stellt sich aus rechtstheoretischer Sicht als nicht existent dar. Die moderne Grundrechtsdogmatik meint nicht objektive Rechte im technischen Sinne der klassischen Rechtslehre, wenn sie von objektivrechtlichen Gehalten der Grundrechte oder von deren objektiv-rechtlicher Dimension spricht180. Die objektiv-rechtliche Dimension stellt daher auch nicht das Spiegelbild oder Gegenstück zur subjektiv-rechtlichen Dimension dar. Es handelt sich um schlichtweg andere Wirkungen, welche unter Umständen ebenso von den Abwehrrechten verschiedene subjektive Rechte vermitteln können. Dies wird auch durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt, welches bereits in der Lüth-Entscheidung darauf hinwies, dass die objektiv-rechtlichen Dimensionen nicht als Gegensatz zu den subjektivrechtlichen Bedeutungsgehalten verstanden werden dürfen181. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht selbst den Begriff „objektiv-rechtlich“ vergleichsweise selten verwendet182, sondern oftmals vom „objektiven Gehalt“183, von „objektiver Grundentscheidung“184, „objektiver Wertentschei­ 176  BVerfGE

56, 54 (70 ff.). 46, 160 (163 f.); 53, 30 (48, 57 f.); 77, 170 (214). 178  Weitere Nachweise: BVerfGE 77, 170 (214); 79, 174 (201 f.); Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 321 ff.; E. Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, in: NJW 1989, S. 1633 (1637); H. H. Klein, Die grundrechtliche Schutzpflicht, in: DVBl. 1994, S. 489 (493 f.); P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 62 ff.; Möstl, Geltendmachung (Fn. 141), S. 1032, 1035; Dietlein, Lehre (Fn. 16), S. 152 ff.; L. Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich, 2012, S. 117 ff.; D. Murswiek, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 2 Rn. 24. 179  H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Vorb. vor Art. 1 Rn. 6. 180  Jarass (Fn. 173), § 38 Rn. 8. 181  BVerfGE 7, 198 (205). 182  BVerfGE 49, 89 (142); 53, 30 (57). 183  BVerfGE 85, 191 (212); 92, 26 (46); 97, 169 (176); 98, 365 (395). 184  BVerfGE 81, 242 (254); 85, 191 (213). 177  BVerfGE



H. Keine reine Verstärkungsfunktion objektiver Gehalte 113

dung“185, von „der objektiven Bedeutung“186 sowie von „objektiver Ord­ nung“187 spricht. Entsprechend verwendet das Bundesverfassungsgericht auch nicht den Begriff „subjektiv-rechtlich“, sondern bezeichnet die Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion als „subjektive Abwehrrechte“188, „Abwehrrechte“189 oder spricht vom „Schutz vor Eingriffen der Staatsgewalt in eine dem Individuum verbürgte Freiheitssphäre“190. Die Unterteilung in subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Dimensionen hat damit reinen Ordnungscharakter. Grund für die Wahl der Begrifflichkeiten „objektiv-rechtlich“ und „subjektiv-rechtlich“ im Zusammenhang mit den Dimensionen der Grundrechte ist das früher vorherrschende Verständnis, das die Grundrechte als „objektive“ Programmsätze verstand, weil diese keine subjektiven Rechte vermittelten191. Die Unterscheidung zwischen objektiv-rechtlicher und subjektiv-rechtlicher Dimension ist damit als solche nicht geeignet, eine Aussage über die Geltungskraft der hieraus im Einzelnen folgenden Funktionen zu machen192. Achtungs- und Schutzpflichten stellen beide objektiv-rechtliche an den Staat gerichtete Verhaltensgebote dar, welche vom Grundrechtsträger als subjektives Recht durchgesetzt werden können193. Dies spricht von einem rechtstheoretischen Standpunkt aus vielmehr für die Gleichwertigkeit der beiden Pflichtenarten.

H. Keine reine Verstärkungsfunktion objektiver Gehalte Den objektivrechtlichen Grundrechtsgehalten wird oftmals lediglich eine Verstärkungsfunktion beigemessen. Dabei betonte das Bundesverfassungsgericht zunächst das Nebeneinander von objektivrechtlichen Grundrechtsgehalten und den Grundrechten in ihrer abwehrrechtlichen Funktion194. In der Folgezeit stellte es jedoch mehrfach heraus, dass die Funktion der objektivrechtlichen Grundrechtsgehalte in der prinzipiellen Verstärkung der Gel185  BVerfGE

7, 198 (205); 94, 268 (285). 96, 56 (64). 187  BVerfGE 98, 365 (395). 188  BVerfGE 49, 89 (141); 77, 170 (214); 80, 124 (133); 96, 56 (64). 189  BVerfGE 90, 1 (11). 190  BVerfGE 92, 26 (46). 191  D. Wenger, Die objektive Verwertung der Grundrechte, in: AöR 130 (2005), S. 618 (618); Sachs, in: ders., GG (Fn. 178), Vor Art. 1 Rn. 29. 192  In der Sache genauso Ekardt, Mulitpolarität (Fn 57), S. 138. 193  Mayer, Untermaß (Fn.  101), S.  148  f.; Lee, Grundrechtsschutz (Fn.  102), S. 301. 194  BVerfGE 6, 55 (72 ff.). 186  BVerfGE

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

tungskraft der Grundrechte als Abwehrrechte liege195. Der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte habe seine Wurzel in der primären abwehrrechtlichen Bedeutung und ließe sich daher nicht von dem eigentlichen Kern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbstständigen, in welchem der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurückträte196. „Die wertsetzende Kraft, die den Grundrechten als Teil der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes zukommt, führt nicht zu einer Erweiterung ihres Schutzbereichs in dem Sinne, dass das thematisch berührte Grundrecht als objektive Norm auch Werte schützt, die es als subjektives Abwehrrecht nicht erfasst.“197 Indem das Bundesverfassungsgericht die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte darauf reduziert, die Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion zu unterstützen, bringt es zugleich zum Ausdruck, dass diese als sekundär zu verstehen sind. Dies wird noch unterstrichen mit dem Hinweis auf den abwehrrechtlichen Ursprung der objektiv-rechtlichen Gehalte, weshalb die Abwehrfunktion stets in ihrer originären Form erhalten bleiben müsse. In der Literatur finden sich einige vergleichbare Äußerungen. Cremer führt aus, dass neue Grundrechtsfunktionen die gesicherte Abwehrfunktion der Grundrechte nicht konterkarieren dürfen198. Zur Unterstützung dieser These beruft er sich auf Isensee, welcher davon ausgeht, dass alle weiteren Funk­ tionen ergänzend zur Abwehrfunktion hinzutreten, diese „Hauptfunktion aber nicht modifizieren, verdrängen oder ersetzen“ dürfen199. Auch Dolderer versteht die neuen Grundrechtsfunktionen „als zusätzliche, die Wirkkraft der Grundrechte insgesamt verbreiternde und ergänzende Komplementärfunk­ tionen“200. Diesen Äußerungen ließe sich eine prinzipielle Vorrangigkeit der Achtungspflichten für den Fall der Kollision mit den Schutzpflichten entnehmen. Dürfen die Schutzpflichten die Achtungspflichten nicht konterkarieren, sondern allenfalls verstärken, so müssen sie von niederem Rang sein.

I. Reine Verstärkungsfunktion Die Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts lassen nicht eindeutig erkennen, ob es explizit eine Nachrangigkeit der grundrechtlichen Schutz195  BVerfGE

(358).

196  BVerfGE

7, 198 (205); 50, 290 (337); 57, 295 (319 f.); 68, 193 (205); 115, 320

50, 290 (337); 115, 320 (358). 2, 305 (310); vgl. auch BVerfGE 102, 254 (300, Rn. 245). 198  Cremer, Freiheitsgrundrechte (Fn. 48), S. 72. 199  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 31. 200  Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 10), S. 270. 197  BVerfGK



H. Keine reine Verstärkungsfunktion objektiver Gehalte 115

pflichten im Verhältnis zu den Achtungspflichten zum Ausdruck bringen möchte, spricht es doch ganz allgemein von den objektivrechtlichen Gehalten der Grundrechte. Diese umfassen bekanntermaßen nicht allein die grundrechtlichen Schutzpflichten. Gegen eine Beschränkung der Schutzfunktion auf die alleinige Verstärkung der Abwehrfunktion spricht aber, dass nicht ersichtlich ist, wie die Schutzpflichtenfunktion zu einer Verstärkung der Abwehrfunktion beitragen soll. Erstere schirmen die grundrechtlichen Güter gegen Beeinträchtigung von nicht-staatlicher Seite ab. Demgegenüber dienen die Achtungspflichten dazu, die Grundrechtsträger vor übermäßigen Eingriffen des Staates zu bewahren. Mit diesen entgegengesetzten Zielrichtungen geht notwendigerweise auch ein sich nicht überschneidender Anwendungsbereich der beiden Grundrechtsfunktionen einher. Bezogen auf den einzelnen Grundrechtsträger stehen diese zueinander in einem Verhältnis der Alternativität201. Daher kann die Schutzpflichtenfunktion die Position des Bürgers im Fall eines Grundrechtseingriffs nicht verbessern, weil sie hier keine Anwendung findet. Von einer Verstärkung der originären Abwehrfunktion kann daher nicht gesprochen werden202. Dies können allenfalls die übrigen objektivrechtlichen Gehalte der Grundrechte leisten.

II. Umkehrung der abwehrrechtlichen Funktion Auch wenn die grundrechtlichen Schutzpflichten die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte nicht unterstützen können, stellt sich umgekehrt die Frage, ob sie diese nicht gegebenenfalls schwächen können. Teilweise wird gar befürchtet, dass bei einer Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht die vormals prägende Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat gänzlich verloren gehen könnte oder gar in ihr Gegenteil verkehrt würde203. Dahinter steht die Sorge, dass mit Anerkennung einer achtungspflichtäquivalenten Schutzpflicht die Gefahren staatlichen Machtmissbrauchs vervielfacht würden. Dies stützt sich auf folgende Überlegungen: Steht die Schutzpflicht der Achtungspflicht gleichberechtigt gegenüber, besteht eine größere Chance, dass sich die Schutzfunktion durchsetzt, als wenn von einem Primat der Achtungspflicht im oben benannten Sinne ausgegangen wird. Weil Achtungspflichten für den Bürger im Verhältnis zum Staat freiheitssichernd wirken (Sicherheit vor dem Staat), ließe sich argumentieren, dass diese Freiheit durch die grundrechtlichen Schutzpflichten, 201  Krings,

Grund (Fn. 57), S. 141. hingegen Krings, der beide Funktionen im Hinblick auf das Schutzgut der Freiheit betrachtet, Grund (Fn. 57), S. 141 f. 203  So die abw. Meinung W. Rupp-v. Brünneck/H. Simon, in: BVerfGE 39, 1 (73); T. Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, 2000, S. 329. 202  Anders

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

die dagegen der Sicherheit durch den Staat dienen, verkürzt wird. Sicherheit auf Kosten von Freiheit. Eine solche Entwicklung wäre mit einem liberalen Grundrechtsverständnis nicht zu vereinbaren204. Unbegründet ist diese Sorge in den typischen Zweierbeziehung zwischen Staat und Bürger. Hier können die Grundrechte allein in ihrer abwehrrechtlichen Funktion Wirkung entfalten205. Fraglich ist daher allein, ob im Dreiecksverhältnis eine Umkehrung der abwehrrechtlichen Funktion zu befürchten ist. Im eigentlichen Wortsinn, losgelöst von seinem musischen Bedeutungsgehalt, beschreibt der Begriff der Umkehrung einen Richtungswechsel um 180°. Übertragen auf die Abwehrfunktion der Grundrechte käme ihre Umkehrung folglich ihrer Aufgabe gleich. Entscheidend ist daher, ob eine solche durch die grundrechtlichen Schutzpflichten herbeigeführt wird. Versteht man Achtungsund Schutzpflichten im Dreiecksverhältnis als gleichwertige Pflichten, so ist nicht ersichtlich, wie dadurch ein solch massiver Bedeutungsverlust der Abwehrfunktion herbeigeführt werden kann. Bereits aus der Ebenbürtigkeit als solcher ergibt sich schließlich, dass beiden Pflichtenarten eine Existenzberechtigung zukommt. Die Abwehrfunktion würde daher nicht umgekehrt, sondern es würde (nur) ihre Präponderanz aufgehoben. Folge wäre eine verminderte Wirkkraft der Achtungspflichten, wenn grundrechtliche Schutzpflichten als materielle Grundlage für einen Schutzeingriff gegen diese in Stellung gebracht werden206. Befürchtet werden kann daher nicht die Umkehrung der Abwehrfunktion, sondern allein ihre Schwächung. Diese Entwicklung kann man als besorgniserregende Beschneidung der individuellen Freiheit des übergriffigen Dritten werten. Die für ihn streitende Achtungspflicht sieht sich mit Anerkennung einer gleichwertigen Schutzpflicht einem ebenbürtigen Gegenüber ausgesetzt. Dies ist aus Perspektive des Übergriffigen eine Verschlechterung im Vergleich zu einer Situation in welcher der Achtungspflicht eine höhere Wertigkeit zugesprochen wird als der Schutzpflicht. Maßgeblich für die grundsätzliche Bewertung der beiden Pflichtenarten kann aber nicht alleine die Perspektive des Übergriffigen sein. Eine solche Betrachtung ist zu einseitig, weil sie nicht die Interessen des von dem Übergriff Betroffenen berücksichtigt. Es ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund die Position des Betroffenen im Dreiecksverhältnis keine oder nur eine untergeordnete Berücksichtigung finden sollte. Abgesehen davon hat der Übergriffige selbst die Gefahr für ein grundrechtliches Schutzgut verursacht und nicht der Betroffene. Vor diesem Hintergrund scheinen die 204  Dazu unten unter 2. Kap. J. Liberale Grundrechtstheorie: in dubio pro libertate?, S.  131 ff. 205  In diesen Konstellationen können sich die grundrechtlichen Schutzpflichten mangels eines nichtstaatlichen Übergriffs schließlich nicht entfalten. 206  Dagegen Cremer, Freiheitsgrundrechte (Fn. 48), S. 71.



H. Keine reine Verstärkungsfunktion objektiver Gehalte 

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genannten Befürchtungen des Freiheitsverlustes aufseiten des Übergriffigen umso ungerechtfertigter. Schließlich ist der Sorge um einen Verlust individueller Freiheit entgegenzuhalten, dass auch die Freiheitsphäre des Übergriffigen nur insoweit eingeschränkt wird, wie es die Achtungspflichten eben zulassen. Die äußerste Grenze der durch den Schutzeingriff zu duldenden Beeinträchtigung wird aufseiten des Übergriffigen durch das Übermaßverbot markiert. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um ein bipolares oder mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis handelt. Der Staat hat somit im Einzelfall zu entscheiden, welcher Position er ein größeres Gewicht beimisst. Es ist seine Aufgabe die Freiheitsbereiche der Bürger voneinander abzugrenzen und bei Übergriffen zu behaupten. „Freiheitssicherung und Freiheitsbeschränkung sind also keine unvereinbaren Gegensätze, wie das erwähnte Sondervotum207 zu Unrecht meint, sondern im Interesse des Freiheitsschutzes bedarf es notwendigerweise auch der Freiheitsreglementierung.“208 Damit ist im Ergebnis nicht weniger Freiheit vorhanden als ohnehin durch die Grundrechte gewährleistet ist209. Die Staatsabwehr als „prototypische“ Grundrechtsfunktion wird daher keinesfalls in Frage gestellt, geschweige denn umgekehrt210. Dies bedeutet freilich nicht, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten nicht als Vehikel missbraucht werden könnten, um grenzenlosen Sicherheitsaktivismus der Politik zu rechtfertigen. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Staatsgewalt in Deutschland zahlreichen Beschränkungen unterliegt, die vor solch überbordendem Aktionismus schützen. Angefangen mit der Gewaltenteilung bis hin zu den gewaltspezifischen Restriktionen. Absicherung erfahren die Achtungspflichten durch das den Schutzeingriff zügelnde Übermaßverbot und in letzter Instanz auch durch die Wesensgehaltsgarantie. Nichtsdestotrotz lässt sich ein Rest an Missbrauchsgefahr nicht ausschließen. Dies gilt aber genauso für die Achtungspflichten. Einer Pervertierung der grundrechtlichen Schutzpflichten kann daher am ehesten begegnet werden, wenn diese endlich auf ein allgemein anerkanntes, grundrechtsdogmatisch festes Fundament gestellt werden. Allein dadurch würde eine umfassende verfassungsgerichtliche Kontrolle ermöglicht, die maßloses staatliches Schutz­handeln in die Schranken weisen kann. Allein aus der Missbrauchsge207  BVerfGE

39, 1 (73). Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, in: K. Stern/ K. Grupp (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 227 (232). 209  T. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, 1990, S. 101. 210  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 43. 208  D. Merten,

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

fahr der Schutzpflichten, die nahezu jedem staatlichen Handeln innewohnt, auf deren Minderwertigkeit zu schließen, überzeugt daher nicht.

III. Determinierungshoheit Schließlich stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die objektivrechtliche Dimension der Grundrechte keine Erweiterung des Schutzbereichs des jeweils betroffenen Grundrechts bewirken kann211. Darüber besteht auch in der Literatur weitestgehend Einigkeit212. Möglicherweise lässt sich von dieser „rahmensetzende[n] Bedeutung“213 der subjektiv-rechtlichen Dimension in Gestalt der Abwehrfunktion auf ihren prinzipiellen Vorrang gegenüber den grundrechtlichen Schutzpflichten schließen. Beziehen sich zwei Pflichten auf das gleiche Schutzgut, wird dessen Inhalt aber allein aus der Perspektive einer der beiden Pflichten determiniert, so zeugt dies von einer gewissen Dominanz dieser Pflicht gegenüber der anderen. Die abwehrrechtlich geprägte Bestimmung der für Achtungs- und Schutzpflichten identischen Schutzgüter könnte daher ein Primat der Achtungspflicht nahe legen. Gefragt ist aber nach einem abstrakten Vorrang in Bezug auf die Wirkkraft der Grundrechtsfunktionen im Verhältnis zueinander, nicht welchen Einfluss diese auf die Bestimmung des Schutzgutes haben. Entscheidend ist daher, ob sich aus der Determinierungshoheit der subjektiv-rechtlichen Abwehrfunktion über die grundrechtlichen Schutzgüter zugleich eine Aussage über das Verhältnis zu den grundrechtlichen Schutzpflichten gewinnen lässt. Der Schluss von der besagten Determinierungshoheit der Achtungspflichten auf eine stärkere Wirkkraft im Vergleich zu den grundrechtlichen Schutzpflichten drängt sich dabei auf. Inwieweit dies zutrifft, lässt sich indes allein mit Blick auf die Ursachen für die Determinierungshoheit der Achtungspflichten hinsichtlich des Schutzgutes beurteilen. Eine Ursache liegt in der den objektivrechtlichen Grundrechtsgehalten vom Bundesverfassungsgericht zugedachten Verstärkungsfunktion für die Geltungskraft der Grundrechte als Abwehrrechte214. Diese können sie nur erfüllen, wenn sie sich am gleichen Schutzgut orientieren. Im Gegensatz zu den übrigen objektivrechtlichen Gehalten passt die Verstärkungsfunktion wie oben gezeigt nicht zur Schutzfunktion. Aus der Determinierungshoheit mag daher eventuell ein genereller Vorrang der subjektiv-rechtlichen Dimension herzuleiten sein, welcher indes nicht für die objektiv-rechtliche Dimension in 211  BVerfGK

2, 305 (310); vgl. auch BVerfGE 102, 254 (300, Rn. 245). (Fn. 155), Art. 1 Abs. 3 Rn. 27; Stern (Fn. 22), § 185 Rn. 53; a. A.: Dietlein, Lehre (Fn. 16), S. 75 ff. 213  Herdegen (Fn. 155), Art. 1 Abs. 3 Rn. 27. 214  L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, S. 62. 212  Herdegen



I. Historische Betrachtung119

Gestalt der grundrechtlichen Schutzpflichten gilt. Eine weitere Ursache für die Determinierungshoheit liegt wohl schlechthin in dem jüngeren Alter der grundrechtlichen Schutzpflichten. Als der Schutzpflichtengedanke sich langsam in der Grundrechtsdogmatik etablierte, bestand bereits ein gefestigtes Verständnis von den grundrechtlichen Schutzgütern. Dieses konnte von Rechtsprechung und Literatur offensichtlich nur aus der abwehrrechtlichen Perspektive gewonnen worden sein. Der Schluss von der Determinierungshoheit der Achtungspflicht auf deren im Verhältnis zur Schutzpflicht gesteigerte Geltungskraft besticht daher nicht. Abgesehen davon bestimmte das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch das Schutzgut autonom, also losgelöst vom Abwehrrecht215. Damit wurde die Determinierungshoheit des Abwehrrechts als solche in Frage gestellt. Ob diese nun besteht oder nicht ist nach der vorausgegangenen Argumentation für die Frage nach dem Verhältnis von Achtungs- zu Schutzpflicht aber ohnehin ohne Bedeutung.

IV. Zwischenfazit Eine Verweisung der grundrechtlichen Schutzpflichten auf eine reine Verstärkungsfunktion in Bezug auf die Abwehrrechte kann aus den dargelegten Gründen nicht überzeugen. Der Hinweis darauf, dass die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat sind, bedeutet nicht, dass andere Grundrechtsfunktionen von niederem Rang sind216. Gelingt es die Schutzpflichten dogmatisch einzufangen, besteht zudem auch keine Gefahr der „Umkehrung“ der Grundrechte.

I. Historische Betrachtung Das Grundgesetz steht in einem verfassungsrechtlichen Kontext, der bei der Verfassungsinterpretation grundsätzlich mit zu berücksichtigen ist217. Es bietet sich daher an, unter Rückgriff auf das historische Element der Auslegung das Verhältnis der beiden Grundrechtsfunktionen zueinander zu untersuchen. Die Abwehrfunktion wird oftmals als die Urfunktion der Grundrechte oder deren klassische Funktion bezeichnet218. Dies lässt vermuten, dass diese älter 215  BVerfGE

39, 1 (41). Freiheit (Fn. 12), S. 104. 217  Krings, Grund (Fn. 57), S. 154; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 21. 218  Robbers, Sicherheit (Fn. 34), S. 32; Brugger, Würde (Fn. 136), S. 450. 216  Schwetzel,

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

oder gar wertiger ist als die Schutzfunktion. Damit in Einklang steht die im Lüth-Urteil vom Bundesverfassungsgericht gemachte Aussage, dass die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind219. Die Abwehrfunktion ergebe sich dabei aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechte sowie den historischen Vorgängen, die ihrer Aufnahme in die Verfassung vorausgingen220. Insofern dies zutrifft, könnte hieraus auf einen Vorrang der Achtungspflichten geschlossen werden221. Im Folgenden gilt es daher die Bedeutung von Abwehr- und Schutzfunktion in der deutschen Verfassungsgeschichte zu ermitteln. Dazu wird zunächst eine historische Auslegung im eigentlichen Sinne vorgenommen, in der Vorgänger des Grundgesetzes analysiert werden. Im Anschluss daran erfolgt eine genetische Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz selbst.

I. Historische Auslegung 1. Grundrechtsfunktionen im deutschen Konstitutionalismus Der deutsche Konstitutionalismus umfasst nach verbreiteter Auffassung die hiesige Verfassungsentwicklung im Zeitraum von 1815 bis 1918222. Der Zersplitterung Deutschlands ist es geschuldet, dass diese Zeit eine dreistellige Zahl an Verfassungen hervorbrachte, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Untersucht werden können nur einige bedeutsame Verfassungstexte. a) Süddeutsche Verfassungen Als Anfangspunkt der deutschen Grundrechtsgeschichte werden zumeist die Verfassungen der süddeutschen Staaten Bayern und Baden von 1818 und Württemberg von 1819 gesehen223. Diese gewährten den Bürgern verschiedenste Rechte, welche allerdings nicht als Grundrechte bezeichnet wurden. Dies ist insofern nur konsequent, als dass die in den jeweiligen Verfassungsabschnitten verbürgten Rechte nicht als dem Staat vorausliegende Grundrechte aufgefasst wurden224. Vielmehr wurden sie als vom jeweiligen Lan219  BVerfGE

7, 198 (204 f.); siehe auch BVerfGE 50, 290 (337). 7, 198 (204 f.); siehe auch BVerfGE 50, 290 (337). 221  Reimer, Schwäche (Fn.  44), S. 606; Winkeler, Gefahrenabwehrmaßnahmen (Fn. 49) S. 176. 222  W. Heun, Die Struktur des deutschen Konstitutionalismus des 19. Jh. im verfassungsgeschichtlichen Vergleich, in: Der Staat 45 (2006), S. 365 (365). 223  Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 13. 224  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 96), Rn. 28. 220  BVerfGE



I. Historische Betrachtung121

desherren gewährleistete Freiheiten verstanden, als „Staatsbürgerrechte der Untertanen“225. Subjektive Rechte vermittelten sie nicht226. Hinzu kommt, dass ihnen im Verhältnis zum einfachen Recht nur ein bedingter Geltungsvorrang zukam. Eine Vorrangstellung in der Normenhierarchie wurde ihnen nicht eingeräumt, so dass entgegenstehendes einfaches (Gesetzes-)Recht nicht nichtig war, sondern allein angepasst werden musste227. Dies führte dazu, dass der durch die „Grundrechte“ gewährte Freiraum oftmals durch einfachgesetzliche Regelung umfassend beschränkt wurde228. Eine tatsächlich staatsabwehrende Funktion kam ihnen somit nicht zu229. Dies verwundert nicht, ging es doch im Gegensatz zu der Situation in Nordamerika oder Frankreich zu dieser Zeit in den deutschen Staaten nicht um die Schaffung einer neuen staatlichen Ordnung, sondern (lediglich) um die Ausweitung der verfassungsrechtlichen Beschränkung staatlicher Macht230. Gleiches gilt aber auch für die Schutzdimension. Explizite Schutzpflichten können den Verfassungen nicht entnommen werden, auch wenn die Verfassung Bayerns ein Recht auf Sicherheit gewährte231. Dieses ist nach dem Regelungszusammenhang aber als staatsgerichtet zu begreifen, schützt also nicht vor Übergriffen anderer Bürger, sondern vor staatlicher Willkür232. Ein Blick auf die verfassungsrechtliche Literatur dieser Zeit offenbart jedoch, dass diese den Schutz vor willkürlichem Staatshandeln im Zusammenhang sieht mit dem Erhalt der Sicherheit im Land sowie dem Schutz nach außen233. Freiheit und Sicherheit der Person wurden also bereits damals zusammen gedacht234. Dennoch ist zu konstatieren, dass sowohl Abwehr- als auch Schutzfunktion der „Grundrechte“ im Frühkonstitutionalismus schwach ausgeprägt waren. Dennoch stand die Schutzfunktion wohl im Vordergrund, schließlich sollten die Grundrechtsverbürgungen dieser Zeit vor allem als programmatische Direkti225  Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 13; F. Hufen, Staatsrecht II, 4. Aufl. 2014, § 2 Rn. 12; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 96), Rn. 28. 226  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 33), S. 108. 227  H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S.  28  f.; Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 96), Rn. 30. 228  R. Wahl, Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus, in: Der Staat 18 (1979), S. 321 (329). 229  Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 13. 230  G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit. Schutzpflicht und Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, 1987, S. 175. 231  Titel IV § 8 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818. 232  Hermes, Grundrecht (Fn. 230), S. 175. 233  J. Aretin/C. v. Rotteck, Staatsrecht der constitutionellen Monarchie, Bd. II, 2. Aufl. 1839, S. 1 ff.; P. Pfizer, Urrechte oder unveräußerliche Rechte, vorzüglich in Beziehung auf den Staat, in: C. v. Rotteck/C. Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon, Bd. XII, 2. Aufl. 1848, S. 689 (700). 234  R. Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. I, 1829, S. 289.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

ven zur schrittweisen Modernisierung der alten Rechts- und Sozialordnung verstanden werden, mithin die Konflikte zwischen Bürgern regeln235. b) Paulskirchenverfassung Im Gegensatz zu den süddeutschen Verfassungen verfügte die Paulskirchenverfassung von 1849 in Annäherung an die Entwicklungen in Nordamerika und Frankreich über einen deutlich umfassenderen Katalog an Rechten, welche nunmehr auch als Grundrechte bezeichnet wurden236. Sie stellte die erste bundesweite Kodifikation von Grundrechten dar. Die Grundrechte waren vorrangig auf Staatsabwehr gerichtet und vor dem Reichsgericht einklagbar237. Diese Ausgestaltung kommt somit der heutigen Abwehrfunktion recht nahe. Für die Schutzpflichtenfunktion lassen sich nur vereinzelt Anknüpfungspunkte ausmachen238. Eine eindeutige Schutzpflicht des Staates gegen private Übergriffe findet sich aber nicht in der Verfassung. Diese ist daher zweifelsohne als Produkt des bürgerlichen Liberalismus einzuordnen239. Der mit der Paulskirchenverfassung erreichte Aufschluss zu den westlichen Verfassungssystemen währte indes nur kurz. Sie wurde nach dem Scheitern der Revolution durch die Bundesversammlung rückwirkend aufgehoben. Ihre Bedeutung liegt daher eher in ihrer Vorbildfunktion für kommende Verfassungen, insbesondere für die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz240. c) Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat Die darauf folgende Phase führte nicht zu einer Fortentwicklung der Grundrechte. Die Preußische Verfassungsurkunde von 1850 enthielt zwar einen umfangreichen Rechtekatalog, der einige der fortschrittlichen Verbürgungen der Paulskirchenverfassung übernommen hatte, allerdings waren diese größtenteils der einfachrechtlichen Ausgestaltung überlassen241. Darüber hinaus wurden sie nicht als gegen den Gesetzgeber gerichtet verstan235  Dreier, Dimensionen (Fn. 227), S. 29, H. D. Jarass, Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, in: AöR 120 (1995), S. 345 (351). 236  Abschnitt VI der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849. 237  § 126 lit. g der Paulskirchenverfassung. 238  Zum Beispiel: § 164 „Das geistige Eigentum soll durch die Reichsgesetzgebung geschützt werden.“ 239  Krings, Grund (Fn. 57), S. 94. 240  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 33), S. 115. 241  Hierfür ist insbesondere Art. 3 der Preußischen Verfassungsurkunde verantwortlich, welcher den Teil „Von den Rechten der Preußen“ einleitet.



I. Historische Betrachtung123

den242. Die Schutzfunktion trat zunehmend in den Hintergrund, verschwand indes nicht vollends. Dies belegt erneut ein Blick auf die Literatur. Die Kommentierung Rönnes und Zorns zu Art. 5 S. 1 der Preußischen Verfassung versteht die Gewährleistung der persönlichen Freiheit dahingehend, dass der „hierdurch zugesicherte Schutz […] sich sowohl auf jede widerrechtliche Beeinträchtigung von Seiten anderer Staatsangehöriger, als auch seitens des Staates selbst“243 bezieht. Dem Staat komme „die Verpflichtung, jedermann gegen solche Angriffe zu schützen, welche von anderen in Beziehung auf das Recht der persönlichen Freiheit unternommen werden“, zu244. d) Reichsverfassung Die in der Epoche des Spätkonstitutionalismus fallende Reichsverfassung von 1871 enthielt dann nahezu keine Grundrechte mehr245. Klassische Freiheitsverbürgungen, die sich üblicherweise in Grundrechtskatalogen finden, wurden allerdings über die Zeit in Reichsgesetzen geregelt. Mangels eines eindeutigen normhierarchischen Vorrangs des Verfassungsrechts konnten diese einfachgesetzlichen Regelungen ähnliche Wirkung entfalten, wie die in der Verfassung selbst verbürgten Freiheiten246. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit war allerdings nicht vorgesehen. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war dabei vor allem geprägt von einem Streben nach größerer wirtschaftlicher Freiheit247. Diese war unerlässlich für die Transformation hin zu einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung248. Es ging „nicht mehr um die Verwirklichung von Freiheit durch Gesetze, sondern um den Schutz der Freiheit vor Gesetzen.“249 Damit einher ging auch eine Verengung des Grundrechtsverständnisses auf eine allein den Staat begrenzende Funktion250. Dies zeigt sich auch in der verfassungsrechtlichen Literatur, die sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzte, ob die Grundrechte subjektive Abwehrrechte gegen den Staat darstellen oder ob es sich bei ihnen lediglich um 242  B. Pieroth,

Geschichte der Grundrechte, in: Jura 1984, S. 568 (575). v. Rönne/P. Zorn, Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie, Bd. II, 5. Aufl. 1906, S. 151 f. 244  v. Rönne/Zorn, Staatsrecht (Fn. 243), S. 151 f.; a. A.: G. Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat, Bd. 1, 1912, S. 136. 245  Lediglich die Niederlassungs- und Gewerbefreiheit wurden gewährleistet, vgl. Art. 3 Reichsverfassung von 1871. 246  Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 15. 247  Pieroth, Geschichte (Fn. 242), S. 576. 248  Pieroth, Geschichte (Fn. 242), S. 576. 249  Pieroth, Geschichte (Fn. 242), S. 576. 250  Hermes, Grundrecht (Fn. 230), S. 179. 243  L.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

objektive Selbstbeschränkungen der Staatsgewalt handelt251. In Bezug auf den Schutzaspekt der Grundrechte lässt sich beobachten, dass der Sicherheitsgedanke nicht mehr in den Grundrechtswirkungen abgebildet ist252. Er wird nunmehr als Staatszweck verstanden253. e) Zwischenfazit Betrachtet man den Zeitraum des deutschen Konstitutionalismus im Ganzen, muss man festhalten, dass Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte, so wie sie heute verstanden werden, allenfalls rudimentär ausgeprägt waren254. Die Grundrechte wurden zunächst vornehmlich als Sätze des objektiven Rechts verstanden, welche allein der Selbstbeschränkung staatlicher Gewalt dienten, indes keine subjektiven Rechte vermittelten255. Dies hat seinen Grund vor allem darin, dass der Konstitutionalismus den Staat als voraussetzungslos gegeben versteht256. Den Grundrechten konnte damit keine konstitutive Wirkung zukommen257. Daher konnten sie auch nur schwerlich eine Schutzfunktion entfalten258. Es zeigt sich, dass der Schutzpflichtengedanke, der anfangs noch unterschwellig fortwirkte, im Laufe dieser Epoche deutscher Verfassungsgeschichte seine individualrechtliche Ausrichtung verliert und „zum selbstverständlichen und selbständigen Staats­ zweck“259 wird. Staatsabwehr stellt fortan die einzige, wenn auch schwach ausgeprägte Grundrechtswirkung dar. Dies rührt daher, dass die Grundrechte weder eine Bindungswirkung für den Gesetzgeber begründeten, noch deren Vorrang vor einfachem Gesetzesrecht sich durchgesetzt hatte260. Aufgrund der im Vergleich zu heute schwachen Wirkung der Grundrechte stellten diese in dieser Epoche daher eher „Richtungsbegriffe für die Prozesse der Rechtsänderung und Gesellschaftsgestaltung“261 dar. Belastbare Rück251  Gegen subjektiv-rechtlichen Charakter C. F. v. Gerber, Ueber öffentliche Rechte, 1852, S. 79; dafür G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 94 ff. 252  Eine Ausnahme bildet allein der Schutz Deutscher im Ausland, Art. 3 Abs. 6 Reichsverfassung. 253  Robbers, Sicherheit (Fn. 34), S. 116. 254  Pieroth, Geschichte (Fn. 242), S. 575. 255  v. Gerber, Rechte (Fn. 251), S. 79; P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 5. Aufl. 1964, Neudruck der Auflage von 1911–1914, S. 150 f. 256  Hermes, Grundrecht (Fn. 230), S. 180. 257  Hermes, Grundrecht (Fn. 230), S. 180. 258  Hermes, Grundrecht (Fn. 230), S. 180. 259  Hermes, Grundrecht (Fn. 230), S. 184. 260  Hermes, Grundrecht (Fn. 230), S. 179; Heun, Struktur (Fn. 222), S. 378. 261  Wahl, Grundrechte (Fn. 228), S. 330.



I. Historische Betrachtung125

schlüsse für das Verhältnis von Achtungs- zu Schutzpflichten lassen sich hieraus aber nicht ziehen. 2. Weimarer Reichsverfassung Intention der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 war es, endlich mit den verfassungsrechtlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Frankreich und den Vereinigten Staaten aufzuschließen262. Die Weimarer Reichsverfassung steht daher vor allem in der Tradition der Paulskirchenverfassung, die zuvor einen ähnlichen Versuch unternommen hatte263. Die Grundrechte erlangten hiermit erneut verfassungsrechtlichen Status. Nachdem zunächst ein Grundrechtskatalog gar nicht vorgesehen war, blieb schließlich der gesamte Zweite Hauptteil der Verfassung den Grundrechten und Grundpflichten vorbehalten264. Die ersten beiden Abschnitte enthielten größtenteils klassische Freiheitsrechte, wie Freiheit der Person, Freizügigkeit, Schutz der Wohnung et cetera. Hier kommt die abwehrrechtliche Komponente der Grundrechte zum Vorschein. Diese wurden als unmittelbar geltendes Verfassungsrecht angesehen, auch wenn keine Verfassungsgerichtsbarkeit bestand. Allerdings waren sie trotz der im Vergleich zur Vergangenheit gesteigerten Normqualität in ihrer Wirkung aufgrund der Gesetzesvorbehalte beschränkt265. In den letzten beiden Abschnitten fügte der Verfassungsgeber hingegen als Grundrechte formulierte Vorstellungen über die Ausgestaltung des Arbeitsund Soziallebens in den Grundrechtsteil ein266. Diese sollten der Fortentwicklung der Gesellschaft dienen. Als Beispiele seien die Garantie der Sozialversicherung oder Arbeitslosenunterstützung genannt267. Diese auf staatliches aktives Tun gerichteten Verbürgungen entsprechen aber nicht der Schutzpflichtenfunktion im heutigen Sinne. Sie stellen die oft als solche bezeichneten „Programmsätze“ der Weimarer Reichsverfassung dar. Diese hatten aber keinen Einfluss auf die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der „klassischen“ Grundrechte268. Insofern geht die oft gemachte pauschale Bezeichnung, dass es sich bei den Grundrechten allgemein um „bloße Pro262  H. Dreier, Die Zwischenkriegszeit, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I 2004, § 4 Rn. 2; Hufen, Staatsrecht (Fn. 225), § 2 Rn. 16. 263  Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 14. 264  Dreier (Fn. 262), § 4 Rn. 8. 265  Dreier (Fn. 262), § 4 Rn. 20. 266  Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 16. 267  Art. 161 WRV. 268  Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 16.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

grammsätze“ handele, fehl269. Ihr praktischer Einfluss auf das Rechtsleben blieb dennoch gering270. Den Grundrechten kam folglich auch in dieser Epoche eine rein negatorische Funktion zu271. 3. Zwischenergebnis Der rückgewandte Blick auf die deutsche Verfassungsgeschichte vermag nur beschränkt Aufschluss über das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten zu geben, weil beide Funktionen nur rudimentär ausgeprägt waren. Feststellen lässt sich aber, dass die Bezeichnung der Abwehrfunktion der Grundrechte als Urfunktion insofern missverständlich ist, als dass mit Blick auf die deutsche Grundrechtsgeschichte deren subjektiv-rechtliche Qualität nie wirklich anerkannt wurde. Der staatsabwehrende Charakter der Grundrechte rückte erst in den Vordergrund, als der im Frühkonstitutionalismus angestoßene Wandel hin zu einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in der spätkonstitutionellen Phase fortgeschritten war272. Dies erfolgte, weil die durch das Verständnis der Grundrechte als objektive Prinzipien erforderliche Anpassung des einfachen Rechts mit der Zeit derart fortgeschritten war, dass dieses einen entsprechenden Grad an Freiheit gewährleisten konnte273. Nunmehr ging es darum, die Sicherheit vor dem Staat zu sichern. Ersichtlich wurde aber auch, dass der Schutzpflichtengedanke, der sich hinter der Gewährung von Sicherheit durch den Staat verbirgt, nur am Rande Erwähnung in den Verfassungen fand274. Die Schaffung von Sicherheit wurde als selbstverständlich vorausgesetzt und verschwand über die Zeit als Thema aus den Grundrechtskatalogen275. Es zeigte sich aber auch, dass der Gedanke des Schutzes vor Übergriffen Dritter in der Literatur weiter am Leben blieb. Zudem ging diese Entwicklung nicht einher mit einem Weniger an Schutzgewähr für die Bürger durch die Staatsgewalt. Der Schutzaspekt wurde schlichtweg über das einfache Recht, insbesondere das Straf- und Polizeirecht gesichert276. 269  Dreier

(Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 16. Programmatik und Normativität der Grundrechte, in: Merten/Papier, HGR I (Fn. 262), § 17 Rn. 18. 271  K.-A. Schwarz, Das Postulat lückenlosen Grundrechtsschutzes, in: JZ 2000, S. 126 (128). 272  Dreier, Dimension (Fn. 227), S. 32 f. 273  Schwetzel, Freiheit (Fn. 12), S. 85. 274  Schwetzel, Freiheit (Fn. 12), S. 85. 275  Schwetzel, Freiheit (Fn. 12), S. 85; Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 22 f. 276  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 22. 270  B.-O. Bryde,



I. Historische Betrachtung

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In der Weimarer Republik schließlich verhinderte das Grundrechtsverständnis der Zeit, dass die Weimarer Reichsverfassung eine mit dem Bonner Grundgesetz vergleichbare freiheitssichernde Wirkung entfalten konnte277. Dennoch legte Rudolf Smend in dieser Zeit das Fundament für die später vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Lehre von den objektiven Grundrechtsgehalten278. Als ursprüngliche oder gar einzige Grundrechtsfunktion kann die Abwehrdimension der Grundrechte mit Blick auf die Verfassungsgeschichte jedenfalls nicht bezeichnet werden279. Die historische Betrachtung führt einem daher allein die untergeordnete Bedeutung der beiden hier diskutierten Funktionen in der deutschen Verfassungsgeschichte vor Augen. Eine Aussage über das Verhältnis dieser beiden zueinander lässt sich ihr indes nicht entnehmen.

II. Genese des Grundgesetzes Das Grundgesetz trat am 24. Mai 1949 in Kraft. Vier Jahre zuvor endete der Zweite Weltkrieg und mit ihm das wohl dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. Als Reaktion auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat war es daher Kernanliegen des Parlamentarischen Rates, die Verfassung so auszugestalten, dass eine Wiederholung des Geschehenen möglichst ausgeschlossen wird280. Dazu war es vor allem erforderlich, die Möglichkeiten staatlicher Machtentfaltung zu bändigen. Die Dominanz der Abwehrrechte im Grundgesetz ist damit fast zwingende Folge der Erfahrungen der nationalsozialistischen Herrschaft281. Dies belegen die Beratungen des Parlamentarischen Rates über den Grundrechtsabschnitt. Dieser soll den Schutz des Individuums vor dem Staat gewährleisten, was sich in der abwehrrechtlichen Formulierung der Grundrechte widerspiegelt. Es liegt daher nahe, das Grundgesetz mit Blick auf dessen Entstehungsgeschichte in dieser Tradition zu verstehen, ihm mithin eine liberale, allein auf Staatsabwehr gerichtete Ausrichtung zuzuschreiben. Demgegenüber fanden die grundrechtlichen Schutzpflichten, so wie sie heute verstanden werden, bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates nahezu keine Erwähnung282. Lediglich eine Ergänzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 277  Schwetzel,

Freiheit (Fn. 12), S. 85. Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 (189 ff., 262–267). 279  Grimm, Rückkehr (Fn. 112), S. 227; Dreier, Dimension (Fn. 227), S. 32 f. 280  D. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, in: NJW 1989, S. 1305 (1305); Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 32. 281  Krings, Grund (Fn. 57), S. 88. 282  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 33. 278  R. Smend,

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

GG stand zur Debatte, wonach dieser ein „Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit“ verbürgen sollte283. Die Formulierung erweckt den Anschein, dass damit auch eine korrespondierende Pflicht des Staates für die Gewährung der Sicherheit der Bürger einherginge. Die erste Fassung des Art. 2 Abs. 2 GG wurde allerdings in dieser Form nicht übernommen, weil unklar war, welche Bedeutung dem „Recht auf Sicherheit“ neben dem „Recht auf persönliche Freiheit“ zukommen solle284. Daraus wird überwiegend geschlossen, dass auch das „Recht auf Sicherheit“ rein abwehrrechtlich, das heißt gegen Beeinträchtigungen von staatlicher Seite gerichtet gewesen wäre285. Gegen dieses Verständnis wird von Cremer auf eine Äußerung des Abgeordneten Adolf Süsterhenn hingewiesen286. Dieser verstand unter dem Recht auf Sicherheit auch „ein Recht auf Schutz gegen Eingriffe anderer“287. Nach Cremers Interpretation bestanden nach der Entstehungsgeschichte ferner keine sachlichen Gründe für eine Streichung des Grundrechts auf Sicherheit288. Diese sei vielmehr allein motiviert gewesen von der irrtümlichen Vorstellung, dass das Grundrecht auf Sicherheit im Grundrecht auf Freiheit in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG enthalten sei289. Entgegen Süsterhenns Vorstellungen war den meisten Abgeordneten eine Pflicht des Staates zum Schutz des Einzelnen vor Übergriffen anderer Bürger aber fremd290. Dies geht aus einer Äußerung des Abgeordneten Theodor Heuß hervor, der im Rahmen der Debatte um den Schutz des werdenden Lebens betonte, dass man in der Verfassung keine Dinge aufnehmen möge, die im Strafgesetzbuch geregelt sind291. Für die überwiegende Mehrheit war der Schutz vor privaten Übergriffen wie auch schon in der Vergangenheit eine Frage des einfachen Gesetzesrechts292. Dass der Staat seinen Bürgern Schutz zu gewähren hat, war folglich auch im Parlamentarischen Rat eine Selbstverständlichkeit, die keiner gesonderten Erwähnung bedurfte. Diese Schutzverpflichtung des Staates wurde aber weitestgehend nicht als Rechtswirkung der Grundrechte verstanden. Der Parlamentarische Rat wollte die Grundrechte demnach lediglich als liberale Abwehrrechte ausgestalten293. 283  W. Matz,

in: v. Doemming/Füßlein/ders., JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 58 ff. N.F. 1, 1951, S. 59, 62. 285  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 33. 286  Cremer, Freiheitsgrundrechte (Fn. 48), S. 261 f. 287  Süsterhenn, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/II, S. 925. 288  Cremer, Freiheitsgrundrechte (Fn. 48), S. 263. 289  Cremer, Freiheitsgrundrechte (Fn. 48), S. 263. 290  Krings, Grund (Fn. 57) S. 98; Gerbig, Grundrecht (Fn. 4), S. 97. 291  JöR N.F. 1, 1951, S. 61. 292  Krings, Grund (Fn. 57) S. 98. 293  Bryde (Fn. 262), § 17 Rn. 38. 284  JöR



I. Historische Betrachtung129

Die Entstehungsgeschichte der Grundrechte verdeutlicht die grundsätzlich untergeordnete Stellung der Schutzfunktion der Grundrechte. Diese kam vielmehr erst unter dem Grundgesetz mit der Entwicklung der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten in den siebziger Jahren durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die Verfassungslehre zum Vorschein294. Im Gegensatz dazu ging der Parlamentarische Rat in Hinblick auf die Menschenwürde durchaus davon aus, dass der Staat diese zu schützen habe, was sich schließlich auch in der eindeutigen Formulierung der Schutzpflicht zeigte295. Dies wird insbesondere dadurch deutlich, dass die noch vom Hauptausschuss beschlossene Fassung des Art. 1 Abs. 1 GG lautete: „Die Würde des Menschen steht im Schutze der staatlichen Ordnung.“296 Dafür spricht zudem, dass sich der Abgeordnete Süsterhenn auch mit dieser Fassung einverstanden erklärte, weil diese auch die Achtungspflicht enthalte297. Die Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde stand in den Beratungen also außer Frage.

