Das Kaiserreich : Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung 3423045051


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Das Kaiserreich : Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung
 3423045051

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dtv Deutsche Geschichte der neuesten Zeit

Wilfried Loth

Das Kaiserreich Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung

Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart Herausgegeben von Martin Broszat, Wolfgang Benz und Hermann Graml in Verbindung mit dem Institut für Zeitgeschichte, München

Wilfried Loth, geboren 1948, lehrte Politikwissenschaft in Berlin und Münster und ist seit 1986 o. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Essen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Ge­ schichte des 19. und 20. Jahrhunderts, u.a. »Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955* (1980; 8. Aufl. 1990); »Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands* (1984); »Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert* (1987; 3. Aufl. 1995); »Ost-WestKonflikt und deutsche Frage* (1989); »Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte* (1994).

Wilfried Loth

Das Kaiserreich Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung

Deutscher Taschenbuch Verlag

Von Wilfried Loth ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955 (dtv 4012) Ost-West-Konflikt und deutsche Frage (dtv 11074) Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte (dtv 4678)

Originalausgabe Mai 1996 2. Auflage April 1997 © Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: christof berndt & simone fischer Umschlagfoto: Besuch Bismarcks in Friedrichsruh, 1888 (© BPK, Berlin) Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany • ISBN 3-423-04505-1

Inhalt

Das Thema........................................................................... I. Die Entlassung ................................................................

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II. Metamorphosen des Kaiserreiches................................ 1. Bismarcks Gründung .............................................. Verfassungskonflikt und Norddeutscher Bund .... Durchbruch zum Nationalstaat ................................ Verfassungsstrukturen .............................................. 2. Die liberale Ära 1871-1879 ......................................... Ausbau des Reiches.................................................... Kulturkampf................................................................ Die Wende von 1878/79 .............................................. 3. Kraftproben und Erstarrung 1879-1890 .................... Liberale Renaissance?................................................. Nationale Sammlungspolitik...................................... Bismarcks Ende.......................................................... 4. Neuer Kurs und persönliches Regiment 1890-1901. . Die Ära Caprivi ....................................................... Wilhelm und Hohenlohe ......................................... Bülows Imperialismus................................................. 5. Von Bülow bis Bethmann Hollweg 1901-1914 .... Zentrum und Caesar ................................................. Der Bülow-Block....................................................... Bethmann Hollwegs Diagonale ................................ 6. Weltkrieg und Revolution ......................................... Prekärer Burgfrieden................................................. Bethmann Hollwegs Sturz......................................... Von Michaelis zu Ebert ........................................... 7. Bilanz...........................................................................

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Dokumente ......................................................................... Forschungsstand und Literatur ......................................... Quellen................................................................................. Zeittafel .............................................................................. Ergebnisse der Reichstagswahlen......................................... Die Reihe »Deutsche Geschichte der neuesten ZeitDaily Telegraph< ausgelöst hatten (Maximilian Harden forderte sogar die Abdankung des Monar­ chen), schloß er sich der Bewegung an. Am 10. November gab er im Reichstag die Versicherung ab, der Kaiser werde »fernerhin auch in Privatgesprächen jene Zurückhaltung beobachten, die im Interesse einer einheitlichen Politik und für die Autorität der Krone gleich unentbehrlich ist«13. Als das der aufgebrachten Öf­ fentlichkeit noch nicht genügte, verlangte er am 17. November vom Monarchen, dieser Reichstagserklärung ausdrücklich beizu­ pflichten. Damit wollte er seine eigene Haut retten (denn daß er die Veröffentlichung des >Daily TelegraphBis hierher, Herr Reichskanzler, aber nicht weiter! Sie sind in Ihrer Nachgie­ bigkeit, Ihrem Entgegenkommen gegenüber dem katholischen Teil der Bevölkerung bis zur äußersten Grenze des Erträglichen ge­ gangene So sprachen Sie damals, im März 1904. Ich mache auch heute kein Hehl daraus, daß ich auf katholische Gefühle und Überzeugungen stets große Rücksicht genommen habe, gerade weil die Katholiken bei uns die Minderheit bilden. Aber diese meine Rücksichtnahme, meine Achtung und Sympathie für die großen Seiten der katholischen Kirche können meine politische Haltung gegenüber der politischen Zentrumspartei nicht beein­ flussen. Ich kenne das Zentrum besser als Sie, Herr von Heydebrand. Der von Ihnen gewollte Bund mit dem Zentrum wird nicht von langer Dauer sein. Im Grunde sind mehr Berührungspunkte zwischen dem Zentrum und den liberalen Fraktionen als zwischen dem Zentrum und den Konservativen. Der Weg von Erzberger zu Haußmann und Payer, von Bassermann zu Hertling ist kürzer als der von Klein-Tschunkawe zu den maßgebenden Leuten im Zen­ trum. Ich will Ihnen voraussagen, wohin Ihr Bruch mit den Na­ tionalliberalen führen wird: zu jener Koalition Windthorst-Richter-Grillenberger, die Bismarck in seinen bösen Träumen sah.«

13. Bethmann Hollweg gegen Wahlrechtsreform und Parlamen­ tarisierung 1912 In einer Reichstagsrede am 16.2. 1912 machte Reichskanzler Bethmann Hollweg die mangelnde Einigkeit der bürgerlichen Parteien für den großen Erfolg der Sozialdemokraten in der Reichstagswahl vom 12. 1. 1912 ver­ antwortlich. Die Forderung nach Demokratisierung des preußischen Drei­ klassenwahlrechts lehnte er strikt ab, ebenso eine Initiative zur Stärkung der Parlamentsrechte. Quelle: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deut­ schen Reichstages 16. 2. 1912, S. 64-67 (Auszüge).

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Meine Herren, der Herr Abgeordnete Speck hat gestern für den Fall, daß die Regierung diese Art von Besitzsteuer doch wieder bringen sollte, das als eine Brüskierung der Parteien bezeichnet, welche den damaligen Entwurf der Erbanfallsteuer abgelehnt hatten. (Sehr richtig! im Zentrum.) Das ist ein sehr starkes Wort, hinter dem sich Machtansprüche verbergen, die ich nicht anerken­ nen kann. (Lebhaftes Bravo links.) Die verbündeten Regierungen bringen ihre Vorlagen nach sachlichen Gesichtspunkten ein. (Bravo! bei den Nationalliberalen.) Da sollte von Brüskierung nicht gesprochen werden. Die Bemerkung des Herrn Abgeordneten Speck hat mir aber zugleich gezeigt, wie weit über ihre wirkliche Bedeutung hinaus die Erbschaftssteuer zu einer hochpolitischen Frage erhoben wor­ den ist. (Sehr richtig! im Zentrum.) Und, meine Herren, was ist das Ergebnis? Dort auf den Bänken zur Linken sitzen die lachen­ den Erben. (Heiterkeit.) Daß das so kommen mußte, war von Anfang herein mit Händen zu greifen. Deshalb habe ich immer wie­ der die bürgerlichen Parteien gemahnt, sich nicht bis auf die Kno­ chen zu zerfleischen. Der Sammelruf ist verhöhnt, ist verspottet worden; er ist bezeichnet worden als unzeitgemäß, als veraltet. Meine Herren, die Zeit wird kommen, wo der Sammelruf nicht bloß von der Regierungsbank aus, sondern aus der Mitte des Vol­ kes ertönt. (Sehr richtig! im Zentrum. Zuruf von den Sozialdemo­ kraten: Abwarten!) Warten Sie nur die Zeit ab, die wird schon kommen! Deshalb habe ich auch in den Wahlen bis zum letzten Augenblick die gemeinsamen Interessen des Bürgertums gegen­ über der Sozialdemokratie zur Geltung zu bringen versucht. Er­ folg habe ich damit nicht gehabt, aber ich habe meine Pflicht ge­ tan. Und meine Pflicht gegenüber der Monarchie und gegenüber dem Lande war es, darauf hinzuweisen, welche Verwirrung im Volke entstehen muß, wenn die Scheidelinien zwischen der Grundanschauung über Staat und Gesellschaft, die in den bürger­ lichen Parteien und in der Sozialdemokratie herrscht, von den bürgerlichen Parteien selbst ins Nebelhafte verwischt werden. (Sehr richtig! rechts.) Meine Herren, wir haben da merkwürdige Wandlungen erlebt. Als es vor 5 Jahren gelungen war, die sozialdemokratische Frakti­ on auf die Hälfte ihrer Sitze zu reduzieren, da ging ein Jubel durch das konservative und das liberale Bürgertum! Und heute? Der Feind von vor 5 Jahren hat 110 Mandate errungen, und wieder jubelt der Liberalismus, (große Heiterkeit) obwohl er aus der Schlacht geschwächt heimgekehrt ist. Meine Herren, ich begreife

