Das Politische und das Persönliche. Eine Collage. Herausgegeben von Iris Nachum und Susan Neiman


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Das Politische und das Persönliche. Eine Collage. Herausgegeben von Iris Nachum und Susan Neiman

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Margherita von Brentano

Das Politische und das Persönliche Eine Collage Herausgegeben von Iris Nachum und Susan Neiman

WALLSTEIN

VERLAG

Gedruckt mit Unterstützung des Einstein Forums, Potsdam, und der Freien Universität Berlin

EINSTEIN FORUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2010 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf, unter Verwendung eines Fotos von Margherita von Brentano aus dem Privatbesitz Ethan Taubes' gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier ISBN 978-3-83 53-0614-1

Inhalt Vorwort. Editorial .

7 13

. .

15

1.

Die Familie Brentano während des »Dritten Reichs« .

17

2.

Studienjahre in Berlin und Freiburg

44

Kapitel 1: 1922-1948: Jugend- und Studienjahre.

. . . . . . . . . .

Kapitel II: Die Zeit in Freiburg und die Arbeit beim Rundfunk. 1.

2.

55

Persönliches aus der Zeit in Freiburg. Die Arbeit beim Rundfunk . . . . . .

57 70

Kapitel III: 1956-1987: Tätigkeit an der Freien Universität Berlin. 1.

2.

221

Das Engagement an der Freien Universität Berlin. Vorträge und Vorlesungen . . . . . . . . . . . . .

223

260

3. Die Auseinandersetzung mit dem Feminismus. . . 4. Die Vizepräsidentschaft an der Freien Universität Berlin.

3 55

5. Die Neugründung des Philosophischen Seminars. . . . .

409

Kapitel IV: Jacob Taubes .....................

453

Kapitel V: 1987-1995: Die Zeit nach der Emeritierung

483

1.

Die Abwicklung der Humboldt-Universität.

. . . . . .

371

485

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas . . . . 3. Die letzten Jahre - zwischen Resignation und Hoffnung .

510

Anhang ...............................

537

2.

503

Vorwort

»Ich habe nie ein großes Buch geschrieben«, bemerkte Margherita von Brentano eines Nachmittags kurz vor ihrer Emeritierung etwas schroff, als ich bei ihr in Berlin zum Tee eingeladen war. Wir saßen in ihrem Salon, wie immer fielen Sonnenstrahlen über die Terrasse in den Raum und waren umringt von kostbaren Objekten aus dem Familienbesitz, alten Orientteppichen, ihrem Cembalo und Büchern in den schönsten Ausgaben - Begleiter einer adeligen Großbürgertochter, die sich zur marxistischen Kämpferin entwickelte. Mit einer Zigarette in der Hand deutete sie in Richtung ihrer Bibliothek und sagte, sie freue sich auf die Zeit »danach«, denn da gäbe es endlich Zeit zum Lesen. Sie konnte damals nicht ahnen, daß sie nach ihrer Emeritierung einsamer werden sollte, als sie es je verdient hatte. An diese Begegnung Ende der 198oer Jahre mußte ich mich unwillkürlich erinnern, als ich ein Jahrzehnt später Margheritas Nachlass besichtigte, der in einem Dutzend Kartons ungeordnet auf einem Berliner Dachboden lag. Ethan und Tania Taubes, Margheritas Stiefkinder und Erben, hatten Peter McLaughlin und mich, zwei ehemalige Studenten von Margherita, die regelmäßigen Kontakt zu ihr hielten, gebeten, ihren Nachlass zu verwalten und gegebenenfalls zu veröffentlichen. Margheritas Äußerung hatte mich zwar davor gewarnt, auch nur den Ansatz eines Fragmentes für ein großes Buch auf dem Dachboden zu erwarten, aber was ich vorfand, war allemal spannend, facettenreich und originell - wenn auch geringen Umfangs: zum Beispiel ihr Doktorat über Aristoteles, das sie bei Heidegger in Freiburg ablegte; Radiomanuskripte, die sie über den Holocaust verfaßte; die Korrespondenz mit ihrem Vater, Botschafter a. D. Clemens von Brentano; Briefe, die sie ihrem Mann Jacob Taubes voller Hoffnung und Enttäuschung schickte; Vorlesungen über Kants Geschichtstheorie und Vernunftbegriff sowie mehrere politische Streitschriften über den Feminismus und die pluralistische Lehre an den Universitäten. Wie ein roter Faden ziehen sich ihre Diskussionen und Begegnungen mit ihren Zeitgenossen -Anders, Bloch, Jaspers, Heidegger, Marcuse - durch den Nachlass. Was ich schriftlich vorfand, ist von Scharfsinn und Ironie durchdrungen und macht Margheritas Nachlass durchaus auch heute noch nicht nur aus historischen Gründen lesenswert. Aber es wird dabei auch klar, daß Margheritas Stärke in der Rhetorik lag und daß das Schreiben nicht das Medium war, in dem sie sich am besten ausdrückte. Im Nachlass befinden sich zum Beispiel hervorragende autobio7

VORWORT

graphische Skizzen, die sie kurz vor ihrem Ableben (sie verstarb im Jahre 1995 im 73. Lebensjahr an einem Emphysem) notierte - doch der Leser wünscht sich mehr. Die Energie und Intensität, die Margherita kennzeichneten und die auf ihre Mitmenschen zeitlebens einen ungemein starken Eindruck hinterließen, sind in ihrem schriftlichen Erbe tatsächlich nur bruchstückhaft auf Papierfetzen - Briefen, Vorträgen, Interviews, Radiosendungen - festgehalten. So entstand der Entschluß, Margheritas Leben und Werk in Form einer Collage zu portraitieren - ausgewählte Schriften aus dem Nachlass sollten redigiert, zusammengefügt und durch Gespräche mit Personen, die Margherita in den verschiedenen Stationen ihres Lebens begleiteten, ergänzt werden. In den Gesprächen und bei der Lektüre des Nachlasses sticht immer wieder eine Besonderheit hervor: Margheritas Chuzpe. Ihre Frechheit war nie beliebig oder flapsig, sondern stets mit einer atemberaubenden Geistesgegenwärtigkeit und einem tiefen Gerechtigkeitssinn verbunden. So lesen wir in ihren autobiographischen Notizen folgende Anekdote: Als Margherita einer Berufungskommission an der Freien Universität Berlin vorstand und es dabei wieder einmal darum ging, einer qualifizierten Bewerberin den Ruf zu verweigern, diesmal mit dem Einwand, eine Frau würde dem Ruf nach Berlin nicht folgen, wenn sie sich deshalb von ihrem Mann geographisch trennen müsse, schlug Margherita vor, die Sitzung zu unterbrechen, »um in der Zwischenzeit bei allen Bewerbern anzufragen, ob sie mit einem (einer) Beamten (Beamtin) verheiratet, und also nicht willens oder in der Lage sind, ihren jetzigen Wohnort zu verlassen«. Der Einwand wurde daraufhin zurückgezogen. Margheritas Chuzpe muß wohl schon immer in ihr vorhanden gewesen sein. 1941, kurz nach Einführung des »gelben Sterns«, arbeitete sie in Berlin als Trambahnschaffnerin. Als sie einer alten, gebrechlichen Jüdin beim Aussteigen aus der Bahn half, beschwerte sich ein Fahrgast darüber: Juden seien Parasiten und müßten auch so behandelt werden. Die 19jährige brachte den Wagen zum Halten und erklärte dem Mann in einer unverblümten Art, daß sein Gebrüll sie an der Weiterfahrt hindere; einen vorbeieilenden Polizisten erinnerte sie daran, daß sie und nicht er die Polizeigewalt im Wagen habe. Margherita war während des »Dritten Reichs« in keiner Widerstandsbewegung aktiv und schien deswegen unter keinem schlechten Gewissen zu leiden, denn sie hatte wiederum nie einen Hehl aus ihrem Abscheu gegen die Nazis gemacht. So schrieb sie 1947 als Antwort auf einen Leserbrief: »Es gibt junge Leute, die keine Nazis waren, 8

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obwohl ihnen niemand aus der älteren Generation die Wahrheit sagte!« Margherita lehnte die kollektive Schuld am Holocaust ab, übernahm aber dafür um so mehr die kollektive Verantwortung. Aus dieser Position der Verantwortung wuchs ihr Kampf gegen den Faschismus und Antisemitismus, den sie zeit ihres Lebens mit unterschiedlichen Mitteln führte: Sie verfaßte in der Nachkriegszeit eine der ersten Radiosendungen über die »Endlösung«, und als sie vom Südwestfunk zur Freien Universität Berlin wechselte, veranstaltete sie 1964 zusammen mit Peter Furth das erste wissenschaftliche Philosophieseminar über Antisemitismus und Gesellschaft. Dieses Engagement führte Margherita also bereits in einer Zeit, in der der Holocaust von der breiten Öffentlichkeit und selbst von den meisten Historikern in der Bundesrepublik wenig thematisiert wurde. Sie sagte dazu: »Sowohl [an der Universität] in Frankfurt als auch hier [in Berlin] war das eigentlich der Punkt, wo wir uns sagten, auch ganz bewußt, wenn die [Historiker die Vergangenheitsaufarbeitung] nicht machen, ist eigentlich die Philosophie verpflichtet, in die Bresche zu springen.« Aus dieser Bresche ist Margherita nie herausgesprungen: In den 197oer Jahren trat sie für die (letztendlich nicht zustande gekommene) Gründung eines Faschismusforschungsinstitutes ein und engagierte sich bis zuletzt für das Entstehen des HolocaustDenkmals in Berlin. Die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus lehnte sie von vornherein ab: »Die Nazis hinterließen Berge von Leichen. Die DDR hinterließ Berge von Karteikarten. Der Nationalsozialismus wurde von außen besiegt, der reale Sozialismus von innen.« Margherita war eine jener Intellektuellen ihrer Generation, die sich mit den Verbrechen an den Juden aufrichtig auseinandersetzen. So verwirklichte sie in ihrem Denken und Handeln eine Position, die in der Bundesrepublik oft beschworen wird, aber selten gelingt. Ihr Mann Jacob Taubes, der jüdischer Herkunft war, sagte mir einmal, daß Margherita von Brentano die einzige Deutsche sei, der er wirklich vertraue. Trotzdem oder gerade deshalb muß auf Margheritas Beziehung zu Martin Heidegger hingewiesen werden, bei dem sie in Freiburg 1948 promovierte. Wie bei vielen Heidegger-Schülern leuchteten auch Margheritas Augen auf, wenn sie auf ihn zu sprechen kam, und sie wurde auch nie müde zu erzählen, daß Heidegger von ihr so beeindruckt gewesen war, daß er ihr, der 19jährigen, den Schlüssel zum Seminarraum übergab. Mitte der achtziger Jahre, als das HeideggerBuch von Victor Farias erneut Anlaß gab, über Heideggers zeitweilige 9

VORWORT

Sympathie für die Nazis zu diskutieren, meinte Margherita in einem Seminar, an dem ich teilnahm, daß Heidegger ein Denker sei, der 2000 Jahre so tief in das Wesen der Dinge zurückblicke, daß er manchmal Details übersehe. Das war das einzige Mal, daß ich etwas derart Befremdendes von Margherita hörte. Ich reagierte dementsprechend scharf darauf: »Ich verstehe das Wort ,Detail< nicht, denn Massenmord wird man doch so nicht bezeichnen können!« Margherita war bestürzt und gestand sofort ein, daß ihre Wortwahl völlig falsch war. »Ich bin zerknirscht«, sagte sie und unterbrach das Seminar. In einer Radiosendung zu Karl Jaspers' 80. Geburtstag erzählte Margherita, daß Jaspers sie in ihrer Studienzeit einmal fragte, warum sie gerade Philosophie studiere. »Ich war so überrumpelt, daß ich ebenso unvermittelt antwortete: ,Ich möchte wissen, ob es die Wahrheit gibt, und wie sie zu erreichen ist.< Kaum ausgesprochen, schämte ich mich der Naivität dieser Antwort.« Diese Antwort mag vielleicht tatsächlich naiv anmuten, aber in ihr steckt meiner Meinung nach die eigentliche Motivation für Margheritas Denken und Handeln: Dieses permanente Streben nach der Wahrheit prägte Margheritas Intellektualität und ihr kritisches politisches Engagement, vor allem für den Sozialismus. »Generell bin ich weder Kantianerin noch Marxistin«, sagte sie 1987. »Aber soweit Marxismus heißt, der Sozialismus hat eine wissenschaftliche Basis, sage ich immer, wenn ich gefragt werde: ich bin Marxistin.« Kant und Marx waren zweifellos - und zwar nicht nur auf theoretischer Ebene - zwei Schlüsselfiguren für Margherita. Aber wenn Margherita in der Tat Marxistin war, dann sicherlich frei von Dogmen. Sie war selbstkritisch genug, um zu konstatieren: »Der Erfolg der Rechten hat immer etwas mit dem Versagen der Linken zu tun.« Und obwohl sie sich selbst nicht als »Kantianerin« bezeichnete, lebte sie nach der Maxime: Aufklärung ist Mut zum Selbstdenken. Ihrer Mutter, zu der sie nie ein gutes Verhältnis hatte, warf sie vor, das autonome Denken als bloße Spitzfindigkeit und Rechthaberei zu verwerfen - für Margherita hingegen bedeutet es alles, und sie war stets bereit, dafür auch die Konsequenzen zu ziehen. Als sich der Akademische Senat der Freien Universität Berlin zum Beispiel 1972 weigerte, Ernest Mandel zu berufen, und dies mit der von Mandel vertretenen marxistischen Lehre begründete, trat sie aus Protest als Vizepräsidentin der Universität mit dem Argument zurück, Wissenschaftspluralismus müsse auch nichtpluralistische Theorien tolerieren. Die zierliche, mädchenhafte Dame ließ sich einfach nie, ob als 19jährige Schaffnerin oder als anerkannte Philosophieprofessorin, 10

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von der Macht beeindrucken - es sei denn, es war die Macht der Vernunft. Auch in diesem Bereich kam es deshalb zum Konflikt mit Jacob Taubes, dem sie vorwarf, mit der Macht kegeln zu gehen. Margheritas Selbstdenken ermöglichte es ihr, für viele Jahre am politischen Schauplatz zu agieren, ohne von einer bestimmten Partei ideologisch vereinnahmt zu werden. Denn Philosophie hatte sich ihrer Meinung nach nicht der Politik unterzuordnen, vielmehr sollten beide Hand in Hand gehen. Bereits in einem 1950 für den Schulfunk des Südwestfunks verfaßten Manuskript über die griechische Demokratie hob Margherita den Satz »der Mensch ist von Natur aus ein politisches Wesen« hervor. In einem Interview aus dem Jahre 1978 bedauerte sie deshalb, daß der Philosophie im speziellen und der Wissenschaft im allgemeinen gerade das politische Wesen aberkannt werde: »Man prämiert heute diejenigen, die nur noch brave, akademische Philosophie, am besten reine Philosophiegeschichte - dann braucht man sich ja nicht mehr soviel auszudenken - möglichst völlig politikfrei betreiben. Reine, brave Wissenschaft verzichtet von vornherein, über ihren Horizont zu blicken; und Politisches, Soziales gilt heute fast als anrüchig, eben keine Wissenschaft mehr.« Margherita hingegen trat für eine Symbiose zwischen Philosophie und Politik ein und plädierte deshalb selbst in ihrer hochpolitischen Zeit an der Freien Universität Berlin dafür, Philosophie vor allem aus Liebe und Leidenschaft zu betreiben. Es war für sie beispielsweise selbstverständlich, neben einem Seminar über den Terrorismus auch Aristoteles' Metaphysik zu lehren. Die Leidenschaft, mit der sie dabei philosophierte, war nicht nur für ihre Schülerinnen und Schüler ansteckend. Margheritas letzte Jahre waren geprägt von der Enttäuschung über die Entwicklungen, die die Wende nahm, besonders in bezug auf die Abwicklungspolitik und den Triumphzug der von ihr ungeliebten CDU. »Die Revolution der DDR«, meinte sie, »ist jedenfalls das Verdienst von Menschen dort und nicht der Bundesrepublik. Wer oder was qualifiziert uns Wessis, nun wie eine Siegermacht oder wie Kolonialherren aufzutreten?« Doch weder in der Öffentlichkeit noch privat gab sie der Versuchung der Verbitterung nach. 1991, als sie gefragt wurde, was sie als Philosophin noch politisch bewegen könnte, blitzte in ihr die Hoffnung auf: »Ein welthistorischer Versuch, die Welt zu ändern, ist gerade zu Ende gegangen. Vielleicht auch deshalb, weil einige Elemente der Interpretation von Welt und Mensch falsch waren. Kein Grund also, das Denken aufzugeben, sondern gerade ein Grund, nüchtern und genauer die Welt zu interpretieren, damit sie verändert werden kann. Denn so wie sie ist, kann sie nicht bleiben.« II

VORWORT

Die Forschung am Brentano-Nachlass, die Erstellung des Nachlassregisters sowie die Arbeit an dieser Collage wurden mittels der großzügigen Förderung der German-lsraeli Foundation von Iris Nachum durchgeführt. Ich möchte mich bei ihr vor allem dafür bedanken, daß es ihr gelungen ist, ein derart lebendiges und authentisches Portrait von Margherita von Brentano wiederzugeben. Danken möchte ich auch den Gesprächspartnerinnen und -partnern für ihre Kooperation und offenen Worte sowie Prof. Dr. Gideon Freudenthal und Dr. Claudia Lange für ihre wissenschaftliche Unterstützung. Die Arbeit an diesem Band ist nicht zuletzt auch eine persönliche Danksagung an Margherita von Brentano. Ich lernte sie zu einer Zeit kennen, als ich erwog, die Philosophie aufzugeben, um mir einen »handfesten« Beruf zu suchen. Sie ermutigte mich, die Doktorarbeit fertigzuschreiben und eine akademische Laufbahn einzuschlagen, damit »nicht nur die Weltfremden im Fach blieben«. Margherita von Brentano war für mich immer ein Beispiel dafür, daß man die Liebe zur Philosophie mit einem »handfesten« Engagement hier und jetzt verbinden kann und soll. Mögen diese Seiten auch eine Inspiration für jene sein, die die Philosophie ebenso frech, realitätsbewußt und leidenschaftlich betreiben wollen.