III. Zwischenfazit Die historische Betrachtung zeigt, dass die Abwehrfunktion ihre dominante Stellung erst mit Schaffung des Grundgesetzes eingenommen hat. Sie kann daher wohl nicht als „klassische“ Grundrechtsfunktion bezeichnet werden298. Dennoch war der Gedanke der Staatsabwehr in der Entwicklungsgeschichte der Grundrechte stärker ausgeprägt299. Dies geht zurück auf das vorrangige Anliegen der Abwehr, Bändigung und Kontrolle der Staatsgewalt, das aus den Erfahrungen mit dem NS-Unrechtsstaat resultierte300. Überlegungen zu einem Schutz durch den Staat wurden davon weitestgehend überlagert. Eine im Grundgesetz verbürgte Pflicht des Staates, den Einzelnen aktiv vor Übergriffen anderer zu schützen, gehörte nicht zum Bestand der grundrechtlichen Rechtswirkungen301. Diese traten erst später wieder in Erscheinung, nachdem das erstere Anliegen weitgehend gesichert erschien. Dennoch stellen sie kein Novum dar, sondern vielmehr eine „vergessene Seite der rechtsstaatlichen Verfassung“302. 294  Dazu Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 33), S. 937 ff.; Isensee (Fn. 22), § 191 Rn.  146 ff. 295  JöR N.F. 1, 1951, S. 51 f. 296  JöR N.F. 1, 1951, S. 51. 297  JöR N.F. 1, 1951, S. 51. 298  Grimm, Rückkehr (Fn. 112), S. 224 ff.; Jarass, Bausteine (Fn. 235), S. 351 f. 299  Krings, Grund (Fn. 57), S. 154. 300  Isensee, Grundrecht (Fn. 15), S. 27. 301  Krings, Grund (Fn. 57), S. 154. 302  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 33), S. 946.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

Die Frage ist nun, welche Aussage sich der historischen Analyse für das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten entnehmen lässt. Problematisch ist, dass beide Funktionen in der Verfassungsgeschichte nie derart präsent waren, dass sich vertieft mit deren Verhältnis auseinander gesetzt wurde. Insofern besteht als Anhaltspunkt zunächst allein das jüngere Alter der Schutzfunktion als Grundrechtswirkung. Allein hieraus auf ein Zurücktreten der grundrechtlichen Schutzpflicht gegenüber der Achtungspflicht zu schließen erscheint indes verfehlt303. Dies würde dem evolutionären Element des Rechts widersprechen. Dafür spricht auch, dass die Kollisionsregel „lex posterior derogat legi priori“304 – unabhängig davon ob diese auf die beiden Pflichten anwendbar ist – innerhalb des Grundgesetzes aufgrund von Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG nicht greift305. Die chronologische Reihenfolge der Entstehung von Grundrechtsfunktionen vermag daher keine Aussage über deren hierarchische Beziehung zu treffen. Einen weiteren Anhaltspunkt stellt die zu beobachtende Tendenz dar, das Grundrechtsverständnis auf die Abwehrfunktion zu verengen. Allerdings hat sich dieses, wie ein Blick auf die Entwicklungen in der jüngeren Vergangenheit zeigt, wieder erweitert. Auch das Grundgesetz, dass in einer verfassungsgeschichtlichen Tradition steht, kann neue Wirkungen hervorbringen306. Es ist insofern unerheblich, dass dem Verfassungsgeber die Schutzdimension der Grundrechte noch gar nicht bewusst war307. Dem Parlamentarischen Rat war 1949 beispielsweise ebenso wenig der Umwelt- wie der Datenschutz bewusst, obwohl beide heute grundgesetzlich abgesichert sind308. Ansonsten ergeben sich keine weiteren Anhaltspunkte aus der Verfassungsgeschichte für das Verhältnis von Achtungs- und Schutzfunktion. Auch wenn die Achtungspflichten in der Verfassungsgeschichte einen weitaus größeren Platz einnehmen, erscheint aus historischen Gesichtspunkten die Annahme einer Vorrangstellung der Abwehrfunktion gegenüber anderen neuen Grundrechtsfunktionen, insbesondere den Schutzpflichten nicht gerechtfertigt. Dafür spricht nicht zuletzt auch das klare Bekenntnis des Parlamentarischen Rates zur Schutzpflicht für die Menschenwürde. Die historische Betrachtung hat gezeigt, dass die Schutzpflicht den Grundrechten bereits in ihrer Entstehung immanent war309. 303  Mayer, Untermaß (Fn. 101), S. 149  f.; M. Ladiges, Die Bekämpfung nichtstaatlicher Angreifer im Luftraum, 2007, S. 381. 304  K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1992, S. 154 f. 305  Klein, Stufen (Fn. 65), S. 175. 306  Krings führt an, dass die Grundrechtsdogmatik in der Weimarer Zeit mit den Institutsgarantien ebenso eine Neuerung erfahren hat, Grund (Fn. 57), S. 154 f. 307  Krings, Grund (Fn. 57), S. 155. 308  A. Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 8 Rn. 50. 309  Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 60), S. 509.



J. Liberale Grundrechtstheorie: in dubio pro libertate?131

J. Liberale Grundrechtstheorie: in dubio pro libertate? Unter Rückgriff auf eine vorgeblich liberal-individualistische Grundrechtstheorie wird teilweise auf einen Vorrang der Achtungspflicht geschlossen310. Dies erklärt sich damit, dass Literatur und Rechtsprechung, wenn sie sich mit der Auslegung der Grundrechte befassen, zumeist ein gewisses, der Auslegung vorgelagertes Verständnis der Grundrechte zugrunde legen. Dieses schwingt bei der Auslegung mit und wirkt sich demnach auch auf das jeweilige Ergebnis, sei es nun die Weite des Schutzbereichs oder das Vorliegen eines Eingriffs, aus311. Mit diesem Verständnis ist die „systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte“312 gemeint. Für den Einzelnen ist dieses oftmals maßgeblich geprägt von der jeweiligen Staatsauffassung und der politischen Couleur313. Möglicherweise lässt sich dem Regelungskomplex des Grundrechtsabschnitts aber selbst ein bestimmtes Verständnis entnehmen. Dieses könnte vor allem bei Zweifelsfragen im Rahmen der Auslegung richtungsweisend sein. Ebenso ließe es sich wohl fruchtbar machen, das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten näher zu bestimmen, handelt es sich hierbei doch um eine grundsätzliche Weichenstellung der Grundrechtsdogmatik. Es gilt daher im Folgenden zunächst zu klären, ob den Grundrechten ein bestimmtes Verständnis zugrunde liegt, welches ein Primat der Achtungspflicht als zwingende Folge nach sich ziehen würde. Das Spektrum der wichtigsten Grundrechtstheorien reicht von der liberalen Grundrechtstheorie, über die institutionelle Grundrechtstheorie, die Werttheorie der Grundrechte, die demokratisch-funktionale und die sozialstaatliche Grundrechtstheorie bis hin zur Lehre von den Grundrechten als Organisations- und Verfahrensgarantien314. Jede dieser Theorien hat dabei, wie ihre Bezeichnungen erkennen lassen, einen anderen Schwerpunkt. Ein Primat der Achtungspflicht ließe sich allein auf Grundlage der liberalen Grundrechtstheorie rechtfertigen. Im Gegensatz zu den anderen betont diese den Abwehrcharakter der Grundrechte in besonderer Weise315. Zum besseren Verständnis soll dieses näher beleuch310  Kersten, Tötung (Fn. 130), S. 663; D. Winkler, Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes, in: NVwZ 2006, S. 536 (537). 311  E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: NJW 1974, S. 1529. 312  Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1529. 313  Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1529. 314  Aufschlussreiche Zusammenfassung bei Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1529 ff. 315  Merkel, Luftsicherheitsgesetz (Fn. 12), S. 381.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

tet werden und im Anschluss daran überprüft werden, inwiefern den Grundrechten (noch) ein liberales Grundrechtsverständnis zugrunde liegt, insbesondere mit Blick auf mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnisse.

I. Liberale Grundrechtstheorie Im Mittelpunkt des liberalen Grundrechtsverständnisses steht die negative Freiheit des Individuums vor dem Staat316. Die staatliche Gewalt wird mithin vorrangig als Gegenspieler der bürgerlichen Freiheit begriffen. Sie ist stets geneigt, ihre Macht auf Kosten der Bürger zu missbrauchen. Aufgabe der Grundrechte muss daher die Bändigung, die Abwehr des Staates sein317. Die liberale Grundrechtstheorie gründet auf der konstitutionellen Staatsrechtslehre und geht davon aus, dass „die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist“318. Die Freiheit des Individuums ist das Vorausliegende, das heißt sie wird nicht durch den Staat konstituiert319. Staatliche Beeinträchtigungen dieser Freiheit sind demgegenüber prinzipiell rechtfertigungsbedürftig320. Aufgabe der Grundrechte ist es demnach, im Sinne des von Carl Schmitt entwickelten Verteilungsprinzips, für die Menschen die größtmögliche Freiheit vor dem Staat zu schaffen321. In Bezug auf das Grundgesetz dient als normativer Anknüpfungspunkt für das liberale Grundrechtsverständnis Art. 1 Abs. 1 GG, welcher den Menschen der staatlichen Ordnung voraus setzt322. Die liberale Idee ist damit auch heute noch prägend für die Grundrechte, was sich an ihrer abwehrrechtlichen Formulierung zeigt323. Dagegen trifft den Staat hiernach keine Pflicht, die Realisierung der grundrechtlich verbürgten Freiheiten zu gewährleisten324. Dies bleibt vielmehr dem Individuum selbst und der Gesellschaft im Ganzen überlassen325. Die Grundrechte können daher allein Schutz gegenüber staatlichen Beein316  W. Brugger, Elemente verfassungsliberaler Grundrechtstheorie, in: JZ 1987, S. 633 (635). 317  Isensee, Grundrecht (Fn. 15), S. 2. 318  C. Schmitt, Verfassungslehre, 9. Aufl. 2003, S. 126. 319  Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1530; Dreier (Fn. 99), Vorb. vor Art. 1 Rn. 70. 320  J. Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik, Zugleich ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Menschenwürde, in: JR 2003, S. 404 (407). 321  Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 318), S. 126. 322  Kersten, Tötung (Fn. 130), S. 663; Bleckmann, Staatsrecht (Fn.  308), § 8 Rn. 29. 323  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 23. 324  Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1531. 325  Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1531.

J. Liberale Grundrechtstheorie: in dubio pro libertate?133



trächtigungen, nicht aber gegenüber privaten Übergriffen vermitteln326. Sie werden auf ihre abwehrrechtliche Funktion reduziert. Die grundrechtlichen Schutzpflichten stehen daher in einem Spannungsverhältnis zu diesem Verständnis, weil sie in Dreieckskonstellationen gegen die Achtungspflichten wirken. Sie drängen den Staat entgegen dem liberalen Grundrechtsverständnis nicht zurück, sondern gebieten ihm im Gegenteil, eingreifend tätig zu werden. Unter Zugrundelegung eines liberalen Grundrechtsverständnisses wird die Abwägung zwischen Achtungs- und Schutzpflichten damit zu Gunsten ersterer asymmetriert327. Das auf Staatsabwehr gerichtete liberale Grundrechtsverständnis begründet daher eine Höherwertigkeit der Achtungspflichten328. Entgegen dieser Einschätzung folgert Ekardt aus dem Prinzip Menschenwürde, welches unserer liberalen Verfassungsordnung zugrunde liege, dass Achtungs- und Schutzpflicht gleichrangig sind329. Nur ein solches Verständnis könne die im Würdeprinzip enthaltene Autonomie des Individuums, welche sowohl von staatlicher als auch von nicht-staatlicher Seite bedroht wird, wahren330.

II. Veränderung des Grundrechtsverständnisses Das Grundrechtsverständnis hat sich seit Inkrafttreten des Grundgesetzes verändert331. Der Staat wird nicht mehr als „primäre Gefahrenquelle für die Freiheit der Bürger“ angesehen332. Die Freiheit des Einzelnen wird auch durch die Gesellschaft selbst bedroht333. Zudem wird der Staat durch neuartige Risiken aufgrund fortschreitender technischer Entwicklungen und veränderter gesellschaftlicher Umstände zunehmend herausgefordert334. Schon Mitte der siebziger Jahre befasste sich Ernst Friesenhahn in einem Festvortrag mit dem Wandel des Grundrechtsverständnisses und wies darauf hin, dass „die rechtliche Beziehung des einzelnen zum Staat […] jetzt stärker 326  Böckenförde,

Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1531. Tötung (Fn. 130), S. 663. 328  Kersten, Tötung (Fn. 130), S. 662; Winkler, Verfassungsmäßigkeit (Fn. 310), S. 537. 329  Ekardt, Multipolarität (Fn. 57), S. 138. 330  Ekardt, Multipolarität (Fn. 57), S. 138. 331  Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1538. 332  P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL  30, (1972), S. 43 (68 f.); Krings, Grund (Fn. 57), S. 160. 333  In diese Richtung bereits H. Arendt, Vita activa – oder Vom tätigen Leben, 1960, S. 331. 334  Mayer, Untermaß (Fn. 101), S. 150; Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 24 f. 327  Kersten,

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

unter dem Aspekt der Forderung nach staatlichen Leistungen betrachtet“ wird335. „Lehre und Rechtsprechung lösen sich von den zunächst noch nachklingenden Resten statischen Denkens bürgerlich-liberaler Art und versuchen, in einem dynamischen Verfassungsverständnis den Forderungen des sozialen Leistungsstaates gerecht zu werden.“336 Ursache ist mithin ein sich verändernder Erwartungshorizont der Bevölkerung und die Erkenntnis, dass sich die liberale Prämisse, wonach sich allein durch die Gewähr gleicher rechtlicher Freiheit ohne Zutun des Staates Wohlstand und Gerechtigkeit einstellen, nicht bewahrheitet hat337. Dies steht im krassen Gegensatz zu den Anfängen, als der Verfassungsgeber vor der Aufgabe stand, einen „hierarchisch gegliederten Privilegienstaat zu einer liberaldemokratischen Bürgergesellschaft“338 umzubauen. Heute hat er die sich oftmals stark unterscheidenden Freiheiten der einzelnen Bürger miteinander zu vereinbaren339. Die Freiheitssicherung durch den Staat, seine Schutzrolle, spielt für den Bürger damit eine deutlich größere Rolle340. Schmitt Glaeser fordert gar, „wir sollten uns endlich und endgültig von dem Trauma befreien, daß es in erster Linie der Staat sei, der unsere Freiheit gefährde“341. Festzuhalten ist, dass im Vergleich zu den Anfängen der Bundesrepublik eine Veränderung des Grundrechtsverständnisses eingetreten ist342. Problematisch ist, dass diese Veränderung als solche nur schwer inhaltlich zu präzisieren ist. Dies mindert ihren Einfluss auf die Verfassungsinterpretation343. An dieser Stelle soll daher der Versuch unternommen werden, eindeutige Indizien für ein Abrücken vom liberalen Grundrechtsverständnis auszumachen. Ein erstes Indiz für den Wandel des Grundrechtsverständnisses ist die Entfaltung der objektivrechtlichen Gehalte der Grundrechte, insbesondere die Anerkennung der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten. Dadurch kam ihnen nicht mehr allein eine dem liberalen Grundrechtsverständnis ent335  E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, in: Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentages, Bd. II, 1974, Sitzungsbericht G1 (G2). 336  Friesenhahn, Wandel (Fn. 335), Sitzungsbericht G1 (G2). 337  Grimm, Rückkehr (Fn. 112), S. 227; Krings, Grund (Fn. 57), S. 160. 338  Wenger, Verwertung (Fn. 191), S. 620. 339  Wenger, Verwertung (Fn. 191), S. 620. 340  P. Lerche, Ausnahmslos und vorbehaltlos geltende Grundrechtsgarantien, in: H. Däubler-Gmelin (Hrsg.), Gegenrede Aufklärung – Kritik – Öffentlichkeit, Festschrift für Ernst Gottfried Mahrenholz, 1994, S. 515; Krings, Grund (Fn. 57), S. 160. 341  W. Schmitt Glaeser, Private Gewalt im politischen Meinungskampf. Zugleich ein Beitrag zur Legitimität des Staates, 2. Aufl. 1992, S. 231. 342  H. Bethge, Der Grundrechtseingriff, in: VVDStRL 57 (1998), S. 10 (14); H.D. Horn, Sicherheit durch vorbeugende Verbrechensbekämpfung, in: ders. (Hrsg.), Recht im Pluralismus. Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70.  Geburtstag, 2003, S. 435 (450). 343  Krings, Grund (Fn. 57), S. 160.

J. Liberale Grundrechtstheorie: in dubio pro libertate?135



sprechende Abwehrfunktion zu, sondern sie wurden zudem zur Grundlage staatlicher Handlungspflichten fortgebildet344. Weitergehend lässt sich eine Veränderung im Freiheitsverständnis des Grundgesetzes an der Aufnahme des Sozialstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 1 GG festmachen. Hiermit wurde das Fundament für den modernen Leistungsstaat gelegt345. Damit einher geht zwingend eine Modifikation des Grundrechtsverständnisses, weg vom rein liberalen Ansatz346. Die grundrechtliche Ordnung ist nicht länger „Schutzgemeinschaft der Handlungsmächtigen“ sondern eben auch cum grano salis „Solidargemeinschaft der Bedürftigen“347. Der Sozialstaatsauftrag bewirkt somit eine Relativierung der staatsabwehrenden Wirkrichtung der Grundrechte, indem er eine auf staatliches Tätigwerden gerichtete Wirkungsweise der Grundrechte verfassungsrechtlich anordnet348. Dies hat zur Folge, dass der Staat auf Verwirklichungsdefizite grundrechtlich zu gewährender Freiheiten nicht mehr mit Untätigkeit reagieren kann. Die Entwicklung geht hin zu einem sozialstaatlichen Freiheitsverständnis. Das Bild wird schließlich durch einen Blick auf die Entwicklung des einfachen Gesetzesrechts vervollständigt. Beispielhaft sei hier das Terrorismusbekämpfungsgesetz genannt, welches als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 eingeführt wurde349. Dieses brachte eine Vielzahl von organisations- und materiell-rechtlichen Neuerungen mit sich, welche auf eine Verbesserung der inneren Sicherheit abzielten350. Dass der Schutz durch den Staat immer mehr in den Vordergrund rückt, zeigt sich allerdings auch in anderen Rechtsgebieten. Insbesondere im Umwelt-, Immissionsschutz-, Atom- und Gentechnikrecht lassen sich vergleichbare Entwicklungen ausmachen. Die Abwehrrechte sind hier nur noch von untergeordneter Bedeutung, was sich insbesondere an der Fülle regelungsintensiver Schutzgesetze zeigt351. Vielmehr spiegeln diese Novellierungen die Forderung wider, dass der Staat aktiv schützend tätig wird352. Es lassen sich somit konkrete Anhaltspunkte für eine Veränderung des Grundrechtsverständnisses ausmachen. Dies führt zu dem Schluss, dass eine 344  Grimm,

Rückkehr (Fn. 112), S. 221. Grund (Fn. 57), S. 155. 346  Schwarz, Postulat (Fn. 271), S. 128; Krings, Grund (Fn. 57), S. 155. 347  W. Kersting, Politik und Recht, 2000, S. 318. 348  Dietlein, Lehre (Fn. 16), S. 60. 349  BGBl. I 2002, S. 361 mit Berichtigung vom 7.8.2002 in BGBl. I 2002, S. 3142. 350  M. Nolte, Die Anti-Terror-Pakete im Lichte des Verfassungsrechts, in: DVBl. 2002, S. 573 (573 ff.). 351  Vosgerau, Grenzen (Fn. 14), S. 142. 352  Horn, Sicherheit (Fn. 342), S. 437. 345  Krings,

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

„konstitutionalistische, autoritär-liberale Dogmatiktradition kein sehr geeigneter Anhaltspunkt für die Interpretation einer modernen Verfassung ist.“353

III. Zwischenfazit Dem Grundgesetz liegt kein rein liberales Grundrechtsverständnis (mehr) zu Grunde. Der moderne Leistungsstaat hat gerade staatliches Handeln zur Voraussetzung der durch die Abwehrrechte garantierten Freiheiten gemacht354. Der Staat ist mithin nicht mehr nur freiheitsbegrenzend sondern ebenso freiheitsermöglichend tätig355. Dies hat seinen Grund in der veränderten Quelle der Gefahren für die Bevölkerung. Ein rein liberales Grundrechtsverständnis, in welchem sich die Grundrechte in ihrem status negativus erschöpfen müssten, hat damit keinen Platz mehr, weil es im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis nicht zu zufriedenstellenden Ergebnissen kommen kann356. Es ist ein Wandel in der Konzeptualisierung der Grundrechte erfolgt357. Die Ausblendung der objektivrechtlichen Grundrechtsgehalte erklärt sich, wie gezeigt, dadurch, dass das liberale Rechtsparadigma seinerzeit als erfolgsversprechendes Konzept zur Etablierung rechtsstaatlicher Prinzipien galt358. Dies ist aber mittlerweile erfolgt. Neben dem Staat können heute private Dritte immense Beeinträchtigungen der grundrechtlichen Freiheiten herbeiführen359. In Bezug auf alle Gefahren, die den grundrechtlichen Freiheiten drohen, ist das liberale Grundrechtsverständnis, welches die grundrechtlichen Schutzpflichten konsequenterweise nicht anerkennen darf, auf einem Auge blind, was effektiven Rechtsgüterschutz betrifft360. Dieses Verständnis mag im 19. Jahrhundert angebracht gewesen sein, wird dem heutigen Individuum, welches in zahlreichen Abhängigkeitsverhältnissen steht, indes nicht mehr gerecht361. Vielmehr dienen Achtungs- und Schutzpflichten in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich der verfassungsrechtlich gebotenen Gewährleistung der Freiheit des Einzel353  Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 10), S. 59; Ekardt, Mulitpolarität (Fn 57), S. 139. 354  Schwarz, Postulat (Fn. 271), S. 128. 355  M. Burgi, Das Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung, in: ZG 9 (1994), S.  341 (341 ff.); K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 433. 356  C. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 348. 357  J. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. 1992, S. 301 ff. 358  Habermas, Faktizität (Fn. 357), S. 306. 359  Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1532. 360  Vosgerau bezeichnet dies etwas polemisch als „halbierten Liberalismus“; Grenzen (Fn. 14) S. 137; Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1531 f. 361  Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn. 311), S. 1531.



J. Liberale Grundrechtstheorie: in dubio pro libertate?

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nen362. Die liberale Prägung des Grundgesetzes wird dadurch nicht in Abrede gestellt. Die Freiheit, die durch das Grundgesetzt gewährleistet werden soll, ist aber nicht mehr (nur) die des bürgerlichen Liberalismus363. Ein Primat der Achtungspflicht kann vor diesem Hintergrund nicht angenommen werden. Dies wäre allein unter Zugrundelegung einer rein liberalen Grundrechtstheorie schlüssig. Die Verfassung ist aber auf Grundlage der heutigen Bedingungen auszulegen364. Diese erfordern mehr als ein nur auf Staatsabwehr gerichtetes Verständnis der Grundrechte. Insofern kann nicht von einem Wandel gesprochen werden, weil die Grundrechte immer noch und zurecht als Abwehrrechte gegen den Staat zu verstehen sind. Es geht vielmehr um eine Erweiterung dessen, was Grundrechte bewirken. Aus diesem Grund kann auch der oftmals ins Feld geführte Grundsatz „in dubio pro libertate“365 nicht eine abstrakte Vorrangstellung der Achtungspflichten begründen. Die dem liberalen Grundrechtsverständnis immanente Freiheitsvermutung bezieht sich allein auf das bipolare Verhältnis des Bürgers zum Staat, mithin auf die Achtungspflichten366. In Dreiecksverhältnissen, in denen der Staat sich mehreren zu koordinierenden Freiheitssphären ausgesetzt sieht, ist eine abstrakte Freiheitsvermutung nicht von Nutzen367. Darüber hinaus ist sie allein auf Zweifelsfälle ausgelegt. Schließlich beschreibt der Grundsatz allein ein mögliches Ergebnis der Frage nach einem Primat der Achtungspflicht ohne selbst eine Begründung zu liefern368. Ob oder welche Grundrechtstheorie dem Grundgesetz zugrunde liegt, ist hier daher nicht mehr relevant, weil es jedenfalls nicht eine rein liberale sein kann. Grundsätzlich ist diesbezüglich anzumerken, dass es nicht die eine richtige Grundrechtstheorie gibt. Die Rechtsprechung ist insofern auch nicht ein362  P. Badura, Kodifikatorische und rechtsgestaltende Wirkung von Grundrechten, in: R. Böttcher/G. Hueck/B. Jähnke (Hrsg.), Festschrift für Walter Odersky zum 65. Geburtstag, 1996, S. 159 (180). 363  Mayer, Untermaß (Fn. 101), S. 79. 364  Bleckmann, Staatsrecht (Fn. 308), § 8 Rn. 50. 365  Dazu insbesondere P. Schneider, In dubio pro libertate, in: E. v. Caemmerer/ E. Friesenhahn/R. Lange (Hrsg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, 1960, S. 263 (279 ff.); ders., Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S.  1 (31 ff.). 366  E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 34 (1976), S. 221 (226); Isensee, Grundrecht (Fn. 15) S. 47 f.; Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 10), S. 268; M. Schmidt-Preuß, Multipolarität und subjektives öffentliches Recht, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 597 (607). 367  Isensee, Grundrecht (Fn. 15), S. 47 f.; A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 279; Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 10), S. 268. 368  Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 10), S. 268.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

heitlich, weil sich zur Unterstützung jeder Theorie Urteile des Bundesverfassungsgerichts anführen lassen369. Gleiches gilt für die Literatur, in der sich keine der Theorien als maßgebliche Auslegungsdirektive durchzusetzen vermochte370. Abgesehen davon kommt Grundrechtstheorien ohnehin eine vergleichsweise schwache argumentative Wirkung zu371. Sie neigen dazu sich auf ihren Schwerpunkt zu verengen und dadurch unberechtigterweise andere Gesichtspunkte aus dem „Funktionsradius der Grundrechte“ auszuschließen372.

K. Kein Primat der Achtungspflicht im Dreiecksverhältnis Ein Primat der Achtungspflicht besteht nicht. Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte sind im Dreiecksverhältnis gleichrangig373. Die grundrechtliche Schutzpflicht weicht im Falle der Kollision daher nicht der Achtungspflicht, sondern tritt dieser als normativ gleichwertige verfassungsrechtliche Pflicht gegenüber374. Dies ist der besonderen Situation des mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses geschuldet, in der ein effektiver Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter nur auf Grundlage der abstrakten Gleichwertigkeit der beiden Pflichtenarten gewährleistet werden kann. Diese sichern die grundrechtlichen Freiheiten der Menschen nach beiden Fronten, sprich gegenüber staatlichen sowie gegenüber nicht-staatlichen Gefahren, ab was der Multipolarität der Freiheit entspricht375. Dies ist erforderlich, weil im Dreiecksverhältnis keine der beiden Grundrechtsfunktionen für sich genommen einen vollumfänglichen Schutz vermitteln kann376. Achtungs- und Schutzpflichten sind zwei Seiten derselben Medaille, genau wie Sicherheit und Freiheit. Es gilt sich daher von einem rein abwehrrechtlichen Denken zu verabschieden377. 369  Beispielhaft seien genannt für die: liberale Theorie, BVerfGE 50, 290 (337); institutionelle Theorie, BVerfGE 12, 205 (259 ff.); Werttheorie, BVerfGE 7, 198 (205); demokratische Theorie, BVerfGE 42, 163 (170); sozialstaatliche Theorie, BVerfGE 33, 303 (330 ff.); Verfahrenstheorie, BVerfGE 53, 30 (64 f.). 370  Böckenförde, Grundrechtstheorie (Fn.  311), S. 1532; Sachs (Fn. 178), Vor Art. 1 Rn. 69. 371  Alexy, Theorie (Fn. 159), S. 509. 372  Dietlein, Lehre (Fn. 16), S. 59. 373  C. Calliess, Schutzpflichten, in: Merten/Papier, HGR II (Fn. 173), § 44 Rn. 22; J. v. Bernstorff, Pflichtenkollision und Menschenwürdegarantie, in: Der Staat 47 (2008), S. 21 (28); Suchomel, Disponibilität (Fn. 99), S. 112 ff.; Vosgerau, Grenzen (Fn. 14), S. 136 f., 147; Isensee (Fn. 22) § 191 Rn. 45. 374  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 45. 375  Ekardt, Mulitpolarität (Fn. 57), S. 138. 376  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 45. 377  Suchomel, Disponibilität (Fn. 99), S. 112.



K. Kein Primat der Achtungspflicht im Dreiecksverhältnis 139

Die staatliche Verpflichtung, dem Bürger ausreichend Schutz gegenüber privaten Übergriffen zu gewährleisten, findet ihren Ursprung, wie die staatstheoretischen Ausführungen gezeigt haben, bereits in dem Kompensationsgedanken des Gewaltverbots. Dieses vertragstheoretische Synallagma aus Gewaltverzicht und Schutzgewähr würde durch ein Primat der Achtungspflicht gestört, weil dessen Folge ein Schutzdefizit auf Seiten des Betroffenen ist. Es bestünde die Gefahr unzulässiger privater Gewaltausübung. Deren oftmals unkontrollierte Maßlosigkeit wurde uns von Heinrich von Kleist am Beispiel des Michael Kohlhaas nahe gebracht378. Dieser sah sich zur Selbstjustiz gezwungen, verfolgte diese getreu dem Motto „Fiat iustitia, et pereat mundus“379 und richtete im Ergebnis einen Schaden an, der in krassem Missverhältnis zu dem selbst erlittenen Unrecht – dem Verlust zweier Pferde – stand380. Für eine Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten spricht zudem, dass die Abwehrfunktion droht, ihre freiheitssichernde Funktion nicht mehr erfüllen zu können, weil zunehmend hoheitliche Aufgaben auf Private verlagert werden381. In diesen Bereichen tritt der Staat nicht mehr als direkter Gegenüber des Bürgers auf. Diese Rolle wird dann vielmehr von den mit der jeweiligen Aufgabenerfüllung betrauten Privaten übernommen. Der Staat zieht sich demgegenüber auf eine Überwachungsposition zurück. Im Ergebnis kommt den betrauten Privaten dadurch ein immenser Einfluss auf die Möglichkeiten der Verwirklichung von Freiheitsrechten durch die Bürger zu382. Handeln diese dann mittels nicht-hoheitlicher Maßnahmen, so können die gegen den Staat gerichteten Abwehrrechte den Bürgern keinen Schutz vermitteln. Es besteht folglich die Gefahr, dass mit Verlagerung von hoheitlichen Aufgaben auf Private eine Reduzierung des Schutzniveaus einhergeht. Diese Gefahr kann allein durch Anerkennung der Äquivalenz von Achtungs- und Schutzpflichten gebannt werden. Nur die grundrechtlichen Schutzpflichten können dem Bürger in diesen Situationen zu ausreichend Schutz verhelfen. Die Ebenbürtigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten mag angesichts des augenscheinlich abwehrrechtlichen Duktus des Grundrechtsabschnitts zunächst verwundern. Allerdings spricht insbesondere der Textbefund des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG eindeutig für dieses Verständnis. Dieses Ergebnis wird eben378  H. v. Kleist,

Michael Kohlhaas, Reclam-Ausgabe 2003. dem Lateinischen: „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“. 380  Isensee bezeichnet dies treffend als die „Keule des Kohlhaas“, Grundrecht (Fn. 15), S. 59 f. 381  Krings, Grund (Fn. 57), S. 142; W. Hoffmann-Riem, Kontrolldichte und Kon­ trollfolgen beim nationalen und europäischen Schutz von Freiheitsrechten in mehr­ poligen Rechtsverhältnissen, in: EuGRZ 2006, S. 492 (493). 382  Hoffmann-Riem, Kontrolldichte (Fn. 381), S. 493. 379  Aus

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

falls unterstützt durch die erfolgte Untersuchung der jeweiligen Pflichtverletzungen. Eine Unterscheidung in Hinblick auf den Grad der Verfassungswidrigkeit ließ sich nicht ausmachen, weil eine solche nicht der Systematik des Grundrechtskatalogs entspricht. Bereits die isolierte Betrachtung der Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion ergab, dass diese keine vorgegebene Rangordnung kennt, auch wenn diese zum Teil durch Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts wie „Höchstwert“, et cetera suggeriert wird383. Es erscheint daher sinnlos, eine solche Rangordnung für Verstöße gegen Achtungs- und Schutzpflichten anzunehmen. Die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung erschließt sich vor allem mit Blick auf den Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts. Für dieses ist allein maßgeblich, ob eine Verletzung der Verfassung vorliegt, und nicht welche Intensität diese hat384. Ferner lässt sich ein Primat der Achtungspflicht ebenso wenig aus dem Spielraum herleiten, welcher dem Staat bei der Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflichten zukommt. Dieser hat allein einen retardierenden Effekt hinsichtlich der Kollision der beiden Pflichtenarten in Dreiecksverhältnissen. Er begründet aber keine verminderte Geltungskraft der Schutzfunktion. Gegen die Mediatisierungsbedürftigkeit der grundrechtlichen Schutzpflichten als Anhaltspunkt für ein Primat der Achtungspflichten wurden überzeugende Einwände vorgebracht. Zum einen wurden in der Vergangenheit, gerade in kritischen Situationen, in denen elementare Schutzgüter wie das Leben bedroht waren, Ausnahmen von diesem Erfordernis gemacht, welche im Nachhinein gar höchstrichterliche Absolution erhielten. Zum anderen wurde angeführt, dass nicht wirklich von einer Bedürftigkeit der Mediatisierung die Rede sein kann, weil diese bereits weitestgehend erfolgt ist. Beide Einwände mögen für sich genommen die Überzeugungskraft der Mediatisierungsbedürftigkeit als Argument schwächen, nehmen sich dabei aber nicht der eigentlichen Frage an. Ist eine verfassungsrechtliche Pflicht weniger stark, weil sie aufgrund rechtsstaatlicher Erfordernisse allein über das Vehikel des einfachen Gesetzesrechts praktische Wirksamkeit entfalten kann? Die Antwort auf diese Frage muss negativ ausfallen. Allein die Transformationsbedürftigkeit der grundrechtlichen Schutzpflicht führt nicht zu einer Minderung ihrer Geltungskraft. Diese bestimmt sich nicht nach den Restriktionen denen eine Pflicht unterliegt, sondern nach ihrem Ursprung. Dieser ist für beide Pflichten das Grundgesetz. Darüber hinaus gilt das Erfordernis des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes ohnehin nur für die Exekutive. Die Schutz383  Dreier,

Dimensionen (Fn. 227), S. 22; Alexy, Theorie (Fn. 159), S. 125. Rahmen dieser Prüfung setzt sich das Bundesverfassungsgericht mit der Intensität des Eingriffs auseinander, da diese für die Frage nach dessen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung von Bedeutung ist. Die Schwere der Eingriffsintensität ist aber nicht das Gleiche wie die Schwere der Verfassungsverletzung. 384  Im



K. Kein Primat der Achtungspflicht im Dreiecksverhältnis 141

pflichten wirken für Legislative und Judikative also genauso unmittelbar wie die Achtungspflichten. Es erscheint daher nicht gerechtfertigt, hieraus auf eine grundsätzliche prinzipielle Vorrangstellung der Achtungspflichten zu schließen. Die materielle Bedeutungslosigkeit der Unterscheidung der beiden Pflichtenarten am Maßstab ihrer Verortung in der subjektiv-rechtlichen oder objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension wurde mit Anerkenntnis der subjektivrechtlichen Qualität der grundrechtlichen Schutzpflichten offenbar. Angesichts der entgegengesetzten Wirkrichtungen kann eine mindere Geltungskraft der Schutzpflichten außerdem nicht unter Verweis auf die vom Bundesverfassungsgericht den objektivrechtlichen Grundrechtsgehalten zugewiesene Verstärkungsfunktion hergeleitet werden. Die historische Betrachtung hat darüber hinaus ergeben, dass die Bezeichnung der Abwehrfunktion als Urfunktion nicht der chronologischen Reihenfolge der Entstehung der Gedanken hinter den Pflichtenarten entspricht. Auch wenn die Genese des Grundgesetzes an der Dominanz der auf Staatsabwehr gerichteten Funktion der Grundrechte keine Zweifel lässt, kann dieses rein liberale Grundrechtsverständnis nicht mehr überzeugen. Dies gilt insbesondere für die hier in Frage stehenden Dreiecksverhältnisse. Außer Acht gelassen wurden bisher außerdem die zahlreichen strukturellen Gemeinsamkeiten, die zwischen Achtungs- und Schutzpflichten bestehen. Beide beziehen sich auf die gleichen Schutzgüter. Zur Entfaltung ihrer Wirkung bedürfen sie eines äußeren Moments, so dass sich ihre Wirkung jeweils erst beim Erreichen einer bestimmten „Reaktionsschwelle“ entfaltet385. Verpflichteter ist in beiden Fällen der Staat. Genau wie die Schutzpflichten ein Mindestmaß an Schutz gewährleisten, begrenzen die Achtungspflichten staatliches Handeln im Schutzbereich der Grundrechte anhand eines Maximums an zulässiger Eingriffsintensität. Beide Pflichten markieren demnach nur eine untere beziehungsweise obere Grenze für die staatliche Gewalt und nicht einen konkreten Punkt. Dies ist geboten um der staatlichen Gewalt einen Spielraum zu belassen, innerhalb dessen diese die ihrer Auffassung nach zweckmäßigste Entscheidung treffen kann und flexibel auf die jeweilige Situation reagieren kann. Diese grundrechtsdogmatischen Ähnlichkeiten sprechen nicht für eine Privilegierung einer der beiden Pflichten. Eine Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis steht schließlich auch im Einklang mit der generellen Entwicklung der Grundrechtsdogmatik. Diese geht in Richtung eines erhöhten Rechtsgüterschutzes. Erkennen lässt sich dies beispielsweise an der 385  Dolderer, Grundrechtsgehalte (Fn. 10), S. 263; im Falle der Achtungspflichten ist dies der Eingriff, im Falle der grundrechtlichen Schutzpflichten der Übergriff.

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2. Kap.: Primat der Achtungspflicht

Aufweichung des klassischen Eingriffsbegriffs und der damit einhergehenden Schaffung des modernen Eingriffsbegriffs. Mit der Auflösung der tatbestandlichen Voraussetzungen an das staatliche Handeln wurde der Bezugspunkt auf die Wirkung für das jeweils betroffene Schutzgut verlagert386. Diese Entwicklung zielt auf einen lückenlosen Grundrechtsschutz ab387. Gleiches, namentlich ein vollumfänglicher Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter, wird mit Anerkennung der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten erreicht. In diesem Sinne äußerte sich auch die damalige Bundesregierung zur Verfassungsbeschwerde gegen das Luftsicherheitsgesetz, wonach „keine Präferenz der Abwehrfunktion gegenüber der Schutzfunktion“388 bestünde. Der Aspekt der möglichst umfassenden Bewahrung der Schutzgüter des Grundgesetzes spricht daher für eine Gleichwertigkeit der beiden Funk­ tionen389.

386  Hillgruber

(Fn. 22), § 200 Rn. 91. Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Grundrechtseingriff, in: JuS 2009, S. 313 (313). 388  BVerfGE 115, 118 (131). 389  Isensee (Fn. 22), § 191 Rn. 45. 387  A. Voßkuhle/A.-B. Kaiser,

3. Kapitel

Auflösung der Ausnahmesituationen Im Anschluss an die Untersuchung der dogmatischen Grundlagen gilt es sich nunmehr mit den Folgen der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht im Hinblick auf die Auflösung von Ausnahmesituationen auseinanderzusetzen. Mit Anerkennung der Ebenbürtigkeit geht einher, dass das Kriterium der betroffenen Pflichtenart für die Auflösung keine Bedeutung haben kann. Auf beiden Seiten des Dreiecksverhältnisses stehen grundsätzlich gleich starke Pflichten, die der Staat zu erfüllen hat. Es müssen daher andere Parameter ausfindig gemacht werden, welche in Ausnahmesituationen zur Entscheidungsfindung hinsichtlich der Frage, welche der beiden Pflichten von Verfassungs wegen zu erfüllen ist, herangezogen werden können. Grundsätzlich stellt dies kein Problem dar. In Hinblick auf die hier untersuchten Grundrechte wird dieses Unterfangen allerdings durch die jeweiligen Eigenheiten der betroffenen Grundrechte erheblich erschwert. Das menschliche Leben ist nach überkommenem Verständnis grundsätzlich keiner Bewertung zugänglich. Dies hat zur Folge, dass in Konfliktsituationen mit Beteiligung des Grundrechts auf Leben von Beginn auf viele – ansonsten brauchbare – Abwägungskriterien nicht zurückgegriffen werden darf. Noch schwieriger ist die Auflösung von Dreiecksverhältnissen in denen sowohl aufseiten des Übergriffigen als auch aufseiten des Betroffenen die Menschenwürde betroffen ist. Hier steht bereits die Möglichkeit einer Pflichtenkollision in Frage. Hinzu kommt, dass die Menschenwürde weithin aufgrund ihres Absolutheitsanspruchs als abwägungsfeindlich angesehen wird. Selbst bei Anerkennung der Kollisionslage im Würdebereich stellt deren Auflösung den Rechtsanwender daher vor große Schwierigkeiten. Angesichts dieser antizipierten Schwierigkeiten wird sich zeigen, ob sich das Verständnis von der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht auch in Grenzsituationen bewähren kann. Aufgrund der angesprochenen Besonderheiten der betroffenen Rechtsgüter werden einige der Kollisionslagen prima facie als unauflösbar erscheinen. Ein äußerst unbefriedigendes Ergebnis vor dem Hintergrund der herausgehobenen Stellung, welche das Leben und die Menschenwürde im Grundrechtssystem einnehmen. Auch wenn Pflichtenkollisionen in Hinblick auf diese beiden Rechtsgüter in der Praxis nur äußerst selten auftreten, kann dies nicht bedeuten, dass diese Kollisionslagen als quantité négligeable behandelt werden und ungeregelt

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

bleiben1. Es wäre wünschenswert, wenn das Recht auch für derartige existentielle Konfliktfälle Lösungen bereit hielte. Aufgrund der den hier behandelten Ausnahmesituationen eigenen dilemmatischen Struktur steht dabei von vornherein fest, dass eine solche Lösung nie als in jeder Hinsicht „richtig“ angesehen werden wird2. Entgegen dieser Widrigkeiten ist Anspruch dieser Untersuchung dem Drang nach Annahme von Aporien nicht nachzugeben. Das Komplizierte soll nicht – zumindest nicht ohne nähere Begutachtung – schlichtweg für unlösbar erklärt werden. Dies wäre zum einen wissenschaftlich unbefriedigend und zum anderen ließe es den Rechtsanwender im Stich. Die Staatsgewalt kann sich einer Entscheidung in den zu untersuchenden Ausnahmesituationen nicht entziehen3. Sie muss eine Entscheidung zwischen den konkurrierenden Pflichten, zwischen Handeln und Dulden, treffen. Diese kann und darf nur auf Grundlage des Rechts erfolgen. Für dessen umfassende Akzeptanz ist es daher entscheidend, dass es auch die Bewährungsprobe der Ausnahmesituationen meistert. Ohne praktische Anwendbarkeit verliert das Recht schließlich seine Existenzberechtigung. In diesem Sinne sollen hier brauchbare Methoden zur Bewältigung dieser Konstellationen gefunden werden. Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass wesentliches Element des Rechtsstaats die Bindung an Gesetz und Recht ist. Reine Zweckmäßigkeitserwägungen oder politischer Impetus sind an dieser Stelle daher nur von untergeordneter Bedeutung. Dies ist gesondert herauszustellen, weil gerade Ausnahmesituationen, in denen das Recht an seine Grenzen gerät, die Staatsgewalt dazu verleiten können, im Bemühen um effektive Gegenwehr die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit aufzuweichen. Die den Kollisionslagen teilweise innewohnende Ausweglosigkeit kann daher keinesfalls unter Rückzug auf plakative Maximen wie „Not kennt kein Gebot“ begegnet werden. Vielmehr hat die Verfassung auch diese Feuerproben zu bestehen und den Geltungsanspruch des Rechts aufrechtzuerhalten. Bevor mit der Analyse der einzelnen Pflichtenkollisionen begonnen werden kann, sei zum einen darauf hingewiesen, dass es sich bei der folgenden isolierten Untersuchung der jeweiligen Konfliktlagen um eine künstliche Aufspaltung handelt. Im Hinblick auf die zugrundeliegenden Lebenssachverhalte und des engen Zusammenhangs zwischen Leben und Würde können 1  W.-R. Schenke, Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, in: NJW 2006, S. 736 (739). 2  Zur tragischen Situation allgemein C. Menke, Tragödie im Sittlichen: Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, 1996. 3  J. Isensee, Leben gegen Leben, Das grundrechtliche Dilemma des Terror­angriffs mit gekapertem Passagierflugzeug, in: M. Pawlik/R. Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag am 26. Juli 2007, 2007, S. 205 (206).