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es ja, wenn Sie vom liberalen Standpunkt aus eine Genugtuung darüber empfinden, daß Sie die Konservativen und das Zentrum geschwächt haben. Aber der Schaden des politischen Gegners ist noch lange nicht der Triumph der eigenen Sache, (Sehr richtig! rechts) zumal wenn ein solcher tertius gaudens vorhanden ist wie in diesem Falle. (Heiterkeit.) Ja, weshalb haben Sie denn jetzt gejubelt? Uber den Sieg einer Partei, deren Niederlage Sie vor 5 Jahren so laut begrüßten? (Zuruf links: Wer hat denn gejubelt?) O, meine Herren, wenn ich Ihre Presse ansehe, was war das für eine Freude! Was hat sich denn in der Zwischenzeit geändert? Etwa die Sozialdemokratie? Ich glaube, die Herren würden es mir sehr schwer Übelnehmen, wenn ich sie für fähig hielte, auch nur ein Titeichen von ihren Dogmen nachzulassen, von den Dogmen des Klassenkampfes, der Todfeindschaft gegen diese Gesellschaft und gegen den monarchischen Staat! Wie sich der Revisionismus entwickeln wird, - nun, meine Herren, das müssen wir doch zu­ nächst abwarten! Aber selbst wenn unter den 110 Herren Sozial­ demokraten gewiß eine große Anzahl von Revisionisten vorhan­ den ist, welche nicht den monarchischen Staat mit Gewalt durch die Republik und die bestehende bürgerliche Gesellschaftsord­ nung durch die sozialistische ersetzen wollen: auf eins können auch die Herren Revisionisten nicht verzichten: auch sie arbeiten daran, den monarchischen Sinn des Volkes zu untergraben, (Sehr richtig! rechts) sie diskreditieren das Gefüge des Staates, und sie predigen den erbitterten Klassenkampf. [...] Und nun, meine Herren, verlangen Sie, ich solle wegen des Ausfalls der Wahlen die Regierungspolitik neu orientieren. [...] Meine Herren, ich kann aus den gegenwärtigen Zuständen nur die Konsequenz ziehen, daß die Regierung fest auf ihren eigenen Füßen stehen muß, (Lachen bei den Sozialdemokraten) daß es da kein Schwanken und kein Wanken gibt. Sie, meine Herren Sozialdemokraten, und Ihre nächsten Nach­ barn halten die unsichere politische Situation für den rechten Zeitpunkt, um unser demokratisches Wahlrecht noch weiter zu demokratisieren und um durch eine Erweiterung der sogenannten konstitutionellen Garantien unsere Reichsverfassung von Grund auf zu ändern. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Zu einer weite­ ren Demokratisierung unseres Wahlrechtes und zu einem Angriff auf die Grundlagen der Reichsverfassung werde ich die Hand nicht bieten. (Bravo! rechts.) [...] Meine Herren, Sie wollen dann weiter die verfassungsmäßig bestehende politische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers unter

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eine rechtlich wirksame Aufsicht des Reichstags stellen. Ich habe bisher nicht gewußt, daß in der Geschichte des deutschen Reichs­ tags je ein Fall vorgekommen wäre, wo das Fehlen dieser Befugnis des Reichstags als ein schwerer politischer Mangel empfunden worden wäre. (Sehr wahr! rechts. - Sehr oft! links.) Der Antrag ist eine Geburt der Doktrin (Sehr richtig! rechts) und bezweckt die Vermehrung der Parlamentsrechte gewissermaßen auf Vorrat. Von praktischem Wert könnte die Sache nur sein als Etappe auf dem Wege zur Parlamentsherrschaft. Meine Herren, ein nur vom Kai­ ser und König von Preußen abhängiger Reichskanzler ist das notwendige Gegengewicht gegen das freieste aller Wahlrechte, das seinerzeit vom Fürsten v. Bismarck nur unter der Voraussetzung gegeben wurde, daß Bundesrat und Reichskanzler ihre Selbstän­ digkeit behaupten. (Sehr richtig! rechts.) Der Wahlsieg der Sozial­ demokraten und die Unklarheit der Orientierung der bürgerlichen Parteien untereinander ist kein Grund für, sondern nur ein Grund mehr gegen alle Versuche, die Kompetenzen zwischen Kaiser und Reichstag, zwischen Bundesrat und Parlament zu verschieben.

14. Max Bauers Plan für eine Militärdiktatur 1916 Hermann Ritter Mertz von Quirnheim, Abteilungschef in der Obersten Heeresleitung, berichtet in einem Erinnerungsmanuskript über den Plan von Oberstleutnant Max Bauer, einem engen Mitarbeiter von General­ quartiermeister Erich Ludendorff, eine förmliche Militärdiktatur zu errich­ ten. Dieser Plan wurde im Dezember 1916 diskutiert, nachdem die Oberste Heeresleitung bei der Durchsetzung des Hilfsdienstgesetzes auf Wider­ stände in der Reichsleitung und im Reichstag gestoßen war. Quelle: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918. Bearbeitet von Wilhelm Deist, Bd. 2, Düsseldorf 1970, S. 651 f.

In der Zeit der Niederschrift dieser obigen Zeilen hatte ich noch keine Ahnung davon, daß sogenannte »Diktaturpläne« im Kreise der O. H. L. tatsächlich erwogen wurden. Ihr Vertreter und Träger war Oberstleutnant Bauer. Es muß in den ersten Dezember Tagen gewesen sein, daß er mich hierin »einweihte« und zwar in langen Ausführungen, mit den Worten beginnend »So wie es jetzt sei, könne es unmöglich weiter gehen. Wir müßten zu einer Militär­ diktatur als einzigem Ausweg kommen.« Er hielt sie für durch­ führbar, wenn auch der Kaiser sich ihr fügen würde, dann würden auch die Volksvertretungen ihre Einrichtung »schlucken«. General

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Ludendorff müßte auch nominell an die Spitze treten und volle Handlungsfreiheit bis zum Abschluß des Friedens - und zwar einschließlich - haben. - Auf meine Anfrage erklärte mir Bauer, daß ihm die Verhandlungen während des Hilfsdienst-Gesetzes die unerschütterliche Überzeugung aufgedrängt habe, daß wir nur mit Hilfe einer absoluten Militärdiktatur, die allein eine restlose Zu­ sammenfassung all unserer nationalen Kräfte ermögliche, zu einem erfolgreichen Ende kommen könnten. Auch der Kaiser müsse praktisch völlig ausgeschaltet werden, denn seine schwankende Weichheit würde in allen großen Entscheidungsfragen Alles ver­ derben. Er frug mich zuletzt, wie ich die Haltung meines Königs zu dieser Frage beurteile, denn von dieser hänge vielleicht mehr ab als von der jedes anderen Bundesfürsten ja von derjenigen des Königs von Preußen. Da antwortete ich: »Wie die Stellung Ihres Königs zu diesen Diktaturgedanken ist, vermag ich nicht zu beur­ teilen, wie aber der König von Bayern sich dazu verhalten würde, vorausgesetzt, daß man es wirklich wagen würde, ihm solche Verzichte zuzumuten, darüber kann ich Ihnen klaren Wein ein­ schenken.« Da entgegnete Bauer sichtlich tief ernst: »Sie brauchen mir nichts weiter zu sagen. Bayern würde also nur der Gewalt weichen.« »Und Preußen??« Diese meine abschließende Frage blieb unerörtert. Ich habe nie erfahren, ob diese »Diktaturpläne« zur Kenntnis unseres Kronprinzen gelangt waren oder später gelangt sind. Ich habe nie mit irgend Jemand im Großen Hauptquartier darüber gesprochen, aber doch erfahren, daß Bauer mich nicht allein in sie eingeweiht hat.

15. Friedrich Ebert über die Erschöpfung des Volkes und die Notwendigkeit einer demokratischen Reform 1917 Im Hauptausschuß des Reichstages führte der sozialdemokratische Partei­ vorsitzende Friedrich Ebert am 3. 7. 1917 aus, daß man der Bevölkerung keinen weiteren Kriegswinter mehr zumuten könne und eine weitere Ver­ schleppung demokratischer Reformen nicht mehr hingenommen würde. Quelle: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstages 1915-1918. Bd. 3, Düsseldorf 1981, S. 1480-1485 (Auszüge).

Ebert (SPD) bedauert, daß nach den Ausführungen der Regie­ rungsvertreter mit einem vierten Winterfeldzuge gerechnet wer­ den müßte. Wenn der Staatssekretär des Äußeren gemeint habe,

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daß in der Presse leider zu viel von Frieden gesprochen worden sei, so müsse auf unsere Situation im Innern, auf die wirtschaftli­ chen Verhältnisse, unter denen unser Volk lebe, hingewiesen und geprüft werden, ob überhaupt noch die Möglichkeit vorhanden sei, den entsetzlichen Krieg weiter zu führen. Das deutsche Volk habe in den drei Kriegsjahren zweifellos alle Opfer und Entbeh­ rungen geradezu wunderbar getragen und habe einzig in der Ge­ schichte dastehende Leistungen vollbracht, aber die Verhältnisse hätten sich so entwickelt, daß es außerordentlich zweifelhaft sei, ob es möglich sein werde, noch den Winterfeldzug durchsetzen zu können. Der jammervolle letzte Winter mit seinen Ernährungs­ schwierigkeiten schwebe jedem vor Augen. Die Vertröstung, daß im Frühjahr mit den besseren Transportmöglichkeiten und der stärkeren Zufuhr die Lebensmittelversorgung besser werden wür­ de, habe zu bitteren Enttäuschungen geführt. Die anfänglich ge­ währte Brotration habe im Frühjahr herabgesetzt werden müssen, weil Gewinnsucht und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Ge­ samtinteressen unsere Bestände stark geschädigt hätten. Auch die Kartoffelversorgung sei entgegen den Hoffnungen nicht besser geworden. Der größte Teil der Bestände sei an das Vieh verfüttert worden. Die Entrüstung und Empörung hierüber habe, wie sich im April dieses Jahres gezeigt hätte, einen Charakter angenom­ men, der eine ernste Gefahr geworden sei. Damals habe man durch Neuorganisation der Ernährung in gewissem Sinne beruhi­ gend gewirkt. Die damaligen Zusicherungen über die Gewährung ausreichender Kartoffel- und Fleischrationen usw. wären von Kennern der Verhältnisse auf dem Lebensmittelmarkte gleich mit Zweifel aufgenommen worden. In der Tat habe die geplante Kar­ toffelversorgung nach wenigen Wochen eingestellt werden müs­ sen. Seit Wochen, ja Monaten, habe die Bevölkerung keine Kartof­ feln. Besonders für den Arbeiterhaushalt ergäben sich hieraus ernste Schwierigkeiten. Es fehle das Unentbehrliche zur allernot­ wendigsten Ernährung. Die Arbeiterfamilien lebten jetzt in den weitaus meisten Fällen von trocken Brot und der geringen zur Verfügung stehenden Fleischmenge. Infolgedessen habe die Un­ terernährung in schlimmem Maße um sich gegriffen, die Gesund­ heitsverhältnisse der Arbeiterbevölkerung seien aufs schwerste erschüttert. Wenn man die hohläugigen und abgemagerten Arbei­ ter zu ihrer Arbeitsstätte wanken sehe oder die Arbeiterfrauen und -kinder betrachte, so müsse man zu dem Urteil kommen: Wir sind am Ende unserer Kraft, wir sind am Schluß. [. . .] Heute greife die Verzweiflung um sich. Die großen Gesichtspunk­