Prof Dr. Susan Neiman Berlin, im Oktober 2004

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Editorial

Der vorliegende Band basiert größtenteils auf Schriften aus Margherita von Brentanos Nachlass, der in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt wird. Der Nachlass wurde anhand der Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen (RDA) registriert und umfasst folgende Konvolute: Konvolut Allgemeine Korrespondenz Familienbriefe Korrespondenz mit Verlagen Gutachten Vorlesungen Drucksachen Rundfunkmanuskripte Manuskripte und Veröffentlichungen Vorträge und Gesprächsniederschiften

Umfang ca. 11oo Briefe ca. 44° Briefe ca. 40 Briefe

87 48 38 29 20 15

Für die Publikation wurden Texte ausgewählt, die Margherita von Brentanos Arbeit am Rundfunk, ihre akademische Lehre sowie ihr politisches Engagement in einer chronologischen Reihenfolge wiedergeben. Zudem wurde eine Auswahl an persönlichen Dokumenten getroffen, die einen Einblick in ihr Privat- bzw. Familienleben gewähren. Der Großteil der hier abgedruckten Schriften stammt aus Margherita von Brentanos Feder. Bei den von ihr verfassten Rundfunkmanuskripten, autobiographischen Notizen, Briefen, Vorträgen und Vorlesungen handelt es sich - sofern nicht anders angegeben um erstmalige Veröffentlichungen. Auch die an sie gerichteten Briefe werden hier zum ersten Mal publiziert. Im Anhang befindet sich eine Liste mit den biographischen Angaben zu den Briefpartner/innen. Um Brentanos Porträt abzurunden, wurden zudem bereits veröffentlichte Interviews und Diskussionsrunden mit ihr sowie Zeitungsartikel, die über ihre politische und akademische Tätigkeit berichten, abgedruckt. Die Herausgeberinnen führten im Juli 2001 längere Gespräche mit fünfzehn Personen aus Brentanos Privat- und Berufsleben. Die ausgewählten Passagen aus den Gesprächen ermöglichen es, die hier abgedruckten Texte in Brentanos biographischen Kontext zu setzen. An dieser Stelle möchten wir den Gesprächspartner/innen, über die im Anhang biographische Informationen zu finden sind, für ihre Koope-

13

EDITORIAL

ration und Offenheit unseren herzlichen Dank aussprechen. Bedanken möchten wir uns auch bei Ethan Taubes und bei Prof. Dr. Wolfgang Fritz Haug, die uns für den vorliegenden Band Fotos zur Verfügung gestellt haben, die Margherita von Brentano in verschiedenen Lebensabschnitten zeigen. Die unterschiedlichen Quellen, die für diese Publikation herangezogen wurden, machten einige editorische Eingriffe unumgänglich: neben der stillschweigenden Korrektur der Interpunktions-, Grammatik und Orthographiefehler wurde auch das Textformat vereinheitlicht. Von Margherita von Brentano zitierte Textstellen wurden - sofern möglich - von den Herausgeberinnen überprüft und gegebenenfalls korrigiert. Bei einigen der von Brentano verfassten Schriften haben die Herausgeberinnen unwesentliche Auslassungen vorgenommen. Ausgelassen wurden Sätze oder Passagen, die im Kontext des Textes unerheblich sind, und deren Weglassen zu einer flüssigeren Lesbarkeit beiträgt. Die Auslassungen der Herausgeberinnen wurden mit drei Pünktchen in eckigen Klammern, jene, die Brentano selbst vorgenommen hat, mit runden Klammern gekennzeichnet. Allgemeine Anmerkungen der Herausgeberinnen stehen in eckigen Klammern. Schließlich ergab sich bei den Rundfunkmanuskripten das Problem, dass die Quellenangaben, die dazu im Nachlass stehen, uneinheitlich und lückenhaft sind. Sofern möglich, konnten die Informationen zu den verschiedenen Rundfunksendungen dank der Hilfe von Jana Berendt, Historisches Archiv des Südwestfunks, vervollständigt werden. Der Initiative von Dr. Anita Runge, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin, ist es zu verdanken, dass das vorliegende Buch erschienen ist. Dafür gilt ihr unser großer Dank. Bedanken möchten wir uns zudem bei ihr und bei Andrea Knigge, Mitarbeiterin im W allstein Verlag, für das gründliche und systematische Redigieren des Publikationsmanuskriptes. Für ihre administrative Unterstützung möchten wir uns bei Liane Marz, Einstein Forum Potsdam, herzlich bedanken. Trotz intensiver Bemühungen haben wir einige mögliche Rechteinhaber von Texten nicht ausfindig machen können. Falls es zu Rechtsverletzungen gekommen sein sollte, bitten wir um nachträgliche Genehmigung des Abdrucks. Iris Nachum Te/Aviv, imApri/2009

Kapitel 1 1922-1948: Jugend- und Studienjahre

1. Die Familie Brentano während des »Dritten Reichs«

Lebenslauf':Ich wurde am 9. September 1922 in Sauerburg bei Kaub am Rhein geboren als viertes Kind des Legationsrats, heute Botschaftsrat a. D., Clemens von Brentano und seiner Ehefrau Dorothea geb. von Loehr. Zunächst wurde ich, des öfteren Wohnsitzwechsels der Familie wegen, von Hauslehrern unterrichtet, besuchte dann von 1932 bis 1937 das Oberlyzeum der Schwestern U.L. Frau in Berlin-Charlottenburg, anschließend die real gymnasiale Studienanstalt der W estend-Schule, ebenfalls in Charlottenburg, an welcher ich im März 1940 die Reifeprüfung ablegte. Im September 1940 immatrikulierte ich mich an der FriedrichWilhelms-Universität in Berlin. Dort belegte ich Vorlesungen und Übungen in Philosophie (Prof. Hartmann und Prof. Spranger), in Germanistik und Deutscher Literaturgeschichte (Prof. Schwietering und Prof. Wentzlaff-Eggebert) und Anglistik (Prof. Schirmer). Vom Herbst 1941 an setzte ich mein Studium an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg fort, wo ich vor allem Philosophie (Prof. Heidegger und Prof. Heiss ), Geschichte (Prof. Ritter, Prof. Bauer, Prof. Kolbe und Prof. T ellenbach), Germanistik (Prof. Maurer, Prof. Rehm und Prof. Kohlschmidt) und Anglistik (Prof. Schütt) belegte. Auf die Meldung vom Juni 1944 zur Wissenschaftlichen Prüfung für das Höhere Lehramt zugelassen, erhielt ich zur schriftlichen Bearbeitung das Thema: »Der Reichsgedanke von Nikolaus Cusanus«. Die mündliche Prüfung legte ich im März 194 5 ab. Das Thema meiner Dissertation erwuchs aus der Arbeit des Philosophischen Seminars von Prof. Heidegger und wurde mir im Herbst 1944 von Prof. Heidegger zur Bearbeitung übertragen. Seit Mai 1947 bin ich als Redakteurin beim Südwestfunk tätig.

,,_ Lebenslauf aus der Dissertation

JUGEND-

UND

Autobiographische

STUDIENJAHRE

Notizen (1994)

Das Salz in der Suppe Die eher plebejischen, dafür interessanten and begabten Vorfahren Mein Urgroßvater, Carl Beyerle, war der Sohn eines Metzgers aus Frankfurt am Main. Er ging ins Bankfach und in die Welt, landete über Paris in Kairo als Vertreter der Französischen Nationalbank. Dort gründete er selbst eine Bank, wurde ein sehr reicher Mann mit einem Stadthaus in Kairo und einem Landgut in Oberägypten, auf dem ein Fürstengrab ausgegraben wurde, das er dem Britischen Museum übermachte. Meine Urgroßmutter, Marie Rose Pachoud, war das Kind savoyardischer Musikanten aus Französisch-Savoyen, geboren in St. Gingolf. Sie wurde als kleines Mädchen von drei Jahren von einem französischen Grafenpaar, mit dessen Kindern sie am Genfer See gespielt hatte, adoptiert. Die Wahrheit ist wohl, daß die Grafen das bildhübsche und begabte Kind ihren Eltern, die als Musikanten durchs Land zogen (»avec la marmotte«) und sicher noch viele Kinder hatten, abkauften. Sie wuchs also als Comtesse mit den Söhnen des Grafen auf und erhielt die gleiche erstklassige Ausbildung bei als Hauslehrern beschäftigten Abbes und zusätzlich englischen und deutschen Gouvernanten eigens für sie. Als sie 18 oder 19 Jahre alt war, erfuhr sie, daß sie ein Adoptivkind und in Wahrheit Kind einfacher Leute sei. Sie sagte ihren Adoptiveltern, die sie sehr liebte, daß sie nicht weiter als Gräfin leben wolle und versuchen würde, sich ihren Unterhalt selbst zu verdienen. Das war damals - etwa 1870 gar nicht so einfach, Berufsarbeit für Frauen gab es nur unter niederen Tätigkeiten, was die Eltern ihr auch vorhielten. Sie entgegnete, daß sie dank der vorzüglichen Ausbildung, die sie ihren Adoptiveltern verdanke, den Beruf einer Hauslehrerin ausüben könne; und das tat sie auch. Sie wurde von einer - ebenfalls gräflichen - Diplomatenfamilie engagiert und gelangte mit dieser nach Kairo. Carl Beyerle and Marie Rose Pachoud lernten sich in Kairo kennen, verliebten sich und heirateten. Sie waren beide bildschöne, hochbegabte und vor allem hochmusikalische Menschen. Sie führten ein großes und offenes Haus und waren die Lieblinge der Gesellschaft, zu der sie nach Herkunft eigentlich nicht gehörten. Aber Schönheit, Begabung und vor allem Reichtum können ja solchen »Mangel« korn18

DIE

FAMILIE

BRENTANO

WÄHREND

DES

»DRITTEN

REICHS«

pensieren. Berühmt waren ihre Hauskonzerte, bei denen sie selber mitwirkten. Das Paar hatte zwei Töchter, Madeleine und Marguerite. Madeleine, die ältere, heiratete einen italienischen Principe, ließ sich scheiden, um einen schottischen Grafen zu heiraten, und heiratete schließlich in dritter Ehe einen amerikanischen Millionär. Es ging die Familiensage, daß sich alle drei Ehemänner, die ehemaligen und der aktuelle, einmal im Jahr auf dem Schloß des Grafen in Schottland trafen, um Rebhühner zu jagen. Marguerite, die Jüngere, wollte es ihrer Schwester gleichtun, und verlobte sich mit 17 Jahren mit dem Sohn eines Scheichs. Die Eltern stoppten das und beschlossen, schleunigst für die Tochter einen honorigen Ehemann zu finden. Den fanden sie in Gestalt von Joseph von Loehr, einem jungen deutschen Diplomaten in Kairo (welchen Posten er dort im Auswärtigen Dienst einnahm, weiß ich nicht.) Die beiden heirateten oder wurden verheiratet, und die Ehe schien zunächst gutzugehen, obwohl die beiden höchst verschieden waren: mein Großvater ein stiller, vornehmer, ruhiger Mensch die äugerste Unmutsäußerung, die ich je von ihm hörte, war: »Das ist ein wenig unschön« - meine Großmutter eine kapriziöse, unberechenbare Frau, eine Künstlernatur sie war hochmusikalisch, als Sängerin und Pianistin ausgebildet - sachlich und seriös allerdings dann, wenn es um Musik ging, z.B. wenn wir ihr vorspielen mußten. Eine erste Tochter, Alix, starb als Baby auf der Überfahrt von Kairo nach Genua, (die kleine Leiche hätte nach den Bestimmungen ins Meer versenkt werden müssen, die Eltern bestachen jedoch den Kapitän und nahmen sie mit; sie ist in der Burgkapelle auf der Sauerburg begraben). [Die Sauerburg wurde im Jahr 1908 von Marguerite von Loehr gekauft und befand sich bis 1934 im Familienbesitz.] Das zweite Kind war Dorothea, meine Mutter. Nach vier Jahren folgte ein Sohn, Erhard. Nach zehn weiteren Jahren wurde ein zweiter Sohn geboren, Harold. Meine Großmutter hatte sich inzwischen in den italienischen Militärattache, Luchino Montuori, verliebt. Harold war bereits sein Sohn, war aber, als in der noch bestehenden Ehe geboren, juristisch der Sohn meines Grogvaters, der ihn im übrigen nicht nur als seinen Sohn aufzog, sondern abgöttisch liebte. Die Ehe ging auseinander, und meine Grogmutter zog mit Luchino nach Genua. Eine Scheidung hingegen machte groge Schwierigkeiten. Nicht nur waren alle Beteiligten katholisch, und das Scheidungsverbot der Kirche hatte damals noch uneingeschränkte, auch gesellschaftliche Geltung; mein Großvater jedenfalls verweigerte die Scheidung meh19

JUGEND-

UND

STUDIENJAHRE

rere Jahre, und auch, als er endlich einwilligte, konnten Luchino und Nonnina (so nannten wir sie) in Italien nicht heiraten, weil es dort nur kirchliche Ehegesetze gab. Sie heirateten schließlich in Frankreich, da meine Großmutter eine geborene Französin war, war das möglich. Wie tief die religiösen und gesellschaftlichen Prägungen Menschen prägen, zeigt sich an Folgendem: Onkel Harold sah aus wie ein Italiener aus dem Bilderbuch, dunkler Teint, schwarze Augen und Haare, ein römisch geschnittenes Gesicht. Obwohl wir ja wußten, daß meine Großmutter schon während ihrer ersten Ehe sich in Luchino verliebt hatte, kamen wir erst als Erwachsene zu der doch naheliegenden Einsicht, daß Onkel Harold der Sohn Luchinos war. Er war ein sehr junger Onkel, eine Generation zwischen den Eltern und uns und ein sehr witziger Onkel. Von ihm lernten wir alle Schlager der 20er Jahre, wenn wir am Heiligen Abend auf die Bescherung warteten, was sehr lange dauern konnte, da meine Mutter darauf bestand, den Baum eigenhändig zu schmücken, sang er uns die Dreigroschenoper vor.

Über meinen Vater Mein Vater Clemens von Brentano war Berufsdiplomat. Nach dem Hitlerputsch in München von 1923 bat Stresemann, damals Außenminister, der zu meinem Vater, auch weil dieser im Unterschied zu manchen anderen im Auswärtigen Amt ihm gegenüber loyal gesinnt war, ein gutes Verhältnis hatte, ihn um ein kurzes Dossier zu dieser neuen Rechtspartei. Ich habe das Dossier nie gesehen, es wurde zum Glück rechtzeitig von Freunden aus den Akten des Auswärtigen Amtes entfernt. Aber es muß ziemlich klarsichtig und prognostisch gewesen sein: wenn nicht Durchgreifendes gegen diese Partei unternommen würde, würde sie in zehn Jahren legal zur Macht kommen und in weiteren zehn Jahren einen Krieg entfesseln. Mein Vater verfolgte weiter mit Aufmerksamkeit die Programmatik, den Populismus und das Wachsen der Nationalsozialisten. Er las Hitlers Mein Kampf gründlich, nahm es wörtlich und beschwor seine Freunde, die hier angekündigten Programme ernst und wörtlich zu nehmen, insbesondere auch die über die Juden. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre war er Botschaftsrat beim Vatikan. Er wurde nicht müde, Pius XI. auf die Nazis als kommende Gefahr nicht nur für Deutschland hinzuweisen und vor ihnen 20

DIE

FAMILIE

BRENTANO

WÄHREND

DES

"DRITTEN

REICHS«

zu warnen. Nicht ohne Erfolg bei Pius XI., aber sehr zum Unwillen des Auswärtigen Amtes, dessen Personal mehrheitlich konservativ, um nicht zu sagen reaktionär gesinnt war. Diese Warnungen brachten ihm schon zwei Jahre vor der Machtergreifung den Rückruf ins Amt nach Berlin und die z. D. (»zur Disposition«)-Stellung ein. Formell war der Vorwurf der, über den Kopf hinweg bzw. hinter dem Rücken des Botschafters von Bergen mit dem Souverän, bei dem er akkreditiert war, verhandelt zu haben - de facto war es natürlich der Inhalt seiner Warnungen. Herr von Bergen blieb übrigens auch unter den Nazis Botschafter beim Vatikan bis von Weizsäcker ihn ablöste - es hatte wohl seinen Grund, daß mein Vater ihn ein wenig überging. Als die Nazis zur Macht kamen, wurde die z.D.-Stellung in eine vorzeitige Pensionierung umgewandelt. Dies gibt mir Anlaß für eine Anmerkung: es ist nicht wahr, wenn als Rechtfertigung für das Mitmachen bei den Nazis angeführt wird, man wäre sonst in großer Gefahr gewesen. Man mußte keineswegs für die Nazis sein, man machte nur im öffentlichen Dienst keine Karriere. Wie man am Beispiel meines Vaters sieht, erhielt ein wegen mangelnder Gesinnung entlassener sogar seine Pension. Man war also auch nicht in Gefahr zu verhungern. Die Zahl der hohen Beamten, die unter den Nazis das Amt verließen oder pensioniert wurden, war übrigens verschwindend gering, wenn ich recht unterrichtet bin, maximal vier. Man durfte sich natürlich nicht bei solchem erwischen lassen, was unter Umständen die Todesstrafe zur Folge hatte, z.B. im Krieg ausländische Sender (»Feindsender«) hören. (Weswegen mein Vater, wenn er BBC hörte, eine Decke über den Radioapparat und seinen Kopf tat, zum Vergnügen seiner Familienmitglieder, von denen mein Bruder und ich in meinem Zimmer auf meinem kleinen Philips ebenfalls BBC-Nachrichten hörten). So scheinbar irre und widersprüchlich war das Regime. Menschen, von denen bekannt war, daß sie das Regime ablehnten, lebten ziemlich ungeschoren, konnten auch in freien Berufen durchaus erfolgreich tätig sein. Aber jede winzigste Handlung gegen die Nazis mußte zwar nicht, aber - konnte zur Verhaftung, ja zum Todesurteil führen. Dies war aber keineswegs irre, sondern sehr herrschaftsrational. »Denkt, was ihr wollt, aber handelt nicht«, das war die Maxime, und sie wirkte. Das bedeutete nicht, daß man nichts Sinnvolles tun konnte. Mein Vater hatte eine Reihe jüdischer Freunde, und er beschwor sie, die 21

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UND

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Programme der Nazis ernst zu nehmen, und sich um Auswanderung zu bemühen. Das war, zur Zeit als die Auswanderung noch möglich war, gar nicht bequem. Denn manche, auch unter den doch offen bedrohten Juden, nahmen Hitler nicht ernst genug, glaubten an eine begrenzte Dauer des Regimes und auch daran, daß nichts so heiß gegessen wie gekocht würde. Die Kassandrarolle macht nicht beliebt. Aber sie hat im Falle meines Vaters manche bewogen, das Land rechtzeitig zu verlassen.