A. Leben gegen Leben145

mehrere Pflichtenkollisionen zusammenfallen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und des besseren Verständnisses wird hier allerdings eine Trennung vorgenommen. Zum anderen erfolgt die Untersuchung der Pflichtenkollisionen allein unter materiell-rechtlichen Gesichtspunkten.

A. Leben gegen Leben Die erste zu untersuchende Ausnahmesituation ist die Kollision von Achtungs- und Schutzpflicht im Bereich des Grundrechts auf Leben. Diese entsteht, wenn ein Bürger das Leben eines anderen Bürgers gefährdet und der Staat, welcher zum Schutz des Lebens des Betroffenen verpflichtet ist, diese Bedrohung nur durch Tötung des Übergriffigen abwenden kann. Es steht aus Sicht des Staates somit Leben gegen Leben. Entscheidend ist daher, wie der Staat in dieser Situation eine Entscheidung für die Erfüllung der einen oder anderen Pflicht treffen kann. Dabei ist nach Skizzierung der Ausgangsposition zunächst zu ermitteln, ob es dem Staat grundsätzlich möglich ist, Menschen zu töten, oder ob die Verfassung dies unter Umständen uneingeschränkt verbietet. Im Anschluss daran muss sich mit der Frage auseinandergesetzt werden, ob es zu einem „Pflichtenfortfall“ kommen kann. Damit gemeint sind Umstände des Einzelfalles, die zur Folge haben, dass der Staat nicht mehr an eine der beiden Pflichten gebunden ist. Eine Auflösung wäre dann nicht mehr erforderlich. Ist ein solcher Pflichtfortfall möglich, liegt aber im konkreten Fall aber nicht vor, so ist die Pflichtenkollision zur Auflösung zu bringen, was im Folgenden beleuchtet werden soll. Hier besteht bei Zugrundelegung der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten eine Pattsituation, weil auf beiden Seiten des Dreiecks das gleiche Schutzgut betroffen ist. Maßgeblich können daher nur andere Faktoren als die betroffenen Rechtsgüter als solche sein. Aus praktischer Sicht stellt dabei bereits die klare Abgrenzung der betroffenen Grundrechte eine der größten Herausforderungen dar. Diese ergibt sich aus der engen Verbindung von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Wann eine Tötung zugleich eine Beeinträchtigung der Menschenwürde darstellt, ist im Rahmen dieser Untersuchung allerdings nur von untergeordneter Bedeutung. Hierauf wird nur eingegangen, wenn dies für die Frage nach dem Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht notwendig ist.

I. Ausgangsposition Der Staat hat die grundrechtliche Schutzpflicht für das Leben des Betroffenen zu erfüllen, mithin dessen Leben aus der durch den Übergriff begründeten Gefahr zu retten. Alle Maßnahmen, die zur Rettung geeignet sind, ge-

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

hen in der Konstellation Leben gegen Leben zwingend mit der Tötung des Übergriffigen einher. Ergreift der Staat indes keine dieser Maßnahmen, bleibt also untätig, so wird das Leben des Betroffenen durch den Übergriff ausgelöscht. Die staatliche Reaktion auf die Ausnahmesituation fällt somit in den Bereich der Gefahrenabwehr. Hier kommt der zuständigen Behörde grundsätzlich ein Entschließungsermessen zu, ob sie tätig wird. Angesichts des hohen Ranges des Lebensrechts ist dieses in diesen Ausnahmesituationen allerdings praktisch immer auf Null reduziert4. Die Staatsgewalt ist zum Eingreifen verpflichtet. Ein Auswahlermessen im Hinblick auf die umzusetzende Maßnahme besteht in der hier zugrunde gelegten Situation nicht, da allein die Tötung des Übergriffigen als erfolgsversprechende Maßnahme in Betracht kommt. Neben der Schutzpflicht hat der Staat aber auch, wie in jedem Dreiecksverhältnis, die Achtungspflicht für das Leben des Übergriffigen zu erfüllen. Das bedeutet, er hat das Lebensrecht des Übergriffigen zu achten und somit dem Grunde nach die Vernichtung seines Leben zu unterlassen. Damit wird ersichtlich, dass in dieser Situation die Normbefehle von Achtungs- und Schutzpflicht kollidieren. Normalerweise würde man in seinem solchen Fall einen schonenden Ausgleich zwischen den beiden Pflichten anstreben. Aufgrund der Unteilbarkeit des Rechtsguts Leben ist eine jeweils teilweise Pflichtenerfüllung allerdings nicht möglich. Die Situation versetzt den Staat daher in das Dilemma, nur eine der beiden Pflichten erfüllen zu können5. Es gilt zu klären für welches Leben der Staat einzustehen hat und welches zu beenden ist. Verschärft wird diese ohnehin schon prekäre Entscheidung durch ihre Unumkehrbarkeit6. Das einmal ausgelöschte Leben ist unwiederbringlich verloren. Damit ist die Ausgangsposition Leben gegen Leben nachgezeichnet, welche die Grundlage für die weiteren Ausführungen bildet.

II. Der Staat darf töten Der Erfüllung der Schutzpflicht, mithin die aktive Tötung eines Menschen durch den Staat, ist die wohl intensivste Form körperlicher staatlicher Gewaltanwendung. Der aktive Entzug des Lebens ist nicht mit anderen Grundrechtseingriffen vergleichbar7. Auf die Irreversibilität des Eingriffs wurde 4  D. Murswiek,

in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 2 Rn. 196. v. Bernstorff, Pflichtenkollision und Menschenwürdegarantie, in: Der Staat 47 (2008), S. 21 (27). 6  Art. 2 Abs. 2 S. 1 1. Alt. GG wird daher auch als „Alles-oder-nichts-Grundrecht“ bezeichnet: T. Hartleb, Der neue § 14 III LuftSiG und das Grundrecht auf Leben, in: NJW 2005, S. 1397 (1397). 7  M. Ladiges, Die Bekämpfung nicht-staatlicher Angreifer im Luftraum, 2007, S. 356; U. Fink, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: D. Merten/ 5  J.



A. Leben gegen Leben

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bereits hingewiesen. Hinzu kommt, dass die Auswirkungen eines solchen Eingriffs weit über den Bereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 1. Alt. GG hinausreichen. Das Leben bildet die Voraussetzung für die Ausübung aller anderen Grundrechte. Mit Entzug des Lebens kommen dem einzelnen Grundrechtsträger somit auch sämtliche andere Grundrechte abhanden8. Darüber hinaus wird durch die Tötung auch die vertragstheoretische Grundlage des modernen Staates aufgehoben, da dieser ja eigentlich gerade zum Schutz seiner Bürger verpflichtet ist9. Angesichts dieser weitreichenden Folgen stellt sich die berechtigte Frage, ob der Staat grundsätzlich eigenhändig Leben beenden darf. Wäre es dem Staat verfassungsrechtlich verboten, seine Bürger selbst durch aktives Tun zu töten, so würde eine Auflösung zwischen Achtungs- und Schutzpflicht obsolet. Eine Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht käme dann von vornherein nicht in Betracht. Die Achtungspflicht verbliebe als einzig erfüllbare Pflicht. Das deutsche Recht kennt aber durchaus die Befugnis zu töten. Diese wird beispielsweise für Soldaten der Bundeswehr aus der prinzipiellen Zulässigkeit der Führung eines Verteidigungskrieges hergeleitet, welche „vom GG vorausgesetzt (Art. 12a, 24 II, 65a, 73 Nr. 1, 87a, b, 115 ff.)“10 werde. Erlaubt sind demnach Tötungshandlungen, die nicht gegen geltendes Kriegsvölkerrecht verstoßen. Das Recht bestraft darüber hinaus denjenigen nicht, der unter Erfüllung der Voraussetzungen des § 32 StGB einen anderen Menschen tötet, weil diese Tötung als gerechtfertigt angesehen wird. Der Gedanke, dass unter bestimmten Umständen die aktive Tötung eines Menschen nicht rechtswidrig ist, ist dem deutschen Recht also nicht gänzlich fremd. Entscheidend ist aber, ob der Staat selbst zum Schutz eines Menschen einen anderen Menschen töten darf. 1. Tötungsverbot des Art. 102 GG Ein solches an den Staat gerichtetes Tötungsverbot ließe sich aus Art. 102 GG folgern, der die Abschaffung der Todesstrafe normiert11. Die staatliche Tötung wird von Thiele als „antizipierte Todesstrafe“ gedeutet12. Hiernach H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, 2011, § 88 Rn. 35. 8  Fink (Fn. 7), § 88 Rn. 35. 9  R. Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, in: JZ 2007, S. 373 (374). 10  Murswiek (Fn. 4), Art. 2 Rn. 172. 11  W. Thiele, Neues Polizeirecht in Bund und Ländern?, in: DVBl. 1979, S. 705 (707). 12  Thiele, Polizeirecht (Fn. 11), S. 707.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

wäre die aktive staatliche Tötung eines Menschen per se wegen Art. 102 GG verfassungswidrig13. Die Herleitung eines solch grundsätzlichen Tötungsverbots aus Art. 102 GG kann allerdings nicht überzeugen. Sie verwischt die unterschiedlichen Zielrichtungen staatlichen Handelns. Vielmehr gilt es zwischen der Tötung als Sanktion, das heißt als Maßnahme der repressiven Strafverfolgung, und der Tötung im Zuge der Gefahrenabwehr, also als Maßnahme der Prävention zu unterscheiden14. Der Anwendungsbereich des Art. 102 GG erstreckt sich nur auf die erste Alternative, nicht auf die hier in Frage stehenden präventiven Maßnahmen15. Dies wird bereits durch den Wortlaut der Norm deutlich, welche explizit von Todesstrafe spricht. Damit gemeint ist ein terminus technicus im Sinne der §§ 38 ff. StGB, also die durch richterliches Urteil verhängte Strafe, nicht die durch exekutives polizeiliches Handeln vollzogene Tötung16. Für diese Einordung spricht auch die systematische Stellung von Art. 102 GG17. Dieser findet sich im neunten Abschnitt über „Die Rechtsprechung“. Erfasst werden soll daher eindeutig allein gerichtsförmiges Handeln18. Ein generelles staatliches Tötungsverbot, welches auch den Bereich der Gefahrenabwehr einschließt ließe sich eventuell aus einem a maiore ad minus-Schluss ableiten. Dann müsste die Strafverfolgung im Verhältnis zur Prävention jedoch ein „Mehr“ darstellen. Dies ist aufgrund der verschiedenen Zielrichtungen indes nicht der Fall. Die Strafverfolgung ist vielmehr etwas anderes im Verhältnis zur Prävention, also ein sogenanntes aliud 19. Art. 102 GG steht damit der staatlichen Tötung im Rahmen der Gefahrenabwehr nicht im Wege. 13  Thiele,

Polizeirecht (Fn. 11), S. 707. Die hoheitliche Befugnis zur Tötung eines Angreifers, in: DÖV  1996, S. 992 (997); M. Winkler, Kollisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen, 2000, S. 271. 15  D. Beisel, Straf- und verfassungsrechtliche Problematiken des finalen Rettungsschusses, in: JA 1998, S. 721 (726); M. Westenberger, Der Einsatz des finalen Rettungschusses in Hamburg, in: DÖV 2003, S. 627 (628); H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 102 Rn. 47 f.; P. Kunig, in: I. v. Münch (Begr.)/ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 85; C. Degenhart, in: Sachs, GG (Fn. 4), Art. 102 Rn. 2; H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Art. 102 Rn. 2. 16  D. Merten, Zum Streit um den Todesschuß Vom Tätermitleid zur Opferpreisgabe?, in: K. Hailbronner/G. Ress/T. Stein (Hrsg.), Festschrift für Karl Doehring, 1989, S. 579 (591); P. Kunig, in: I. von Münch (Begr.)/ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 102 Rn. 7. 17  Dreier (Fn. 15), Art. 102 Rn. 48. 18  Dreier (Fn. 15), Art. 102 Rn. 48; J. Kersten, in: T. Maunz/G. Dürig u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Art. 102 (2014), Rn. 68. 19  Merten, Todesschuß (Fn. 16), S. 591. 14  T. Schöne/T. Klaes,



A. Leben gegen Leben149

2. Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK Ebenso wenig vermag Art. 2 EMRK ein grundsätzliches staatliches Tötungsverbot zu begründen. Das hierdurch verbürgte Recht auf Leben erfährt in Art. 2 Abs. 2 lit. a) EMRK explizit eine Einschränkung. Tötungen, die erforderlich sind, um jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen, werden daher nicht als Verletzungen dieses Artikels angesehen. Hinzuweisen ist darauf, dass dies nur für die Tötung der Person gilt, von der die rechtswidrige Gewalt ausgeht20. 3. Verbot der Antastung des Wesensgehalts gemäß Art. 19 Abs. 2 GG Ferner könnte sich ein grundsätzliches Tötungsverbot aus Art. 19 Abs. 2 GG ergeben, welcher ganz allgemein die Antastung des Wesensgehalts eines Grundrechts verbietet. Ein Verstoß gegen die Wesensgehaltsgarantie führt zur Verfassungswidrigkeit eines Eingriffs. Entscheidend ist daher, ob die bewusste Tötung eines Menschen von staatlicher Hand als eine solche Antastung des Wesensgehalts des Grundrechts auf Leben einzuordnen ist. Orientiert man sich rein am Wortlaut des Art. 19 Abs. 2 GG, erscheint dies naheliegend, bleibt doch im Anschluss an den Entzug des Lebens faktisch nichts mehr von diesem übrig21. Maßgeblich ist daher, was unter dem Wesensgehalt zu verstehen ist. Unabhängig von Art. 2 Abs. 2 S. 1 1. Alt. GG besteht bereits Streit darüber, ob dieser absolut oder relativ zu verstehen ist22. Im Falle des Grundrechts auf Leben kann erstere Lesart allerdings nicht überzeugen, da aufgrund der besonderen Natur des Rechtsgutes Leben jeder Eingriff – mit Ausnahme der Lebensgefährdungen – einen vollkomme20  A. Sinn, Tötung Unschuldiger auf Grund § 14 III Luftsicherheitsgesetz – rechtmäßig?, in: NStZ 2004, S. 585 (590); E. Giemulla, Zum Abschuss von Zivilluftfahrzeugen als Maßnahme der Terrorbekämpfung, in: ZLW 2005, S. 32 (42). 21  F. Rachor, Polizeihandeln, in: E. Denninger/ders. (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, E Rn. 936. 22  Gut dargestellt bei B. Remmert, in: Maunz/Dürig, GG III (Fn. 18), Art. 19 Abs. 2 (2008), Rn. 36 ff.; für absolutes Verständnis des Wesensgehalts: H. Krüger, Der Wesensgehalt der Grundrechte i. S. des Art. 19 GG, in: DÖV 1955, S. 597 (599); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 871 ff.; A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 209 ff.; J. Kokott, Grundrechtliche Schranken und Schrankenschranken, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 22 Rn. 89; Sachs (Fn. 4), Art. 19 Rn. 43 ff.; für relatives Verständnis des Wesensgehalts: E. v. Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965, S. 47 ff.; Isensee, Leben (Fn. 3), S. 225.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

nen Entzug der grundrechtlich geschützten Position bedeutet23. Ein solches Verständnis würde daher Eingriffe in das Grundrecht auf Leben schlichtweg unmöglich machen, weil dann stets eine Verletzung der Wesensgehaltsgarantie vorläge. Dies kann vom Verfassungsgeber nicht gewollt gewesen sein, da dieser das Grundrecht auf Leben unter Gesetzesvorbehalt gestellt hat24. Im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist mit dem Wesensgehalt daher nicht das individuelle Leben, sondern vielmehr das Leben im kollektiven, institutionellen Sinne gemeint25. Stehen sich nun Leben und Leben gegenüber, so wird der generelle Gedanke des Lebensschutzes nicht berührt, weshalb eine Antastung des Wesensgehalts nicht erfolgt. Ein Verstoß gegen die Wesensgehaltsgarantie soll in diesen Fällen beispielsweise dann vorliegen, wenn die Tötung zugleich eine Verletzung der Menschenwürdegarantie darstellt26. Genauso wenig wie jede Tötung einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellt, stellt sie damit einen Verstoß gegen die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG dar. Dieser begründet daher auch kein absolutes Tötungsverbot27. 4. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG Der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG ist ebenso wenig ein Tötungsverbot zu entnehmen. Diese bezieht sich nicht auf Art. 2 GG, sondern ausschließlich auf „die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze“28. 5. Grundrecht auf Leben unter Gesetzesvorbehalt Die aktive staatliche Tötung eines Menschen stellt einen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Grundrecht auf Leben dar. Allerdings 23  Remmert (Fn. 18), Art. 19 Abs. 2 Rn. 23 f.; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 II Rn. 15 f. 24  F. Winkeler, Bedingt abwehrbereit? Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Gefahrenabwehrmaßnahmen auf Kosten Unschuldiger am Beispiel des Luftsicherheitsgesetzes, 2007, S. 130; Isensee, Leben (Fn. 3), S. 225; Kunig (Fn. 15), Art. 2 Rn. 85; B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 31. Aufl. 2015, Rn. 325. 25  U. Palm, Der wehrlose Staat?, in: AöR 132 (2007), S. 95 (109); Isensee, Leben (Fn. 3), S. 225; Rachor (Fn. 21), E Rn. 937; Kunig (Fn. 15), Art. 2 Rn. 85; H. SchulzeFielitz, in: Dreier, GG I (Fn. 23), Art. 2 II Rn. 118; Murswiek (Fn. 4), Art. 2 Rn. 169; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 24), Rn. 322 f. 26  K. Paulke, Die Abwehr von Terrorgefahren im Luftraum, 2005, S. 301. 27  Rachor (Fn. 21), E Rn. 937. 28  Hervorhebung vom Verfasser.



A. Leben gegen Leben151

ist dieses aufgrund des Gesetzesvorbehalts in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG ausdrücklich einschränkbar29. Dieser erstreckt sich auch auf das Lebensrecht30. Das bedeutet, dass es Eingriffe in das Grundrecht auf Leben geben muss, die verfassungsgemäß sind. Eingriffe in das Lebensrecht bewirken begriffslogisch auch den Entzug des Lebens31. Aus der Existenz des Gesetzesvorbehalts lässt sich demnach schlussfolgern, dass das Grundgesetz kein absolutes an den Staat gerichtetes Tötungsverbot enthält32. 6. Zwischenergebnis Festzuhalten bleibt somit, dass sich kein an den Staat gerichtetes, verfassungsrechtliches Tötungsverbot ausmachen lässt. Der Staat kann, obwohl das Leben zu den höchsten Rechtsgütern zählt, berechtigt sein, Menschen zu töten33. Allerdings kann die staatliche Tötung zum Schutze des Lebens oder der Würde stets nur ultima ratio sein34. Inwiefern der Schutz von anderen Verfassungsgütern als dem Leben oder der Würde einen Eingriff in das Grundrecht auf Leben rechtfertigen können ist hier nicht von Belang35. In praktischer Hinsicht kommen daher nur wenige Situationen in Frage, in denen eine Tötung von staatlicher Hand gerechtfertigt sein kann.

III. Pflichtenfortfall Den Umständen des Einzelfalles kann es geschuldet sein, dass sowohl Achtungs- als auch Schutzpflichten keine Wirkung entfalten können. Dies wird hier als „Pflichtenfortfall“ bezeichnet. Folge eines solchen Pflichtenfortfalls ist, dass die Frage, welche der beiden kollidierenden Pflichten der Staat zu erfüllen hat, entfällt. Schließlich verbleibt lediglich eine erfüllbare verfassungsrechtliche Pflicht. Die Gründe für einen solchen Pflichtenfortfall sind vielfältig und für Achtungs- und Schutzpflichten verschieden. 29  M. Jakobs,

Terrorismus und polizeilicher Todesschuss, in: DVBl. 2006, S. 83 (84). 115, 118 (139). 31  Rachor (Fn. 21), E Rn. 936. 32  Rachor (Fn. 21), E Rn. 936. 33  P. Kunig, Grundrechtlicher Schutz des Lebens, in: Jura 1991, S. 415 (422); Palm, Staat (Fn. 25), S. 109; J. Gauder, Das abverlangte Lebensopfer, 2010, S. 196; Fink (Fn. 7), § 88 Rn. 43. 34  R. Krüger, Die bewußte Tötung bei polizeilichem Schußwaffengebrauch, in: NJW 1973, S. 1 (3). 35  Teilweise wird die gezielte Tötung auch zum Schutz anderer Rechtsgüter für zulässig erachtet: R. Müller-Terpitz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 147 Rn. 64; Murswiek (Fn. 4), Art. 2 Rn. 171. 30  BVerfGE

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

1. Fortfall der Achtungspflicht Ein Fortfall der Achtungspflicht bedeutet für den Übergriffigen, dass das Grundrecht auf Leben in seiner abwehrrechtlichen Funktion für ihn keinen Schutz mehr vermitteln kann. Im Hinblick auf die existenzsichernde Bedeutung dieses Grundrechts ist fraglich, unter welchen Umständen ein solcher Fortfall der Achtungspflicht denkbar sein kann. a) Rechtsverlust Früher wurde vertreten, dass sich nur derjenige auf Grundrechte berufen kann, der seinerseits die Grundentscheidungen der Staatsordnung sowie die Rechte anderer achtet36. Namentlich von Winterfeld geht davon aus, dass die Rechte des Übergriffigen einschließlich des Rechts auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sich entsprechend zur Schwere seines Angriffs auf die Rechte anderer oder die Wertordnung des Grundgesetzes vermindern37. Gefährdet der Übergriffige das Leben anderer oder löscht dieses gar aus, so kann er hiernach seinen Anspruch auf Achtung seines eigenen Lebensrechts verlieren. In ihrer extremsten Ausprägung führt diese Auffassung damit zum Fortfall der Achtungspflicht. Dieser Sichtweise stehen indes schwerwiegende Bedenken gegenüber. Von Winterfelds These fußt auf der Annahme, dass der Würdeanspruch eines Menschen erlöschen könnte. Nach einhelliger Auffassung kommt Menschenwürde aber jedem Menschen zu, gleich wie flagrant er gegen die Rechtsordnung verstößt. Die Auffassung von Winterfelds steht folglich in Widerspruch zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und kann daher nicht überzeugen38. Gleiches gilt übertragen auf das Grundrecht auf Leben. Die Pflicht des Staates, das Lebensrecht des Übergriffigen zu achten, bleibt nach allgemeiner Auffassung unabhängig von dessen Verhalten bestehen, auch wenn dieses als noch so verachtenswert erscheinen mag39. Der Unwertgehalt des Verhaltens des Übergriffigen kann damit nicht entscheidend sein für den Fortfall der Achtungspflicht. Er kann folglich keinen Rechtsverlust bewirken. Vielmehr ist im Rahmen einer Abwägung sämtlicher Interessen eine Lösung zu finden. 36  A.

v. Winterfeld, Der Todesschuß der Polizei, in: NJW 1972, S. 1881 (1883). Todesschuß (Fn. 36), S. 1883. 38  R. Rupprecht, Polizeilicher Todesschuß und Wertordnung des Grundgesetzes, in: G. Leibholz/H. J. Faller/P. Mikat/H. Reis (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung Festschrift für Willi Geiger zum 65.  Geburtstag, 1974, S. 781 (783). 39  Westenberger, Einsatz (Fn. 15), S. 627 f.; Hartleb, Grundrecht (Fn. 6), S. 1398. 37  v. Winterfeld,



A. Leben gegen Leben153

b) Verwirkung Ein Pflichtenfortfall würde ebenso im Fall der Verwirkung eintreten. Eine Verwirkung des Grundrechts auf Leben nach Art. 18 S. 1 GG scheidet selbst bei sozialschädlichem Verhalten von vornherein aus40. Das Grundrecht auf Leben zählt, wie sich im Umkehrschluss aus der Aufzählung in Art. 18 S. 1 GG ergibt, nicht zu den verwirkbaren Grundrechten41. Selbst wenn das der Fall wäre, so müsste die Verwirkung durch das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 18 S. 2 GG ausgesprochen werden, was für die hier behandelten Ausnahmesituationen aufgrund ihrer Kurzfristigkeit lebensfern ist42. c) Grundrechtsverzicht Eine weitere Möglichkeit für einen Pflichtenfortfall stellt der Grundrechtsverzicht dar. Dabei ist zu beachten, dass ein Verzicht im eigentlichen Sinne, der das Erlöschen eines Rechtes in seiner Gänze zur Folge hat, in Bezug auf die Grundrechte nicht existiert43. Die Begrifflichkeit ist insofern irreführend44. Wird von einem Grundrechtsverzicht gesprochen, so ist damit basierend auf dem Grundsatz „volenti non fit iniuria“45 die Einwilligung des Grundrechtsträgers in ein konkretes staatliches Verhalten gemeint, dass in seine Abwehrrechte eingreift oder diese beeinträchtigt46. In diesem Bereich ist, wie sich zeigen wird, vieles umstritten. Die mit dem Grundrechtsverzicht einhergehenden Probleme können daher hier nur angerissen werden. aa) Grundsätzliche Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts Zunächst ist bereits die Zulässigkeit eines solchen Grundrechtsverzichts umstritten. Früher wurde sie überwiegend verneint, weil die Grundrechte das Gemeinwohl konkretisieren, damit Ausdruck des öffentlichen Interesses sind 40  Schöne/Klaes, Befugnis (Fn. 14), S. 996; Hartleb, Grundrecht (Fn. 6), S. 1398; Ladiges, Bekämpfung (Fn. 7), S. 281. 41  M. Kutscha, Das Grundrecht auf Leben unter Gesetzesvorbehalt – ein verdängtes Problem, in: NVwZ 2004, S. 801 (802). 42  Merten, Todesschuß (Fn. 16), S. 592; Schöne/Klaes, Befugnis (Fn. 14), S. 996. 43  M. Sachs, Verfassungsrecht II, 2.  Aufl. 2003, § 8 Rn. 34; C. Starck, in: H. v. Man­goldt/F. Klein/ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 300. 44  Sachs, Verfassungsrecht (Fn. 43), § 8 Rn. 34; Starck (Fn. 43), Art. 1 Rn. 300. 45  Ulpian, Dig. 47, 10, 1 § 5. 46  Sachs, Verfassungsrecht (Fn. 43), § 8 Rn. 34.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

und daher der Verfügungsbefugnis des Einzelnen entzogen seien47. Gegen diese am Kollektiv orientierte Deutung der Grundrechte wurde schnell Kritik vorgebracht48. Befürworter der Zulässigkeit eines Grundrechtsverzichts führen an, dass die Grundrechte ansonsten zu „Pflichtrechten“ verkehrt würden49. Dem ist zuzustimmen. Das erstgenannte Verständnis verkennt die Intention der Grundrechte, zuvörderst den Interessen des Individuums zu dienen50. Gerade die Möglichkeit, auch in Beeinträchtigungen einzuwilligen ist Ausdruck der Freiheitsbetätigung51. bb) Dispositionsbefugnis über das Leben Es wäre allerdings vorschnell, damit auch von einer Zulässigkeit der Einwilligung in die Beeinträchtigung des Lebensrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auszugehen. Erste Voraussetzung für die Einwilligung ist die Dispositionsbefugnis über das in Frage stehende Grundrecht, das heißt ob der Einzelne über das Grundrecht verfügen kann52. Dies erscheint vor allem in Hinblick auf das Rechtsgut Leben problematisch, weil es die biologische Voraussetzung für die Ausübung aller anderen Grundrechte ist. Die Einwilligung in eine staatliche Tötung führt im Ergebnis die gleiche Folge herbei wie ein Totalverzicht auf sämtliche Grundrechte53. Es könnte mithin bereits an der Dispositionsbefugnis des betroffenen Grundrechtsträgers fehlen54. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu dieser Frage bisher nicht explizit geäußert. Oftmals wird diese dem Grundrechtsträger aber angesichts der herausragen-

47  G. Sturm, Probleme eines Verzichts auf Grundrechte, in: G. Leibholz/H. J. Faller/ P. Mikat/H. Reis (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65.  Geburtstag, 1974, S. 173 (197 f.); K. Bussfeld, Zum Verzicht im öffentlichen Recht, in: DÖV 1976, S. 765 (771). 48  Bereits G. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: AöR 81 (1956), S. 117 (152); G. Robbers, Der Grundrechtsverzicht Zum Grundsatz ‚volenti non fit iniuria‘ im Verfassungsrecht, in: JuS 1985, S. 925 (927); A. Bleckmann, Probleme des Grundrechtsverzichts, in: JZ 1988, S. 57 (58); Stern, Staatsrecht III/2 (Fn. 22), S. 894, 907. 49  P. Fischinger, Der Grundrechtsverzicht, in: JuS 2007, S. 808 (809). 50  Fischinger, Grundrechtsverzicht (Fn. 49), S. 809. 51  Robbers, Grundrechtsverzicht (Fn. 48), S. 927; Fischinger, Grundrechtsverzicht (Fn. 49), S. 809; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn.  24), Rn. 156. 52  Stern, Staatsrecht III/2 (Fn. 22), S. 906; hinzuweisen ist darauf, dass es hier nicht um die strafrechtliche Dispositionsbefugnis geht, so dass es für diese Untersuchung unerheblich ist, ob Art. 2 Abs. 2 GG auch ein Recht auf Sterben beinhaltet. 53  Gauder, Lebensopfer (Fn. 33), S. 75; Fink (Fn. 7), § 88 Rn. 35. 54  Sachs, Verfassungsrecht (Fn. 43), § 8 Rn. 37.



A. Leben gegen Leben155

den Bedeutung des Rechtsguts Leben abgesprochen55. Das Recht auf Leben sei unverfügbar, soweit es um Einwirkungen von Dritten, gleich ob Staat oder Privaten, gehe56. Dieses Verständnis lasse sich auch in der Ausgestaltung des einfachen Rechts erkennen57. § 216 StGB stellt beispielsweise explizit die Tötung von dritter Seite unter Strafe, obwohl diese auf Verlangen des Opfers, also einer gar stärkeren Form der Einwilligung, beruht58. Dabei ist zu beachten, dass der Rekurs auf Wertungen des einfachen Rechts zur Bewertung von Verfassungsrecht normhierarchisch aufgrund des Vorrangs der Verfassung stets auf einem schwachen Fundament steht59. Allenfalls um Wertungswidersprüche zu vermeiden und die Einheit der Rechtsordnung zu wahren, könnte es vorzugswürdig sein, eine Dispositionsbefugnis über das Leben abzulehnen60. Demgegenüber sehen andere auch die Einwilligung in die gezielte Fremdtötung als Form der Grundrechtsausübung, bemühen also das gleiche Argument, welches auch schon für die generelle Zulässigkeit des Grundrechtsverzicht angebracht wurde61. Innerhalb dieser Gruppe bestehen dabei zwei Lager. Das eine hält den Grundrechtsverzicht, insofern dessen Voraussetzungen vorliegen, für zulässig62. Die anderen machen die Wirksamkeit der Einwilligung darüber hinaus davon abhängig, ob der Einwilligung nicht der objektive Grundrechtsgehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entgegensteht63. Dies lässt sich indes nur im Hinblick auf den jeweiligen Einzelfall beurteilen. Festzuhalten bleibt, dass die Einwilligung in die gezielte Fremdtötung gegebenenfalls eine Möglichkeit darstellt, welche die Achtungspflicht entfallen lässt. cc) Zwischenergebnis Auch wenn hiernach grundsätzlich ein Fortfall der Achtungspflicht durch einen Grundrechtsverzicht denkbar ist, so ist im Hinblick auf die hier rele55  R. Wiedemann, in: D. Umbach/T. Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 2002, Art. 2 II Rn. 308; K. Baumann, Das Grundrecht auf Leben unter Quantifizierungsvorbehalt?, in: DÖV 2004, S. 853 (857); Paulke, Abwehr (Fn. 26), S. 251; Müller-Terpitz (Fn. 35), § 147 Rn. 38, 50; Kunig (Fn. 15), Art. 2 Rn. 51. 56  Baumann, Quantifizierungsvorbehalt (Fn. 55), S. 857; Gauder, Lebensopfer (Fn. 33), S. 81 f. 57  Baumann, Quantifizierungsvorbehalt (Fn. 55), S. 857. 58  Baumann, Quantifizierungsvorbehalt (Fn. 55), S. 857. 59  Isensee, Leben (Fn. 3), S. 218; Ladiges, Bekämpfung (Fn. 7), S. 360. 60  Isensee, Leben (Fn. 3), S. 218 f.; Ladiges, Bekämpfung (Fn. 7), S. 360. 61  S. Rixen, Lebensschutz am Lebensende, 1999, S.  365; Fink (Fn. 7), § 88 Rn. 48. 62  Rixen, Lebensschutz (Fn. 61), S. 371. 63  Jarass (Fn. 15), Art. 2 Rn. 90.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

vanten Ausnahmesituationen wohl eher davon auszugehen, dass die Voraussetzungen einer Einwilligung nicht vorliegen werden64. Bereits das Vorliegen einer entsprechenden Erklärung, welche den Willen, das Leben zu beenden, eindeutig wiedergibt, wird in Ausnahmesituationen schwer zu ermitteln sein. Hier bliebe dann allein der Rückgriff auf eine mutmaßliche Einwilligung65. Angesichts der Irreversibilität einer lebensbeendenden Maßnahme ist bei der Annahme eines solchen mutmaßlichen Willens allerdings höchste Vorsicht geboten. Es kann in den allermeisten Fällen wohl nicht davon ausgegangen werden, dass der Übergriffige den Tod sucht66. Eine Ausnahme stellt insofern allenfalls der sogenannte suicide by cop dar. In diesen Konstellationen beabsichtigt der Suizident, die Staatsgewalt zur Herbeiführung des Freitods zu instrumentalisieren. Aber selbst hier wird der Sterbewille des Übergriffigen nicht erkennbar sein. Es liegt schließlich gerade in seinem Interesse, diesen zu verschleiern. Unabhängig von diesem Sonderfall muss die Regelvermutung für den Lebenswillen sprechen67. Die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung in die staatliche Tötung durch den Übergriffigen kann daher grundsätzlich nicht überzeugen. Darüber hinaus ist fraglich, ob in den hier behandelten Ausnahmesituationen der Übergriffige freiwillig handeln kann68. Denn auch die Freiwilligkeit des Verzichts ist eine seiner ­Voraussetzungen69. Diese erfordert, dass der Verzichtende sich nicht in einem seine freie Willensentschließung beeinträchtigenden Zustand befindet70. Ausnahmesituationen sind allerdings geprägt von äußerster psychischer Belastung. Damit wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine weitere Voraussetzung des Grundrechtsverzichts nicht vorliegen71. Auch wenn die Einwilligung in die aktive staatliche Tötung somit gegebenenfalls denkbar wäre, so wird es auf tatsächlicher Ebene an deren Voraussetzungen fehlen. 64  Rachor (Fn. 21), E Rn. 935; zu den Voraussetzungen im Einzelnen Sachs, Verfassungsrecht (Fn. 43), § 8 Rn. 40 ff. 65  M. Hochhuth meint im Zusammenhang mit dem Abschuss einer von Terroristen entführten Passagiermaschine, man könne „annehmen, dass die meisten Entführten mit dem Abschuss einverstanden wären, wenn er dem zweifelsfreien Absturz um wenige Minuten zuvorkommt und zugleich Hunderte, bei bestimmten technischen Großanlagen wahrscheinlich Tausende vor Ermordung und Siechtum bewahrt“: Militärische Bundesintervention bei inländischem Terrorakt, in: NZWehrR 44 (2002), S. 154 (S. 166 Fn. 44). 66  Rachor (Fn. 21), E Rn. 935. 67  W. Höfling/S. Augsberg, Luftsicherheit, Grundrechtsregime und Ausnahmezustand, in: JZ 2005, S. 1080 (1085). 68  Baumann, Quantifizierungsvorbehalt (Fn. 55), S. 856. 69  Stern, Staatsrecht III/2 (Fn. 22), S. 913 f. 70  Stern, Staatsrecht III/2 (Fn. 22), S. 914. 71  Hartleb bezweifelt dies im Hinblick auf Passagiere eines entführten Flugzeugs, Grundrecht (Fn. 6), S. 1399.



A. Leben gegen Leben

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d) Zwischenfazit Ein Fortfall der Achtungspflicht kann weder durch Rechtsverlust oder Verwirkung erfolgen. Rechtlich wäre ein Grundrechtsverzicht möglich, der die Achtungspflicht entfallen ließe. Tatsächlich wären dessen Voraussetzungen angesichts der besonderen Umstände der hier relevanten Ausnahmesituationen aber wohl nicht gegeben. Ein Pflichtenfortfall in Hinblick auf die Achtungspflicht ist damit höchst unwahrscheinlich. 2. Fortfall der Schutzpflicht Fragt man, unter welchen Voraussetzungen die grundrechtliche Schutzpflicht keine Wirkung entfalten kann, so ist zwischen solchen Umständen zu unterscheiden, die die Schutzpflicht bereits an ihrem Entstehen hindern, und solchen, die ihre Wirkung nachträglich entfallen lassen beziehungsweise hemmen. a) Subsidiarität staatlichen Schutzes Die grundrechtliche Schutzpflicht entsteht nicht, wenn der Betroffene sich zumutbar in eigener Verantwortung und unter Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols gegen die Beeinträchtigung zur Wehr setzen kann72. Hier mangelt es schon an dessen Schutzbedürftigkeit73. In Hinblick auf die hier behandelten Ausnahmesituationen wird dieser Subsidiaritätsgrundsatz aber nicht zur Anwendung kommen. Der Betroffene ist hier entweder zur Verteidigung nicht in der Lage oder es wird allein gewaltsame Selbsthilfe in Frage kommen74. In beiden Fällen bleibt der Staat zum Schutz verpflichtet. b) Faktische Unmöglichkeit Besteht keine Möglichkeit den Betroffenen aus der Gefahr zu befreien, so kann die Schutzpflicht keine Wirkung entfalten. Das Verfassungsrecht kann nicht fordern, was tatsächlich unmöglich ist75. Die Schutzpflicht für das Leben 72  G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, Schutzpflicht und Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz  1 GG, 1987, S. 245; G. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 278 f. 73  Hermes, Grundrecht (Fn. 72), S. 245; Krings, Grund (Fn. 72), S. 278 f.; J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und Schutzpflicht, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 271. 74  Krings, Grund (Fn. 72), S. 278. 75  Hermes, Grundrecht (Fn. 72), S. 244; Müller-Terpitz (Fn. 35), § 147 Rn. 79.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

besteht daher nur, wenn es dem Staat möglich ist, den Betroffenen zu schützen. Dies ist nicht der Fall, wenn der Geschehensablauf der Einflussnahme durch den Staat entzogen ist. Dies hängt maßgeblich vom Einzelfall ab. c) Verzicht auf Schutz Ein Fortfall der Schutzpflicht könnte auch durch einen Verzicht des Betroffenen auf die staatliche Schutzgewähr bewirkt werden. Dies erscheint auf den ersten Blick lebensfern. Der Betroffene würde sich durch einen solchen Verzicht schließlich der Möglichkeit berauben, durch staatliche Intervention aus der Bedrohungslage befreit zu werden. In bestimmten Situationen erscheint es aber zumindest nachvollziehbar, dass der Betroffene aus Angst vor der Reaktion des Übergriffigen eine staatliche Intervention vermeiden will, um einer Eskalation der Situation vorzubeugen. Ein realistisches Beispiel stellt eine Geiselnahme dar, bei der die Polizei aufgrund der Ausweglosigkeit der Lage und der akuten Bedrohung der Geisel in Begriff ist, den Geiselnehmer durch einen gezielten Schuss zu töten. Geht der Versuch, den Übergriffigen zu eliminieren allerdings fehl, so kann dies zum einen zur Folge haben, dass der unplatzierte Schuss die Geisel selbst trifft und gegebenenfalls tödlich verletzt oder aber, dass der Übergriffige die der Geiselnahme immanente Drohung – die Tötung der Geisel – in die Tat umsetzt. Es kann daher durchaus vorkommen, dass die Geisel, in Ansehung polizeilicher Präsenz dieser aus Angst um ihr eigenes Leben zuruft: „Nicht schießen!“76. Damit bringt sie unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie den Vollzug des gezielten Todesschusses nicht wünscht. Weil dieser aber das einzige geeignete Mittel zur Abwendung der Lebensgefahr darstellt, kommt dies einem generellen Verzicht auf Schutz gleich. Entscheidend ist daher, ob der von einem Übergriff Betroffene auf den durch die Schutzpflichten vermittelten Schutz verzichten kann. Dies würde den Staat in der Folge gegebenenfalls von der Schutzpflicht entbinden. Unklar ist allerdings, ob dem Einzelnen ein solches Verfügungsrecht zusteht. Der Verzicht auf den durch die Schutzpflichten gewährten Schutz ist nach teilweise vertretener Auffassung in solchen Bereichen zulässig, in denen der Einzelne auch in einen staatlichen Eingriff einwilligen könnte77. Es sei nicht ersichtlich, wieso die Dispositionsbefugnis hier vermindert sein sollte, nur weil der Eingriff von nicht-staatlicher Seite erfolgt78. Gegen den Willen des 76  Beispiel von I. v. Münch, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, in: R. Stödter/ W. Thieme (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, 1977, S. 113 (114). 77  Fischinger, Grundrechtsverzicht (Fn. 49), S. 812. 78  Fischinger, Grundrechtsverzicht (Fn. 49), S. 812.



A. Leben gegen Leben159

Betroffenen soll ihm kein Schutz oktroyiert werden. Allerdings sind auch hier stets die Menschenwürde, der Menschenwürdegehalt der anderen Grundrechte und deren jeweiliger Wesensgehalt zu beachten79. Droht aufgrund eines Verzichts eine Berührung dieser Bereiche, so ist ein Verzicht nicht möglich. Der Staat bleibt zum Schutz verpflichtet, unabhängig vom Willen des Betroffenen80. Die Grenzen des Verzichts verlaufen hiernach für Achtungs- und Schutzpflicht parallel81. Andere wiederum sehen das Leben genau wie bei der Achtungspflicht auch der Dispositionsbefugnis des Einzelnen entzogen82. Wenn Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kein Recht auf Selbsttötung beinhaltet, so kann er auch nicht das Recht beinhalten, in die Tötung von fremder Hand einzuwilligen83. Versteht man den Verzicht als grundsätzlich zulässig, so muss dieser aber auch freiwillig erfolgen84. Genau wie bei den Achtungspflichten auch wird dies nur schwer zu ermitteln sein. Angesichts der potentiellen Tragweite der Entscheidung – dem Tod –, die mit einem Verzicht auf den Schutz des eigenen Lebens einhergeht, wird man vorsichtig bei dessen Annahme agieren müssen. Unklar ist darüber hinaus die genaue Wirkweise des Verzichts. Teilweise wird dieser so gedeutet, dass die grundrechtliche Schutzpflicht erst gar nicht entsteht85. „Die Schutzpflicht ist rechtslogisch notwendige Voraussetzung für das Entstehen des korrespondierenden Schutzanspruchs.“86 Dieser bildet das Objekt des Verzichts. Entsteht er gar nicht erst, so kann auf ihn auch nicht verzichtet werden87. Ebenso gut ließe sich indes vertreten, dass die Schutzpflicht zwar durchaus entsteht, aber nachträglich entfällt. Maßgeblich für diese Frage dürfte sein, ob für die Annahme eines Übergriffs vorausgesetzt wird, dass dieser „gegen den Willen“ des Betroffenen erfolgt. Nur wenn man davon ausgeht, liegt bereits kein Übergriff und damit auch keine staatliche Schutzpflicht vor. Für die tatsächlichen Auswirkungen ist die dogmatische Behandlung allerdings unbedeutend, weil der Staat im Ergebnis jedenfalls nicht zum Schutz verpflichtet ist.