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te fänden keine Beachtung mehr. Das Volk habe alles Vertrauen zu der Regierung und zu ihren Erklärungen verloren. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Aus ernster Sorge um Land und Volk heraus fordert Redner, daß man so bald wie möglich zu einem Frieden komme. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Es müsse alles versucht werden, einen neuen Winterfeldzug zu vermeiden. [...] Doch noch ein Weiteres sei notwendig. Schöne Reden, Erklä­ rungen und kaiserliche Botschaften über die Neuorientierungen im Innern genügten nicht. Jetzt, nachdem der Krieg bereits 3 Jahre dauere und weitergeführt werde, wolle sich das Volk nicht mehr mit Worten begnügen. Es frage sich: Wozu die großen Opfer, wenn die Regierung nicht gewillt ist, uns das Notwendigste, Un­ entbehrlichste, Selbstverständlichste: die politische Gleichberech­ tigung, zu gewähren, die Fesseln der politischen Ungleichheit, das Dreiklassenwahlsystem, zu beseitigen. Hier komme es lediglich auf den Willen der Regierung und der bürgerlichen Parteien an. Der Hinweis auf den Burgfrieden sei heute zum Gespött aller geworden. Gerade die politisch Bevorzugten, die Nutznießer der heutigen politischen Einrichtungen, hätten auf den Burgfrieden während des Krieges am allerwenigsten Rücksicht genommen, wie die alldeutsche Hetze beweise. Das Ausland habe die Zeichen der Zeit besser zu nutzen gewußt. Die englische Regierung habe sich entschlossen, nicht allein die Wahlreform, gegen die sie sich vorher gesträubt hätte, durchzuführen, sondern auch das Frauenwahl­ recht zu gewähren. In Ungarn habe man schließlich gegen den Willen der Parlamentsmehrheit eine Wahlrechtsregierung einge­ setzt, die sich auf den Standpunkt des gleichen Wahlrechts stelle und dieser Tage erklärt habe, sie würde diese Forderung während des Krieges durchsetzen und nicht vor einer Auflösung des Parla­ ments und vor Neuwahlen zurückschrecken. Nach den Erfahrun­ gen des Auslands, die auf die Stimmung des deutschen Volkes zurückwirkten, sei die Vertagung der Wahlrechtsreform, insbe­ sondere der preußischen, bis nach dem Kriege völlig unhaltbar geworden. [...] Redner schließt mit der dringenden Frage an die Regierung, ob sie bereit sei, noch während des Krieges die demokratische Re­ form anzubahnen, insbesondere die preußische Wahlrechtsreform durchzuführen. Die demokratische Reform im Innern Deutsch­ lands sei eine Voraussetzung sowohl für die innere Festigung des Volkes wie auch für die Stärkung nach außen hin.

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16. Matthias Erzberger über die Motive der Friedensresolution 1917 Am Nachmittag des 6. 7. 1917 erläuterte Matthias Erzberger in der Zen­ trumsfraktion des Reichstages, warum er zuvor im Hauptausschuß bean­ tragt hatte, in einer Resolution die Bereitschaft zu einem »Frieden des Ausgleichs« zu bekunden. Quelle: Erinnerungsbericht Erzbergers vom 15.7. 1917. Bundesarchiv, Nachlaß Erzberger 18.

Freitag nachmittag und abend waren eingehende Beratungen der Zentrumsfraktion. Eben so Samstag. Ich legte meinen Standpunkt ausführlich dar und betonte dabei besonders folgende Gesichts­ punkte. Nach dreijährigem Schweigen muss der Reichstag zu der Friedenszielfrage selbst Stellung nehmen, zumal die Regierung völlig versagt hat. Dumpfe Verzweiflung beherrscht sonst unser Volk, zumal man ihm versprochen habe, dass bis August oder September durch den uneingeschränkten U-Bootkrieg der Frieden kommen muss. Das Volk erwartet vom Reichstag eine Aktion bevor er die neuen Kriegskredite bewilligt. Die Sozialdemokratie hat erklärt, dass sie die neuen Kredite nicht bewilligen könnte, wenn nicht Klarheit über die Kriegsziele geschaffen würde und gewisse Reformen sich durchsetzen. Es sei verkehrt, die Friedens­ bewegung ganz allein den Sozialdemokraten zu überlassen, da hierdurch Nachteile für Staat, Kirche, Bürgertum und Zentrums­ partei entständen. Die Friedenssehnsucht der ganzen Welt sei ebenso wie die Angst vor dem neuen Kriegswinter sehr gross, dass man nur auf ein erlösendes Wort warte. Der Reichstag werde vor die Entscheidung gestellt, weil die Sozialdemokratie einen ent­ sprechenden Antrag einbringen würde. Bei Ablehnung desselben lehne sie die Kriegskredite ab, was von grossem Nachteil für uns sein würde. (Eindruck im Ausland, Streiks im Innern.) Dann gehe der Krieg doch verloren, da sei es richtiger und für die ganze Menschheit besser, wenn das Zentrum sich an die Spitze stelle und anstatt des negativen Programms der Sozialdemokratie für ein positives Friedensprogramm eine Mehrheit suche und dies der ganzen Welt unterbreite. Nach gründlicher eingehender Beratung stellte sich die Fraktion mit allen gegen 3 Stimmen (Freiherr von Frankenstein, Dr. Pfleger, Schwarze (Lippstadt)) auf diesen Stand­ punkt. Hierdurch war die Majorität gewachsen und die interfrak­ tionellen Besprechungen, die unter Exc. Spahn stattfanden, konn­ ten mit Erfolg gebildet werden. Es besprachen sich Zentrum,

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Volkspartei und Sozialdemokraten. Die Nationalliberalen erschie­ nen in mehreren Sitzungen, erklärten aber dann, dass sie die Frie­ densresolution nicht mitmachen könnten. Umso schärfer forder­ ten sie den Rücktritt des Reichskanzlers und Parlamentarisierung der Regierung. Die letzte Forderung trat immer mehr in den Vor­ dergrund. Später nahmen Vertreter der deutschen Fraktion der Polen und der Elsässer teil. Die Zentrumsfraktion hat in ihrer Sitzung beschlossen, der Friedensresolution zuzustimmen, falls dies die Nationalliberalen auch tun würden. Nachdem klar ge­ worden war, dass die Nationalliberalen in ihrer Gesamtheit nicht zustimmen würden, blieb die Zentrumsfraktion auf ihrem Be­ schluss mit derselben Majorität stehen und erklärte, der Friedens­ resolution auch dann zuzustimmen, wenn die Nationalliberalen sich ablehnend verhielten. Die Einführung des gleichen Wahl­ rechts in Preussen wurde gleichfalls beschlossen und was die Par­ lamentarisierung betrifft, so wurde gewünscht, dass mehr als bis­ her Abgeordnete unserer Partei in die Regierung berufen würden.

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Forschungsstand und Literatur

Traditionen

Als erste Form des deutschen Nationalstaates war das Kaiserreich seit jeher Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen und viel­ fältiger Forschungsanstrengungen. Zeitgenössische Debatten gin­ gen fließend in die ersten historischen Darstellungen über; spätere Generationen diskutierten das Kaiserreich im Lichte ihrer Erfah­ rungen und setzten ihre Interpretationen zum Teil auch gezielt als Waffe im jeweils aktuellen politischen Meinungsstreit ein. Dabei überwog lange Jahre eine grundsätzlich positive Sicht des Kaiser­ reiches, die sich an den Positionen der Sieger in den zeitgenössi­ schen Auseinandersetzungen orientierte. Einflußreich war vor allem die nationalliberale Deutung des Reiches als gelungenem Kompromiß preußischer und liberaler Interessen, die in Heinrich von Sybels siebenbändiger Geschichte der Reichsgründung einen repräsentativen Niederschlag fand1. In der wilhelminischen Zeit und mehr noch nach der Niederlage von 1918 fand die national­ konservative Lobpreisung des nationalen Machtstaates Anklang, wie sie bei Max Lenz2 und Erich Mareks3 zu finden war. Demge­ genüber blieb Arnold Oskar Meyers nationaldeutsch-völkische Variante dieser Deutungen, die Bismarck als in Übereinstimmung mit dem »Volk« handelnden Staatsmann sah, Episode: Seine Dar­ stellung erreichte die Leser im wesentlichen erst nach dem Zu­ sammenbruch von 1945 und wirkte nun als groteske Übersteige­ rung der Bismarck-Orthodoxie4. Allerdings bewegte sich die Kaiserreich-Interpretation auch in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg noch vorwiegend in nationalliberalen bis konservativen Bahnen. Hans Rothfels hielt bei aller Problematisierung erfolgsorientierter Machtpolitik daran fest, daß Bismarck den nationalen Gedanken 1 Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. 7 Bde., München 1889-1894. 2 Max Lenz, Geschichte Bismarcks. Leipzig 1900 u. ö. 3 Erich Mareks, Otto von Bismarck. Ein Lebensbild. Stuttgart 1915 u. ö.; ders., Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807 bis 1878. 2 Bde., Stuttgart 19361943. 4 Arnold Oskar Meyer, Bismarck. Der Mensch und der Staatsmann. Leipzig 1944, 2. Aufl. mit einem Geleitwort von Hans Rothfels, Stuttgart 1949.