Über meine Mutter Aus meinen ersten Kinderjahren habe ich so gut wie keine Erinnerung an meine Mutter. Ich war das vierte Kind, geboren auf der Sauerburg während der Inflation, seit meinem ersten Jahr lebten wir in Berlin, seit meinem dritten in Rom mit Unterbrechungen auf der Sauerburg. Betreut wurden wir kleineren Kinder von Kindermädchen, zuerst Viktoria, dann Lotte Piani, später von Patricia Hunt. Die Eltern sahen wir beim Mittagessen, wo wir ungefragt nicht reden durften, abends aßen wir oben mit den Erzieherinnen, und die Eltern erschienen höchstens in Abendkleidung, um gute Nacht zu sagen. Ich erinnere mich daran, einmal in Rom im schönen Zimmer meiner Mutter in ihrem großen Bett mit ihr gelegen zu haben, wobei ich mit ihrer Halskette spielte und ihren Busen entdeckte, zu meinem großen Interesse und ihrer großen Verlegenheit. Dies war sicher das einzige Mal, daß ich bei ihr im Bett verbrachte, sonst hätte sich die Erinnerung mir nicht so eingeprägt. Wir hatten, wie gesagt, mit den Eltern nicht allzuviel Kontakt. Tagsüber waren wir mit den Erzieherinnen zusammen, abends gingen die Eltern aus oder hatten ihrerseits Gäste, zu denen wir allenfalls kurz im Sonntagskleidchen zum Knicksen hineingeführt wurden. Sonntags fuhren wir manchmal mit den Eltern im Auto zu irgendwelchen schönen Orten. Das benutzten die älteren Geschwister, um sich über die in der Tat haarsträubenden Erziehungsmethoden und Prügelstrafen (»Tatzen«) der Hauslehrerin Fräulein Müller zu beschweren. Dann gab es, heimgekehrt, eine Untersuchung, aus der Fräulein Müller regelmäßig als Siegerin hervorging und nun erst recht Tatzen austeilte. Zum Glück unterstanden wir »Kleinen« nur an den Donnerstagen, an dem Miss Hunt Ausgang hatte, dem Regime von Fräulein Müller, das war auszuhalten. 22

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Erst als mein Vater nach Berlin zurückbeordert wurde, schon Ende r 93 r, wurden die Erzieherinnen entlassen. Wir kamen auf normale Schulen, und es brach eine relative Freiheit aus, da meine Eltern nicht gewohnt waren, das Erziehungsgeschäft selbst zu übernehmen. Ich schloß Freundschaften in der Schule und brachte die Freundinnen auch nach Hause mit; am großen Eßtisch mit sieben bis neun Personen (wenn Tante Mathilde oder Onkel Harold da waren) fiel eine mehr oder weniger nicht auf. Um die Schule kümmerte sich, wenn überhaupt jemand, mein Vater. Ich frage mich heute, ob meine Mutter jemals auch nur den Namen einer meiner Lehrer gekannt hat, weder in der Liebfrauenschule noch später in der Westendschule - mein Vater sehr wohl. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, jemals mit meiner Mutter ein persönliches Gespräch geführt zu haben. Die Wahrheit ist: wir hatten so gut wie keinen Kontakt und keine Berührungspunkte. Ich hatte allerdings gelegentlich Streit mit ihr, dann nämlich, wenn sie wieder einmal in einem Streit zwischen meinen Brüdern unbesehen für ihren Liebling Erhard Partei ergriff und ich mich dann einmischte, notfalls meinen Vater zu Hilfe rief, dem das zwar peinlich war, der aber versuchte zu schlichten.

Meine Mutter Meine Mutter, Dorothea von Loehr, war die Tochter eines sehr liebenswürdigen und freundlich sanften Mannes aus hessischem Beamtenadel. Ihre Mutter wiederum stammte von Eltern ab, die ich in dem Text »Das Salz in der Suppe« geschildert habe. Als sie etwa 14 Jahre alt war, kam es zum Liebesverhältnis meiner Großmutter mit Luchino Montuori, zur Geburt des jüngeren Brüderchens Harold, der bereits ein Sohn von Luchino war, wenn auch in der Ehe geboren und von meinem Großvater als sein eigener Sohn aufgezogen, und zur Scheidung ihrer Eltern. Meine Mutter muß dies ihrer Mutter sehr verübelt haben. Bis zu ihrer eigenen Hochzeit, für die mein Vater auf Versöhnung mit ihrer Mutter bestand, hatte sie sich geweigert, sie zu sehen. Ich glaube auch, daß sie sehr stark aus der Opposition zu dieser ihrer Mutter heraus lebte und sich selbst stilisierte. So legte sie, obwohl als Kind, junges Mädchen und junge Frau sehr schön, zunehmend wenig Wert auf ihr Äußeres, verlor ihre gute Figur und wurde ziemlich, man muß es

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leider sagen, dick. Sie verachtete jegliche Kosmetik, trug ihr langes Haar zu einem unkleidsamen Dutt gebunden und kleidete sich schon seit ihren Dreißigerjahren eher matronenhaft. Dies mag natürlich auch an der Konvention gelegen haben, die einer Mutter von fünf Kindern damals eher einen matronenhaften Habitus zugestand als einen mondänen. Sie hatte aber leider auch keinen guten Geschmack. Unsere Kinderzimmer waren mit den häßlichsten Möbeln vollgestellt, bis ich halb unbewußt dagegen durch einen mehrstündigen Weinkrampf protestierte. Es war mein Vater, der diesen Weinkrampf immerhin ernst genug nahm, um nach mehreren Stunden (wie gesagt) herauszufinden, daß ich unter der Häßlichkeit unseres Mobiliars litt, und alsbald dafür sorgte, daß meine Schwester und ich für unser Zimmer hübsche neue Möbel bekamen. Mit den fünf Kindern im Abstand von sechs Jahren war meine Mutter wohl ohnehin überfordert. Solange wir klein waren, wurden wir von Angestellten betreut, als wir nach Berlin zogen und diese entlassen wurden, kamen wir auf normale Schulen und brauchten nicht mehr [diese] notwendige Betreuung. Soweit schulische Dinge die Teilnahme der Eltern erforderten, übernahm mein Vater diese Aufgabe. Ich bezweifele, ob meine Mutter überhaupt wußte, wer unsere Lehrer waren, während mein Vater sich dafür interessierte. Bei meinen Freundinnen war meine Mutter sehr beliebt, und sie war auch liebenswürdig zu ihnen. Allerdings diskriminierte sie hier nach sozialem Stand, je vornehmer die Freundinnen waren, um so liebenswürdiger war sie, und später, als ich Studentinnen wie z.B. Marly Wetzei [sie war später mit Walter Biemel verheiratet] nach Hause mitbrachte, die eben nicht vornehm war, behandelte meine Mutter sie ausgesprochen unliebenswürdig. Mein Vater hingegen, der etwas für gescheite Frauen übrig hatte, schätzte Marly sehr. Meine Mutter hatte einen gewissen trockenen Humor, Mutterwitz nennt man das wohl. Sie war ein spontaner, gänzlich unreflektierter Mensch, von ihren jeweiligen Ansichten, ob diese nun originär ihre oder z.B. von meinem Vater übernommen waren, nicht abzubringen, schon gar nicht durch Argumente, die sie für bloße Spitzfindigkeiten hielt. Deswegen war sie leider auch voller Vorurteile. Ich erinnere mich an eine Begebenheit, wo dies zur Groteske ausartete. Es besuchte uns in Freiburg eine entfernte italienische Verwandte, eine Principessa so und so. Wir waren Anfang Zwanzig, sie um wenige Jahre älter - aber verheiratet. Sie war zurechtgemacht, auffallend geschminkt und mit rotlackierten Finger- und Fußnägeln, was meine

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Mutter an uns gar nicht schätzte. Meine Mutter bestand darauf, daß wir ihr die Hand küßten, weil unverheiratete Mädchen einer verheirateten Frau eben die Hand küssen sollten. Wir versuchten, das zu ironisieren, indem wir fragten, bis zu welchem Altersunterschied das gelte, ob bei zehn, fünf, vier, zwei Jahren Differenz, sogar bei Gleichaltrigkeit. Hier griff mein Vater vermittelnd ein und meinte, ein gewisser Altersunterschied sei doch wohl Voraussetzung. Meine Mutter war beleidigt, weil mein Vater uns recht zu geben schien, auf das Argument hörte sie nicht. Weil unreflektiert, war sie leider auch ungerecht. Dies galt nicht nur für ihre gegen den älteren Bruder grausame blinde Vorliebe für Erhard, über die ich an anderer Stelle geschrieben habe [siehe die nachstehenden Seiten]. Sie war auch willkürlich in der Bevorzugung von Freunden und Freunden der Kinder und ließ sich das anmerken. Auch hier galten Argumente nichts, ich dachte manchmal, daß sie gar nicht wußte, was ein Argument sei außer Rechthaberei. Sie war unordentlich, um nicht zu sagen chaotisch, wozu noch kam, daß sie zum Anlegen von Vorräten neigte und daß sie nichts weggab oder wegwarf. Das führte einerseits dazu, daß unsere nicht kleinen Wohnungen alle überfüllt und vollgestopft waren. Es erwies sich allerdings in der Kriegs- und Nachkriegszeit als Vorteil, sie brachte tatsächlich Ende des Krieges noch irgendwoher ein Stück Seife oder ein Päckchen Tee ans Licht. Auch hatte sie ihre sämtlichen Abendkleider aus der römischen Zeit aufgehoben, sie waren in einem riesigen Zweimeterschrank, der leider in meinem Zimmer stand und es verhäßlichte und verengte. Aber immerhin konnten wir uns später aus den Sachen Sommerkleider schneidern, als es nichts zu kaufen gab. Sie war übrigens eine vorzügliche Autofahrerin. Als wir kleiner waren, fuhr sie die ganze Familie samt Hund und meinem Kanarienvogel im großen Horch in die jeweiligen Sommerferien. Auch sonntags fuhren wir gelegentlich zu einem Picknick ins Blaue oder zu irgendeiner Besichtigung. Allerdings fuhren wir meist erst am Nachmittag los, weil meine Mutter darauf bestand, alles selber vorzubreiten, und das sehr lang dauerte. Hatte die Köchin Ausgang, kochte meine Mutter, was dazu führte, daß es Mittagessen um fünf Uhr nachmittags gab. Am Heiligen Abend bestand sie darauf, den Baum selbst zu schmücken, weshalb es erst gegen elf Uhr zur Bescherung kam. Bis dahin unterhielt uns Onkel Harold mit der Dreigroschenoper.

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Mein Bruder Erhard Meine früheste Erinnerung ist die an einen Traum - nicht der Traum selbst, sondern daran, daß ich diesen Traum gehabt hatte. Ich muß etwa drei Jahre alt gewesen sein. Ich stand im Seitenflügel eines riesigen U-förmigen Gebäudes und blickte aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Seitenflügel. Dort sah ich meinen Bruder Erhard, und er war offenbar in höchster Not. Woran ich das erkannte, weiß ich nicht mehr und hätte es auch damals nicht sagen können, ich erkannte es einfach. Ich wußte sofort, daß ich ihn retten mußte, wovor, wußte ich zwar nicht, aber daß da Gefahr war, war mir überdeutlich. Ich lief also zum Mittelteil des Gebäudes, durchquerte es und gelangte zum gegenüberliegenden Flügel, fand schließlich auch das offene Fenster, aber meinen Bruder fand ich nicht. Er war einfach verschwunden. Aus dem Fenster gefallen war er auch nicht, ich sah nach. Mein Bruder war zwar nur eineinviertel Jahr älter, aber schon damals und immer viel größer und stärker als ich, fast vergleichbar meinem vier Jahre älteren Bruder Guido. Jeder ganz- oder halbgebildete Analytiker wird den Traum als Wunsch deuten, den starken Konkurrenten zu beseitigen. Ich habe eine andere Deutung. Immer schon, als kleines Kind und bis zu seinem Tode, hatte ich das Gefühl, der große und starke Bruder sei in Wahrheit schwach, schwer gefährdet und ich die Stärkere. Als kleiner Bub schon litt er unter vehementen Tobsuchtsanfällen, und jähzornig blieb er sein Leben lang. Man sperrte den Kleinen dann in ein Kämmerchen unter der Treppe, wo er markerschütternd schrie und versuchte, die Wand zu durchschlagen. Alle hielten das für überschäumende Kraft, mir erschien es als Unglück, Hilflosigkeit und Schwäche. Selbst wenn ich, was öfter vorkam, meine jüngere Schwester vor ihm verteidigen mußte, weil er sie piesackte, wobei sie in Tränen schwamm und laut weinte und er triumphierte, wurde ich das Gefühl nicht ganz los, daß Tränen die effektiveren Waffen seien. Das hinderte natürlich nicht, daß ich oft eifersüchtig war. Vor allem eine einschneidende Änderung ärgerte mich sehr. Ursprünglich wurde die Geschwisterschar in die »beiden Großen« und die »drei Kleinen« aufgeteilt. Lilla und Guido, ein Jahr auseinander, waren die Großen, Erhard, ich und Maria Viktoria, nach drei Jahren Pause in drei Jahren hintereinander geboren, die Kleinen. Doch Erhards schiere Körpergröße und Kraft führte dazu, daß sich allmählich der Sprachgebrauch änderte. Nun gab es die drei Großen und die beiden Klei-

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nen, und das hatte Folgen: die Großen durften länger aufbleiben, so daß Erhard, doch nur ein Jahr älter, mit den älteren Geschwistern aufblieb, und ich mit der kleinen Schwester ins Bett verbannt wurde. Später änderte sich wiederum die Einteilung. Lilla, die Älteste, die auch das Privileg eines eigenen Zimmers hatte, stand für sich, dann gab es die beiden Buben und die beiden Kleinen, auch »Kleinens« genannt. Und da wir damals getrennte Jungen- und Mädchenschulen besuchten, separierte sich die Buben- und die Mädchenwelt eher auseinander als die Einteilung nach Altersstufen.