79  Fischinger,

Grundrechtsverzicht (Fn. 49), S. 812. Grundrechtsverzicht (Fn. 49), S. 812. 81  Fischinger, Grundrechtsverzicht (Fn. 49), S. 812. 82  VG Karlsruhe, Urteil v. 11.12.1987  – 8 K 205/87, in: JZ 1988, S. 208 (209); Müller-Terpitz (Fn. 35), § 147 Rn. 103. 83  Müller-Terpitz (Fn. 35), § 147 Rn. 103. 84  Rixen, Lebensschutz (Fn. 61), S. 369. 85  Rixen, Lebensschutz (Fn. 61), S. 369. 86  Rixen, Lebensschutz (Fn. 61), S. 369. 87  Rixen, Lebensschutz (Fn. 61), S. 369. 80  Fischinger,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

d) Abwehrrechtliche Kautelen Die Erfüllbarkeit der grundrechtlichen Schutzpflicht ist abhängig von verschiedenen Erfordernissen, welche gegeben sein müssen, damit der Staat seine Schutzaufgabe durchführen kann. Weil die Erfüllung der Schutzpflicht in den hier behandelten Ausnahmesituationen nur durch einen Eingriff in das Grundrecht auf Leben des Übergriffigen erfolgen kann, bedarf es aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes einer Eingriffsbefugnis in Gestalt eines förmlichen Gesetzes88. Grundsätzlich verpflichten die Schutzpflichten den Gesetzgeber dazu, die für die Exekutive zur effektiven Gefahrenabwehr notwendigen Ermächtigungsgrundlagen bereitzustellen89. Ein Blick auf die umfangreichen Standardmaßnahmen, welche der Polizei zur Verfügung stehen zeigt, dass eine passende Ermächtigungsgrundlage im Regelfall gegeben sein sollte90. Hinzu kommt, dass die bereits existierenden Befugnisse so auszulegen sind, dass die Exekutive der Aufgabe effektiver Schutzgewähr gerecht werden kann91. Allerdings konzentriert sich diese Untersuchung auf Ausnahmesituationen. Diese treten vergleichsweise selten auf und werden durch die Standardmaßnahmen nicht abgedeckt. Im Ernstfall könnte daher keine Ermächtigungsgrundlage zur Verfügung stehen. Normalerweise wird in diesen Situationen auf Generalklauseln zurückgegriffen, welche sich gerade durch ihre große Flexibilität und ihren entsprechend weiten Anwendungsbereich auszeichnen. Eingriffe in das Grundrecht auf Leben lassen sich allerdings nicht auf Basis der polizeirechtlichen Generalklausel vornehmen, weil hier aufgrund der besonderen Sensibilität des Schutzgutes strenge Anforderungen an die Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage gestellt werden. Diesen wird die Generalklausel nicht gerecht92. Befugnisse zum Entzug des Lebens müssen insbesondere Ausmaß und Modalitäten der Maßnahme klar festlegen93. Darüber hinaus ist das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG zu wahren. Ein Gesetz, dass eine Befugnisnorm für Grundrechtseingriffe beinhaltet, muss ausdrücklich die hierdurch eingeschränkten Grundrechte benennen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass für speziell gelagerte Ausnahmesituationen keine diese Erfordernisse erfüllende Ermächtigungsgrundlage vorliegt. 88  BVerfGE

22, 180 (219); 115, 118 (139, Rn. 85); 128, 282 (317, Rn. 72 f.). (Fn. 73), § 191 Rn. 279. 90  Krings, Grund (Fn. 72), S. 285; Isensee (Fn. 73), § 191 Rn. 285, 308. 91  Isensee (Fn. 73), § 191 Rn. 279, 285. 92  D. Lorenz, in: W. Kahl/C. Waldhoff/C. Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Abs. 2 Satz  1 (2012), Rn. 475; Schulze-Fielitz (Fn. 23), Art. 2 II Rn. 62; Jarass (Fn. 15) Art. 2 Rn. 95, 98. 93  Kunig, Schutz (Fn. 33), S. 421. 89  Isensee



A. Leben gegen Leben161

Durch den Gesetzesvorbehalt sind der Exekutive dann die Hände gebunden. Tragisch wird dies in akuten Gefahrenlagen, welche ein rasches Einschreiten erfordern. Die Staatsgewalt steckt hier in einer Zwickmühle, „sich entweder legal zu verhalten und die grundrechtliche Schutzpflicht zu verletzen oder grundrechtlich legitim zu handeln, aber im Widerspruch zur Legalität.“94 Es stellt sich die Frage, ob die Exekutive in diesen Grenzfällen unmittelbar auf die Verfassung, mithin die grundrechtlichen Schutzpflichten, als Befugnisnorm zurückgreifen kann. Dies wird richtigerweise von der herrschenden Auffassung grundsätzlich unter Berufung auf die zu wahrende Rechtsstaatlichkeit staatlichen Handelns verneint95. Die grundrechtliche Schutzpflicht kann mangels Mediatisierung in diesen Fällen somit keine Wirkung entfalten. e) Vorbehalt des rechtlich Möglichen Der Erfüllung der Schutzpflicht steht ferner unter dem Vorbehalt des rechtlich Möglichen96. Das bedeutet, dass der Staat die grundrechtlichen Schutzpflichten nur auf verfassungsrechtlich zulässige Weise erfüllen darf. Wo diese Grenze der rechtlich zulässigen Schutzgewähr verläuft, beziehungsweise wonach sich der Grenzverlauf richtet, wird indes unterschiedlich beurteilt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz zur Frage nach der Auswahl zwischen mehreren potentiellen Mitteln der Schutzpflichtenerfüllung festgestellt, dass die „Wahl […] aber immer nur auf solche Mittel fallen [kann], deren Einsatz mit der Verfassung in Einklang steht.“97 Hiernach würde sich die Grenze des rechtlich Möglichen allein aus der abwehrrechtlicher Perspektive bestimmen. Kämen zur Erfüllung der Schutzpflicht im Einzelfall nur Mittel in Frage, welche diese von den Abwehrrechten gezogene Grenze überschreiten, so wäre die Erfüllung der Schutzpflicht rechtlich unmöglich. Diese Argumentation kann auf Grundlage der Gleichwertigkeit der beiden Pflichtenarten nicht überzeugen. Aus diesem Grund wäre beispielsweise auch eine rein an den Schutzpflichten orientierte Bestimmung des rechtlich Möglichen nicht überzeugend, weil dadurch die Interessen des Übergriffigen nicht ausreichend berücksichtigt werden würden. Vielmehr geht es bei einem Aufeinandertreffen von Achtungs- und Schutzpflicht darum, unter Berücksichtigung beider Pflichten den verfassungsrechtlichen Rahmen zu definie94  Isensee

(Fn. 73), § 191 Rn. 308. Grundrecht (Fn. 72), S. 208; Krings, Grund (Fn. 72), S. 284; J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 109; a. A.: Isensee (Fn. 73), § 191 Rn. 309. 96  Isensee (Fn. 73), § 191 Rn. 276. 97  BVerfGE 115, 118 (160, Rn. 138). 95  Hermes,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

ren98. Die Grenzen des rechtlich Möglichen können daher nicht allein aus abwehrrechtlicher Sicht ermittelt werden, sondern ergeben sich aus der Zusammenschau99. 3. Zwischenergebnis Es zeigt sich, dass beide Pflichten unter gewissen Umständen keine Wirkung entfalten. Für die hier in Frage stehenden Ausnahmesituationen erscheint ein Pflichtenfortfall indes unwahrscheinlich. Der Übergriffige wird ebenso wenig auf den Schutz der Achtungspflichten verzichten wollen, wie der Betroffene auf den Schutz der Schutzpflichten. Insofern der staatlichen Gewalt daher die Erfüllung der Schutzpflicht tatsächlich möglich ist und zugleich die formalen Voraussetzungen in Gestalt einer entsprechenden Ermächtigungsgrundlage vorliegen, kommt es zu einer Pflichtenkollision.

IV. Auflösung durch Abwägung Die entscheidende Frage ist, wie eine Pflichtenkollision im Bereich des Grundrechts auf Leben aufzulösen ist. Als modus ist für diese Kollisionslage auf die Abwägung zurückzugreifen. Diese wird indes durch verschiedene Umstände erschwert. Zunächst einmal werden Achtungs- und Schutzpflichten im Rahmen dieser Untersuchung als prinzipiell gleichrangig angesehen. Aus der Tatsache, dass verschiedene Pflichtenarten betroffen sind, lässt sich daher keine Aussage darüber gewinnen, welcher Pflicht abstrakt der Vorrang zukommt. Darüber hinaus steht an beiden Enden des Dreiecksverhältnisses das gleiche Schutzgut. Ungeachtet der Aussagekraft einer Gegenüberstellung der betroffenen Rechtsgüter vermag diese für die Auflösung der hier behandelten Konstellation aufgrund ihrer Identität jedenfalls nicht weiterzuhelfen. Es liegt daher bei abstrakter Betrachtung ein Grundrechtspatt vor100. Die Pflichten heben sich gewichtsmäßig gegenseitig auf, weil jedes menschliche Leben gleichwertig ist101. Diese Ausgangslage bedeutet zunächst einmal nur, dass die Abwägung offen ist. Zur Vornahme einer Abwägung bedarf es nunmehr geeigneter Parameter, anhand derer die sich gegenüberstehenden Positionen verglichen wer98  Ladiges,

Bekämpfung (Fn. 7), S. 377; Isensee (Fn. 73), § 191 Rn. 276. (Fn. 73), § 191 Rn. 276. 100  Isensee, Leben (Fn. 3) S. 229. 101  P. Kirchhof, Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahmesituationen, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (Hrsg.), Rechtsstaat in der Bewährung, Bd. 2, 1976, S. 83 (114). 99  Isensee



A. Leben gegen Leben163

den können. Als ein solcher kommt zunächst einmal die Intensität der jeweiligen Schutzgutsbeeinträchtigung in Betracht. Im Hinblick auf das Leben teilen jedoch alle Beeinträchtigungen die gleiche Intensität, weil sie zur Auslöschung des Lebens führen. Die zu erwartende Schadensintensität kann daher nicht im Rahmen der Abwägung fruchtbar gemacht werden. Folglich ist nach anderen Kriterien Ausschau zu halten. Der Kreis der in Frage kommenden Parameter wird dabei allerdings durch den engen Bezug des Lebens zur Menschenwürde stark eingegrenzt102. Hieraus ergibt sich, dass das menschliche Leben in weiten Teilen wertungsfeindlich ist103. Das bedeutet, dass viele potentielle Kriterien im Rahmen einer Abwägung Leben gegen Leben von vornherein nicht in Betracht kommen, weil sie das jeweilige Leben bewerten. Um zu ermitteln, welche Kriterien noch verbleiben, ist daher zunächst das Wertungsverbot näher zu erläutern. 1. Absolutes Wertungsverbot von Leben „Jedes menschliche Leben […] ist als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.“104 Dieser häufig zitierte Satz des Bundesverfassungsgerichts ließe sich so deuten, dass eine Abwägung Leben gegen Leben pauschal untersagt ist. Dabei würde aber verkannt werden, dass es sich dogmatisch betrachtet auch beim Grundrecht auf Leben um ein unter Gesetzesvorbehalt stehendes Individualgrundrecht handelt, das aus systematischen Gründen keinen absoluten Schutz erfahren kann. Hinzu kommt, dass eine solche Unabwägbarkeit des Lebens als realitätsfern einzuordnen ist, gibt es doch zahlreiche Konstellationen, in denen gerade Leben gegen Leben steht und dem Staat eine Entscheidung abverlangt wird105. Daher kann „das staatliche Recht […] Maßstäbe aufstellen, für welches Leben es einstehen will.“106 Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts ist mithin dahingehend zu verstehen, dass eine Abwägung grundsätzlich möglich ist, dabei aber keine qualitative oder quantitative Bewertung des Schutzgutes Leben vorgenommen werden darf107. 102  K. Möller, Abwägungsverbote im Verfassungsrecht, in: Der Staat 46 (2007), S. 109 (124). 103  Lorenz (Fn. 92), Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (2012) Rn. 429 f. 104  BVerfGE 39, 1 (59); 115, 118 (139, Rn. 85). 105  G. Roellecke, Der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terror, in: JZ 2006, S. 265 (269). 106  G. Dürig, in: T. Maunz/ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 2 (1958), Rn. 13. 107  Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Quanti- und Qualifizierungsverbot hinsichtlich des menschlichen Lebens findet sich bei Winkeler, Gefahrabwehrmaßnahmen (Fn. 24), S. 200 ff.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Mit einer quantitativen Bewertung ist eine Abwägung rein am Maßstab der Anzahl der betroffenen Leben gemeint. Relevant kann das Quantifizierungsverbot folglich nur in Szenarien werden, in denen wenigstens auf einer Seite des Dreiecks mehr als ein Leben betroffen ist. Nur dann ließe sich eine saldierende Betrachtung vornehmen und ermitteln bei Erfüllung welcher Pflicht die größere Anzahl an Leben erhalten werden könnte. Weil der Mensch hierbei zu einer bloßen Rechengröße verkommt und nicht mehr als Individuum behandelt wird, ist eine solche Abwägung nach überwiegender Auffassung allerdings nicht zulässig108. Die Bildung eines utilitaristischen Gesamtsaldos ist verfassungswidrig, auch wenn hierdurch im Ergebnis Menschenleben gerettet werden könnten. Ansonsten wird der Charakter der Grundrechte als individuelle Rechte außer Acht gelassen109. Wie von Hochhuth treffend beschrieben, setzt die Verfassung nicht das „Glück der größeren Zahl“ als Höchstwert, sondern die Menschenwürde110. Unter einer qualitativen Bewertung wird demgegenüber eine Bewertung des einzelnen Lebens selbst verstanden, welche zu einer Differenzierung zwischen Leben führt, weil diesen unterschiedliche Wertigkeit zugesprochen wird. Beispielhaft genannt seien an dieser Stelle biologische Faktoren (Krankheit), gesellschaftliche Nützlichkeit oder auch geschätzte Lebenserwartung111. Der Staat ist indes nicht befugt, sich zum Richter über die Wertigkeit einzelner Menschenleben aufzuschwingen112. Alle Kriterien, die das einzelne Leben in irgendeiner Form einer Wertung zugänglich machen, kommen daher im Rahmen der Abwägung nicht in Betracht. Diese weitgehende Begrenzung der Einschränkbarkeit des Grundrechts auf Leben verwundert zunächst angesichts des Gesetzesvorbehalts. An dieser Stelle zeigt sich der Einfluss der Menschenwürde. Aus dogmatischer Sicht kann ein Abwägungsverbot nur aus dem absoluten Schutz eines Grundrechts resultieren113. Dies kann wie gezeigt nicht das Grundrecht auf Leben sein, weil dieses grundsätzlich einschränkbar ist. Das Wertungsverbot kann daher nur aus der Menschenwürdegarantie folgen, welche unter anderem die fundamentale Gleichheit aller Menschen in Bezug auf ihr elementares Existenzrecht 108  Baumann, Quantifizierungsvorbehalt (Fn.  55), S. 858; Hartleb, Grundrecht (Fn. 6), S. 1398; H. Dreier, Grenzen des Tötungsverbotes, in: JZ 2007, S. 261 (265). 109  E. Franz, Der Bundeswehreinsatz im Innern und die Tötung Unschuldiger im Kreuzfeuer von Menschenwürde und Recht auf Leben, in: Der Staat 45 (2006), S. 501 (505); v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 23. 110  Hochhuth, Bundesintervention (Fn. 65), S. 166. 111  Lorenz (Fn. 92), Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (2012) Rn. 429. 112  M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 96. 113  Möller, Abwägungsverbote (Fn. 102), S. 110.



A. Leben gegen Leben165

beinhaltet114. Der Menschenwürdegehalt des Grundrechts auf Leben ist hier angesprochen, weil eine Lebensgewichtung an qualitativen oder quantitativen Maßstäben mit einer Degradierung des jeweiligen Menschen zu einer bloßen Rechengröße einhergeht und dadurch dessen Subjektqualität in Frage gestellt wird115. Die Ableitung des Wertungsverbots aus der Menschenwürde ist nicht als unzulässige Vermengung der beiden Grundrechte zu verstehen, sondern resultiert schlichtweg aus der engen Verbindung dieser beiden zueinander. Dennoch sei aber noch einmal darauf hingewiesen, dass nicht jede staatliche Tötung zugleich den Menschenwürdekern des Lebensgrundrechts angreift. 2. Zulässige Abwägungskriterien Für die Abwägung Leben gegen Leben gilt es nunmehr, unter Berücksichtigung des Wertungsverbots Kriterien herauszuarbeiten, die in zulässiger Weise für die Auflösung der Konfliktsituation herangezogen werden können. Der Grad des Schadens wurde bereits als unbrauchbar verworfen. Dieser ist auf beiden Seiten identisch, weil jeweils das gleiche Rechtsgut betroffen ist. Daneben kommt noch die jeweilige Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts als Abwägungskriterium in Betracht. Für diese Untersuchung wird allerdings davon ausgegangen, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Leben durch den Übergriff (respektive durch den Eingriff) beendet wird. Daher hilft auch die Schadenswahrscheinlichkeit nicht weiter. Es ist daher fraglich, ob überhaupt Kriterien existieren, die zur Auflösung der Kollision zwischen Achtungs- und Schutzpflicht für das Leben fruchtbar gemacht werden können. a) Gefahrverantwortlichkeit des Übergriffigen Orientiert man sich an dem wohl einzigen klassischen Fall eines unmittelbaren finalen Eingriffs in das Lebensgrundrecht – dem gezielten Todesschuss116 –, so drängt sich das Kriterium der Gefahrverantwortlichkeit auf. Der gezielte polizeiliche Todesschuss117 wird nach ganz herrschender Mei114  Hartleb,

Grundrecht (Fn. 6), S. 1398. Quantifizierungsvorbehalt (Fn. 55), S. 858; Hartleb, Grundrecht (Fn. 6), S. 1398; B. Pieroth/B. Hartmann, Der Abschuss eines Zivilflugzeugs auf Anforderung des Bundesministers für Verteidigung, in: Jura 2005, S. 729 (729). 116  Dieser wird teilweise auch als „finaler Rettungsschuss“ bezeichnet, was allerdings die tödliche Wirkung dieser polizeilichen Maßnahme verschleiert, weshalb diese Begrifflichkeit hier nicht verwendet wird. 117  Siehe dazu die Landesregelungen: § 54 Abs. 2 PolG Baden-Württemberg; Art. 66 Abs. 2 S. 2 PAG Bayern; § 66 Abs. 2 S. 2 PolG Brandenburg; § 46 Abs. 2 S. 2 und 3 PolG Bremen; § 25 Abs. 2 S. 1 SOG Hamburg; § 60 Abs. 2 S. 2 SOG Hessen; 115  Baumann,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

nung als verfassungskonform angesehen, weil dieser an das sozialschädliche Verhalten des Übergriffigen anknüpft, der die Pflichtenkollision durch sein Verhalten heraufbeschworen hat118. Dies bestätigen auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zum Luftsicherheitsgesetz bezüglich des Abschusses eines Flugzeugs, welches allein mit Personen besetzt ist, die dieses als Waffe gegen das Leben anderer Menschen einsetzen wollen119. Es entspreche „gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird.“120 Ein Verstoß gegen das Wertungsverbot wird hiernach mit der Begründung abgelehnt, dass das Instrumentalisierungsverbot der Menschenwürdegarantie aufgrund der Selbstbestimmung des Übergriffigen nicht zum Tragen kommt121. Dieser hat als Handlungsstörer selbst die Gefahr für das Schutzgut geschaffen. Er wird daher nicht als Objekt behandelt, wenn er zum Schutz des bedrohten Rechtsguts in die Verantwortung genommen wird122. Hier zeigt sich die „Situationsgebundenheit des Würdeanspruchs, der in Verursachungs- und Verantwortungszusammenhänge eingebettet ist.“123 Zunächst einmal ergibt sich aus der Gefahrverantwortlichkeit des Übergriffigen damit nur, dass seine Tötung keinen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG darstellt. Zugleich dient die Gefahrverantwortlichkeit aber als Anhaltspunkt dafür, welche Pflicht im Fall der Kollision zu erfüllen ist. Die Berücksichtigung der Verantwortlichkeit stellt keine Bewertung der Leben der am Dreiecksverhältnis Beteiligten dar, weil diese sich allein auf die äußeren Umstände des jeweiligen Geschehens bezieht. Selbstbestimmtes Verhalten, welches für andere eine Lebensgefahr verursacht, stellt somit ein zulässiges Entscheidungskriterium dar124. § 76 Abs. 2 S. 2 SOG Niedersachsen; § 63 Abs. 2 S. 2 PolG NRW; § 63 Abs. 2 S. 2 POG Rheinland-Pfalz; § 57 Abs. 1 S. 2  SPolG Saarland; § 34 Abs. 2 PolG Sachsen; § 65 Abs. 2 S. 2 SOG Sachsen-Anhalt; § 64 Abs. 2 S. 2 PAG Thüringen; nicht geregelt ist der polizeiliche Todesschuss hingegen in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. 118  Merten, Todesschuß (Fn. 16), S. 592 ff.; Jakobs, Terrorismus (Fn. 29), S. 83; Starck (Fn. 43) Art. 1 Abs. 1 Rn. 78; Schulze-Fielitz (Fn. 23), Art. 2 II Rn. 62; a. A. A. Podlech, in: R. Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., 1989, Art. 2 Abs. 2 Rn. 15. 119  BVerfGE 115, 118. 120  BVerfGE 115, 118 (161, Rn. 141). 121  Lorenz (Fn. 92), Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (2012) Rn. 491. 122  E. Reimer, Die Schwäche des Rechtsstaats ist seine Stärke, in: StudZR3 (2006), S. 601 (603). 123  Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 (2009) Rn. 96. 124  M. Baldus, Streitkräfteeinsatz zur Gefahrenabwehr im Luftraum, in: NVwZ 2004, S. 1278 (1284); A. Archangelskij, Das Problem des Lebensnotstandes am Bei-



A. Leben gegen Leben

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Unter dem Gesichtspunkt der Gefahrverantwortlichkeit ist daher ebenso das Verhalten des Betroffenen zu berücksichtigen. Entscheidend ist daher auch, ob und in welchem Maße dieser das Schutzgut Leben der Gefahr durch sein selbstbestimmtes Verhalten ausgesetzt hat125. In Fällen eigenverantwortlicher Selbstgefährdungen ist die grundrechtliche Schutzpflicht nicht gefordert. Sie entsteht erst „dort, wo der einzelne ohne eigenes Zutun, aus unverschuldetem Mangel an Kenntnissen über die Beeinträchtigung oder aus anderen Gründen, die sich seinem Einfluß entziehen, dem Dritten ausgeliefert ist“126. b) Wahrscheinlichkeit der Pflichterfüllung Ein weiterer äußerer Umstand, der in Betracht kommen könnte, ist die Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Pflichterfüllung. In diesem Sinne versteht Ladiges die tatsächliche Möglichkeit der Pflichterfüllung als zulässiges Differenzierungskriterium im Rahmen der Abwägung zwischen Achtungsund Schutzpflicht127. Er führt in Bezug auf das Szenario einer entführten Passagiermaschine aus, dass es sich um eine Abwägung zwischen Schutzpflicht und Achtungsanspruch handelt, wobei der Staat nur die Schutzpflicht für das Leben zu erfüllen habe, die er auch tatsächlich noch erfüllen kann. Dabei beruft er sich auf Giemulla, der für diese Konstellationen, in denen die Erfüllung einer Schutzpflicht faktisch nicht möglich ist, annimmt, dass es sich hierbei nicht um ein „Entweder-Oder“ handelt, weil es faktisch kein „Oder“ gibt128. Hierbei handele es sich nicht um eine Bewertung des Lebens, weil nicht nach schützenswertem und nicht schützenswertem Leben differenziert werde, sondern vielmehr nach schützbarem und nicht schützbarem Leben129. Daher werde im Ergebnis auch keine quantifizierende Abwägung von Leben vorgenommen130. Diese Argumentation kann nicht überzeugen. Auch wenn Ladiges zunächst davon spricht, dass es sich um eine Abwägung zwischen Achtungsund Schutzpflicht handelt, lassen seine weiterführenden Ausführungen dies spiel des Abschusses eines von Terroristen entführten Flugzeugs, 2005, S. 112; M. Sachs, Der Schutz der physischen Existenz, in: K. Stern, Staatsrecht IV/1, 2006, S. 121 (158); Fink (Fn. 7), § 88 Rn. 44. 125  Hermes, Grundrecht (Fn. 72), S. 230. 126  Hermes, Grundrecht (Fn. 72), S. 230. 127  C. Gramm, Der wehrlose Verfassungsstaat, in: DVBl. 2006, S. 653 (660); Ladiges, Bekämpfung (Fn. 7), S. 354; Isensee, Leben (Fn. 3), S. 229 ff.; unterstützend Gauder, Lebensopfer (Fn. 33), S. 218 f. 128  Giemulla, Abschuss (Fn. 20), S. 40. 129  Ladiges, Bekämpfung (Fn. 7), S. 354. 130  Ladiges, Bekämpfung (Fn. 7), S. 354.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

nicht erkennen. Vielmehr scheint er die Achtungspflicht gegenüber den Passagieren an Bord zu übersehen und bezieht seine Ausführungen ausschließlich auf die gegenüber diesen bestehende Schutzpflicht. Deren Erfüllung ist freilich im benannten Szenario faktisch nicht möglich. Sie sind, unabhängig davon ob das Flugzeug abgeschossen wird oder nicht, dem Tode geweiht. Es findet insoweit ein Pflichtenfortfall statt aufgrund der faktischen Unmöglichkeit der Schutzgewähr. Das bedeutet allerdings nicht, dass damit auch die ihnen gegenüber bestehende Achtungspflicht obsolet werden würde. Genau dies scheint Ladiges allerdings durch Berücksichtigung des Kriteriums der Rettungswahrscheinlichkeit bewirken zu wollen. Er unternimmt einen Vergleich der Rettungswahrscheinlichkeiten, die für die Berechtigten der Achtungspflicht gleich Null ist und für die Menschen am Boden, also die Berechtigten der Schutzpflicht, größer als Null ist. Hieraus leitet er einen Vorrang der Schutzpflicht ab. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das seit dem 11. September bekannte Szenario einer entführten Passagiermaschine kein klassisches Dreiecksverhältnis darstellt, sondern vielmehr ein Vierecksverhältnis, was von Ladiges nicht entsprechend gewürdigt wird131. Entscheidend ist aber, dass das Kriterium der Rettungswahrscheinlichkeit und die von ihm vorgenommene Unterscheidung zwischen schützbarem und nicht schützbarem Leben sehr wohl eine Bewertung des Lebens darstellt132. Die Rettungswahrscheinlichkeit in Bezug auf das Schutzgut Leben ist nichts anderes als das Kriterium der Todgeweihtheit im anderen Kleid. Dieses stellt nicht erst seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz eindeutig ein qualitatives Kriterium dar133. Die Rettungswahrscheinlichkeit beruht auf einem von Dritten vorgenommenen Prognoseurteil, welches durch außenstehende Dritte erfolgt und Lebenschancen qualifiziert134. Stellte man im Rahmen der Abwägung Leben gegen Leben daher auf die Rettungschancen ab, so würde hierdurch gewissermaßen durch die Hintertür eine Bewertung des Lebens eingeführt135. Dies ist unvereinbar mit dem absoluten Wertungsverbot, welches die Heranziehung qualitativer Kriterien untersagt.

131  J. Kersten, Die Tötung von Unbeteiligten – Zum verfassungsrechtlichen Grundkonflikt des § 14 III LuftSiG, in: NVwZ 2005, S. 661 (663). 132  E. Klein, Die vorsätzliche Tötung unbeteiligter Personen durch den Staat, in: K. Grupp/U. Hufeld (Hrsg.), Recht  – Kultur  – Finanzen, Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 71 (79). 133  BVerfGE 115, 118 (158, Rn. 132), Klein, Tötung (Fn. 132), S. 79; Winkeler, Gefahrenabwehrmaßnahmen (Fn. 24), S. 239. 134  Sinn, Tötung (Fn. 20), S. 589. 135  Sinn, Tötung (Fn. 20), S. 589; Klein, Tötung (Fn. 132), S. 79.



A. Leben gegen Leben169

c) Existenzbedrohung des Staates Teilweise werden die hier behandelten Ausnahmesituationen derart konstruiert, dass durch den Übergriff neben der konkreten Rechtsgutsgefährdung zugleich die Existenz des Staates bedroht wird. Diese Szenarien sind aufgrund der anfangs vorgenommenen Ausklammerung des Staatsnotstandes im Rahmen dieser Untersuchung nicht von Interesse. Es sei nur darauf hingewiesen, dass, wenn man die Absolutheit der Menschenwürdegarantie ernst nimmt, auch eine Existenzbedrohung des Staates das Wertungsverbot nicht aushebeln kann136. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland hat sich mit Schaffung der absoluten Garantie der Menschenwürde entschieden, diese über alles und damit auch über existentielle Belange des Staates selbst zu stellen137. Der Schutz des Staates selbst wird zudem nicht über grundrechtliche Schutzpflichten im hier benannten Sinne vermittelt138. 3. Zwischenergebnis Es zeigt sich, dass zur Auflösung von Kollisionen des Lebensgrundrechts in Dreiecksverhältnissen allein an das freiverantwortliche Verhalten der Beteiligten angeknüpft werden kann. Nur dieses kann die zielgerichtete Tötung durch die Staatsgewalt verfassungsrechtlich rechtfertigen. Dies entspricht auch der Wertung, die in Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK zum Ausdruck kommt. Hiernach wird von dem grundsätzlichen Tötungsverbot des Art. 2 Abs. 1 EMRK eine Ausnahme gemacht, um jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen.

V. Zwischenfazit Für Ausnahmesituationen, in denen Leben gegen Leben steht, ist grundsätzlich festzuhalten, dass der Staat unter Umständen auch seine Schutzpflicht durch Tötung des Übergriffigen erfüllen kann. Ein Pflichtenfortfall ist dabei sowohl auf Seiten der Achtungs- als auch auf Seiten der Schutzpflicht 136  P. Lerche, Ausnahmslos und vorbehaltlos geltende Grundrechtsgarantien, in: H. Däubler-Gmelin (Hrsg.), Gegenrede – Aufklärung – Kritik – Öffentlichkeit, Festschrift für Ernst Gottfried Mahrenholz, 1994, S. 515 (518); Baumann, Quantifizierungsvorbehalt (Fn. 55), S. 860; a. A.: H. C. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: F. Neumann/ders./U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 1 (22). 137  M. Herdegen, Objektives Recht und subjektive Rechte, in: D. Heckmann/ K. Meßerschmidt (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Öffentlichen Rechts, 1988, S. 161 (162); Winkler, Kollisionen (Fn. 14), S. 267. 138  Zum Staatsnotrecht siehe C. Möllers, Staat als Argument, 2.  Aufl. 2011, S.  264 ff.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

theoretisch möglich, praktisch aber als lebensfern einzuordnen. Dies bedeutet, dass der Staat diese Situationen verfassungskonform zu lösen hat. Die Abwägungsmöglichkeiten der entgegenstehenden Positionen werden dabei durch das für das Grundrecht auf Leben geltende Wertungsverbot extrem eingeschränkt. Im Ergebnis bleibt daher nur die Gefahrverantwortlichkeit als Zünglein an der Waage. Dieser Befund hat weitreichende Folgen, weil er die Frage nach einem Primat der Schutzpflicht aufwirft. Oben wurde bereits dargestellt, dass die Gefahrverantwortlichkeit des Übergriffigen bereits Voraussetzung für das Vorliegen eines Übergriffs ist139. Der Übergriff wiederum ist Voraussetzung dafür, dass die grundrechtliche Schutzpflicht ausgelöst wird. Fordert die grundrechtliche Schutzpflicht im konkreten Fall einen Eingriff in die Abwehrrechte des Übergriffigen und gerät damit in Konflikt mit der Achtungspflicht, so würde die Gefahrverantwortlichkeit des Übergriffigen damit stets für die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht streiten. Dies irritiert, weil die Gefahrverantwortlichkeit bereits Voraussetzung für das Entstehen des Dreiecksverhältnisses ist. Im Dreiecksverhältnis wäre daher bereits eine Asymmetrie zwischen Achtungs- und Schutzpflicht angelegt. Im Hinblick auf die an dieser Stelle behandelte Situation, in der durch das absolute Wertungsverbot eine Abwägung mangels weiterer zulässiger Abwägungskriterien nicht möglich ist, hätte dies zur Folge, dass sich stets die Schutzpflicht für das Leben des Betroffenen durchsetzen müsste. Der Staat hat, vorausgesetzt es bestehen keine anderen Möglichkeiten das Leben des Betroffenen zu retten, und die Tötung stellt keine Verletzung des Achtungsanspruchs der Menschenwürde des Übergriffigen dar, diesen zu töten. Dies erscheint insofern problematisch, da das Verhalten des Übergriffigen keiner Bewertung am Maßstab der Rechtmäßigkeit unterzogen wurde. Es geht an dieser Stelle aber auch nicht um die einfachrechtliche Qualifikation des Übergriffs als rechtswidrig oder rechtmäßig. Der Übergriffige droht im Dreiecksverhältnis den allgemeinen Grundsatz des neminem laedere, das heißt die gegenüber anderen Menschen bestehende Nichtstörungspflicht zu verletzen140. Unabhängig davon, dass dadurch die Vermutung nahe liegt, dass der Übergriffige auch rechtswidrig handelt, verdeutlich dies, dass der Übergriffige eigenverantwortlich seinen Rechtskreis überschreitet141. Dass die Entscheidung, welches Leben der Staat erhält, zu seinen Lasten ausfällt, folgt damit aus grundsätzlichen Gerechtigkeitserwägungen.

139  Vgl.

oben 1. Kap. C. II. 2. b) cc) Verursachung, S. 65 f. in: K. Friauf/W. Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 (2005), Rn. 91 f. 141  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 91. 140  C. Enders,



B. Menschenwürde gegen Leben

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B. Menschenwürde gegen Leben Treffen Menschenwürde und Leben aufeinander, so stellt sich die Situation auf den ersten Blick als unproblematisch dar. Die Menschenwürde setzt sich aufgrund ihrer absoluten Geltung gegen jedes andere Grundrecht und damit auch das Leben durch. Für eine Abwägung bleibt kein Raum. Die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls sind unerheblich. Es gilt an dieser Stelle zu untersuchen, ob diesem spontanen Judiz auch im Ergebnis gefolgt werden kann. Vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung des Lebens für den Menschen erscheint zumindest die Ausschließlichkeit dieser Herangehensweise fraglich. Im Folgenden soll daher, nach einer auf das Wesentliche beschränkten Nachzeichnung der Ausgangspositionen, das Verhältnis von Menschenwürde und Leben aus dem Blickwinkel der für sie streitenden Achtungs- und Schutzpflichten analysiert werden. Hierzu bedarf es eines kursorischen Überblicks über die Unabwägbarkeit der Menschenwürde. Besonderes Augenmerk wird dabei auf der kategorischen Wirkung der Pflichten liegen, die zugunsten der Menschenwürde wirken.

I. Ausgangsposition(en) Im Unterschied zu den beiden anderen hier untersuchten Pflichtenkollisionen sind in der Konstellation Menschenwürde gegen Leben augenscheinlich verschiedene Rechtsgüter betroffen. Das hat zur Folge, dass – weil auch zwei unterschiedliche Pflichten untersucht werden – zwei Ausgangspositionen denkbar sind. Möglich ist zum einen, dass die Achtungspflicht für die Menschenwürde streitet und die grundrechtliche Schutzpflicht für das Leben. Die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht für das Leben fordert demnach einen Eingriff in die Menschenwürde als Abwehrrecht. Wird dieser Eingriff unterlassen, so wird das Leben des Betroffenen geopfert. In der zweiten Ausgangsposition ist die Situation genau umgekehrt. Die grundrechtliche Schutzpflicht für die Menschenwürde fordert für ihre Erfüllung die Tötung des Übergriffigen. Für diesen wiederum streitet die Achtungspflicht für sein Leben. Unabhängig davon, welche dieser beiden Ausgangspositionen betroffen ist, stehen sich stets die beiden Rechtsgüter Menschenwürde und Leben gegenüber. Die durch Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG gewährleistete Unantastbarkeit der Würde verleitet zu der Annahme, dass diese uneingeschränkt Vorrang genießt. Wird die Menschenwürde durch das Grundgesetz unbeschränkt garantiert und ist damit einem Ausgleich mit anderen Verfassungsgütern nicht zugänglich, so wird hierdurch das Ergebnis der Kollisionslage durch das abs-

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

trakte Rangverhältnis der betroffenen Schutzgüter bereits vorweggenommen. Es wäre demnach für die Auflösung der Kollisionslage unerheblich, ob die Menschenwürde im Einzelfall durch die Achtungspflicht oder die grundrechtliche Schutzpflicht geschützt wird.

II. Pflichtenfortfall im Würdebereich Ob und inwieweit die Achtungs- und Schutzpflicht für das Leben keine Wirkung entfalten können, wurde bereits oben geklärt. Unter Umständen kommt jedoch auch ein Pflichtenfortfall im Würdebereich in Frage. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu dieser Frage bisher bedeckt gehalten. In seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe führte es aus: „Das Recht auf Achtung seiner Würde kann auch dem Straftäter nicht abgesprochen werden, mag er sich in noch so schwerer und unerträglicher Weise gegen alles vergangen haben, was die Wertordnung der Verfassung unter ihren Schutz stellt“142. Dies ist auch die in der Literatur vorherrschende Auffassung143. Damit ist aber nur gesagt, dass ein Rechtsverlust oder eine Verwirkung nicht möglich sind144. Unklar bleibt, ob der Einzelne wirksam auf den durch die Würdegarantie vermittelten Schutz verzichten kann. Dazu hat sich Karlsruhe bisher nicht ausdrücklich geäußert. In der Literatur geht Pietzcker als einer von wenigen von einer Dispositionsbefugnis im Hinblick auf die Menschenwürde aus, weil diese „wesentlich in der Autonomie [besteht]; das Einverständnis des Betroffenen ist demnach geeignet, dem staatlichen Handeln den würdeverletzenden Charakter zu nehmen.“145 Diese Auffassung steht in der Tradition des Pico della Mirandola, der in seiner berühmten Rede „Über die Würde des Menschen“ vor allem auf das Prinzip der Autonomie des Einzelnen abgestellt hat146. Dies sieht die herrschende Meinung im Schrifttum im Hinblick auf den Charakter der Menschenwürde als objektive Wertentscheidung indes anders und spricht sich gegen die Zulässigkeit einer Einwilligung aus147. 142  BVerfGE

72, 105 (115). in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar (Fn. 92), Art. 1 Abs. 1 u. 2 (2005), Rn. 39; Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 53; Starck (Fn. 43), Art. 1 Rn. 23; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 12. 144  Podlech (Fn. 118), Art. 1 Abs. 1 Rn. 72; Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 23; a. A. nur v. Winterfeld, Todesschuß (Fn. 36), S. 1883. 145  J. Pietzcker, Die Rechtsfigur des Grundrechtsverzichts, in: Der Staat 17 (1978), S. 527 (540). 146  G. Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen (1486) S. 6 ff. (zitiert nach der Ausgabe von A. Buck, 1990). 147  Sturm, Probleme (Fn. 47), S. 188 f.; T. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 86 f.; Stern, Staatsrecht III/2 (Fn. 22), S. 923; Kunig 143  R. Zippelius,



B. Menschenwürde gegen Leben

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Es kann hier offen bleiben, welcher Auffassung gefolgt wird. In den hier behandelten Fällen wird eine Einwilligung des Übergriffigen aus den oben genannten Gründen jedenfalls praktisch nicht vorliegen.

III. Unabwägbarkeit der Menschenwürde Die Menschenwürde wird in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG als einziges Schutzgut im Grundrechtskatalog für „unantastbar“ erklärt. Aus dieser Formulierung wird die These abgeleitet, dass die Menschenwürdegarantie dem klassischen grundrechtlichen Abwägungsprozess entzogen sei148. Der Schutz der Menschenwürde wird vielmehr als „absolut ohne Möglichkeit eines Güterausgleichs“ mit Grundrechten anderer oder sonstigen Rechtsgütern von Verfassungsrang verstanden149. So umstritten der Inhalt der Würdegarantie ist150, so konsistent ist das Bekenntnis zu dieser Absolutheit151. Dies spiegelt sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wieder, wo immer wieder betont wird, dass die Menschenwürde mit keinem anderen Grundrecht abwägungsfähig sei152. Der Absolutheitsanspruch des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG stellt dabei ein Axiom des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland dar153. Für diese absolute Deutung der Menschenwürdegarantie wird neben dem Wortlaut auch (Fn. 15), Art. 1 Rn. 12; Jarass (Fn. 15), Art. 1 Rn. 13; a. A. A. Blankenagel, Gentechnologie und Menschenwürde, in: KritJ 20 (1987), S. 379 (385 ff.); W. Schmitt-Glaeser, Big Brother is watching you – Menschenwürde bei RTL 2, in: ZRP 2000, S. 395 (400). 148  So die ganz h.  M.: Geddert-Steinacher, Menschenwürde (Fn. 147), S. 83; W. Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, in: JuS 1995, S. 857 (859); Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 73; Starck (Fn. 43), Art. 1 I Rn. 34; Jarass, (Fn. 15), Art. 1 Rn. 16. 149  BVerfGE 75, 369 (380). 150  Siehe zu den verschiedenen Würdekonzepten Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 24), Rn. 379 ff. 151  Es mehren sich allerdings Stimmen, die eine Abwägung durchaus für möglich halten: W. Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 1997, S. 23 ff.; M. Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, in: JZ 2001, S. 773 (774 ff.); M. Kloepfer, Humangenetik als Verfassungsfrage, in: JZ 2002, S. 417 (422 f.); T. Elsner/K. Schobert, Gedanken zur Abwägungsresistenz der Menschenwürde – angestoßen durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung, in: DVBl. 2007, S. 278 ff.; M. Baldus, Menschenwürdegarantie und Absolutheitsthese, in: AöR 136 (2011), S. 529 ff. 152  BVerfGE 34, 238 (245); 75, 369 (380); 93, 266 (293); 107, 275 (283 f.). 153  J. v. Bernstorff, Der Streit um die Menschenwürde im Grund- und Menschenrechtsschutz: Eine Verteidigung des Absoluten als Grenze und Auftrag, in: JZ 2013, S. 905 (905).

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

die durch die sogenannte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG verbürgte Unabänderbarkeit der in Art. 1 GG niedergelegten Grundsätze angeführt154. Aus diesem Verständnis ergäbe sich als zwingende Folge, dass Eingriffe in den Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden können155. Sie stellen automatisch eine Verletzung der Menschenwürdegarantie dar und sind daher verfassungswidrig. Dieses Verständnis von der Sakrosanktheit der Menschenwürde entspricht auch ihrer historischen Entstehungsgeschichte156. Mit ihr sollte als Reaktion auf die Schrecken der Vergangenheit für die Zukunft eine unüberschreitbare Grenze für die Staatsgewalt gezogen werden157. Festzuhalten ist, dass die Absolutheit der Menschenwürde ein nahezu unumstrittenes Axiom unserer Verfassungsordnung darstellt. Ihr wird daher der normative Höchstrang innerhalb der deutschen Rechtsordnung zuerkannt.

IV. Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht Die grundrechtsdogmatische Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht vorausgesetzt, stellt sich die Frage nach der Auflösung dieser Konfliktsituation. Grundsätzlich bietet ein abstrakter Vergleich der Wertigkeit der betroffenen verfassungsrechtlichen Schutzgüter für die jeweilige Lösung des Einzelfalls lediglich einen ersten Anhaltspunkt für die Abwägung. Dies stellt sich in Konstellationen in denen die Menschenwürde betroffen ist, anders dar. Hier kann es schon nicht zu einer Abwägung kommen, weil die Menschenwürde als unabwägbar verstanden wird. Sie genießt in allen denkbaren Fällen Vorrang und zwar ausnahmslos, das heißt auch gegenüber dem Leben158. Für die hier behandelten Konstellationen führt dies nach überkommenem Verständnis zu folgender Auflösung. In der ersten Ausgangsposition, in der die Schutzpflicht für das Leben nur durch einen Eingriff in die Menschenwürde des Übergriffigen erfüllt werden kann, setzt sich die Achtungspflicht für die Menschenwürde durch. Ihr liegt ein kategorisches Verbot zugrunde, welches eine Antastung der Menschenwürde untersagt. Der Lebensschutz des Betroffenen hat dahinter zurückzutreten. Die Schutzpflicht kann aus rechtlichen Gründen nicht erfüllt werden. 154  Kunig

(Fn. 15), Art. 1 Rn. 4. vieler Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 4. 156  F. Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, in: DÖV 2003, S. 873 (877). 157  Parlamentarischer Rat, Ausschuß für Grundsatzfragen, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Akten und Protokolle, 1993, Bd. 5/I, S. 71. 158  U. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG (Fn. 18), Art. 2 Abs. 2 Satz  1 (2004), Rn.  14 f.; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 4 f.; Höfling (Fn. 4), Art. 1 Rn. 59 f. 155  Statt



B. Menschenwürde gegen Leben

175

Fordert hingegen die Schutzpflicht für die Würde des Betroffenen zu ihrer Erfüllung den Entzug des Lebens des Übergriffigen, so muss sich diese durchsetzen. Ihr liegt spiegelbildlich ein kategorisches Gebot zugrunde, welches einen unbedingten Würdeschutz fordert und von der Staatsgewalt gleichsam nicht ignoriert werden darf. In beiden Fällen hat der Lebensschutz somit aufgrund der Höchstwertigkeit der Menschenwürde im grundrechtlichen Wertesystem das Nachsehen. Unerheblich ist, ob dieser über die Achtungs- oder die Schutzpflicht vermittelt wird. Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht wird demnach durch die Hierarchie der betroffenen Schutzgüter bestimmt. Diese Feststellung trifft indes nur auf Konstellationen zu, in denen die Menschenwürde betroffen ist, weil das Grundrechtssystem ansonsten keine abstrakte Rangfolge kennt.

V. Weitere Lösungsansätze Das dargestellte Verhältnis von Menschenwürde und Leben wird nicht ausnahmslos geteilt. Einige Stimmen fordern eine Verstärkung des Lebensschutzes mit der Folge, dass die in Frage stehenden Konstellationen anders aufzulösen wären. 1. Kloepfers These vom Leben als Höchstwert des Grundgesetzes Konträr zur herrschenden Meinung versteht Kloepfer den Lebensschutz als dem Würdeschutz übergeordnet. Auch wenn er selbst die Sinnhaftigkeit einer hierarchischen Rangfolge innerhalb der Verfassungsgüter in Frage stellt, so sieht er – diese unterstellt – das Leben und nicht die Menschenwürde an der Spitze einer solchen Ordnung159. Dies begründet er vor allem unter Bezugnahme auf eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, welches das menschliche Leben als „vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“ versteht160. Denn nur wo „menschliches Leben existiert kommt ihm Menschenwürde zu“161. Aus dieser Abhängigkeit 159  M. Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 1976, S. 405 (412 f.); ders., Leben und Würde des Menschen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 77 ff. 160  BVerfGE 39, 1 (42). 161  BVerfGE 39, 1 (41).