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nicht nur befriedigt, sondern auch gebändigt habe, und rechtfertig­ te damit zumindest implizit die Beschränkung der politischen Mitwirkungsrechte im Kaiserreich5. Ähnlich äußerte sich auch Theodor Schieder6, der später das Spezifikum des Kaiserreiches mit der Kategorie der »Unvollendetheit« zu beschreiben versuchte - unvollendet als Nationalstaat, als Verfassungsstaat und als Kul­ turstaat; vorsichtige Kritik mischte sich hier mit der Betonung der Entwicklungsfähigkeit der Bismarckschen Gründung7. Gerhard Ritter räumte mit der Zeit einige »Strukturfehler« des Kaiserrei­ ches ein, insbesondere die mangelnde Einhegung des Militarismus; gleichzeitig beharrte er aber darauf, daß Bismarck wie späterhin Bethmann Hollweg der deutschen »Staatsräson« Rechnung getra­ gen hätten8. Die konservative Grundhaltung wird auch noch in der Verteidi­ gung der konstitutionellen Monarchie als »verfassungspolitischer Selbstverwirklichung« des deutschen Volkes sichtbar, die Ernst Rudolf Huber zur Grundlage seiner monumentalen Verfassungs­ geschichte gemacht hat9. Sie führte ihn dazu, wie die Kritik un­ terdessen herausgearbeitet hat10, die komplexe Verfassung des Kaiserreiches einseitig promonarchisch und probürokratisch zu interpretieren, in der Beschreibung zu glätten und ihre Funktions­ defizite auszublenden. Die umfassende und fast immer zuverlässi­ ge Nachzeichnung staatlicher Regelungen und zahlreiche Hinwei­ se auf die Tendenzen und Konflikte, die ihnen zugrunde lagen, sichern dem Werk aber gleichwohl einen bleibenden Rang als unverzichtbares Arbeitsinstrument. 5 Hans Rothfels, Problems of Bismarck Biography. In: The Review of Politics 9 (1947), S. 362-380; deutsche Fassung: Probleme einer Bismarck-Biographie, mit weiteren Bismarck-Studien des Verfassers erneut in: ders., Bismarck. Vorträge und Abhandlungen. Stuttgart 1970, S. 13-33. 6 Theodor Schieder, Bismarck und Europa. Ein Beitrag zum Bismarck-Problem. In: Deutschland und Europa. Festschrift für Hans Rothfels. Düsseldorf 1951, S. 15-40. 7 Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Köln 1961; 2. Aufl. (mit einer Einleitung von Hans-Ulrich Wehler) Göttingen 1992. 8 Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des «■Militarismus« in Deutschland. 4 Bde., München 1954-1968; Bd. 1 in 4. Aufl. 1970, Bd. 2 in 3. Aufl. 1973. 9 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. 7 Bde., Stuttgart 1957-1984; das Zitat aus Bd. 3, S. 11. Die Zeit des Kaiserreiches wird behandelt in Bd. 3: Bismarck und das Reich (1963, 3. Aufl. 1988), Bd. 4: Struktur und Krisen des Kaiserreiches (1969, 2. Aufl. 1982), Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneue­ rung 1914-1919 (1978, 2. Aufl. 1992). 10Vgl. insbesondere die eindringliche Rezension von Hans Boldt in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 252-271.

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Die progressive Gegenthese, das Kaiserreich sei eine Gründung gegen den Geist der Zeit gewesen, weil es das politische Pendant zur wirtschaftlichen Modernisierung verweigert habe, ist zuerst von dem amerikanischen Soziologen Thorstein Velblen als Beitrag zur Deutung des Ersten Weltkrieges formuliert worden11. In eine historische Darstellung umgesetzt wurde sie erstmals von dem linksliberalen Historiker Johannes Ziekursch12. Eckart Kehr arbei­ tete als erster das »Herrschaftskartell« aus Schwerindustrie und Großgrundbesitz als ein wesentliches Strukturelement des Kaiser­ reiches heraus13. Erich Eyck, von Hause aus Rechtsanwalt, schrieb als historischer Autodidakt im Schweizer Exil eine kritische Bis­ marck-Biographie, die dem Reichsgründer machiavellistische Methoden vorwarf und diese für das Verfehlen der Demokratie verantwortlich machte14. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Darstellungen jedoch zunächst nur wenig beachtet. Liberale Grundsatzkritik wurde einem breiteren Publikum lediglich in der eindringlichen »Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts» von Golo Mann vermittelt15. Erst nachdem Fritz Fischer zu Beginn der sechziger Jahre den Finger auf die Dynamik des deutschen Expansionismus vor und im Ersten Weltkrieg gelegt hatte16, setzte eine breite Diskussion der Linien ein, die das Kaiserreich mit dem Dritten Reich verbanden. Sie verquickte sich mit Bemühungen um eine methodische Erneuerung der deutschen Geschichtswissen­ schaft, ihre Öffnung für Fragestellungen, Methoden und Ergebnis­ se der systematischen Sozialwissenschaften, und führte zu einer lebhaften, oft polemischen und verwirrenden, aber insgesamt doch ertragreichen Debatte. Ihren Höhepunkt erlebte sie mit der Veröffentlichung der Kai­ serreich-Synthese von Hans-Ulrich Wehler 1973 - der Form nach 11 Thorstein Velblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution. London 1915. 12 Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches. 3 Bde., Frankfurt a. M. 1925-1930. 13 Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901. Berlin 1930, 14 Erich Eyck, Bismarck. Leben und Werk. 3 Bde., Erlenbach-Zürich 1941-1944. 15 Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1958 u. ö., hier S. 426 ff. 16 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserli­ chen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1961, 4. Aufl. 1971. Vgl. als Rückblick auf die dadurch ausgelöste Kontroverse Gregor Schöllgen, Griff nach der Welt­ macht? 25 Jahre Fischer-Kontroverse. In: Historisches Jahrbuch 106 (1986), S. 386 bis 406.

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eine einführende Darstellung im Rahmen einer modernen »Deut­ schen Geschichte^ tatsächlich aber ein Kompendium analytischer Thesen zur Struktur des Kaiserreiches. Das Reich erschien darin bis 1890 »als ein plebiszitär gekräftigtes, bonapartistisches Diktatorialregime im Gehäuse einer die traditionellen Eliten begünsti­ genden, aber rapider Industrialisierung und mit ihr partieller Mo­ dernisierung unterworfenen, halbabsolutistischen und pseudokon­ stitutionellen, von Bürgertum und Bürokratie teilweise mitbeein­ flußten Militärmonarchie«, danach als »autoritäre Polykratie ohne Koordination«, der die »traditionellen Oligarchien« nach wie vor ihren Stempel aufdrückten. Bismarck und die wilhelminische Po­ lykratie wurden dafür kritisiert, daß sie »gegen Gleichheitsrechte und Teilnahmechancen, mithin gegen elementare Strömungen der modernen Zeit Gegenkurs gehalten« hatten - mit der fatalen Folge »schwerer historischer Belastungen«17. Dieses ungemein anregende und dichte, aber nicht immer konsistente Überangebot von Deutungen und Wertungen rief zahlreiche Kritiker auf den Plan. So meinte Lothar Gall, das Bonapartismus-Paradigma sei auf das Kaiserreich nicht anwend­ bar, da dieses das Vorhandensein einer »postrevolutionären Ge­ sellschaft« nach französischem Muster voraussetze18. Thomas Nipperdey kritisierte »fatale Eindeutigkeit«, unzulässige Vermi­ schung von Analyse und Anklage, einseitige Perspektive auf das Dritte Reich, Überschätzung der Einheit der herrschenden Schichten und Unterschätzung der Leistungen des Systems19. Geoff Eley und David Blackbourn, zwei britische Historiker, die unterdessen in den USA lehren, wandten gegen die in der Traditi­ on der liberalen Kritik stehende These eines deutschen »Sonder­ wegs« in die Moderne ein, daß von einem westeuropäischen »Normalweg« zur Demokratie nicht die Rede sein könne, und behaupteten gegen die Kritik an der Konservierung der Machtstel­ lung der traditionalen Eliten, daß auch in Deutschland eine »bürgerliche Revolution« stattgefunden habe; diese Revolution und nicht etwa der Mangel an Bürgerlichkeit, erklärten sie, sei 17 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen 1973, 7. Aufl. 1994; die Zitate S. 67, 69, 72, 230 u. 239. 18 Lothar Gall, Bismarck und der Bonapartismus. In: Historische Zeitschrift 223 (1987), S. 105-126. 19 Thomas Nipperdey, Wehlers »Kaiserreich«. Eine kritische Auseinandersetzung. In: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 539-560; ausführlichere Fassung in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttin­ gen 1976, S. 360-389; das Zitat ebd., S. 369.

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auch für die autoritären Zuspitzungen des Kaiserreiches verant­ wortlich20. Diese Einwände trafen durchaus Schwächen der Wehlerschen Kompilation. Doch ließen die Kritiker den Erklärungswert, den das Bonapartismus-Paradigma gleichwohl bietet, gänzlich außer Acht; zum Teil unterschätzten sie auch die Beharrungskraft, die die traditionalen Gewalten ganz offensichtlich entwickelten, und unterließen es, die Kosten des deutschen Weges in die Moderne klar zu benennen. Das ermöglichte es Wehler, unter Revision und Modifizierung einiger Thesen zu replizieren21, und führte insge­ samt zur Entwicklung eines breiten Interpretationsspektrums, das zur Klärung kontroverser Sichtweisen durch intensivere Detailfor­ schung ebenso einlud wie zur Präzisierung und Differenzierung der Argumentation.

Themenfelder Unter den Studien, die vor dem Hintergrund dieses Diskussions­ standes entstanden, sind für die Zeit der Reichsgründung und der Kanzlerschaft Bismarcks zunächst drei neuere Bismarck-Bio­ graphien zu nennen. Lothar Gall arbeitet sehr schön den Gegen­ satz zwischen dem Reichsgründer, der mit den Kräften der Zeit ging, und dem Reaktionär, der sich ab 1877/78 gegen die Konse­ quenzen der Reichsgründung stemmte, heraus und bietet reich­ haltige, wenngleich nicht immer ganz überzeugende Situationsana­ lysen22. Die zweibändige Biographie des DDR-Historikers Ernst Engelberg ist quellennäher in der Darstellung, aber weit weniger gelungen in der Analyse; sie verfängt sich in einer ganz eigentüm­ lichen Mischung von propreußischer Parteinahme und Tradierung 20 David Blackbourn u. Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848. Frankfurt/Berlin/Wien 1980; erweiterte englische Fassung: dies., The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany. Oxford 1984. Vgl. auch Geoff Eley, Die deutsche Geschichte und die Widersprüche der Moderne. Das Beispiel des Kaiser­ reichs. In: Frank Bajohr u. a. (Hrsg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchli­ chen Potentiale der Moderne. Hamburg 1991, S. 17-65. 21 Hans-Ulrich Wehler, Kritik und Kritische Antikritik. In: Historische Zeitschrift 225 (1977), S. 347-384; ders., »Deutscher Sonderweg« oder allgemeine Probleme des westlichen Kapitalismus? Zur Kritik an einigen »Mythen deutscher Geschichtsschrei­ bung«. In: Merkur 35 (1981), S. 478-487. 22 Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär. Berlin 1980, 8. Aufl. 1990.