Mein Bruder Guido Guido war der zweite unter uns fünf Geschwistern, geboren 191 8, ein Jahr jünger als meine älteste Schwester, drei Jahre älter als mein zweiter Bruder Erhard. Die beiden Brüder vertrugen sich im allgemeinen gut, es gab allerdings in etwa gleichen Abständen eine Prügelei, die aber das Verhältnis nicht nachhaltig störte. Sie waren sehr verschieden. Erhard war äußerst wortgewandt und sehr sprachbegabt, von allgemeiner Intelligenz, die leicht in Rechthaberei und Sophisterei ausartete. Er war jähzornig, konnte als kleiner Bub geradezu Tobsuchtsanfälle kriegen, war sonst aber gutmütig. Guido war eher wortkarg, geriet gelegentlich in leichtes Stottern, weshalb er bei verbalen Auseinandersetzungen im Nachteil war. Er war hoch begabt in Mathematik, Physik und Chemie, übertraf darin weit den Bruder. Außerdem war er ein hervorragender Sportler - gewann Preise in Tennis und Skilaufen - und ein erstklassiger Schachspieler, auch hier gewann er Preise. Wir hatten ein besonders gutes Verhältnis, er war mein Lieblingsbruder und ich seine Lieblingsschwester, worauf ich sehr stolz war. Das mochte damit zu tun haben, daß ich - als einzige unter den Geschwistern - sein Problem erfaßt hatte und versuchte, ihm zu helfen. Das Problem: meine Mutter liebte von allen ihren Kindern den jüngeren Sohn Erhard am meisten und abgöttisch und war deutlich weniger an Guido interessiert und emotional engagiert. Guido wußte das und litt sehr darunter. Typisch war folgende Szene, die sich wiederholte. Die beiden Brüder prügelten sich in gewissen Abständen, sie waren sozusagen Quartalsprügler, ohne daß dies zu nachhaltiger Störung ihres Ver-

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hältnisses führte. Das Zimmer der beiden Jungen war im hinteren Teil der Wohnung, das Zimmer von mir und meiner Schwester vorne. Wenn die Quartalsprügelei dran war, näherte sich ein Donnergrollen über den langen Flur im hinteren Wohnungsteil bis zum Berliner Zimmer, und wir Schwestern gingen in Deckung. Dann geschah unweigerlich Folgendes: Meine Mutter eilte herbei, schloß ihr Erhardchen in die Arme und machte Guido bittere Vorwürfe, daß er den »kleineren« Bruder so schlimm malträtierte. Dabei war Erhard ungewöhnlich groß und stark für sein Alter und seinem Bruder durchaus gewachsen. Ich kroch dann aus meiner Deckung und versuchte meiner Mutter beizubringen, daß »Erhard angefangen« habe. Da das nicht den geringsten Erfolg hatte, holte ich meinen Vater - der zu Hause arbeitete - und bat ihn um Herstellung der Gerechtigkeit. Mein Vater hatte nämlich einen gewissen juristischen Sinn für Gerechtigkeit, während meine Mutter schlechthin unreflektiert war und sich ihrer »Ungerechtigkeit« gegenüber den Söhnen wohl nie bewußt war. Die Ungerechtigkeit wirkte fort, als beide erwachsen waren. Die schlimmste Szene spielte sich in Freiburg im Winter 1941 ab. Guido hatte 1937 Abitur gemacht, hatte nach einem halben Jahr Arbeitsdienst zwei Jahre beim Militär verbracht, das er haßte. Als der Krieg begann, wäre seine Entlassung fällig gewesen. Statt dessen gehörend zum zweiten voll ausgebildeten Jahrgang - machte er von Anfang an den Krieg in Polen, den Krieg in Frankreich und den in Rußland mit. Zum Wintersemester 1941 erhielt er nach vier Jahren Militär und Krieg ein Semester Studiumsurlaub, ein Semester, das er in Freiburg, wohin meine Eltern verzogen waren und wohin auch ich zum Wintersemester gekommen war, verbrachte, sehr genoß und mit großem Erfolg absolvierte. Erhard hingegen hatte r 9 38 mit 16 Jahren verfrüht Abitur gemacht, war also noch nicht wehrpflichtig, und meine Eltern schickten ihn nach Portugal zu meinem Onkel, der dort Direktor der AEG war. Erst 1941 wurde er eingezogen, da er inzwischen außer Englisch und Französisch auch Spanisch und Portugiesisch beherrschte, kam er nach einer kurzen Grundausbildung zur Dolmetscherkompanie und verbrachte den Krieg in Paris, ohne je an irgendeiner Kampfhandlung teilnehmen zu müssen. Meine Eltern hatten eine kleine Wohnung in Littenweiler, Guido und ich hatten Studentenzimmer zur Untermiete. Zweimal in der Woche und sonntags trafen wir uns zum Mittagessen bei den Eltern.

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So auch an jenem Tag. Nach dem Essen rückte mein Vater Kaffee heraus und machte uns türkischen Mokka - eine seltene Delikatesse. Meine Mutter erhob sich, ging an den Schreibtisch und begann zu schreiben. Guido bat, ob sie nicht für den Kaffee noch mit uns sitzen wolle. Nein, antwortete sie, ich muß an Erhard schreiben. Auf die weitere Bitte, den Brief doch später zu Ende zu schreiben, erklärte sie, sie habe diese Woche erst einmal an Erhard geschrieben, wir sollten diesen Brief gleich zum Briefkasten mitnehmen. Ich sah, daß Guido blaß wurde. Schließlich sagte er: »Mir schreibst Du zweimal im Monat, Erhard offenbar zweimal in der Woche, dabei habe ich doch ein schwereres Leben als er und deshalb mehr Sehnsucht nach Post.« Meine Mutter, vielleicht doch spürend, daß an ihrer Einstellung etwas falsch war, wurde, wie es einem mit schlechtem Gewissen geschehen kann, böse and warf Guido vor, er sei eifersüchtig. Er verließ das Zimmer und das Haus, ich hatte ein schlimmes Gefühl und folgte ihm. An der Trambahnhaltestelle für die Fahrt in die Stadt fand ich ihn. Er, der erwachsene Mann, weinte. Den letzten Urlaub hatte Guido im Herbst 1942, als Erholungsurlaub nach einer schweren Erkrankung an Flecktyphus. Auch Erhard in Paris erhielt Urlaub, damit beide Brüder zusammensein konnten, das gehörte zu den kleinen Konzessionen, um die Soldaten im Krieg bei der Stange zu halten. Selbst in dieser Situation - der eine nach fünf Jahren Militär und schwerer Krankheit, der andere nach einem Jahr durchaus erträglichen Dienstes als Dolmetscher in Paris - zog meine Mutter den Erhard so vor, daß Guido vorzeitig Freiburg und uns verließ und den Rest seines Urlaubs in Darmstadt bei unserer Großmutter, die ihn und die er liebte, verbrachte. Bevor er abfuhr, sprach er mit mir. Er sagte mir, daß er noch nie im Krieg einen Menschen getötet habe und daß er auch in einer Nahkampfsituation, in der es hieße: er oder ich - niemanden töten werde. Er werde deshalb den Krieg vermutlich nicht überleben. So war es. Er wurde bei Orel am 6. März 1943 getötet.

Die Fassade der Normalität In seinem Erinnerungsbuch Abendlicht schildert Stephan Hermlin den Besuch seines englischen Vetters in Berlin im Frühjahr 1933. Sie gingen durch das Tiergartenviertel unter »gutgelaunten, gutgekleideten Menschen«. Der Engländer, Korrespondent einer Londoner

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Zeitung, also gut informiert, nach NS-Kategorien selber ein Halbjude, zeigte erstaunlich viel Verständnis für die neue Zeit, sogar für die Maßnahmen gegen die Juden, die es »mitunter an Takt und Zurückhaltung hatten fehlen lassen«, lobte gar die Zeichen des Aufbaus. Die fröhliche Normalität schien ihm recht zu geben. »Das Furchtbarste war, daß sich nichts geändert hatte, daß das Leben weiter und gleichförmig dahinfloß, während eigentlich alles, bis in die Spiele der Kinder hinein, hätte anders sein müssen«, so Hermelins Kommentar. Diese Normalität in den meisten Bereichen des Lebens und Alltags herrschte nicht nur kurz nach der Machtergreifung, sie herrschte die ganzen sechs Jahre bis zum Krieg. Ich erinnere mich an ein ganz ähnliches Erlebnis im Uahr] 1937. Meine Geschwister und ich verbrachten die Sommerferien ohne Eltern, die zur Kur waren, in Ettal und genossen die Freiheit. Im Hotel logierten drei amerikanische Studenten, vier, fünf Jahre älter als wir und für uns natürlich eine willkommene und interessante Gesellschaft. Wir hatten viel Spaß miteinander und sprachen über alles mögliche - deutsche Schulen und amerikanische Colleges, über die Alpen und die Rocky Mountains, über deutsche und amerikanische Kleidermoden und Eßgewohnheiten. Über Politik sprachen die Amerikaner nicht, ich vermutete, aus Vorsicht. Deshalb benutzte ich die Gelegenheit, als ich einmal allein mit den dreien war, und begann ein >politisches< Gespräch, weniger hochtrabend gesagt: auf die Nazis zu schimpfen. Ich wollte eigentlich den Amerikanern nur beweisen, daß nicht alle Deutschen Nazis waren und daß wir zu den Antinazis gehörten - denn daß sie die Nazis ablehnten und verabscheuten, hielt ich für ganz selbstverständlich. Doch da war ich an die Falschen geraten. Die drei Studenten stauchten mich geradezu zusammen. Sie warfen mir vor, mein Vaterland schlechtzumachen, obwohl doch für jeden anständigen Menschen das right or wrang, my country gelte; sie forderten mich auf, die Augen zu öffnen und um mich zu schauen: am Zeitungsstand seien doch nicht nur deutsche, sondern die wichtigsten französischen, englischen und amerikanischen Zeitungen ausgelegt. Im Kino liefe ein Film aus Hollywood. Die Menschen um uns waren fröhlich und wirkten frei, zufrieden, »nobody looks as if he had been tortured or oppressed«. Und wir hätten doch selbst von unseren Schulen erzählt, die wir gut fänden, und auf denen wir uns wohl fühlten. Auch auf den Universitäten, das wußten sie von deutschen Studenten, hätten auch selbst in beautiful Heidelberg die Nasen ein wenig in die akademische Luft gesteckt, würde ganz normal wissenschaftlich gearbeitet. 30

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Die Brentano-Geschwister, von links nach rechts: Ulla (geb. 1917), Erhard (geb. 1921), Maria Viktoria (geb. 1923), Margherita (geb. 1922), Guido (geb. 1918)

Margherita von Brentano (zweite von rechts stehend) mit ihren Eltern und Geschwistern

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Margherita von Brentano mit ihrem Vater und ihrer Schwester Maria Viktoria

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»Aber immerhin konnten wir uns später aus Mutters Abendkleidern Sommerkleider schneidern, als es nichts zu kaufen gab.« Margherita von Brentano während ihrer Studienzeit in Freiburg

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»Auf jeden Fall sind das wunderschöne Geschichten«

Gespräch mit Susan Hech/er Nachum: Wann schrieb Margherita von Brentano ihre autobiographischen Notizen? Hech/er: 1994, als Margherita schon sehr krank war, haben wir versucht, sie für irgend etwas zu interessieren. Wir haben sie angeregt, über ihre Familie zu schreiben, weil sie damals viel von ihren Eltern und von ihrem Bruder Guido erzählte. Nachum: Was hat sie von ihrer Familie erzählt? Hech/er: Ihr Bruder Guido war offensichtlich derjenige in der Familie, der ihr am nächsten stand und den sie am meisten liebte. Dieser Konflikt zwischen ihm und der Mutter! Für die Mutter war offensichtlich Erhard der Lieblingssohn, und den konnte Margherita offenbar nicht so besonders gut leiden. Margherita ergriff dann immer Partei für Guido und beschrieb dann auch eigentlich immer noch sehr bewegt diese Geschichte, wo er die Mutter bat, doch an den Tisch zu kommen, und sie meinte, nein, sie müßte an Erhard schreiben. Und er ging weg und heulte. Die Geschichte ging ihr dann immer noch nahe. Ihre Schwester [Maria Viktoria] meinte, daß das alles absolut nicht stimmt, was Margherita erzählte, vor allem die Geschichte mit den Ururgroßeltern, die reisende Musikanten gewesen sein sollen. Auf jeden Fall sind das wunderschöne Geschichten. Ob die stimmten, weiß ich aber nicht.

»Mit dem Vater hat man politisch gesprochen«

Gespräch mit Sibylle Haberditzl Nachum: In einem Zeitraum von fünfzehn Jahren, von 1940 bis 1965, haben Sie mit Margherita von Brentano korrespondiert. Der Anlaß des ersten Briefes, den Sie Margherita geschrieben haben, war die Gratulation zu ihrem Abitur. Wann haben Sie Margherita kennengelernt? Haberditzl: Die Vorgeschichte ist folgende: Margherita stammte aus einem sehr katholischen Elternhaus, und ihre Eltern haben sie deshalb in eine Berliner Nonnenschule gegeben. Ab Mitte der dreißiger Jahre wurden alle Klosterschulen sukzessive geschlossen, und 34

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daher kam Margherita in die Sankt-Ursula-Schule in Dahlem, in die auch ich ging. Sie war [zwar] ein Jahr älter als ich, wurde aber trotzdem eine Zeitlang in meine Klasse gesteckt, weil wir als zweite Fremdsprache Latein hatten, und das hatte sie vorher nicht. Aber da sie ja sowieso überall immer die Beste war, hat man sie dann doch in die ihrem Alter entsprechende Klasse gegeben. Jedenfalls kannte ich sie daher und mochte sie auch sehr gerne. Aber dann wurde auch die U rsulinenschule geschlossen, und Margherita kam auf eine Schule in Berlin-W estend. Durch [gemeinsame] bekannte Mädchen, hörte ich dann, daß sie ein Jahr vor mir ganz hervorragend Abitur gemacht hatte. Ich habe einfach [die Gelegenheit] genutzt und ihr einen Gratulationsbrief geschrieben. Nachum: Und dieser Brief lautet folgendermaßen: »Es ist ganz klar, daß Du gar nicht weißt, wer ich bin, denn Du hast in meiner geliebten Sankt-Ursula-[Schule] eine so kurze Gastrolle gespielt, daß unmöglich etwas haftenbleiben konnte. Als Du zu uns kamst, interessierte ich mich sofort brennend für Dich, verliebte mich in Deinen Namen und mochte Dich überhaupt sehr gern. Eigentlich ist das Ganze ja eine seltsame Angelegenheit, denn ich kenne Dich jetzt so wenig, wie ich Dich damals kannte, und vielleicht bist Du ganz anders, als ich mir denke. Wahrscheinlich lächelst Du nur spöttisch über diesen Brief, wie Du das so gerne tust. Das ist nämlich eine der wenigen Beobachtungen, die ich machen konnte ... « Haberditzl: Die Sache war die, daß sie dann keineswegs spöttisch gelächelt hatte, sondern mich gleich anrief, um mich in ihr Elternhaus in der Reichsstraße einzuladen. Nachum: Können Sie etwas über das Verhältnis von Margherita zu ihren Eltern erzählen? Haberditzl: Margherita hat sich [von ihrer Familie] ziemlich distanziert, weil alle sehr konservativ-katholisch waren. Ich war sehr beeindruckt, wie kritisch sie ihre Mutter in ihren autobiographischen Notizen sieht. Mir scheint, daß Margherita mit dem Verhalten ihrer Mutter unzufrieden war, aber so schlimm, wie sie das in ihren Notizen immer wieder erwähnte, daß ihre Mutter so unreflektiert, voller Vorurteile war und überhaupt keine Ahnung hatte, was Argumente sind, war es eigentlich nicht. Margherita hat mir [gegenüber] bedauert, daß ihre Mutter kein Interesse daran habe, ihr schicke oder modische Kleidung zu kaufen. Ihre Mutter war freundlich, aber sie hat durch keinerlei Äußerungen oder durch sonstwas einen besonderen Eindruck hinterlassen. Mit dem Vater hat man politisch gesprochen. Er hat nach dem Tod von Margheritas Mutter

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wieder geheiratet, wobei ich vergessen habe, ob die nun eine Cousine von Vaters Seite oder von Mutters Seite war. Nachum: Sie meinen Agnes von Biegeleben. Haberditzl: Sie war immer nur Tante Agnes. Der Vater ist mit dieser zweiten Frau nach seinem Ruhestand erst mal nach Meran gezogen. Nach ein paar Jahren hat es ihm da wohl nicht mehr gefallen, und dann sind sie nach Garmisch-Partenkirchen gezogen. Nachum: Können Sie noch etwas über Margheritas Schulabschluß sagen? Haberditzl: 1940 hat sie abituriert und war danach für ein halbes Jahr beim Arbeitsdienst. Im Winter 1941/ 42 gab es bei Brentanos größere Sonntagnachmittagstee-Einladungen [mit] zwanzig Leuten. Ich habe auf einer dieser Parties einen sehr reaktionären Österreicher kennengelernt, in den ich mich verknallt habe. Später hörte ich, daß er Margherita einen Heiratsantrag gemacht hatte. Nachum: Hatte Margherita eigentlich viele männliche Bekanntschaften? Haberditzl: Ja. Sie wurde immer umschwärmt. Sie muß von früh an gewußt haben, daß sie, wie wir früher sagten, gewirkt hatte. Aber das war zwischen uns kein Thema. Wir haben nicht ausgetauscht, was wir für Affären oder Liaisons hatten. Nachum: Margherita war sich also ihres Äußeren bewußt. Haberditzl: Dadurch, daß viele Leute auf sie geflogen sind, war sie sehr verwöhnt. Ganz klar, sie sah sehr gut aus. Als junges Mädchen, als junge Frau, war sie wirklich bildschön. Margherita erwähnte einmal, daß sie als junges Mädchen in einem Berliner Fotoatelier fotografiert wurde. Der Fotograf fragte bei ihren Eltern an, ob er ihr Foto für Reklameplakate in der U-Bahn benutzen dürfe. Das wurde natürlich abgelehnt. Nachum: Sie können sich aber an keine längere Beziehung von Margherita mit Männern vor Jacob Taubes erinnern? Haberditzl: Nein. Also entweder sind ihr die Leute nicht begegnet, oder sie hat eben in der Zeit vor Jacob einfach noch keine Lust gehabt, sich auf nun etwas wirklich Echtes einzulassen.