176

3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

der Menschenwürde vom Vorhandensein des Lebens folgert Kloepfer deren Nachrangigkeit162. „Der Schutz des Lebens als allgemeinste, elementarste Grundrechtsvoraussetzung ist deshalb der höchste Wert des Grundgesetzes.“163 Das Leben könne folglich keinen geringeren Schutz erfahren als ein das Leben voraussetzendes Grundrecht, wie beispielsweise die Würde164. Daraus folgert er, „dass der Gesetzesvorbehalt von Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG zwar wegen des Ranges des menschlichen Lebens stark eingeschränkt ist, aber die nach sorgfältiger Güterabwägung noch verbleibenden Beschränkungsmöglichkeiten menschlichen Lebens entsprechend (mindestens) auch analog auf vermeintlich schrankenfreie Grundrechte anwendbar sein müssen. Diese […] Sicht würde dann auch eine entsprechende, vorsichtige Beschränkbarkeit des Menschenwürdeprinzips rechtfertigen.“165 Für die Ausgangspositionen, in denen sich Würde und Leben gegenüberstehen, müsste diese Auffassung abstrakt zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Der Lebensschutz würde Vorrang vor dem Würdeschutz genießen, unabhängig davon, ob dieser über die Achtungs- oder die Schutzpflicht vermittelt wird. Er lässt darüber hinaus anklingen, dass die Menschenwürde ebenso prinzipiell abwägungsfähig sein müsste wie das Leben, führt allerdings nicht weiter aus, wie eine solche Abwägung vorzunehmen wäre. 2. Aufwertung des Lebensschutzes durch Gleichordnung Andere gehen nicht so weit wie Kloepfer, sondern verstehen Leben und Würde (nur) als gleichwertige Verfassungsgüter166. Nach Herdegen legt bereits „der entstehungsgeschichtliche Kontext des Bekenntnisses zur Menschenwürde – die Reaktion auf die Gräuel des Dritten Reichs – […] nahe, dass der Schutz vor physischer Vernichtung […] a priori keine geringere Valenz hat als die Achtung der Menschenwürde.“167 Ähnlich argumentiert auch Schlehofer, der basierend auf der Prämisse, dass die Menschenwürde die uneingeschränkte Achtung der physischen Existenz verlangt, auch dem Leben einen absoluten Schutz zuteil werden lassen will168. Weil Würde überhaupt erst vorstellbar sei, wenn menschliches Leben vorhanden ist, sei die 162  Kloepfer,

Grundrechtstatbestand (Fn. 159), S. 412 f. Grundrechtstatbestand (Fn. 159), S. 412. 164  Kloepfer, Grundrechtstatbestand (Fn. 159), S. 412. 165  Kloepfer, Grundrechtstatbestand (Fn. 159), S. 413. 166  H. Schlehofer, Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes – absolute oder relative Begrenzung staatlicher Strafgewalt, in: GA 1999, S. 357 (362); Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 25; ähnlich auch Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 79. 167  Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 25. 168  Schlehofer, Menschenwürdegarantie (Fn. 166), S. 362; ähnlich Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 79. 163  Kloepfer,



B. Menschenwürde gegen Leben

177

Achtung des Lebens „das Mindeste […], was die Menschenwürde gebietet.“169 Unterstützend führt er an, dass Sinn und Zweck des Art. 1 GG vor allem sei, den Menschen ein würdevolles Leben zu ermöglichen170. Ein solches Verständnis der Gleichwertigkeit von Menschenwürde und Leben würde bedeuten, dass sich zwei gleichrangige kategorische Pflichten gegenüberstehen. Ein klarer Vorrang des Würdeschutzes wäre nicht mehr gegeben. Die Schwierigkeiten, die mit einer solchen Ausgangsposition einhergehen, werden unten bei der Pflichtenkollision im Würdebereich näher erläutert. 3. Koppelung von Menschenwürde und Leben Schließlich gibt es Bestrebungen, welche den Schutz von Menschenwürde und Leben zu einer funktionalen Einheit verbinden wollen. Picker versucht dabei eine Aufwertung des Lebensschutzes über die Ausweitung des Schutzbereichs der Menschenwürdegarantie. Er begründet dies mit einem für ihn bedenklichen Auseinanderdriften von Menschenwürde und Leben171. Seiner Auffassung nach bewegen diese „sich hier zu rigoroser Verabsolutierung, dort zu permissiver Relativierung.“172 Nach Picker führt diese Entwicklung dazu, dass „eine zunehmend entvitalisierte ‚Würde‘ den Menschen nicht mehr zu schützen vermag“ und letztlich auch die Würde einen Bedeutungsverlust erleide173. Aufgrund dieses Befunds fordert er „eine ‚Revitalisierung‘ der ‚Würde‘ als Schutzgut.“174 Damit gemeint ist eine Aufwertung des Lebensschutzes, um diesen am Schutzniveau der Menschenwürde teilhaben zu lassen, durch Schaffung eines einheitlichen Schutzbereichs175. Dies hätte zur Folge, dass sich im Konfliktfall zwei gleichwertige Pflichten gegenüberstünden, mithin das gleiche Ergebnis wie bei einer Gleichordnung des Lebensschutzes. 4. Bewertung der alternativen Deutungen Wie sich gezeigt hat, führen die dargestellten Ansätze zu gänzlich anderen Bewertungen des Konflikts Menschenwürde gegen Leben als das überkommene Verständnis der Menschenwürde als Höchstwert. Die Menschenwürde 169  Schlehofer,

Menschenwürdegarantie (Fn. 166), S. 362. Menschenwürdegarantie (Fn. 166), S. 362. 171  E. Picker, Menschenwürde und Menschenleben, in: H. H. Jakobs/u. a. (Hrsg.), Festgabe für Werner Flume zum 90. Geburtstag, 1998, S. 155 (176 ff.). 172  Picker, Menschenwürde (Fn. 171), S. 176. 173  Picker, Menschenwürde (Fn. 171), S. 177. 174  Picker, Menschenwürde (Fn. 171), S. 239 f. 175  Picker, Menschenwürde (Fn. 171), S. 239 ff. 170  Schlehofer,

178

3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

würde sich hiernach nicht mehr kompromisslos gegen das Leben durchsetzen, sondern hätte teilweise gar dahinter zurückzustehen. Es gilt daher die Validität dieser alternativen Ansätze zu überprüfen. Diese gerät bereits mit Blick auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG ins Wanken, welcher die Menschenwürde als einziges Schutzgut im Grundrechtssystem für „unantastbar“ erklärt. Hätte der Verfassungsgeber dem Leben den gleichen Schutz zukommen lassen wollen wie der Menschenwürde, so hätte sich dies im Verfassungstext niedergeschlagen176. Einzig in der Verfassung des Landes Hessen findet sich mit der Todesstrafe ein Anhaltspunkt, welcher auf eine Gleichwertigkeit von Würde- und Lebensschutz hinweisen könnte177. Diese soll bei besonders schweren Verbrechen zulässig sein. Die Möglichkeit der Todesstrafe bezieht sich nach dem Wortlaut demnach zwar nicht ausschließlich auf Tötungsdelikte, umfasst diese aber. Die Möglichkeit derartige Verbrechen mit der Todesstrafe zu verfolgen spricht für eine herausgehobene Stellung des Lebensschutzes gegebenenfalls sogar über das Niveau des Würdeschutzes hinaus. Dieser Schluss ergibt sich daraus, dass die Verletzung der wichtigsten Schutzgüter in der Regel mit der schärfsten Sanktion belegt ist. Stellt die Todesstrafe die schärfste Sanktion dar, so handelt es sich beim Leben um eines der wichtigsten Schutzgüter, gleichbedeutend mit der Menschenwürde. Diese Überlegung kann im Ergebnis aber nicht überzeugen. Bereits aus normhierarchischen Gründen kommt dem Landesverfassungsrecht für Auslegungsfragen des Bundesverfassungsrechts nur äußerst beschränkte Bedeutung zu. Dies umso mehr, wenn das Landesverfassungsrecht dem Bundesverfassungsrecht widerspricht, was hier der Fall ist, da nach Art. 102 GG die Todesstrafe ausdrücklich abgeschafft ist. Hinzu kommt, dass Hessen das einzige von 16 Bundesländern ist, dessen Verfassung die Todesstrafe zulässt. Darüber hinaus kranken alle alternativen Ansätze daran, dass sie sich in systemwidriger Weise über die vom Grundgesetz vorgegebenen Rechtfertigungsmöglichkeiten von Eingriffen in das Grundrecht auf Leben hinwegsetzen. Bereits die Existenz des Gesetzesvorbehalts in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG und die dadurch begründete Möglichkeit der Einschränkbarkeit des Lebensgrundrechts zeigt deutlich dessen Andersartigkeit im Vergleich zur Menschenwürde178. Für ein Rangverhältnis zwischen Menschenwürde und Leben 176  U. Fink, Der Schutz des menschlichen Lebens im Grundgesetz – zugleich ein Beitrag zum Verhältnis des Lebensrechts zur Menschenwürdegarantie, in: Jura 2000, S. 210 (211). 177  Art. 21 Abs. 1 S. 2 der Verfassung des Landes Hessen. 178  W. Heun, Embryonenforschung und Verfassung – Lebensrecht und Menschenwürde des Embryos, in: JZ 2002, S. 517 (518); F. Saliger, Absolutes im Strafprozeß?, in: ZStW 116 (2004), S. 35 (46); F. Wittreck, Achtungs- gegen Schutzpflicht? Zur Diskussion um Menschenwürde und Folterverbot, in: U. Blaschke/A. Förster u. a.



B. Menschenwürde gegen Leben

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sprechen ferner die systematische Platzierung des Art. 1 GG im Grundgesetz (nämlich vor dem in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verfassten Recht auf Leben) und die Tatsache, dass nur Art. 1 GG, nicht aber Art. 2 GG von der sogenannten Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG erfasst ist179. Schließlich würde Art. 102 GG seinen Sinn verlieren, wenn das Leben im gleichen Maße wie die Menschenwürde geschützt werden würde180. Den Vertretern der dargestellten Auffassung ist zwar insoweit zuzustimmen, als dass das Grundrecht auf Leben die biologische Voraussetzung für die Menschenwürde darstellt. Allerdings geht der von ihnen daraus gezogene Schluss auf eine Höherwertigkeit des Lebens fehl. Auch wenn Leben Menschenwürde impliziert, so kommen Letzterer doch weit darüber hinausgehende Wirkungen zu181. Aus diesem Grund überzeugt der von Kloepfer gezogene Umkehrschluss nicht, dass wenn Würde Leben voraussetzt, diese nicht stärker geschützt sein könne als das Leben182. Es handelt sich bei Leben und Würde zwar um eng verknüpfte Rechtsgüter, aber sie sind eben nicht identisch, was sich auch in ihrem Schutzniveau widerspiegeln muss183. Allein der Befund, dass das Leben die Voraussetzung für Würde ist, kann daher in normativer Hinsicht weder dessen Höher- noch Gleichwertigkeit begründen184. Kloepfer ist zuzugeben, dass auch das Bundesverfassungsgericht das Leben teilweise als „einen Höchstwert“ der Verfassung bezeichnet hat185. Dabei sprach das Gericht aber nie von dem Höchstwert, konnte also stets allenfalls einen unter mehreren Höchstwerten meinen. Darüber hinaus hat das Gericht seine Ausführungen ausdrücklich eingeschränkt, als es im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch ausführte: „Der Schutz des Lebens ist nicht in dem Sinne absolut geboten, daß dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse“186. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spricht somit eindeutig gegen die von Kloepfer intendierte Hochstufung des Lebensschutzes. Diese würde auch mit der von der herrschenden Meinung vertretenen Unabwägbarkeit der Menschenwürde (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, S. 161 (174); Ladiges, Bekämpfung (Fn. 7), S. 280. 179  Fink, Schutz (Fn. 176), S. 211; G. Wagenländer, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, 2006, S. 150; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 4. 180  R. Herzog, Der Verfassungsauftrag zum Schutze des ungeborenen Lebens, in: JR 1969, S. 441 (444). 181  K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988, S. 24. 182  Hermes, Grundrecht (Fn. 72) S. 141. 183  Fink, Schutz (Fn. 176), S. 211. 184  Fink, Schutz (Fn. 176), S. 211. 185  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 49, 24 (53). 186  BVerfGE 88, 203 (253 f.).

180

3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

konfligieren. Der These von der Höchstrangigkeit des Lebens kann daher nicht gefolgt werden. Zur Koppelungsthese von Picker ist zu bemerken, dass seine Sorgen um eine Abschwächung des Lebensschutzes vor dem Hintergrund der immer präsenter werdenden gen- und fertilisationstechnischen Möglichkeiten nicht unbegründet sind. Diese stellen aber keine tragende Begründung für eine Aufwertung des Lebensschutzes dar, weil sie jeder dogmatischen Grundlage entbehren. Es erscheint vielmehr äußerst bedenklich, den Schutzbereich der Menschenwürde vom gewünschten Ergebnis her zu bestimmen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht von der Kongruenz der personalen Schutzbereiche der ersten beiden Grundrechtsartikel ausgeht187, so bedeutet dies nicht, dass es damit zugleich versucht, die Deckungsgleichheit der sachlichen Schutzbereiche zu propagieren188. Hinzu kommt, dass auch wenn das Leben die „vitale Basis“ der Menschenwürde darstellt, dies für die übrigen Grundrechte ebenso gilt. Deswegen wurde bisher aber auch noch nicht vertreten, dass beispielsweise die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG mit dem Grundrecht auf Leben zu verknüpfen sei. Gegen eine Teilnahme des Lebens am absoluten Schutz der Menschenwürde spricht ferner, dass in einer Rechtsordnung nur solche Rechtspositionen absolut geschützt werden können, deren Ausübung frei von sozialen Konflikten ist189. Für die Menschenwürde sei dies an dieser Stelle dahingestellt. Beim Grundrecht auf Leben ist dies jedenfalls, wie das Beispiel des finalen Todesschusses zeigte, nicht der Fall190. Die Koppelung von Würdeund Lebensschutz birgt zudem die Gefahr in sich, dass dadurch die Absolutheit des Würdeschutzes aufgeweicht wird191. Daher kann auch eine Zusammenführung der Schutzbereiche nicht überzeugen. Würde und Leben sind als zwei separate Grundrechte zu begreifen192. Es zeigt sich, dass die von der herrschenden Meinung abweichenden Deutungen des Lebensgrundrechts nicht überzeugen können193. Vielmehr sind die Gewährleistungsgehalte von Menschenwürde und Leben strikt zu trennen, ebenso wie der ihnen von der Verfassung zuteil werdende Schutz194. 187  BVerfGE

39, 1 (41); 88, 203 (238). Beurteilung (Fn. 179), S. 151 ff. 189  R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 327 ff. 190  Fink, Schutz (Fn. 176), S. 211. 191  Hermes, Grundrecht (Fn. 72), S. 141. 192  Dazu bereits 1. Kap. B. II. 1. b). Keine Identität der Achtungspflichten, S. 42 f. 193  Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 173. 194  Fink, Schutz (Fn. 176), S. 211 f.; E. Schmidt-Jortzig, Systematische Bedingungen der Garantie unbedingten Schutzes der Menschenwürde in Art. 1 GG, in: DÖV 2001, S. 925 (926). 188  Wagenländer,



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde181

Das Leben ist damit nicht das höchste Gut. Sieht man das Grundgesetz als jedenfalls teilweise beeinflusst durch die christliche Ethik so deckt sich dies auch mit dieser195. Diese geht schließlich davon aus, dass es im Leben des sterblichen Menschen Bedeutsameres gibt, als die Aufrechterhaltung und Mehrung von Leben196.

VI. Zwischenfazit Die Konstellation Würde gegen Leben stellt sich im Ergebnis als unproblematisch heraus. Die Abwägungsfestigkeit der Menschenwürde gilt auch im Konflikt mit dem Schutzgut Leben197. Daher können die beiden möglichen Szenarien, in denen Menschenwürde und Leben aufeinandertreffen, aufgrund der Höchstrangigkeit der Menschenwürde jeweils nur zugunsten der die Menschenwürde schützenden Pflicht aufgelöst werden. Eine Aufwertung des Lebensschutzes ist aufgrund überzeugender systematischer Einwände nicht angezeigt. Vielmehr lässt das Grundgesetz keine andere Lösung als die Subordination des Lebensschutzes unter den der Menschenwürde zu.

C. Menschenwürde gegen Menschenwürde Abschließend gilt es sich nun der wohl kompliziertesten der hier behandelten Ausnahmesituationen zuzuwenden, der Kollision von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich. In der Praxis gibt es nur wenige Konstellationen, die potentiell unter diese Kollisionslage subsumiert werden können. Dies hat seinen Grund vor allem darin, dass die Menschenwürde in Hinblick auf ihren Gewährleistungsbereich meist restriktiv ausgelegt wird. Folge dieser Auslegungspraxis ist, dass auch in Ausnahmesituationen eine Berührung der Menschenwürde angesichts ihres kategorischen Normbefehls nicht leichtfertig angenommen wird. Darüber hinaus kann eigenverantwortliches Verhalten des Übergriffigen, wie am Beispiel des polizeilichen Todesschusses dargelegt wurde, ebenso dazu führen, dass der staatliche Schutzeingriff die Menschenwürde des Übergriffigen nicht berührt198. Für diese Untersuchung wird indes unterstellt, dass sowohl der Übergriff als auch die von der Schutzpflicht geforderte Maßnahme eine Antastung der Menschenwürde darstellen. 195  H. Arendt,

S. 12.

196  Arendt,

Über das Böse Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, 8. Aufl. 2013,

Böse (Fn. 195), S. 12. Absolutes (Fn. 178), S. 46 f.; M. Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, in: KritV 87 (2004), S. 26 (49); S. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, 2006, S. 298; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 5. 198  Siehe oben 3. Kap. A. IV. 2. a) Gefahrverantwortlichkeit, S. 165 f. 197  Saliger,

182

3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Bisher wurde bei einer Antastung der Menschenwürde durch den staatlichen Schutzeingriff stets eine Verletzung der Achtungspflicht zugunsten der Menschenwürde angenommen. Hieraus wurde ganz überwiegend ein Eingriffsverbot abgeleitet, welches im Ergebnis einen kategorischen Vorrang der Achtungspflicht begründet. Maßgeblich ist, ob dieses apodiktische Verbot vor dem Hintergrund des gegebenenfalls ebenso starken Eingriffsgebots, welches aus der grundrechtlichen Schutzpflicht resultiert, aufrechterhalten werden kann199. In praktischer Hinsicht hat dies für das Gefahrenabwehrrecht insbesondere Bedeutung für die Frage nach der Zulässigkeit von Folter oder der Tötung Unschuldiger zur Rettung anderer, mithin existenzielle Grenzfragen, die weithin als verfassungsrechtliche No-go-Areas angesehen werden. Angesichts der immer präsenter werdenden Schutzpflichtendogmatik könnte sich indes ein Paradigmenwechsel ankündigen. Dessen Berechtigung gilt es im Folgenden zu überprüfen. Diesen allein unter Hinweis auf die mit einer Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich einhergehenden unerwünschten Implikationen abzulehnen kann dabei nicht genügen. Entscheidend kann nur sein, welche Vorgaben die Verfassung selbst zur Auflösung der Pflichtenkollision macht.

I. Existenz der Würdekollision Bevor sich mit dem Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich auseinandergesetzt werden kann, ist eine entscheidende Vorfrage zu klären. Wie so vieles im Bereich der Menschenwürde ist bereits die Existenz der Pflichtenkollision im Würdebereich umstritten200. Die Ablehnung, welche die Kollisionslage erfährt, rührt unter anderem daher, dass sie den Staat in ein Dilemma versetzt. Einerseits hat die Staatsgewalt den Achtungsanspruch des Übergriffigen zu respektieren, was grundsätzlich die Vornahme würdeverletzender Maßnahmen ausschließt. Auf der anderen Seite hat sie aber aufgrund der grundrechtlichen Schutzpflicht die Menschenwürde des Betroffenen zu schützen. Vorausgesetzt, dass zur Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht einzig Maßnahmen in Betracht kommen, vor denen die Achtungspflicht den Übergriffigen schützt, so verletzt der Staat, unabhängig davon, wie er sich entscheidet, eine der beiden Pflichten201. 199  Dagegen Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Rn. 46; Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 124), S.  95 f.; Starck (Fn. 43), Art. 1 Rn. 35; Dreier (Fn. 23), Art. 1 Rn. 134; Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 24), Rn. 398 f.; Jarass (Fn. 15), Art. 1 Rn. 16. 200  Die Problematik solcher Konstellationen wurde im staatsrechtlichen Kontext zunächst von W. Brugger thematisiert: Examensklausur im öffentlichen Recht, Übungsklausur Würde gegen Würde, in: VBlBW 1995, S. 414 (450). 201  Dreier (Fn. 23), Art. 1 I Rn. 133.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde183

Die besondere Brisanz der Frage nach dem Bestehen der Pflichtenkollision im Würdebereich liegt nunmehr darin, dass mit deren Anerkennung die logische Voraussetzung geschaffen wird, sich mit der Frage nach dem Rangverhältnis der beiden Pflichten auseinanderzusetzen. Zumindest theoretisch bestünde dann die Möglichkeit, dass diese Frage auch zugunsten eines Vorrangs der Schutzpflicht zu beantworten wäre, wodurch es zu einer von vielen gefürchtete Relativierung der Menschenwürde kommen könnte. Dieser Entscheidung mit ihren weitreichenden Folgen entziehen sich diejenigen, welche die Existenz der Pflichtenkollision verneinen und die Befolgung der Achtungspflicht schlichtweg als durch die Unantastbarkeit der Menschenwürde geboten ansehen. Es gilt daher zunächst zu klären, ob Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich kollidieren können. 1. Keine Kollision im Würdebereich Die Gruppe derer, die eine Kollision im Würdebereich für ausgeschlossen hält, ist überschaubar202. Im Wesentlichen argumentieren deren Verfechter damit, dass es die Kollisionslage in der Realität nicht geben könne, oder dass es rechtstechnisch nicht zu einer Kollision komme, weil die Schutzpflicht nicht weiter reichen dürfe, als die Achtungspflicht es zulasse. Andere wiederum sprechen sich nicht explizit gegen die Existenz der Kollisionslage aus, was darin begründet liegt, dass sie ein gänzlich anderes Verständnis von der Menschenwürde haben, welches gar nicht erst die Möglichkeit einer Kollision beinhaltet. Die Validität dieser Einwände ist nunmehr zu überprüfen. a) Faktische Unmöglichkeit der Pflichtenkollision Bei Kunig findet sich die Argumentation, dass es die Konstellation Würde gegen Würde nicht geben dürfe, weil „eine zum Schutz der Würde eines Menschen gebotene Maßnahme die Würde eines anderen Menschen nicht ‚antastet‘ “203. Unklar bleibt dabei, ob Kunig davon ausgeht, dass die staatliche Maßnahme zum Schutze der Würde des Betroffenen bereits tatbestandlich keine Würdeverletzung darstellt, weil sie „geboten“ ist, er eine Würde202  H. Welsch, Die Wiederkehr der Folter als das letzte Verteigungsmittel des Rechtsstaats?, in: BayVBl. 2003, S. 481 (484); J. Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik. Zugleich ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Menschenwürde, in: JR 2003, S. 404 (407); T. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: C. F. Gethmann/C. Bottek/S. Hiekel (Hrsg.), Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, S. 309 (316); Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 4. 203  Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 4; abgeschwächt Jarass (Fn. 15), Art. 1 Rn. 16, der die tatsächliche Existenz der Konstellation für sehr zweifelhaft hält.

184

3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

kollision mithin aus normativen Gründen für ausgeschlossen hält, oder aber, dass er demgegenüber empirisch argumentiert und die Konstellationen für äußerst schwer vorstellbar hält204. Naheliegend ist erstere Alternative. Dennoch ließe sich die tatsächliche Unwahrscheinlichkeit einer Kollision im Würdebereich als Argument für deren Unmöglichkeit anführen. b) Rechtliche Unmöglichkeit der Pflichtenkollision Die meisten Gegner der benannten Pflichtenkollision begründen deren Nichtexistenz damit, dass der Staat die Schutzpflicht nicht durch Verletzung der Würde des Übergriffigen erfüllen dürfe, da eine solche Maßnahme nicht verfassungsgemäß sein könne205. Ansonsten würde die Unantastbarkeit der Menschenwürde zur Disposition gestellt206. Aus der (vermeintlichen) rechtlichen Unmöglichkeit der Erfüllung der Schutzpflicht durch eine würdeverletzende Maßnahme wird somit auf die Nichtexistenz der gesamten Konfliktlage geschlossen207. Hiernach endet die Schutzpflicht an der durch die Achtungspflicht gezogenen Grenze. Zu einer Kollision kann es mangels widersprechender Rechtsfolgen nicht kommen. c) Alternative Konzepte von Art. 1 Abs. 1 GG Eine Pflichtenkollision im Würdebereich ist ebenfalls nicht möglich, wenn man Art. 1 Abs. 1 GG ein gänzlich anderes Verständnis zugrunde legt. Besonders hervorzuheben sind hier Enders und Isensee, die solche alternativen Ansätze vertreten und Art. 1 Abs. 1 GG als „Recht auf Rechte“ beziehungsweise als bloße „Idee“ verstehen208. Dass sie damit Art. 1 Abs. 1 GG den Grundrechtscharakter absprechen, ist für die Frage nach der Kollision von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich unerheblich, weil diese beidieser Unklarheit Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 176. Folterverbot (Fn. 202), S. 407; Welsch, Wiederkehr (Fn. 202), S. 484; M. Hong, Das grundgesetzliche Folterverbot und der Menschenwürdegehalt der Grundrechte – eine verfassungsjuristische Betrachtung, in: G. Beester­möller/H. Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter Der Rechtsstaat im Zwielicht?, 2006, S. 24 (34). 206  Welsch, Wiederkehr (Fn. 202), S. 484. 207  Welsch, Wiederkehr (Fn. 202), S. 484. 208  C. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung: zur Dogmatik des Art. 1 GG, 1997, S. 501–509; ders. (Fn. 140), Art. 1 Rn. 60 ff.; ders., Die normative Unantastbarkeit der Menschenwürde, in: R. Gröschner/O. W. Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, S. 69 ff.; J. Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: AöR 131 (2006), S. 173 ff.; ähnlich Geddert-Steinacher, Menschenwürde (Fn. 147), S. 164 ff.; E.-W. Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip, in: JZ 2003, S. 809 ff. 204  Zu

205  Merten,



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde185

den objektiv-rechtliche Pflichten darstellen209. Entscheidend ist vielmehr, dass sie Art. 1 Abs. 1 GG ganz grundsätzlich keine Rechtsnormqualität zuerkennen210. Danach bestünde auch keine konkrete Verpflichtung der Staatsgewalt, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Ist der Staat demnach nicht normativ zu Achtung und Schutz der Würde verpflichtet, so kann es im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis aus Sicht des Staates auch nicht zu einer Pflichtenkollision im Würdebereich kommen211. Maßgeblich für die Frage nach dem Bestand der Pflichtenkollision im Würdebereich ist damit, wieso Enders und Isensee dem Art. 1 Abs. 1 GG keinen Rechtsnormcharakter zusprechen. Enders führt diesbezüglich zunächst an, dass sich die Menschenwürde als innerlich begründete Eigenschaft nicht „mit dem spezifischen Regelungs- und Durchsetzungsanspruch einer vollziehbaren Rechtsnorm“ vertrage212. Hinzu käme, dass der gesamte erste Artikel des Grundgesetzes aus systematischer Sicht vielmehr als Präambel des Grundrechtsabschnitts zu verstehen sei und damit den fehlenden Rechtsnormcharakter der eigentlichen Präambel teile213. Zudem ließe sich aus Art. 1 Abs. 3 GG ableiten, dass erst die nachfolgenden Bestimmungen Rechtsnormcharakter haben und die Menschenrechtsidee in positives Recht transformieren sollen214. Von den Vertretern der alternativen Menschenwürdekonzepte wird unterstützend die „Gefahr systemsprengender Normkonflikte“ angeführt, die nach überkommenem Verständnis mit der Anerkennung der Rechtsnormqualität der Menschenwürdegarantie einhergehe215. Damit gemeint ist genau die hier behandelte Würdekollision, in der sich zwei kategorische Normbefehle gegenüberstehen. Da sich beide Positionen gegenseitig ausschließen, sei es nicht möglich, eine praktische Konkordanz zwischen diesen herzustellen216. Ferner könne sich nicht aus der Würde selbst ergeben, welcher Position der Vorrang gebührt217. Die Folge sei ein unauflöslicher Kon209  Dazu W. Krawietz, Gewährt Art. 1 Abs. 1 GG dem Menschen ein Grundrecht auf Achtung und Schutz der Würde?, in: D. Wilke/H. Weber (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Friedrich Klein, 1977, S. 245 ff.; H. G. Dederer, Die Garantie der Menschenwürde, in: JöR 57 (2009), S. 89 ff. 210  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 68; Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 211 f.; darin unterscheiden sie sich von Dreier (Fn. 23), Art. 1 I Rn. 44. 211  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 210; nicht gesagt ist damit, dass die Menschenwürde auf andere Pflichtenkollisionen nicht einwirken kann. 212  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 69. 213  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 26, 70; ähnlich Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 174 f. 214  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 70. 215  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 66; ähnlich Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S.  190 ff., 209 f. 216  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 66. 217  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 72; Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 191.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

flikt, der einen systemwidrigen Widerspruch begründe, weil kein subjektives Grundrecht absolute Geltung beanspruchen könne218. Zur Auflösung sei man zum Rückgriff auf Kriterien genötigt, die mit der Menschenwürde nicht vereinbar seien219. Folge sei die Relativierung der Menschenwürde des einen durch die Menschenwürde des anderen220. Isensee und Enders gehen mithin beide davon aus, dass die Konzeption eines Würdeschutzes basierend auf deren Rechtsnormcharakter zugleich ihre Verlierbarkeit impliziere, was im Widerspruch zum Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG stehe und der Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht gerecht werde221. Ihr Absolutheitsanspruch würde sich vielmehr im Konflikt mit den Rechten anderer auflösen222. Darüber hinaus führe eine Behandlung der Menschenwürde als Grundrecht und damit als Rechtsnorm dazu, dass ihr besonderer Charakter „im Kleinklein der Detailjurisprudenz“ verloren gehen könnte223. Aus diesen gewichtigen Einwänden schließen Enders und Isensee, dass Art. 1 Abs. 1 GG keine Rechtsnorm, sondern ratio iuris ist224. Der Menschenwürdesatz sei kein Grundrecht, sondern „Grund der Grundrechte“225 oder „Recht auf Rechte“226. Dies hat zur Folge, dass die Menschenwürde nicht als Rechtsgut in eine Abwägung mit anderen Rechtsgütern eingestellt werden könnte227. Beide gehen mithin davon aus, dass die Menschenwürde lediglich die Voraussetzungen kollidierender Rechtspositionen beschreibt, nicht aber selbst eine solche sein kann228. Mit Isensee ist Art. 1 Abs. 1 GG daher als „Idee“ zu begreifen, die absolute Geltung beansprucht und auf ihrem eigenen Niveau in der Normenhierarchie steht229. Ähnlich deutet Enders die Menschenwürde als rein objektives Konstitutionsprinzip230. Dem ent218  Enders

(Fn. 140), Art. 1 Rn. 66; Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 191. (Fn. 140), Art. 1 Rn. 72, 103. 220  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 191. 221  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 74; ders., Unantastbarkeit (Fn. 208), S. 79; Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 191, 209; in diese Richtung auch Geddert-Steinacher, Menschenwürde (Fn. 147), S. 172. 222  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 209; ders., Leben (Fn. 3), S. 227. 223  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 209. 224  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 211. 225  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 209, 217. 226  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 60 ff.; ders., Unantastbarkeit (Fn. 208), S. 69 ff. 227  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 175, 212; Enders, Unantastbarkeit (Fn. 208), S. 79. 228  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 212; Enders, Unantastbarkeit (Fn. 208), S. 79. 229  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 210 f. 230  Enders, Menschenwürde (Fn.  208), S.  501–509; ders. (Fn. 140), Art. 1 Rn.  60 ff.; ders., Unantastbarkeit (Fn. 208), S. 69 ff. 219  Enders



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde

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spricht es, dass es Rechtsanwendern nicht möglich ist, unter diese zu subsumieren231. Durch diese Abstraktion soll indes nicht die praktische Wirksamkeit der Menschenwürde verloren gehen. Auch als objektives Konstitutionsprinzip könne sie eine Schranken-Schranke für staatliches Eingriffshandeln bilden232. Außerdem unterstütze sie die Abgrenzung der Rechtssphären der Bürger untereinander und nehme Einfluss auf die Auslegung der Grundrechte233. Zudem leite sie die Abwägung bei der Kollision verfassungsrechtlicher Güter und strahle auf die gesamte Rechtsordnung aus234. In eine ähnliche Richtung geht Gutmann, der sich der Frage aus rechtsphilosophischer Sicht annimmt. Er vertritt die Auffassung, dass die Rede von Menschenwürdekollisionen „normlogisch falsch und eine irreführende façon de parler“ sei235. Normlogisch falsch, weil die Menschenwürde schon kein kollisionsfähiges Gut darstelle236. In Anlehnung an Habermas237 versteht er sie primär als Verbotsnorm, „die sich nicht werttheoretisch in der Begrifflichkeit der Vorzugswürdigkeit von Gütern formulieren lässt, die nach Verwirklichung streben und um Vorrang konkurrieren.“238 Dieses Verständnis begründet er mit dem Telos der Menschenwürdegarantie, dem Individuum einen unverletzlichen Raum zuzuweisen239. Dieses Ziel könne die Menschenwürdegarantie nicht erreichen, wenn sie als Wert zu qualifizieren wäre, weil „kein Wert von Haus aus einen unbedingten Vorrang vor anderen Werten beanspruchen kann“240. Die Eigenschaft als Wert und der absolute Geltungsanspruch der Menschenwürde schließen sich hiernach aus. Daraus zieht Gutmann den Schluss, dass die Menschenwürde nicht kollisionsfähig sein kann, da sie sich ansonsten in Widerspruch zu sich selbst setzen würde. 231  Isensee,

Menschenwürde (Fn. 208), S. 211. (Fn. 140), Art. 1 Rn. 64, 67. 233  Enders (Fn. 140), Art. 1 Rn. 67 f. 234  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 212. 235  Gutmann, Struktur (Fn. 202), S. 316. 236  Gutmann, Struktur (Fn. 202), S. 315. 237  J. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. 1992, S. 310. 238  Gutmann, Struktur (Fn. 202), S. 315. 239  Gutmann, Struktur (Fn. 202), S. 315. 240  Habermas, Faktizität (Fn. 237), S. 310 ff.; fundamentale Kritik an der Absolutheit eines Wertes bereits bei A. Schopenhauer: „Jeder WERTH ist die Schätzung einer Sache im Vergleich mit einer anderen, also ein Vergleichungsbegriff, mithin relativ, und diese Relativität macht eben das Wesen des Begriffs WERTH aus. […] Ein UNVERGLEICHBARER, UNBEDINGTER, ABSOLUTER WERTH, dergleichen die WÜRDE seyn soll, ist demnach, wie so Vieles in der Philosophie, die mit Worten gestellte Aufgabe zu einem Gedanken, der sich gar nicht denken läßt, so wenig wie die höchste Zahl oder der größte Raum.“, Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841) § 8, (zitiert nach der Haffmans-Ausgabe, 2. Aufl. 1987, S. 323 (523)). 232  Enders

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

2. Pro Pflichtenkollision Überwiegend wird durchaus von der Möglichkeit einer Kollision von Achtungs- und Schutzpflichten im Würdebereich ausgegangen241. a) Lebenswirklichkeit der Menschenwürdekollision Dem unter anderem von Kunig vorgebrachten Einwand, dass die hier benannte Kollisionslage in der Realität schwer vorstellbar sei, lässt sich mit einem leider durchaus lebensnahen Beispiel die Grundlage entziehen242. Aus monetärer Motivation entführt ein Mensch einen anderen Menschen, um dessen Verwandten ein Lösegeld für die Freilassung des Entführten abzupressen. Zu diesem Zwecke verbringt der Entführer sein Opfer in ein Kellerverlies, wo es bis zur Abwicklung gefangen gehalten werden soll. Die Behandlung, die das Opfer erfährt, lässt sich als Missachtung der Menschen-

241  Lerche, Grundrechtsgarantien (Fn. 136), S. 518; Brugger, Würde (Fn. 200), S. 450; ders., Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, in: Der Staat 35 (1996), S. 67 (80); Winkler, Kollisionen (Fn. 14), S. 267 ff.; Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 879; ders., Schutzpflicht (Fn. 178), S. 177; K. Lüderssen, Die Folter bleibt tabu – kein Paradigmenwechsel ist geboten, in: K. Rogall u. a. (Hrsg.), Festschrift für HansJoachim Rudolphi, 2004, S. 691 (701); P. Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, in: NVwZ 2004, S. 1405 (1406 f.); V. Erb, Nothilfe durch Folter, in: Jura 2005, S. 24 (27); H. Götz, Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Wertordnung des Grundgesetzes, in: NJW 2005, S. 953 (954 f.); Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 124), S. 95 f.; Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 190 ff.; Archangelskij, Problem (Fn. 124), S. 114; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 512 f.; Elsner/Schobert, Gedanken (Fn. 151), S. 282; W. Schmitt Glaeser, Folter als Mittel staatlicher Schutzpflicht, in: O. Depenheuer/M. Heintzen/M. Jestaedt/P. Axer (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 507 (515); R. Merkel, Folter und Notwehr, in: M. Pawlik/R. Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs, 2007, S. 375 (396 f.); C. Hillgruber, Der Staat des Grundgesetzes – nur „bedingt abwehrbereit“?, in: JZ 2007, S. 209 (217); v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 24 ff.; Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 34, 79; J. P. Schaefer, Das Individuum als Grund und Grenze deutscher Staatlichkeit, in: AöR 135 (2010), S. 404 (419); N. Teifke, Das Prinzip Menschenwürde Zur Abwägungsfähigkeit des Höchstrangigen, 2011, S. 136; Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 541; W. Mitsch, Verhinderung lebensrettender Folter, in: M. Heinrich u. a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin, 2011, S. 639 (651); E. Hilgendorf, Instrumentalisierungsverbot und Ensembletheorie der Menschenwürde, in: H.-U. Paeffgen u. a. (Hrsg.) Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion. Festschrift für Ingeborg Puppe, 2011, S. 1653 (1667); Dreier (Fn. 23), Art. 1 I Rn. 133. 242  Siehe beispielhaft Fallkonstellationen unter anderem bei W. Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in: JZ 2000, S. 165; Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 880 ff.; Schmitt Glaeser, Folter (Fn. 241), S.  515 f.; v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 21 ff.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde189

würde des Entführten qualifizieren243. Hierfür spricht neben den äußeren Umständen insbesondere die Art und Weise der Instrumentalisierung des Opfers zur Verschaffung eines finanziellen Vorteils. Der Übergriff des Entführers löst demnach die grundrechtliche Schutzpflicht für die Würde des Betroffenen aus, welche von der Staatsgewalt verlangt, die andauernde Verletzung der Menschenwürde des Opfers zu beenden. Noch vor Übergabe des Lösegeldes und damit auch der Freilassung des Entführten gelingt es der Polizei, den Entführer zu fassen. Dieser zeigt sich indes resistent gegenüber den polizeilichen Bemühungen, den Aufenthaltsort des Entführten zu ermitteln. Nach Ausschöpfung aller nach geltendem Recht zur Verfügung stehenden Optionen verbleibt als einzige und letzte erfolgsversprechende Möglichkeit, gegen den Übergriffigen mit Zwangsmaßnahmen vorzugehen. Es geht mithin um die Androhung und Durchführung präventiv-polizeilicher Folter zur Gefahrenabwehr, welche nach herrschender Auffassung eine Verletzung der Würde des Entführers darstellt. Die zu dessen Gunsten wirkende Achtungspflicht für die Würde untersagt der Staatsgewalt kategorisch, die Würde eines Menschen zu missachten. Dieses Szenario würde die Entführung Jakob von Metzlers abbilden, wäre dieser zum Zeitpunkt der Ergreifung seines Entführers nicht bereits verstorben. Auch wenn diese Konstellationen äußerst selten auftauchen, gibt es lebenswirkliche Szenarien in denen eine Würdekollision angenommen werden kann244. Es erscheint daher im Gegenteil realitätsfern, diese als unbedeutende, rein auf Hypothesen aufgebaute Extremsituation abzutun. Abgesehen davon ist der Schluss von der Unwahrscheinlichkeit der Existenz einer Konstellation auf deren Nichtvorhandensein schlichtweg falsch. b) Rechtliche Möglichkeit Bedenken hinsichtlich logischer Richtigkeit sieht sich auch das Argument ausgesetzt, dass die Verfassungswidrigkeit der Erfüllung der Schutzpflicht der Grund für die Nichtexistenz der besagten Pflichtenkollision sei. Von der vermeintlichen rechtlichen Unmöglichkeit der Schutzpflichtenerfüllung schließen die Anhänger dieser Auffassung auf deren Nichtexistenz, so dass es nicht zu einer Kollision mit der Achtungspflicht kommen kann. Dies erscheint insofern bedenklich, als dass die Verfassungswidrigkeit der Erfüllung 243  Lüderssen,

Folter (Fn. 241), S. 702. Grundrechtsgarantien (Fn.  136), S.  518; Gebauer, Grundlage (Fn. 241), S. 1406; M. Baldus, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung – absolut geschützt, aber abwägungsoffen, in: JZ 2008, S. 218 (224 f.); v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 21 f.; C. Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, in: DÖV 2009, S. 689 (694). 244  Lerche,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

der Achtungs- oder der Schutzpflicht grundsätzlich erst unter Berücksichtigung der jeweils anderen Pflicht ermittelt werden kann245. Man könnte dieser Auffassung daher unterstellen, dass ihr ein Zirkelschluss zugrunde liegt246. Dabei wird aber verkannt, dass im konkreten Fall eine Pflichtenkollision im Würdebereich zur Debatte steht. Der eigentliche Grund für die Nichtexistenz der Pflichtenkollision wird daher in der Unantastbarkeit der Menschenwürde gesehen. Die aus der Unantastbarkeit gefolgerte Absolutheit wird von dieser Auffassung allerdings nur der Achtungspflicht zugestanden, so dass diese autark die Grenzen der nicht kategorisch wirkenden grundrechtlichen Schutzpflicht bestimmt und diese bereits auf Tatbestandsebene dogmatisch eingrenzt247. Das kann bei Zugrundelegung der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten nicht überzeugen, wonach der absolute Schutz grundsätzlich beiden Pflichtenarten zu Teil werden müsste. Es stehen sich schließlich zwei gleichberechtigte verfassungsrechtliche Pflichten gegenüber. Deswegen verbietet es Art. 1 Abs. 1 GG geradezu, „neben der selbstverständlichen Achtungspflicht gegenüber dem Störer die ebenso selbstverständliche Schutzpflicht gegenüber dem Opfer zu übersehen oder auszublenden“248. Hiernach kommt es bei der Kollision im Würdebereich zu der einmaligen Konstellation, dass die durch das Untermaßverbot gezogene Grenze für die grundrechtliche Schutzpflicht über der durch das Übermaßverbot gezogenen Grenze der Achtungspflicht liegt. Der normalerweise zwischen diesen beiden Grenzen existierende Korridor verfassungsgemäßer Handlungsoptionen der Staatsgewalt existiert nicht mehr. Vielmehr finden sich darin nun allein verfassungswidrige Maßnahmen, welche entweder gegen das Über- oder das Untermaßverbot verstoßen, aber niemals beiden gerecht werden können249. Es ließe sich daher ebenso gut andersherum argumentieren, dass die Achtungspflicht nur soweit reiche, wie die Schutzpflicht vorgibt250. Es zeigt sich, dass es im Kern um das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten im Würdebereich geht und nicht darum, ob diese Pflichten kollidieren können. Das bedeutet, dass die Pflichtenkollision gar nicht in Frage gestellt wird, sondern es wird sich schlechthin für einen Vorrang der Achtungspflicht ausgesprochen, wenn auf die Verfassungswidrigkeit der Erfüllung der Schutz245  Isensee,

Leben (Fn. 3), S. 226; Elsner/Schobert, Gedanken (Fn. 151), S. 283. Grundlage (Fn. 241), S. 1407. 247  Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 182 f. 248  R. Gröschner/O. W. Lembcke, Dignitas absoluta, Ein kritischer Kommentar zum Absolutheitsanspruch der Würde, in: dies. (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, S. 1 (18). 249  Dreier (Fn. 23), Art. 1 I Rn. 133. 250  Gebauer, Grundlage (Fn. 241), S. 1407; Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 183. 246  Gebauer,



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde191

pflicht verwiesen wird251. Logisch ist die Frage nach dem Rangverhältnis der Frage nach der Kollisionsmöglichkeit allerdings nachgeordnet. Auch ein vermeintlicher Vorrang der Achtungspflicht bedeutet nicht, dass die Pflichten nicht zunächst kollidieren. c) Kollisionsfähigkeit der Menschenwürde Die alternativen Konzepte von der Menschenwürde sind durchaus elegant und in sich weitestgehend schlüssig252. Sie entbinden den Rechtsanwender davon, sich mit den Schwierigkeiten der Kollision im Würdebereich auseinandersetzen zu müssen253. Allerdings ist in ihrer fehlenden unmittelbaren Durchsetzbarkeit auch ihre größte Schwäche zu sehen254. Sie nehmen der Menschenwürde entgegen anderslautender Beteuerungen ihre praktische Relevanz255. Wenn Isensee mit der ihm eigenen Wortgewandtheit ausführt: „Die Idee strahlt aus auf die ganze Rechtsordnung und bringt zum Leuchten, was ihr gemäß ist.“256, so mag dies Freunde der deutschen Sprache verzücken, für den Rechtsanwender sind derartige Aussagen indes weitestgehend inhaltsleer, weil sie keine Richtung vorgeben. Diese Konsequenz ist dabei von Isensee durchaus bezweckt, geht er doch davon aus, dass dem Menschenwürdesatz in der Technik der fallbezogenen Anwendung seine besondere Aura verloren ginge257. Diese Befürchtung ist durchaus berechtigt, was den inflationären und oftmals trivialisierenden Gebrauch der Menschenwürde in Alltagskonflikten angeht258. Nicht überzeugen kann diese Sichtweise aber für die hier behandelten Ausnahmesituationen, in denen es um existenzielle Fragen der Betroffenen geht. Es fragt sich daher, ob die Menschenwürde tatsächlich lediglich einen „unverbindlichen moralischen Appell“259 darstellen kann. Dies verwundert angesichts der prominenten Stellung an der Spitze der Verfassung auch Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 24), Rn. 398. Zum Streit um die korrekte dogmatische Einordnung von Art. 1 Abs. 1 GG, in: O. Depenheuer/u. a. (Hrsg.), Staat im Wort Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 491 (492). 253  Brugger, Menschenwürde (Fn. 151), S. 20. 254  Schmidt-Jortzig, Streit (Fn.  252), S. 501; a.  A.: Brugger, Menschenwürde (Fn. 151), S. 20 ff. 255  Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 29; Schmidt-Jortzig, Streit (Fn. 252), S. 492. 256  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 210. 257  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 210. 258  Dazu Dreier (Fn. 23), Art. 1 I Rn. 47 f. 259  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 213. 251  So

252  E. Schmidt-Jortzig,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

und der auch von Enders und Isensee erkannten Grundlagenfunktion der Menschenwürde260. Den alternativen Würdekonzepten ist daher mit der ganz herrschender Auffassung zu widersprechen, die mit guten Gründen dem Art. 1 Abs. 1 GG Rechtsnormqualität zuerkennt261. Überwiegend wird die Menschenwürdegarantie sogar nicht nur als Norm des objektiven Rechts, sondern als Grundrecht, also als subjektiv-öffentliches Recht verstanden262. Die Befürworter der Grundrechtsqualität setzen dabei den Rechtsnormcharakter der Menschenwürdegarantie mithin logisch voraus. Die Rechtsnormqualität ergibt sich dabei aus dem Zusammenspiel der beiden Sätze des Art. 1 Abs. 1 GG263. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG kann für sich gesehen aufgrund seiner fast tatbestandslosen kategorischen Formulierung, die den Verpflichteten nicht erkennen lässt, kaum als vollständiger Rechtssatz aufgefasst werden264. In Kombination mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG gewinnt Art. 1 Abs. 1 GG allerdings Rechtsnormcharakter265. Der zweite Satz des Art. 1 Abs. 1 GG benennt mit der staatlichen Gewalt einen Adressaten und erlegt diesem die Pflichten zu Achtung und Schutz der Menschenwürde auf. Nur eine Rechtsnorm aber ist in der Lage, die staatliche Gewalt zu verpflichten266. Die im Wortlaut eindeutig verfassten Pflichten zu Achtung und Schutz der Menschenwürde stellen hinsichtlich ihrer Sollensanordnungen (Verbot und Gebot) zudem typische objektiv-rechtliche Normen dar267. Dass diese in gewissem Sinne unbestimmt sind, tut dem keinen Abbruch, da dies keine 260  Schmidt-Jortzig,