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marxistischer Deutungsmuster23. Das dreibändige Werk von Otto Pflanze, 27 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes fertig­ gestellt, konzentriert sich auf den Macht- und Gestaltungswillen Bismarcks; dabei bleiben die gesellschaftlichen Hintergründe seines Handelns eher blaß und werden Verfassungs- und Natio­ nalbewegung als treibende Faktoren zu gering veranschlagt24. Die gesellschaftliche Realität ist wesentlich präsenter in der Ge­ samtdarstellung der Bismarck-Ara, die die DDR-Geschichtswis­ senschaft 1988 vorgelegt hat. Sie arbeitet quellennah den Kompro­ mißcharakter und die Fragilität der Herrschaftsordnung des Kai­ serreiches heraus. Die vielfach treffenden Einzelbeobachtungen werden freilich nicht zu einem überzeugenden Gesamtbild ver­ bunden. Statt dessen bleibt es bei ungenauen Leerformeln wie »bürgerlichem Nationalstaat«, »bonapartistischer Diktatur« und »herrschenden Klassen«; die Arbeiterbewegung wird einseitig vom »revolutionären« Standpunkt aus beurteilt25. Für die Zeit der Reichsgründung bleiben zwei unterdessen schon etwas ältere Sammelbände wichtig: Helmut Böhmes Über­ blick über >Probleme der Reichsgründungszeit«26 und eine Samm­ lung von Studien zum Entscheidungsjahr 1870/71, die Theodor Schieder und Ernst Deuerlein herausgegeben haben27. Zu den wirtschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen der Reichsgründung liegt eine materialreiche, aber in sich widersprüchliche Studie von Helmut Böhme vor28; daneben muß man auf die Aufsätze von Wolfgang Zorn zurückgreifen29. Zur Entscheidung von 1866 hat 23 Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer. Berlin 1985; Taschenbuchausgabe München 1991; ders., Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas. Berlin 1990; Taschenbuchausgabe München 1994. 24 Otto Pflanze, Bismarck and the Development of Germany. Bd. 1: The Period of Unification, 1815-1871 [l.Aufl. 1963]; Bd. 2: The Period of Consolidation, 18711880; Bd. 3: The Period of Fortification, 1880-1898. Princeton N. J. 1990. 25 Gustav Seeber u. a., Deutsche Geschichte Bd. 5: Der Kapitalismus der freien Konkurrenz und der Übergang zum Monopolkapitalismus im Kaiserreich von 1871 bis 1897. Berlin 1988. 26 Helmut Böhme (Hrsg.), Probleme der Reichsgründungszeit. Köln 1968, 2. Aufl. 1973. 27 Theodor Schieder u. Ernst Deuerlein (Hrsg.), Reichsgründung 1870/71. Tatsa­ chen, Kontroversen, Interpretationen. Stuttgart 1970. 28 Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1879. Köln/Berlin 1966, 3. Aufl. 1974. 2S Besonders: Wolfgang Zorn, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zusammen­ hänge der deutschen Reichsgründungszeit 1850-1879. In: Historische Zeitschrift 197 (1963), S. 318-342; ders., Die wirtschaftliche Integration Kleindeutschlands in den 1860er Jahren und die Reichsgründung, ebd. 216 (1973), S. 304-334.

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zuletzt Klaus Schwabe eine abgewogene Analyse vorgelegt30, während Klaus Erich Pollmann die Verfassungsentwicklung im Norddeutschen Bund verfolgt hat31. Zur Interpretation des Bismarckschen Verfassungswerks sind insbesondere die Arbei­ ten von Hans Boldt heranzuziehen32. Hilfreich ist auch die Deu­ tung des Kaiserreiches als »System umgangener Entscheidungen«, die Wolfgang J. Mommsen in die Diskussion eingebracht hat33; ebenso die Unterscheidung zwischen bonapartistischer Herr­ schaftsform in Frankreich und bonapartistischen Herrschaftsme­ thoden im Kaiserreich, die Elisabeth Fehrenbach vorgenommen hat34. Die Bismarcksche Politik im Vorfeld des Krieges von 1870 wird zu defensiv dargestellt bei Eberhard Kolb35, zu einseitig auf die Herbeiführung des Krieges gerichtet dagegen bei Josef Bekker36. Über die Reaktionen der Deutschen auf den Kriegs­ ausbruch berichtet sehr schön ein Aufsatz von Hans Fenske37. Zur Haltung der Liberalen in der Reichsgründungsphase sind die 30 Klaus Schwabe, Das Indemnitätsgesetz vom 3. 9, 1866. In: Festschrift für Oswald Hauser. Göttingen 1980, S. 83-102. 31 Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867-1870. Düsseldorf 1985; vgl. auch ders., Vom Verfassungskonflikt zum Verfassungskom­ promiß. In: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Düsseldorf 1974, S. 189-204. 32 Hans Boldt, Deutscher Konstitutionalismus und Bismarckreich. In: Michael Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1914. Düsseldorf 1970, S. 119-142; ders., Deutscher Konstitutionalismus und Kaiserreich. In: Johannes Kunisch (Hrsg.), Bismarck und seine Zeit. Berlin 1992, S. 83-101; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 2: Von 1806 bis zur Gegenwart. München 1990, hier S. 160-220. 33 Wolfgang J. Mommsen, Das Kaiserreich als System umgangener Entscheidungen. In: Helmut Berding u. a. (Hrsg.), Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag. München/Wien 1978, S. 239-265; jetzt in: Wolfgang J. Mommsen, Der autoritäre Natio­ nalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich. Frankfurt a.M. 1990, S. 11-38. 34 Elisabeth Fehrenbach, Bonapartismus und Konservativismus in Bismarcks Poli­ tik. In: Francia, Beiheft 6 (1977), S. 39-55. 35 Eberhard Kolb, Der Kriegsausbruch 1870. Göttingen 1970. 36 Josef Becker, Zum Problem der Bismarckschen Politik in der spanischen Thron­ folge 1870. In: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 529-607; ders., Der Krieg mit Frankreich als Problem der kleindeutschen Einigungspolitik Bismarcks 1866-1870. In: Stürmer (wie Anm. 32), S. 75-88; ders., Bismarck, Prim, die Sigmaringer Hohenzollern und die spanische Thronfrage. In: Francia 9 (1981), S. 435-472. 37 Hans Fenske, Die Deutschen und der Krieg von 1870/71. Zeitgenössische Urtei­ le. In: Philippe Levillain u. Rainer Riemenschneider (Hrsg.), La guerre de 1870/71 et ses conséquences. Bonn 1990, S. 167-214.

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Gesamtdarstellungen von James J. Sheehan38 und Dieter Lange­ wiesche39 heranzuziehen, darüber hinausgehend ein von Gall und Langewiesche besorgter Sammelband mit vergleichenden Regio­ nalstudien40. Zum Verhältnis zwischen »Revolution von oben« und Nationsbildung hat Langewiesche überzeugende Überlegun­ gen vorgetragen41. Über die Folgen der Reichsgründung für das Staatsbewußtsein im allgemeinen informieren Aufsätze von Elisa­ beth Fehrenbach, Geoff Eley und Wolfgang Hardtwig42, über die Rechtsvereinheitlichung als Dimension der »inneren Reichsgrün­ dung« zuletzt ein Aufsatz von Michael Stolleis43. Die Geschichte des Kulturkampfes stand lange Zeit im Schatten der monumentalen, aber parteiischen Zentrumsgeschichte von Carl Bachem44. Für die Ausgangskonstellation ist jetzt eine schmale Studie von Christoph Weber wichtig, die die antimo­ derne Stoßrichtung des Ultramontanismus hervorhebt45. Für die soziale Dimension der Auseinandersetzung waren Aufsätze von Lothar Gall und Klaus-Michael Mallmann wegweisend46; eine 38 James J. Sheehan, German liberalism in the nineteenth Century. Chicago 1978; aktualisierte deutsche Übersetzung: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770-1914. München 1983. 39 Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland. Frankfurt a.M. 1988. 40 Lothar Gall u. Dieter Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus und Region. Zur Ge­ schichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert. München 1995. 41 »Revolution von oben«? Krieg und Nationalstaatsgründung in Deutschland. In: ders. (Hrsg.), Revolution und Krieg. Paderborn 1989, S. 117-133. 42 Elisabeth Fehrenbach, Über die Bedeutung politischer Symbole im Nationalstaat. In: Historische Zeitschrift 213 (1971), S. 296-357; Geoff Eley, State Formation, Nationalism and Political Culture: Some Thoughts on the Unification of Germany. In: ders., From Unification to Nazism. Reinterpreting the German Past. London 1986, S. 61-84; Wolfgang Hardtwig, Bürgerlichkeit, Staatssymbolik und Staatsbe­ wußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871-1914. In: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 269-295. 43 Michael Stolleis, »Innere Reichsgründung« durch Rechtsvereinheitlichung 1866 — 1880. In: Christian Starck (Hrsg.), Reichsvereinheitlichung durch Gesetze. Berlin 1992, S. 15-41. 44 Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrums­ partei. 9 Bde., Köln 1927-1932. 45 Christoph Weber, »Eine starke, enggeschlossene Phalanx«. Der politische Katho­ lizismus und die erste deutsche Reichstagswahl 1871. Essen 1992; vgl. ders., Ultra­ montanismus als katholischer Fundamentalismus. In: Wilfried Loth (Hrsg.), Deut­ scher Katholizismus im Umbruch zur Moderne. Stuttgart 1991, S. 20-45. 46 Lothar Gall, Die partei- und sozialgeschichtliche Problematik des badischen Kulturkampfes. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 113 (1965), S. 151— 196; Klaus-Michael Mallmann, »Aus des Tages Last machen sie ein Kreuz des Herrn...«? Bergarbeiter, Religion und sozialer Protest im Saarrevier des ^.Jahr­ hunderts. In: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialge­ schichte. Göttingen 1986, S. 97-122.