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»Als junges Mädchen, als junge Frau, war sie wirklich bildschön.«

» Der Fotograf fragte bei ihren Eltern an, ob er ihr Foto für Reklameplakate in der U-Bahn benutzen dürfe. Das wurde natürlich abgelehnt.«

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Autobiographische

Obstruktion

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Notizen (1994)

gescheitert

Wie jeder Abiturient wurde ich nach meinem Abitur im Frühjahr 1940 zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Ich kam nach Schwedt an der Oder in ein Lager von ca. 100 »Arbeitsmaiden« -, so hieß das damals. Unter den 100 waren nur zwei Abiturientinnen, das entsprach damals dem Durchschnitt. Wir waren in Baracken mitten im Wald untergebracht. Man schlief in einem Barackenraum mit ca. zwanzig Mädchen in Stockwerksbetten. Der Tageslauf: morgens um halb fünf Uhr Wecken, kurzer Frühsport, dann lief man zur Waschbaracke, dann Anziehen, Bettenmachen und Frühstück.Um Viertel vor sechs fuhr man auf dem Fahrrad zu dem Bauern, bei dem man eingesetzt war. Einmal während des Halbjahres hatte man statt Arbeit beim Bauern Dienst im Lager, Küche, Wäscherei oder Ähnliches. Um zwei Uhr kamen die beim Bauern Arbeitenden zurück ins Lager, eine Stunde schlafen, dann gab es abwechselnd »Politischen Unterricht«, hauswirtschaftlichen Unterricht, Singen, Sport. Dann hatte man Freizeit bis zum Abendessen um sechs Uhr, um halb neun wurde man ins Bett gejagt. Die Lagerführerin hieß Fräulein Pielke und war eine hundertprozentige Nazisse. Ich beschloß, meine antinationalsozialistische Einstellung dadurch zu beweisen, daß ich wo möglich Obstruktion betrieb, um wenigstens in dem kleinen Bereich, in dem ich tätig war, den Endsieg hinauszuzögern. Wie man sehen wird, ging das kläglich schief. Ein Teil meiner Obstruktion bestand darin, daß ich die Mädchen meiner Baracke durch Vorlesen aus möglichst spannenden Büchern möglichst lang wach hielt, damit sie anderntags weniger effektiv arbeiten sollten. Das Vorlesen war ein voller Erfolg, aber nicht im Sinne der Erfinderin. Es machte den Mädchen großen Spaß, und sie haben vermutlich ihre langweilige Arbeit am nächsten Tag mit mehr Elan ausgeführt. Die Hauptobstruktion bestand darin, daß ich alle möglichen Mißstände aufspürte und mich unentwegt, korrekt auf dem vorgeschriebenen Dienstweg, beschwerte. Eine solche Beschwerde hatte die leichtfertige Gefährdung von Gesundheit und Leben einer »Arbeitsmaid« zum Inhalt. Das Mädchen war gestürzt, und ich sah, daß sie aus den Ohren blutete. Im Rotkreuz-Kurs hatte ich gelernt, daß dies ein

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Symptom für Schädelbruch sei; das Mädchen wurde aber bloß für einen Tag in die Krankenbaracke verlegt, dann wieder zum Dienst eingeteilt. Die meisten Beschwerden aber betrafen Fräulein Pielke. Fast jede Woche schickte ich eine Beschwerde über sie los; die meisten habe ich vergessen, die massivste war folgende: Die Dame war mit dem Führer des Organisation-Todt-Lagers verlobt, das in der Nähe ebenfalls in Baracken untergebracht war. Ich fand heraus, daß sie aus den Lebensmitteln unseres Lagers einiges abzweigte und in die Wohnung, die sie mit ihrem Verlobten in Schwedt einrichtete, brachte. Eines Tages bestellte mich Fräulein Pielke zu sich. Mit verbitterter Miene - warum, wurde mir erst später klar - überreichte sie mir ein Schreiben der vorgesetzten RAD-Behörde in Berlin und teilte mir mit, ich möge mich unverzüglich für einen mir gewährten Sonderurlaub nach Berlin verfügen und bei der Dienstelle vorsprechen. Ich fuhr also nach Berlin, genoß den Sonderurlaub und meldete mich mit etwas weichen Knien beim Reichsarbeitsdienstamt, vermutend, daß man meine Obstruktionsabsichten durchschaut habe. Nichts dergleichen: ich wurde von einer nicht mehr jungen Frau empfangen, die, ich kann es nicht anders sagen, einen vernünftigen Eindruck machte. Wie sie im Laufe des Gesprächs mir indirekt zu verstehen gab, war sie Funktionärin der Arbeitsdienstbewegung vor der Nazizeit - die ja keine schlechte Sache war - gewesen und in den NS-Arbeitsdienst übernommen worden. Ob sie meine eigentlichen Absichten bei der Beschwerdeflut ahnte, weiß ich nicht, halte es aber für möglich. Jedenfalls: sie lobte mich ganz ausdrücklich für meine »konstruktiven« Eingaben und versicherte mir, daß in allen Punkten Abhilfe geschaffen werde. Ich fuhr nach Schwedt zurück und fand das Lager verändert vor. Es herrschte ein fröhliches Klima. Warum, wurde mir klar, als ich zur Lagerführerin bestellt wurde. Diese war nicht mehr Fräulein Pielke - was aus ihr geworden war, erfuhr ich nicht -, sondern Fräulein Koopmann: eine außerordentlich sympathische und freundliche junge Frau. Sie begrüßte mich herzlich, deutete mir an, daß sie wisse, ich sei Mitursache für ihre Betreuung mit der Aufgabe, dieses Lager zu führen und zu »reformieren«, und versprach mir, dies zu tun. Der wirkliche Clou der Unterredung: sie teilte mir mit, ich sei von der Teilnahme am politischen Unterricht befreit, da ich ja offensichtlich ein politisch ausreichend gebildeter Mensch sei: ich solle die eingesparte Zeit benutzen, um einen zweiten Chorkreis oder einen Lektürekreis vorzubereiten. 39

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Der Rest der Arbeitsdienstzeit verlief so, daß ich keinerlei Anlaß zu irgendwelcher Obstruktion mehr fand. Das ganze Lager schwärmte für Fräulein Koopmann, was sich auf Arbeit und Freizeit und die allgemeine Atmosphäre höchst positiv auswirkte. Ich hatte meinen Chorkreis, der mir Spaß machte. Es gab eine wohlgelungenes Lagerfest. Fazit: Meine naiven Obstruktionsversuche hatten das Gegenteil bewirkt, statt den Arbeitsdienst zu stören, hatte ich ihn gar reformiert.

Banalität des Naziregimes In den Semesterferien des Sommersemesters 1941, in denen ein Arbeitseinsatz vorgeschrieben war, hatte ich mich für die Arbeit einer T rambahnschaffnerin entschieden; ich fand das interessanter als Fließbandarbeit in einer Fabrik. Wir erhielten eine dreistündige Kurzausbildung, in der wir unter anderem erfuhren, daß der Schaffner in einem Straßenbahnzug die Polizeigewalt ausübt - wie man sehen wird, erwies sich das als nützlich. Ich ließ mich für die Frühschichten einteilen, um möglichst den ganzen Nachmittag für Studium und sonstiges freizuhaben. Meine Strecke führte vom Depot Schöneberg in die nördlichen Fabrikvororte. In diese Zeit fiel die Einführung des Zwangs für Juden, den gelben Stern zu tragen. Ich fuhr an diesem Tag meine übliche Strecke ab 5 Uhr 30 und traute meinen Augen nicht: fast ein Drittel meiner Klienten trug den Stern. Mir hat es nie eingeleuchtet, daß man Juden am Aussehen erkennt, mir fehlt dieser »Kennerblick«. Jedenfalls hatte ich jene Fahrgäste, die ich ja vom Sehen schon kannte, nicht als Juden identifiziert. Ich wußte übrigens damals noch nicht, daß Schöneberg, insbesondere das Bayerische Viertel, bei Juden als Wohnort beliebt war. Der Schock war ein doppelter: da die jüdischen Freunde meiner Eltern und die Eltern meiner Freunde meist der bürgerlichen und Akademikerschicht angehörten und die meisten inzwischen emigriert waren, hatte ich mir die Illusion vorgemacht, daß die meisten Juden den Nazis entkommen seien. Hier nun sah ich durchaus bürgerlichakademisch anmutende Fahrgäste mit Judenstern. Der zweite Schock: die Mehrzahl der jüdischen Fahrgäste war deutlich der Unterschicht zugehörig, und sie sahen ein wenig den bösartigen Karikaturen des Stürmer ähnlich, nur eben ohne deren Bösartigkeit. Ich wußte nicht

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oder hatte nie reflektiert, daß es ein jüdisches Proletariat gab, das in Aussehen und Habitus mit den mir bekannten Juden wenig Ähnlichkeit hatte. Ich bemühte mich, mir weder Mitleid noch allzu großes Erschrecken anmerken zu lassen, war allenfalls ein wenig freundlicher als sonst mit meinen Fahrgästen. Schon das brachte mir zu meiner Beschämung Trinkgelder in Fülle ein, mit Freundlichkeit rechneten die Gelbgesternten bereits nicht mehr. Am zweiten Tag half ich einer alten Dame, die ebenfalls den Stern trug, beim Aussteigen von der hinteren Plattform. Ein Mann, der dort stand, fing an zu schimpfen: »Sehen Sie nicht, daß das eine Jüdin war, wie können Sie der helfen.« Ich antwortete, daß ich verpflichtet sei, älteren und gebrechlichen Fahrgästen behilflich zu sein. Das Antworten war ein Fehler, denn nun geriet der Mann erst in Fahrt und tobte los. Juden seien keine Fahrgäste, sondern Parasiten, und man werde ihnen hoffentlich bald den Gebrauch öffentlicher Verkehrsmittel verbieten. Im Wagen entstand leise Unruhe, und ich spürte, wie mir die Tränen kamen. Das ging zu weit, den Triumph, mich zum Weinen zu bringen, gönnte ich dem Volksgenossen nicht, und so schaltete ich auf Wut um. Ich ersuchte ihn, sofort mit dem Geschimpfe aufzuhören, da dies mir die für den Dienst nötige Konzentration störe. Er schimpfte um so heftiger weiter. Ich erinnerte mich meiner Befugnisse und gab dem Fahrer das Klingelzeichen zum Halten. Der Wagen blieb stehen, es war kurz vor einer Haltestelle. Im Wagen verstummte jegliches Gespräch, und die Fahrgäste blickten, die ohne Stern neugierig, die mit Stern verstohlen, zu uns her. Ich schaute aus der Wagentür ins Freie, der Mann schimpfte weiter auf alle Juden und Judenfreunde. Der W agen stand. Nach einer Weile kam der Fahrer zu uns nach hinten, um zu sehen, was los sei. Ich erklärte ihm, daß mich der Fahrgast durch lautes Schimpfen und Brüllen so irritiere, daß ich für die sichere Ausführung meiner Pflichten nicht garantieren könne. Der Fahrer - ein alter Sozialdemokrat, wie ich von unseren Gesprächen an den Endhaltestellen wußte, wo er mich allerdings weniger mit Politischem als mit obszönen Witzen zu unterhalten suchte - begriff die Situation, nickte und verfügte sich wieder zu seinem Fahrerplatz. Inzwischen war hinter uns ein zweiter Straßenbahnzug zum Halten gekommen, außerdem waren einige Fahrgäste ausgestiegen, einige von der nahen Haltestelle herbeigekommen, um einzusteigen oder auch nur [um zu] sehen, was los sei. Der Mann schimpfte wei-

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ter, ich erklärte ihm, daß er Ruhe geben oder aussteigen müsse, ich würde sonst nicht weiterfahren. Dies ging für fast zehn Minuten so weiter, die Menge wuchs, die Zahl der hinter uns blockierten Straßenbahnen hatte die Drei erreicht. Ein Polizist kam zur Tür und fragte, was los sei. Ich erinnerte ihn, daß ich im Wagen die Polizeigewalt ausübte, er nickte und trollte sich, wollte wohl keine Scherereien haben. Schließlich mußte ich die Affäre beenden und machte meinem Wüterich ein Angebot. Er möge sich die Wagennummer und die Zeit aufschreiben, dann könne er sich bei der BVG [Berliner Verkehrsbetriebe] über mich beschweren. Er zog sein Notizbuch, notierte einiges und stieg aus. Und nun der Clou: nach einem kurzen Überraschungseffekt, denn mit dem einfachen Nachgeben hatte niemand mehr gerechnet, gab es aus dem Wagen offenen Szenenbeifall, dem sich die draußen Stehenden anschlossen: Schließlich klatschte alles im Takt. Ich wunderte mich damals, weil ich vermutet hatte, daß mindestens ein Teil der Fahrgäste doch eher aufseiten des Nazis als auf meiner Seite waren. Später machte ich mir klar: es war nicht die politische Haltung, sondern der sozusagen sportliche Erfolg, dem der Beifall galt. Ich hatte ein kleines Duell gewonnen. Der Vorfall hatte keine Folgen, entweder hat der Mann mich nicht angezeigt, oder die BVG hat die Sache niedergeschlagen.

»Margherita hatte schon immer das Bewußtsein, auf der anderen Seite zu stehen«

Gespräch mit Hella Tiedemann-Bartels Neiman: Sprach Margherita von Brentano mit Ihnen über ihre Jugend im »Dritten Reich«? Tiedemann-Bartels: Margheritas Vater hatte sich 1933 aus seinem Botschaftsdienst verabschieden lassen. Insofern hatte Margherita schon immer das Bewußtsein, auf der anderen Seite zu stehen. Als junge Studentin in Berlin während des »Dritten Reiches« gehörte sie einem inoffiziellen Studentenverein an, der geheime Zeichen hatte. Ihr Vater hatte Angst, daß sie in Kreise geraten könnte, wo sie gefährdet wäre, und um sie aus Berlin rauszuziehen, hat er sie nach Freiburg geschickt.

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N eiman: Mir nannte Margherita einen anderen Grund, warum sie von Berlin wegging. Ihr Vater ahnte, daß wenn der Krieg zu Ende gehen würde, die Russen nach Berlin kommen würden. Er wollte einfach nicht, daß dann seine Frau und seine Töchter in Berlin blieben. Tiedemann-Bartels: Ich hab das immer anders von ihr gehört. Was Sie erzählen, klingt [aber] plausibel.

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2. Studienjahre in Berlin und Freiburg

»Heidegger hat für viele Leute Gedichte gemacht. Für Margherita auch«

Gespräch mit Sibylle Haberditzl Nachum: Margherita von Brentano begann 1940 in Berlin zu studieren, ein Jahr später ging sie nach Freiburg. Haberditzl: Was mir ungeheuer imponiert hat, war die Tatsache, daß sie als erstes oder zweites Semester ins Hauptseminar von Nicolai Hartmann in Berlin kam. Das hat mir deswegen sehr imponiert, weil ich ein oder zwei Jahre später auch versucht habe, ins Seminar von Hartmann zu kommen, was mir aber nicht geglückt ist. Danach ging Margherita nach Freiburg, wo sie natürlich gleich bei Heidegger gewesen ist. Nachum: Wie war das Verhältnis zwischen Heidegger und Margherita von Brentano? Haberditzl: In einer Veröffentlichung standen Gedichte, die Heidegger für Hannah Arendt geschrieben hat. Das habe ich mal Margherita [gegenüber] erwähnt, und da sagte sie so ganz nachlässig: » Ach na ja, das ist kein Kunststück. Er hat für viele Leute Gedichte gemacht. Für mich auch.« Nachum: Ging Margherita von Brentanos Beziehung zu Martin Heidegger über das Akademische hinaus? Haberditzl: Also, sie hat es jedenfalls nie herausgekehrt. Mein Mann, Werner Haberditzl, und ich hatten schon den Eindruck, daß sie viel, sehr viel von Heidegger hielt und daß sie ihm nicht den Rücken kehrte. Seine politischen Mißgriffe haben nicht dazu geführt, daß sie mit ihm Schluß machte.

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»Damals mußte ihr nicht unbedingt klargewesen sein, wie Heidegger sich geäußert hat«

Gespräch mit lrmingard Staeuble Neiman: Erwähnte Margherita von Brentano Heidegger im Zusammenhang mit der Faschismusdebatte? Staeuble: Ich habe sie während meiner Studienzeit öfter auf Heidegger angesprochen. Ich wollte zum Beispiel wissen, was sie von Heideggers Sein und Zeit hält. Da war sie aber unheimlich ausweichend, sie hat das Thema richtig abgeblockt, es war nicht mit ihr darüber zu reden. Später, als wir in kleinen kollegialen Kreisen zusammensaßen, hat sie jedoch gerne Geschichten über Heidegger erzählt. Neiman: Hat sie Ihnen auch erzählt, wie sie Heidegger kennengelernt hat? Staeuble: Ja, sie erzählte es mal. In ihrem ersten Semester in Freiburg bekam sie die Genehmigung, an einem Oberseminar von Heidegger teilzunehmen. In einer Sitzung hat sie das Protokoll übernommen und es geschafft, das Thema der Sitzung knapp auf den Begriff zu bringen. Daraufhin habe sie den Institutsschlüssel gekriegt und war vollkommen anerkanntes Mitglied des Philosophischen Seminars. Neiman: Entstand nicht ein Teil von Margherita von Brentanos Engagement in der Antifaschismusbewegung aus ihrer Auseinandersetzung mit Heidegger? Staeuble: Ja, das ist möglich. Aber sie hatte, vermute ich, in ihrer Studienzeit bei Heidegger gar keine Ahnung von seinen Stellungnahmen von 1933. Neiman: Kann das wahr sein? Wer wußte das nicht? Staeuble: Ja, aber erst nach dem Krieg. Sie hat doch 1942 studiert. Damals mußte ihr nicht unbedingt klargewesen sein, wie Heidegger sich geäußert hat. Beim Südwestfunk hat sie ihr Stück Versöhnungsarbeit geleistet, es ging dabei um die deutsch-französischen Beziehungen.