Streit (Fn. 252), S. 496. Grundrechtssatz (Fn. 48), S. 121 f.; Nipperdey, Würde (Fn. 136), S. 16; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 181), S. 26; Podlech (Fn. 118), Art. 1 Abs. 1 Rn. 60; Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 27; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 3, 18; Dreier (Fn. 23), Art. 1 I Rn. 44, 121; Höfling (Fn. 4), Art. 1 Rn. 6; H. Hofmann, in: B. Schmidt-Bleibtreu/ders./H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. 2014, Art. 1 Rn. 3. 262  Nipperdey, Würde (Fn. 136), S. 11; Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 181), S. 26 f.; Podlech (Fn. 118), Art. 1 Abs. 1 Rn. 61; M. Nettesheim, Die Garantie der Menschenwürde zwischen metaphysischer Überhöhung und bloßem Abwägungstopos, in: AöR 130 (2005), S. 71 (103 ff.); Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 89 ff.; Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 29; Starck (Fn. 43), Art. 1 Rn. 28 ff.; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 3; Höfling (Fn. 4), Art. 1 Abs. 1 Rn. 5 ff.; Hofmann (Fn. 261), Art. 1 Rn. 8; Pieroth/ Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 24), Rn. 375; Jarass (Fn. 15), Art. 1 Rn. 3. 263  Höfling, Unantastbarkeit (Fn. 148), S. 857 f. 264  Krawietz, Grundrecht (Fn. 209), S. 276. 265  Krawietz, Grundrecht (Fn. 209), S. 276 f. 266  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 181), S. 26; Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 27; Höfling (Fn. 4), Art. 1 Rn. 6. 267  Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 30; Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 94. 261  Dürig,



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde193

Besonderheit der Menschenwürde darstellt268. Art. 1 Abs. 1 GG ist ausreichend präzise gefasst, so dass die juristische Handhabbarkeit gewährleistet ist269. Zudem haben sich Rechtsprechung und Literatur ausgiebig mit dem Inhalt der Menschenwürdegarantie beschäftigt und diesen konkretisiert. Darüber hinaus spricht für den Rechtsnormcharakter des Art. 1 GG, dass Art. 79 Abs. 3 GG die dort niedergelegten Grundsätze sogar für den verfassungsändernden Gesetzgeber zu bindendem Recht macht270. Dies ist Ausdruck einer gesteigerten Verbindlichkeit. Die Gleichsetzung von Art. 1 GG mit der Präambel des Grundgesetzes kann ebenso wenig überzeugen. Auch wenn der sprachliche Stil des Art. 1 Abs. 1 GG an den der Präambel erinnern mag, so spricht die systematische Stellung der Menschenwürdegarantie im Grundrechtsabschnitt doch gerade für deren Qualifikation als zumindest objektives Verfassungsrecht271. Hätte der Verfassungsgeber der Menschenwürdegarantie keine verbindliche Wirkung zukommen lassen wollen, so hätte er sie wie einige Landesverfassungen in die Präambel aufgenommen272. Auf die Gefahr systemsprengender Normkonflikte wird von Enders und Isensee richtigerweise hingewiesen. Nicht überzeugend erscheint indes, der Menschenwürde deswegen ein grundlegend anderes Konzept zugrunde zu legen und die Menschenwürde ausschließlich als Leitidee zu verstehen. Hierdurch werden zwar die systemsprengenden Normkonflikte vermieden, allerdings nur auf rechtlicher Ebene. Eine Änderung der Lebenswirklichkeit wird dadurch nicht bewirkt. Die Staatsgewalt muss in der benannten Konfliktlage trotzdem entscheiden, auf wessen Seite sie sich schlägt. Diese Entscheidung wird durch Rückgriff auf eine an Abstraktheit schwer zu überbietende Idee nicht erleichtert, sondern im Gegenteil noch unberechenbarer. Im Hinblick auf Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG erscheint die Annahme seines Rechtsnormcharakters umso zwingender. Dieser soll dem Staat eine letzte Grenze im Umgang mit dem einzelnen Menschen aufzeigen273. Bereits die exakte Grenzziehung wäre basierend auf dem Verständnis von Isensee und Enders erschwert. Hinzu kommt, dass eine etwaige Überschreitung dieser Grenze durch die Staatsgewalt im Einzelfall vom Betroffenen 268  Nipperdey, Würde (Fn. 136), S. 16; Schmidt-Jortzig, Streit (Fn. 252), S. 499; Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 96 f.; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 18; Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 24), Rn. 375. 269  Nipperdey, Würde (Fn. 136), S. 16; Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 96 f.; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 18. 270  Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 98; Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 27. 271  Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 94. 272  Siehe beispielhaft die Bayerische Verfassung oder die Verfassung für Rheinland Pfalz. 273  Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 18.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

nicht direkt mittels der Individualverfassungsbeschwerde gerügt werden könnte274. Dies erscheint angesichts der höchsten Bedeutung, die dem Schutz der Menschenwürde zu Teil werden soll, widersprüchlich275. Letzteres haben auch Enders und Isensee erkannt, was sich darin zeigt, dass die Menschenwürde auch nach ihrem Verständnis Wirkung für den Einzelfall entfalten soll276. Voraussetzung dafür ist aber, dass eine Konkretisierung der Menschenwürde vor dem Hintergrund der jeweiligen Situation vorgenommen wird277. Dies wird schwerlich zu bewerkstelligen sein, ohne „eine wertende, letztlich abwägende, widerstreitende Belange Dritter oder der Allgemeinheit berücksichtigende Betrachtungsweise“278. Es entspricht schließlich gerade der Natur eines Prinzips als Optimierungsgebot, dass es in seiner Realisierung abhängig ist von den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten279. Die rechtlichen Möglichkeiten werden dabei wiederum durch gegenläufige Prinzipien und Regeln vorgezeichnet280. Das bedeutet, dass Prinzipien aus sich heraus bereits abwägungsbedürftig sind281. Unklar bleibt, wie sich dies mit der Unantastbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG im Einzelfall vertragen soll282. Auch die Deutung als Prinzip kommt nicht um die Frage herum, inwieweit das Unantastbarkeitsdogma zu gelten hat283. Unklar bleibt zudem auch, woher die Menschenwürde nach Enders’ Verständnis als Recht auf Rechtssubjektivität die Kraft nimmt, auf Abwägungsprozesse einzuwirken284. Ein Recht auf Rechtssubjektivität erschöpft sich von seiner Konzeption her schließlich darin, eben durch Zuerkennung von Rechtssubjektivität dem Individuum die Inhaberschaft von Rechten zu ermöglichen. Darüber, wie diese Rechte im Konflikt mit Rechten anderer Rechtssubjekte zu bewerten sind, sagt es indes nichts aus285. Die von Gutmann aufgegriffenen These, dass die Menschenwürde – als Wert verstanden – keinen absoluten Schutz erfahren könne, ist theoretisch durchaus zutreffend, schließlich wird die Menschenwürde dadurch in die 274  Isensee,

Menschenwürde (Fn. 208), S. 212. Garantie (Fn. 209), S. 99. 276  Siehe oben 3. Kap. C. I. 1. c) Alternative Konzepte von Art. 1 Abs. 1 GG, S. 184. 277  Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 98. 278  Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 98. 279  Alexy, Theorie (Fn. 189), S. 76. 280  Alexy, Theorie (Fn. 189), S. 76. 281  Schmidt-Jortzig, Streit (Fn. 252), S. 497. 282  Schmidt-Jortzig, Streit (Fn. 252), S. 497; Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 543. 283  K.-E. Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?, in: Der Staat 45 (2006), S. 189 (202). 284  Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 543. 285  Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 543. 275  Dederer,



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde195

dem Wertansatz immanente Vergleichbarkeit inkorporiert. Theoretisch würde dies bedeuten, dass sie im Vergleich mit anderen Werten unter Umständen unterliegen könnte. Aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde lässt sich jedoch ableiten, dass der Wert der Menschenwürde den höchsten aller Werte darstellt. Durch diese Zuschreibung der Höchstwertigkeit lässt sich daher trotz des Wertcharakters der Menschenwürde deren absoluter Schutz realisieren286. Damit steht aber auch ihre jedenfalls abstrakte Kollisionsmöglichkeit nicht mehr zur Debatte. Für den Rechtsnormcharakter spricht schließlich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hat die Menschenwürde zwar mehrfach als „tragendes Konstitutionsprinzip“ bezeichnet und den Rechtsnormcharakter von Art. 1 GG nie explizit betont287. Allerdings ist davon auszugehen, dass diese Zurückhaltung schlichtweg daher rührt, dass das Gericht die Rechtsnormqualität der Menschenwürdegarantie als selbstverständlich versteht und gar von ihrer Grundrechtsqualität ausgeht288. Dafür spricht, dass das Bundesverfassungsgericht immer wieder vom Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG gesprochen und es im Rahmen der Verfassungsbeschwerde eindeutig als rügefähiges Grundrecht behandelt hat und damit deren Grundrechtsqualität impliziert289. 3. Zwischenergebnis Es gibt Pflichtenkollisionen im Würdebereich. Dabei kollidiert nicht die Menschenwürde des Betroffenen mit der Menschenwürde des Übergriffigen, sondern es kollidieren die den Staat treffenden Pflichten290. Dieses Ergebnis ergibt sich zwangsläufig bereits aus der Existenz der im Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG normierten Pflichten zu Achtung und Schutz der Menschenwürde291. Dem ersten Artikel des Grundgesetzes die Rechtsnormqualität abzusprechen, widerspricht der bewussten Entscheidung des Verfassungsgebers, die Menschenwürde-Idee mit Art. 1 Abs. 1 GG zum Teil des positiven Ver286  Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 873 ff.; K.-H. Ladeur/I. Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, 2008, S. 27. 287  BVerfGE 6, 32 (36); 45, 187 (227); 72, 105 (115); 109, 279 (311, Rn. 115). 288  Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 124), S. 62; D. Hömig, Menschenwürdeschutz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: R. Gröschner/O. Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, S. 25 (27). 289  BVerfGE 1, 97 (104, 106); 1, 332 (334); 12, 113 (123); 15, 283 (286); 28, 386 (391); 61, 126 (137); 109, 133 (149 f., Rn. 71 ff.); 117, 71 (89 ff., Rn. 67 ff.); 125, 175 (221 ff., Rn.  132 ff.). 290  So bereits Dürig, Grundrechtssatz (Fn. 48), S. 128; ebenso Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 879; ders., Schutzpflicht (Fn. 178), S. 177. 291  Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 541.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

fassungsrechts zu machen292. Das bedeutet nicht, dass die Menschenwürde nicht auch Prinzip sein kann293. Grundsätzlich ist den Gegnern einer Pflichtenkollision im Würdebereich vorzuwerfen, dass sie nach dem Motto verfahren: „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“294. Eine vor Argumentationskraft nicht gerade strotzende Begründung. Motiviert ist die Ablehnung der Pflichtenkollision sicherlich dadurch, der Menschenwürde eine schwierige Bewährungsprobe zu ersparen, um ihre absolute Geltungskraft nicht in Frage stellen zu müssen295. Die Sorge der Gegenauffassung, allein durch Anerkennung der Existenz der Kollisionslage eine Relativierung der Menschenwürde herbeizuführen, ist aber (wenn auch nicht gänzlich) unbegründet. Allein mit Anerkennung der Pflichtenkollision geht zumindest nicht zwingend eine Relativierung der Abwehrdimension der Menschenwürde einher296. Der Pflichtenkollision selbst kommt nicht die ihr teilweise unterstellte suggestive Wirkung zu297. Die Abwehrdimension kann sich immer noch als vorrangig erweisen. Dies ist aber erst an späterer Stelle zu untersuchen.

II. Modi der Auflösung Steht nunmehr fest, dass es eine Pflichtenkollision im Würdebereich geben kann, stellt sich die Frage, wie diese aufzulösen ist. Dazu kommen grundsätzlich drei Vorgehensweisen in Betracht, namentlich eine einzelfallbezogene Abwägung, die Annahme einer abstrakten Vorrangkonstruktion sowie der (Aus-)Weg des rechtsfreien Raumes. Überzeugen können wird nur der Lösungsansatz, welcher die normative Besonderheit der Menschenwürde – die Unantastbarkeit – am ehesten gewährleisten kann. Die große Schwierigkeit dieser Aufgabe liegt dabei in der von der herrschenden Meinung aus der Unantastbarkeit abgeleiteten Unabwägbarkeit, das heißt Absolutheit der Menschenwürde298. Die Menschenwürde ist das einzige Grundrecht, was in dem ansonsten relativen Grundrechtssystem absolute Geltung erfahren soll. Ein solches System kann grundsätzlich nur funktionsfähig sein, wenn lediglich einer Norm eine solch absolute Geltung zukommt und diese nicht mit sich selbst in Konflikt geraten kann. Beinhaltet ein System aber beispielsweise zwei absolute, das heißt bedingungslos zur Durchsetzung verpflichtende Normen und treffen diese aufeinander, so entsteht ein unauflöslicher 292  Dederer,

Garantie (Fn. 209), S. 100. Grundrecht (Fn. 209), S. 256. 294  Elsner/Schobert, Gedanken (Fn. 151), S. 283. 295  Isensee, Leben (Fn. 3), S. 207. 296  Hong, Folterverbot (Fn. 205), S. 34. 297  H. Brunkhorst, Folter, Würde und repressiver Liberalismus, in: G. Beestermöller/ders. (Hrsg.), Rückkehr der Folter. Der Rechtsstaat im Zwielicht?, 2006, S. 88 (99). 298  Siehe nur BVerfGE 75, 369 (380). 293  Krawietz,



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde

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Widerspruch299. Betrachtet man isoliert die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte, so kann es zu einem solchen Systembruch nicht kommen. Die Menschenwürde setzt sich hier im Konflikt mit anderen Abwehrrechten bedingungslos gegen diese durch. Allerdings sind die grundrechtlichen Schutzpflichten ebenso Teil des Grundrechtssystems. Nimmt man unter der Prämisse der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht an, dass Art. 1 Abs. 1 S. 2 2. Alt. GG ein gleichermaßen absolutes, also nicht einschränkungsfähiges Gebot die Würde eines jeden Menschen zu schützen, beinhaltet, so müssten sich zwei Absoluta gegenüberstehen300. Dabei kann sich nur eine der beiden Pflichten im Ergebnis durchsetzen. Ein Mittelweg in Form eines schonendsten Ausgleichs besteht – nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten, der Schutzpflicht genüge zu tun – nicht301. Beide verpflichten den gleichen Adressaten, widersprechen sich aber in ihren Rechtsfolgen. Dies erscheint systemwidrig und verlangt nach Aufklärung. 1. Einzelfallabhängige Abwägung Geht man gänzlich unbedarft an die Problematik heran, so erscheint es naheliegend, wie in anderen Konfliktfällen auch die widerstreitenden Positionen miteinander abzuwägen302. Von den Vertretern dieses Auflösungsmodus wird dies als unumgänglich erachtet, weil aufgrund der abstrakten Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht auf anderem Wege keine Lösung zu erreichen sei303. So argumentiert auch Stern, der für die Zulässig299  Habermas, Faktizität (Fn. 237), S. 311; Schlehofer, Menschenwürdegarantie (Fn. 166), S. 363; Winkler, Kollisionen (Fn. 14), S. 265. 300  Dürig, Grundrechtssatz (Fn. 48), S. 118, 121 f.; W. Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise Foltern, in: Der Staat 35 (1996), S. 67 (79 f.); Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 166, 176; Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 78; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 512; Hillgruber, Staat (Fn. 241), S. 217; Schmitt Glaeser, Folter (Fn. 241), S. 515; R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 21 Rn. 55. 301  S. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 216. 302  Winkler, Kollisionen (Fn. 14), S. 268 f.; Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 880; Gebauer, Grundlage (Fn. 241), S. 1407; Götz, Daschner (Fn. 241), S. 955; Archangelskij, Problem (Fn. 124), S. 114; Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 124), S. 95 f.; Wagenländer, Beurteilung (Fn. 179) S. 155 ff.; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 513; Hillgruber, Staat (Fn. 241), S. 217; Elsner/Schobert, Gedanken (Fn. 151), S. 286; Möller, Abwägungsverbote (Fn. 102), S. 125; Baldus, Kernbereich (Fn. 244), S. 225; ders. Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 548; Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht (Fn. 300), § 21 Rn. 59; Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 34; Teifke, Prinzip (Fn. 241), S. 126, 136; ablehnend: Podlech (Fn. 118), Art. 1 Abs. 1 Rn. 73; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 4. 303  Lüderssen, Folter (Fn. 241), S. 701; Hillgruber, Staat (Fn. 241), S. 217; Baldus, Kernbereich (Fn. 244), S. 225; Teifke, Prinzip (Fn. 241), S. 126, 136.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

keit der Abwägung auf die verallgemeinerungsfähige Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in den Abtreibungsentscheidungen verweist304. Indem das Gericht dem Ungeborenen Würde zuerkennt und die Selbstverantwortung der Frau für den Schwangerschaftsabbruch auch als Teil ihrer Würde begreift, habe es diese beiden Güter abgewogen305. Zulässig sei dies, weil aufgrund der Gleichwertigkeit der Rechtsgüter eine konsequente Durchhaltung des Unantastbarkeitsgebots nicht möglich sei306. Das aus der Unantastbarkeit hergeleitete Abwägungsverbot stehe dem nicht entgegen, weil dieses sich lediglich auf die Abwägung mit kollidierendem anderen Verfassungsrecht beziehe, nicht hingegen auf die Abwägung mit der Menschenwürde selbst307. Trotz ihres Höchstranges müsse die Menschenwürde demnach wie jedes andere Grundrecht auch der Abwägung zugänglich sein, auch wenn sie sich aufgrund ihres höchsten Ranges im Konflikt mit anderen Verfassungsgütern stets durchsetzt. Die Menschenwürde aus diesem relativen System auszukoppeln sei weder erforderlich noch plausibel308. Dies zeige sich auch daran, dass sich die sogenannten vorbehaltlosen Grundrechte309 prima facie als nicht einschränkbar darstellen, im Ergebnis aber dennoch abgewogen und eingeschränkt werden310. Im Gegensatz zu den vorbehaltlosen Grundrechten komme dies bei der Menschenwürde aber nur in der hier benannten Konstellation in Frage, in der Würde gegen Würde steht311. Darüber hinaus sei die These von der Unabwägbarkeit ohnehin nur noch schwer haltbar. Im Hinblick auf die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Menschenwürde finde bereits eine Relativierung statt, weil diese nicht gänzlich ohne wertende Betrachtung auskomme312. Wittreck sieht ferner die Unantastbarkeit der Menschenwürde als entscheidendes Argument gerade für die Zulässigkeit der Abwägung313. „Denn die 304  Stern,

Staatsrecht IV/1 (Fn. 124), S. 95 f. 39, 1 (42 f.); 88, 203 (251, 253). 306  Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 124), S. 95. 307  Stern, Staatsrecht IV/1 (Fn. 124), S. 95 f.; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 513; Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 34; Jarass (Fn. 15), Art. 1 Rn. 16; a. A. Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 73. 308  Brugger, Menschenwürde (Fn. 151), S. 23 f.; Archangelskij, Problem (Fn. 124), S. 114; Elsner/Schobert, Gedanken (Fn. 151), S. 285 f. 309  Bsp.: Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 GG. 310  Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 94. 311  Schmitt Glaeser, Folter (Fn. 241), S. 515. 312  Nettesheim, Garantie (Fn. 262), S. 105; Classen, Menschenwürde (Fn. 244), S. 692. 313  Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 177. 305  BVerfGE



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde199

Unantastbarkeit beruht ja auf der gezielten rechtstechnischen Zuweisung einer höheren Position innerhalb der Normenhierarchie, nicht auf einer wie auch immer gearteten ‚wesenhaften‘ Abwägungsuntauglichkeit der Men­ schen­würde.“314 Er geht also davon aus, dass die Menschenwürde grundsätzlich abwägungstauglich ist, dies in den meisten Fällen aufgrund ihres Höchstranges aber in der Sache unerheblich ist, weil sie sich ohnehin durchsetzt. Kommt es allerdings zur benannten Pflichtenkollision im Würdebereich, so fordere gerade die Höchstrangigkeit der Würde des Betroffenen auch die äquivalente Berücksichtigung der Schutzpflicht315. Diese Berücksichtigung könne nur im Wege der Abwägung erfolgen316. Geht man davon aus, dass die Abwägung verfassungsrechtlich zulässig ist, so schließt sich die Frage nach deren praktischer Umsetzung an. Hierzu halten sich die meisten Vertreter einer Abwägungslösung indes bedeckt. Offensichtlich ist, dass die staatliche Maßnahme zur Erfüllung der Schutzpflicht wie jeder andere Eingriff auch in materieller Hinsicht am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu bewerten wäre317. Damit wäre man zumindest aufbautechnisch in bekanntem Fahrwasser. Demnach müsste der Eingriff in Gestalt der Verletzung der Menschenwürde des Übergriffigen zunächst geeignet sein, den Übergriff zu neutralisieren und zudem erforderlich318. In diesem Kontext ist damit zunächst notwendig, dass die Staatsgewalt alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben muss, die nicht die Würde des Übergriffigen verletzen. Ist dies erfolgt, so hat er unter den die Würde verletzenden Mitteln dasjenige auszuwählen hat, welches die mildeste Beeinträchtigung der Menschenwürde mit sich bringt319. Dass diese Prüfung aufgrund der besonderen Situation mit besonderer Strenge und Sorgfalt vorzunehmen wäre, liegt auf der Hand320. Im Rahmen der Angemessenheit wären dann sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Damit sind insbesondere die Art und Intensität der durch den Übergriff verursachten Gefahr der Würdeverletzungen oder der bereits eingetretenen Würdeverletzung gemeint321. Das bedeutet, dass die durch den Übergriff hervorgerufene 314  Wittreck,

Schutzpflicht (Fn. 178), S. 177. Schutzpflicht (Fn. 178), S. 177. 316  Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 177. 317  Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 881; ders., S. 182. 318  Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 881; ders., S. 182. 319  Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 881; ders., S. 182. 320  Brugger, Staat (Fn. 300), S. 81. 321  Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 881; ders., S. 182. 315  Wittreck,

Schutzpflicht (Fn. 178), Schutzpflicht (Fn. 178), Schutzpflicht (Fn. 178), Schutzpflicht (Fn. 178),

200

3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Würdeverletzung mit der durch den Staat zu besorgenden Würdeverletzung zu vergleichen wäre322. Ferner wäre auch, wie bei der Pflichtenkollision im Bereich Leben, die Verantwortlichkeit des Übergriffigen für die Gefahr mit in die Abwägung einzustellen323. In praktischer Hinsicht würde dies im Regelfall wohl zu einem Überwiegen der grundrechtlichen Schutzpflicht führen324. Den Betroffenen trifft in der Regel schließlich keine Verantwortlichkeit. Darüber hinaus dürfte die Gefahrverantwortlichkeit die Position des Übergriffigen umso stärker schwächen, je leichter er die Gefahr selbst noch bannen kann. 2. Unbedingte Vorrangkonstruktion Insbesondere von Bernstorff sieht die Lösung der Pflichtenkollision in einer abstrakten Vorrangkonstruktion325. Im Unterschied zu der oben erörterten Konzeption eines Primats der Achtungspflicht sind hierbei die Besonderheiten des Einzelfalles unerheblich326. Der abstrakte Vorrang meint daher nicht nur einen prinzipiellen Vorrang sondern einen kategorischen Vorrang. Begründet wird diese Auffassung mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde, die eine ergebnisoffene Abwägung nicht zulasse327. Damit könne zur Auflösung der Pflichtenkollision nur eine Vorrangkonstruktion in Frage kommen, weil diese eine Abwägung gewissermaßen vorweg nimmt und damit entbehrlich macht328. Theoretisch bestehen dabei zwei Möglichkeiten, wie diese Vorrangkonstruktion ausgestaltet werden kann. Entweder es wird ein absoluter Vorrang der Achtungspflicht oder ein absoluter Vorrang der Schutzpflicht im Würdebereich angenommen. Vorteil einer solchen Lösung ist, unabhängig davon welcher Pflicht der Vorrang zugestanden würde, dass dem Staat eine eindeutige Handlungsanleitung auch für schwierige Grenzsituationen an die Hand gegeben wird. Für das Verhältnis von Achtungs- zu Schutzpflicht würde dies bedeuten, dass diese in einem Stufenverhältnis zueinander stehen. 322  Wittreck, Menschenwürde (Fn. 156), S. 881; ders., Schutzpflicht (Fn. 178), S. 182; ähnlich Teifke, der fragt, „ob das konkrete Gewicht der Menschenwürde, in die eingegriffen wird, oder das konkrete Gewicht der Menschenwürde, in die nicht eingegriffen wird, überwiegt.“, Prinzip (Fn. 241), S. 136. 323  Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 182. 324  Lüderssen, Folter (Fn. 241), S. 703; Jahn, Folter (Fn. 197), S. 48; Zippelius/ Würtenberger, Staatsrecht (Fn. 300), § 21 Rn. 55; Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 79; dies soll laut Jarass nicht in Folterszenarien gelten, (Fn. 15) Art. 1 Rn. 16. 325  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 35 ff. 326  Siehe oben 2. Kap. Primat der Achtungspflicht?, S. 80. 327  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 35 ff. 328  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde201

von Bernstorff spricht sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich für einen unbedingten Vorrang der Achtungspflicht aus329. Dies läge bereits die Verwendung des Begriffs des „Antastens“ in Art. 1 Abs. 1 GG nahe, welcher sich primär auf das abwehrrechtliche Verhältnis Staat zu Bürger beziehe330. Dafür spreche außerdem, dass die Alternative, das heißt ein unbedingter Vorrang der Schutzpflicht, dem Staat unbegrenzte Eingriffsmöglichkeiten verschaffen würde331. Auch wenn von Bernstorff sich als einziger explizit für einen solchen unbedingten Vorrang der Achtungspflicht ausspricht, so tun dies faktisch auch viele andere Vertreter aus dem Schrifttum, wenn diese postulieren, dass die Schutzpflicht nicht weiter gehen könne, als die Achtungspflicht es zulasse332. Damit implizieren sie letztendlich einen Vorrang der Achtungspflicht im Sinne einer abstrakten Vorrangkonstruktion, weil sie der Achtungspflicht die alleinige Determinationshoheit über die verfassungsrechtlichen Grenzen eines staatlichen Schutzeingriffs zuerkennen. Auch das Nichtstun stellt in diesen Fällen schließlich eine Entscheidung dar, und zwar eine Entscheidung für die Achtungspflicht, deren Erfüllung ja gerade im Unterlassen liegt333. Diese Auffassung entspricht wohl auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz feststellte, dass nur solche Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht in Frage kommen, die mit der Verfassung – gemeint ist die Achtungspflicht – in Einklang stehen334. Auch wenn dieser Entscheidung kein klassisches Dreiecksverhältnis zugrunde lag, kann ihr dennoch entnommen werden, dass die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde des Übergriffigen nicht durch die Pflicht zum Schutz der Menschenwürde des Betroffenen relativiert werden kann. Demgegenüber will Brugger pauschal der Schutzpflicht der Vorrang einräumen, da der rechtsbrüchige Übergriffige weniger schutzwürdig sei als die gefährdete Person335.

329  v. Bernstorff,

Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36 ff. Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36. 331  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36. 332  J. Wintrich, Die Bedeutung der „Menschenwürde“ für die Anwendung des Rechts, in: BayVBl. 1957, S. 137 (139); Geddert-Steinacher, Menschenwürde (Fn. 147), S. 83. 333  U. Vosgerau, Zur Kollision von Grundrechtsfunktionen, in: AöR 133 (2008), S. 346 (383). 334  BVerfGE 115, 118 (160, Rn. 138). 335  Brugger, Verbot (Fn. 242), S. 169. 330  v. Bernstorff,

202

3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

3. Unauflösbarkeit Schließlich wird auch die Unauflösbarkeit der Kollision von Achtungsund Schutzpflicht im Würdebereich vertreten336. Der Staat sei in dieser Situation schlichtweg handlungsunfähig337. Namentlich Lindner möchte daher diese Pflichtenkollision in die Kategorie des rechtswertungsfreien Raumes überführen338. Er geht für die benannte Situation von einer Wertungsaporie im Würdebereich aus, weshalb es in dieser Konstellation schlichtweg keine richtige Entscheidung geben könne339. Diese Einschätzung teilt auch Schae­ fer, der konstatiert, dass „das Recht in Ermangelung eines der Menschenwürde übergeordneten rechtsförmigen Entscheidungsmaßstabs keinen Ausweg weist.“340 Die Rechtsordnung könne daher für diese Konstellation keine befriedigende Lösung in Gestalt der Formulierung eines Sollensbefehls bieten341. Dies sei dem Umstand geschuldet, dass das Recht stets nur den Normalfall regeln könne342. Das Unerwartete und Außergewöhnliche sei der normativen Beherrschung demgegenüber nicht zugänglich343. Würde das Recht auch Ausnahmesituationen regeln, so bestünde die Gefahr, dass hierdurch die Rechtsordnung als solche beschädigt werde, weil in Ausnahmesituationen unter Umständen ansonsten als unverfügbar geltende Grundwerte angetastet werden müssen344. Die Figur des rechtswertungsfreien Raumes resultiert hiernach also aus dem Umstand, dass das Recht keine Bewertung der Lösungsmöglichkeiten der Pflichtenkollision vornehmen kann345. Unabhängig davon, für welche Reaktion der Staat sich entscheidet, kann diese weder als verfassungsgemäß noch als verfassungswidrig qualifiziert werden346. Rechtstheoretisch entziehe 336  J. Lindner, Die Würde des Menschen und sein Leben – Zum Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 3 GG, in: DÖV 2006, S. 577 (587 ff.); Schaefer, Individuum (Fn. 241), S. 419. 337  R. Poscher, Die Würde des Menschen ist unantastbar, in: JZ 2004, S. 756 (760 ff.); Lindner, Würde (Fn. 336), S. 587 f. 338  Lindner, Würde (Fn. 336), S. 587 f. 339  Lindner, Würde (Fn. 336), S. 587. 340  Schaefer, Individuum (Fn. 241), S. 419. 341  Sinn, Tötung (Fn. 20), S. 585; Hilgendorf, Instrumentalisierungsverbot (Fn. 241), S. 1668; Dreier (Fn. 23), Art. 1 I Rn. 133 „Das Recht stößt an seine Grenzen.“ 342  E. Hilgendorf, Tragische Fälle, Extremsituationen und strafrechtlicher Notstand, in: U. Blaschke u. a. (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit?, 2005, S. 107 (130). 343  Hilgendorf, Extremsituationen (Fn. 342), S. 130; Ladeur/Augsberg, Funktion (Fn. 286), S. 32. 344  Hilgendorf, Extremsituationen (Fn. 342), S. 130. 345  Lindner, Würde (Fn. 336), S. 587. 346  Lindner, Würde (Fn. 336), S. 587.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde203

sich das staatliche Verhalten der Disjunktion rechtmäßig-rechtswidrig347. Entscheidend für Lindners These ist dabei, dass seiner Auffassung nach rechtswidrig und rechtmäßig keine ausschließende Disjunktion bilden348. Hierdurch wird die Möglichkeit einer dritten Kategorie eröffnet. Dies begründet er damit, dass das logische Gegenteil von „rechtwidrig“ nicht „rechtmäßig“ sei, sondern „nicht rechtswidrig“. „Nicht rechtswidrig“ wiederum könne bedeuten „rechtmäßig“, aber auch „weder rechtmäßig noch rechtswidrig“349. Für diesen Lösungsweg spreche neben der Nichtbewertbarkeit dieser Konstellationen das Signal, das hiervon an die Bevölkerung ausgehe350. Der Staat maße sich kein Rechtmäßigkeitsurteil über die Situation an, bleibe aber handlungsfähig351. Er belässt seinen konkret zuständigen Organen trotz der Wertaporie die Möglichkeit, nach eigenem Gewissen zu entscheiden und befreit sie von der Gefahr, im Nachhinein für die jeweils getroffene Entscheidung rechtlich sanktioniert zu werden352. 4. Bewertung Nachdem nunmehr die möglichen Auflösungsmodi dargestellt wurden, gilt es zu klären, welcher am ehesten die Besonderheiten der Menschenwürde zu berücksichtigen vermag. Die Etablierung der aus dem Strafrecht entlehnten Kategorie des rechtswertungsfreien Raumes ist in der Literatur auf massive Kritik gestoßen353. Es ist daher fraglich, ob in der von Lindner propagierten indifferenten Haltung eine überzeugende Lösung der Problematik gesehen werden kann. Dagegen spricht zunächst, dass eine solche Enklave des Unregelbaren mit dem Rechtsstaatsprinzip nur schwerlich zu vereinbaren ist354. Dieses fordert schließlich gerade die rechtliche Bindung der Staatsgewalt. Dem steht nicht entgegen, dass selbstverständlich nicht alle Bereiche des Lebens der rechtlichen Regelung zugänglich sind. Gewisse Bereiche des Regierungshandelns unterliegen beispielsweise keiner rechtlichen Regelung. Es existieren also rechtsfreie ­ 347  Lindner,

Würde (Fn. 336), S. 587. Würde (Fn. 336), S. 587 Fn. 96. 349  Lindner, Würde (Fn. 336), S. 587 Fn. 96. 350  Lindner, Würde (Fn. 336), S. 588. 351  Lindner, Würde (Fn. 336), S. 588. 352  Lindner, Würde (Fn. 336), S. 588. 353  Lerche, Grundrechtsgarantien (Fn.  136), S. 519; Klein, Tötung (Fn. 132), S. 81; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197), S. 297 f. 354  Schenke, Verfassungswidrigkeit (Fn. 1), S. 739; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 533. 348  Lindner,

204

3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Räume355. Grundrechtseingriffe fallen aber regelmäßig nicht in diese Kategorie, weil der Bürger hier durch den Staat in seiner Freiheit beschnitten wird. Dieser Bereich muss daher der rechtlichen Regelung unterliegen. Hinzu kommt, dass allein der Hinweis auf die diesen Konstellationen innewohnende Tragik nicht dazu taugt, deren Unregelbarkeit zu begründen356. Das Recht muss vielmehr auch und gerade in schwierigen Situationen der Staatsgewalt eine Richtung vorgeben, ansonsten verfehlt es seinen Sinn und droht seine Ordnungsfunktion zu verlieren357. Sich darauf zurückzuziehen, dass das Recht keinen Ausweg böte, ist daher nur eine Scheinlösung358. In diesem Sinne lautet der Vorwurf an Lindner, dass den Konflikt nur darstelle, ihn aber nicht löst359. Auf Irritation stößt zudem die Feststellung Lindners, dass der Bewertung staatlichen Verhaltens keine ausschließliche Disjunktion zugrunde liege360. Im Gegensatz zur Moral lässt das Recht einen Mittelweg gerade nicht zu, sondern besteht nur aus den Kategorien der Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit361. Tertium non datur. Dies belegt auch die Prüfungsweise des Bundesverfassungsgerichts, welches eine (dritte) Kategorie „weder verfassungsgemäß noch verfassungswidrig“ nicht kennt. Vielmehr ist „nicht verfassungswidrig“ gleich „verfassungsgemäß“. Darüber hinaus würde die Integration der Figur des rechtswertungsfreien Raumes in die bestehende Rechtsordnung massive Schwierigkeiten mit sich bringen. Insbesondere die exakte Grenzziehung, wann ein Sachverhalt in den rechtswertungsfreien Raum fällt und wann nicht, erscheint nur mit erhöhtem Begründungsaufwand möglich. Selbst wenn dies gelingen sollte, verbleibt stets ein enormes Missbrauchspotential. Gerade in Grenzsituationen wird es den handelnden Organen schwer fallen, hier objektiv zu entscheiden. Im Ergebnis ist mit der Annahme eines rechtswertungsfreien Raumes damit nichts gewonnen. Diese führt schließlich dazu, dass im Ernstfall die jeweilige befugte Personen die Entscheidung über die Erfüllung der Achtungs- oder der Schutzpflicht allein nach ihrem Gewissen zu fällen hätte. Dagegen wird vorgebracht, dass ein auf Selbstbehauptung angewiesener Rechtsstaat für Ausnahmesituationen nicht auf das Handeln einzelner Amtsträger zählen könne362. Dadurch wird der Entscheidungsträger vom Recht in grundsätzlich Archangelskij, Problem (Fn. 124), S. 17 ff. Bekämpfung (Fn. 7), S. 394. 357  Ladiges, Bekämpfung (Fn. 7), S. 332, 394; P. Tiedemann, Vom inflationären Gebrauch der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DÖV 2009, S. 606 (613 Fn. 41). 358  Lerche, Grundrechtsgarantien (Fn. 136), S. 519; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197) S. 297. 359  Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 533. 360  Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 533. 361  Isensee, Leben (Fn. 3), S. 211; Tiedemann, Gebrauch (Fn. 357), S. 613 Fn. 41. 362  Murswiek (Fn. 4), Art. 2 Rn. 182a. 355  Dazu

356  Ladiges,



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde205

einer Situation im Stich gelassen, in der er der Leitung durch das Recht am meisten bedürfe363. Die Überführung der Pflichtenkollision in den rechtswertungsfreien Raum stellt im Ergebnis somit keine überzeugende Lösung dar. Man kann diese prekären Fälle nicht nicht regeln und damit aus dem Raum des rechtlich Beherrschbaren verbannen364. Dies würde lediglich zu einer Schwächung des Rechtsstaats führen, weil die Staatsgewalt ansonsten dazu gezwungen ist, an der Grenze der Illegalität zu handeln365. Vielmehr muss eine gerechte Rechtsordnung auch hier eine Entscheidung treffen, welche der beiden Pflichten im Einzelfall zu erfüllen ist366. Die Abwägungslösung demgegenüber mutet aufgrund ihres ordinären Umgangs mit der Menschenwürde auf den ersten Blick sehr befremdlich an. Sie widerspricht dem tradierten Verständnis von der Unabwägbarkeit der Menschenwürde, weil sie diese im Einzelfall der Relativierung zugänglich macht367. Für diese Form der Auflösung wird aber angeführt, dass gerade die unterschiedslose Behandlung der Menschenwürde rechtsdogmatische Einheitlichkeit schaffe368. Darüber hinaus vermittelt der Ansatz den Eindruck, als könne er das höchste Maß an Einzelfallgerechtigkeit bieten, weil nur die Abwägung einen ausdifferenzierten Güterausgleich zu ermöglichen scheint369. Nicht umsonst hat sich die Abwägung bei Pflichtenkollisionen ohne Beteiligung der Menschenwürde als brauchbarer Modus bewährt, widerstreitende Positionen zu einer vermittelnden Lösung zu verhelfen. Diese Schutzoptimierung sei gerade aufgrund der besonderen Bedeutung der Menschenwürde erstrebenswert370. Unbestritten erfreut sich das ungeschriebene Abwägungsprinzip in der deutschen Verfassungslehre abseits der Menschenwürde großer Beliebtheit371. Allein dessen Allgegenwärtigkeit macht es aber seine Rationalität betreffend nicht über jeden Zweifel erhaben372. Jedenfalls ist die Abwägung 363  Elsner/Schobert,

Gedanken (Fn. 151), S. 284. Grundrechtsgarantien, (Fn. 136), S. 519. 365  Schenke, Verfassungswidrigkeit (Fn. 1), S. 739. 366  Westenberger, Einsatz (Fn. 15), S. 627. 367  Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197) S. 299. 368  Elsner/Schobert, Gedanken (Fn. 151), S. 286. 369  Elsner/Schobert, Gedanken (Fn. 151), S. 286. 370  Möller, Abwägungsverbote (Fn. 102), S. 113. 371  v. Bernstorff, Streit (Fn. 153), S. 911. 372  F. Ossenbühl, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen  – Aussprache, in: VVDStRl 39 (1981), S. 147 (189); B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 445 (460–462); J. von Bernstorff, Kerngehaltsschutz durch den UN-Menschenrechtsausschuss und den EGMR: Vom Wert kategorialer Argumentationsformen, in: Der Staat 50 (2011), S. 165 ff. 364  Lerche,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

nicht per se die beste Methode zur objektivierbaren Lösung verfassungsrechtlicher Konflikte373. Insbesondere dann, wenn kaum zulässige Kriterien zur Abwägung zur Verfügung stehen, weil diese nicht mit der Menschenwürde zu vereinbaren sind, ist fraglich, ob die Abwägung nicht ihrer großen Stärke – der Einzelfallbezogenheit – beraubt wird. Gegen eine Auflösung mittels Abwägung ist außerdem anzuführen, dass Abwägungsprozesse gerade in den hier behandelten Ausnahmesituationen nicht steuerbar sind374. Das wohl schwerwiegendste Argument gegen die Vornahme einer ergebnisoffenen Abwägung ist aber, dass hierdurch gegen das so oft postulierte Abwägungsverbot verstoßen wird375. In der Vornahme einer Abwägung im Würdebereich liegt schließlich die Gefahr begründet, dass es neben einer Relativierung der Menschenwürde zudem zu einer allgemeinen rechtlichen Grenzverschiebung kommt376. Damit einher ginge ferner ein Absenken von Hemmschwellen auch in würdesensiblen Bereichen377. Dieses Missbrauchsargument lässt sich nicht widerlegen, weil jeder Ermächtigung des Staates eine Missbrauchsgefahr inne wohnt378. Aufgrund der Sensitivität des Würdebereichs stellt sich diese hier aber noch einmal gewichtiger dar als in anderen Bereichen. Allerdings handelt es sich hierbei nur um eine Gefahr, deren Realisierung nicht vorausgesagt werden kann. Auch die Anerkennung der Zulässigkeit des finalen Todesschusses hat keinen solchen Dammbruch herbeigeführt, was dafür sprechen könnte, dass dies auch im Würdebereich nicht zu erwarten wäre. Für die Abwägungslösung ließe sich zudem anführen, dass hierdurch eine Unterscheidung zwischen gut und böse, das heißt zwischen Opfer und Täter ermöglicht wird. Letzteres Argument verfängt aber nicht, weil die Menschenwürde unabhängig von ihrer Unantastbarkeit diese Differenzierung nicht beinhaltet, sondern voraussetzungslos für jeden Menschen gilt379. Maßgeblich ist insofern allein die Frage, ob die aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde gefolgerte Unabwägbarkeit auch für die Konstellation in der Würde gegen Würde steht, Geltung beanspruchen kann. Es handelt sich 373  v. Bernstorff, 374  O. Ziegler,

Streit (Fn. 153), S. 911 f. Das Folterverbot in der polizeilichen Praxis, in: KritV 87 (2004),

S. 50 (58). 375  Enders, Unantastbarkeit (Fn. 208), S. 80. 376  C. Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, in: JR 2004, S. 182 (189); F. Rachor, Polizeihandeln, in: E. Denninger/ders. (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, E Rn. 861. 377  Für die Folter G. Jerouschek/R. Kölbel, Folter von Staats wegen?, in: JZ 2003, S. 613 (618 f.); Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, in: JZ 2004, S. 331 (335). 378  Elsner/Schobert, Gedanken (Fn. 151), S. 286. 379  Isensee, Menschenwürde (Fn. 208), S. 193; Gauder, Lebensopfer (Fn. 33), S. 208.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde

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hierbei um ein Axiom des Verfassungsrechts, welches zwar nicht bewiesen werden, sich aber dennoch bewähren muss380. Auf die hier behandelte Frage, welche der beiden Pflichten Vorrang genießt, kann es bei Festhalten am Unabwägbarkeitsdogma keine Antwort geben381. Es handelt sich dabei mithin um eine dogmatische Wunschvorstellung382. Die Menschenwürde kann weder rechtlich noch faktisch absoluten Schutz nach allen Richtungen, das heißt gegenüber staatlichen wie nicht-staatlichen Angriffen genießen, wenn diese beiden Schutzrichtungen sich wie hier gegenseitig ausschließen. Maßgeblich muss daher sein, welche der Auflösungsvarianten am ehesten an das Unabwägbarkeitsgebot herankommt. Im Rahmen einer Abwägung zu ermitteln, welche der beiden Pflichten sich im Einzelfall durchsetzt, hat zur Folge, dass beide Pflichten jedenfalls potentiell einschränkbar sind. Die „Absolutheit“ der Menschenwürde würde damit sowohl für die Achtungs- als auch für die Schutzpflicht aufgegeben. Auch wenn hierdurch im Einzelfall wohlmöglich der größte Schutz für die Menschenwürde bewirkt werden könnte, stellt diese Lösung das komplette Gegenteil von der Vorstellung einer absolut geltenden Menschenwürde dar. Dieses Problem hat die Vorrangkonstruktion nicht, da sie zumindest einer Pflichtenart absoluten Schutz vermitteln könnte. Je nachdem, ob der Achtungs- oder der Schutzpflicht der abstrakte Vorrang zuerkannt wird, würde diese die ihr eigentlich zugedachte kategorische Wirkung entfalten können. Damit wäre die Absolutheit der Menschenwürde zumindest in eine Richtung gesichert. Schwäche einer Vorrangkonstruktion ist allerdings, dass sie im Vergleich zur Abwägung äußerst unflexibel ist, weil sich die Besonderheiten der jeweiligen Pflichtenkollision im Einzelfall nicht berücksichtigen lassen. Betrachtet man die Auflösungsmodi in ihrer Gesamtheit, so ist zu konstatieren, dass an der Absolutheit der Menschenwürdegarantie nicht vollumfänglich festgehalten werden kann. Diese stößt in der hier benannten Situation an ihre Grenzen. Achtungs- und Schutzpflicht können nicht zugleich in den Genuss der Uneinschränkbarkeit kommen, wenn sie miteinander kollidieren. Das bedeutet aber auch, dass Achtungs- und Schutzpflicht nicht gleichwertig sein können, will man die Absolutheit der Menschenwürde nicht vollumfänglich aufgeben. Geht man demgegenüber konsequent von der Gleichwertigkeit der Pflichten aus, so hat man der Abwägungslösung zu folgen oder die Situation für unauflösbar zu erklären. Ersichtlich ist, dass die verschiedenen Auflösungsmodi jeweils ein anderes Verständnis des Verhältnisses von Achtungs- und Schutzpflicht voraussetzen. 380  Gröschner/Lembcke,

Dignitas (Fn. 248), S. 15. Gedanken (Fn. 151), S. 282. 382  Elsner/Schobert, Gedanken (Fn. 151), S. 286. 381  Elsner/Schobert,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Der Frage nach dem Auflösungsmodus für die Pflichtenkollision im Würdebereich geht Hand in Hand mit der Frage nach dem Verhältnis von Achtungsund Schutzpflicht. Ohne diese zu beantworten, kann daher keine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem „wie“ der Auflösung der Konfliktlage gegeben werden.

III. Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich Zum Ende stellt sich nun die Kardinalfrage nach dem Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich. Naheliegend wäre es, wie bisher von deren Gleichwertigkeit auszugehen383. Davor zurückschrecken lassen einen indes die weitreichenden damit verbundenen Implikationen384. Der Staat wäre unter Umständen dazu verpflichtet, selbst Verletzungen der Menschenwürde vorzunehmen. Wenngleich diese auch zum Zwecke des Schutzes erfolgen würden, so stellten sie dennoch ein befremdliches Novum staatlichen Verhaltens dar. Konkret würden Folter und die Tötung Unschuldiger durch den Staat in den Bereich des Möglichen rücken. Daher spricht sich wohl auch der überwiegende Teil in der Literatur für einen Vorrang der Achtungspflicht aus385. Diese Auffassung teilt auch das Bundesverfassungsgericht386. Folge wäre, dass die Achtungspflicht vom Staat nicht zugunsten der Schutzpflicht verletzt werden darf. Der Staat hätte den Übergriff geschehen zu lassen. Allerdings löst auch dieses Verständnis Irritationen aus, weil der Betroffene schlichtweg der durch den Übergriff begründeten Gefahr für seine 383  Dürig, Grundrechtssatz (Fn.  48), S. 121  f.; Winkler, Kollisionen (Fn.  14), S. 303; Gebauer, Grundlage (Fn. 241), S. 1407; Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 166, 176; Götz, Daschner (Fn. 241), S. 955; Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 78; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 512; Hillgruber, Staat (Fn. 241), S. 217; Baldus, Kernbereich (Fn. 244), S. 225  f.; Vosgerau, Kollision (Fn. 333), S. 383; U. Palm, Die Person als ethische Grundlage der Verfassungsordnung, in: Der Staat 47 (2008), S. 41 (57 ff.); Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht (Fn. 300), § 21 Rn. 55; Dreier (Fn. 23), Art. 1 I, Rn. 133. 384  Kersten, Tötung (Fn. 131), S. 662. 385  R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, in: JZ 1990, S.  553 (556  ff.); Welsch, Wiederkehr (Fn. 202), S. 484; Merten, Folterverbot (Fn. 202), S. 408; Archangelskij, Problem (Fn. 124), S. 115; Höfling/Augsberg, Luftsicherheit (Fn. 67), S. 1084; Kersten, Tötung (Fn. 131), S. 663; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197), S. 296; D. Winkler, Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes, in: NVwZ 2006, S. 536 (536); Classen, Menschenwürde (Fn. 244), S. 694 f.; M. Hong, Grundrechte als Instrumente der Risikoallokation, in: Risiko im Recht – Recht im Risiko, 2011, S.  111 ff.; Gutmann, Struktur (Fn. 202), S. 315; Höfling (Fn. 4), Art. 1 Rn. 12. 386  BVerfGE 115, 118 (160, Rn. 138).



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde209

Würde ausgesetzt wird. Eine Gefahr, für die der Übergriffige und nicht der Betroffene verantwortlich ist. Die Gefahrverantwortlichkeit, welche in der Konstellation „Leben gegen Leben“ verständlicherweise den Ausschlag zugunsten der Schutzpflicht gab, fände hier keine Berücksichtigung. Aus dieser Perspektive erscheint vielmehr die Annahme der Gleichwertigkeit der Pflichtenarten geboten, welche eine Berücksichtigung der Verursachungsbeiträge ermöglichen würde. Teilweise wird aus diesem Grund sogar ein Vorrang der Schutzpflicht gefordert387. Oben wurden bereits Überlegungen zum grundsätzlichen Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht angestellt, welche die These von der Gleichwertigkeit dieser beiden Pflichtenarten hervorbrachte. Ob diese auch im Bereich der Menschenwürde haltbar ist, lässt sich nur mittels einer umfassenden Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG selbst überprüfen. 1. Auslegung a) Grammatische Auslegung Bereits aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG wird teilweise ein Vorrang der Achtungspflicht hergeleitet388. Die Verwendung des Begriffs des „Antastens“ lege dies nahe, weil dieser sich auf Eingriffe des Staates in die Rechte der Bürger beziehe und eben nicht (vorrangig) auf Konflikte der Bürger untereinander389. Dadurch werde eine Dominanz des Schutzes der Menschenwürde vor dem Staat deutlich, weshalb die Achtungspflicht sich im Konfliktfall durchsetzen müsse. Dabei bleibt von Bernstorff allerdings die Antwort schuldig, warum sich der Begriff des „Antastens“ primär auf staatliches Eingriffshandeln beziehen soll, handelt es sich bei der „Unantastbarkeit“ doch zuvörderst um eine Eigenschaftszuschreibung die sich auf die Menschenwürde bezieht. Die Verwendung des Indikativs spricht vielmehr dafür, dass sich Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG in der Feststellung der Unantastbarkeit der Menschenwürde erschöpft und damit zum Ausdruck bringen will, dass die Menschenwürde nicht angetastet werden soll390. Diese Sollensanordnung beansprucht Geltung für die gesamte Rechtsordnung, unabhängig davon, ob nun im Verhältnis des 387  Brugger, Staat (Fn. 300), S. 79 ff.; ders., Verbot (Fn. 242), S. 169, es sei nicht zu beanstanden, „wenn die Interessen der Rechtstreuen diejenigen der Rechtsbrecher übertrumpfen“; Vosgerau, Kollision (Fn. 333), S. 385 f.; Starck (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 34, 78 f. 388  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36. 389  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36. 390  W. Maihofer, Menschenwürde im Rechtsstaat, 1967, S. 25; Brugger, Menschenwürde (Fn. 151), S. 9 f.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Staates zum Bürger oder im Verhältnis der Bürger untereinander. Dafür spricht auch, dass Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG gerade keinen Adressaten benennt, sondern diesbezüglich ohne Einschränkung formuliert ist. Im Hinblick auf den zweiten Satz des Art. 1 Abs. 1 GG wird ein Vorrang der Achtungspflicht vereinzelt aus der Reihenfolge der Begriffe „achten“ und „schützen“ gefolgert391. Diese Argumentation erscheint nicht nur rabulistisch, sondern widerspricht auch dem Bedeutungsgehalt nebenordnender Konjunktionen392. Bei der Verwendung des Bindewortes „und“ im Zusammenhang mit zwei Aussagen wird in der Regel keine Reihenfolge der Aussagen impliziert. Eine Ausnahme bildet die Schaffung zeitlicher Reihenfolgen, die hier jedenfalls nicht vorliegt393. Als nebenordnende Konjunktion besteht ihre Funktion schlichtweg darin, mehrere Aussagen aneinanderzureihen. Damit wird aber keine Reihenfolge der verbundenen Aussagen impliziert. Der Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG spricht damit eher für die Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich394. b) Systematische Auslegung Ergebnis einer systematischen Auslegung kann nur ein Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht sein, dass keine widersprüchlichen Ergebnisse erzeugt. Soll die Ordnung des Grundgesetzes widerspruchsfrei aufgebaut sein, so bestehen daher lediglich zwei Möglichkeiten, wie das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich ausgestaltet sein kann. Zum einen kann man wie bisher von der Gleichwertigkeit der beiden Pflichtenarten ausgehen. Da normativ gleichrangige Regelungen zueinander nicht in Widerspruch stehen dürfen, hätte dies zur Folge, dass keine von beiden absolut gelten könnte395. Dies ergibt sich daraus, dass ansonsten bei einer Kollision der beiden Pflichten aufgrund des jeweils kategorischen 391  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn.  5), S.  34; Classen, Menschenwürde (Fn. 244), S. 694. 392  Winkler, Kollisionen (Fn. 14), S. 268; J.-U. Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, 2010, S. 112 f. 393  Beispiel: Er schlug das Buch auf und begann zu lesen. 394  Brugger, Staat (Fn. 300), S. 80; Winkler, Kollisionen (Fn. 14), S. 268; Wittreck, Schutzpflicht (Fn. 178), S. 181; ders., Menschenwürde (Fn. 156), S. 880; Gebauer, Grundlage (Fn. 241), S. 1407; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 514; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197) S. 298 f.; Wagenländer, Beurteilung (Fn. 179), S. 156; F. Ekardt, Die Multipolarität der Freiheit, in: JZ 2007, S. 137 (138); Palm, Person (Fn. 383), S. 57; Gauder, Lebensopfer (Fn. 33), S. 163; Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 549. 395  Isensee, Leben (Fn. 3), S. 227; Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 547.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde211

Normbefehls ein unauflöslicher Widerspruch entstehen würde396. Man müsste sich dann mit der paradoxen Frage auseinandersetzen, welches die absolutere Pflicht ist. Hiernach wären beide Pflichten daher zwingend relativer Natur. Für eine solche Gleichwertigkeit spricht aus systematischer Sicht, dass beide Pflichten mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG den gleichen normativen Ursprung teilen397. Darüber hinaus deutet die ansonsten für das Grundgesetz ungewöhnliche explizite Normierung der Schutzpflicht auf eine Äquivalenz der Pflichten hin398. Das zweite systematisch mögliche Verständnis des Verhältnisses von Achtungs- zu Schutzpflicht liegt in der Annahme eines Rangverhältnisses. Die übergeordnete Pflicht würde die Menschenwürde dann in ihrer Wirkrichtung absolut schützen. Damit einher geht logischerweise, dass der untergeordneten Pflicht kein absoluter Geltungsanspruch zukommen kann. Für den Fall der Pflichtenkollision im Würdebereich würde sie zurücktreten. Entscheidend ist nunmehr, ob sich der Systematik des Art. 1 GG und des Grundgesetzes allgemein Anhaltspunkte entnehmen lassen, die für eines der dargestellten Verständnisse sprechen. Die Stellung von Art. 1 GG im Grundrechtsteil des Grundgesetzes mag für dessen Grundrechtsqualität sprechen, gibt indes keinen Hinweis darauf, wie sich die Abwehr- zur Schutzdimension verhält. Ebenso wenig hilft die nichtamtliche Überschrift („Schutz der Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbindung“) weiter, schließlich zielen beide Pflichten auf den Schutz der Menschenwürde ab. Teilweise wird aber aus der Systematik des Art. 1 GG selbst, also dem Zusammenspiel der drei Absätze, auf einen Vorrang der Achtungspflicht geschlossen399. Aus der hierin erkannten Stufenfolge von der Menschenwürde zu den Menschenrechten und schließlich zu den Grundrechten zeige sich, wie der Verfassungsgeber versucht habe, die Menschenwürde in den einzelnen Grundrechten zu konkretisieren400. Allein die Tatsache, dass die Grundrechte Konkretisierungen der Menschenwürdegarantie darstellen, beantwortet indes nicht die Frage nach dem Verhältnis der beiden Pflichtenarten zueinander. Das in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltene Bekenntnis zu den Menschenrechten ist für die Frage nach dem Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht genauso irrelevant wie die Anordnung der Bindungswirkung der Grundrechte für die Staatsgewalt in Art. 1 Abs. 3 GG, die für die Menschenwürde bereits in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG enthalten ist. Im Hinblick auf die anderen Normen im Regelungszusam396  Baldus,

Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 547. Daschner (Fn. 241), S. 955; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197) S. 298. 398  Wagenländer, Beurteilung (Fn. 179), S. 156; Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 549 f. 399  Hong, Folterverbot (Fn. 205), S. 31. 400  Hong, Folterverbot (Fn. 205), S. 31. 397  Götz,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

menhang des Art. 1 GG, also die Grundrechte, lässt sich keine Aussage über das Verhältnis von Achtungs- zu Schutzpflicht im Würdebereich ausmachen. Selbst wenn dem so wäre, wäre dies aus normhierarchischer Sicht angesichts der besonderen Bedeutung der Menschenwürde ohnehin von untergeordneter Bedeutung. Es ist daher zu konstatieren, dass die systematische Auslegung weder das eine noch das andere Verständnis zwingend fordert401. c) Historisch-genetische Auslegung Vereinzelt wird aus der Entstehungsgeschichte des Art. 1 Abs. 1 GG ein Vorrang der Achtungspflicht hergeleitet402. Die vom Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates zunächst beschlossene Fassung des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG lautete: „Die Würde des Menschen steht im Schutze der staatlichen Ordnung.“403 Von Achtung der Menschenwürde war an dieser Stelle also noch keine Rede, vielmehr schien der Schwerpunkt auf dem Schutz der Würde durch den Staat zu liegen404. Diese Fassung wurde allerdings vom Redaktionsausschuss dahingehend kritisiert, dass die staatliche Gewalt „in erster Linie“ verpflichtet sein müsse, die Menschenwürde selbst zu achten405. Der Grundsatzausschuss erwiderte daraufhin im Hinblick auf die zunächst beschlossene Fassung, dass in dieser Schutzpflicht „auch enthalten [sei], daß der Staat die Menschenwürde selbst anerkennt und achtet“406. Aus diesem Anerkenntnis wird nun teilweise auf den Vorrang der Achtungspflicht geschlossen407. Genau genommen hat der Grundsatzausschuss die Kritik nicht vollumfänglich angenommen, sondern allein die Existenz der Achtungspflicht außer Frage gestellt. Wie sich diese zur Schutzpflicht verhält, hat er indes nicht ausgeführt. Dies ist auch nicht verwunderlich, waren die Mitglieder des Parlamentarischen Rates sich zu diesem Zeitpunkt der Möglichkeit einer Kollision der beiden Pflichtenarten noch nicht gewahr408. Einen kategorischen Vorrang der Achtungspflicht aus der Entstehungsgeschichte herzuleiten kann mangels eindeutiger Anhaltspunkte daher nicht überzeugen. Im Gegen401  Gauder,

Lebensopfer (Fn. 33), S. 163; Dreier (Fn. 23), Art. 1 I Rn. 133. Folterverbot (Fn. 205), S. 30 f.; Classen, Menschenwürde (Fn. 244), S. 694; gute Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte bei C. Goos, Innere Freiheit, 2011, S. 75 ff. 403  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 39. 404  Suchomel, Disponibilität (Fn. 392), S. 201. 405  JöR 1 (1951), S. 51. 406  JöR 1 (1951), S. 51. 407  Hong, Folterverbot (Fn. 205), S. 30  f.; Classen, Menschenwürde (Fn. 244), S. 694. 408  A. Guckelberger, Zulässigkeit von Polizeifolter?, in: VBlBW 2004, S. 121 (125). 402  Hong,



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde213

teil ließe sich für die Ebenbürtigkeit der Pflichtenarten anführen, dass der Parlamentarische Rat der Auffassung war, dass auch die Menschen selbst die Würde anderer achten sollten409. Diese unmittelbare Drittwirkung spricht für eine äquivalente Berücksichtigung der Schutzpflicht, wirkt diese doch vornehmlich im Verhältnis der Bürger untereinander410. Ein schlagendes Argument für einen unbedingten Vorrang der Schutzpflicht stellt es indes auch nicht dar. Der Entstehungsgeschichte von Art. 1 GG ist daher eindeutig nur zu entnehmen, dass die staatliche Gewalt in Hinblick auf die Menschenwürde sowohl zu deren Achtung und Schutz verpflichtet sein soll, so wie es sich in der heutigen Fassung des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG widerspiegelt. Wie das Verhältnis dieser beiden Pflichten zueinander zu verstehen ist, geht aus ihr allerdings nicht klar hervor. d) Teleologische Auslegung Schließlich verbleibt noch die teleologische Auslegung. Diese erfordert zunächst den Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG zu ermitteln. Ganz grundsätzlich liegt dieser darin, der Menschenwürde Schutz zu vermitteln. Dies ergibt sich bereits aus der Feststellung in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, dass die Menschenwürde „unantastbar“ ist. Hierdurch wird klargestellt, dass sie schutzwürdig ist. Die prima facie nicht offensichtliche Schutzbedürftigkeit wird dann im zweiten Satz des Art. 1 Abs. 1 GG deutlich, wo die staatliche Gewalt zu Achtung und Schutz verpflichtet wird. Entscheidend ist daher, welches Verhältnis von Achtungs- zu Schutzpflicht am ehesten den Schutz der Menschenwürde gewährleistet. aa) Schutz der Menschenwürde Der Schutz der Menschenwürde meint die Verhinderung von Beeinträchtigungen des Schutzgutes. Rein aus der Schutzperspektive ist es dabei unerheblich, ob diese Beeinträchtigungen von staatlicher oder nicht-staatlicher Seite herrühren. Es erscheint daher plausibel, im Interesse eines optimalen Schutzes der Menschenwürde eine Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht auch im Würdebereich anzunehmen. Hierdurch könnte diese gegen beide Gefahrenquellen gleichermaßen abgeschirmt werden. Wie sich 409  Dies geht aus Vorschlag von v. Mangoldt hervor, den zweiten Satz des Art. 1 Abs. 1 GG wie folgt zu fassen: „Sie zu achten, ist oberste Pflicht für alle staatliche Gewalt wie für jeden einzelnen“, JöR 1 (1951), S. 50; heute wird teilweise für Art. 1 Abs. 1 GG eine unmittelbare Drittwirkung angenommen Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 74; Kunig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 27. 410  Wagenländer, Beurteilung (Fn. 179), S. 157.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

bei der Untersuchung der Abwägung als tauglichem Auflösungsmodus zeigte, die auf der Annahme der Gleichwertigkeit der beiden Pflichten beruht, bestünde zudem die Möglichkeit, die jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Dadurch könnten insbesondere Kriterien wie die Gefahrverantwortlichkeit oder die jeweilige Intensität der Menschenwürdeverletzung in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. Hierdurch würde eine gewisse Flexibilität der Staatsgewalt geschaffen, welche gerade in Ausnahmesituationen von großer Bedeutung sein kann411. Darüber hinaus scheint es, als würde ein solches Verständnis bei einer saldierenden Betrachtung zum größtmöglichen Schutz der Menschenwürde führen. Demgegenüber wohnt der Vorrangkonstruktion eine Starrheit inne, weil stets nur die vorrangige Pflicht sich durchsetzen würde. Der Schutz der Menschenwürde könnte im Fall der Pflichtenkollision stets nur in eine Richtung gewährt werden, und zwar unabhängig von den Besonderheiten der jeweiligen Konstellation. Im Vergleich zur Gleichwertigkeit der Pflichtenarten führt dieses Verständnis somit zu einem Defizit im Hinblick auf den Umfang des potentiellen Schutzbereichs. Eine weitere Folge der Annahme eines Rangverhältnisses wäre, dass sich je nach Einzelfall die intensivere oder größere Zahl an Menschenwürdeverletzungen realisieren kann, wenn die diesbezügliche Pflicht per se als nachrangig angesehen würde. Mit der Annahme der Vorrangkonstruktion ginge daher zudem ein quantitatives Schutzdefizit einher. Die anfängliche Vermutung, dass ein Verständnis der Äquivalenz der Pflichten ein Optimum an Schutz der Menschenwürde bewirkt, scheint sich zu bewahrheiten. Bisher wurde allerdings allein der quantitative Aspekt des Schutzes in den Blick genommen. Übersehen wurde dabei dessen qualitatives Element. In diesem Punkt unterscheiden sich die beiden Konzeptionen wesentlich. Die Ebenbürtigkeit der Pflichten führt zu einem relativen Schutz der Menschenwürde. Die widerstreitenden Positionen werden verglichen und zueinander ins Verhältnis gesetzt. Beide Pflichten können potentiell eingeschränkt werden. Demgegenüber kann durch Annahme eines Rangverhältnisses einer der beiden Pflichten absolute Geltungskraft zukommen. In qualitativer Sicht stellt dies den größtmöglichen Schutz dar, der rechtstechnisch gewährleistet werden kann. Der Preis für die einseitige Verabsolutierung der Menschenwürde liegt freilich in einer entsprechenden Einbuße an Schutz auf der anderen Seite des Dreiecksverhältnisses412. Die nachrangige Pflicht erfährt keinen Schutz mehr, sie tritt bedingungslos zurück. 411  Zum Beispiel, um staatliches Handeln für Terroristen nicht berechenbar zu machen, vgl. BVerfGE 46, 160 (165). 412  Isensee, Leben (Fn. 3), S. 227.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde215

Auf der einen Seite folgt demnach aus der Gleichwertigkeit der Pflichten ein relatives Schutzkonzept und auf der anderen Seite aus der Vorrangkonstruktion ein absolutes. Entscheidend ist nunmehr, welches Verständnis qualitativ das höhere Maß an Schutz vermittelt. Die Annahme eines absoluten Schutzes hat den Vorteil, dass hierdurch ein Bereich geschaffen wird, der unter keinen Umständen beeinträchtigt werden kann und jeglicher Disposition entzogen ist. Dies wird meist als eigentliches Ziel der Menschenwürdegarantie gesehen413. Bereits aus der liberalen Strömung Ende des 19. Jahrhunderts ging die Idee hervor, dass dem Menschen ein dem Zugriff des Staates vollkommen entzogener Bereich menschlicher Freiheit zukommen müsse414. Als Reaktion auf die Schrecken der Nazizeit sollte diese Idee dann auch im Grundgesetz in Gestalt des Art. 1 Abs. 1 GG Niederschlag finden und in der Folge von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht Bestätigung erfahren415. In qualitativer Sicht entspricht damit die Vorrangkonstruktion dem Sinn und Zweck der Menschenwürde. Fraglich ist nunmehr, ob dieses „Mehr“ an Schutz auf qualitativer Ebene die zuvor erläuterten Defizite kompensieren oder gar überwiegen kann. Im Hinblick auf die von Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG postulierte Unantastbarkeit der Menschenwürde ist Letzteres der Fall. Diese lässt erkennen, dass der Menschenwürde ein anderes, höheres Maß an Schutz zu Teil werden soll als den anderen grundrechtlichen Schutzgütern. Da diese in ein relatives Schutzkonzept eingebettet sind, kann dieser besondere Schutz damit nur ein absoluter sein. Dieser wird durch die Vorrangkonstruktion zwar nur entweder der Achtungs- oder der Schutzpflicht gewährt, aber er wird wenigstens einer Pflicht ermöglicht. Noch nicht gesagt ist damit, welcher Pflicht dieser Schutz zukommen soll. bb) Menschenwürde als Legitimationsgrundlage des Staates Die Menschenwürde bildet nach überkommener Auffassung den Legitimationsgrund des Staates416. Eine durch den Staat eigenhändig vorgenommene Verletzung der Menschenwürde, auch wenn diese zum Schutz der Menschenwürde eines anderen erfolgt, widerspricht diesem Verständnis. Aus diesem Grund wird teilweise ein unbedingter Vorrang der Achtungspflicht angenom413  Hong,

Folterverbot (Fn. 205), S. 33. beispielhaft O. v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, in: G. Schmoller (Hrsg.), Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Bd. 7, 1883, S. 1097 (1113). 415  BVerfGE 6, 32 (41); 109, 279 (313). 416  Geddert-Steinacher, Menschenwürde (Fn. 147), S. 106. 414  Siehe

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

men, weil der Staat ansonsten sich selbst schädige417. Eine staatliche Menschenwürdeverletzung stelle demnach nicht nur einen Bruch mit unserer Rechtskultur dar, sondern ginge einher mit dem Entzug der Legitimationsgrundlage eines freiheitlichen Staates418. Diese führe gleichsam zur Zerstörung der Grundrechtsordnung selbst und zur Aufgabe des Rechtsstaats419. Eine solche eigenhändige Verletzung der Menschenwürde durch den Staat, wäre nur denkbar, wenn der Schutzpflicht Vorrang vor der Achtungspflicht zukäme oder bei Gleichwertigkeit der Pflichten die Umstände des Einzelfalles die Erfüllung der Schutzpflicht forderten. Damit es nicht dazu kommt und der Staat sich nicht zu seiner eigenen Legitimationsgrundlage in Widerspruch setzen muss, sei ein Vorrang der Achtungspflicht geboten. Nur ein solches Verständnis macht eine direkte Menschenwürdeverletzung durch den Staat unmöglich. Dafür spreche auch, dass eine eigenhändig durch den Staat vorgenommene Verletzung der Menschenwürde das Vertrauen der Bürger in den Staat beseitigen kann420. Die Befolgung der Schutzpflicht würde hiernach zu einer allgemeinen Verunsicherung führen421. Dieser Vertrauensverlust ist insofern bedeutsam, als dass der Staat in seiner Gestalt als verfasster Gemeinschaft letztlich in seiner Existenz von der Zustimmung der Mehrheit der Einzelnen abhängig ist422. 417  Winkler, Kollisionen (Fn. 14), S. 267; H.-D. Horn, Sicherheit durch vorbeugende Verbrechensbekämpfung – Der Rechtsstaat auf der Suche nach dem rechten Maß, in: ders. (Hrsg.), Recht im Pluralismus Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag, 2003, S. 435 (445); Hilgendorf, Folter (Fn. 377), S. 337; J. P. Reemtsma, Zur Diskussion über die Re-Legitimierung der Folter, in: G. Beester­möller/H. Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, Der Rechtsstaat im Zwielicht?, 2006, S. 69 (72); Brunkhorst, Folter (Fn. 297), S. 92; Schmitt Glaeser, Folter (Fn. 241), S. 514, 517; v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36; J. Hofmann, Zur Absolutheit des Menschenwürdeschutzes im Wirken des Präsidenten des BVerfG Hans-Jürgen Papier, in: NVwZ 2010, S. 217 (218); P. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2. Aufl. 2010, S. 483; Möllers, Staat (Fn. 138), S. 266 f.; Rachor, (Fn. 376), E 861. 418  Hilgendorf, Folter (Fn. 377), S. 337; Schmitt Glaeser, Folter (Fn. 241), S. 514; Rachor, (Fn. 376), E 861. 419  Hilgendorf, Folter (Fn. 377), S. 337 f.; C. Roxin, Kann staatliche Folter in Ausnahmefällen zulässig oder wenigstens straflos sein?, in: J. Arnold u. a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht, Festschrift für Albin Eser zum 70.  Geburtstag, 2005, S. 461 (467); Reemtsma, Diskussion (Fn. 417), S. 72; Brunkhorst, Folter (Fn. 297), S. 92; Möllers, Staat (Fn. 138), S. 266 f. 420  H. Bielefeldt, Das Folterverbot im Rechtsstaat, in: P. Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat, Eine Verortung, 2005, S. 95 (106); v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36; O. Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, in: R. Gröschner/ders. (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, S. 235. 421  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36 f. 422  Bielefeldt, Folterverbot (Fn.  420), S.  106; v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36; Lembcke, Normativität (Fn. 420), S. 235.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde

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Problematisch an dieser Argumentation ist aber, dass ein solcher Vertrauensverlust aufseiten des Volkes ebenso eintritt, wenn im Einzelfall der Achtungspflicht Folge geleistet wird und der Betroffene seinem Schicksal überlassen wird. Der Staat bricht dann sein Versprechen effektiver Schutzgewähr423. Zudem ist auch die Gewähr von Sicherheit Legitimationsgrund des Staates424. Ein Vertrauensverlust tritt demnach sowohl bei Erfüllung der Achtungspflicht als auch bei Erfüllung der Schutzpflicht ein. Der Staat verletzt in beiden Fällen seine eigenen Regeln. Entscheidend kann der Vertrauensverlust daher nur sein, wenn er sich in seinem jeweiligen Ausmaß unterscheidet. Die Schwierigkeit der empirisch exakten Messung dieser Größe dahingestellt, könnte sich ein solcher Unterschied daraus ergeben, dass der Staat der Verletzung der Menschenwürde bei Erfüllung der Schutzpflicht näher steht, nimmt er doch die Würdeverletzung hier selbst vor. Erfüllt er demgegenüber die Achtungspflicht, so lässt er die Verletzung durch den Übergriffigen geschehen, was vielmehr einer indirekten Verletzung entspricht425. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass dieser Umstand nicht zu einem Weniger an Verantwortlichkeit des Staates führen kann426. Das bedeutet aber nicht, dass dies auch in Hinblick auf den Vertrauensverlust auf Bürgerseite der Fall ist. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass der Vertrauensverlust größer ist, wenn der Staat eigenhändig die Menschenwürde verletzt. Der Unwertgehalt des staatlichen Fehlverhaltens wird hier größer eingestuft werden, als wenn der Staat bei Verletzung der Schutzpflicht den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz schlichtweg versagt. In der öffentlichen Wahrnehmung sitzt bei Verletzung der Achtungspflicht allein der Staat auf der Anklagebank, wohingegen bei Verletzung der Schutzpflicht der Übergriffige sich als unmittelbarer Verletzer des grundrechtlichen Schutzgutes dazugesellen muss. Ferner hat die deutsche Bevölkerung in der jüngeren Geschichte vermehrt schlechte Erfahrungen mit übergriffigem Staatshandeln gemacht. Übermäßige Schutzgewähr hat sich demgegenüber wohl nicht ins kollektive Bewusstsein eingebrannt. Mit dieser Einschätzung deckt sich auch, dass der Staat seiner Vorbildfunktion in Hinblick auf Rechtstreue aus Sicht der Bürger wohl weniger bei Erfüllung der Schutzpflicht als bei Erfüllung der Achtungspflicht gerecht wird. Im Ergebnis ist daher der Vertrauensverlust bei Verletzung der Achtungspflicht als schwerwiegender einzustufen. 423  Horn, Sicherheit (Fn. 417), S. 445; F. Hase, Das Luftsicherheitsgesetz: Abschuss von Flugzeugen als „Hilfe bei einem Unglücksfall“?, in: DÖV 2006, S. 213 (218). 424  s. o. 1. Kap. C. I. 2. c) aa) Staatszweck Sicherheit, S. 54 f. 425  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 35. 426  s. o. 2. Kap. C. I. 2. Verfassungsrechtliche Betrachtung, S. 93 ff.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Im Hinblick auf die Funktion der Menschenwürde als Legitimationsgrundlage des Staates spricht der Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG somit für einen abstrakten Vorrang der Achtungspflicht. cc) Rechtsstaatlichkeit als Gebot der Menschenwürde Dem Rechtsstaat liegt die Idee des rechtsfähigen Subjektes zugrunde, welche durch die Menschenwürde Eingang in das positive Verfassungsrecht gefunden hat427. Die Menschenwürde vermittelt dem Einzelnen daher nicht nur Rechtssubjektivität, sondern auch Rechte, wie beispielsweise das Recht auf Achtung- oder Schutz der Menschenwürde. Diese Rechte der rechtsfähigen Subjekte – der Bürger – formen die Grenze staatlicher Machtentfaltung im Verhältnis zum Bürger. Der Rechtsstaat zeichnet sich gerade durch dieses den Staat zügelnde Element aus, welches in der Menschenwürde begründet liegt428. Hieraus folgt also, dass der Staat die ihm durch das Gewaltmonopol übertragene Macht nicht grenzenlos ausüben kann. Grund dieser Restriktion ist die Vermutung, dass auch die demokratisch legitimierte Macht zum Exzess neigt und ihr Potential zu Lasten der bürgerlichen Freiheit missbraucht429. Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG fordern demnach eine Auslegung des Verhältnisses von Achtungs- zu Schutzpflicht, die im Einklang mit dem Rechtsstaatserfordernis und der Menschenwürde als dessen Fundament steht. Möglicherweise erfüllt die Annahme eines abstrakten Vorranges der grundrechtlichen Schutzpflicht diese Anforderungen. Dafür könnte ein Grundgedanke des Notwehrrechts sprechen, wonach Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht. Übertragen auf das Dreiecksverhältnis bedeutet dies, dass der Staat sich für die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht zu entscheiden hat, weil der Betroffene für die Gefahr nicht verantwortlich ist. Dies stellt in Hinblick auf die Gefahrverantwortlichkeit eine gerechte Verteilung der Folgenlast dar. Der Staat müsste demnach auf Grundlage dieses notwehrrechtlichen Grundsatzes Alles ihm Mögliche unternehmen, um den Betroffenen vor dem Übergriffigen zu schützen. Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt aber, dass dem Staat nicht jedes Mittel zur Verfügung stehen kann, um seine Bürger zu schützen, da er ansonsten 427  Geddert-Steinacher, Menschenwürde (Fn. 147), S. 177; Reemtsma, Diskussion (Fn. 417), S. 72. 428  Brugger, Staat (Fn. 300), S. 67; Nettesheim, Garantie (Fn. 262), S. 88; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197), S. 303; G. Lohmann, Das Menschenrecht, nicht gefoltert zu werden, und die Grenzen des Rechtsstaates, in: ZfMR 2007, S. 71 (71); v. Bernstorff, Streit (Fn. 153), S. 909. 429  Hong, Grundrechte (Fn. 385), S. 129; v. Bernstorff, Streit (Fn. 153), S. 910.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde219

Gefahr läuft, sich selbst zu vernichten430. Wendet der Staat daher zum Schutze seiner Bürger Maßnahmen an, die die Menschenwürde anderer verletzen, so gibt der Staat sich dadurch selbst auf. Dies hat seinen Grund darin, dass der Staat, der selbst aktiv die Würde eines Menschen verletzt, sich genau wie der Übergriffige gegen die Grundentscheidung der Verfassung wenden würde und diese in ihr Gegenteil verkehrt. Recht, auch wenn es sich gegen Unrecht wendet, muss stets Recht bleiben. Überschreitet es die ihm immanenten Grenzen, so wird es zu Unrecht. Der Staat darf Unrecht aber nicht gleichermaßen mit Unrecht bekämpfen431. Der Zweck heiligt im modernen Rechtsstaat daher nicht jedes Mittel432. „Der Zweck, die Menschenwürde des Verletzten zu schützen, kann nicht Mittel der Verletzung der Menschenwürde des Täters rechtfertigen.“433 Daher kann der zuvor angeführte Grundsatz, wonach Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht, in dieser Situation nicht weiter helfen, da die staatliche Schutzgewähr bei der Pflichtenkollision im Würdebereich selbst Unrecht darstellt. Diese Selbstbeschränkung des Staates zeigt sich beispielsweise auch an der Einführung der Notstandsverfassung mit dem 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes434. Selbst im Staatsnotstand enthebt das Recht die Staatsgewalt nicht von jeglichen rechtlichen Begrenzungen. Somit kann dies erst recht nicht bei Situationen erfolgen, in denen wie hier schon kein Staatsnotstand gegeben ist. Realisiert werden kann diese Beschränkung der Staatsgewalt mithin nur durch einen Vorrang der Achtungspflicht im Würdebereich. Allein dieses Verständnis vom Verhältnis von Achtungs- zu Schutzpflicht kann dem Rechtsstaatserfordernis im Bereich der Menschenwürde genügen. Praktische Konsequenz einer Vorrangstellung der Achtungspflicht im Würdebereich ist, dass die Staatsgewalt trotz ihrer enormen Stärke nicht die gleichen Mittel anwenden kann wie der Übergriffige435. Dies ließe sich als strukturelle Unterlegenheit deuten436. Insofern verwundern die steten Rufe von Vertretern von Sicherheitsbehörden nach weiterreichenden Ermächtigungsgrundlagen nicht. Sie ersuchen dadurch aber eine „Waffengleichheit“ herzustellen, die mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren ist. „Das Grundgesetz unterwirft auch die Verfolgung des Zieles, die nach tatsächlichen Umständen größtmögliche Sicherheit herzustellen, rechtsstaatlichen 430  Horn, Sicherheit (Fn. 417), S. 445; B. Grzeszick, Staat und Terrorismus, in: J. Isensee (Hrsg.), Der Terror, der Staat und das Recht, 2004, S. 55 (68 f.); Tiedemann, Menschenwürde (Fn. 417), S. 483. 431  Reimer, Schwäche (Fn. 122), S. 613. 432  Brugger, Staat (Fn. 300), S. 67. 433  Wintrich, Bedeutung (Fn. 332), S. 139. 434  Klein, Tötung (Fn. 132), S. 80. 435  Horn, Sicherheit (Fn. 417), S. 445. 436  Horn, Sicherheit (Fn. 417), S. 450.

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Bindungen“437. Problematisch ist daran, dass durch den Übergriffigen in der hier benannten Pflichtenkollision gewissermaßen ein Missbrauch dieser Errungenschaft des modernen Verfassungsstaates stattfindet. Er verletzt den Achtungsanspruch des Betroffenen, kann sich aber zugleich gegenüber dem Staat auf seine zu achtende Menschenwürde berufen, weshalb die staatliche Gewalt zur Wehrlosigkeit verdammt ist. Was derart beschrieben prima facie als nicht hinnehmbare Schwäche des Systems erscheinen muss, ist bei Lichte betrachtet die größte Stärke unserer Verfassungsordnung438. Gewiss führt dieses Verständnis in einigen Fällen zu schwer erträglichen Ergebnissen. Diese aber sind der Preis, den wir bereit sein müssen zu zahlen, wenn wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben wollen. Die Fesselung des Staates erfolgt in eigener Sache. Jedem einzelnen Menschen wird dadurch ein unverfügbarer Bereich gewährleistet, in den der Staat nicht eindringen darf. Natürlich drängt sich die Frage auf, warum auch dem schlimmsten Rechtsbrecher ein solcher Bereich zugestanden werden soll, gerade wenn dieser in bewusster Ausnutzung dieser Freiheit agiert. Die Antwort hierauf liegt darin, dass auch er Mensch und damit Würdeträger ist. Darüber hinaus besteht in der Realität nur in seltenen Ausnahmefällen absolute Gewissheit darüber, ob jemand tatsächlich für eine Gefahr verantwortlich ist. Schließlich zeigen die Erfahrungen aus der Zeit des Dritten Reichs, welchen Wert ein unverfügbarer Bereich hat. Trotz Missbrauchsgefahr dieser Gewährleistung ist es daher ratsam, dieses Wagnis einzugehen. Geschützt wird dieser Bereich durch einen Vorrang der Achtungspflicht im Würdebereich. Dieser ist unerlässliche Voraussetzung für eine freiheitliche zivilisierte Gesellschaft, in der „die Menschenwürde des Einzelnen nicht in unbegrenzter Weise auf eine bloße Rechengröße reduziert und zur Erreichung vermeintlich höherer Zwecke (wie etwa der Vermeidung anderer Menschenwürdeverletzungen) benutzt werden darf.“439 Für diese Vorrangkonstruktion spricht außerdem, dass andernfalls – also bei einem unbedingten Vorrang der Schutzpflicht – dem Staat unbegrenzte Eingriffsmöglichkeiten zukommen würden440. Dieses Ergebnis widerspricht der ratio legis von Art. 1 GG441. Die rechtsstaatliche Balance ist damit im Würdebereich nicht durch die Gleichwertigkeit der beiden Pflichtenarten zu erreichen, sondern nur durch einen Vorrang der Achtungspflicht442. 437  BVerfGE

115, 320 (358, Rn. 128). Schwäche (Fn. 122), S. 613. 439  Möller, Abwägungsverbote (Fn. 102), S. 124 (Hervorhebung i.  O.), ähnlich auch Gebauer, Grundlage (Fn. 241), S. 1409. 440  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36. 441  v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5), S. 36. 442  Unabhängig von der Würde, Hong, Grundrechte (Fn. 385), S. 133. 438  Reimer,



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde221

dd) Individuum vor Gemeinschaft Die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik stellt den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt443. Diesem hat die Staatsgewalt zu dienen und bestmöglichen Schutz zuteil werden zu lassen444. Ursprung dieser Ausrichtung ist das Bestreben des Verfassungsgebers, sich gegen die nationalsozialistische Vergangenheit abzugrenzen, in der nicht das Individuum, sondern der Staat als Ganzes im Vordergrund stand445. Erkennbar wird diese Ausrichtung bereits im Duktus der Grundrechte, die ganz überwiegend als Abwehrrechte gegen den Staat formuliert sind446. Speziell im Hinblick auf die Menschenwürde ergibt sich dieses Verständnis aus deren Stellung am Anfang des Grundgesetzes und dem Normbefehl des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG447. Auch in der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes finden sich für diese individualistische Konstruktion Anhaltspunkte, lautete doch Art. 1 Abs. 1 GG im Entwurf von Herrenchiemsee noch: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“448. Der Grund für die Verwerfung dieser Fassung lag dabei vor allem in der sprachlichen Schlichtheit der Formulierung, die der Verfassung nicht als würdig erachtet wurde. Die inhaltliche Aussage zum Verhältnis Mensch und Staat, mithin die Vorrangigkeit des Individuums wurde indes nicht beanstandet. Die Verfassung ist demnach anthropozentrisch449. Sie hat sich auf das Wagnis eingelassen, die Menschenwürde des Einzelnen auch über existentielle Belange der Gemeinschaft zu stellen450. Dem Verfassungsrecht wohnt infolgedessen die Tendenz inne, die Position des Einzelnen im Verhältnis zu der die Gemeinschaft repräsentierenden Staatsgewalt zu stärken451. Dies könnte für ein Überwiegen der Achtungspflicht bei würdeimmanenten Pflichtenkollisionen sprechen, schließ443  Stern,

S. 6.

Staatsrecht III/1 (Fn. 181), S. 6 ff.; Brugger, Menschenwürde (Fn. 151),

444  H. J. Papier, Die Würde des Menschen ist unantastbar, in: R. Grote u.  a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, 2007, S. 371 (372); Gröschner/Lembcke, Dignitas (Fn. 248), S. 22; Schaefer, Individuum (Fn. 241), S. 404 ff. 445  Maihofer, Menschenwürde (Fn. 390), S. 9. 446  Schaefer, Individuum (Fn. 241), S. 405. 447  Winkler, Kollisionen (Fn. 14), S. 266; Schaefer, Individuum (Fn. 241), S. 405. 448  JöR 1, S. 48; darauf wird auch hingewiesen von Geddert-Steinacher, Menschenwürde (Fn. 147), S. 107. 449  Herdegen (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 2. 450  G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 150; Winkler, Kollisionen (Fn. 14), S. 267; Baumann, Quantifizierungsvorbehalt (Fn. 55), S. 858; Kersten, Tötung (Fn. 131), S. 663; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 505; Schaefer, Individuum (Fn. 241), S. 406. 451  Krawietz, Grundrecht (Fn. 209), S. 279.

222

3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

lich schützen diese den Einzelnen vor dem Staat, wenn dieser im Interesse anderer dessen Freiheit zu beschneiden versucht. Der Einzelne steht jedoch in Beziehung zu anderen Individuen, er ist Teil der Gemeinschaft. Somit kann das Individuum nicht als beziehungslose Person mit unbegrenzter Freiheit gedacht werden452. In diesem Sinne äußert sich auch das Bundesverfassungsgericht zum Menschenbild des Grundgesetztes, welches „nicht das des selbstherrlichen Individuums [ist], sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit.“453 Dem Individuum kommt Gemeinschaftsgebundenheit und -bezogenheit zu454. Dieses Bild der Person ist keine Erfindung des Bundesverfassungsgerichts, sondern schon seit langem Grundlage moderner Gesellschaften und ist beispielsweise schon im ersten kategorischen Imperativ Kants angelegt455. Der Einzelne hat daher beim Ausleben seiner Freiheit Rücksicht auf die Freiheit seiner Mitmenschen zu nehmen456. Drastischer ausgedrückt wird das Individuum kollektiviert und der Gemeinschaft unterworfen457. Staatliche Maßnahmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit ergehen, sind deshalb hinzunehmen, auch wenn hierdurch die individuelle Freiheit beschränkt wird458. Diese Einschränkung individueller Freiheit zugunsten anderer spricht wiederum, wenn auch nicht für einen Vorrang der Schutzpflicht, wohl aber für deren Gleichwertigkeit. Sie zielt schließlich gerade darauf ab, die Freiheitssphären von Individuen gegeneinander abzugrenzen und zu koordinieren, wo diese in Konflikt geraten. Die Gemeinschaftsgebundenheit und -bezogenheit gilt aber nicht uneingeschränkt. Sie wird wiederum durch die Menschenwürde des betroffenen Individuums begrenzt, die nicht angetastet werden darf459. In dieser Einschränkung zeigt sich nun eindeutig die gewollte Abkehr von der nationalsozialistischen Idee der Volksgemeinschaft, die auf Leitsätzen aufbaute wie „Du bist 452  Starck

(Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 11; Schaefer, Individuum (Fn. 241), S. 405. 12, 45 (51). 454  BVerfGE 8, 274 (329); 12, 45 (51); 27, 1 (7); 27, 344 (351); 28, 175 (189); 30, 1 (20); 32, 373 (379); 33, 303 (334); 33, 367 (376 f.); 34, 238 (246); 45, 187 (227 f.); 50, 166 (175); 50, 290 (353 f.); 65, 1 (44); 109, 133 (151, Rn. 74, 78 f.). 455  I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Einleitung in die Rechtslehre, § C (zitiert nach der Meiner-Ausgabe, 4. Aufl. 1945, S. 35 f.). 456  Fink, Schutz (Fn. 176), S. 212. 457  Möllers, Staat (Fn. 138), S. XLVII. 458  BVerfGE 27, 344 (351); 30, 1 (20); 32, 373 (379); 33, 303 (334); 33, 367 (376 f.); 34, 238 (246); 45, 187 (227 f.); 50, 166 (175); 50, 290 (353 f.); 65, 1 (44); 109, 133 (151, Rn. 74). 459  BVerfGE 30, 1 (20); 32, 373 (379); 33, 303 (334); 33, 367 (376 f.); 34, 238 (246); 45, 187 (227 f.); 50, 166 (175); 50, 290 (353 f.); 65, 1 (44); 109, 133 (151, Rn. 79). 453  BVerfGE



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde223

nichts, dein Volk ist alles“460. Die Menschenwürde erteilt damit einem „kollektivistischen Zwangssystem“ eine eindeutige Absage461. Sie macht den Menschen als selbstbestimmtes Wesen mit Eigenwert zum Ausgangspunkt unserer Rechtsordnung462. Das heißt auch im Dienste der Gemeinschaft muss der Einzelne nicht alles opfern. Die Instrumentalisierung des Einzelnen zum Nutzen anderer ist begrenzt durch dessen Würde463. Sie garantiert jedem Menschen in Anerkennung seines irreduziblen Eigenwertes einen uneinschränkbaren Freiheits- und Schutzbereich gegenüber Kollektivinteressen464. Worin dieser Eigenwert liegt und wann er angegriffen wird, darüber kann und muss in einer freiheitlichen Gesellschaft gestritten werden465. Über die Existenz dieser absoluten Grenze als solcher dagegen nicht, strebt man nicht eine totalitäre Gemeinschaftsordnung an466. Die in der Menschenwürde begründete Ausrichtung der Verfassung am Individuum spricht demnach für ein Überwiegen der Achtungspflicht im Konflikt mit der Schutzpflicht. 2. Zwischenergebnis Der Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG legte es zunächst nahe, die Lösung in der Gleichwertigkeit der beiden Pflichten zu sehen. Unklar war, wie dies mit der Absolutheit der Menschenwürde zu vereinbaren ist. Diesbezüglich schuf die systematische Auslegung Klarheit, wonach Achtungs- und Schutzpflicht nicht beide absolute Geltung beanspruchen können, da es ansonsten zu einem Widerspruch im Falle ihrer Kollision kommen würde. Vor diesem Hintergrund konnte nur eine Vorrangkonstruktion in Frage kommen oder die Annahme der Gleichwertigkeit der Pflichten unter gänzlicher Preisgabe der Absolutheit der Menschenwürde. Eine eindeutige Aussage, welcher dieser Lösungsansätze vorzuziehen ist, konnte die systematische Auslegung ebenso wenig treffen wie die Entstehungsgeschichte des Art. 1 Abs. 1 GG. Maßgeblich war damit der telos. Zunächst wird die Annahme einer Vorrangkonstruktion am ehesten der erstrebten Unantastbarkeit der Menschenwürde gerecht. Sie ermöglicht es, die Menschenwürde jedenfalls in eine Richtung absolut zu schützen. Weil der Staat durch eigenhändige Vornahme von Menschenwürde460  Kunig

(Fn. 15), Art. 1 Rn. 6; Jarass (Fn. 15), Art. 1 Rn. 1. (Fn. 43), Art. 1 Abs. 1 Rn. 10. 462  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 181), S. 15. 463  Baumann, Quantifizierungsvorbehalt (Fn. 55), S. 858 f.; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197), S. 303. 464  Herdegen, (Fn. 18), Art. 1 Abs. 1 Rn. 1; Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197), S. 303. 465  v. Bernstorff, Streit (Fn. 153), S. 913. 466  Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 181), S. 15; v. Bernstorff, Streit (Fn. 153), S. 913. 461  Starck

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

verletzungen zum Schutze anderer seine eigene Legitimationsgrundlage in Frage stellen, die Idee des Rechtsstaates untergraben und das Individuum als reines Mittel zur Zweckerreichung missbrauchen würde, kann dieser Vorrang allein der Achtungspflicht gebühren. Eine Ebenbürtigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht im Bereich der Menschenwürde lässt sich daher nicht mit Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG in Einklang bringen. In Hinblick auf die aus dem bereichsspezifischen Vorrang der Achtungspflicht folgende Privilegierung des Übergriffigen könnte man annehmen, dass diese dem egalitären Element der Menschenwürde widerspricht467. Dieses verbietet grundsätzlich die Behandlung einer Person als Mensch „zweiter Klasse“468. Fraglich ist, ob durch den Vorrang der Achtungspflicht im Dreiecksverhältnis eine derartige Ungleichbehandlung erfolgt. Diese könnte daraus folgen, dass dem Übergriffigen vermittelt durch die vorrangige Achtungspflicht absoluter Schutz gewährt wird, im Gegensatz zum Betroffenen, der keinen Schutz erfährt. Allerdings erfolgt diese Differenzierung nicht aus Gründen, die in der Person des Übergriffigen liegen. Sie ergibt sich allein aus der Struktur des Dreiecksverhältnisses, in der Übergriffiger und Betroffener verschiedene Positionen einnehmen. Beide teilen indes den gleichen Anspruch auf Achtung wie auf Schutz der Menschenwürde. Der Vorrang der Achtungspflicht im Würdebereich führt daher nicht zu einer systematischen Diskriminierung von Menschen aufgrund von Umständen, welche diese nicht zu vertreten haben. Wäre der Betroffene eine andere Person, so würde dies nichts an dem ihm verfassungsrechtlich (nicht) gewährten Schutzniveau ändern. Das egalitäre Element der Menschenwürde ist mithin nicht verletzt.