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instruktive Fallstudie (Vorgänge um die angeblichen Marienerscheinungen in Marpingen) hat jüngst David Blackbourn vorge­ legt, allerdings mit übertrieben antiliberaler Tendenz47. Für die politische Dimension des Konflikts ist vor allem die grundlegende Windthorst-Biographie von Margaret Anderson heranzuziehen48. Für die Entwicklung der Machtverhältnisse im Jahrzehnt nach der Reichsgründung ist die Habilitationsschrift von Michael Stürmer wichtig; sie arbeitet die cäsaristische Komponente des Regimes her­ aus, die Parlamentarisierungstendenzen konterkarierte, neigt dabei allerdings dazu, den Erfolg Bismarcks 1879 in liberaler Tradition zu überschätzen49. Erst recht gilt das für Helmut Böhme, der den Übergang zur Schutzzollpolitik zur »zweiten Reichsgründung« hochstilisiert hat50: So wichtig das Schutzzollbündnis für das Ab­ bremsen der liberalen Bewegung war, so wenig darf man seine innere Brüchigkeit und mangelnde Reichweite übersehen. Zur wirt­ schaftlichen Bedeutung des Schutzzollkompromisses von 1879 hat sich zuletzt Karl W. Hardach geäußert51, zum Aufkommen der Interessenverbände zusammenfassend Hans-Peter Ullmann52. Zu den Anfängen der Sozialgesetzgebung unter Bismarck sind die Arbeiten von Florian Tennstedt grundlegend53. Wichtige neue­ re Beiträge haben Lothar Machtan und Hans-Peter Ullmann ge­ leistet54. Margaret Anderson und Kenneth Barkin haben darauf 47 David Blackbourn, Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany. Oxford 1993. 48 Margareta Lavinia Anderson, Windthorst. A Political Biography. Oxford 1981; deutsche Übersetzung: Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks. Düsseldorf 1988. 49 Michael Stürmer, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871-1880. Cäsarismus oder Parlamentarismus. Düsseldorf 1984. 50 Wie Anm. 28. Ähnlich auch die Argumentation in dem großen Essay von Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa. Berlin 1976, 2. Auflage 1976. 51 Karl W. Hardach, Die Wende von 1879. In: Hans Pohl (Hrsg.), Die Auswirkung von Zöllen. Stuttgart 1987, S. 275-292. 52 Hans-Peter Ullmann, Interessenverbände in Deutschland. Frankfurt a.M. 1988; ders., Zur Rolle industrieller Interessenorganisationen in Preußen und Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg. In: Hans-Jürgen Puhle u. Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick. Göttingen 1980, S. 300-323. 53 Florian Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Göttingen 1981; ders., Vom Proleten zum Industriearbeiter. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik in Deutschland 1800 bis 1914. Köln 1983. 54 Lothar Machtan, Risikoversicherung statt Gesundheitsschutz für Arbeiter. Zur Entstehung der Unfallversicherungsgesetzgebung im Bismarckreich. In: Leviathan 13 (1985), S. 420-441; ders. (Hrsg.), Bismarcks Sozialstaat. Frankfurt a.M. 1994; Hans-

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aufmerksam gemacht, daß die »Reinigung« der preußischen Ver­ waltung von liberalen Elementen auch eine antikatholische Stoß­ richtung hatte55. Der »Sozialimperialismus« als Element der Bismarckschen Aushilfen der 1880er Jahre ist von Hans-Ulrich Wehler in seiner Habilitationsschrift detailliert nachgezeichnet, in seiner Bedeutung aber stark überschätzt worden56. Die Polenpoli­ tik im Zeichen der »nationalen Sammlung« hat zuletzt Klaus J. Bade untersucht57; zu ihrem Kontext liegen eine allgemeine Ge­ schichte der polnisch durchsetzten Ostprovinzen sowie eine Ge­ schichte des Kulturkampfes im polnischen Preußen vor58. Über Friedrich III. und die Kaiserin Viktoria erfährt man atmo­ sphärisch Neues im ersten Band der Biographie ihres Sohnes Wil­ helm IL, die John C. G. Röhl in Angriff genommen hat59. Bis­ marcks Befürchtungen und die Erwartungen der Liberalen im Hinblick auf die Thronfolge zeichnet J. Alden Nichols nach60. Bismarcks Sturz und sein politischer Kontext ist vielfach interpre­ tiert, aber selten präzise analysiert worden. Wichtige Materialien finden sich in Aufsätzen von Röhl sowie in einem Sammelband von DDR-Historikern61. Über die Überlegungen und Konflikte an der Reichsspitze und in der Umgebung Wilhelms II. in den 1890er Jahren erfährt man viel in einer quellennahen Studie von John C. G. Röhl. Sie leidet freilich darunter, daß Röhl liebedienerische Äußerungen Bülows und Philipp Eulenburgs allzu sehr beim Wort nimmt und daraus Peter Ullmann, Industrielle Interessen und die Entstehung der deutschen Sozialversi­ cherung 1880-89. In: Historische Zeitschrift 229 (1979), S. 574-610. 55 Margaret L. Anderson u. Kenneth D. Barkin, The Myth of the Puttkamer Purge and the Reality of the Kulturkampf. In: Journal of Modern History 54 (1982), S. 647686. 56 Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus. Köln 1969, 5. Aufl. 1984. 57 Klaus J. Bade, »Kulturkampf« auf dem Arbeitsmarkt. Bismarcks »Polenpolitik« 1885-1890. In: Otto Pflanze (Hrsg.), Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches. München/Wien 1983, S. 121-142. 58 Richard Blanke, Prussian Poland in the German Empire (1871-1900). New York 1981; Lech Treziakowski, The »Kulturkampf« in Prussian Poland. New York 1990. 59 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Bd. 1: Die Jugend des Kaisers 1859-1888. München 1993. 60 J. Alden Nichols, The Year of the Three Kaisers. Bismarck and the German Suc­ cession, 1887-1888. Urbana/Ill. 1987. 61 John C. G. Röhl, The Disintegration of the Kartell and the Politics of Bismarck's Fall from Power 1887-1890. In: Historical Journal 9 (1966), S. 60-89; ders., Staatsstreichplan oder Staatsstreichbereitschaft? Bismarcks Politik in der Entlassungskrise. In: Historische Zeitschrift 203 (1966), S. 610-624; Bismarcks Sturz. Zur Rolle der Klassen in der Endphase des preußisch-deutschen Bonapartismus 1884/85 bis 1890. Von einem Kollektiv unter der Leitung von Gustav Seeber, Berlin 1977.

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einen Plan zur Durchsetzung des »persönlichen Regiments« kon­ struiert, den es in dieser Eindeutigkeit nie gegeben hat62. Erst recht kann nicht davon die Rede sein, daß sich die Tätigkeit des Kanz­ lers, der Minister und der Staatssekretäre auf die »treue Umset­ zung« des kaiserlichen Willens beschränkt habe, wie Röhl in spä­ teren Veröffentlichungen zumindest für die Jahre 1897 bis 1908 behauptet hat63. An Isabel Hulls Versuch, die These vom »persönlichen Regiment« zu retten, überzeugt allein der Hinweis auf Prägungen der Machtstruktur durch den Monarchen64. Zum Verständnis der tatsächlichen Rolle Wilhelms II. sind die Hinweise Hulls auf die diversen Einflüsse unverantwortlicher Berater wichtig; ebenso Elisabeth Fehrenbachs Nachzeichnung der Wandlungen des Kaisergedankens und eine zusammenfassende Studie Wilhelm Deists zur Rolle des Kaisers als Oberster Kriegs­ herr65. Zu den politischen Aktivitäten Wilhelms II. in den 1890er Jahren bietet der bislang erschienene erste Band einer WilhelmBiographie von Lamar Cecil eine solide und ausgewogene Zu­ sammenfassung66. Zur Regierungszeit Caprivis sind darüber hin­ aus die Studien von Rolf Weitowitz und Peter Leibenguth heranzuzichen, zur Rolle Hohenlohes als Reichskanzler zwei Aufsätze von J. David Fraley67. Über die Opposition gegen Caprivis Han­ 62 John C. G. Röhl, Germany without Bismarck. London 1967; erweiterte deutsche Übersetzung: Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise im zweiten Kaiser­ reich 1890-1900. Tübingen 1969. 63 John C. G. Röhl, Kaiser Wilhelm II., Großherzog Friedrich 1. und der »Königs­ mechanismus« im Kaiserreich. In: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 539-577; ders., Hof und Hofgesellschaft unter Wilhelm II. In: Karl Ferdinand Werner (Hrsg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert. Bonn 1985, S. 237-289; beide erneut in: ders., Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik. München 1987. 64 Isabel V. Hüll, »Persönliches Regiment«. In; John C. G. Röhl (Hrsg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte. München 1991, S. 3-23. 65 Isabel V. Hüll, The Entourage of Kaiser Wilhelm II. 1888-1918. Cambridge 1982; Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918. München/Wien 1969; Wilhelm Deist, Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr. In: Röhl (Hrsg.), Der Ort (wie Anm. 64), S. 25-72. 66 Lamar Cecil, Wilhelm II. Prince and Emperor, 1859-1900. Chapel Hill/London 1989. 67 Rolf Weitowitz, Deutsche Politik und Handelspolitik unter Reichskanzler Leo von Caprivi 1890-1894. Düsseldorf 1978; Peter Leibenguth, Modernisierungskrisis des Kaiserreichs an der Schwelle zum wilhelminischen Imperialismus. Politische Probleme der Ära Caprivi 1890-1894. Diss. Köln 1972/1975; J. David Fraley, Go­ vernment by Procrastination: Chancellor Hohenlohe and Kaiser William II, 18941900. In: Central European History 7 (1974), S. 159-183; ders., Reform or Reaction: The Dilemma of Prince Hohenlohe as Chancellor of Germany. In: European Studies Review 4 (1974), S. 317-343.