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»Sie sagte, daß Heidegger ein guter Lehrer gewesen sei«

Gespräch mit Hella Tiedemann-Bartels Neiman: Sprach Margherita von Brentano davon, wer ihre Vorbilder waren? Wer wichtig für sie war? Tiedemann-Bartels: Komisch. Diese Frage habe ich ihr eigentlich nie gestellt, obwohl sie nahegelegen hätte. Sie sagte immer, daß Heidegger ein guter Lehrer gewesen sei, der gute Vorlesungen [hielt] und gut erklären konnte. Er sei pädagogisch und didaktisch, was die Philosophie anbetrifft, gut gewesen. [Margherita] war stolz darauf, daß sie bei Heidegger schon in der ersten Sitzung durch ihr Protokoll aufgefallen ist. Nachum: War das ihr erstes Semester an der Universität? Tiedemann-Bartels: Sie war sicher nicht im ersten Semester, denn sie hatte ja in Berlin zu studieren angefangen. Margherita hat gleich in der ersten Sitzung das Protokoll übernommen. Ich bin nicht sicher, ob nicht Heidegger gemeint hat, sie möge das Protokoll übernehmen. Ihr Stolz war jedenfalls, daß sie die ganze Stunde dasaß, keine Notiz machte und dann doch ein vorzügliches Protokoll abgegeben hat. Heidegger hat ihr, der Neuen, daraufhin gleich den Schlüssel zur Bibliothek gegeben.

»Margherita

hatte überhaupt

nichts Heideggerisierendes«

Gespräch mit Dieter H enrich Nachum: Hatten Sie Gelegenheit, mit Margherita von Brentano über Heidegger zu sprechen? Henrich: Daran erinnere ich mich nicht. Ich war damit beschäftigt, mich gegen Heideggers Einfluß zu wehren, weil viele der Professoren, die damals Meinungsmacht hatten, von Heidegger innerlich abhängig waren. Ich kannte Heidegger auch und fand ihn als Person das Gegenteil von eindrucksvoll, aber - das muß ich jetzt sagen - ich habe meine überwiegend kritischen Urteile auch über sein Denken inzwischen revidiert. Zwar ging er auf rhetorische Effekte aus und verfing sich zudem in Sackgassen, aber er ist dennoch ein großer Philosoph. Margherita hatte überhaupt nichts Heideggerisierendes. Auch kamen in den wenigen philosopischen Gesprä-

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eben, die wir hatten oder in denen ich sie erleben konnte, kaum Heidegger-nahe Motive auf. Neiman: Zum Glück hatte Margherita nichts Heideggerisierendes, vom Stil, vom Wesen, von der Fähigkeit oder Art und Weise zu argumentieren, gehabt. Aber trotzdem, als sie von ihrer Studienzeit bei Heidegger zu sprechen anfing, begann sie zu leuchten. Das habe ich auch bei anderen Heideggerstudenten erlebt. Henrich: Das hätte ich bemerkt und hätte es mir auch gemerkt, wenn Margherita auch bei mir Sympathien für Heidegger betont hätte oder Spuren von Heideggers Rhetorik bei ihr wahrzunehmen gewesen wären. Dann hätte ich sie anders eingeschätzt. Ihre Begeisterung aus ihrer Studienzeit hat sie mir gegenüber wohl verborgen. Ich hatte Heidegger schon Mitte meiner Zwanzigerjahre kritisch rezensiert, das wußte sie sicher. Neiman: Es ist schließlich eine ganze Generation von deutschen Philosophen, die Schüler von Heidegger waren, die aber versucht haben, diesen Einfluß auf irgendeine Weise zu verarbeiten, durch politisches Engagement oder durch politische Reflexion innerhalb der Philosophie. Einerseits war man persönlich von Heidegger beeinflußt, und trotzdem war da andererseits dieses kritische, politische Engagement. Da muß eine ungeheure Spannung gewesen sein. Das sieht man am deutlichsten bei Arendt, die das ja auch im GaußInterview beschrieben hat. H enrich: Mein Lehrer und Mentor Gadamer, dem Heidegger sehr viel bedeutete, sagte ganz glaubwürdig, er habe Heidegger politisch nie ernst genommen, und bemerkte weiter ziemlich wörtlich über ihn: »Politisch völlig unbegabt. Keine Weitsicht. Heidegger hat zweierlei bestimmt nicht gehabt: Geschmack und Weitsicht.« Neiman: Aber Tiefsicht ... Henrich: Ja, heute stimme ich dem zu. Damals spürte ich vor allem seinen Willen, Tiefsinn zu demonstrieren, und sah zudem die Schlußfehler. Aber das ist nun alles eine sehr lange Zeit her und auch eine komplizierte Sache. Ich habe, erst nachdem ich mir überlegte: Wer sagt eigentlich zu bestimmten Themen etwas, woraus du in eigenen Fragen, zu denen du gelangt bist, etwas gewinnen kannst?, meine Meinung über Heidegger geändert, weil ich dann eben immer wieder bemerkte, daß der einzige, auf den ich, wie immer auch kritisch, zurückkommen konnte, Heidegger war. Er sagt es womöglich in einer verstellten Attitüde, aber doch aus einer zu respektierenden und anhaltenden Denkbemühung. Auch vorher habe ich immer seine beachtliche architektonische Kraft anzuerkennen gehabt.

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Neiman: Aber mit Margherita haben Sie nie ausdrücklich über Heidegger gesprochen? Henrich: Es kann durchaus sein. Aber nicht so, daß sich ein Gespräch daraus ergeben hätte. Ich denke, sie hat mich immer ein bißchen skeptisch betrachtet. Das war ja so gegenüber fast allen Leuten, oder? Nachum: Weshalb? Henrich: Na ja, dieser junge Mann, der eine Blitzkarriere macht und hier nun schon begabte Schüler um sich versammelt. Wer weiß schon, was daraus werden wird!? Politisch naiv sind sie wohl alle auch. Ich kann mir ihren Gestus vergegenwärtigen, mit dem sie so eine Meinung andeutete. Sie hatte eine rasche, kurze Handbewegung, etwas mit gebeugtem Rücken zu unterstreichen, in diesem Fall ihre distanzierte Reserve. Ist das richtig? Neiman: Ja, sie hat immer sehr viel mit den Händen gesprochen. Henrich: Das waren sehr schnelle und enge Bewegungen mit den Händen, ganz körpernah hat sie gesprochen. Sie hatte auch meist ein Zischen in ihrer Stimme, was wohl auch ein Symptom von Bedrängnis sein mochte. Sie konnte sehr schnell sprechen, zugewandt zwar irgendwie mit den Augen und verhalten lächelnd, aber doch überwiegend in Beziehung zu sich selbst. Wie zu sich selbst und mit der Bedeutung »das wird ohnedies niemand begreifen« konnte sie dann etwa sagen: »Da wird doch etwas Grundlegendes vergessen, und daran muß ich wohl jetzt schon einmal erinnert haben!« Auch auf der W endediskussion in der Akademie der Künste in Ostberlin während der Endzeit der DDR äußerte sie sich in diesem Gestus.

»Sie hat immer Zurückhaltung bewahrt, vielleicht aus Ehrfurcht ihrem Lehrer gegenüber«

Gespräch mit Michael Theunissen Neiman: Wie äußerte sich Margherita von Brentano über Heidegger? Theunissen: Es ist interessant, daß sich Margherita dieser ganz kurz greifenden Verurteilung ihres Lehrers Heidegger weitgehend entzogen hat. Mir ist immer aufgefallen, daß sie diese Art des Umgangs mit Heidegger nicht mitmachte, obwohl sie alles andere als

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blauäugig war gegenüber der politischen Position von Heidegger. N eiman: Versuchte sie, eine Erklärung für Heideggers politische Haltung zu finden? Theunissen: Daran kann ich mich nicht erinnern. Jetzt im nachhinein, wo Sie danach fragen, wundert mich das eher, daß sie eigentlich keine Erklärung dazu gegeben hat. Ich habe Margherita gegenüber immer gesagt, daß Heideggers Optionen für Hitler 1933 schlimm waren, aber lange nicht so schlimm wie die Art seiner Selbstverteidigung nach I 94 5, wo dann sein ganz persönlicher Irrtum zur Seinsverirrung hochstilisiert wurde wie etwa in dem Spiegel-Gespräch, das sie auch kannte. Aber da hat sie immer Zurückhaltung bewahrt, vielleicht aus Ehrfurcht ihrem Lehrer gegenüber.

27.7.1942 8:oo

Liebe Margherita, [... ] Deinen Klage-Brief darüber, daß Du gezwungenermaßen bei Heidegger bleiben mußt, konnte ich gut verstehen. Mir geht es ja ganz ähnlich, mit Spranger, aber auch mit den andern. Aber ich komme doch mehr und mehr zu der Überzeugung, daß es letzten Endes gleichgültig ist, bei wem man studiert. Es kommt ja doch auf die eigene Begabung, die eigene Lektüre und die eigene Arbeitsleidenschaft an. Und diejenigen, die sich gerade von dem, bei dem sie zufällig hören, beeinflussen lassen, sind oft bloß haltlos. Ich finde es immer so entsetzlich lächerlich, wenn da so ein kleines Jüngelchen in seiner Dissertation die Thesen seines Professors gegen andere Kollegen wiederkäut (das kann man ja oft genug erleben) - wenn er zufällig an den beschimpften Kollegen seines Doktorvaters geraten wäre, wäre die Sache höchstwahrscheinlich umgekehrt gekommen. Gewiß soll man als Student im Anfang jemandes »Schüler« sein - nur so kriegt man »Methode«. Aber man kann doch nicht sein Leben lang bloß Schüler irgendeines Professors sein. Es ist schon ganz gut, wenn man recht bald auf die eigenen Beine gestellt wird (und wenn man auch bloß deshalb selbständig wird, weil man bei seinem derzeitigen Herrn und Meister nichts zu holen zu können glaubt). Deshalb ist es vielleicht doch nicht so schlimm, wenn man bei Leuten studiert, auf die man alle vier Wochen schimpft [ ... ] 49

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Möglichst schnell Schluß mit diesem Brief. Einen ganz herzlichen Gruß kriegst Du nun noch, dann verschwinde ich Gott sei Dank wieder Jo Uoachim Streisand, Berlin]

4.9.1943

Liebe Margherita, Zu Deinem 2 r. Geburtstag sende ich Dir viele herzliche Glückwünsche. Im allgemeinen gilt es als ein denkwürdiger Tag, wenn man die Volljährigkeit erreicht und sozusagen in das Alter hineingerät, in dem man demonstrativerweise auch äußerlich für seine mehr oder weniger erfreulichen Taten verantwortlich ist. Die meisten Leute fühlen sich dann wohl auch von einem plötzlichen Hauch der Selbständigkeit erfüllt. Das war bei Dir ja wohl schon früher der Fall, und man muß im Gegenteil ja sogar die geheime Hoffnung hegen, daß Du mit zunehmendem Alter Dich nun schon eher in solcher Nähe der größeren Weisheit bewegst, die uns unseren eigenen Kopf als eine fragwürdige Einrichtung erscheinen läßt[ ... ] Dein Erhard [Erhard von Brentano, Margheritas Bruder]

Der Reichsgedanke des Nikolaus Cusanus':• Die Aufgabe, die Gedanken des Nikolaus Cusanus über das Reich zu klären, erforderte zwei Stufen der Arbeit. Es mußten die Gedanken aus den in Frage kommenden Schriften des Nikolaus, im wesentlichen der concordantia catholica, herausgestellt und interpretiert werden. Das heißt: es mußte nach dem System oder, um vorsichtiger zu sprechen, nach der einheitlichen Konzeption gesucht werden, in der das Material der einzelnen Begriffe und Lehren, die ja Nikolaus selbst meist der Tradition entnimmt, erst Leben gewinnt. War hier ein Ergebnis erreicht, der Reichsgedanke als Ganzes sichtbar geworden, so mußte bedacht werden, daß Begriffe und Sy-

•· Vorwort zur schriftlichen Arbeit für die wissenschaftliche Prüfung für das höhere Lehramt an höheren Schulen, März 1945

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stem nur im Ganzen eines Denkens als der Art, wie das Wesen des Seienden im Ganzen erfahren wird, leben können. Es war also zu fragen nach der Verwurzelung der Reichsidee in der Grundposition dieses Denkens. Die vorliegende Arbeit versuchte, diese beiden Forderungen zu erfüllen. Für die erste Aufgabe lagen die Schwierigkeiten darin, daß aus einer Schrift mit weiterem Thema ein engeres herausgestellt werden sollte, daß die Schrift selbst in praktischer Absicht geschrieben ist und demgemäß manches Unwesentliche stark in den Vordergrund stellt, daß sie Historisches und Systematisches so eng verknüpft. Die Gefahr war, daß die Reichsidee gewaltsam und mit mehr System, als in der Sache selbst liegt, herausgelöst würde. Die Lösung der zweiten Aufgabe war insofern ein Wagnis, als die concordantia catholica die erste Schrift des erst 3ojährigen ist, daß die grundlegenden philosophischen Werke des Cusaners ja zur Zeit des Basler Konzils noch gar nicht geschrieben waren. Dieses Wagnis schien mir aber möglich zu sein. Denn sosehr in der äußeren (kirchenpolitischen) Haltung des Cusaners ein Bruch vorhanden ist sein Wechsel von der konziliaren zur päpstlichen Partei wurde ihm von Zeitgenossen und Späteren oft genug als Überzeugungslosigkeit angerechnet; dieser Bruch war nun Folge einer konsequenten Anwendung seiner Lehre vom Wesen der Herrschaft, und gar in seinem eigentlichen Denken ist nichts als Entwicklung zu der einen Mitte hin. Das Recht zur angewandten Methode (aus dem Späteren zu interpretieren) aber entspringt aus der Überzeugung, daß die Mitte eines Denkens immer schon früher ist als die »Anfänge«. Eine dritte Aufgabe, die Reichsidee des Cusaners zu untersuchen im Hinblick auf ihre geistesgeschichtliche Stellung, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht mehr gelöst werden, es wurden nur einige Hinweise in dieser Absicht versucht. Eine Bearbeitung dieser Aufgabe würde eine gründliche Quellenkenntnis der großen Überlieferung der Staatslehre und der Reichsidee von der Antike bis zur Neuzeit fordern. Die eigenartige Stellung des Cusaners an einer Zeitenwende würde eine » Einordnung« sehr erschweren. Sein Werk hat in der Tat alle nur möglichen Deutungen erfahren, als mittelalterlich, sogar als scholastisch, als Mystik, als Dokument der Renaissance (Ernst Cassirer), als Dekadenzerscheinung des Verfallsjahrhunderts (Rudolf Stadelmann), als Rationalismus, als Beginn des neuzeitlichen Denkens (Nicolai Hartmann). Die Vielfalt der Klassifikationen zeigt schon, daß sie nicht viel helfen können. Es wurde deshalb hier versucht, ohne dergleichen auszukommen, soweit dies möglich war. p

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Das Gesagte betraf die Methode der Arbeit. Zu bedenken ist darüber hinaus der Sinn einer solchen Arbeit. Wenn wir fragen nach der Reichsidee des Nikolaus Cusanus, so geschieht dies in doppelter Absicht. Klarer als je sehen wir heute, daß die Frage nach dem Wesen der staatlichen Gemeinschaft, in der wir leben, mehr bedeutet als bloß die »theoretische« Frage, daß sie vor vielem anderen zu entscheiden ist. Die staatliche Gemeinschaft, in der wir leben, ist auch für uns Heutige noch das »Reich«. Und dieses heutige Reich ist immer noch, wenn auch vielleicht nur noch durch die Identität des Trägers, des deutschen Volkes, an das Reich des Mittelalters geknüpft. Brennender als je wird uns die Frage: was war dieses deutsche Reich des Mittelalters, das als bewegende Idee so viel beigetragen hat zur Geschichte des Abendlandes, das als Wirklichkeit viele Jahrhunderte dieser Geschichte ausmacht. Eine solche Frage erfordert viele Weisen der Arbeit. Neben aller historischen Erforschung der Tatsachen und Geschehnisse kann sie auch so gestellt werden: Wie spiegelt sich das Reich im Denken eines der großen deutschen Denker wider, eines Deutschen, der in einer Zeit der Krise und des Verfalls dieses Reiches in der geschichtlichen Wirklichkeit die Idee des Reiches mit Leben erfüllte, sie mit großer Kraft des Blickes im ganzen erschaute? Dies müßte sinnvoll sein, wenn die Idee wirklicher wäre als alle »Wirklichkeit«. Und ebenso erwächst diese Aufgabe aus dem Anspruch des Denkens selbst her. Aus der Mitte dieses Denkens mitdenkend fragen wir nach dem Weg, der von dort her zu der »praktischen« Reform als »Gelegenheits«schrift über die Anliegen der Zeit führt, also aus rein theoretischem Interesse für das Denken eines spätmittelalterlichen Philosophen. Aber es könnte sein, daß beide Richtungen des Fragens, recht verstanden, eine einzige wären. Vielleicht stehen das Denken und die geschichtliche »Wirklichkeit« in tieferem Zusammenhang, als wir meinen. Vielleicht ist das Denken selbst das Geschehen vor und in aller Geschichte.

Todtnauberg, d. 8. Oktober 46. Liebes Fräulein v. Brentano! Dieser Verlust ist der schmerzlichste. Diejenigen, die zurückbleiben, müssen sehen, wie sie ihm wahrhaft gemäß bleiben und mit ihm wachsen. Wir sind darin noch unbeholfener, als wir meinen. Aber

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dieser Verlust gerade der Mutter hat über die Jahre hinweg eine sich steigernde Strahlungskraft, auf die wir uns rechtzeitig bereiten müßen. Und ich denke, daß Sie dies vermögen. In der Teilnahme mit Ihnen und den Ihrigen Ihr M. Heidegger Meine Frau schließt sich in teilnehmendem Gedenken an.