IV. Grundrechtstheoretische Ausgestaltung des Vorrangs der Achtungspflicht Ungeklärt blieb bisher, was der bereichsspezifische unbedingte Vorrang der Achtungspflicht im Falle der Kollision mit der grundrechtlichen Schutzpflicht für deren Rechtsnatur bedeutet. Bisher wurde davon ausgegangen, dass beide Pflichten stets Regeln darstellen. Darunter versteht man eine unbedingt zu befolgende Verhaltensanweisung, die entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden kann469. Bei der Achtungspflicht liegt diese Verhaltensanweisung im Unterlassen von unverhältnismäßigen Grundrechtseingriffen und bei 467  In diese Richtung Ekardt, Multipolarität (Fn. 394), S. 138; zum Gleichheits­ element der Menschenwürde: BVerfGE 45, 187 (228); H. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, in: AöR, Bd. 118 (1993), S. 353 (363); Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher, Grundrechte (Fn. 24), Rn. 384. 468  Dreier (Fn. 23), Art. 1 I Rn. 61; Jarass (Fn. 15), Art. 1 Rn. 12. 469  Alexy, Theorie (Fn. 189), S. 76.



C. Menschenwürde gegen Menschenwürde225

der grundrechtlichen Schutzpflicht in der Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes an Schutz. Im Fall der Pflichtenkollision im Würdebereich kommt es mithin zu einem Konflikt der jeweils konkreten rechtlichen Sollensanforderungen. Grundrechtstheoretisch ließe sich dieser Konflikt auf verschiedene Weisen auflösen und der Vorrang der Achtungspflicht gewährleisten. Zum einen könnte man die grundrechtliche Schutzpflicht nicht als Regel, sondern als Prinzip verstehen. Prinzipien unterscheiden sich von Regeln dadurch, dass sie gebieten, etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße zu realisieren470. Sie lassen sich daher als Optimierungsgebote bezeichnen, die graduell erfüllt werden können und demnach nicht auf einen konkreten Punkt festgelegt sind471. Der Bereich möglicher Optimierung wird in rechtlicher Hinsicht durch gegenläufige Regeln und Prinzipien bestimmt472. Träfe mithin die Achtungspflicht verstanden als Regel und die Schutzpflicht verstanden als Prinzip aufeinander, so würde die Achtungspflicht das gebotene Maß der Erfüllung der Schutzpflicht beschränken und sich im Ergebnis durchsetzen. Diese Lösung erscheint zunächst einmal ansprechend, spricht doch die den grundrechtlichen Schutzpflichten eigene Unbestimmtheit für deren Qualifikation als Prinzip. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien qualitativer Natur473. Würde die Schutzpflicht als Prinzip verstanden, so käme ihr demnach eine geringere Qualität zu als der Achtungspflicht. Dies steht nicht mit dem oben gefundenen Ergebnis der grundsätzlichen Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht in Einklang. Insofern ließe sich der Konflikt möglicherweise auch auflösen, wenn es beim Verständnis bleibt, dass auch die grundrechtliche Schutzpflicht eine Regel darstellt. Danach bestünde im Fall der Pflichtenkollision im Würdebereich ein Regelkonflikt, weil die Verhaltensanordnungen sich widersprechen474. Diesen Widerspruch gilt es aufzulösen, wofür zwei Lösungsmöglichkeiten in Frage kommen475. Zum einen könnte eine der Regeln als ungültig erklärt werden476. Kommt es im Würdebereich zu einem Konflikt zwischen Achtungs- und Schutzpflicht, wäre die Schutzpflicht demnach ungültig. Problematisch an dieser Lösung ist, dass die ungültige Regel nicht 470  Alexy,

Theorie (Fn. 189), S. 75. Theorie (Fn. 189), S. 75 f.; E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 (1990), S. 1 (21). 472  Alexy, Theorie (Fn. 189), S. 76. 473  Alexy, Theorie (Fn. 189), S. 76 f. 474  Alexy, Theorie (Fn. 189), S. 77 f. 475  Alexy, Theorie (Fn. 189), S. 77 f. 476  Alexy, Theorie (Fn. 189), S. 77. 471  Alexy,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

länger Teil der Rechtsordnung ist477. Es ist indes angesichts der enormen Bedeutung der Menschenwürde und der ausdrücklichen Normierung der grundrechtlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG schlichtweg undenkbar, dieser die Gültigkeit abzusprechen. Vorzuziehen ist daher die zweite Lösungsmöglichkeit eines Regelkonfliktes, wonach eine der Regeln eine Ausnahmeklausel enthalten muss, die den Konflikt beseitigt478. Demnach wäre die grundrechtliche Schutzpflicht für die Menschenwürde wie folgt gefasst: „Die staatliche Gewalt ist verpflichtet, die Menschenwürde zu schützen, es sei denn diese Verpflichtung kann nur durch eine Antastung der Menschenwürde erfüllt werden.“ Dieses Verständnis von Achtungs- und Schutzpflicht im Würdebereich ist in der Lage, den bereichsspezifischen Vorrang der Achtungspflicht zu gewährleisten und stellt die ansonsten anzustrebende Gleichwertigkeit der beiden Pflichten nicht in Frage. Die staatliche Gewalt läuft damit auch nicht Gefahr, bei Erfüllung der Achtungspflicht die Schutzpflicht zu verletzen, da diese für diesen Fall keine Regelungswirkung entfaltet. Für die Konstellationen, in denen die Achtungspflicht für die Menschenwürde nicht betroffen ist, kann daher auch die grundrechtliche Schutzpflicht absolute Wirkung entfalten. Diese Lösung ist im Hinblick auf die von Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG statuierte Unantastbarkeit der Menschenwürde die beste, weil sie am ehesten der Absolutheitsmaxime gerecht wird. Zu dieser sei angemerkt, dass bereits dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG nicht zwingend ein absoluter Schutz der Menschenwürde zu entnehmen ist, sondern mit Sicherheit allein ein starker Schutz479. Gleiches ergibt sich aus der Systematik im Hinblick auf die anderen vorbehaltlos gewährten Grundrechte480. Hinzu kommt, dass sich auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 1 GG keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass diese absoluten Schutz in jede Richtung erfahren soll481. Dies lässt sich auch nicht aus Art. 79 Abs. 3 GG ableiten, weil dieser keine Aussage über die Art des Schutzes der „niedergelegten Grundsätze“ trifft482. Allein Sinn und Zweck der Menschenwürdegarantie legen dieses höchste Schutzniveau als Ziel des Art. 1 Abs. 1 GG nahe. Da es wie dargelegt aus rechtstheoretischen Gründen aber nicht möglich ist, dass ein absoluter Schutz der Menschenwürde in jede Richtung vermittelt wird, ist ein absoluter Schutz jedenfalls gegenüber dem Staat anzustreben, der durch die hier dargelegte Lösung erreicht wird. 477  Alexy,

Theorie (Fn. 189), S. 77 f. Theorie (Fn. 189), S. 77. 479  Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 545. 480  Dederer, Garantie (Fn. 209), S. 94. 481  Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 545. 482  Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 546. 478  Alexy,



D. Fazit

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D. Fazit Die Konstellation, in der Menschenwürde gegen Menschenwürde steht, nötigt dazu, über die grundlegende Ausrichtung des Verfassungsrechts zu reflektieren. Hierzu lässt sich grundsätzlich stets auf die Menschenwürde zurückgreifen. Ihre wegweisende Funktion wird indes erheblich geschmälert, wenn sich die widerstreitenden Positionen beide auf die Menschenwürde berufen können. Verschärfend hinzu kommt, dass aus normhierarchischer Sicht keine über der Menschenwürde stehenden Anhaltspunkte existieren, wie der Konflikt aufzulösen ist483. Insofern war die Antwort in der Menschenwürde selbst zu suchen und zu finden. Das gefundene Ergebnis wird sich vor allem für den sicherheitsaffinen Verfassungsrechtler als unbefriedigend darstellen. Dazu sei gesagt, dass es der Natur der hier untersuchten Grenzsituationen mit der ihnen eigenen Tragik geschuldet ist, dass es keine Lösung geben kann, die umfassende, das heißt vor allem rechtliche und moralische Richtigkeit beanspruchen kann. Im Hinblick auf die evozierten Ausnahmesituationen sollte man sich allerdings stets gewahr sein, dass diese bezogen auf die Lebenswirklichkeit nur einen winzigen Bruchteil der Realität abbilden. Solange dies der Fall ist, kann im Bereich der Menschenwürde kein Paradigmenwechsel angezeigt sein484. Hinzu kommt, dass die Entscheidung über das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht im Bereich der Menschenwürde aufgrund ihrer basalen Bedeutung auf die gesamte Verfassungsordnung einwirkt. Der bereichsspezifische Vorrang der Achtungspflicht entspricht dabei der Vorstellung einer freiheitlichen Verfassungsordnung, welche um der Freiheit willen ein Wagnis eingeht, in Gestalt einer absoluten Grenze staatlicher Machtentfaltung485. Ohne diese Grenze rückt die Benutzung von Menschen zur Erreichung vermeintlicher höherrangiger Zwecke in den Bereich des verfassungsrechtlich Möglichen. Genau diese Instrumentalisierung soll durch die Menschenwürdegarantie aber verhindert werden486. Darüber hinaus darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch wenn der Staat in der hier benannten Ausnahmesituation zur Passivität verpflichtet ist, dies nicht bedeutet, dass die Aktivität seiner Bürger bei der Abwendung einer solchen Gefahr bestraft wird. Es ist dem Strafrecht überlassen, die jeweiligen 483  Lenz,

Freiheitsrechte (Fn. 197), S. 300. Menschenwürde im Staatsnotstand, in: P. Bahr/H. M. Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, 2006, S. 215 (230 f.). 485  E. W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991, S. 60. 486  Lenz, Freiheitsrechte (Fn. 197), S. 303. 484  R. Poscher,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Reaktionen der verantwortlichen Amtsträger zu bewerten, die sich in einem moralischen Dilemma sehen487. Konkret bedeutet dies, dass bei Verletzung der Achtungspflicht wohl der Tatbestand eines Delikts erfüllt sein wird, was aber nicht bedeutet, dass diese Verletzung nicht auf Rechtfertigungs- oder Schuldebene relativiert werden kann488. Abschließend sei zur Absolutheit der Menschenwürde gesagt, dass diese grundsätzlich sowohl durch die Achtungs- als auch die Schutzpflicht vermittelt wird. Allein für den Fall der Kollision der beiden Pflichten ist dies wie gezeigt nicht umsetzbar. Ein gänzliches Entkommen aus der relativistischen Welt kann daher auch durch die Menschenwürde nicht ermöglicht werden. Der jedenfalls einseitige absolute Schutz der Menschenwürde, der durch den bereichsspezifischen Vorrang der Achtungspflicht gewährleistet wird, ist die für diesen Konflikt bestmögliche Lösung. Dagegen ließe sich gewiss anführen, dass es auch dieses Schutzes nicht bedarf, weil die Rechtsordnungen anderer europäischer Staaten, aber auch die der USA ohne sie auskommen489. Für die Auslegung des deutschen Verfassungsrechts ist die rechtsvergleichende Betrachtung allerdings von sehr begrenzter Aussagekraft. Darüber hinaus sollte man sich fragen, ob der von anderen Staaten praktizierte Verzicht auf einen verfassungsrechtlich gewährleisteten absoluten Schutz der Menschenwürde im Verhältnis zum Staat in Hinblick auf zahlreiche besorgniserregende Vorkommnisse tatsächlich erstrebenswert ist.

E. Auswirkung auf die Konstellation Leben gegen Leben Das an dieser Stelle gefundene Ergebnis wirkt sich aufgrund des engen Bezugs zwischen der Menschenwürde und dem Leben auch auf die Pflichtenkollision im Bereich des Art. 2 Abs. 2 1. Alt. GG aus. Das für das Leben geltende Wertungsverbot wird durch den bereichsspezifischen Vorrang der Achtungspflicht im Würdebereich manifestiert490. Schließlich bildet die Menschenwürde die Grundlage für das Verbot, menschliches Leben einer quantitativen oder qualitativen Bewertung zu unterziehen. Insofern schlägt 487  Isensee,

S. 40.

Leben (Fn. 3), S. 230  ff.; v. Bernstorff, Pflichtenkollision (Fn. 5),

488  Lüderssen, Folter (Fn.  241), S. 691  ff.; Kersten, Tötung (Fn. 131), S. 663; Roxin, Folter (Fn. 419), S. 464 ff. 489  Baldus, Menschenwürdegarantie (Fn. 151), S. 547 f. 490  Zum Nutzen des Wertungsverbots siehe F. Herzog, Die Menschenwürde als absolute Grenze instrumenteller Vernunft – Zur Frage von Abwägungsverboten aus Anlass des Luftsicherheitsgesetzes, in: F. Roggan (Hrsg.), Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, S. 89 (96).



E. Auswirkung auf die Konstellation Leben gegen Leben 229

der Vorrang der Achtungspflicht auf die Konstellation Leben gegen Leben durch, wenn auf Seiten des Übergriffigen der Menschenwürdegehalt des Grundrechts auf Leben angesprochen ist. Problematisch an dieser Lösung ist freilich, dass hiermit im Einzelfall zahlenmäßig betrachtet mehr Leben beendet werden als bei einer Gleichwertigkeit der Pflichten und einer Aufgabe des Wertungsverbotes. Dies zeigt sich am Beispiel einer von Terroristen entführten Passagiermaschine, die von diesen in Richtung eines voll besetzten Fußballstadions gesteuert wird491. Die staatliche Gewalt ist hier im Gegensatz zum klassischen Dreiecksverhältnis in dreifacher Richtung verpflichtet, es liegt also ein mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis vor. Die durch die Übergriffigen geschaffene Gefahr für das Leben der Menschen im Stadion aktiviert die staatliche Schutzpflicht. Diese kann nur durch einen Abschuss des Flugzeuges erfüllt werden, mithin die Tötung der Terroristen und der anderen Menschen an Bord. Gegenüber diesen Gruppen besteht daher jeweils die Achtungspflicht für das Leben. Zusätzlich bestünde für die Passagiere noch die Schutzpflicht für deren Leben, da diese durch den Übergriff der Terroristen ebenso der Lebensgefahr ausgesetzt sind. Hier liegt aufgrund der faktischen Unmöglichkeit der Rettung allerdings ein Pflichtenfortfall vor. Im Hinblick auf die Kollision der für die Terroristen streitenden Achtungspflicht und der Schutzpflicht der Menschen am Boden setzt sich Letztere aufgrund der Gefahrverantwortlichkeit der Übergriffigen durch, genau wie beim polizeilichen Todesschuss492. Wären die Übergriffigen alleine an Bord, könnte die Maschine demnach abgeschossen werden. Die anderen Passagiere an Bord sind demgegenüber nicht verantwortlich für die Lebensgefahr der Stadionbesucher. Innerhalb der Kollision der für ihr Leben streitenden Achtungspflicht und der Schutzpflicht der am Boden befindlichen Menschen kann die Gefahrverantwortlichkeit daher nicht den Ausschlag geben. Weil die Achtungspflicht für das Leben solange wirkt, wie das Leben vorhanden ist, käme demnach als einziges Kriterium, welches für eine Erfüllung der Schutzpflicht sprechen könnte, die größere Zahl der rettbaren Leben in Betracht. Auf dieses kann aufgrund des Wertungsverbotes aber nicht zurückgegriffen werden. Weil die grundrechtliche Schutzpflicht daher nur durch Verletzung der Menschenwürde erfüllt werden kann, muss sie hinter der Achtungspflicht zurücktreten. Das Flugzeug darf daher nicht abgeschossen werden. Hier zeigt sich der bereichsspezifische Vorrang der Achtungspflicht im Würdebereich, welcher in der Konstellation Leben gegen Leben zu einer erhöhten Opferzahl führen kann. 491  Siehe

dazu beispielsweise Isensee, Leben (Fn. 3), S. 214 ff. Leben (Fn. 3), S. 224.

492  Isensee,

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3. Kap.: Auflösung der Ausnahmesituationen

Dieses Ergebnis wird daher teilweise als fatalistische Lösung angesehen, welche dem Gedanken eines umfassenden Lebensschutzes widerspreche493. Gefordert sei vielmehr eine utilitaristische Lösung, das heißt die Tötung einiger Unschuldiger zugunsten einer größeren Zahl Unschuldiger494. Dagegen ließe sich anführen, dass auch durch die gezielte Vernichtung von Leben zum Schutz anderer Leben der Zweck des Lebensschutzes in sein Gegenteil verkehrt würde495. Entscheidender ist aber, dass dadurch die gezielte Tötung Unschuldiger zur Nutzenmaximierung verfassungsgemäß würde496. Dies widerspricht der Wertung des Grundgesetzes. Die Ordnung des Grundgesetzes ist nicht konsequentialistisch und vor allem nicht utilitaristisch497. Ihr liegt vielmehr ein deontologisches Verständnis zu Grunde, weil nur dieses zum Ausdruck bringen kann, dass der Einzelne um seiner selbst willen zu schützen ist. Insbesondere das Leben ist Differenzierungen utilitaristischer Natur nicht zugänglich. Diese Wertung lässt sich bereits im einfachen Recht erkennen. Hier ist lediglich die Gefährdung des Lebens von Unbeteiligten zulässig, wenn ansonsten keine Gefahrenabwehr erfolgen könnte498. Gezielt getötet werden darf indes nur, wer für die Gefahr verantwortlich ist, also polizeirechtlich als Störer qualifiziert werden kann499. Die vorsätzliche Tötung eines Nichtstörers ist im Polizeirecht demgegenüber unzulässig500. Ließe man die Tötung Unschuldiger zu, so wäre die Tür zu einer völligen Relativierung des Lebensschutzes aufgestoßen501. Damit einher ginge ferner die Erosion aner493  Hochhuth, Bundesintervention (Fn.  65), S.  166; Baldus, Streitkräfteinsatz (Fn. 124), S. 1285; Isensee, Leben (Fn. 3), S. 229. 494  Baldus, Streitkräfteinsatz (Fn. 124), S. 1285. 495  Kersten, Tötung (Fn. 131), S. 663; Isensee, Leben (Fn. 3), S. 229. 496  Im Ergebnis genauso Hartleb, Grundrecht (Fn. 6), S. 1397; Kersten, Tötung (Fn. 131), S. 663; Winkler, Verfassungsmäßigkeit (Fn. 385), S. 538; Schenke, Verfassungswidrigkeit (Fn. 1), S. 736. 497  Weitergehende Ausführungen dazu bei Gutmann, Struktur (Fn. 202), S. 316 ff. 498  Ladiges veranschaulicht dies am Beispiel des § 16 Abs. 2 S. 2 UZwGBw, einer Vorschrift für den Gebrauch von Schusswaffen bei der Aufgabenwahrnehmung durch die Streitkräfte: ders., Bekämpfung (Fn. 7), S. 284 ff. 499  Auch wenn seine Ausführungen sich nicht auf den Staat bezogen, betonte bereits Kant, dass es schlechthin keine „Befugnis“ geben kann, „im Fall der Gefahr des Verlustes meines eigenen Lebens, einem anderen, der mir nichts zuleide tat, das Leben zu nehmen.“, Metaphysik (Fn. 455), Einleitung in die Rechtslehre, II. Das Notrecht (S.  40 f.). 500  Auch § 41 Abs. 4 S. 2 MEPolG beinhaltet nicht die Befugnis zur vorsätzlichen Tötung Unbeteiligter, sondern erlaubt lediglich die Inkaufnahme des Risikos einer Lebensgefährdung, um Leben zu retten; vgl. auch M. Pawlik, § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes, ein Tabubruch?, in: JZ 2004, S. 1045 (1047 f.). 501  Pawlik, Tabubruch (Fn. 500), S. 1046; Franz, Bundeswehreinsatz (Fn. 109), S. 505; Herzog, Menschenwürde (Fn. 490), S. 92.



E. Auswirkung auf die Konstellation Leben gegen Leben 231

kannter und bewährter Wertungsgrundlagen, wenn einmal akzeptierte Brüche mit dem dem geltenden Recht immanenten Wertesystem auch auf andere Bereiche übertragen werden würden502. Aus staatstheoretischer Sicht ist zudem anzuführen, dass sich der vernunftbegabte Mensch nicht zu einem Staat zusammenschließen würde, welcher ihn unter Umständen auch als Unschuldigen tötet503. Der bereichsspezifische Vorrang der Achtungspflicht im Würdebereich mag daher im Einzelfall dem Ziel eines optimalen Lebensschutzes zuwider laufen, losgelöst von diesen Szenarien und übertragen auf die gesamte Rechtsordnung trägt er indes zu dessen Stärkung bei.

502  Pawlik, Tabubruch, (Fn. 500), S. 1046; Höfling/Augsberg, Luftsicherheit (Fn. 17), S. 1088; Ladeur/Augsberg, Funktion (Fn. 286), S. 39. 503  Archangelskij, Problem (Fn. 124), S. 108.

Schluss A. Die Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten Die Untersuchung hat ergeben, dass Achtungs- und Schutzpflichten auch in Ausnahmesituationen grundsätzlich als gleichwertig anzusehen sind. Es besteht daher kein Rangverhältnis zwischen den Pflichtenarten. Der Staat hat bei Auflösung eines Dreiecksverhältnisses beide verfassungsrechtlichen Pflichten gleichermaßen zu berücksichtigen. Achtungs- und Schutzpflichten stehen folglich dem Grunde nach zueinander in einem Verhältnis der Ebenbürtigkeit. Wie das konkrete Dreiecksverhältnis im Ergebnis verfassungskonform aufzulösen ist, ergibt sich dann aus den jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls. Die hier vertretene These von der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten erscheint vor dem Hintergrund der abwehrrechtlichen Tradition der Grundrechte in der Bundesrepublik zunächst befremdlich. Es verwundert daher nicht, dass sich dieses Verständnis schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt sieht. Auf diese soll abschließend eingegangen werden, um die Tragfähigkeit der hier gefundenden Lösung zu untermauern.

I. Keine Veränderung des grundrechtlichen Freiheitsverständnisses Mit Anerkennung der Äquivalenz von Achtungs- und Schutzpflichten geht eine Stärkung der grundrechtlichen Schutzpflichten einher, welche lange Zeit ein Schattendasein als rein dogmatisches Konstrukt ohne praktische Implikationen fristeten. Nunmehr wird befürchtet, dass mit der Gleichwertigkeit der grundrechtlichen Schutzpflichten eine grundlegende Veränderung des grundgesetzlichen Freiheitsverständnisses einherginge1. Zudem würde hierdurch die Grundlage für die Schaffung eines Polizeistaates gelegt, in dem individuelle Freiheit und Sicherheit gefährdet wären2. 1  J. Kersten, Die Tötung von Unbeteiligten – Zum verfassungsrechtlichen Grundkonflikt des § 14 III LuftSiG, in: NVwZ 2005, S. 661 (662). 2  Kersten, Tötung (Fn. 1), S. 662.



A. Die Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten 233

Diese Sorgen sind indes unbegründet. Das Freiheitsverständnis des Grundgesetzes würde sich nur dann grundlegend ändern, wenn man von einem Primat der grundrechtlichen Schutzpflicht ausginge. Abgesehen davon folgt das Vehältnis von Achtungs- zu Schutzpflichten aus dem Freiheitsverständnis des Grundgesetzes und nicht andersherum. Die Gleichwertigkeit der beiden Pflichtenarten entspricht dabei dem aktuellen Freiheitsverständnis, welches wie gezeigt nicht mehr rein liberal ausgerichtet ist3. Es wurde erkannt, dass die Freiheit des Einzelnen nicht allein dadurch gewährleistet werden kann, dass dem Staat Pflichten auferlegt werden, Eingriffe in die individuelle Freiheit seiner Bürger möglichst zu unterlassen. Die Freiheit des Einzelnen sieht sich schließlich ebenso Bedrohungen von Seiten anderer Privater ausgesetzt und muss gegen diese verteidigt werden. „Was Kant zufolge die Kompatibilität der Freiheit eines jeden mit den gleichen subjektiven Freiheiten aller sichern sollte, wird im liberalen Rechtsparadigma zur Gewährleistung privater Autonomie gegenüber dem Staat verkürzt“4. Diese bei einem rein liberalen Verständnis bestehende Verkürzung der Freiheit wird durch die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten aufgehoben. Die grundrechtlichen Schutzpflichten verpflichten den Staat schließlich gerade dazu, kollidierende Freiheitsansprüche Privater gegeneinander abzugrenzen und zu koordinieren. Auch geht mit der Anerkennung der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten kein Verlust an individueller Freiheit einher, was durch den Hinweis auf die Schaffung eines Polizeistaates suggeriert werden soll. In rein bipolaren Bürger-Staat-Verhältnissen ohne Beteiligung eines weiteren Privaten wirkt sich die Gleichwertigkeit der Schutzpflichten nicht auf die Achtungspflichten aus. Diese vermitteln dort Schutz unabhängig davon, wie sie sich zu den grundrechtlichen Schutzpflichten verhalten. Im Dreiecksverhältnis demgegenüber sorgt die Gleichrangigkeit der beiden Pflichtenarten allein für eine gleichberechtigte Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen von Übergriffigem und Betroffenem. Eine Gefährdung individueller Freiheit ließe sich daher nur ausmachen, wenn man die Perspektive auf die des Übergriffigen verengte. Vor dem Hintergrund eines möglichst umfassenden Schutzes grundrechtliche geschützter Freiheiten lässt sich eine solche einseitige Herangehensweise aber nicht rechtfertigen. Durch ein Verständnis der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten werden damit innerhalb der Rechtsgemeinschaft lediglich auf horizontaler Ebene symmetrische Verhältnisse geschaffen. 3  s. o.

2. Kap. J. II. Veränderung des Grundrechtsverständnisses, S. 133 ff. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 2. Aufl. 1992, S. 305 (Hervorhebung i.O). 4  J. Habermas,

234 Schluss

II. Kein Jurisdiktionsstaat Böckenförde sorgt sich ferner, dass es durch die Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflichten zu einer Verschiebung der durch die Gewaltenteilung angestrebten Machtbalance kommen könnte5. Die Erstarkung der Schutzpflicht führt seiner Auffassung nach gleichsam zu einer Stärkung der Judikative auf Kosten der Legislative, welche durch die grundrechtlichen Schutzpflichten eingeengt werden würde6. Auch diese Befürchtungen erweisen sich bei näherer Betrachtung als unbegründet. Mit einem Verständnis der Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht korrespondiert auch ein Gewaltenteilungssystem, welches die staatliche Macht derart ausbalanciert, dass ein bestmöglicher Freiheitsschutz gewährleistet wird7. Dies lässt sich nicht durch ein omnipotentes Parlament erreichen8. Vielmehr ist dessen Kontrolle auch im Hinblick auf die Schutzdimension der Grundrechte durch das Verfassungsgericht wünschenswert9. Damit ist auch keine Abschiebung der Legislative in die Bedeutungslosigkeit verbunden. Zum einen kann das Bundesverfassungsgericht der Gesetzgebung schon keine konkreten Vorgaben im Hinblick auf die Gesetzesgestaltung machen, sondern lediglich feststellen, welche Regelungen verfassungswidrig wären10. Die Prärogative verbleibt damit beim Gesetzgeber. Zum anderen kann das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz in Hinblick auf eine unzureichende Berücksichtigung der grundrechtlichen Schutzpflichten nur dann für verfassungswidrig erklären, wenn dieses gegen das Untermaßverbot verstößt. Ob die Stellung des Gesetzgebers im System der Gewaltenteilung daher tatsächlich geschwächt wird, hängt maßgeblich von der Frage ab, welches Schutzniveau das Untermaßverbot vorschreibt. Wie sich bereits aus der Begrifflichkeit ergibt, fordert dieses nur einen Mindestschutz. Eine übermäßige Einengung des Gesetzgebers ist daher nicht zu befürchten. Im Übrigen dürfte das durch das einfache Recht vermittelte Sicherheitsniveau regelmäßig bereits über dem grundrechtlich gebotenen Niveau liegen11. Dass das Bundesverfassungsgericht in die legislative Sphäre eingreift, wenn ein Gesetz unter diesem Niveau zurückbleibt, ist genauso wenig zu beanstanden wie eine Intervention aus Karlsruhe bei Gesetzen, die im Gegenteil 5  E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen (1990), in: ders. (Hrsg.), Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 159 (189 ff.). 6  Böckenförde, Grundrechte (Fn. 5), S. 189 ff. 7  F. Ekardt, Die Multipolarität der Freiheit, in: JZ 2007, S. 137 (139). 8  Ekardt, Multipolarität (Fn. 7), S. 139. 9  Ekardt, Multipolarität (Fn. 7), S. 139. 10  Ekardt, Multipolarität (Fn. 7), S. 139. 11  C. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 90.



B. Bewältigung von Ausnahmesituationen235

übermäßig stark in die Grundrechte der Bürger eingreifen. Für die Rechtswissenschaft ergibt sich daraus der Auftrag, das Untermaßverbot dogmatisch auf ein solides Fundament zu stellen und es für den Rechtsanwender ähnlich praktikabel zu machen wie das Übermaßverbot.

B. Bewältigung von Ausnahmesituationen Auch bei Zugrundelegung der Gleichwertigkeit der beiden Pflichtenarten lassen sich die hier behandelten Ausnahmesituationen befriedigend auflösen. Allein für die Pflichtenkollision im Bereich der Menschenwürde kann keine Gleichwertigkeit der beiden Pflichtenarten angenommen werden. Dies hat seinen Grund allerdings allein in der normativen Besonderheit der Menschenwürde.

I. Leben gegen Leben Bei der Kollision von Achtungs- und Schutzpflicht im Bereich des Grundrechts auf Leben wurde festgestellt, dass eine verfassungskonforme Auflösung der Konfliktlage allein über das Kriterium der Gefahrverantwortlichkeit möglich ist, insofern nicht bereits im Einzelfall ein Pflichtenfortfall anzunehmen ist. Dies hat zur Folge, dass im klassischen Dreiecksverhältnis faktisch ein Primat der Schutzpflicht besteht, wenn das Leben des Betroffenen nur durch die Tötung des Übergriffigen gerettet werden kann. Komplizierter stellt sich die Situation dar, wenn an dem mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis mehr als drei Akteure beteiligt sind, wie beispielsweise im Szenario einer von Terroristen entführten besetzten Passagiermaschine. Hier zeigte sich die Bedeutung der Menschenwürde für diese Konstellation, welche eine Opferung von Personen, denen keine Verantwortlichkeit für die Lebensgefahr anderer zugeschrieben werden konnte, untersagt.

II. Leben gegen Menschenwürde Für die Kollision von Leben und Würde demgegenüber ist die Art der betroffenen Pflicht nicht von Bedeutung. Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht bestimmt sich allein danach, welche Pflichtenart an die Menschenwürde als Schutzgut anknüpft. Diese setzt sich aufgrund des Absolutheitsanspruchs der Menschenwürde im Konflikt stets durch. Dieses Ergebnis gilt für jede Kollision von Achtungs- und Schutzpflicht, bei der auf einer Seite des Dreiecksverhältnisses die Menschenwürde steht.

236 Schluss

III. Menschenwürde gegen Menschenwürde Allein bei der Pflichtenkollision im Bereich der Menschenwürde kann nicht von einer Gleichwertigkeit der beiden Pflichten ausgegangen werden. Hier besteht ein bereichsspezifischer Vorrang der Achtungspflicht. Allein die Höherwertigkeit der Achtungspflicht im Hinblick auf diese Konfliktlage wird der hinter dem Absolutheitsanspruch der Menschenwürde stehenden Intention gerecht, dem Staat eine letzte Grenze seiner Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ohne zu tief in die moralische Diskussion einzusteigen, lässt sich festhalten, dass das Grundgesetz nach der Regel verfährt „Der Zweck heiligt nicht jedes Mittel“. Konkret bedeutet dies, dass der Staat auch zum Zweck des Schutzes der Menschenwürde nicht selbst Verletzungen der Menschenwürde vornehmen darf. Die Schutzpflicht tritt in dieser Kollisionslage bedingungslos zurück. Der Preis für die Gewährleistung eines solchen absoluten Rechts mag im Einzelfall vor allem in den dargestellten Ausnahmesituationen unerträglich hoch erscheinen. Dies umso mehr, weil sich in der Theorie derart extreme Ausnahmesituationen bilden lassen, die ein Festhalten am Vorrang der Achtungspflicht im Bereich der Menschenwürde angesichts der damit einhergehenden Folgen schwer vermittelbar machen12. Insbesondere auf Grundlage utilitaristischer Erwägungen lässt sich der Wert einer solchen letzten Grenze staatlicher Machtentfaltung nicht erklären. Dies macht es für viele Menschen so schwer verständlich, warum der Staat gerade in diesen Situationen extremer Gefahr zu Passivität verpflichtet sein soll. Es erscheint unerklärlich, dass der Staat den eigentlich für die Gefahr Verantwortlichen nicht belangen kann und gezwungen ist, Unrecht geschehen zu lassen, nur weil er selbst keines verüben darf. Der zu entrichtende Preis scheint zu hoch. Die Welt soll nicht untergehen, nur damit Gerechtigkeit geschehe13. Bei dieser subjektiven Bewertung wird aber außer Acht gelassen, dass das Risiko, selbst an einer solchen Ausnahmesituation auf Betroffenenseite beteiligt zu sein, äußerst gering ist. Zur Neutralisierung dieses verschwindend geringen Risikos den unabdingbaren Schutz der Menschenwürde aufzugeben, der einem jedem Menschen in jeder Situation zu Teil wird erscheint dann wiederum als ein sehr hoher Preis. Die Einbuße an Freiheit, die hierdurch einträte, überwöge den Zugewinn an Sicherheit um ein Vielfaches. Dies insbesondere wenn man die Fernwirkungen einer solchen Entscheidung berücksichtigt. Der Menschenwürdegarantie kommt eine für die gesamte Verfassungsordnung prägende 12  Als Beispiel sei nur die gekaperte Passagiermaschine genannt, welche auf einen Atomreaktor gelenkt wird. 13  Dies ist eine Umkehrung des lateinischen Spruches „Fiat iustitia et pereat mundus“.



C. Ausblick

237

Rolle zu. Darüber hinaus stellt der bereichsspezifische Vorrang der Achtungspflicht einen Anker unserer Zivilisation dar. Dieser soll die deutsche Staatlichkeit daran hindern, die Barbareien aus der Zeit des Nationalsozialismus zu wiederholen. Kann der Staat somit nicht mit schlechtem Beispiel vorangehen, so fördert dies die Anerkennung der politischen Ordnung und schmälert die Wahrscheinlichkeit, dass die Bürger selbst in ungezügelte Akte der Missachtung der Menschenwürde verfallen. Jedes Mitglied der Gesellschaft wird dadurch vor dieser geschützt. Dies mag vordergründig paternalistisch erscheinen und es drängt sich die Frage auf, ob sich eine solche Bevormundung rechtfertigen lässt. Ginge man aber nicht von einem bereichsspezifischen Vorrang der Achtungspflicht aus, so käme dies einer kopernikanischen Wende gleich. Es drohte die Gefahr der Erosion unserer lange gewachsenen und bewährten Wertvorstellungen. Diese verstehen sich nicht von selbst, sondern bedürfen der rechtlichen Absicherung. Unklar wäre zudem ob die Büchse der Pandora wieder geschlossen werden könnte, würde man sie einmal öffnen14. Begreift man den bereichsspezifischen Vorrang der Achtungspflicht daher als grundsätzlich gerechte Lösung, so muss dies auch in den hier untersuchten Ausnahmesituationen gelten. Der Preis hierfür ist nicht zu hoch, denn „wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.“15 Der bereichsspezifische Vorrang der Achtungspflicht im Würdebereich hat schließlich auch die begrüßenswerte Folge, dass er dem Staat eine klare Handlungsanweisung bei der Auflösung von Pflichtenkollisionen im Würdebereich an die Hand gibt. Er begründet einen tragbaren modus operandi, welcher die benannten Würdekollisionen zugunsten der Erfüllung der Achtungspflicht entscheidet. Dies erspart eine bereits begrifflich schwierige Abwägung zwischen absoluten oder wenigstens höchstrangigen Pflichten. Umgangen wird dadurch auch die wohl zum Scheitern verdammte Suche nach tragbaren Kriterien für eine solche Abwägung. Zwar kann hierdurch nicht das moralische Dilemma gelöst werden, in welchem sich die jeweiligen ausführenden Individuen befinden. Dafür kann die Menschenwürde als übergeordneter Abwägungsmaßstab fortbestehen und dadurch eine in rechtlicher Hinsicht praktikable Lösung gewährleisten.

C. Ausblick Die Frage nach dem Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht wird auch in Zukunft stets wieder aufkommen. Dies zum einen aufgrund ihrer basalen 14  W. Höfling/S. Augsberg, Luftsicherheit, Grundrechtsregime und Ausnahmezustand, in: JZ 2005, S. 1080 (1088). 15  I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), 331,31–332,13 (Allg. Anm. E.; zitiert nach der Meiner-Ausgabe, 4. Aufl. 1945, S. 158 f.).

238 Schluss

Bedeutung für die gesamte Verfassungsordnung und deren Freiheitsverständnis. Die alte Frage nach dem richtigen Verhältnis von Freiheit und Sicherheit findet sich in der abstrakten Frage nach dem Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht wieder. Konkret relevant wird diese im Gefahrenabwehrrecht bleiben, welches sich mit dem islamistischen Terror einer neuartigen Bedrohung gegenübersieht. Aber auch im Bereich der Embryonenforschung oder der Präimplationsdiagnostik kommt ihr eine entscheidende Bedeutung zu. Die größte Herausforderung wird dabei darin liegen, dass in dieser Untersuchung zugrunde gelegte Verständnis der Menschenwürde in Einklang zu bringen, mit dem Bedürfnis der Wissenschaft nach weitergehenden Forschungsmöglichkeiten. Die Forschung am Menschen ist aufgrund des bereichsspezifischen Vorrangs der Achtungspflicht im Würdebereich nicht uneingeschränkt zulässig, wenn man bereits dem Embryo Würde zuerkennt. Ein für die Wissenschaft schwer annehmbares Hindernis. Es wird sich zeigen, ob die Forscher im Stile eines Leonardo Da Vinci die Grenzen des Rechts zur Befriedigung ihres Wissensdurstes überschreiten. Dabei ist aber darauf hinzuweisen, dass die eigentliche Stellschraube im Hinblick auf die Biowissenschaften nicht das Verständnis vom Verhältnis der Achtungs- zur Schutzpflicht ist, sondern die Definition dessen was Würde ist und wann der Würdeschutz beginnt16. Es hängt von dessen Umgrenzung ab, ob sich der bereichsspezifische Vorrang der Achtungspflicht auch in Zukunft rechtfertigen lassen wird. Dazu muss auch weiterhin eine restriktive Auslegung des Würdebegriffs angestrebt werden, weil dieser ansonsten zu verwässern droht. Abschließend sei noch einmal auf den unermesslichen Wert eines bereichsspezifischen Vorrangs der Achtungspflicht bei Pflichtenkollisionen im Würdebereich hingewiesen. Dieser schafft einen basales Übergewicht der Freiheit vor dem Staat vor der Freiheit durch den Staat und dient damit der Erhaltung unserer freiheitlichen Verfassungsordnung. Auch wenn von Privaten zahllose Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter ausgehen können, so ist der Staat trotz seiner ambivalenten Rolle deren natürlicher Feind. Dies gerät gerade bei jüngeren Generationen leicht in Vergessenheit, die sich selbst nie einem allmächtigen Staatsapparat gegenübersahen. Ein Bruch mit den Grundlagen des überkommenen Rechts ist daher auch bei Anerkennung der grundsätzlichen Gleichwertigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht zukünftig nicht angezeigt.

16  Diese Forderung findet sich unter anderem auch bei P. Tiedemann, Vom inflationären Gebrauch der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DÖV 2009, S. 606 (612 f.).

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Stichwortverzeichnis Abwägung  197, 205 Abwehrfunktion  24 Abwehrrechtliche Lösung  59 ff. Achtungspflicht  18, 24 Antastungsverbot  37 Ausnahmesituation  20 f. Ausstrahlungswirkung  25 Bestimmtheit  99 f. Daesh  18 Dilemma  20 Dimension  24, 108 f. Dreiecksverhältnis  18, 74 ff. Eingriffsschwelle  103 Einrichtungsgarantien  25 Ewigkeitsgarantie  150 Exekutive  72 Folter  18 f., 188 Freiheit  18, 232 ff. Freiheitssphäre  117 Garantenstellung  25 Gefahrenschwelle  64 f. Gemeinschaft  222 Gemeinschaftsgebundenheit  222 Generalklausel  161 Grundrechsdogmatik  24 f. Grundrechtsfunktion  24 f. Grundrechtstheorie  131 f. Grundrechtsverzicht  153 Individuum  221 Innerer Notstand  21 Instrumentalisierungsverbot  36, 166

Janusköpfigkeit  17 Judikative  73 Konsequentialismus  230 f. Konstitutionalismus  120 ff. Konstitutionsprinzip  186 Leben  38 ff. Legislative  71 f. Legitimationsgrundlage  215 f. Leistungsstaat  133 Liberaler Rechtsstaat  26 Liberalismus  131 f. Luftsicherheitsgesetz  19 Mediatisierungsbedürftigkeit  103 ff. Mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis  74 ff. Mensch  30 Menschenwürde  28, 31 ff. neminem laedere  170 Normalfall  21 Normensystem  20 Notwehr  218 f. Objektive Wertentscheidung  48 f. Objektive Werteordnung  49 Objektives Recht  25 Objektivrechtliche Dimension  25, 48, 108 Parlamentarischer Rat  127 Paulskirchenverfassung  122 Pflichtenkollision  18 Primat der Achtungspflicht  80 ff. Prinzip  225

258 Stichwortverzeichnis Quantifizierungsverbot  164 Rangordnung  20 Rechtsfreier Raum  202 ff. Rechtsnorm  185 Rechtsstaat  218 Regel  225 Schutzpflicht  17 f., 45 Selbsthilferecht  45 Sicherheit  18, 54 f. Sicherheitserwartung  18 Sonderrecht  21 Sozialstaatsprinzip  57 f., 135 Staatszweck  17, 54 Subjekt  218 Subjektives Recht  109 suicide by cop  156 Terrorismus  18 Todesschuss  39

Todesstrafe  147, 177 Tötungsverbot  147 f. Übergriff  62 ff. Unabwägbarkeit  197 f. Unantastbarkeitsformel  29, 198 Ungleichbehandlung  36 Untermaßverbot  68 Utilitarismus  230, 236 Verfassungsbeschwerde  194 Verstärkungsfunktion  113 f. Verursachung  65 f. Verwirkung  153 Voraussetzungsgrundrecht  41 Weimarer Reichsverfassung  125. Wesensgehaltsgarantie  149 f. Würdekollision  182 f. Würdekonzept  184 ff.