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delsverträge und Miquels Bemühungen um eine »Sammlung« staatstragender Kräfte berichtet ein Aufsatz von Dirk Stegmann68. Willibald Gutsche hat eine konzise Wilhelm-Biographie vorgelegt, die - auch für die späteren Zeitabschnitte - trotz gelegentlicher marxistischer Leerformeln die integrierende Funktion wie die destruktiven Einflüsse des »imperialistischen Monarchen« recht gut herausarbeitet69. Der Wandel des politischen Systems infolge der Fundamental­ politisierung war bislang noch nicht Gegenstand einer systemati­ schen Analyse. Beiträge hierzu finden sich in den jüngeren Dar­ stellungen zur Parteiengeschichte sowie in Sammelbänden von Heinrich Best und Larry E. Jones mit James N. Retallack70. Rich­ tungweisend, wenn auch zum Teil irreführend war die Thematisie­ rung der »Sozialmilieus« in der reichsdeutschen Gesellschaft durch M. Rainer Lepsius71. Zur Entwicklung des Parteiensystems vergleiche den vorzüglichen Überblick von Karl Rohe72, zur Strukturierung über Wahlen die Arbeiten von Peter Steinbach zur Reichsgründungsära73 und Thomas Kühnes eindrucksvolle Studie zu den preußischen Landtagswahlen74, zum Wahlverhalten in der wilhelminischen Zeit eine historisch-statistische Untersuchung von Jürgen Schmädecke75. Grundlagenmaterial zur Analyse der 68 Dirk Stegmann, Wirtschaft und Politik nach Bismarcks Sturz. Zur Genesis der Miquelschen Sammlungspolitik 1890-1897. In: Imanuel Geiss u. Bernd-Jürgen Wendt (Hrsg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Fritz Fischer. Düsseldorf 1974, S. 161-184. 69 Willibald Gutsche, Wilhelm II. Der letzte Kaiser des Deutschen Reiches. Eine Biographie. Berlin 1991. 70 Heinrich Best (Hrsg.), Politik und Milieu. Wahl- und Elitenforschung im histori­ schen und interkulturellen Vergleich. St. Katharinen 1989; Larry E. Jones u. James N. Retallack (Hrsg.), Elections, Mass Politics and Social Change in Modern Germany. New Perspectives. New York 1992. 71 M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demo­ kratisierung der deutschen Gesellschaft. In: Festschrift Friedrich Lütge. Stuttgart 1966, S. 371-393; erneut in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Die deutschen Parteien vor 1918. Köln 1973, S. 56-80. 72 Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundla­ gen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1992. 73 Peter Steinbach, Die Politisierung der Region. Reichstags- und Landtagswahlen im Fürstentum Lippe 1866-81. Passau 1989; ders., Die Zähmung des politischen Massenmarktes. Wahlen und Wahlkämpfe im Bismarckreich im Spiegel der Haupt­ stadt- und Gesinnungspresse. Passau 1990. 74 Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867-1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt. Düsseldorf 1994. 75 Jürgen Schmädecke, Wählerbewegung im Wilhelminischen Deutschland. Eine

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Wahlen bietet das wahlgeschichtliche Arbeitsbuch von Gerhard A. Ritter und Merith Niehuss76. Eine anregende Einführung in die Geschichte der politischen Parteien hat Gerhard A. Ritter vorgelegt77. Wegen seiner quellen­ gesättigten Informationen ist weiterhin das mehrbändige Hand­ buch zur Parteiengeschichte unentbehrlich, das eine Leipziger Forschergruppe um Dieter Fricke erarbeitet hat; der Leser tut frei­ lich gut daran, die - im Kontext der DDR-Geschichtswissenschaft offensichtlich unvermeidlichen - stereotypen klassenkämpferi­ schen Etikettierungen zu übergehen78. Zur Geschichte der sozial­ demokratischen Arbeiterbewegung - vergleichsweise am besten erforscht - ist jetzt ein Tagungsband von Gerhard A. Ritter heran­ zuziehen, weiter ein interpretierender Aufsatz des gleichen Autors und der erste Band einer Gesamtdarstellung, an der Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde arbeiten79. Die Entwicklung des politi­ schen Katholizismus im wilhelminischen Deutschland habe ich in meiner Habilitationsschrift systematisch analysiert80. Vergleich­ bare Gesamtdarstellungen zu den liberalen Parteien fehlen noch; doch liegen eine Reihe anregender Einzelstudien vor81. historisch-statistische Untersuchung zu den Reichstagswahlen von 1890 bis 1912. Berlin 1994. 76 Gerhard A. Ritter unter Mitarbeit von Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Ar­ beitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1871-1918. München 1980. 77 Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830-1914. Göttingen 1985. 78 Das erstmals 1968-1970 erschienene Handbuch ist nach Möglichkeit in der er­ weiterten Fassung von 1983-1986 zu benutzen: Dieter Fricke u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbän­ de in Deutschland (1789-1945). 4 Bde., Leipzig 1983-1986. 79 Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialde­ mokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiser­ reichs. München 1990; ders., Die Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich in sozial­ geschichtlicher Perspektive. In: Historische Zeitschrift 249 (1989), S. 295-362; Gerhard A. Ritter u. Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914. Bonn 1991. 80 Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands. Düsseldorf 1984. Vgl. auch ders., Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs. In: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 279-310; sowie allgemein zur Geschichte des Katholizismus die Beiträge in: ders. (Hrsg.), Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne. Stuttgart 1991. 81 Stanley Zucker, Ludwig Bamberger. German Liberal Politician and Social Critic, 1823-1899. Pittsburgh 1975; Konstanze Wegener, Theodor Barth und die Freisinnige Vereinigung. Tübingen 1968; Ina S. Lorenz, Eugen Richter. Der entschiedene Libera­ lismus in wilhelminischer Zeit 1871-1906. Husum 1981; Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland. Baden-Baden 1983; Dan S. White, The Splintered Party. National Liberalism in Hessen and the Reich, 1867-1918. Cambridge/Mass. 1976; Karl-Heinz Pohl, Die Nationalliberalen - eine unbekannte Partei? In: Jahrbuch zur Liberalismus-

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Die Entwicklung der Konservativen seit der Formierung der Deutschkonservativen Partei 1876 hat James N. Retallack unter­ sucht82. Wichtig bleibt darüber hinaus Hans-Jürgen Puhles Studie über die Rolle des Bundes der Landwirte83. Geoff Eley hat in Auseinandersetzung mit der Kritik an konservativen Manipulati­ onstechniken die Selbstorganisation der ländlichen Gesellschaft und des aufsteigenden mittleren Bürgertums betont, dabei aber deren Reichweite weit überzeichnet84. Zum Verständnis der For­ mierung der »neuen Rechten« sind außerdem die Studien von Volker Berghahn und Wilhelm Deist zur innenpolitischen Absi­ cherung des Flottenbaus heranzuziehen (auch wenn Berghahn das innenpolitische Motiv über Gebühr in den Mittelpunkt rückt)85, ebenso eine Studie von Roger Chickering über den Alldeutschen Verband86 und die schöne Dissertation von Thomas Rohkrämer über die Kriegervereine87. Zur innenpolitischen Entwicklung seit den späten 1890er Jahren außerdem: Dirk Stegmann über die Sammlungsbewegungen von rechts (materialreich, aber diffus und mit Überbewertung der Sammlungserfolge)88; Katharine Lerman über Bülows KanzlerForschung 3 (1991), S. 82-112; ders., »Einig«, »Kraftvoll«, »Machtbewußt«. Überle­ gungen zu einer Geschichte des deutschen Liberalismus aus regionaler Perspektive. In: Historische Mitteilungen 7 (1994), S. 61-80; Gangolf Hübinger, Kulturprotestan­ tismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wil­ helminischen Deutschland. Tübingen 1994. 82 James N. Retallack, Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876-1918. Boston/London 1988; vgl. auch als Überblick ders., German Conservatism Revisited. In: Larry E. Jones u. James N. Retallack (Hrsg.), Between Reform, Reacüon, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism 1789-1945. Providence/R. 1.1993, S. 1-30. 83 Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservati­ vismus im wilhelminischen Reich 1893-1914. Hannover 1966, 2. Aufl. Bonn-Bad Godesberg 1975. 84 Geoff Eley, Reshaping the German Right: Radical Nationalism and Political Change After Bismarck. New Haven 1980, 2. Aufl. (mit einer neuen Einleitung) Ann Arbor 1991. Ähnlich argumentiert David Blackbourn, Populists and Patricians. Essays in Modern German History. London 1987. 85 Volker R. Berghahn, Der Ttrpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II. Düsseldorf 1971; Wilhelm Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda. Das Nachrichtenbüro des Reichsmarineamts 1897-1914. Stuttgart 1976. 86 Roger Chickering, We Man who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League, 1886-1914. Boston/London 1984. 87 Thomas Rohkrämer, Der Militarismus der »kleinen Leute«. Die Kriegervereine im deutschen Kaiserreich 1871-1914. München 1990. 88 Dirk Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918. Köln/Berlin 1970.