Die Bedeutung des >EVAarische, Seite hinüber. Das dort gekaufte Brot, die Kartoffeln und Sonstiges wurden unter ihren Lumpen versteckt, und dann gilt es, auf die gleiche Art zurückzuschlupfen. Meist drückt die polnische Polizei beide Augen zu. ( ... ) Die deutschen Posten benehmen sich recht unterschiedlich, wenn es auch selten vorkommt, daß ein Deutscher dem Kind zulächelt oder es vorsichtig zum Hinausschlüpfen ermutigt. In so einem Fall wird der Mann wohl selbst Kinder haben, und die kleinen Juden erinnern ihn daran. ( ... ) 1 37

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Einmal frage ich ein kleines Mädchen: >Wasmöchtest du sein?Ein Hund, denn die Posten mögen Hunde gern.Gleichist es zu spät.< Mutti stürzte auf mich zu. ( ... ) Sie riß mich aus der Reihe und hat mich wirklich gerettet. Alle [anderen] Kinder wurden mit dem Transport fortgeschafft. ( ... ) Viele Mütter wollten mit ihren Kindern in den Tod gehen, aber man hat es nicht allen erlaubt.( ... ) Ich blieb im Lager, aber ich mußte mir Mühe geben, den Deutschen nicht unter die Augen zu kommen. Auch im Juli entkamen wir wieder einem Transport.( ... ) Um ein Uhr mittags gab es Appell. Der deutsche Lagerkommandant Goeth kam angeritten. Wenn sie ihn nur sahen, zitterten alle vor Angst. Wenn er kam, gab es immer Opfer. Er war ein hübscher Mann, aber ein Mörder. 138

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Am 21. Oktober konnte uns nichts mehr helfen. Wir kamen nach Auschwitz. Dichtgedrängt und halb erstickt fuhren wir in geschlossenen Waggons. Als wir abends in Auschwitz ankamen, trieb man uns nach Birkenau. Schon von weitem sahen wir den Himmel rot wie bei einem Brand. Daß Menschen so brennen sollten, konnten wir uns alle nicht vorstellen, obwohl wir schon viel erlebt hatten. Nachts saßen wir in einem großen Saal. Es war so schrecklich, daß ich es nicht beschreiben kann. Mutti preßte mich an sich und flüsterte, ich solle mich nicht fürchten, denn Gott würde uns bestimmt so erretten wie bisher. Ich wollte sie nicht traurig machen und tat so, als wenn ich keine Angst hätte. In Wirklichkeit zitterte ich am ganzen Leibe vor Angst. Man gab uns kein Essen, aber wir hatten auch keinen Hunger. Weshalb sollten wir essen, wenn wir doch sterben mußten. Dann sortierte man uns aus. In der Tür stand Dr. Mengele und bestimmte, wer leben und wer sterben sollte. Mutti flehte eine tschechische Aufseherin an, mich nicht zu verraten, als ich mich unter einem Haufen Kleider in der Saalecke versteckte. Länger als zwei Stunden blieb ich dort liegen. Als Mutti mich endlich herauszog, war ich schon halb erstickt, aber ich lebte und war bei Mutti. Dann wurden uns die Köpfe rasiert und Nummern eintätowiert. Ich bekam die Nummer A 26 089. Es hieß, es sei gut, wenn man überhaupt eine Nummer bekäme, dann wäre man fast gerettet. Aber leider wurden Kinder immer wieder herausgesucht und kamen in den Ofen. So ging es bis zum 5. Januar 194 5. Dann wurde das Lager evakuiert. Wir wurden in großer Eile zu Fuß davongetrieben. Sicher waren die Russen schon nahe, sonst hätten es die Deutschen nicht so eilig gehabt. Blieb jemand stehen, um den Schnürsenkel zu binden oder auszuruhen, dann schossen sie. Nach zwei Tagen verlud man uns in offene Waggons. In Neustadt trieb man uns in einen Pferdestall. Wir bekamen keine Decken und kein Wasser zum Waschen. Ich wollte am liebsten sterben, aber Mutti redete mir gut zu. Alle hatten Typhus und Durchfall, und viele starben. Bis zum 2. Mai wurden wir immer weniger. Dann sperrten sie unseren Block [ein], nagelten Türen und Fenster mit Brettern zu, und alle dachten, man würde uns in die Luft sprengen oder verbrennen. Sie haben es aber wohl nicht mehr geschafft, weil die Amerikaner kamen und uns befreiten. Wir bekamen Essen und Schokolade, und endlich begriff ich, daß der Krieg zu Ende war ( ... ) Jetzt bin ich in Zakopane im Internat und gehe zur Schule. Ich möchte die Lager gern vergessen, 1 39

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aber das kann ich nicht, weil andere Kinder, die auch so etwas erlebt haben, immer davon reden.« Sprecher: Manche Kinder konnten sich retten, indem sie »untertauchten«, das heißt, unter falschem Namen in den »arischen« Stadtteilen oder in den Dörfern lebten, wo sie sich mit Betteln oder mit Gelegenheitsarbeiten durchschlugen. Viel Mut und viel Glück gehörten dazu, denn sie waren ja ständig in der Gefahr, von jemandem als Juden erkannt oder von der Polizei aufgegriffen zu werden. - Der 13jährige Josef Leichter erzählte nach Kriegsende, wie er drei Jahre lang auf solche Weise lebte: Josef Leichter: »Es ging uns immer schlechter. Wir lebten dauernd in Angst, denn die Deutschen kamen oft ins Dorf, um uns zu prüfen und zu berauben.( ... ) In der Nacht zum 1. August 1942 benachrichtigte der Gemeindebote alle Juden, sie sollten sich bereithalten, denn am nächsten Tag würden sie ins Ghetto Lancut geschafft werden. Wir und viele andere flüchteten. Wir lebten im Wald. Unser Vater ging nachts ins Dorf, um Essen zu holen. Ein paar Tage später erfuhr er, daß die Polizei den Wald durchkämmen wollte, und alle erwischten Juden auf der Stelle erschossen werden sollten. Unser Vater beschloß deswegen, jeder von uns sollte in eine andere Richtung gehen. Mein älterer Bruder David und ich gingen in ein fremdes Dorf, Krasne. Wir fanden Arbeit. Nach drei Wochen kam ein Polizeibeamter und verlangte unsere Papiere. Wir flüchteten noch am selben Tage. Endlich erreichten wir das Dorf Nowy Borok. Hier erkannte uns schon der erste Bauer als Juden und erzählte, daß eine Frau mit Kind nach zwei Jungen suche. Wir hofften, das könne unsere Mutter sein. Von Haus zu Haus fragten wir und fanden gegen Mittag unsere Mutter bei einem Bauern, der sie als Dienstmagd angestellt hatte. Vor Freude, uns wiederzuhaben, konnte Mutter zuerst kaum sprechen. Mutter wußte nichts von Vater und dem älteren Bruder. Sie gab uns zu essen, und wir konnten nachts bei ihr schlafen. Am Morgen sagte jedoch der Bauer, daß er Angst hätte, auch uns noch im Hause zu behalten, denn er vermute, wir seien Juden. Ich machte mich also mit meinem Bruder auf die Arbeitssuche. Meistens erkannten die Leute gleich, daß wir Juden sind, und trieben uns fort. Später trafen wir mit Mutter zusammen, die der Bauer fortgejagt hatte, weil er Angst hatte, Juden bei sich aufzunehmen. Wir machten uns zu viert auf die Wanderschaft und erreichten das Dorf Kielnarowa, wo Mutter und Bruder Arbeit fanden. Ich konnte als Hirtenjunge bei dem Bauern Predki bleiben. Drei Monate arbeitete ich 140

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dort, dann jagte er mich fort, weil andere Bauern ihm damit in den 0 hren lagen, daß Todesstrafe auf das Verstecken von Juden stehe. Auch der nächste Bauer schickte mich nach einem Monat wieder fort, weil er Angst hatte, einen Juden zu behalten. Zwei Wochen bettelte ich und fand keine Arbeit. Auf Arbeitssuche kam ich dann ins Dorf N owy Borek, wo ich beim Bauern Jan T rojanowski Arbeit fand. Bei ihm hütete ich anderthalb Jahre die Kühe und verrichtete die Hausarbeit. Eines Tages kam mein Bauer heim und berichtete, daß ein Bekannter aus einem anderen Dorf ihm erzählt habe, ich sei Jude. Abends wurde mein Bauer zum Dorfschulzen gerufen. Ich legte mich schlafen und tat, als schliefe ich wirklich, wollte aber wach bleiben, um zu erfahren, was man über mich beschlossen hatte. Spät in der Nacht kam mein Bauer heim und erzählte seiner Mutter, ich sei Jude, daß er mich aber trotzdem behalten wolle, weil ich fleißig sei und ihm der Schulze außerdem den Rat gegeben hatte, mich ruhig weiter zu verstecken. Ich durfte also weiter bei T rojanowski arbeiten. ( ... ) Mein Bauer und seine Mutter waren sehr gut zu mir. Sie wollten mich vor dem Untergang bewahren und nicht dulden, daß ich im Lande herumirrte.( ... ) Monatelang hörte ich von Mutter und dem ältesten Bruder nichts, auch wo Vater und der ältere Bruder lebten, wußte ich nicht. Wenn niemand mich sehen konnte, weinte ich, weil ich solche Sehnsucht nach allen hatte. Während der Ernte 1944 kamen die Russen. Am gleichen Tag kam meine Mutter und erzählte, daß auch mein Bruder David am Leben sei. Über Vater und den ältesten Bruder wußte sie nichts. Aber sie machte sich gleich auf den Weg nach unserem Heimatdorf, um das Schicksal unseres Vaters und unserer V erwandten zu erfahren. Ich blieb noch bei Trojanowski im Dienst. Nach einem Monat endlich kam meine Mutter zurück und berichtete, daß Vater und der älteste Bruder nicht mehr lebten.« Sprecher: Ein ähnliches Schicksal wie Josef Leichter hatte der junge Ukrainer Jan Kulbinger. Er berichtete: Jan Kulbinger: »Als die Deutschen einmarschierten, gaben sie den Ukrainern einen Tag für die Judenverfolgung frei. Eine Nachbarin, die später Volksdeutsche wurde, versteckte uns. Aber ich brauchte mich nicht zu verstecken, denn ich sehe gar nicht jüdisch aus. Später wurden ein Judenrat und auch eine jüdische Polizei gebildet. Tausende von Familien wurden fortgeschleppt. In unserer Stadt Drohobycz wurde ein geschlossenes Lager errichtet, wo Juden Dachziegel fabrizieren mußten. Auch meine beiden Schwestern kamen dorthin. Meine Mutter erwischte man bei einer ,AktionArierganz klar, das steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir., Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn roo Leichen beisammen liegen, wenn 500 da liegen oder wenn rooo da liegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte ... « 1. Sprecher: So also sprachen die Mörder. Und die Opfer -was empfanden sie? Wir wissen es kaum, nur einzelne, zufällige Zeugnisse sind uns erhalten. In der Stadt Kowel in Wolhynien wurden nach dem deutschen Einmarsch ro ooo Juden zusammengetrieben und in die Synagoge gesperrt. Einige ließ man gruppenweise herauskommen, um sie draußen zu erschießen. Dann wurde die Synagoge verschlossen und in Brand gesetzt. Nur eine Frau entkam, sie wurde wahnsinnig. Auf den Trümmern der Synagoge fand man später Botschaften in jiddischer Sprache, einige mit Blut geschrieben: Sprecherin (Und die Flamme, S. 463): »Alle Tore öffnen sich. Da sind unsere Mörder. Schwarz gekleidet. An ihren schmutzigen Händen tragen sie weiße Handschuhe. Paarweise jagen sie uns aus der Synagoge. Liebe Schwestern und Brüder, wie schwer ist es, vom schö1 54

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nen Leben Abschied zu nehmen. Die Ihr am Leben bleibt, vergeßt nie unsere unschuldige, kleine jüdische Straße. Schwestern und Brüder, rächt uns an unseren Mördern. Esther Srul.« Sprecherin (Und die Flamme, S. 464): »Ruwen Atlas, wisse, daß Deine Frau Gina und Dein Sohn Imus ermordet wurden. Unser Sohn weinte bitterlich, er wollte nicht sterben. Zieh in den Krieg und räche Deine Frau und Deinen einzigen Sohn. Man führt uns in den Tod, und wir sind unschuldig. Gina Atlas.« Sprecher (Und die Flamme, S. 464): »Schalom! Grüße von den Kameraden der Hechalutz, die in den Tod gehen. Wir sind unserem Ideal bis zum Tod treu geblieben. Rache! Rächt unser vergossenes Blut.« (Unbekannte) I. Sprecher: Es gab viele unter den Opfern, deren letzte Äußerungen nicht einmal solche der Anklage waren. Augenzeugen berichten, daß die Menschen schwiegen oder aber daß sie beteten, die uralten Psalmenworte sprachen oder sangen, wenn sie in den Tod gingen. Ein jüdisches Gebet aus einem Konzentrationslager ist uns erhalten. Es mag diesen Bericht über die Judenverfolgung im »Dritten Reich« beschließen: 4. Sprecher: »Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden von Strafe und Züchtigung. Aller Maßstäbe spotten die Greueltaten; sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft, und der Blutzeugen sind gar zu viele. Darum, o Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden. ( ... ) Schreibe vielmehr allen Henkern und Angebern und Verrätern und allen schlechten Menschen zu und rechne ihnen an: All den Mut und die Seelenkraft der anderen, ihr Sichbescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen bei allem, die Hoffnung, die sich nicht besiegt gab, und das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen ließ, und alle Liebe und alle Opfer.( ... ) Und für die Erinnerung unserer Feinde sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein, nicht mehr ihr Alpdruck und Gespensterschreck, vielmehr ihre Hilfe, daß sie von der Raserei ablassen. Nur das heischt man ihnen, und daß wir, wenn alles vorbei ist, wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen und wieder Friede werde auf dieser armen Erde über den Menschen guten Willens, und daß der Friede auch über die anderen komme.«

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Dokumente zur »Endlösung« (2. Sendung)* I.

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Sprecher: 9. November 1938. In ganz Deutschland herrscht der Terror. Häuser und Läden werden demoliert. Synagogen brennen. Menschen werden mißhandelt und erschlagen. Die Polizei ist alarmiert. Aber sie schützt die Rechtsbrecher, nicht die Opfer. Denn die Opfer sind ja Juden. IO. November. In den Dienststellen das SA herrscht Hochbetrieb. Ferngespräche, Kuriermeldungen gehen ein: Sprecher (PIW S. 349-350): »SA-Brigade 50, Darmstadt, an SAGruppe, Kurpfalz: Ich melde hiermit, es wurden zerstört im Bereich der Standarte 1 r 5 Synagoge in Darmstadt, Bleichstraße, durch Brand zerstört, Synagoge in Darmstadt, Fuchsstraße, durch Brand zerstört, Synagoge in Ober-Ramstadt, Innenraum und Einrichtung zertrümmert, Synagoge in Gräfenhausen, Innenraum und Einrichtung zertrümmert, Synagoge in Griesheim, Einrichtung zertrümmert, Synagoge in Eberstadt, durch Brand zerstört,( ... ) Synagoge in Heppenheim, durch Brand und Sprengung zerstört ... «

'' Reihe: »Die Judenverfolgungen im Dritten Reich«; gesendet: Südwestfunk, Juli 1957 und März 1958; Radio Bremen, November I 958. Sprecher: 1. Sprecher (Chronist) für den fortlaufenden Text, 2. Sprecher für die neutraleren Dokumente, 3. Sprecher für die proklamatorischen Nazi-Texte, 4- Sprecher, 5. Sprecher für die jüdischen Dokumente, 6. Sprecherin. Die Dokumente Leon Poliakov/Josef Wulf: Das Dritte sind entnommen aus: r. (P/W Reich und die Juden. [Dokumente und Aufsätze], arani Verlags-GmbH, Berlin-Grunewald, 1955 (Dabei jeweils die Kennziffer angegeben, unter der die betreffenden Dokumente beim I.M.G. [Internationaler Militärgerichtshof] Nürnberg archiviert sind). 2. Und die Flamme soll euch nicht versengen. letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand [mit einem Vorwort von Thomas Mann] Sammelband, hrsg. von Piero Malvezzi und Giovanni Pirelli. Steinberg-Verlag, Zürich 1955. 3. John Hersey, Der Wall. Diana-Verlag, Baden-Baden 1951. 4. Du hast mich heimgesucht bei Nacht [Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 19331945], Sammelband, hrsg. von H[elmut] Gollwitzer, K[äthe] Kuhn und R[einhold] Schneider. Chr. Kaiser Verlag, München, [1959). [Dieses Manuskript wurde anhand der Unterlagen, die sich im Nachlass von Margherita von Brentano befinden, nachkonstruiert. Jene Passagen, die mit denen der ersten Sendung zum Thema »Dokumente zur ,Endlösung«< identisch sind, wurden hier ausgelassen.]

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3. Sprecher: »Fernmündlicher Anruf der Brigade 151, Saarbrücken, durch Sturmhauptführer Rassel, Vormittag 9. 1 5 Uhr: Heute nacht wurde die Synagoge in Saarbrücken in Brand gesteckt, ebenso wurden die Synagogen in Dillingen, Merzig, Saarlautern, Saarwillingen und Broddorf zerstört. - Die Juden wurden in Schutzhaft genommen. - Die Feuerwehren sind mit Löscharbeiten beschäftigt. - Im Bereich der Standarte 17 4 wurden sämtliche Synagogen zerstört. Abgenommen: Zimmermann, Standartenführer.« 2. Sprecher: »Fernmündliche Meldung der Standarte 17 durch Sturmbannführer Then, vormittags 10.30 Uhr: Die Synagogen in Ludwigshafen und Frankenthal sind heute morgen in der Zeit von 7 bis 8 Uhr vollkommen niedergebrannt. Verschiedene jüdische Geschäfte wurden demoliert. Abgenommen: Zimmermann, Standartenführer.« [ ...] 1. Sprecher:: 12. November. Beim Ministerpräsidenten Göring findet eine Besprechung statt. Thema: die Judenfrage. Die Berichterstattung hat Goebbels übernommen. Gestapochef Heydrich ist anwesend. Goebbels (P/W S. 346-348, Dokument PS-1816): »[Ich komme zu Punkt] 2. Es sind fast in allen deutschen Städten Synagogen niedergebrannt. Nun ergeben sich für die Plätze, auf denen die Synagogen gestanden haben, die vielfältigsten Verwendungsmöglichkeiten ( ...) Göring: Wie viele Synagogen sind tatsächlich niedergebrannt? Heydrich: Es sind im ganzen 101 Synagogen durch Brand zerstört, 76 Synagogen demoliert, 7500 zerstörte Geschäfte im Reich.( ... ) Goebbels: Ich bin der Meinung, daß das der Anlaß sein muß, die Synagogen aufzulösen. Alle, die nicht mehr vollkommen intakt sind, müssen von den Juden niedergelegt werden. Die Juden müssen das bezahlen ( ... ) [Nun zu] Punkt 3: Ich halte es für notwendig, jetzt eine Verordnung herauszugeben, daß den Juden verboten wird, deutsche Theater, Kinotheater und Zirkusse zu besuchen.( ... ) Ich bin der Meinung, daß es nicht möglich ist, Juden neben Deutsche in Varietes, Kinos oder Theater hineinzusetzen. ( ... ) Weiterhin halte ich es für notwendig, daß die Juden überall da aus der Öffentlichkeit herausgezogen werden, wo sie provokativ wirken. Es ist z.B. heute noch möglich, daß ein Jude mit einem Deutschen ein gemeinsames Schlafwagenabteil benutzt. Es muß also ein Erlaß des Reichsverkehrsministers herauskommen, daß die Juden 157

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keinen Anspruch auf Platz haben und daß, ( ... ) wenn kein Platz ist, die Juden draußen im Flur zu stehen haben. Göring: Da finde ich es vernünftiger, daß man ihnen eigene Abteile gibt. Goebbels: Aber nicht, wenn der Zug überfüllt ist.( ... ) Göring: Das würde ich gar nicht extra einzeln fassen, sondern ich würde den Juden einen Wagen oder ein Abteil geben. Und wenn es wirklich jemals so wäre, wie Sie sagen, daß der Zug sonst überfüllt ist, glauben Sie: das machen wir so, da brauche ich kein Gesetz. Da wird er herausgeschmissen, und wenn er alleine auf dem Lokus sitzt während der ganzen Fahrt.( ... ) Goebbels: Dann muß eine Verordnung herauskommen, daß es den Juden verboten ist, deutsche Bäder, Strandbäder und deutsche Erholungsstätten zu besuchen. ( ... ) Es wäre zu überlegen, ob es nicht notwendig ist, den Juden das Betreten des deutschen Waldes zu verbieten. Heute laufen Juden rudelweise im Grunewald herum. Das ist ein dauerndes Provozieren.( ... ) Göring: Also, wir werden den Juden einen gewissen Waldteil zur Verfügung stellen, und Alpers wird dafür sorgen, daß die verschiedenen Tiere, die den Juden verdammt ähnlich sehen - der Elch hat ja so eine gebogene Nase-, dahin kommen und sich da einbürgern. ( ...) Goebbels: Als letztes wäre noch folgendes vorzutragen. Es besteht tatsächlich heute noch der Zustand, daß jüdische Kinder in deutsche Schulen gehen. Das halte ich für unmöglich. Ich halte das für ausgeschlossen, daß mein Junge neben einem Juden im deutschen Gymnasium sitzt und deutschen Geschichtsunterricht erteilt bekommt ... « r. Sprecher:[ ... ] Wir haben dokumentarische Berichte darüber, wie es in den Lagern zuging. Einer der ausführlichsten ist der Bericht Kurt Gersteins. Gerstein, von Beruf Ingenieur, war ein Gegner des Nationalsozialismus. Als er von der Ermordung der Geisteskranken und der Juden hörte, beschloß er, sich mit eigenen Augen von diesen Dingen zu vergewissern. Er sah keinen anderen Weg als den, selber in die SS einzutreten, um dann in sozusagen »amtlicher« Eigenschaft Zutritt zu den Lagern zu erlangen. Dieses gelang ihm. Im August I 942 wurde er als SS-Sanitätsoffizier mit einem dienstlichen Auftrag in das Lager Belzec geschickt. Bei dieser Gelegenheit wurde er aufgefordert, eine der Sonderaktionen zu besichtigen. In seinem Bericht schreibt er darüber: 158

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4. Sprecher (P/W S. 106-110):

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Am anderen Morgen kurz vor sieben kündigt man mir an: In zehn Minuten kommt der erste Transport! - Tatsächlich kam nach einigen Minuten der erste Zug von Lemberg aus an. 45 Waggons mit 6700 Menschen, von denen 1450 schon tot waren bei der Ankunft. Hinter den vergitterten Luken schauten, entsetzlich bleich und ängstlich, Kinder durch, die Augen voller Todesangst.( ... ) Der Zug fährt ein: 200 Ukrainer reißen die Türen auf und peitschen die Leute mit ihren Lederpeitschen aus den Waggons heraus. Ein großer Lautsprecher gibt die weiteren Anweisungen: sich ganz ausziehen, auch Prothesen, Brillen usw. Die Wertsachen am Schalter abgeben ( ... ) Dann die Frauen und Mädchen zum Friseur, der mit zwei, drei Scherenschlägen die Haare abschneidet und sie in Kartoffelsäcken verschwinden läßt. ,Das ist für irgendwelche Spezialzwecke für die U -Boote bestimmt, für Dichtungen oder dergleichen!Espassiert Euch nicht das geringste! Ihr müßt nur in den Kammern tief Atem holen, das weitet die Lungen, diese Inhalation ist notwendig wegen der Krankheiten und Seuchen.< ( ... ) Für einige von diesen Armen ein kleiner Hoffnungsschimmer, der ausreicht, daß sie ohne Widerstand die paar Schritte zu den Kammern gehen -, die Mehrzahl weiß Bescheid, der Geruch kündet ihnen ihr Los! So steigen sie die Treppe herauf, und dann sehen sie alles. ( ... ) Sie zögern, aber sie treten in die Todeskammern, von den anderen hinter ihnen vorgetrieben oder von den Lederpeitschen der SS getrieben. Die Mehrzahl ohne ein Wort zu sagen. Eine Jüdin von etwa 40 Jahren, mit flammenden Augen, ruft: Das Blut, das hier vergossen wird, über die Mörder. Sie erhält fünf oder sechs Schläge mit der Reitpeitsche ins Gesicht, vom Hauptmann Wirth persönlich, dann verschwindet auch sie in der Kammer. Viele Menschen beten. ( ... ) Die Kammern füllen sich. Gut vollpacken, so hat es der Hauptmann Wirth befohlen. Die Menschen stehen einander auf den Füßen. 700 bis 800 auf 25 Quadratmetern.( ... ) Die SS zwängt sie physisch zusammen, soweit es überhaupt geht. Die Türen schließen sich. Währenddessen warten die anderen draußen im Freien nackt. » •.•

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Man sagt mir: ,Auch im Winter genau so!FreiheitNatur< des Menschen ist der Humanismus verschieden« (Heidegger). So verschieden, daß außer der formalen und tautologischen Aussage, human sei, was den Menschen zum Menschen macht, keine Gemeinsamkeit mehr zu finden ist. [ ...]

* Vortrag vom 28. April 1962 an der Evangelischen Akademie Berlin

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Idealismus [Nach] Eisler ist der Idealismus eine Weltanschauung, nach der die absolute Wirklichkeit Natur ist - Idee, Urgedanke, Vernunft, Geist, Bewußtsein. Lalande [meint, er wäre] eine philosophische Tendenz, die alles Seiende auf das Denken (im weitesten Sinne) zurückführt. Und Eisler [betonte, daß] die Außenwelt als Erscheinung oder Entfaltung eines geistigen Seins, eines universalen Bewußtseins gilt. Den Idealismus als Lehre finden wir zuerst bei Platon ausgeprägt. [Das] Wort findet sich Ende des I 7. Jahrhunderts, soweit ich sehe, zuerst [bei Leibniz]: Er spricht von den Lehren Epikurs und Platons [als] »der größten Materialisten und der größten Idealisten« (Erdmann I 86a, Replique aBayle ). Platon selbst spricht von »oi tön eidön philoi.« (Sophistes 247d). Aristoteles meint: »Jene, die Ideen annehmen ... « An einer berühmten Stelle des Sophistes spricht Platon von denen, die sagen wollen, »was das Seiende ist«. Unter ihnen herrscht »ein Gigantenkampf wegen ihrer Uneinigkeit über das Wesen.« »Fremder: Zwischen diesen scheint mir nun ein wahrer Gigantenkrieg zu sein wegen ihrer Uneinigkeit über das Sein. Theaitetos: Wie das? Fremder: Die einen ziehen alles aus dem Himmel und dem Unsichtbaren auf die Erde herab, mit ihren Händen buchstäblich Felsen und Eichen umklammernd. Denn an dergleichen alles halten sie sich und behaupten, das allein sei, woran man sich stoßen und was man betasten könne, indem sie Körper und Sein für einerlei erklären; und wenn von den anderen einer sagt, es sei auch etwas, was keinen Leib habe, achten sie darauf ganz und gar nicht und wollen nichts anderes hören. Theaitetos: Ja, arge Leute sind das, von denen du da sprichst, und ich bin auch schon auf mehrere solche getroffen. Fremder: Daher auch die gegen sie Streitenden sich gar vorsichtig von oben herab aus dem Unsichtbaren verteidigen und behaupten, gewisse undenkbare unkörperliche Ideen wären das wahre Sein; jener ihrer Körper aber, und was sie das Wahre nennen, stoßen sie ganz klein in ihren Reden und schreiben ihnen statt des Seins nur bewegliches Werden zu. Zwischen ihnen aber, o Theaitetos, ist hierüber ein unermeßliches Schlachtgetümmel immerwährend.«

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VORTRÄGE

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VORLESUNGEN

Aristoteles über die Lehre Platons (Metaphysik, 16, 987 a32): »Da er [Platon] nämlich von Jugend auf mit dem Kratylos und den Ansichten des Herakleitos bekannt geworden war, daß alles Sinnliche im beständigem Flusse sei, und daß es keine Wissenschaft davon gebe, so blieb er auch später bei dieser Annahme. Und da sich Sokrates mit den ethischen Gegenständen beschäftigte und gar nicht mit der gesamten Natur, in jenen aber das Allgemeine suchte und sein Nachdenken zuerst auf Definitionen richtete, brachte dies den Platon ( ... ) zu der Annahme, daß die Definition auf etwas von dem Sinnlichen Verschiedenes gehe; denn unmöglich könne es eine allgemeine Definition von einem sinnlichen Gegenstande geben, da diese sich in beständiger Veränderung befänden«. Was nun von dem Seienden von solcher Art war, nannte er Idee; das Sinnliche aber sei neben diesen und werde nach ihnen benannt; denn durch Teilhabe an den Ideen existiere die Vielheit des den Ideen Gleichnamigen.« In der Metaphysik setzt sich Aristoteles kritisch mit der Ideenlehre auseinander, bringt eine Anzahl von Einwänden (zwanzig nach William David Ross) unter denen sich neben solchen, die speziell auf Platons besondere Lehre zugeschnitten sind, auch einige »klassische« Argumente finden: I. Ideen sollen Ursache, [d. h.] Erklärung der sinnlichen Dinge sein. Aber sie verdoppeln nur die Innenwelt. 2. Das Argument des tritos anthropos (Insofern Sokrates Mensch ist ... ). 3. Wenn die Ideen nicht in den Dingen sind, können sie weder die Erkenntnis noch das Sein der Dinge erklären. Zu diesem Zwecke aber werden sie angenommen. 4. Die Ideen sind ewig, unveränderlich und unbewegt. Wie können sie dann Ursache der Dinge sein? 5. [Sein] Haupteinwand [ist, daß], obwohl doch die Philosophie nach den Ursachen dessen, was phaneron, offen vor Augen liegt, sucht, haben wir (wenn [wir] Ideen annehmen) dies aufgegeben. 6. Da die Ideen die Bewegung nicht erklären (und da alles von Natur aus Seiende offensichtlich in Bewegung ist), wird durch die Ideenlehre »die ganze Untersuchung der Natur aufgehoben«. 7. Die Erkenntnis der Ideen ist unsinnlich, [a]ber die Sinnendinge können wir nicht ohne sinnliche Wahrnehmung erkennen. Also entfällt das Argument der Erkenntnis. Im 18. Jahrhundert wurde [der Idealismus] meist in einem engen Sinne gebraucht, für solche Lehren, die nur den Vorstellungen, 325

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Wahrnehmungen [und] Ideen Existenz zukommen [lassen], nicht aber den Gegenständen der Vorstellungen. Vor allem [wurde der Idealismus] etwa zur Kennzeichnung der Lehre Berkeleys gebraucht. [Eine] typische [Idealismus- ]Definition ist die von Alexander Gottlieb Baumgarten: »Solos in hoc mundo spiritus admittens est idealista. « Kant: »Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine anderen als denkende Wesen gäbe, die übrigen Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der Tat kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand korrespondiert.« (Prolegomena IJ, 43f). Zwischen diesem I[dealismus] im engsten Sinne und dem o[ben] genannten weiteren [liegen] zahlreiche Spielarten. Kant unterscheidet etwa den dogmatischen Idealismus, der das Dasein der Materie leugnet, und den empirischen, skeptischen Idealismus (problematisch), der »nur nicht einräumt, daß es durch unmittelbare Wahrnehmung erkannt werde, daraus aber schließt, daß wir ihrer Wirklichkeit durch alle mögliche Erfahrung niemals völlig gewiß werden können«. (Kritik der reinen Vernunft A369) [Er meint zum] kritischen oder transzendentalen Idealismus: »Ich verstehe aber unter dem transzendentalen Idealismus aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen, und nicht als Dinge an sich selbst, ansehen, und demgemäß Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber für sich gegebene Bestimmungen, oder Bedingungen der Objekte, als Dinge an sich selbst sind. ( ... ) Der transzendentale Idealist kann ( ... ) ein empirischer Realist sein, mithin, wie man ihn nennt, ein Dualist sein, d. i., die Existenz der Materie einräumen, ohne aus dem bloßen Selbstbewußtsein hinauszugehen, und etwas mehr, als die Gewißheit der Vorstellungen in mir, mithin das cogito, ergo sum, anzunehmen« (KdrV A369). Idealismus als systematische und historische Kennzeichnung wird im engeren Sinne angewandt für die Philosophie des »deutschen Idealismus« im Gefolge Kants. Hier wiederum [wird eine] spezifische Unterscheidung gemacht von subjektivem (Fichte), objektivem (Schelling) und absolutem Idealismus (Hegel). Die beiden ersten Bezeichnungen stammen von Schelling, die dritte von Hegel selbst. Fichtes subjektiver Idealismus [ist] idealistisch in dem Sinne, daß er das normativ-sittliche Ideal, die »Pflicht«, zum Prinzip der äußeren Wirklichkeit macht. Die Welt ist nichts als »das versinnlichte Material unserer Pflichten, das Objekt des sittlichen Handelns«. »Subjek326

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tiv« ist dieser Idealismus insofern, als dieses Objekt - die Welt - vom Subjekt - dem Ich - gesetzt ist. »Kein Objekt ohne Subjekt«. Sein ist »vom Ich gesetzt sein«. Auch dieses Ich ist keine» Tatsache«, sondern eine »Tathandlung«. Es ist Verwirklichung des absoluten Ich, das sich selbst (als Intelligenz, Bewußtsein) und das Nicht-Ich- die Welt- als Gegenstand, an dem es sein Wesen, sittliche Tat zu sein, erweisen kann. Schelling nennt seine Identitätsphilosophie in Abhebung von Fichte auch »objektiven Idealismus«. Objektiv deshalb weil die Priorität des Subjekts aufgehoben ist. »Der erste Schritt zur Philosophie und ihrer Bedingung, ohne welche man auch nicht einmal in sie hineinkommen kann, ist die Einsicht, daß das absolute Ideale auch das absolute Reale sei« ([ deen zu einer Philosophie der Natur, S. 67). Oder in der berühmten Formulierung: »Die Natur ist der sichtbare Geist, der Geist ist die unsichtbare Natur.« [Bei] Hegel bleibt das Ich, der Geist, die Vorstellung mit dem Inhalt der Endlichkeit erfüllt. [Der] Versuch, einen gemeinsamen Weg der verschiedenen idealistischen Doktrinen herauszustellen, [beruht einerseits auf den] Grundzug, [daß] die äußere, materielle Welt nicht ist oder nicht zu begreifen ist, unabhängig von ihrer Beziehung auf Subjekte, Bewußtsein, Vernunft. Dann [widerspricht der Idealismus] dem Materialismus. [Andererseits beruht der Versuch] auf dem Primat der Erkenntnistheorie vor der direkten Ontologie. Dann [widerspricht der Idealismus] dem Realismus. »Es scheint also, daß es angebracht wäre, den mindestmöglichen Gebrauch zu machen von einem Begriff, dessen Sinn so unbestimmt ist.« (Schlußwort der französischen Akademie der Wissenschaften bei der Redaktionssitzung über den Artikel »idealisme«). Man ist also - und ich war - geneigt, so zu reagieren, wie Heidegger in einem Briefwechsel über den Humanismus: »Sie fragen: Comment redonner un sens au mot ,Humanisme