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schäft (informativ zu den Beziehungen Bülows zum Kaiser, aber teilweise schief zu deren Kontext)89; Gerd Fessers knappe bio­ graphische Skizze Bülows90; Peter-Christian Witt über die Finanz­ reformen91; Manfred Rauh über die Machtgewinne des Reichs­ tages (mit der arrogant vorgetragenen, aber empirisch unhaltbaren These von der »stillen Parlamentarisierung« des Reiches)92; Bever­ ly Heckart über die Diskussion über ein sozialliberales Bünd­ nis (nicht die entscheidende Fragestellung)93; Konrad Jarausch über Bethmann Hollweg (die beste Biographie, unter erstmaliger Auswertung der Tagebücher seines Vertrauten Kurt Riezler)94; sowie noch einmal meine Studie über den politischen Katholi­ zismus: Aufgrund der Schlüsselrolle der Zentrumspartei er­ laubt deren Analyse zahlreiche Korrekturen an vorherigen Befun­ den95. Einen Überblick über die politische Situation am Vorabend des Ersten Weltkrieges, der an meine Befunde anschließt, hat zuletzt Peter Brandt vorgelegt96. Die Zabern-Affäre, an deren Behandlung viel von dieser Situation deutlich wird, ist am ausführlichsten von David Schoenbaum analysiert worden97. Die allgemeine Entwick­ lung des »Reichslandes« Elsaß-Lothringen beleuchten Studien von Dan P. Silverman, François Roth und Hermann Hiery98. 89 Katharine Anne Lerman, The Chancellor as Courtier. Bernhard von Bülow and the Governance of Germany, 1900-1909. Cambridge 1990. 90 Gerd Fesser, Reichskanzler Bernhard von Bülow. Eine Biographie. Berlin 1991. 91 Peter-Christian Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschlands. Lübeck/ Hamburg 1970. 92 Manfred Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich. Düsseldorf 1973; ders., Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches. Düsseldorf 1977. 93 Beverly Heckart, From Bassermann to Bebel. The grand Bloc's quest for reform in the Kaiserreich, 1900-1914. New Haven/London 1974. 94 Konrad H. Jarausch, The Enigmatic Chancellor: Bethmann Hollweg and the Hubris of Imperial Germany. New Haven/London 1973. 95 Wie Anm. 80. 96 Peter Brandt, War das Deutsche Kaiserreich reformierbar? Parteien, politisches System und Gesellschaftsordnung vor 1914. In: Karsten Rudolph u. Christi Wickert (Hrsg.), Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie. Festschrift für Helga Grebing. Essen 1995, S. 190-210. 97 David Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany. Lon­ don 1982. 98 Dan P. Silverman, Reluctant Union. Alsace-Lorraine and Imperial Germany 1871-1918. London 1972; François Roth, La Lorraine annexée. Etude sur la Prési­ dence de Lorraine dans l’Empire allemand (1870-1919). Nancy 1976; Hermann Hiery, Reichstagswahlen im Reichsland. Ein Beitrag zur Landesgeschichte von Elsaß-Loth­ ringen und zur Wahlgeschichte des Deutschen Reiches 1871-1918. Düsseldorf 1986.

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Für die Jahre des Ersten Weltkrieges sind aus der älteren Litera­ tur zusätzlich heranzuziehen: die Erzberger-Biographie von Klaus Epstein"; Susanne Miller über die Entwicklung der Sozialdemo­ kratie99 100; Gerald D. Feldman über Industrie- und Sozialpolitik101; Martin Kitchen über die 3. Oberste Heeresleitung (mit der über­ zogenen These von der »stillen Diktatur«)102; Udo Bermbach über den Interfraktionellen Ausschuß103. Die Haltung der Parteien zur Friedensfrage hat zuletzt Torsten Oppelland eingehend unter­ sucht104.

Gesamtdarstellungen Die neueren Gesamtdarstellungen des Kaiserreiches sind sehr unterschiedlich im Zuschnitt und in der Brauchbarkeit. Michael Stürmers Porträt des »ruhelosen Reiches«, 1983 erschienen105, bietet weitgespannte Perspektiven und atmosphärisch dichte Im­ pressionen zur Bismarckschen »Antirevolution« wie zur Heraufkunft der modernen »Massenzivilisation«. Präzise Analysen sind freilich Stürmers Sache nicht106. Statt dessen bedient er mit kultur­ kritischer Geste konservatives Unbehagen an der Moderne, sug­ geriert »Verhängnis« und »Tragödie«, wo Verantwortlichkeiten deutlich zu machen wären, und reaktiviert - wenn auch nur in andeutenden Bildern - die konservative Rechtfertigung des Ob­ 99 Klaus Epstein, Matthias Erzberger and the Dilemma of German Democracy. Princeton N.J. 1959; überarbeitete deutsche Fassung: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie. Berlin 1962,2. Aufl. 1976. ,co Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf 1974. 101 Gerald D. Feldman, Army, Industry and Labour in Germany, 1914-1918. Princeton N.J. 1966; deutsche Übersetzung: Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914-1918. Berlin 1985. Vgl. auch ders., The Great Disorder. Politics, Economics and Society in the German Inflation, 1914-1924. New York/Oxford 1993. 102 Martin Kitchen, The Silent Dictatorship. The Politics of the German High Command under Hindenburg and Ludendorff, 1916-1918. London 1976. 103 Udo Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung in Deutschland. Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18 und die Parlamentarisierung der Reichsregie­ rung. Köln/Opladen 1967. 304 Torsten Oppelland, Reichstag und Außenpolitik im Ersten Weltkrieg. Die deut­ schen Parteien und die Politik der USA 1914-1918. Düsseldorf 1995. 105 Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918. Berlin 1983, 3. Aufl. 1990 (= Siedler Deutsche Geschichte Bd. 9). 106 Vor dem Hintergrund seiner früheren Arbeiten (vgl. Anm. 49) genauer und mit Bedauern gesagt: Sie sind es nicht mehr.

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rigkeitsstaates aus den Gefahren der geopolitischen »Mittellage« der Deutschen. Thomas Nipperdeys zweibändige >Deutsche Geschichte 18661918Erinnerung und Gedanke« nach seinem Rücktritt mit Lothar Bucher erarbeitet, sind am be­ sten in der textkritischen Edition von Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann im Rahmen dieser »Friedrichsruher Ausgabe« zu benutzen9. Von den weiteren Reichskanzlern hat Hohenlohe Ta­ gebuchaufzeichnungen hinterlassen, die zusammen mit Akten­ stücken nach seinem Tode publiziert wurden10. Bülow ist mit einem ebenso umfangreichen wie dekuvrierenden Memoirenwerk hervorgetreten, das - ebenfalls posthum veröffentlicht11 - eine Fülle weiterer Zeugnisse in Form von Gegendarstellungen provo­ ziert hat12. Auch von Bethmann Hollweg, Hertling und Michaelis liegen Memoiren vor13. Für die Amtszeit Bethmann Hollwegs sind zudem die Aufzeichnungen seines Mitarbeiters Kurt Riezler 6 Verzeichnis der schriftlichen Nachlässe in deutschen Archiven und Bibliotheken. Bd. 1: Die Nachlässe in den deutschen Archiven (mit Ergänzungen aus anderen Be­ ständen). Bearbeitet von Wolfgang A. Mommsen, Boppard 1971; Bd. 2: Die Nachlässe in den Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland. Bearbeitet von Ludwig Denekke, 2. Aufl. völlig neu bearbeitet von Tilo Brandis, Boppard 1981. 7 Horst Kohl (Hrsg.), Die politischen Reden des Fürsten Bismarck 1847-1897. Hi­ storisch-kritische Gesamtausgabe, 14 Bde., Stuttgart 1892-1905; Heinrich von Poschinger (Hrsg.), Fürst Bismarck als Volkswirth. 3 Bde., Berlin 1889-1891; ders., Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck. 2 Bde., Berlin 1890-1891; ders., Fürst Bismarck und die Parlamentarier. 3 Bde., Breslau 1894-1896; ders., Fürst Bismarck und der Bundesrat. 5 Bde., Stuttgart/Leipzig 1897-1901; und weitere Bän­ de. 8 Otto Fürst von Bismarck, Die gesammelten Werke (Friedrichsruher Ausgabe). 15 in 19 Bdn., Berlin 1924-1935. 9 Die gesammelten Werke, Bd. 15, Berlin 1932. 10 Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten. 2 Bde., Stuttgart/Berlin 1906-1907; ders., Denkwürdigkeiten aus der Reichskanzlerzeit. Stuttgart 1931. 11 Bernhard Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten. 4 Bde., Berlin 1930-1931. 12 Besonders: Friedrich Thimme (Hrsg.), Front wider Bülow. Staatsmänner, Diplo­ maten und Forscher zu seinen Denkwürdigkeiten. Berlin 1931; vgl. dazu Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Fürst Bülows Denkwürdigkeiten. Untersuchungen zu ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Kritik. Tübingen 1956. 13 Theobald von Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege. 2 Bde., Berlin 1919-1921; Georg Graf von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben. 2 Bde., München/Kempten 1919-1920; Georg Michaelis, Für Volk und Staat. Eine Lebensge­ schichte. Berlin 1922.

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wichtig14; deren Überlieferung ist freilich zum Teil unsicher, und in jedem Fall bedürfen sie sorgfältiger Interpretation15. Aufschlußreich sind auch die Memoiren des Freiherrn Lucius von Ballhausen, von Eugen Richter und Alfred Tirpitz sowie von Graf Westarp16. Eine Quelle von besonderer Aussagekraft stellen die Tagebuchaufzeichnungen der Baronin von Spitzemberg dar, die als Frau des württembergischen Bundesratsbevollmächtigten zum engeren Kreis um Bismarck und später zur Berliner Hofge­ sellschaft gehörte17. Ähnlich reichhaltig, wenn auch jeweils von anderem Zuschnitt, sind die Tagebücher des zeitweiligen General­ feldmarschalls und Kanzler-Aspiranten Alfred von Waldersee18, die Briefe und Schriftstücke Friedrich von Holsteins, der »Grauen Eminenz« im Auswärtigen Amt (keineswegs nur zur Außen­ politik)19, die Korrespondenz des langjährigen Kaiser-Freundes Philipp Eulenburg20 und das >Kriegstagebuch< des sozialdemo­ kratischen Reichstagsabgeordneten Eduard David21. Für die politische Öffentlichkeit ist in erster Linie der reichhal­ tige Bestand an Zeitungen zu nennen: in der Regel einer politi­ schen Richtung zugeordnet und von großer regionaler Vielfalt, mit einigen Blättern von überregionaler Bedeutung - so die konserva­ tive »Neue Preußische Kreuzzeitung